Von Arthur W. Upfield sind erschienen: Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimn...
12 downloads
492 Views
608KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Von Arthur W. Upfield sind erschienen: Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
Arthur W. Upfield
Bony übernimmt den Fall Madman’s Bend Kriminalroman
Wilhelm Goldmann Verlag
Die Hauptpersonen Inspektor Napoleon Bonaparte Wachtmeister Lucas Betty Cosgrove Raymond Cosgrove Jill Madden Doktor Leveska Pater Savery Kittchen-Mick Totenmarsch-Harry Jacko Wally Watts
wird von seinen Freunden ›Bony‹ genannt aus White Bend Schafzüchterin ihr Sohn Farmerstochter Arzt katholischer Priester Landstreicher „ „ „
Der Roman spielt am Darling River im australischen Bundesstaat Neusüdwales.
1. Auflage Oktober 1964 • 1.-20. Tsd. 2. Auflage Juni 1974 • 21.-32.Tsd. 3. Auflage März 1979 • 33.-40. Tsd. Made in Germany 1979 © der Originalausgabe 1963 by Arthur W. Upfield © der deutschsprachigen Ausgabe 1964 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Aus dem Englischen übertragen von Heinz Otto Umschlagentwurf: Creativ Shop, A. + A. Bachmann, München Umschlagfoto: Studio Floßmann, München Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh Krimi 2031 – Berens/Hofmann ISBN3-442-02031-X
1
D
as Mädchen saß in einem Schaukelstuhl am Ende des Tisches, auf dem griffbereit eine Winchesterbüchse lag. Vier Meter trennten sie von der rückwärtigen Tür der großen Wohnküche, und diese Tür war – genau wie Fenster und Vordertür – verriegelt. Das Haus lag auf einer flachen Anhöhe am Ufer des Darling River, von Eukalyptusbäumen umsäumt. Ein kalter Wind wehte von den fernen Southern Highlands herüber. Er heulte durch die Eukalyptusbäume, die sich ihm in den Weg stellten, und so überhörte das Mädchen das Naherkommen des Kleinlasters, mit dem sie ihren Stiefvater zurückerwartete. Obwohl sie erst knapp neunzehn war, hatte man den Eindruck, daß die Bluse und die Männerhose für ihre kräftige Gestalt viel zu eng waren. Unter einer breiten Stirn sah man dunkle Augen, die nur selten blinzelten. Der zusammengekniffene Mund verriet Entschlossenheit. Das dunkle Haar schimmerte im Licht der Petroleumlampe, das Gesicht war von Sonne und Wind gegerbt, und die Hände von harter Arbeit gerötet. »Jill! Gib mir noch eine Aspirintablette!« rief eine Frauenstimme aus dem Nebenzimmer. Jill Madden drehte den Docht der Petroleumlampe groß, die auf einer Kommode neben einem Krug Wasser und verschiedenen Arzneimitteln stand. Sie mußte die Frau im Bett aufrichten, dann schob sie ihr vorsichtig die Tablette zwischen die aufgesprungenen Lippen, denn die Augen der Kranken waren verbunden. »Tut’s noch sehr weh, Mutter?« fragte das Mädchen, während die Frau noch ein paar Schlucke Wasser trank. »Nun schlafe.« Ihre Mutter sank in die Kissen zurück und seufzte. »Er hat mich vor allem in die Rippen geschlagen. Und Augen und Nase brennen 5
höllisch. Aber keine Sorge, Jill – mir geht es bald wieder besser. Ganz bestimmt.« »Wenn es morgen früh nicht besser ist, rufe ich die Polizei. Jetzt ist das Maß voll, jetzt langt’s!« »Das dürfen wir nicht tun«, protestierte die Frau schwach. »Morgen früh geht es mir bestimmt besser, und dann reden wir mit deinem Vater. Er muß versprechen, sich zu bessern und mit dem Trinken aufzuhören. Aber du darfst keinesfalls Wachtmeister Lucas rufen. Einen Skandal können wir uns nicht leisten. Wie man sich bettet, so schläft man – damit muß ich mich abfinden.« Das Mädchen wollte widersprechen, wollte energisch bestreiten, daß William Lush ihr Vater sei, doch dann zuckte sie resigniert die Achseln. »Na schön, Mutter. Warten wir ab. Und nun versuch zu schlafen.« Mrs. Lush seufzte noch einmal, und ihre Tochter starrte einige Sekunden nachdenklich in die kleine Flamme, nachdem sie den Docht der Lampe zurückgeschraubt hatte. Schließlich setzte sie sich wieder in den Schaukelstuhl und drehte sich geschickt eine Zigarette. Die alte amerikanische Uhr auf dem Kaminsims schlug einmal – es war halb elf. Jills Vater würde nun nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er war ein vorsichtiger Fahrer, in betrunkenem Zustand sogar doppelt vorsichtig. Und er dürfte gewiß betrunken sein, wenn er von White Bend durch die kalte stürmische Winternacht nach Hause fuhr. Und zu Hause würde er dann all seine aufgestaute Wut an seiner Frau auslassen. Ja, er war ein vorsichtiger Mann, unter Fremden nahm er sich gewaltig zusammen. Jill Madden hatte am Nachmittag Schafe gemustert und auf eine Weide gebracht, die weiter vom Fluß entfernt lag, denn der Darling River würde binnen einer Woche Hochwasser führen. Als sie um fünf zurückkehrte, fand sie ihre Mutter in der Wohnküche auf dem Boden liegend. Sie war schwer verletzt und hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Jill fragte gar nicht erst nach der Ursache, sondern trug ihre Mutter ins Schlafzimmer, kleidete sie aus und behandelte die mannigfaltigen Verletzungen mit den Mitteln, die ein Farmer im australischen Busch immer zur Hand hat. Als sich Mrs. Lush etwas erholt hatte, erfuhr Jill, daß ihr Stiefvater einen Scheck verlangt hatte, und als er ihn nicht erhielt, hatte er einen Wutanfall bekommen. Die Geschichte dieser kleinen Schaffarm ist nicht ungewöhnlich. Im Rahmen des Siedlungsgesetzes hatte Edward Madden von der Agrarbehörde 6
16 000 Hektar Land erhalten. Madden baute sich auf einer Anhöhe am Westufer des Darling River ein Haus. Hier wurde Jill geboren, und hier starb Edward Madden, als das Mädchen sechzehn Jahre alt war. In den letzten Jahren war er nicht voll arbeitsfähig gewesen. Jill hatte deshalb das Internat verlassen, um ihm einen Teil der Arbeit abzunehmen. Als Edward Madden dann starb, sah sich seine Frau gezwungen, einen Farmarbeiter einzustellen. William Lush, ein Viehhüter aus Queensland, kam gerade auf seiner Wanderschaft vorbei, und kurz entschlossen stellte sie ihn ein. Im folgenden Jahr heiratete sie ihn. Einen Monat nach der Hochzeit änderte sich das Leben auf der Madden-Farm schlagartig. Lush kehrte plötzlich den großen Herrn heraus. Nun war ihm von seiner Frau ein Scheck über dreihundert Pfund verweigert worden, mit dem er in dem kleinen Städtchen White Bend seine Schulden bezahlen wollte. Mrs. Lush hatte ihm den Scheck ganz einfach deshalb nicht geben können, weil auf der Bank die nötige Dekkung fehlte. Daraufhin hatte er seine Frau zusammengeschlagen, hatte sie am Boden liegen lassen und war in das vierundzwanzig Meilen flußabwärts gelegene Städtchen gefahren. Lush hatte seine Frau schon öfters geschlagen, aber so schlimm wie diesmal hatte er es noch nie getrieben. Die Angst ihrer Mutter vor einem Skandal, dazu die eigene Furcht hatten Jill bisher abgehalten, sich an die Polizei zu wenden oder am gegenüberliegenden Ufer bei den Bewohnern der Mira-Station Hilfe zu holen. Heute abend aber war die Verzweiflung stärker als alle Furcht, das Mädchen war entschlossen, Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Jill hatte natürlich keine Ahnung, wann ihr Stiefvater zurückkehren würde, aber sie wußte, daß er nur wenig Geld bei sich hatte – was allerdings nicht viel besagte, weil man ihm im Hotel Kredit einräumte. Aber dieser Kredit war nicht unbeschränkt, und da Lush nach außenhin den ehrenwerten Mann spielte, würde er gewiß nach Hause fahren, wenn das Hotel um zehn schloß. Auf dem schlechten Buschpfad konnte er nicht mehr als zehn Meilen pro Stunde zurücklegen. In betrunkenem Zustand fuhr er doppelt vorsichtig, und Jill bedauerte immer wieder, daß er nicht mit sechzig Meilen losraste und sich das Genick brach. Die alte amerikanische Uhr begann zu schnarren, ihre Schläge verkündeten Mitternacht. Das Mädchen nahm das Gewehr in die Hand 7
und überzeugte sich, daß es schußbereit war. Sie war eisern entschlossen, sich und ihre Mutter zu verteidigen. Der eine der beiden Hunde, die in ihren aus alten Eisenplatten gefertigten Hütten angekettet waren, bellte. Jill dachte an die Lämmer und die Füchse und an die im kommenden Monat fällige Schafschur. Sie dachte an Ray Cosgrove, der sie heiraten wollte, und dann sah sie Rays Mutter vor sich – die Besitzerin der MiraSchafstation. Mrs. Cosgrove würde bestimmt nichts davon wissen wollen, und das konnte man ihr nicht einmal übelnehmen, denn sie war reich und Ray ihr einziger Sohn. Sie würde gewiß in Ohnmacht fallen, wenn Ray ihr eröffnete, daß er die Stieftochter des ewig betrunkenen Lush zu heiraten beabsichtige. Der Hund kläffte erneut. Das Bellen schien von weit her zu kommen, wurde übertönt vom Wind, der durch die Bäume und die kaputten Schuppendächer heulte. In den Wintermonaten war es nicht ungewöhnlich, daß der Wind eine ganze Woche lang Tag und Nacht heulte, und weder die Sonne noch die Sterne wurden von einem einzigen Wölkchen verdeckt. Der Türgriff wurde gedreht, jemand rüttelte an der Tür. Es kam völlig unerwartet. Jill war überzeugt gewesen, den näher kommenden Lastwagen nicht zu überhören. Erschrocken fuhr ihre Hand an den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Dann packte sie mit festem Griff die Winchesterbüchse, und ihr Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Ein Stiefel polterte gegen die Tür. »Aufmachen! Zum Teufel, laß mich rein, du Luder!« »Schlaf im Wollschuppen«, erwiderte Jill schneidend. »Ins Haus kommst du nicht.« »Was hast du gesagt?« brüllte Lush, und Jill wiederholte ihre Worte. »Ich soll im Schuppen pennen?« schrie der Mann, und die unflätigsten Beschimpfungen drangen durch die Tür. »Was ist los, Jill?« rief ihre Mutter, als es draußen einen Augenblick still war. »Wer ist das? Ich habe doch den Wagen nicht gehört.« »Bleib ruhig, Mutter. Ich werde mit Lush schon fertig.« Der Mann schien am Schlüsselloch gelauscht zu haben. »Eine Axt her. Ich will eine Axt!« Lush trommelte an die Tür, trat mit Füßen dagegen. 8
Die Hunde bellten aufgeregt, Lush schrie weiter nach einer Axt. Schließlich entfernte sich seine Stimme, und Jill schloß daraus, daß er die Axt vom Holzstapel holen wollte. »War das William?« fragte Mrs. Lush. Sie stützte sich gegen den Türrahmen. Der Kopfverband war verrutscht, ließ die blutunterlaufenen Augen erkennen. »Was willst du mit dem Gewehr, Kind?« »Ich lasse ihn nicht ins Haus. Niemals mehr!« »O Gott, sei vorsichtig. Wohin sind wir gekommen!« Lush kehrte zurück und schlug gegen die Tür. Das Mädchen zielte aus der Hüfte in seine Richtung. »Jetzt komme ich rein, verstanden!« brüllte der Mann. »Entweder laßt ihr mich rein, oder ich schlage die Tür ein, und dann gibt’s Prügel wie noch nie. Für dich auch, Jill. Für dich vor allem – so wahr ich hier stehe!« Das Mädchen richtete den Gewehrlauf zur Decke und feuerte. »Verschwinde!« rief sie. »Wenn du nüchtern genug bist, um mich zu verstehen, dann verschwindest du! Sonst schieße ich dich über den Haufen!« »Du und schießen! Daß ich nicht lache.« Die Axt bohrte sich in die Tür, die Schneide drang durch das Holz. Das Mädchen riß den Kammerstengel zurück, ließ die leere Patronenhülse herausschnellen und lud durch. Beim nächsten Schlag fuhr die Axt durch die Tür gegen das Schloß. Jill riß die Winchester an die Wange und schoß. Die Axt blieb in der Tür stecken. Die Hunde kläfften wie von Sinnen, und da der Wind gerade etwas nachgelassen hatte, klang es näher als zuvor. Gleich darauf fuhr wieder ein Windstoß durch die Eukalyptusbäume am Darling River. »Du hast ihn erschossen, Jill!« schluchzte Mrs. Lush plötzlich. »Du hast ihn erschossen!«
9
2
S
eit dem Jahre 1920 ist das Städtchen White Bend nicht mehr gewachsen. Ein Hotel, das Postamt, die Polizeistation, eine Bank und eine Gemischtwarenhandlung befriedigen die Bedürfnisse der wenigen Bewohner und der Leute auf den umliegenden Viehstationen und Schaffarmen. Der Ort liegt am hohen Westufer des Darling, die verfallene Kaianlage und die windschiefen Lagerschuppen zeugen von der damaligen Blütezeit. Wachtmeister John Lucas war stolz auf White Bend. Es war sein erster selbständiger Posten, seine Frau stammte aus dem Städtchen, und den Fluß hatte er vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen. Lucas war Anfang Dreißig, athletisch gebaut, interessierte sich für alles und jeden. Es war für ihn eine angenehme Abwechslung in dem eintönigen Dienst, Kriminalinspektor Bonaparte mit dem Wagen flußaufwärts nach Bourke zu bringen. Er benahm sich dem berühmten Inspektor gegenüber nicht unterwürfig, zeigte aber auch nicht die geringste Überheblichkeit, weil Bonapartes Mutter eine Australnegerin gewesen war. Lucas hatte schon einige Male von Bonaparte gehört, erfuhr aber erst, daß sich der berühmte Kriminalist in seinem Dienstbereich aufhielt, als ihn der Verwalter einer Schafstation anrief und bat, den Inspektor zum Flugplatz nach Bourke zu bringen. Nachdem Lucas seine vorgesetzte Dienststelle in Bourke verständigt hatte, verließ er zusammen mit Bonaparte White Bend am 19. Juli kurz nach Mittag. Der Darling River ist in mannigfacher Hinsicht einmalig. Im Gegensatz zum Murray, dessen Nebenfluß er ist, besitzt er Charakter und Atmosphäre. Der Darling fließt durch flaches Land. Obwohl die Luftlinie von Walgett bis Wentworth, wo er in den Murray mündet, nur sechshundert Meilen beträgt, ist der Flußlauf in Wirklichkeit infolge der vielen Windungen rund achtzehnhundert Meilen lang. Von den 10
großen Flußschleifen abgesehen, ist das Ufer hoch und steil, als habe der Mensch mit riesigen Baumaschinen das Flußbett gegraben. Fast in seiner ganzen Länge säumen hohe Eukalyptusbäume die Ufer und schützen den Fluß vor der sengenden Sommersonne und den schneidenden Winterstürmen. Wer je an seinem Ufer gelebt hat, erliegt unweigerlich seinem Zauber, und immer wieder zieht es ihn zum Darling River zurück. Die Straße von Wilcannia nach Bourke folgt zwar dem Westufer des Darling, berührt den vielfach geschwungenen Flußlauf aber lediglich an den großen Schleifen, die teilweise bis zu zehn Meilen auseinanderliegen. Die Ufer an den Außenseiten dieser Flußbogen liegen im allgemeinen höher als das übrige Land und eignen sich deshalb gut für den Bau der Farmgebäude. Auf diese Weise ist der Farmer vor Hochwasser sicher, findet aber in den tiefen Löchern, – die der Fluß bei Flut gräbt, auch in der Trockenzeit Wasser. »Ich habe schon oft daran gedacht, mir hier am Darling ein kleines Häuschen zu bauen, wenn ich in Pension gehe«, meinte der Inspektor, den viele nur unter dem Namen Bony kannten. »Vielleicht tue ich das eines Tages auch«, pflichtete der Wachtmeister bei. Seine blonden Haare wurden vom scharfen Nordostwind zerzaust, und seine Augen leuchteten. »Viele Fische und prächtige Jagdmöglichkeiten. Kein Wunder, daß sich die Pensionäre außerhalb der Städte ihre Blockhäuser bauen. Wer möchte schon in der Stadt wohnen?« »Allerdings schwer zu verstehen, warum überhaupt jemand in der Stadt wohnt«, erwiderte Bony, und seine blauen Augen bildeten in dem scharfen Wind schmale Schlitze. »Da vorn kommt ein Wagen.« »Wahrscheinlich die Post«, prophezeite der Wachtmeister. Zwei Minuten später nickte er dem Fahrer des schweren Wagens zu, und ein junger Mann mit flammend rotem Haar winkte zurück. »Fährt um acht in Bourke los und trifft um eins in White Bend ein. Geht schneller als früher mit der Postkutsche. Können Sie sich noch daran erinnern? Das war vor meiner Zeit.« »Nein«, erwiderte Bony. »Als ich mir zum erstenmal Australien ansah, hatte die Motorisierung schon begonnen.« Sie passierten die große Flußbiegung, und der Inspektor blickte das Steilufer hinab in das riesige, mit Wasser gefüllte Loch, dann das Flußbett 11
entlang, in dem sich ein winziges Rinnsal zum nächsten Wasserloch schlängelte. »Seit wann ist der Darling ausgetrocknet?« »Seit elf Monaten«, antwortete Lucas. »Aber er wird bald wieder Wasser führen. Nach den vorliegenden Berichten dürfte es eine ziemliche Flutwelle geben. Die erste hat bereits gestern abend um sechs Bourke passiert. In einer Woche ist diese Straße hier unpassierbar. Komisch!« »Was ist?« »Im Süden von Queensland hat es innerhalb eines Monats eine Niederschlagsmenge von fünfzig Millimetern gegeben, aber hier hat es nicht mal ein Kochgeschirr voll geregnet. Die Herbstregen sind ausgeblieben, und die Winterregen lassen bisher auch auf sich warten.« Sie kamen an einer Farm vorüber, die an der Flußbiegung lag und Wohlstand verriet. Dies sei Murrimundi, erklärte Lucas. Diesem Weidegut sei von der Agrarbehörde drei Viertel des ursprünglichen Landbesitzes weggenommen worden – genau wie bei der Mira-Station, die flußaufwärts am anderen Ufer lag. Bis zur nächsten Flußschleife waren es acht Meilen, der Buschpfad wand sich in einer einschläfernden Monotonie durch die schwärzlich-braune Niederung. Und als sie die Flußbiegung erreichten, stießen sie auf einen verlassenen Kleinlaster. »Gehört einem gewissen Lush«, erläuterte Lucas, hielt an und stieg aus. Er beugte sich ins Führerhaus des Lastwagens und drehte den Zündschlüssel um. »Kein Sprit. Da ist er den Rest des Weges zu Fuß gegangen. War gestern abend in der Stadt im Hotel, bis geschlossen wurde. Er war so betrunken, daß er nicht mal einen Scheck ausschreiben konnte.« »Und nun muß er erst den Kater ausschlafen, bevor er Benzin nachfüllen kann«, meinte Bony.. Lucas nickte und stopfte sich die Pfeife. Bony wandte sich dem Fluß zu und blickte über den Rand des Steilufers in das tiefe, mit Wasser gefüllte Loch und das trockene Flußbett entlang, das – ungefähr eine Meile weiter – nach Süden abbog. Auch dort war das Ufer hoch und steil, und Bony konnte die Dächer der Mira-Station erkennen. »Die haben ein prächtiges Herrenhaus«, erklärte Lucas. »Sie können es von hier nicht sehen, es liegt hinter den Eukalyptusbäumen. Die Cosgroves besaßen am Anfang vierhunderttausend Hektar und achtzigtausend Schafe – in guten und in schlechten Jahren. Nun sind der 12
Station noch sechsundfünfzigtausend Hektar und zwanzigtausend Schafe geblieben. Na ja, mir würde auch das genügen, wenn ich es geschenkt bekäme.« Auf vier Pfosten stand der Briefkasten von Mira, und Lucas schaute hinein. Die Post war bereits abgeholt. Der Wachtmeister blickte auch in den zweiten, etwas kleineren Briefkasten und zog ein Säckchen heraus, an dem ein Etikett mit der Aufschrift ›Madden‹ hing. »Das nehme ich gleich mit«, meinte Lucas. »Lush würde ich den Gefallen nicht tun, aber die beiden Frauen sind in Ordnung. Viel zu gut für ihn.« Gleich hinter der Flußbiegung teilte sich der Buschpfad, und Lucas folgte der rechten Abzweigung, die am Fluß entlang zu einer Farm führte, die von Eukalyptusbäumen umsäumt wurde. Das Wohnhaus wirkte neben dem riesigen Schurschuppen doppelt klein. Es hatte einen frischen Anstrich nötig, und es hätte auch nichts geschadet, wenn jemand das herumliegende Alteisen und die vielen Abfälle weggeräumt hätte. Wachtmeister Lucas fuhr bis dicht vor die geschlossene Haustür. Er wollte gerade klopfen, als ein Mädchen aus dem Schurschuppen trat, das von zwei Hunden begleitet wurde. Sie trug eine Niethose und Reitstiefel, und ihr Gang verriet deutlich, daß sie gewöhnt war, auf einem Pferd zu sitzen. Lucas trat an seinen Jeep zurück und wartete auf sie. »Guten Tag, Mr. Lucas«, sagte sie ein wenig atemlos. »Gut, daß Sie nicht geklopft haben. Mutter liegt im Bett, ihr geht’s nicht sehr gut.« Sie blickte auf den Postbeutel, den der Wachtmeister in der Hand hielt, dann auf Bony, der noch im Jeep saß. Schließlich schickte sie die Hunde weg. »Oh, das tut mir leid, Jill«, erwiderte Lucas und reichte ihr den Postbeutel. »Ich habe ihn gleich mitgebracht, falls Ihr Stiefvater anderweitig beschäftigt ist. Wir fahren nach Bourke, heute abend komme ich zurück. Kann ich vielleicht für Ihre Mutter etwas besorgen?« »Nein, vielen Dank, ich glaube kaum. Bill Lush ist nicht da. Ich wollte die Post später holen. Vielen Dank, daß Sie sie mitgebracht haben.« »Schon gut, Jill.« Wachtmeister Lucas lächelte. »Bill hat wahrscheinlich noch einen gewaltigen Kater, wie?« 13
»Ich weiß nicht«, erwiderte das Mädchen steif. »Seit er in die Stadt gefahren ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich habe auch keine Sehnsucht nach ihm.« »Er ist mit dem Auto bis zum Briefkasten gekommen, dann war das Benzin alle.« Eine steile Falte erschien zwischen den schön geschwungenen dunklen Brauen des Mädchens. Ihr dunkelbraunes Haar und die Silbermarkasitbrosche, die sie an der groben Leinenjacke trug, leuchteten im Sonnenschein. »Wahrscheinlich hat er sich mit einem gehörigen Vorrat an Schnaps irgendwo verkrochen«, sagte sie verbittert. »Es wäre nicht das erstemal, Mr. Lucas. Sie kennen ihn ja. Dann kann er sich selbst nicht ausstehen, und uns erst recht nicht. Warum sperren Sie ihn eigentlich nicht ein, wenn er betrunken ist? Er ist doch noch nie nüchtern aus der Stadt weggefahren!« »Stimmt«, mußte der Wachtmeister zugeben. »Aber ich habe keinen Grund, ihn einzusperren. Wie wir alle wissen, fährt er um so vorsichtiger, je betrunkener er ist. So, nun müssen wir weiter. Grüßen Sie Ihre Mutter, Jill.« »Vielen Dank, wird besorgt. « Als der Wagen zur Straße zurückfuhr, drehte sich Bony um, und er sah, wie das Mädchen ihnen gedankenverloren nachblickte. »Nettes Mädchen«, meinte er, als die Madden-Farm hinter den Bäumen verschwunden war. »Ja. Aber die Mutter hat einen großen Fehler begangen.« »Oh! Wieso?« »Vor reichlich zwei Jahren starb ihr Mann. Sie stellte einen Farmarbeiter ein, der gerade vorbeikam. Es schien alles in Ordnung zu sein. Nach einem Jahr heiratete sie ihn. Und nun hat er das Kommando übernommen. Privat mag ich ihn nicht – offiziell habe ich nichts gegen ihn. Ein aalglatter Typ. Wenn er betrunken ist, wird er überhöflich, aber seine Augen verraten, was er in Wirklichkeit denkt.« »Die Farm scheint etwas heruntergewirtschaftet zu sein«, meinte Bony. »Viele Schafe?« »Ungefähr dreitausend. Keine besonders große Zuchtauswahl. Unter Madden entwickelte sich alles prächtig. Bei ihm herrschte Sauberkeit, 14
er hielt das Haus in Schuß. Aber jetzt – wie gesagt, die Witwe hat einen großen Fehler gemacht.« Sie unterhielten sich über dies und das, und als sie an der berühmten Dunlop-Schafstation vorüberkamen, erzählte Wachtmeister Lucas weitschweifig ihre Geschichte. Plötzlich wurde er still, und Bony fragte schließlich, ob ihn irgend etwas beschäftige. »Ja, Inspektor, ich grüble schon die ganze Zeit. Haben Sie bemerkt, daß auf der Madden-Farm irgend etwas nicht in Ordnung war?« »Gewiß«, erwiderte Bony. »Das Haus braucht dringend einen frischen Anstrich. Und dann müßte mal aufgeräumt werden. Und wenn das Dach vom Schurschuppen nicht bald repariert wird, dürfte es eines Tages vom Wind davongeweht werden.« »Das alles meine ich nicht. Offen gestanden, ich weiß überhaupt nicht, was mir eigentlich komisch vorkommt.« »Vielleicht das Verhalten des Mädchens?« »Nein, sie benahm sich ganz normal. Sie hat ihren Stiefvater nie gemocht, und das wundert mich nicht. Beim Haus stimmt irgend etwas nicht.« »Aha, beim Haus. Leider habe ich es heute zum erstenmal gesehen, da kann ich Ihnen schlecht helfen. Meinen Sie vielleicht die Axt, die vor der Tür lag? Sie schien eigentlich zum Holzstoß zu gehören.« »Nein, die Axt war es nicht. Aber ich komme schon noch dahinter.« Der Westrand von Bourke kam bereits in Sicht, da stieß Wachtmeister Lucas plötzlich einen lauten Schrei aus. »Jetzt hab’ ich’s! Die alte Tür war wieder eingehängt. Warum wohl?« »Wahrscheinlich ist sie von einem Ausflug zurückgekommen«, sagte Bony amüsiert. »Deshalb!« »Die Vorderseite des Hauses liegt nach dem Fluß zu, die Rückseite nach Westen und damit zur Straße. Die Rückseite bekommt die Weststürme und den Staub ab. Und wie alles, hat auch die Hintertür einen Anstrich nötig. Ich war vor drei Monaten dort, um mit Mrs. Lush über die Rückgabe von Vieh zu sprechen, da brachte Lush gerade die neue Tür an. Die alte lehnte an der Hauswand. Es war eine schwere, getäfelte Tür, die neue hingegen eine einfache Brettertür. Nun war heute wieder die alte Tür drin. Warum sollte man aber eine neue durch eine alte ersetzen?« 15
»Vielleicht paßte die einfache Tür besser als Zimmertür, und da hat man die alte wieder eingehängt, bis eine neue Hintertür gekauft wird?« meinte Bony. »Hm, das wäre möglich. So wird es sein. Aber die Axt – was hat die vor der Tür zu suchen? Die gehört doch zum Holzstapel!« Bony lachte. »Sie sind wirklich ein mißtrauischer Polizist.« »Ich und mißtrauisch U Lucas lachte ebenfalls. »Immerhin haben Sie mich auf die Axt aufmerksam gemacht.«
3
M
ehr durch die Lebensumstände als aus Neigung war Mrs. Cosgrove eine harte Geschäftsfrau geworden. Aber sie konnte auch sehr großzügig sein. Sie war verwitwet, Ende Vierzig, und das ganze Interesse galt ihrer Schafstation Mira. Am Donnerstag befand sich das Postauto auf der Rückfahrt von White Bend nach Bourke. Es war um acht Uhr losgefahren, und um neun sammelte der Chauffeur die Post von den Mira-MaddenBriefkästen ein. Sofort nach dem Frühstück, das pünktlich um sieben Uhr serviert wurde, machte Mrs. Cosgrove zusammen mit ihrem Geschäftsführer die abgehende Post fertig. Der versiegelte blaue Sack wurde dann stets von ihrem Sohn oder einem Farmarbeiter zum Briefkasten gebracht. Manchmal wartete man auch auf das Postauto und übergab dem Fahrer den Sack. Entsprechend dieser Gepflogenheit brachte an diesem Donnerstag ihr Sohn Raymond den Postsack zum Briefkasten an der Straße. Als Lushs Lastwagen immer noch dort stand, wurde Ray neugierig. Er war an diesem Morgen zu Fuß gegangen, war dem rechten Ufer des ausgetrockneten Flusses bis zu der scharfen Biegung oberhalb von Mira 16
gefolgt, und von da aus entdeckte er den Wagen auf der Klippe über dem großen Wasserloch. Ray lief am Rande des Wasserlochs entlang, kletterte das Steilufer hinauf und schlenderte um den verlassenen Wagen herum, um anhand der Spuren festzustellen, ob Lush kürzlich dagewesen sei. Aber der Wind hatte bereits alle Spuren verweht – sogar die von Lucas und Bony. Als Ray am Tag zuvor den Postsack von dem rothaarigen Chauffeur entgegengenommen hatte, waren sie beide der Meinung gewesen, daß Lush seinen Kater ausschlief. Heute aber gelangten sie zu dem Schluß, daß er sich wohl einen Schnapsvorrat mitgebracht haben mußte, den er irgendwo heimlich, still und leise in sich hineinlaufen ließ. Raymond Cosgrove war ein immer gutgelaunter junger Mann, der sich mit allen Menschen gut vertrug. Trotzdem empfand er eine heftige Abneigung gegen William Lush – und zwar aus einem ganz persönlichen Grund. Wo Lush an diesem herrlichen Morgen steckte, interessierte ihn allerdings nicht, und als er nach Hause zurückkehrte, ließ ihn der Gedanke, daß der Mann vielleicht über die Klippe in das tiefe Wasserloch gestürzt war, völlig kalt. Seiner Mutter gegenüber erwähnte er lediglich, daß der Lastwagen immer noch an der alten Stelle stand. »Ach«, erwiderte Mrs. Cosgrove. »Lucas hat gerade deswegen angerufen. Er sah ihn gestern, als er nach Bourke fuhr, und als er am Abend zurückkam, stand er immer noch da. Er wollte wissen, ob der Wagen auch jetzt noch bei den Briefkästen steht. Rufe ihn doch gleich an.« Ray trat an das Wandtelefon, und sie betrachtete voller Stolz die schlanke Gestalt und das hübsche, jungenhafte Profil ihres Sohnes. »Na, wie steht’s?« sagte der gerade. »Der Wagen? Ja, der steht noch an der alten Stelle … Nein, ich habe nichts von Lush gesehen. Wahrscheinlich hat er sich im Busch verkrochen, um sich ungestört vollaufen lassen zu können … Dem etwas zustoßen! … Na schön, großer Detektiv. Ja, wird besorgt. Ich rufe Sie dann später wieder an.« Er hängte den Hörer auf und drehte sich zu seiner Mutter um. Lucas habe ihn gebeten, sich bei Mrs. Lush nach ihrem Mann zu erkundigen, erklärte er. »Ich werde mit ihr sprechen, Ray.« Um Madden unnötige Kosten zu ersparen, hatte Mr. Cosgrove damals zugestimmt, daß die Telefonleitung über den Fluß direkt zu seinem Büro verlegt wurde, wo der Klappenschrank installiert war. Von 17
dort aus wurden dann die Gespräche weitervermittelt. Ray stellte den Anschluß her, und Mrs. Cosgrove nahm den Hörer. »Hallo, Jill! Ist Ihr Stiefvater nach Hause gekommen? Ray war gerade beim Briefkasten, und da stand der Lastwagen immer noch da.« »Seit Lush in die Stadt gefahren ist, haben wir ihn nicht mehr gesehen«, erwiderte das Mädchen, und ihre Stimme klang leicht erregt. »Gestern war Mr. Lucas schon hier, er hatte den Wagen ebenfalls gesehen. Anscheinend hat sich Lush irgendwo verkrochen, um in aller Stille zu trinken. Wenn er nichts mehr hat, wird er nach Hause kommen. Ich hätte mich schon um den Wagen gekümmert, aber Mutter ist krank. Ihr war bereits gestern nicht gut. Sie ist gestürzt und hat sich verletzt.« »Ist es schlimm, Jill?« fragte Mrs. Cosgrove scharf. »Sie hat sich das Gesicht verletzt, als sie auf einen Hocker fiel, und auch die Rippen haben etwas abbekommen. Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, Mrs. Cosgrove – Salben und Bandagen und so weiter. Jetzt schläft sie.« »Das ist aber schlimm«, meinte die Schafzüchterin. »Sie müssen mich unbedingt anrufen, falls es Ihrer Mutter nicht bessergeht, wenn sie geschlafen hat. Ich lasse die Verbindung bestehen. Inzwischen werden meine Leute Ihren Stiefvater suchen – soweit ich sie entbehren kann.« Sie hängte den Hörer an den Haken und wandte sich an ihren Sohn. »Lush ist nicht zu Hause, und Mrs. Lush ist bös gestürzt und hat sich verletzt. Nimm alle Männer, die gerade nichts Wichtiges zu tun haben, und sucht ihr diesen Trunkenbold. Sie gehen auch mit, Mac. Wird Ihnen guttun, mal auf einem Pferd zu sitzen. Sie werden feist.« »Dann machen wir uns gleich auf den Weg, Mutter. Kommen Sie, Mac.« Mr. Ian MacCurdle hatte blondes Haar und ein blondes Bärtchen. Er war groß und hatte ein zerfurchtes Gesicht. Leise stöhnend folgte er Raymond Cosgrove aus dem Büro. Er war nach Mira gekommen, als der Vater des jungen Mannes noch gelebt hatte, und nun gehörte er praktisch zum Inventar. Mrs. Cosgrove hörte, wie ihr Sohn die Männer zusammenrief. Von der schmalen Veranda des Holzgebäudes, in dem sich Büro und Lager befanden, beobachtete sie, wie er mit vier Männern den Fluß hinabritt. Unterhalb des Schurschuppens befand sich ein bequemer Übergang. Offensichtlich wollten sie Madman’s Bend absuchen, dieses Ödland 18
mit den ausgetrockneten Nebenarmen des Flusses und den wassergefüllten Untiefen. Sie waren noch nicht zurück, als die Herrschaftsköchin mit dem Gong zum Mittagessen rief. Bevor Mrs. Cosgrove das Büro verließ, rief sie noch einmal bei den Maddens an. »Mutter schläft noch, Mrs. Cosgrove«, berichtete Jill. »Ich mache mir langsam Sorgen. Ich glaube – ach, ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.« Mrs. Cosgrove war es gewöhnt, rasche Entschlüsse zu fassen. Sie werde sofort kommen, sagte sie und hängte auf. Dann rief sie das Hausmädchen. Das Mittagessen müsse verschoben werden, erklärte sie, und solange sie weg sei, solle sich das Mädchen ans Telefon setzen. Falls Mr. Mac zurückkäme, könne der sie ablösen. Sie benützte den schmalen Weg am Ufer entlang, den die Männer getrampelt hatten, wenn sie zum Briefkasten gingen. Sie hörte die Rufe der Männer am anderen Ende von Madman’s Bend, und schließlich entdeckte sie zwei bei dem Lastwagen. Beim Haus der Maddens durchquerte sie das ausgetrocknete Flußbett, und als sie an die Vordertür klopfte, öffnete Jill Madden sofort. »Oh, vielen Dank, daß Sie sich selbst bemüht haben, Mrs. Cosgrove«, sagte Jill. »Mutter geht es sehr schlecht.« Die Farmersfrau war bewußtlos. Beim Anblick ihres Gesichtes, von dem ein Teil des Verbandes entfernt war, erschrak Mrs. Cosgrove. Nachdem sie die Kranke untersucht hatte, machte sie sich heftige Vorwürfe, nicht viel früher gekommen zu sein. »Ich rufe den Doktor«, erklärte sie energisch. »Es wäre völlig verkehrt, wenn wir Ihre Mutter in diesem Zustand nach Bourke bringen wollten. Ich werde mit Chefinspektor Macy sprechen. Er wird dann veranlassen, daß der Doktor kommt.« Sie mußte erst ihrem Mädchen, das im Büro am Telefon saß, erklären, wie die Verbindung herzustellen war, und dann dauerte es noch eine Weile, bis man den Chefinspektor an den Apparat geholt hatte. Mrs. Cosgrove atmete erleichtert auf, als sie endlich seine tiefe Stimme vernahm. »Wir brauchen Hilfe, Jim«, sagte sie. »Meine Nachbarin, Mrs. Lush, ist bös gestürzt und benötigt dringend einen Arzt. Sie ist bewußtlos, der Atem unregelmäßig. Nun kennen Sie ja Doktor Leveska, aber er muß 19
so schnell wie möglich kommen. Würden Sie veranlassen, daß er sofort losfliegt?« »Natürlich, Betsy. Das heißt – falls er nicht unterwegs ist. Einen Augenblick.« Mrs. Cosgrove konnte hören, wie sich jemand nach Lush erkundigte. »Gut, Betsy, ich werde den Doktor schicken. Übrigens – ist Lush nicht da?« »Meine Männer suchen ihn.« Ihre Stimme wurde scharf. »Sie hätten ihm längst Wirtshausverbot geben müssen!« »Nach allem, was ich von Wachtmeister Lucas gehört habe, wird das wahrscheinlich auch geschehen. Kann ich dem Doktor sagen, daß Sie eine Rauchpatrone auf die Landebahn legen, damit er die Windrichtung erkennen kann? Das spart Zeit.« Mrs. Cosgrove versprach es und legte den Hörer auf. Dann bat sie Jill um eine Tasse Tee und etwas zu essen. Das muß schon ein böser Unfall gewesen sein! dachte sie, als sie mit der bewußtlosen Farmersfrau allein war. »Wann ist es eigentlich passiert?« fragte sie, als sie kurz darauf mit Jill beim Mittagessen saß. »Vorgestern abend, Mrs. Cosgrove.« Die dunklen Augen des Mädchens wichen den forschenden grauen Augen der Schafzüchterin aus. »Obwohl Mutter immer wieder gesagt hat, wir dürften nichts verraten, damit es keinen Skandal gibt, werde ich Ihnen jetzt die Wahrheit beichten. Vielleicht stirbt Mutter. Meinen Sie nicht auch?« »Es wäre möglich. Und wie ist es nun geschehen?« Jill erzählte, wie sie bei der Rückkehr von der Schafmusterung ihre Mutter am Boden liegend vorgefunden habe. Später habe sie herausbekommen, daß Lush seine Frau zusammengeschlagen hatte, bevor er in die Stadt gefahren war. Mrs. Cosgrove lauschte schweigend, aber ihr Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Sie wollte dem Mädchen Vorwürfe machen, nicht schon längst etwas gesagt zu haben, doch dann ließ sie es. Sie wußte, daß die Buschbewohner unbedingt unabhängig sein möchten und unter allen Umständen einen Skandal zu vermeiden suchten. Die beiden Frauen saßen noch am Tisch, als das Telefon schrillte. »Sie sind gerade gestartet«, sagte der Chefinspektor. »Doktor Leveska bringt Inspektor Bonaparte mit. Der Inspektor möchte sich dort gern 20
mal ein bißchen umsehen, vielleicht kann er auch angeln und jagen. Es macht Ihnen doch nichts aus?« »Ob er ein angenehmer Gast ist, kann ich Ihnen erst hinterher sagen. Wann besuchen Sie uns eigentlich mit Ihrer Frau? Ich möchte wieder mal ordentlich tratschen.« »Vor dem Hochwasser nicht mehr. Es könnte sonst passieren, daß wir bei Ihnen festsitzen. Haben Sie den Windrichtungsanzeiger ausgelegt?« »Himmel, nein! Das habe ich ganz vergessen. Wird aber sofort besorgt.« Sie beendete das Gespräch und wandte sich an Jill. »Der Doktor ist abgeflogen. Ich habe versprochen, eine Rauchpatrone auszulegen.« Sie kurbelte am Telefon, und gleich darauf meldete sich das Dienstmädchen. »Sind die Männer schon zurück, Ethel?« »Noch nicht, Mrs. Cosgrove. Steve war gerade hier, er wollte wissen, ob er das Mittagessen warm halten soll.« »Natürlich muß er das Essen warmhalten. Holen Sie ihn mal rasch ans Telefon.« Mrs. Cosgrove wartete ungeduldig. Endlich meldete sich der Farmarbeiter, und sie wies ihn an, mit dem grauen Lastwagen hinaus zum Landestreifen zu fahren und eine Rauchpatrone auszulegen. Dann solle er auf Doktor Leveska warten. Mrs. Cosgrove machte sich Vorwürfe, denn bis Bourke waren es nur achtundneunzig Meilen. Da konnte es leicht passieren, daß der Doktor zur Landung ansetzte, bevor der Windrichtungsanzeiger ausgelegt war. Dr. Leveska war zwar ein guter Arzt, aber meist brummig. Er war ein guter Flieger, doch wenn er gerade schlechte Laune hatte, die Leute munkelten, daß dies mit der Whiskyflasche zusammenhing –, weigerte er sich, in seine Maschine zu klettern. Deshalb hatte es Mrs. Cosgrove vorgezogen, den Doktor durch den Chefinspektor, mit dem sie befreundet war, verständigen zu lassen. Sie nahm wieder am Tisch Platz und betrachtete Jill Madden, die sich gerade eine Zigarette drehte. »Wenn Mutter sterben sollte, wird Lush dann gehängt?« fragte das Mädchen, nachdem sie die Zigarette angezündet hatte. 21
»Nein, bei uns werden die Mörder ja noch verpäppelt. Aber sie werden ihn ein paar Jahre einsperren. Das wird für Sie eine Erholung sein. Hat er Ihre Mutter früher schon geschlagen?« Jill nickte. »Wenn Mutter nicht sterben sollte, wenn sie wieder gesund wird – was wird man dann mit Lush machen?« »Wahrscheinlich gar nichts – wenn Ihre Mutter nicht Anzeige erstattet.« »Das würde sie nie tun. Aber wenn er sie noch einmal anrührt, schieße ich ihn nieder.« Mrs. Cosgrove schüttelte bedächtig den Kopf. »Damit würden Sie alles nur noch schlimmer machen. Gewiß, Sie würden in Notwehr handeln, aber bedenken Sie, was nachher kommt: Gerichtsverhandlung, ausführliche Zeitungsberichte und so weiter. Sie müssen Ihre Mutter überreden, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Dann wird man ihn vermutlich für sechs Monate ins Gefängnis stecken. Vielleicht billigt man ihm aber auch Bewährungsfrist zu.« Mrs. Cosgrove dachte daran, welches erbärmliche Leben diese beiden Frauen zu führen gezwungen waren, während sie – trotz Jills Protesten – dem Mädchen half, das Geschirr abzuspülen und die Wohnung aufzuräumen. Sie sah gerade nach der bewußtlosen Farmersfrau, als sie das Geräusch eines näher kommenden Autos vernahm. Es war Wachtmeister Lucas. Seine braunen Augen blickten ernst, aber er war sehr liebenswürdig zu Jill. Nachdem er sich die Verletzte angesehen hatte, erklärte er, daß er auf ausdrücklichen Wunsch des Chefinspektors vorbeischaue. »Lush ist immer noch nicht aufgetaucht?« »Nein, Mr. Lucas, er ist noch nicht aufgetaucht«, erwiderte Mrs. Cosgrove. »Wahrscheinlich werden Sie schon bald nach ihm fahnden müssen – wegen Mordes. Mein Sohn ist bereits mit ein paar Männern unterwegs und sucht ihn.« »Jill, ist so etwas schon früher passiert?« Das Mädchen nickte. »Zum Donnerwetter, warum haben Sie mir dann gestern nichts gesagt? Was hat Sie davon abgehalten?« »Mutter. Sie fürchtet sich so sehr vor einem Skandal. Und gestern ging es ihr noch nicht so schlecht wie jetzt.« 22
Sie waren in der Wohnküche, von der drei Zimmer abgingen. Lucas musterte unauffällig die drei Türen. Sie waren alle alt und massiv. Vor dem Haus fand er die Axt noch an der Stelle, wo er sie gesehen hatte. Er wollte sich gerade etwas umschauen, als er vom Fluß herüber Stimmen vernahm. Da ging er ins Haus zurück und sagte den Frauen, daß der Doktor eingetroffen sei. Dr. Leveska war schmächtig, hatte scharfe Gesichtszüge, wachsame Augen und eine spitze Zunge. »Was geht hier eigentlich vor? Wie ist sie gestürzt? Sie kann doch unmöglich so schwer verletzt sein, daß man sie nicht hätte nach Bourke bringen können. Also, wo liegt sie?« Jill und Mrs. Cosgrove begleiteten den Arzt ins Schlafzimmer, Lucas und Bony blieben in der Wohnküche zurück. Im Schlafzimmer blieb es sehr still, doch plötzlich begann Jill Madden zu schluchzen. Gleich darauf kam Dr. Leveska wieder heraus. »Sie ist gerade gestorben. Aber es war kein Sturz!«
4
W
achtmeister Lucas erstattete dem Chefinspektor telefonisch Bericht. Als der Chefinspektor hörte, daß Dr. Leveska auf einer Obduktion bestand, ordnete er an, die Aussagen von Jill Madden und Mrs. Cosgrove zu Protokoll zu nehmen und die Leiche nach Bourke zu überführen. Alles mußte sehr schnell gehen, denn die Flutwelle passierte bereits Bourke und würde wahrscheinlich die Madden-Farm und die Mira-Station auf Wochen von der Außenwelt abschneiden. Mrs. Cosgrove bestand darauf, daß Jill zu ihr zog, und nachdem die beiden Frauen in Begleitung von Dr. Leveska gegangen waren, half Bony dem Wachtmeister, Lushs Lastwagen fahrbereit zu machen. Dann luden sie gemeinsam die Leiche auf. 23
»Ich bleibe hier, bis Sie zurückkommen«, sagte Bony zu Lucas. »Ich werde mich inzwischen etwas umschauen. Falls Lush auftauchen sollte, nehme ich ihn fest.« »Ich habe die neue Brettertür nicht im Innern des Hauses entdecken können«, meinte der Wachtmeister, und Bony erwiderte, daß er sie suchen werde. Als der Wachtmeister mit seiner traurigen Fracht abgefahren war, schlenderte Bony durch das Haus und vergewisserte sich, daß die fragliche Tür tatsächlich nirgends angebracht oder aufbewahrt wurde. Dann fachte er das Feuer im Herd an, brühte Tee auf und setzte sich an den Tisch. Wahrscheinlich gibt es für das Verschwinden der Tür eine ganz einfache Erklärung! dachte er. Diese Tür und die Axt, die vor der Hintertür gelegen hatte, dazu das Verschwinden von Lush – dies alles hatte Bony bewegen, nicht, wie geplant, von Bourke abzufliegen. Wie ein guter Stöber hatte er die Fährte aufgenommen, und nun mußte er ihr folgen. Am Vormittag hatte er in Chefinspektor Macys Büro seinen Bericht über den soeben abgeschlossenen Fall geschrieben. Der Chefinspektor war des Lobes voll gewesen, und da er gerade infolge einer Grippewelle sehr knapp an Personal war, hatte er nichts dagegen gehabt, als Bony die Buchung seines Platzes für die Nachmittagsmaschine nach Sydney rückgängig machte. Sie hatten gerade mit Mrs. Macy am Mittagstisch gesessen, als ein Wachtmeister meldete, daß Mrs. Cosgrove von der Madden-Farm anrufe. Bony hatte den Chefinspektor ins Büro begleitet und bei dieser Gelegenheit erfahren, daß Lush noch nicht nach Hause zurückgekehrt sei. »Schön, Bonaparte«, meinte Macy. »Wenn Doktor Leveska Sie mitnehmen will, wäre das eine große Hilfe für uns. Aber wenn der Chef explodiert, weil Sie heute nicht zurückkehren, dann müssen Sie das auf Ihre Kappe nehmen.« »Mit dem hohen Chef werde ich besser fertig als mit manchem Wachtmeister«, erwiderte Bony ungerührt. »Das Mädchen hat Lucas nichts gesagt, daß ihre Mutter gestürzt ist und sich so schwer verletzt hat, daß sie heute in tiefer Bewußtlosigkeit liegt und Mrs. Cosgrove sich größte Sorgen macht. Das Auswechseln der Türen findet vielleicht eine ganz harmlose Erklärung, aber Sie werden zugeben, daß man normalerweise keinen neuen Gegenstand durch einen alten ersetzt.« 24
Das Mädchen war viel zu aufgeregt gewesen, um eine vernünftige Aussage zu machen, und weder Bony noch Lucas hatten sie nach der Tür gefragt. Nun begann Bony mit den notwendigen Ermittlungen, und es würde sich bald herausstellen, ob es tatsächlich etwas gab, das einen längeren Aufenthalt rechtfertigte. Nachdem er eine seiner selbstgedrehten Zigaretten geraucht hatte, untersuchte er die rückwärtige Tür. Die Angeln waren so alt wie die Tür, die Stützhaken aber über zwei Zentimeter länger, was darauf schließen ließ, daß hier schon mehrere Türen Verwendung gefunden hatten. Er ließ die Tür zurückschwingen, sie quietschte. Die Farbe war durch Sonne und Wind abgeplatzt, innen und außen war die Tür mit einer dichten Staubschicht überzogen. Auf den Fensterbänken, auf dem Kaminsims und den Möbeln war kein Staub zu entdecken – ein Beweis, daß Mrs. Lush und ihre Tochter ’ die Wohnung tadellos saubergehalten hatten. Die alte staubige Tür war also erst eingehängt worden, nachdem die Farmersfrau verletzt im Bett gelegen hatte. Bony erinnerte sich, in der Ecke neben dem Küchenschrank eine Winchesterbüchse gesehen zu haben. Er schob vorsichtig eine Fingerspitze in die Mündung und zog das Gewehr hervor. Lauf und Schaft glänzten ölig. Die Fingerabdrücke waren im Augenblick gewiß nicht wichtig, und es war auch nicht weiter verdächtig, daß die Büchse ausgerechnet jetzt gereinigt worden war. Das runde Loch in der Decke konnte allerdings eine wichtige Bedeutung haben. Bony holte sich aus dem Waschhaus eine Leiter und untersuchte das Loch. Es schien von einem zweiunddreißiger Geschoß zu stammen. Er rückte die Leiter ein Stück weiter und öffnete die Bodenluke. Eine Wolke Sand und Staub ergoß sich über ihn, doch dann konnte er das entsprechende Loch im Wellblechdach sehen. Die Büchse, die er hinter dem Küchenschrank hervorgeholt hatte, besaß Kaliber zweiunddreißig. Er brachte gerade die Leiter ins Waschhaus zurück, als ein Reiter von den Briefkästen herüberkam. Bony setzte sich auf die Bank vor dem Haus und drehte sich die unvermeidliche Zigarette. Der Reiter stieg vom Pferd, hängte sich die Zügel über den angewinkelten Arm und trat zur Bank. »Wer sind Sie?« fragte der blonde, junge Mann. »Ich bin Inspektor Bonaparte.« 25
»Oh! Wie geht’s denn der alten Dame?« »Sie ist tot. Und wer sind Sie?« »Ich bin Ray Cosgrove. Sie ist tot – sagen Sie?« »Ja. Wußten Sie das nicht?« »Nein. Ich war den ganzen Vormittag mit ein paar von unseren Leuten unterwegs. Wir haben Lush gesucht. Ich wußte nur, daß Mrs. Lush bös gestürzt ist. Ist Jill nicht da?« Bony erklärte ihm, daß Jill von Mrs. Cosgrove eingeladen worden war, auf Mira zu wohnen. Der junge Cosgrove bemerkte den Jeep von Lucas, und Bony erzählte ihm, daß der Wachtmeister die Tote mit dem Lastwagen nach Bourke brachte. Der junge Mann band das Pferd an einen Verandapfosten und setzte sich auf die Bank. »Was für ein Inspektor sind Sie eigentlich – ein Karnickelinspektor?« »Nein, Polizei!« »Himmel! Dann wollen Sie Lush festnehmen?« »Natürlich.« »Packen Sie ihn bloß nicht mit Samthandschuhen an.« Ray Cosgrove drehte sich eine Zigarette. Er hatte dabei die Unterarme auf die gespreizten Knie gestützt, und der Rand seines Zehn-GallonenHutes ragte steil nach unten. »Wissen Sie, wenn man Lush ein Schwein nennt, würde man die Schweine beleidigen. Er ist ein Höflichtuer, ein Duckmäuser und ein niederträchtiger Schuft. Was die beiden Frauen mitgemacht haben, kann sich niemand vorstellen. Hoffentlich fällt er mir in die Hände, und nicht Ihnen. Denn wenn Sie ihn erwischen, kommt er ja lediglich für ein oder zwei Jahre in eine gemütliche Gefängniszelle.« »Und warum wollen ausgerechnet Sie ihn erwischen?« »Das ist mein kleines Geheimnis, Inspektor.« Cosgrove lehnte sich gegen die Hauswand. »Haben Sie ein persönliches Interesse daran?« »Natürlich. Schließlich sind die Maddens von Anfang an unsere Nachbarn. Jills Vater war ein Prachtkerl. Er war mit meinem Vater gut befreundet. Als er starb, war dies hier eine blühende Schaffarm. Schauen Sie sich doch nur um: überall Abfälle und Unrat, die Schuppen verfallen, die Zäune werden nur provisorisch geflickt statt repariert. Warum hat Lush seine Frau eigentlich diesmal verprügelt, wissen Sie das?« »Sie weigerte sich, ihm einen Scheck über dreihundert Pfund zu geben.« 26
»Dreihundert Pfund!« wiederholte Cosgrove nachdenklich. »Ein schöner Batzen Geld. Da muß er in White Bend gewaltige Schulden haben. Bei den beiden Brüdern Roberts wird Poker gespielt, und wer seine Spielschulden nicht bezahlt, bekommt eine Abreibung. Lush scheint sich da ziemlich tief hineingeritten zu haben.« »Er trinkt auch?« meinte Bony. »Und ob, aber auch nicht mehr als die meisten von uns, wenn sie einmal in die Stadt kommen. Ich habe gehört, daß man ihm im Hotel keinen Kredit mehr gegeben hat. Außerdem ist es üblich, daß man sich einen oder zwei Kartons Bier mitbringt, aber als ich vorgestern die Post zum Kasten gebracht habe, war nicht eine einzige Flasche in seinem Wagen. Und in der Nacht zuvor muß er aus der Stadt zurückgekommen sein.« »Sie glauben also, daß er die dreihundert Pfund ganz verzweifelt benötigt hat, um seine Spielschulden zu bezahlen?« »Er wäre genauso verzweifelt gewesen, wenn er nur fünfzig gebraucht hätte«, erwiderte Cosgrove. »Ich sagte Ihnen ja, in welchem Ruf die Brüder Roberts stehen. Und wie ich von Jill hörte, bereitete es Lush geradezu Vergnügen, seine Frau von Zeit zu Zeit zu verprügeln.« »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was ihm passiert sein könnte?« fragte Bony. Cosgrove schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Er könnte natürlich über die Klippe ins Wasserloch gestürzt und ertrunken sein. Er könnte sich aber genausogut mit einer Flasche irgendwo verkrochen haben. Haben Sie hier schon alles abgesucht?« »Noch nicht«, antwortete Bony. »Ich hatte es gerade vor. Deshalb bin ich hier. Wollen wir einmal nachsehen?« Bony war sofort einverstanden, und sie begannen ihren Inspektionsgang. In dem offenen Autoschuppen stand ein ramponiertes Sulky, das Geschirr hing an einem Wandhaken. Cosgrove erzählte Bony, daß Lush an ein paar Trabrennen teilgenommen habe, ohne je zu gewinnen. Auf diese Weise habe er nur wieder unnütz Geld ausgegeben. Anschließend traten sie in die Arbeiterunterkunft. Es war eine einfache Holzhütte, die lediglich einen Tisch und zwei eiserne Bettstellen enthielt. Die Tür hing schief in den Angeln, das Fenster war mit Spinnweben überzogen. Auch in dem massiven Schurschuppen konnten sie keine Spur 27
von Lush entdecken. Die beiden Männer trennten sich nun: Cosgrove suchte landeinwärts, während Bony am Ufer entlang zum Haus zurückkehrte. Unterhalb des Schuppens befand sich die Wasserstelle. Das Wasser wurde durch eine Pumpe in die Tanks gefördert, die sowohl den Schuppen als auch das Haus versorgten. Schließlich kam Bony zu einem kleinen Pferch mit einem Schlachtgerüst. Hier wurden die Rationsschafe gehalten und geschlachtet. Über dem Zaun hingen mehrere Schaffelle. Sie waren völlig trocken und gehörten längst in den Schuppen. Bony sah im Fellschuppen nach, fand aber auch hier keine Anzeichen, daß jemand genächtigt hatte. Wenige Meter vom Schlachtgerüst entfernt war eine offene Feuerstelle. Einige große Steine waren im Halbkreis als Windschutz aufgerichtet worden. Hier wurden die Knochen und Küchenabfälle verbrannt. Vom Haus herüber führte ein deutlich sichtbarer Pfad. Die oberste Ascheschicht verriet, daß hier in allerjüngster Zeit etwas verbrannt worden war. Die beiden Türangeln waren durch die Hitze geschwärzt, lagen aber noch genau an den Stellen, an denen sie an der Tür festgeschraubt gewesen waren, ebenso Schloß und Türgriffe. Bony blickte sich nach Cosgrove um. Der junge Mann ging auf das Haus zu, und da schlenderte Bony den Pfad entlang, um wieder mit ihm zusammenzutreffen. »Ich habe nirgends eine Spur von ihm gefunden«, sagte Cosgrove. »Nun, Sie haben ja selbst gesehen, was für ein faules Stück dieser Kerl war. Er hat überhaupt nichts angerührt. Der arme Madden würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das sähe. Was haben Sie für Pläne? Was wird aus den Hunden und den Hühnern?« »Ich bleibe hier, um Lush in Empfang zu nehmen, und da kümmere ich mich um alles«, erwiderte Bony. »Später sehen wir dann weiter. Im Autoschuppen ist Hühnerfutter, und im Fleischhaus hängt ein Viertel von einem Hammel. Anscheinend sind nur zwei Hunde da. Wir werden also nicht verhungern. Ihre Mutter schickt mir später meinen Koffer herüber.« Ray Cosgrove lächelte zum erstenmal. »Schön, Inspektor. Falls Sie noch etwas brauchen, dann sagen Sie dem Mann Bescheid, der Ihren Koffer bringt. Lush werden Sie sofort erkennen. Er hat ’nen Kopf wie ’ne Birne. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung. Hören Sie – Doktor Leveska startet gerade.« Er löste die Zügel vom Verandapfosten, warf sie 28
über den Kopf des Pferdes und saß im nächsten Augenblick im Sattel. »Ich wette, daß das Radio in Ordnung ist. Dafür hat Lush bestimmt gesorgt – er wollte ja die Rennergebnisse hören.« Er ritt davon, überquerte den Fluß oberhalb des Schurschuppens. Bony kettete die beiden Hunde los, die sofort Jagd auf die Hühner machten. Die Hähne begannen wütend zu krähen, und die allgemeine Aufregung lockte einige Kookaburras an. Diese auch unter denr Namen Jägerlist bekannten Vögel hockten auf einem rohgezimmerten Ständer und ließen ihr seltsames Gelächter ertönen. Bony hackte etwas Holz für den Herd, füllte die Petroleumlampen auf und inspizierte Mrs. Lushs Wäscheschrank. Im dritten Schlafzimmer bezog er sich ein Bett, dann brühte er eine Kanne Tee auf und rauchte einige Zigaretten. Nachdem er sich ausgeruht hatte, zerteilte er das Hammelfleisch: die Schulter zum Braten, die Koteletts zum Grillen, und dann noch etwas als Fressen für die Hunde. Die Kookaburras beobachteten gebannt, wie er das Fleisch ins Haus brachte, und ihre perlenförmigen Augen leuchteten erwartungsvoll auf. Als Bony in der Küche verschwand, murmelte einer der Vögel etwas, und ein zweiter stieß ein schnatterndes Gelächter aus. Bony ging noch einmal hinaus und betrachtete die Sitzstange genauer. Als er die dunklen Flecken auf dem Holz sah, wußte er, warum die Vögel bei seinem Näherkommen nicht davongeflogen waren. Sie warteten ebenfalls auf ihre Mahlzeit – acht hungrige Kookaburras. Das Hühnergehege wurde von einem hohen Zaun aus Maschendraht umsäumt, um die Füchse abzuhalten. Als sich Bony mit einer Schüssel voll Weizenkörnern laut glucksend dem Gehege näherte, nahmen die Hühner überhaupt keine Notiz von ihm. Schließlich war er ein Fremder. Bony trat durch die offene Tür, lockte lauter, und nun traten die Hunde in Aktion. Sie scheuchten die gackernden Hühner ins Gehege, wie sie sonst die Schafe in den Pferch trieben. Nachdem Bony die Hunde mit Fressen belohnt hatte, entschloß er sich, sie für die Nacht anzuketten. Doch da machten sich die Kookaburras bemerkbar. Sie pfiffen leise und kicherten. Bony schnitt Fleisch in kleine Würfel und brachte es zum Sitzgestell. Als er die Fleischstückchen auslegte, rückten die Vögel überhaupt nicht zur Seite, und sie begannen auch nicht feindselig zu kollern oder zu zanken. 29
»Von den Tieren und Vögeln kann man viel auf ihre Halter schließen«, murmelte Bony. »Euch dürfte das Mädchen gezähmt haben, meine wilden Freunde. Der Mann hat wohl die Hunde abgerichtet, und die Frau hat die Hühner aufgezogen und jeden Tag das Haus saubergehalten. Nur die Innenseite der alten Tür hat sie nicht abgewischt.« Bony saß beim Essen, als plötzlich an der Hintertür ein Mann erschien. Es war nicht William Lush, denn sein Gesicht war schmal und ähnelte keineswegs einer Birne. Die beiden Hunde wedelten zwar mit dem Schwanz, hatten aber nicht angeschlagen. Bony bat den Mann, der einen Koffer und einen Brief mitbrachte, näher zu treten. »Hier ist Ihr Koffer, Inspektor«, erklärte er überflüssigerweise. »Und ein Brief von Mrs. Cosgrove. Ich soll auf Antwort warten.« »Danke. Eine Tasse Tee?« »Ich habe gerade erst gegessen, danke.« Bony öffnete den Brief. ›Jill Madden bittet Sie, nach Belieben über das Haus zu verfügen. Bettwäsche ist im Wäscheschrank, Fleisch im Fleischhaus. Bitte geben Sie den Hunden einen Knochen und sperren Sie die Hühner ein. Und füttern Sie bitte auch die Kookaburras. Sie werden auf ihrer Sitzstange warten. Mein Sohn wird morgen früh vorbeischauen.‹ Die Unterschrift lautete Betsy Cosgrove. Bony blickte den Mann an. »Alles klar, da ist keine Antwort nötig. Wie heißen Sie eigentlich?« »Vickory. Vic Vickory. Ich bin der Verwalter von Mira.« »Sagen Sie, Mr. Vickory, warum hat sich Mrs. Cosgrove die Mühe gemacht, diesen Brief zu schreiben, wenn es doch das Telefon gibt?« »Ach, sie wollte Sie wohl nicht stören. Außerdem glaubte sie ja, daß Sie unterwegs sind und nach Lush suchen.« Bony stand auf und probierte das Telefon aus. Die Leitung war tot. Er zuckte die Achseln. »Die Leitung ist unterbrochen. Bitten Sie doch Mrs. Cosgrove, sie gleich morgen früh reparieren zu lassen.« »Wird ausgerichtet, Inspektor. Gute Nacht.«
30
5
B
ony saß vor der Hintertür auf der Bank, und beobachtete, wie die Sonne an dem klaren Himmel unterging. Ihre Strahlen leuchteten in einem kalten Zitronengelb. Der Kelpie lag unter der Bank, der Collie einen Meter entfernt. Die Kookaburras hockten auf einem Eukalyptusbaum und stimmten mit ihrem Gekicher in den abendlichen Chor ein. Als schließlich die Hühner mit ihrem aufgeregten Gegacker aufhörten, weil sie sich endlich geeinigt hatten, wer neben wem auf der Sitzstange hocken sollte, wiegte eine friedliche Abendstille den Tag in den Schlaf. Es war bereits ganz dunkel, da hörte Bony ein Auto, das die Straße am Fluß entlangkam. Da er Wachtmeister Lucas noch nicht erwartete, überlegte er, wer es wohl sein könne, denn auf dieser Straße kam nur selten ein Wagen entlang. Seit der Wachtmeister abgefahren war, war noch kein Fahrzeug vorbeigekommen. Die Hunde richteten sich auf, der Kelpie knurrte. Plötzlich leuchtete ein weißes Licht auf, das sich kurz darauf in Scheinwerfer verwandelte. Das Auto fuhr an der Farm vorüber. Als die Hunde den zweiten Wagen ankündigten, war es bereits neun Uhr vorbei. Dieses Fahrzeug bog in den Zufahrtsweg ein, die Scheinwerfer tauchten das Haus in gleißende Helle. Beide Hunde hatten sich erhoben, der kleinere lehnte sich steif gegen Bonys Bein. Der Inspektor tätschelte ihn und sorgte dafür, daß beide stillblieben. Der Wagen hielt an, die Scheinwerfer verloschen. »Ich hoffe, Sie haben den Kessel auf dem Feuer stehen«, rief Wachtmeister Lucas gutgelaunt. »Warum haben Sie es so dunkel?« »Wir haben die Sterne betrachtet«, erwiderte Bony und ging voran ins Haus. Er zündete die Lampen an und legte Holz auf den Herd. Die Hunde blieben vor der Tür, wie es auf den Farmen üblich ist. »War die Fahrt anstrengend?« fragte Bony. 31
»Ziemlich«, antwortete Lucas. »Erst wurde ich durch eine Reifenpanne aufgehalten, und dann wollte der Chefinspektor noch alles bis ins letzte Detail wissen. Und was haben Sie inzwischen gemacht?« »Ich habe gefaulenzt und mich mit den Hunden angefreundet. Dann hat mich der Verwalter von Mira besucht und mir meinen Koffer gebracht. Ich habe das Vieh gefüttert – einschließlich der acht Kookaburras. Und jetzt werde ich Ihnen ein halbes Dutzend Hammelkoteletts braten. Sie bleiben doch?« »Zu den Hammelkoteletts – ja. Aber dann muß ich mich auf den Weg machen. Ich habe dem Chefinspektor von der ausgewechselten Tür erzählt, er schien sehr beeindruckt. Haben Sie die neue schon gefunden?« »Was hat denn der Chefinspektor dazu gesagt?« wich Bony aus. Über den Tisch war bereits eine Decke gebreitet, und nachdem Bony Tee aufgebrüht hatte, legte er für den Wachtmeister ein Gedeck auf. Lucas grinste, aber seine Augen blieben ernst. »Er behauptete, Sie seien ein ganz gefährlicher Spürhund, Inspektor. Sie würden ein Verbrechen schon wittern, bevor es begangen worden ist. Und da Sie mit dem Doktor nicht zurückgekehrt seien, hätten Sie gewiß etwas gewittert. Ach, und da wäre noch etwas: Ich soll Ihnen ausrichten, daß er telegrafisch um Erlaubnis gebeten hat, Ihnen den Fall übertragen zu dürfen. Die Erlaubnis traf um halb sieben ein.« »Nett von ihm, aber überflüssig. Die Erlaubnis hatte ich mir schon selbst erteilt.« Bony lächelte, und seine blauen Augen strahlten. Lucas betrachtete das dunkle Gesicht mit den nordischen Zügen, und sekundenlang verfiel er dem Zauber, den dieser Mann ausstrahlte, der zwei Rassen angehörte. Der Duft der brutzelnden Hammelkoteletts ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er nippte an seiner Tasse Tee und fragte nochmals nach der vermißten Tür. Offensichtlich fand er durchaus nichts dabei, daß ein Inspektor für einen Wachtmeister Koteletts briet. »Die neue Tür ist gestern verbrannt worden«, erwiderte Bony, ließ am Herdfeuer einen Holzspan aufflammen und zündete sich eine Zigarette an. »Ach, tatsächlich? Wo denn?« 32
»Der Ort ist nicht wichtig, aber die Tatsache an sich spricht Bände. Die alte Tür wurde eingehängt, nachdem Lush seine Frau verprügelt hatte.« »Dann muß mit der neuen Tür etwas passiert sein.« »Gewiß, und zwar etwas, was nicht zu reparieren war.« »Haben Sie schon eine Idee, was passiert sein kann?« fragte der Wachtmeister. »Nein. Vielleicht hatten sich die Frauen eingeschlossen, als Lush zurückkam. Oder aber er hatte den Wagen aus dem Schuppen geholt und wollte noch einen letzten Versuch unternehmen, den gewünschten Scheck zu bekommen. Als er merkt, daß die Tür verschlossen ist, holt er kurzerhand die Axt vom Holzstoß und schlägt die Tür ein. In seiner Wut geht er dann auf seine Frau los -« »So könnte es gewesen sein. Als er nicht ins Haus gelassen wurde, geriet er außer sich.« »Und als Jill von der Schafmusterung nach Hause kam, bat ihre Mutter sie, die kaputte Tür zu verbrennen und durch die alte zu ersetzen, damit es kein Gerede gab, falls jemand vorbeikommen sollte.« Gewiß, meinte Lucas, damit sei wohl alles erklärt. Er wäre allerdings anderer Ansicht gewesen, wenn er von dem Loch in der Decke gewußt hätte, das im Schatten des Lampenschirms nicht zu sehen war. »Was wissen Sie eigentlich über die beiden Roberts?« fragte Bony. »Das sind die Fleischer in White Bend. Sie wohnen auf einem kleinen Grundstück eine Meile vor der Stadt. Ich habe mit ihnen nie Schwierigkeiten gehabt, obwohl ich den Verdacht hege, daß sie eine Spielhölle betreiben. Ich kann ihnen ja nicht gut verbieten, ein paar Freunde einzuladen, mit denen sie ein kleines Spielchen machen. Warum interessieren Sie sich für die beiden?« »Erinnern Sie sich: das Mädchen sagte, daß Lush dreihundert Pfund verlangt hat und völlig verzweifelt war. Von Ray Cosgrove erfuhr ich, daß Lush im Hotel keinen unbeschränkten Kredit mehr hat. Er erzählte auch, daß die Brüder Roberts sehr ungemütlich werden können, wenn jemand seine Spielschulden nicht begleicht. Ich möchte nun gern wissen, wozu Lush das viele Geld benötigt hat. Stellen Sie doch einmal diskrete Ermittlungen an. Gibt es in White Bend einen Rechtsanwalt?« Nein, erwiderte Lucas, da gäbe es keinen, und als Bony wissen wollte, wer die Interessen von Mrs. Lush wahrnähme, konnte der Wacht33
meister keine Auskunft geben. Während er aß, erkundigte sich Bony nach den Cosgroves und ihren Leuten. Zum Schluß wollte Bony noch wissen, was für einen Gang Lush gehabt habe, und Lucas mußte es ihm sogar vormachen. »Ich muß eine Spur finden, aber das ist natürlich etwas schwierig, weil ich sie noch nie gesehen habe«, meinte er. »Ich bin überzeugt, daß Lush sich nicht mit einem Alkoholvorrat im Busch verkrochen hat. Er besaß nur wenig Geld, und im Hotel war sein Kredit beschränkt. Stellen Sie doch einmal fest, wie es um diesen Kredit steht. Andererseits war er ja gar nicht lange genug in der Stadt, um sich sinnlos zu betrinken. Nun will ich Ihnen noch etwas verraten: Da oben in der Decke ist ein Einschuß, und dort drüben in der Ecke steht das Gewehr, mit dem vermutlich geschossen wurde.« Der Wachtmeister zog die Brauen hoch und hielt mit dem Stopfen der Pfeife inne. »Das Loch ist noch neu, Lucas. Die Decke ist verputzt und rußgeschwärzt, aber der Rand des Einschusses ist weiß. Darüber im Eisendach befindet sich der entsprechende Ausschuß. Außerdem ist das Gewehr gereinigt und geölt worden. Ich habe kein anderes gefunden, das ebenfalls dieses Kaliber besitzt. Es existieren lediglich noch eine Schrotflinte und eine einschüssige Winchester Kaliber vierundvierzig, die beide nicht gepflegt sind. Am besten nehmen Sie die Waffen mit, vielleicht werden sie im Rahmen unserer Ermittlungen benötigt.« Lucas stopfte seine Pfeife zu Ende, zündete ein Streichholz an und paffte dicke Rauchwolken. »Das Bild rundet sich langsam ab, wie?« meinte er schließlich bedächtig. »Auf jeden Fall scheint jetzt die Geschichte des Mädchens nicht ganz glaubwürdig. Da ich nicht mit dem Chefinspektor telefonieren kann, ohne daß vielleicht jemand in Mira mithört, möchte ich Sie bitten, ihm auszurichten, daß ich den Fall recht interessant finde. Nur dies – sonst keine Einzelheiten. Wissen Sie, ob Ray Cosgrove in Jill Madden verliebt ist?« »Nein, Inspektor. Wir wohnen noch nicht so lange in White Bend, um alle Gerüchte zu kennen.« »Wir? Wen meinen Sie noch – Ihre Frau?« 34
»Sie kennt eine Menge Leute und saugt wie ein Schwamm alle Neuigkeiten auf, ohne etwas über uns zu erzählen. Hat mir schon oft genützt. Sie wird auch das für mich herausfinden.« »Sehr gut. Und nun zum Hochwasser. Wann wird die Flutwelle Ihrer Meinung nach hier eintreffen?« »Vermutlich in zwei Tagen«, antwortete Lucas. »Wie ich gehört habe, bewegt sich die Flut sehr schnell vorwärts. Ich habe hier noch nie ein Hochwasser erlebt, aber man hat mir erzählt, daß der Darling River nach beiden Seiten zwanzig Meilen weit über die Ufer tritt. Heute abend erst habe ich gehört, daß es diesmal eine richtige Sintflut geben soll. Sie werden also gut aufpassen müssen, wenn Sie hier nicht eingeschlossen werden wollen.« »Ich ziehe mich entweder auf die Mira-Station zurück oder fahre vor der Flutwelle her nach White Bend.« »Sie können ja auch den Buschpfad nehmen, der zum höher gelegenen Teil dieser Farm führt. Dort ist ein Brunnen und eine Hütte, direkt an der Straße von Bourke nach White Bend. Aber fahren Sie sofort los, sobald die erste Flutwelle kommt. Sie müssen nämlich zwei Bäche passieren, die dann rasch Hochwasser führen werden, und dann wären Sie abgeschnitten. Das Haus steht zwar hoch genug, um nicht überschwemmt zu werden, aber Sie dürften kaum genügend Lebensmittel haben, um einen Monat auszuhalten.« »Gut, aber Sie sollten sich jetzt auf den Weg machen. Wenn es noch etwas geben sollte, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen.« Bony blickte Lucas nach, der in seinem Jeep davonrollte, dann rief er die Hunde ins Haus. Er mußte lächeln, weil sie sich nicht hereintrauten. Aber da die Telefonleitung unterbrochen war, brauchte er die Hunde, um rechtzeitig gewarnt zu werden, falls sich etwas Unvorhergesehenes ereignen oder Lush zurückkehren sollte. Er zerrte sie deshalb an den Halsbändern in die Wohnküche und schloß die Tür ab. Doch schon bald hatten die Tiere vergessen, daß das Innere des Hauses für sie eigentlich tabu war, und sie folgten Bony, der kontrollierte, ob Vordertür und Fenster gut verschlossen waren. Er zog sich einen alten Schaukelstuhl an den Herd und überlegte, was weiter zu tun sei. Der Tag brach bereits an, als er steif und frierend wach wurde. Er öffnete die Tür, die Hunde stürmten hinaus, und als er zum Holzstoß ging, 35
um sich Feuerholz zu holen, sah er zwei Kühe neben dem Melkschuppen stehen. Die hoch aufgeschichteten Holzscheite waren von Rauhreif überzogen. Er trank zwei Tassen Tee und rauchte drei Zigaretten, dann melkte er die Kühe. Danach duschte er drei Sekunden eiskalt und frühstückte rasch. Anschließend holte er die Leiter. Er hatte einige Zweiunddreißigerpatronen gefunden und überzeugte sich, daß das Geschoß auch wirklich in das Loch in der Decke paßte. Er stellte die Leiter zurück und räumte auf. Die alte amerikanische Uhr zeigte zwanzig Minuten nach sieben. Um halb acht hatte er den Lastwagen in den Schuppen gefahren, den Zündschlüssel steckte er ein. Er hatte ein Paar Stiefel von Lush gefunden, und mit ihnen hinterließ er in dem weichen Boden Spuren. Sehr viel konnte er daraus allerdings nicht entnehmen. Die Stiefel hatten Größe 41, und die Sohlen verrieten, daß Lush beim Laufen die Fußspitzen leicht nach innen drehte, wie es bei Reitern üblich ist. Aber da die Eindrücke nicht von Lush selbst stammten, konnte Bony auch keine wichtigen Hinweise auf seinen Charakter erkennen. Bony schloß das Haus ab und marschierte zwischen der tief eingegrabenen Fahrspur zur Straße und den Briefkästen. Die Sonne war gerade aufgegangen, drang aber nicht durch das dichte Spalier der Eukalyptusbäume. Die dunkelgrünen Blätter funkelten kalt. Die Kookaburras begrüßten den neuen Tag mit ihrem spöttischen Gelächter und würden gewiß schon bald lautstark ihr Fressen verlangen. Eine schwarz-weiß glänzende Elster flog hinter einer ärgerlich krächzenden Krähe her, und ein Schwarm rot-grauer Galahpapageien erhob sich laut schwatzend aus den Bäumen. Alles schien in bester Ordnung, aber was aus William Lush geworden war, konnte niemand sagen. Nachdem Lush seinen Lastwagen hatte stehenlassen, dürfte er der Fahrspur zum Haus gefolgt und nicht am Ufer entlanggegangen sein, wo sich an verschiedenen Stellen tiefe Rinnen befanden, in denen man sich durchaus verletzen konnte, wenn man hineinstürzte. Lush aber würde sich in der Fahrspur gehalten haben. Der Boden bestand allerdings aus Kies, Spuren waren deshalb nicht zu erkennen. Bei der Einmündung in die Buschstraße war die Erde jedoch härter, sie war von den Autoreifen und Pferdehufen zu weißem Staub zermahlen worden. 36
Bony fand die Stelle sofort, wo Lush den Wagen hatte stehenlassen, Ölspuren verrieten sie deutlich. Mehrere Meter im Umkreis bis hinüber zu den Briefkästen, die sich rund drei Meter vom Rand der Klippe oberhalb des Wasserlochs befanden, waren viele Fußspuren und Hufeindrücke zu erkennen, aber sie waren bereits verwischt und wertlos. Bony erinnerte sich, daß in der Nacht, in der Lush den Lastwagen hier hatte stehenlassen, ein sehr starker Wind geweht hatte. Er lehnte sich gegen einen Briefkasten, rauchte eine Zigarette, und dabei prägte er sich die Örtlichkeit genau ein. Hinter der Madden-Farm verlief das Bett des Darling in südwestlicher Richtung bis zu der scharfen Biegung, an der die Briefkästen standen, erstreckte sich dann aber in östlicher Richtung. Eine Meile flußabwärts konnte Bony die Wassertanks und die Dächer der MiraStation erkennen. Auch dort fielen die Klippen steil zu einem Wasserloch ab. In beiden Richtungen aber bildeten die Eukalyptusbäume ein dichtes Spalier entlang dem ausgetrockneten Flußbett. Lediglich an den Biegungen war der Laubwall unterbrochen, so daß die Ostwinde ungehindert die Briefkästen, die Westwinde aber die Gebäude der Mira-Station umfauchen konn-ten.
6
B
ony schlenderte von der Wegegabelung zum Flußufer und kletterte den steilen grauen Abhang hinab. Wie riesige Türme ragten die Eukalyptusbäume über ihm auf. Der Wind hatte Zweige und Äste, Laub und lange Streifen der abgefetzten Rinde in das Flußbett geweht. Am Rande des großen Wasserlochs blieb der Inspektor stehen und blickte hinauf zur Klippe. Sie mochte achtzehn bis zwanzig Meter hoch sein, er konnte gerade noch die Oberkante des einen Briefkastens sehen. Jeder, der bei den Briefkästen über den Rand der Klippe abstürzte, mußte unweigerlich ins Wasser fallen, ein paar Meter weiter rechts 37
oder links aber würde er auf einen schmalen Felsstreifen am Rande des Wasserlochs aufprallen. Bony konnte nicht feststellen, wie tief das Wasser war. Es schien sehr tief zu sein, denn es war zwar klar, aber der Grund nicht zu erkennen. Gewiß würden tief unter der Wasseroberfläche vollgesogene Baumstämme und Äste treiben, und sollte Lush tatsächlich in das Loch gestürzt sein, wäre es durchaus möglich, daß er zwischen Baumstämmen eingeklemmt worden war und niemals mehr auftauchen würde. Am Ostufer rief jemand, und Bony erblickte Ray Cosgrove, der neben seinem Pferd stand. Er ging auf ihn zu, der junge Mann begrüßte ihn lächelnd und fragte, ob Bony wohl die Hausschlüssel habe, Jill Madden wolle hinein. »Ich hielt es für besser, abzuschließen«, erwiderte Bony. »Ich fahre sie nach Bourke zur Beerdigung ihrer Mutter, und da möchte sie sich noch ein paar Kleidungsstücke holen. Das Telefon ist auch wieder in Ordnung. Ein Ast war auf die Leitung gefallen.« Sie gingen am Ostufer entlang, Cosgrove führte sein Pferd am Zügel. »Wird eigentlich auch heute noch nach Lush gesucht?« fragte Bony. »Ja, die Männer durchkämmen noch einmal Madman’s Bend und dann die flußaufwärts gelegene Biegung. Ich glaube nicht, daß sich Lush verkrochen hat. Er liegt wahrscheinlich dort unten in dem Loch, das Sie sich angesehen haben. Trotzdem müssen wir weitersuchen.« »Ich habe versucht, eine Spur von ihm zu finden, aber leider ohne Erfolg«, gab Bony zu. »Haben Sie Neuigkeiten aus Bourke?« »Chefinspektor Macy hat angerufen. Die amtliche Leichenschau für Mrs. Lush ist heute, die Beerdigung kann dann am Nachmittag stattfinden. Die Beisetzung ist um fünf Uhr.« »Wer fährt alles hin?« »Mutter begleitet uns. Wir werden erst spät zurückkommen, denn wir müssen einen weiten Umweg machen. Zwanzig Meilen südlich von Bourke hat das Hochwasser bereits die kleinen Wasserläufe und Bäche überflutet. Morgen nacht oder übermorgen früh dürfte die Flutwelle hier sein. Eine gewaltige Wassermasse steht noch oberhalb von Bourke. An Ihrer Stelle würde ich morgen abend von der Madden-Farm verschwinden, sonst könnten Sie für viele Wochen abgeschnitten werden. 38
Jill möchte sich noch ein paar Sachen zusammenpacken, sie wohnt ja jetzt drüben bei uns.« Sie kamen zum Farmhaus, Cosgrove band sein Pferd an. Jill Madden saß auf der Bank vor der Hintertür. Ihre dunklen Augen weiteten sich, als Bony mit einer knappen Verbeugung sein Beileid aussprach. »Ich kann es noch gar nicht fassen, Inspektor«, murmelte sie. »Ich stand meiner Mutter sehr nahe. Mrs. Cosgrove ist sehr liebenswürdig, und bei Ihnen muß ich mich bedanken, daß Sie sich um alles gekümmert haben. Wie ich sehe, haben Sie sogar die Kühe gemolken.« »Ja, bis auf die Katzen ist alles versorgt.« Bony musterte die beiden jungen Leute. »Die Katzen scheinen sich aus Angst vor dem fremden Gesicht aus dem Staub gemacht zu haben. Aber wie soll es nun weitergehen?« »Mrs. Cosgrove läßt die Kühe, das Geflügel, die Hunde und die Katzen nach Mira bringen – und auch die Sachen, die ich benötige. Darf ich Sie jetzt etwas fragen …?« Jill war aufgestanden. Sie hielt die Schlüssel in der Hand und wirkte viel fraulicher als bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Bony. Wenn sie doch nur nicht diese unvorteilhafte Frisur trüge! dachte Bony. Das Haar glänzte schwarz, aber seine üppige Fülle kam überhaupt nicht zur Geltung. »Haben Sie schon eine Spur von meinem Stiefvater gefunden?« »Wie ich bereits Mr. Cosgrove gesagt habe, es ist mir bisher leider nicht gelungen, eine Spur zu finden. Es ist zwar ein ungeeigneter Augenblick, aber ich muß Ihnen dringend einige Fragen stellen. Vielleicht im Haus?« »Ja, natürlich.« »Sie packen zunächst Ihre Sachen, und wir brühen inzwischen Tee auf. Sagen Sie uns Bescheid, falls wir Ihnen helfen können«, meinte Bony. »Unterhalten werden wir uns dann später.« »Sehr gern. Sie haben ja tatsächlich das Geschirr gespült und alles aufgeräumt.« »In dieser Hinsicht bin ich gut erzogen, Miss Madden«, erklärte Bony lächelnd und zündete das Papier unter den Spänen an. »Ihr Bett haben Sie auch gemacht«, rief das Mädchen, als sie in das kleine Schlafzimmer blickte, dessen Tür offenstand. 39
»Das habe ich bisher noch nie fertiggebracht.« Cosgrove grinste – er versuchte, Jill etwas aufzuheitern. »Sag uns Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, Jill.« Das Mädchen verschwand in ihrem Zimmer und packte Kleider in einen Koffer. Wie alle Frauen behauptete auch sie, überhaupt nichts anzuziehen zu haben, aber Bony konnte beobachten, wie sie auch noch einen zweiten großen Koffer vollpackte. Dann bat Jill den jungen Mann, zwei Kisten aus dem Waschhaus zu holen, und packte mit seiner Hilfe die Büropapiere und verschiedene Bücher, unter denen sich auch die große Familienbibel befand, hinein. Schließlich war alles verstaut, und Bony schenkte Tee ein. Er hatte den Tisch gedeckt und sogar aus einer Blechdose etwas Kuchen hervorgezaubert. »Hast du nun wirklich alles?« fragte Cosgrove. »Wie wäre es mit dem Wasserhahn?« »Ich glaube, den lassen wir lieber hier, Ray«, erwiderte das Mädchen mit einem schwachen Lächeln. »Den kleinen Koffer nehme ich mit nach Bourke. Und was werden Sie unternehmen, Inspektor?« »Wenn Sie gestatten, bleibe ich bis morgen hier. Ihr Stiefvater könnte ja noch zurückkommen.« »Und dann wollen Sie ihn festnehmen, weil er Mutter auf dem Gewissen hat.« »Ja.« »Bleiben Sie, so lange Sie wollen – oder so lange es das Hochwasser zuläßt.« Ihr Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an, und ihre Augen wurden hart. »Lush ist dumm und faul«, sagte sie leise, und ihre Stimme bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrer deutlich gezeigten Verachtung. »Ich hoffe nur, daß er bei der Festnahme Widerstand leistet. Dann müssen Sie ihn erschießen.« Unwillkürlich blickte sie in die Ecke, in der die Winchesterbüchse gestanden hatte, gleich darauf sah sie Bony an. »Jemand hat sein Gewehr weggenommen.« »Ich habe es zusammen mit den anderen Gewehren an mich genommen, Miss Madden«, erwiderte Bony, und das Mädchen spürte die hypnotische Kraft der großen blauen Augen. »Ich nehme an, daß Sie nicht noch einmal durch die Decke schießen wollen.« Cosgrove blickte nach oben, das Mädchen ebenso. Sie wollte erstaunt tun, doch es mißlang kläglich. Der junge Mann schwieg, und Jill blickte trotzig durch die offenstehende Hintertür. 40
»Diese alte Tür ist sehr interessant, Miss Madden, denn sie wurde kürzlich gegen eine neue Tür ausgetauscht. Die neue Tür wurde im Schlachtpferch verbrannt. Können Sie mir den Grund nennen?« Jill Madden starrte weiterhin auf die sonnenüberflutete Landschaft. Cosgrove spitzte die Lippen, und sein Blick wanderte von dem Mädchen zu Bony und wieder zurück. »Ja, ich will es Ihnen sagen«, erwiderte Jill leise. »Es spielt jetzt keine Rolle mehr. Mutter ist tot und braucht keine Angst mehr vor einem Skandal zu haben. In der fraglichen Nacht habe ich mit dem Gewehr -in der Hand- auf Lush gewartet. Türen und Fenster waren verriegelt, und weil ich ihn nicht hereinlassen wollte, holte er sich vom Holzstapel die Axt und begann, die Tür einzuschlagen. Ich feuerte zunächst einen Warnschuß gegen die Decke ab. Als Lush dann erneut mit der Axt zuschlug, feuerte ich auf die Tür, um ihm Angst einzujagen.« »Und dabei haben Sie ihn getötet«, fügte Bony hinzu. »Nein. Nachdem ich durch die Tür geschossen hatte, blieb alles still. Ich glaubte zunächst, ich hätte ihn getötet – oder er würde sich nur leise verhalten, um plötzlich durch eines der Fenster einzudringen. Hätte er es gewagt – ich war entschlossen, ihn zu erschießen. Es war eine schreckliche Nacht. Jeden Augenblick mußte ich damit rechnen, daß er eindringen würde, und im Nebenzimmer lag Mutter mit ihren furchtbaren Schmerzen, an denen er die Schuld trug. Gegen Morgen war ich überzeugt, daß er tot vor der Tür lag. Als es hell wurde, öffnete ich, aber er war nicht da. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Mutter rief mich und wollte wissen, ob in der Nacht geschossen worden sei, und ich erzählte ihr, was geschehen war. Ich nahm an, daß sie gar nicht alles verstanden hatte, bis sie plötzlich sagte, ich solle die Tür durch die alte ersetzen und die neue verbrennen, damit niemand sah, was passiert war. Ich brachte Mutter etwas Tee und ein paar Aspirintabletten, dann suchte ich Lush. Ich nahm das Gewehr mit. Ich ging zur Männerunterkunft und zu den Schuppen und rief nach ihm, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Als ich zurückkam, schlief Mutter – so glaubte ich jedenfalls. Ich wechselte die beschädigte Tür gegen die alte aus und verbrannte sie. Als ich Mutter nicht mehr wachbekommen konnte, rief ich Mrs. Cosgrove an. Das ist alles.« 41
Während das Mädchen sprach, hatte Bony eine Zigarette gedreht, und als er bemerkte, daß Jill darauf starrte, bot er sie ihr an. Ohne Zögern nahm sie die Zigarette. »Warum haben Sie Wachtmeister Lucas nicht die Wahrheit gesagt, als er Ihre Aussage zu Protokoll genommen hat?« »Es ist immer der gleiche Grund, Inspektor«, mischte sich Cosgrove ein. »Um einen Skandal zu vermeiden.« »Bitte!« wies Bony ihn zurecht. »Es ist so, wie Ray sagt«, pflichtete Jill Madden bei. »Lush war nirgends zu finden. Er mußte davongelaufen sein, vielleicht für immer. Warum sollte ich dann alles erzählen?« »Möglicherweise bedauern Sie später doch noch, geschwiegen zu haben, Miss Madden. Im Augenblick aber – sprechen Sie mit niemandem darüber. Sollte Lush noch auftauchen, wäre es ohnehin nicht wichtig.« »Wenn er aber nicht auftaucht – was dann?« fragte Cosgrove. »Dann müßten wir gewisse Schlußfolgerungen ziehen. Denn solange wir ihn nicht tot oder lebendig gefunden haben, können wir nicht beweisen, daß er unversehrt von dieser Tür weggegangen ist. Deshalb bat ich Sie, mit niemandem über die Angelegenheit zu sprechen.« »Aber warum wollen Sie Jill nicht glauben?« »Leider kann ich das nicht, obwohl ich annehme, daß sie die Wahrheit gesprochen hat. Wir werden uns also weiterhin bemühen, Lush zu finden. So, und nun machen Sie sich ja wohl besser auf den Weg. Um Ihre Sachen oder die Tiere brauchen Sie sich nicht zu sorgen, Miss Madden. Und nun möchte ich Ihnen beiden noch eine Frage stellen, die Sie vielleicht impertinent finden. Darf ich?« Jill Madden blickte Cosgrove an, und der junge Mann nickte. »Lieben Sie sich?« Die beiden jungen Leute nickten, und das Mädchen begann leise zu weinen. Cosgrove faßte ihre Hand. »Vor zwei Monaten sind wir uns darüber klargeworden, Inspektor. Wir mußten es aber geheimhalten, weil meine Mutter Lush verabscheut, und sie ist überhaupt — ach, zum Donnerwetter, Sie wissen schon, was ich meine.« »Vielleicht.« 42
Er begleitete die beiden zum Flußufer und bat Cosgrove, die Sachen des Mädchens abholen zu lassen. Für den Fall, daß er nicht anwesend sei, werde er alles im Waschhaus unterstellen. Ray und Jill durchquerten das ausgetrocknete Flußbett und erklommen das Steilufer, wo das Pferd angebunden war. Bony blickte ihnen nach und fragte sich, warum das Mädchen zu Fuß von Mira herübergekommen war, während der Mann geritten war. Als er ins Haus zurückkehrte, brütete er noch über ein anderes kleines Geheimnis nach. In ihrer Aussage hatte Jill Madden behauptet, Lush habe sie beschimpft, bevor er die Tür mit der Axt bearbeitet habe. Nachdem sie den Schuß durch die Tür abgegeben habe, sei er still gewesen. Wäre es aber nicht logisch gewesen, wenn Lush das Mädchen aus sicherer Entfernung beschimpft hätte, nachdem sie auf ihn geschossen hatte?
7
A
ls er zurückkehrte, verriet ihm der Stand der Sonne, daß es elf Uhr war. Er brachte die Kisten ins Waschhaus, schloß die Türen ab und schlenderte zu den Briefkästen, um sich mit dem Chauffeur des Postautos zu unterhalten, der ja um zwölf eintreffen mußte. Der Wind hatte wieder aufgefrischt, wehte kalt von den fernen Snowy Mountains herüber. Um die Wartezeit zu verkürzen, wanderte Bony ein wenig in Richtung White Bend. Die Straße entfernte sich hier von der von Gräben und sandigen Hängen durchzogenen Wildnis, die Madman’s Bend genannt wurde, als habe sie Angst vor dieser unheimlichen Gegend. Plötzlich entdeckte er einen Reiter, der sich von der Flußbiegung her näherte. Es war der Verwalter von Mira, der ihn am Tag zuvor besucht hatte. Am Sattelknopf hing der Sack mit der abgehenden Post. »Kalt geworden, wie?« rief er, bevor er vom Pferd sprang. »Hoffentlich hält dieser Ostwind nicht lange an.« 43
Er trug eine Lederjacke und Gamaschen, und die kleinen, dunklen Augen in dem schmalen Gesicht wirkten bedrückt. »Ja, unangenehm kalt«, pflichtete Bony bei. »Da drüben bei dem Eukalyptusbaum spürt man den Wind nicht so. Ich nehme an, daß die Post eher etwas später als zu früh kommt.« »Der Chauffeur gibt sich immer Mühe, pünktlich zu sein«, erwiderte Vickory und drehte sich eine Zigarette. »Übermorgen wird er den weiter drüben liegenden Buschpfad nehmen müssen.« »Suchen Ihre Leute immer noch nach Lush?« »Ja, ein paar suchen noch einmal Madman’s Bend ab, und die anderen die Flußbiegung oberhalb Mira. In Madman’s Bend kann man sich ganz schön verlaufen, wenn die Sonne nicht scheint. Es sind ungefähr neun Quadratmeilen.« »Aber seit Lushs Verschwinden hat die Sonne jeden Tag geschienen.« »Allerdings. Er kann sich keinesfalls verlaufen haben. Muß in ein Wasserloch gestürzt sein. Und wenn er nicht bald an die Oberfläche getrieben wird, taucht er nie mehr auf.« Der Verwalter zog kräftig an seiner Zigarette und musterte Bony nachdenklich. »Etwas unterhalb von unserem Schurschuppen kampieren drei Tippelbrüder. Ich erzählte ihnen vom Hochwasser, und sie waren überrascht, daß die Flutwelle schon so nahe ist. Ich entdeckte sie, als ich zwei Pferde suchte, die sich verlaufen hatten. Die drei müssen vom Duft der Eukalyptusblätter leben.« »Wie weit entfernt ist das Lager dieser drei Tramps?« fragte Bony interessiert. »Luftlinie ungefähr anderthalb Meilen. Aber Lush war viel zu vornehm, um sich mit ihnen einzulassen. Er hielt sich ja für einen Schafzüchter.« »Hielt!?« »Jawohl, von ihm kann man bestimmt nur noch in der Vergangenheitsform sprechen. Ich glaube, die Post kommt. Pünktlich wie immer.« Sie konnten die weiße Staubwolke sehen, die vom Postauto aufgewirbelt wurde und nach Westen davonwehte. »Ich habe gehört, daß Lush nie mehr als zehn Meilen in der Stunde gefahren ist, wenn er betrunken war«, fuhr Bony fort. »Als er das Hotel 44
in White Bend verließ, war er betrunken. Glauben Sie, daß er nach einer zweistündigen Autofahrt immer noch so betrunken war, daß er über die Klippe abstürzen konnte?« »Nicht betrunken genug, aber wütend genug!« korrigierte Vickory. »Er war ein schmieriger Kerl. Ob betrunken oder nüchtern, er sprach immer leise und höflich. Aber sobald er sich unbeobachtet fühlte, ließ er sich gehen. Einer unserer Männer hat einmal zufällig gesehen, wie er eine Kuh mit einer Schaufel schlug, nur weil sie ihm mit dem Schwanz übers Gesicht gefahren war. Er schlug noch auf die Kuh ein, als sie schon tot war. Das gleiche passierte mit einem Traber bei einem Rennen. Er hatte sein ganzes Geld auf ihn gesetzt, und dann wurde er nicht einmal plaziert. Vor dem Rennen hat er das Pferd im Spezialwagen transportiert, hinterher hat er es so gehetzt, daß es zu nichts mehr zu gebrauchen war.« »Und was hat das mit seinem Verschwinden zu tun?« »Ich möchte damit folgendes sagen: Als Lush mitten in der Nacht hier ankommt, geht ihm das Benzin aus. Wütend läuft er zu den Briefkästen, reißt einen Pfosten heraus und schlägt auf den Wagen ein. Dabei zerbricht der Pfosten, und als er sich einen zweiten holen will, verfehlt er in seiner blinden Wut den Briefkasten und stürzt von der Klippe. In dieser Nacht war es ja stockdunkel.« »Ihre Theorie ist ganz interessant«, meinte Bony. »Aber haben Sie Beweise dafür?« »Der Briefkasten ruhte auf vier Pfählen, jetzt sind nur noch drei da. Der eine Kotflügel hat oben eine Beule, die durchaus von einem Schlag mit dem Pfahl herrühren kann. Schade, daß der Pfahl nicht da ist, um es beweisen zu können. Aber wenn das Ding zerbrochen ist, hat er es wohl in seiner Wut in hohem Bogen weggeschmissen.« Bony wollte Vickory gerade sein Kompliment über die gute Beweisführung aussprechen, als das Postauto vor ihnen anhielt. Der rothaarige Chauffeur beugte sich heraus. »Na, Vic, ist Lush schon aufgetaucht?« Es saßen keine Fahrgäste im Wagen. Der junge Mann nahm von Vikkory den Postsack entgegen und reichte ihm dafür das Säckchen mit der eingegangenen Post. Als Bony nähertrat, fragte der Chauffeur, ob er Inspektor Bonaparte sei. 45
»Sie haben bis jetzt keine Spur von Lush gefunden?« fügte er hinzu. »Dann ist er bestimmt davongelaufen. Und nachdem sie nun gestorben ist, wird er nur noch schneller rennen.« »Als Sie Lushs Kleinlaster fanden – hat da jemand mit der Post von Mira gewartet?« fragte Bony. »Ja. Ray Cosgrove.« »Sie haben in den Lastwagen hineingesehen?« »Ganz recht! Und dann habe ich nach Lush Ausschau gehalten.« »Lag etwas auf der Ladefläche oder auf dem Fahrersitz – Einkäufe?« »Neben dem Fahrersitz stand lediglich ein leerer Bierkarton.« »Ein Karton für zwölf Flaschen?« »Ja. Auf dem Kotflügel lag ein Holzstückchen, und da gleich daneben eine Beule war, fragte ich mich, ob ein Zusammenhang bestand.« »Könnte dieses Holzstückchen von einem Briefkastenpfosten stammen?« wollte Vickory wissen. »Möglich, Vic«, antwortete der Fahrer. »Durchaus möglich. Da fehlt ein Pfosten, wie?« »Ja. Ich habe gerade mit dem Inspektor darüber gesprochen. Lush ist meiner Meinung nach in Wut geraten, als ihm das Benzin ausgegangen war, und hat mit einem Pfosten seines Briefkastens auf den Wagen eingeschlagen. Was halten Sie davon?« »Hm. Mir hat mal jemand erzählt, daß Lush richtig in Raserei geraten kann.« »Er wird schon einen Grund für seine Behauptung gehabt haben«, meinte der Verwalter. »Sicher. Aber jetzt muß ich weiter. Also bis zum nächstenmal! Aber nicht hier! In Zukunft muß ich den Buschpfad benützen und die Post in Murrimundi lassen. Dann können Sie sie ja am Drahtseil herüberziehen.« »Ja, die Post können wir herüberziehen, aber wenn das Hochwasser wirklich so schlimm wird, wie es aussieht, dann werden wir abgeschnitten.« »Dann sehen Sie lieber zu, daß die Deiche in Ordnung sind, Vic. Na, macht’s gut. Hoffentlich kommt nicht auch noch Regen.« »Übergeben Sie doch bitte Wachtmeister Lucas oder seiner Frau diesen Brief«, bat Bony und reichte dem jungen Mann einen Umschlag. 46
»Geht in Ordnung.« Der Chauffeur grinste. »Mit der Polizei soll man sich immer gut stehen – das ist meine Devise von eh und je.« Der Motor heulte auf, die Räder drehten kurz durch, und mit der Unbekümmertheit der Jugend fuhr der rothaarige junge Mann davon. »Deiche haben Sie hier?« fragte Bony, und der Verwalter erklärte, daß man bei dem großen Hochwasser im Jahre 1925 um die Gebäude der Station habe einen Deich errichten müssen. »Das Wasser erreichte fast Maddens Haus. Diesmal könnte die Farm sogar überschwemmt werden, vielleicht eine ganze Woche lang. So, jetzt muß ich weiter. Muß noch vor dem Essen mit meinen Leuten sprechen. Morgen früh holen wir die Kühe. Und lassen Sie die Hühner nicht aus dem Gehege, die müssen wir nämlich auch holen – genau wie die Hunde. Was wird eigentlich aus Ihnen?« »Ich verschwinde dann auch«, antwortete Bony. Sie verabschiedeten sich, Bony ging zum Haus zurück und aß zu Mittag. Um drei Uhr hatte er sich überzeugt, daß der fehlende Pfahl vom Briefkasten nicht auf der Oberfläche des Wasserlochs trieb, was allerdings darauf hingedeutet hätte, daß Lush hineingestürzt war. Zwanzig Minuten später befand er sich genau gegenüber von Mira und blieb stehen. Er betrachtete das geräumige Herrenhaus, das von einem hohen Zaun umgeben war und neben den riesigen Dattelpalmen kleiner wirkte, als es in Wirklichkeit war. Rechts schlossen sich Büro und Werkstätten an. Unmittelbar gegenüber lag die Arbeiterunterkunft, daneben standen die Wassertanks auf ihren hohen Gerüsten und die mit Holzfeuerung betriebene Dampfmaschine, die die Pumpen in Gang hielt. Flußabwärts lagen Schur- und Wollschuppen. Vor dem Schurschuppen saßen zwei Männer an einem Feuer und rauchten. Das gesamte Gebiet lag höher als das Ufer, an dem Bony sich befand. Er mußte immer wieder Umwege machen, um tiefe Gräben und ausgetrocknete Nebenarme zu umgehen, die sich zwischen Buchsbäumen und hohem Gestrüpp hinzogen. Der scharfe Ostwind heulte in den Ästen der riesigen Eukalyptusbäume. Kakadus schwatzten laut, aber nur ein einziges Mal ließ ein Kookaburra sein Gekicher hören. Es war vier Uhr, und die Sonne stand bereits weit im Westen, als er die Stelle 47
erreichte, an der nach Angabe des Verwalters drei Männer gelagert hatten. Der Lagerplatz war leer. Diese Vagabunden arbeiten so selten wie möglich und betteln sich das Essen bei den Stationsköchen zusammen. Zeitungspapier, Hammelknochen und leere Konservendosen hatte man in ein Loch geworfen. Der Aschehaufen verriet, daß sich die Männer ziemlich lange aufgehalten hatten, und nach der Temperatur der Asche zu schließen waren sie erst vor wenigen Stunden weitergezogen. Eine halbe Stunde lang stocherte Bony mit einem Stöckchen in den Papierabfällen, fand aber nichts, was ihn interessierte. Er durchwühlte die Asche, fand jedoch auch hier nichts. Schließlich gab er es auf und versuchte, Madman’s Bend zu durchqueren. Es war unmöglich, einfach geradeaus zu gehen, denn immer wieder versperrten Gräben, Löcher und unzählige Äste und Baumstämme, die frühere Hochwasser angeschwemmt hatten, den Weg. Bony fand Hufspuren, wahrscheinlich von den Reitern, die nach Lush gesucht hatten. Er entdeckte die Spuren von zwei Männern, jedoch an einer Stelle, an der sie sowohl zu den Briefkästen als auch zurück führen konnten. An einem Busch hatte sich ein Stück Papier verfangen, das der Wind angeweht hatte, und er holte es herunter. Es war ein Fetzen Seidenpapier. Bony glättete es, und nun konnte er an dem rechten ausgezackten Rand die Buchstaben ›el‹ erkennen. Das Papier war noch nicht verwittert, und Bony suchte eine Weile nach dem restlichen Stück. Wahrscheinlich war es vom Wind von Mira herübergeweht worden, denn derart leichtes Seidenpapier konnte er durchaus über die Baumwipfel hinweg bis in diese Wildnis tragen. Bony setzte sich auf einen Baumstamm und drehte sich eine Zigarette. Vom Lagerplatz der Landstreicher war er bis zur gegenüberliegenden Seite des riesigen Ödlandes gegangen, das auf drei Seiten vom Fluß eingeschlossen wurde. Rund neun Quadratmeilen sei es groß, hatte der Verwalter gesagt. Bony blickte sich um: Knorrige graue und rote Buschbäume bildeten groteske Formen, die Äste verdreht, die trockenen Blätter graugrün. Da lagen die brüchigen Überreste längst abgestorbener Büsche, und der Boden war mit vertrocknetem Distelgestrüpp bedeckt. Madman’s Bend war weder Wüste noch Dschungel, weder flach noch hüglig, weder grün noch farblos, weder hell noch dunkel – nur unheimlich. 48
Als Bony den Lagerplatz der Vagabunden verlassen hatte, war ihm, als sei die Sonne verschwunden. Er hatte geglaubt, eine Wolke habe sich vor die Sonne geschoben, aber der Himmel war wolkenlos gewesen, und die Strahlen der bereits im Westen stehenden Sonne waren schräg auf ihn herabgefallen. Und doch beunruhigte ihn diese Welt aus Fäulnis und Tod. Plötzlich spürte er eine heftige Abneigung gegen diese trostlose Gegend. Er erhob sich abrupt und eilte weiter. Der Boden bestand aus hartem Lehm und Kies. Selbst Spuren von Pferden waren hier kaum zu erkennen, und wenn er wirklich einmal auf eine Spur stieß, war er viel zu ungeduldig, um sich näher damit zu befassen. Immer wieder hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Stöhnend fuhr der Wind durch die einzeln stehenden Bäume. Die Geister der Vorfahren seiner Mutter umlauerten ihn. Sie drängten ihn, einfach davonzulaufen. Er widerstand dem Verlangen, sich umzusehen, zwang sich, nach menschlichen Spuren zu suchen. Schließlich gelangte er zu einem hohen, schlanken Tigerholzbaum. Hier veränderte sich die Farbe des Bodens unmerklich von Aschgrau in ein warmes Grauweiß. Ein roter Buchsbaum stand da, ein grüner Dornbusch, und ein Stück weiter die lange Reihe der Eukalyptusbäume am Flußufer. Die Sonne schien jetzt von vorn und gab der Landschaft Brillanz. Der Wind fuhr das ausgetrocknete Flußbett entlang, als Bony die Briefkästen passierte. Er spielte mit der hellgrauen Staubschicht des Pfades, und wenn er auch in der Nacht, in der Lush verschwunden war, so heftig geweht hatte, war es kein Wunder, daß die Spuren des Vermißten nicht zu finden waren. Die Hunde begrüßten ihn lärmend, hechelten nach Freiheit. Die Hühner gackerten laut, und als er zum Holzstoß ging, um sich Heizmaterial zu besorgen, landete der erste Kookaburra auf der Sitzstange.
49
8
D
er Wind zauste die Zweige der riesigen Eukalyptusbäume, und als die Sterne am Himmel funkelten, hatte es sich Bony mit den Hunden in der warmen Wohnküche gemütlich gemacht. In ihrer begrenzten Welt schien alles in bester Ordnung. Der Wind hatte gerade etwas nachgelassen-, da standen beide Hunde plötzlich auf und knurrten. Ein Auto näherte sich in rascher Fahrt. Bony öffnete die Tür, und die Hunde stürmten hinaus. »Ich hoffe, Sie haben ein anständiges Feuer im Herd«, rief Wachtmeister Lucas. Er trug einen Uniformmantel über seinem Zivilanzug und stampfte fest auf den Linoleumboden. Er machte einen durchfrorenen Eindruck. Ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht, als er Bony am Herd hantieren sah. Die Hunde folgten dem Wachtmeister ohne besondere Aufforderung, und er schloß die Tür hinter sich. »Haben Sie schon gegessen?« fragte Bony. »Ja. Wie gewünscht, bin ich nach Eintritt der Dunkelheit losgefahren. Ich habe Brot mitgebracht und zwei Pfund gekochten Schinken.« »Gut! Ich habe kein Brot mehr, und das Fleisch ist knapp. Ich hielt es für notwendig, daß wir uns einmal unterhalten – abgesehen vom Proviantnachschub.« Bony stellte einen Becher mit Kaffee und einen mit heißer Milch vor dem Wachtmeister auf den Tisch. »Ich bin überzeugt, daß Lush sich nicht verkrochen hat. Und da das Hochwasser vor der Tür steht, muß ich nun anders vorgehen.« Lucas öffnete ein Päckchen. Ein kleiner, appetitlich aussehender Kuchen kam zum Vorschein. Den habe seine Frau mitgeschickt, meinte der Wachtmeister, und Bony holte ein Messer. »Vergessen Sie ja nicht, Ihrer Frau meinen Dank auszurichten. Haben Sie etwas aus Bourke gehört?« 50
»Ja. Sobald der Obduktionsbericht vorlag, wurde der Haftbefehl für William Lush ausgestellt. Die öffentliche Leichenschau fand statt, wurde aber, wie erwartet, vertagt. Mrs. Lush wurde um fünf Uhr beigesetzt. Ihre Tochter ist mit den Cosgroves kurz nach sechs aus Bourke wieder abgefahren. Ich habe auch noch mit Roger’s Crossing telefoniert. Es liegt sechzig Meilen südlich von Bourke. Wie ich hörte, ist dort die Flutwelle heute nachmittag um zwei Uhr durchgekommen. Morgen gegen Abend dürfte sie also hier sein.« »Was können Sie mir über Lush sagen?« Lucas zog ein schmales Notizbuch hervor und blätterte darin. »Ich kann mir jetzt ein ziemlich genaues Bild machen, Inspektor. Die Maddens waren sehr beliebt, da haben die Leute mit Informationen nicht zurückgehalten. Ich habe auch die Brüder Roberts ins Gebet genommen. Lush hat bei ihnen rund sechzig Pfund Spielschulden, und außerdem schuldet er hundertfünfundachtzig Pfund für das Rennpferd, das er vergangenes Jahr von ihnen gekauft hat. Sie haben erfahren, daß Lush das Tier nach dem Rennen so gehetzt hat, daß es zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Deshalb wollen sie es nicht mehr zurücknehmen. Sie haben ihm mit der gerichtlichen Eintreibung gedroht, falls er die Schulden nicht binnen einer Woche bezahle. Das war vor zehn Tagen. Als Lush erklärte, er könne das Geld nicht aufbringen, reichten sie die Klage ein. In der Gemischtwarenhandlung betragen die Schulden zweihundert Pfund. Aber diese Schulden betreffen die Farm und werden immer nach der Schafschur vom Wollerlös bezahlt. Die Hotelschulden hingegen betreffen wieder Lush persönlich. Dort schuldet er rund fünfzehn Pfund, aber der Wirt hat ihn nicht gedrängt. Lush habe in der Vergangenheit schon viel größere Summen geschuldet.« »Dann wären die dreihundert Pfund also mehr gewesen, als er zur Begleichung seiner Schulden gebraucht hätte«, meinte Bony. »Ich habe mich außerdem erkundigt, was Lush eingekauft hat, denn der Postchauffeur hatte doch nur einen leeren Bierkasten im Lastwagen gesehen. In der Gemischtwarenhandlung hat er nichts gekauft. Der Hotelbesitzer sagte mir, daß Lush bei Lokalschluß gegangen sei. Er hat drei Flaschen Whisky und sechs Flaschen Bier in einem Bierkarton mitgenommen. Beim Bäcker hörte ich, daß er sechs Brote mitgenommen hat.« 51
»Es wäre also durchaus möglich, daß Lush sechs Tage lang von Brot und Schnaps lebt«, meinte Bony nachdenklich. Lucas spitzte die Lippen. »Möglich, aber ich bezweifle, daß Lush mit seinen Vorräten so lange hausgehalten hätte.« »Das ist auch meine Meinung. Haben Sie den Chauffeur vom Postauto über die Punkte befragt, die ich in meinem Brief erwähnthatte?« »Ja. Im Briefkasten der Maddens lag kein Postsack, und die eingegangene Post haben wir ja mitgenommen, wie Sie sich erinnern werden. Der junge Mann sagte mir, daß Sie ihn bereits ausgefragt hätten. Die Beule auf dem vorderen Kotflügel sei bestimmt nicht sehr alt gewesen, hat er noch gemeint, und dieses Stück Holz, das er gesehen habe, könne durchaus vom Briefkastenpfosten stammen. Er habe sich allerdings nicht weiter dafür interessiert. Er sei aber völlig sicher, daß kein Brot im Wagen lag und der Bierkasten leer war.« »Ein aufmerksamer junger Mann«, sagte Bony. »Haben Sie seine Aussage zu Protokoll genommen?« »Ja. Sie wollten dann noch einen weiteren Punkt geklärt haben: wir oft der Postchauffeur erwartet wird. Im allgemeinen lassen die Leute den abgehenden Postsack in den Briefkästen, auch wenn er leer ist. Der Chauffeur bringt die Säcke zum Postamt in Bourke oder White Bend, und dieselben Säcke werden dann in die Briefkästen zurückgebracht – egal, ob sie Post enthalten oder nicht. Wenn er hier ankam, war fast immer jemand von Mira anwesend. Die Madden-Farm liegt ganz in der Nähe, da wartet nur selten jemand am Briefkasten. Man hinterlegt den abgehenden Postsack und holt die eingegangene Post später, sobald man Zeit hat.« »Die Postvorschriften verlangen also, den Sack mit der abgehenden Post im Briefkasten bereitzulegen, damit ihn der Chauffeur in das entsprechende Postamt bringen kann.« »So ist es«, antwortete Lucas. »An dem Morgen aber, an dem der Chauffeur den verlassenen Lastwagen fand lag kein abgehender Postsack im Briefkasten der Maddens.« »Wir kennen ja nun auch den Grund.« »Wir glauben ihn zu kennen. Ich muß das erst noch nachprüfen.« Bony drehte sich eine Zigarette. »Heute morgen hat der Verwalter von Mira die Post herübergebracht. Er hatte eine interessante Theorie, wie 52
die Beule in den Kotflügel gekommen ist.« Bony erzählte dem Wachtmeister die Geschichte und wollte wissen, was er davon halte. »Ich habe diese Version schon vom Chauffeur des Postautos gehört«, erwiderte Lucas bedächtig. »Aber ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll.« »Ich habe das Gefühl, als ob hier eine geheime Absprache vorliegt«, erklärte Bony stirnrunzelnd. »Ich habe Ray Cosgrove gefragt, was seiner Meinung nach Lush zugestoßen sein könne. Er erwiderte, daß Lush wahrscheinlich der Sprit ausgegangen sei, und auf dem Weg zum Haus sei er dann über die Klippe gestürzt. Die Tatsache, daß die Scheinwerfer ausgeschaltet waren, als der Postfahrer vorbeikam, läßt ja durchaus die Vermutung zu, daß Lush im Dunkeln die Richtung verfehlt hat und über den Klippenrand gestürzt ist. Vickory, der Verwalter, geht nun noch einen Schritt weiter. Er meint, daß Lush in Wut geriet, einen Pfosten des Briefkastens herausgerissen und damit auf das Auto losgeschlagen hat. Der Pfosten zerbricht dabei, er will einen zweiten vom Briefkasten holen, doch er verfehlt ihn in der Finsternis und stürzt in die Tiefe. Können Sie sich aber vorstellen, daß Lush die Scheinwerfer ausschaltet, bevor er zum Briefkasten läuft, um den Pfosten herauszureißen?« »Das ist allerdings unwahrscheinlich«, gab Lucas zu. »Laut Aussage von Ray Cosgrove waren die Scheinwerfer ausgeschaltet. Wenn nun Lush noch einmal zum Briefkasten ging, um einen zweiten Pfosten loszureißen, und dabei trotz des Scheinwerferlichts über die Klippe gestürzt ist – wer hat dann die Beleuchtung ausgeschaltet?« Lucas zuckte die Achseln. »Der Fahrer des Postautos erinnert sich, ein Stück des Pfostens auf dem verbeulten Kotflügel liegen gesehen zu haben. Damit wäre Vickorys Theorie bekräftigt – und zum Teil auch die von Ray Cosgrove. In den Aussagen dieser drei Männer stimmt also eine Menge überein. Nun hat Jill Madden Ihnen gegenüber ausgesagt, sie habe bei der Rückkehr von der Schafmusterung ihre Mutter schwer verletzt vorgefunden, ihr Stiefvater aber sei abwesend gewesen, und sie habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Das würde ebenfalls zu der Theorie passen, daß er über den Klippenrand gestürzt und ertrunken ist. Als ich Jill über die Tür und das Einschußloch in der Decke befragte, gab sie zu, auf Lush gewartet 53
zu haben. Falls er versucht hätte, einzudringen, wäre sie entschlossen gewesen, ihn niederzuschießen. « »Manchmal kommt man ans Ziel, wenn man im Kreis geht, Inspektor.« »Möglich. Aber lassen Sie doch den Inspektor, wenn wir allein sind. Meine Freunde nennen mich Bony. – Ich habe also weitergebohrt, und Jill erzählte, daß Lush zu der verriegelten Tür kam, und als sie ihn nicht einließ, begann er zu fluchen. Schließlich holte er die Axt vom Holzstoß und begann die Tür einzuschlagen. Jill gab zunächst einen Warnschuß gegen die Decke ab, doch als Lush weiter auf die Tür einhieb, schoß sie in diese Richtung. Danach blieb alles still, und als sie am Morgen hinausging, erwartete sie, Lush tot vor der Tür zu finden. Doch er lag nicht vor der Tür, und er schlief auch nicht in einem der Nebengebäude. Wenn wir also annehmen, daß Lush durch den Schuß nicht getötet wurde, können Sie sich dann vorstellen, daß er ruhig blieb und nicht wieder zu schimpfen anfing? Man hätte doch annehmen müssen, daß er sich zwar zurückzog, aber aus sicherer Entfernung seine Stieftochter gewaltig beschimpfte. Und wenn Lush wirklich so in Wut geraten wäre, wie im Fall seines Lastwagens, auf den er ja eingeschlagen haben soll, dann wäre er doch auch in blinder Wut weiter auf die Tür losgegangen. Oder auf ein Fenster. Aber da wäre noch ein anderer Gesichtspunkt: Wenn Lush die Tür tatsächlich in Ruhe gelassen haben sollte – können Sie sich dann vorstellen, daß er ohne einen Kanister Benzin zum Lastwagen zurückkehrte?« »Als er nach Hause kam, dürfte seine Wut über den Wagen bereits verraucht gewesen sein. Als aber das Mädchen durch die Tür schoß, geriet er natürlich erneut außer sich, und in seiner Erregung kann er ohne weiteres vergessen haben, Benzin mitzunehmen«, gab Lucas zu bedenken. »Damit wird alles noch verworrener.« Bony seufzte. »Ihr Argument ist zwar gut, aber ich bezweifle, ob es einer ernsthaften Kontrolle standhält. Sie nehmen also an, daß Lush in seiner Erregung vergessen hat, Benzin mitzunehmen. Als er beim Wagen ankam, geriet er erneut in Wut und holte sich den Pfosten vom Briefkasten. Da er die Scheinwerfer bereits abgeschaltet hatte, dachte er natürlich njcht daran, sie wieder einzuschalten.« 54
Wachtmeister Lucas starrte in die Tischlampe. »Hat Ihnen Jill Madden gesagt, warum sie mir die Sache mit der Tür verschwiegen hat?« »Ja. Ihre Mutter bat sie am nächsten Morgen, die alte Tür einzuhängen und die neue zu verbrennen, damit es keinen Skandal gab, falls jemand vorbeikam. Als sie vor Ihnen ihre Aussage machte, war sie natürlich durch den Tod ihrer Mutter viel zu aufgeregt, um an die Tür zu denken. Ich war ja anwesend und bin überzeugt, daß sie tatsächlich sehr aufgeregt war. Sie hatte ja auch allen Grund dazu.« »Also dichter Nebel über der Madden-Farm, wie?« »Er ist so dicht, daß ich mich entschlossen habe, nach Mira zu übersiedeln und meine Ermittlungen von dort aus weiterzuführen.« Bony stand auf, holte die Kaffeekanne vom Herd und schenkte nach. Er lächelte, und im Licht der Petroleumlampe spielten gelbe Reflexe in seinen Augen. »Der Fall bereitet mir Vergnügen, Lucas. Was zunächst völlig unwichtig aussah, ist plötzlich tief und dunkel wie das Wasserloch an der Flußbiegung.« Lucas fuhr sich mit den Fingern durch sein blondes Haar und erwiderte Bonys Lächeln. »Ich hörte von Vickory, daß drei Tramps unterhalb des Schurschuppens, aber auf dieser Seite des Flusses, kampiert haben. Wissen Sie etwas über diese Männer?« »Nein, Inspektor.« Lucas grinste, als Bony die Stirn runzelte. »Entschuldigung – Bony.« »So, jetzt wollen wir den Schinken probieren. Legen Sie mal etwas Holz auf den Herd.« Bony deckte den Tisch und schnitt Brot ab. »Haben Sie eigentlich mit irgendeinem der Männer auf Mira schon mal Scherereien gehabt?« »Nicht ernstlich. Die meisten schlagen etwas über die Stränge, wenn sie in die Stadt kommen. Sogar Ray Cosgrove mußte ich schon mal einsperren, bis er wieder nüchtern war. Zu einer Anzeige kam es allerdings nicht. Als ich ihn am nächsten Morgen rausließ, tat ihm alles schrecklich leid. Komisch, was der Alkohol so anrichtet. MacCurdle wird stumm, Ray Cosgrove singt aus vollem Hals. Grogan möchte dann immer raufen, obwohl er ein ausgesprochener Schwächling ist. Nein, diese Leute sind durchaus in Ordnung.« »Und was halten Sie von Mrs. Cosgrove?« »Sie ist der Boss, und jeder weiß es«, erwiderte Lucas. »MacCurdle ist zwar nach außen hin der Manager, aber sie managt in Wirklichkeit alles. 55
Vickory ist nach außen hin der Verwalter und hat auch das Kommando über die Männer. Aber wie ich gehört habe, entläßt Mrs. Cosgrove die Leute selbst und stellt sie auch ein. Die Verpflegung soll gut sein, es gibt auch Sonderurlaub für Überstunden, aber es wird hart gearbeitet, wenn sie es verlangt.« »Und wie ist das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Sohn?« Lucas lachte. »Sie hält ihn für einen ausgesprochenen Liebling der Götter. Keine Frau ist gut genug für ihn. Deshalb möchte sie ihn am liebsten überhaupt nicht heiraten lassen. Hält ihn knapp mit Geld, wenn man bedenkt, was aus dieser Schafstation herausgeholt wird.« »Sie besitzt viel Geld?« »Mehr Geld als die Queen«, erwiderte Lucas respektlos.
9
B
ony saß gerade beim Frühstück, als Mrs. Cosgrove anrief. »Guten Morgen, Inspektor Bonaparte! Wie geht es?« »Danke, Mrs. Cosgrove, gut. Und wie war die Fahrt nach Bourke?« »Wir hatten zwar keine Panne, aber die Fahrt war trotzdem sehr anstrengend, weil wir einen großen Umweg machen mußten. Ich habe mit verschiedenen Nachbarn im Norden gesprochen – sie schätzen, daß die Flutwelle spätestens sechs Uhr hier ist. Was haben Sie für Pläne?« »Ich fände es nett, wenn Sie mich für ein paar Tage einladen würden. Ich werde mich bemühen, Ihnen so wenig wie möglich zur Last zu fallen.« Mrs. Cosgrove schien kurz zu zögern. »Natürlich, Inspektor. Sie sind herzlich willkommen. Ich schicke dann ein paar Männer. Sie holen Jill Maddens Sachen und das Vieh. Sie können auch Ihren Koffer mitnehmen. Was haben Sie eigentlich bei dieser Kälte angefangen?« »Ach, ich habe die Kühe gemolken, Hühner und Kookaburras gefüttert«, antwortete Bony, doch dann wurde er plötzlich ernst. »Nachdem 56
nun Mrs. Lush gestorben ist, erscheint Lushs Verschwinden in einem anderen Licht. Nun muß ich ihn erst recht finden – wegen Mordes.« »Das ist doch schrecklich, nicht wahr? Arme Frau! Mir steigt die kalte Wut hoch, wenn ich daran denke, was sie mitgemacht hat. Jill hat uns alles erzählt. Sie kommt mit den Männern hinüber, um abzuschließen.« »Sehr gut. Ich werde meinen Koffer in die Waschküche stellen, falls ich nicht dasein sollte. Die Kühe sind gleich beim Stall, und die Hühner habe ich nicht aus dem Gehege herausgelassen. Die Hunde kette ich natürlich an.« »Sie sind sehr vielseitig, Inspektor«, sagte Mrs. Cosgrove. »Ich habe mit Chefinspektor Macy über Sie gesprochen, und wie ich hörte, haben Sie in Polizeikreisen einen außerordentlich guten Ruf. Also, ich freue mich auf Ihr Kommen.« Bony bedankte sich, legte den Hörer auf und ging hinaus, um seine Bettwäsche, die er gewaschen hatte, auf die Leine zu hängen. Schließlich packte er ein paar Sandwiches und eine Flasche mit kaltem Tee in einen Zuckersack. Er hängte sich den Zuckersack an einem Strick über die Schulter, gab den Hunden die Überreste des Frühstücks und machte sich auf den Weg. Der Wind wehte immer noch von Ost, hatte aber bedeutend nachgelassen, und das Wetter schien schöner zu werden als am Tag zuvor. Als Bony bei den Briefkästen ankam, galt sein Interesse vor allem den drei Pfosten, auf denen der Briefkasten der Maddens ruhte. Es war eine hölzerne Teekiste, deren offenes Ende nach Osten gerichtet war, weil von dort Regen und Wind den wenigsten Schaden anrichten konnten. Diese Kiste ruhte auf einem Rahmen aus Vierkanthölzern. Die Farbe war längst abgeblättert. Da die Pfosten tief im Boden verankert waren, stand der Briefkasten auch auf drei Beinen noch fest. Bony rüttelte an einem Pfosten und konstatierte, daß es nicht schwer war, ihn auszureißen. Er betrachtete die Stelle, an der der fehlende Pfosten im Boden verankert gewesen war. Das unterste Ende steckte noch in der Erde. Es war von Termiten zernagt. Lush konnte in seiner Wut also durchaus einen Pfosten ausgerissen haben. Danach mußte er acht Schritte gehen, um auf den Kotflügel einschlagen zu können. Der Pfosten war zwar noch hart genug, eine Beule 57
im Kotflügel zu verursachen, andererseits aber so von Termiten zerfressen, daß das Ende abbrechen mußte. Was aber hatte er dann getan? Nach Meinung des Verwalters hatte er den zerbrochenen Pfosten weggeworfen und war zum Briefkasten zurückgerannt, um sich einen anderen zu holen. In der Dunkelheit hatte er den Briefkasten verfehlt und war über die Klippe gestürzt. Wo aber war der zerbrochene Pfosten geblieben? Bony hatte alles abgesucht, auch das Wasserloch und den Felssims. Da der Pfosten nirgends gefunden werden konnte, schien eine andere Theorie wahrscheinlicher: Lush war mit einem Benzinkanister zum Lastwagen zurückgekehrt und dort auf jemanden gestoßen. Um sich zu verteidigen oder den anderen anzugreifen, hatte er den Pfosten herausgerissen und war im Verlauf des Kampfes über die Klippe gestürzt oder von seinem Gegner hinuntergestoßen worden. Beide Theorien mochten ein Körnchen Wahrheit enthalten, doch für Bony gab es kaum noch einen Zweifel, daß Lush von Jill Madden erschossen und beseitigt worden war. Sie hatte zugegeben, die Tür verbrannt zu haben. Bony hatte einen eisernen Schubkarren gesehen, der offensichtlich dazu diente, die geschlachteten Hammel zum Haus zu transportieren. Man konnte damit aber genausogut die Leiche von Lush zum Wasserloch gebracht haben. Das Trinkwasser wäre ja dadurch nicht verseucht worden, denn es wurde aus Regentanks genommen. Am Tage zuvor hatte Bony unterhalb von Mira die Lagerstelle der drei Tramps besucht. Dieses Lager war zwei Meilen von den Briefkästen entfernt, trotzdem bestand die Möglichkeit, daß diese drei Männer etwas mit Lushs Verschwinden zu tun hatten. Bony schulterte seinen Essensack und marschierte in die Niederung am Rande von Madman’s Bend. Schließlich drang er in das Dickicht ein. Sein Ziel war der Tigerholzbaum. In einer weiten Zickzacklinie suchte er nach Spuren. Eine Diamantschlange glitt träge durch das trockene Laub. Auf einem abgestorbenen Ast lag ein Leguan, blickte Bony aus seinen schwarzen funkelnden Augen haßerfüllt entgegen, und seine gespaltene Zunge schnellte drohend vor. Bony hörte eine Ziege mekkern, eine zweite antwortete, aber er konnte sie nicht sehen. Plötzlich glaubte er das leise Bimmeln eines Glöckchens zu vernehmen. Wahrscheinlich hing es am 58
Hals einer dieser verwilderten Ziegen. Doch dann herrschte wieder tiefe Stille — eine Stille, die nicht einmal von dem schwachen Wind, der flüsternd durch die bizarr gestalteten Bäume fuhr, unterbrochen wurde. Lag es daran, daß sich Bony heute ganz auf seine Aufgabe konzentrierte, oder schien die Sonne kräftiger? Auf jeden Fall überkam ihn diesmal keine Furcht vor den Geistern seiner mütterlichen Vorfahren. In grimmiger Entschlossenheit schritt er weiter, wich umgestürzten Bäumen und tiefen Rinnen aus, durchquerte seichte Nebenarme und drang immer tiefer in die große Flußschleife ein. Er setzte sich auf einen Baumstamm, rauchte eine Zigarette und überlegte, was er nun tun könne, als er plötzlich im Nacken ein Prikkeln verspürte. Er fuhr herum, sah aber nur die trostlose Landschaft. Doch nun begann es ihm auch in den Füßen zu prickeln, er stand auf und bewegte die Zehen. Dieses physische Phänomen hatte ihn stets vor nahender Gefahr gewarnt. Bony kaute an der Unterlippe und versuchte, die Gefahr zu erkennen. Einen Augenblick später vernahm er in der Ferne einen leisen, tiefen Ton. Es klang fast, wie wenn die Brandung gegen die Felsen schlägt. Welch ein verwunschener Ort! Hinter dem verfaulenden Stumpf eines schiefstehenden Buchsbaums löste sich die Gestalt eines Mannes. Er war sehr groß, trug eine alte Hose und einen zerfetzten grünen Mantel. Er hatte einen Bart, und das zottige Haar lugte unter der Krempe eines zerbeulten Filzhutes hervor. Er kam auf Bony zu. Dabei setzte er seine Füße wie ein Schlafwandler. Seine Augen konnte Bony nicht sehen, denn sie waren auf den Boden gerichtet. Der Mann trug ein Kochgeschirr in der Hand, und schräg über seinen Rücken hing die gewohnte Deckenrolle, deren oberes Ende über den Hut hinausragte. »Bombe … Bombe … Bombe …« Die monoton wiederholten Worte kamen genau im Takt seiner Schritte, dann folgten einige Töne, die offenbar eine Melodie darstellen sollten. Als sich der Mann bis auf fünfzig Meter genähert hatte, erkannte Bony sie. Es war der Totenmarsch aus ›Saul‹. Bony war schon den seltsamsten Charakteren begegnet – Männern, die jahraus, jahrein flußauf und flußab wanderten, die als Farmarbeiter und Schafscherer begonnen hatten, dann langsam zum Vagabun59
den abgesunken waren und von den Spenden der Stationsköche lebten. Diese Männer haben nur eins gemein: sie sind ewig auf der Walze, auf einer Wanderung ohne Ziel. Der Mann, der langsam, seine Melodie summend, auf Bony zukam, starrte auch weiterhin zu Boden und bemerkte den Inspektor überhaupt nicht. »Guten Tag!« sagte Bony. Der Mann brach die Melodie ab, blickte aber Bony nicht an, sondern ging ganz einfach weiter. »Ich bin tot. Ich bin tot-«, murmelte der Tramp immer wieder. »Ich glaube fast, wir sind beide tot!« rief Bony hinterher. Ihm tat dieses menschliche Wrack leid. Bei dieser Marschgeschwindigkeit würde der alte Mann wohl nicht weit kommen, und Bony versuchte zu erraten, wohin er ging. Er war aus Südwesten gekommen, lief in Richtung Nordwest – dort lag die Mira-Station. Vielleicht hatte er keine Ahnung von der Flutwelle, die in Mira gegen sechs Uhr erwartet wurde. Dem Sonnenstand nach war es kurz vor elf. Es war schwer, die genaue Entfernung bis zur Schafstation abzuschätzen, da Bony im Zickzack gegangen war – er schätzte anderthalb bis zwei Meilen. Ein guter Marschierer kann drei Meilen in der Stunde zurücklegen, doch dieser alte Mann würde höchstens eine Viertelmeile schaffen. Er würde also erst in acht Stunden auf der Schafstation eintreffen, die Flut kam aber bereits in sieben Stunden. Gewiß, die Wassermassen würden nicht in einer verheerenden Flutwelle angestürmt kommen. Es würde Tage dauern, bis die Niederung überschwemmt war, und Stunden, bevor alle Nebenarme und Gräben gefüllt waren. Die Gefahr lag darin, daß der alte Mann nicht mehr nach Mira hinüberkam, denn die Flut führte Treibgut mit, so daß man nicht übersetzen konnte. Bony entschloß sich deshalb, dem Mann nachzueilen und ihn zu warnen. Er stand auf und schulterte seinen Proviantsack, als er aus der Richtung, aus der der alte Mann gekommen war, lautes Rufen vernahm. Bony wartete. Er sah, daß der zweite Mann offensichtlich das Ziel des Alten kannte, und rief ihn an. Der Mann drehte sich auch sofort um. 60
Er war klein, alles an ihm war rundlich – er war das pure Gegenteil des Alten. Auch er hatte Deckenbündel und Kochgeschirr bei sich, aber aus dem Kochgeschirr lugte ein schwarzweißes Kätzchen. »Tag, Kamerad!« Die blauen Augen des Tramps blickten besorgt. »Haben Sie zufällig einen alten Mann gesehen?« »Ja, er kam gerade hier vorbei. Summte den Totenmarsch.« »Das ist er! Wir hatten uns gerade ein wenig aufs Ohr gehauen, und als ich aufwachte, war er weg. Eine verdammte Gegend, um nach einem Verrückten zu suchen. Er ist nicht immer plemplem, aber wenn er einen Anfall bekommt, passe ich gewissermaßen auf ihn auf. Wie groß ist denn sein Vorsprung?« »Sehen Sie da vorn diesen Baum?« Bony streckte den Arm aus. »Gleich dahinter ist er.« Die blaßblauen Augen in dem von einem Backenbart eingerahmten Gesicht leuchteten erleichtert auf. »Dann mache ich mich lieber auf die Socken, Kamerad. Ich bin mit Totenmarsch-Harry nun schon seit zehn Jahren zusammen. Es steht nicht schlimm mit ihm, aber manchmal bereitet er „mir doch etwas Kummer. Also dann, vielleicht sehen wir uns auf Mira wieder.« »Sie wissen, daß die Flutwelle kommt?« »Ja. Deshalb wollen wir geradewegs nach Mira. Der Chauffeur des Postautos erzählte mir, daß die Flutwelle um sechs in Mira erwartet wird. Also dann, Kamerad!«
10
D
rei Stunden nach seinem Zusammentreffen mit TotenmarschHarry und dessen Gefährten verließ Bony Madman’s Bend. Er war nun überzeugt, daß es hier für ihn nichts mehr zu entdecken gab. Er fand das Haus, wie erwartet, verschlossen, alle Tiere waren weggebracht worden. Der Schubkarren stand nicht mehr an seinem ge61
wohnten Platz, und auch die Axt war vom Holzstoß verschwunden. Bony nahm an, daß man sie im Waschhaus eingeschlossen hatte. Bony setzte sich oberhalb des kleinen Wasserlochs ans Flußufer. Außer dem gelegentlichen Gekicher eines Kookaburras oder dem Schwatzen der Galahs lag tiefe Stille über der verlassenen Farm. Warum hatte sich jemand ausgerechnet hier sein Haus gebaut, obwohl er gewußt haben mußte, daß es vom Hochwasser eingeschlossen werden konnte? dachte Bony. Doch die Antwort war wohl gar nicht so schwer. Warum baute man sich überhaupt sein Haus in der Einsamkeit, in einer den Winden und der sengenden Hitze preisgegebenen Ebene? Wenn man dann alle zehn Jahre einmal das Haus verlassen mußte oder eine Zeitlang abgeschnitten wurde, war das nicht ein niedriger Preis für das Glück, an diesem Fluß wohnen zu können – an diesem Fluß, der viel schöner ist als Australiens größter Strom, der Murray? Sollte William Lush noch am Leben sein, würde man ihn zweifellos aufgreifen; vielleicht stellte er sich auch selbst der Polizei. War er aber tot, dann war es durchaus möglich, daß seine Leiche nie gefunden wurde, denn schon bald würde der Darling anschwellen, würde nach beiden Seiten meilenweit über die Ufer treten, die Überschwemmung würde nur langsam wieder zurückgehen, und noch monatelang würden Millionen von kleinen Seen und Teichen zurückbleiben. Sollte der Fluß Lush für immer begraben, dann gab es keinen Beweis für seinen Tod. Es war dann aber auch nicht mehr festzustellen, ob er in seiner Wut versehentlich über den Klippenrand gestürzt war, oder ob er ermordet wurde. Doch wenn es sein mußte, würde Bony sich jahrelang mit diesem Fall beschäftigen. Seine Depression war plötzlich verschwunden, er lief zum Schlachtpferch und untersuchte das Ufer bis zum Wasserloch. Schließlich war er überzeugt, daß keine Leiche über das Steilufer zum Wasserloch geschleift worden war. Hatte man den Toten allerdings hinunterrollen lassen, war es schwer, Spuren zu erkennen. Ein schmaler Pfad führte vom Schlachtpferch schräg am Ufer entlang zum Wasserloch. Offensichtlich war er nur selten benützt worden, um die Pumpen zu kontrollieren. Bony fand einen Stiefelabdruck, aber er war mehr als vier Tage alt und so ungenau, daß er nicht einmal die Schuhgröße feststellen konnte. 62
Neben dem Wasserloch lag ein flacher Kahn. Er lag schon so lange auf dem Trockenen, daß die Planken auseinanderklafften. Bony blickte unter den umgestülpten Kahn, zuckte resigniert die Achseln und ging an dem felsigen Rand des Wasserlochs weiter. Hölzerne Gleitschienen, auf denen die Pumpe hinabgelassen worden war, ragten aus dem Wasserloch. Bony konnte die Pumpe knapp zwei Meter unter der Wasseroberfläche sehen. Den Grund des Tümpels konnte er nicht erkennen, aber er sah die Baumstämme und dicken Äste, die ineinanderverkeilt tief unten lagen. Doch keinerlei Anzeichen deuteten darauf hin, daß jemand an diesem Wasserloch gewesen war, seit William Lush vermißt wurde. Bony entschloß sich nunmehr, noch einmal das große Wasserloch unterhalb der Briefkästen zu besichtigen. Er schlenderte in dem trockenen Flußbett entlang. Hoch über ihm ragten die Eukalyptusbäume in den Himmel. Die Sonne stand im Westen, die Bäume zu seiner Rechten warfen lange Schatten über die Felsen und das Geröll im Flußbett. Zwischen den Steinen lugte roter Sand hervor, den der Wind von der Ebene herübergetragen hatte. An der Flußschleife aber bildete der Sand eine lange Landzunge, schmutziggrau, übersät mit Fußspuren, die nicht mehr zu identifizieren waren. Eine volle Stunde lang suchte Bony jeden Zentimeter ab, ohne etwas Brauchbares zu finden. Schließlich blickte er flußaufwärts. Der Flußlauf dehnte sich bis hinter die Madden-Farm, dann bog er scharf nach Osten ab. In dieser Flußschleife wurde plötzlich eine Bewegung sichtbar. Eine große’ Schlange schien durch das trockene Laub zu kriechen. Die Stelle mochte sechshundert Meter entfernt liegen, und Bony beobachtete, wie das trockene Laub immer mehr anschwoll, schließlich von Ufer zu Ufer reichte und dann langsam auf ihn zukam. Bony sah nach der Sonne und stellte fest, daß es kurz vor fünf Uhr war. Eine Stunde vor der erwarteten Zeit war die Flutspitze bereits eine knappe halbe Meile vor ihm. Bony ging die Landzunge entlang und dachte an TotenmarschHarry und seinen kleinen dicken Kumpan. Er konnte nur hoffen, daß sich die beiden nicht auf die vorausgesagte Zeit verlassen hatten, und als er das gegenüberliegende Ufer erklomm, bedauerte er erneut, daß es ihm nicht gelungen war, William Lush zu finden. 63
Vom Steilufer aus beobachtete er das Näherkommen der Flutwelle. Es war kein aufregender Anblick, das Wasser schob lediglich einen dicken Teppich aus trockenen Blättern und Ästen vor sich her. Unterhalb der Madden-Farm schien dieser Teppich plötzlich anzuschwellen, zu brodeln, und schließlich schössen mehrere Arme vorwärts, die sich kurz darauf wieder vereinigten und erneut einen dichten Teppich bildeten. Hundert Meter vor Bonys Standort kam die Flut zum Stehen. Bony konnte den Grund nicht erkennen, aber das Wasser begann zu schäumen, befreite sich aus dem Geröll, doch die Flut schob sofort neue Steine nach, errichtete eine Staumauer, die erst barst, als der Wasserdruck zu groß wurde. Unaufhörlich baute der Fluß diese Staudämme, um sie gleich darauf wieder niederzureißen. Das Wasser mochte kaum tiefer als dreißig Zentimeter sein. Die Flutspitze erreichte nun das große Wasserloch. Wirbelnd ergoß sich das mitgeführte Treibgut hinein, wurde von den Felsrändern festgehalten, weitergerissen. Und dann schob sich die Flut in die Flußschleife oberhalb von Mira, kroch immer weiter in dem breiten, ausgetrockneten Bett. Das Wasser war von einem bräunlichen Hellgrau. Die flache Flutwelle schob zunächst nur sandigen Kies und kleine Zweige vor sich her. Als Bony nach einigen Sekunden flußaufwärts blickte, war er erstaunt, dort einen Wall aus dicken Ästen zu sehen, der unaufhaltsam vorwärtsgeschoben wurde. Und immer wieder ragten aus dieser quirlenden Masse einzelne Äste steil in die Höhe, man konnte fast den Eindruck haben, daß ein Mann verzweifelt seine Arme in die Höhe warf. Schließlich wuchs die Barriere zu einer Höhe von dreieinhalb Metern an. Ein Mensch, der in diese brodelnde Masse aus Ästen und Baumstämmen geraten sollte, würde unweigerlich zermalmt. Die Flutspitze schob sich an Bony vorbei, ergoß sich in das eben noch still daliegende Wasserloch. Die Äste versanken, schössen wieder in die Höhe und wurden weitergetragen, bis der Wasserstand wieder so weit abgesunken war, daß sie nur noch träge weiterrollten. Am linken Ufer war ein Eukalyptusbaum umgestürzt. Er brachte, zusammen mit den vorstehenden Wurzeln eines Baumes am gegenüberliegenden Ufer, das Gewirr aus Ästen und Geröll zum Stehen. Sofort stieg das Wasser an, dicke Äste und Stämme wurden an Bony vorüber64
getragen, gegen das Hindernis gepreßt – der Staudamm verstärkte sich immer mehr. Zunächst hatte das Wasser kniehoch gestanden, doch nun stieg es rasch weiter, zunächst auf zwei Meter, dann – etwas langsamer – bis auf vier Meter. Fasziniert beobachtete Bony das Schauspiel. Wie durch die Abflußrohre eines von Menschenhand gebauten Staudammes ergossen sich weißschäumende Wasserstrahlen. Bony blickte flußaufwärts. Schwerfällig schob sich die Flut um die Biegung, führte Baumstämme und Äste mit. Doch plötzlich wälzte sich eine zwei Meter hohe Welle näher. Flußaufwärts war einer der von der Flut errichteten Staudämme geborsten, und eine gewaltige Wassermasse war frei geworden. Diese Flutwelle prallte auf die Barriere aus Geröll, aus Stämmen und Ästen. Der Wall erbebte, schien aufzustöhnen, doch dann war auch schon der Widerstand gebrochen. Donnernd und schäumend raste die Flutwelle auf die Flußschleife von Mira los – wie eine Horde wildgewordener Stiere. Bony schlenderte am Ufer entlang. Er war noch immer ganz gebannt von dem Naturschauspiel, das Hunderte von Meilen entfernt durch einen Wolkenbruch ausgelöst worden war. Der Fluß würde steigen und wieder fallen, aber es dürfte Jahre dauern, bis er wieder völlig ausgetrocknet war. Schmutzigbraun, beladen mit einer gefährlichen Fracht, feierte er jetzt seinen schrecklichen Triumph. Bony gelangte zum oberen Ende der Flußschleife bei der MiraStation. Er konnte die Gebäude sehen und blieb am Ufer eines Nebenarms stehen. Links lag das Herrenhaus, umgeben von dem Garten, den ein Holzzaun einsäumte. Direkt gegenüber stand die Dampfmaschine. Sie trieb die Pumpe an, die das Wasser in die hochgelegenen Tanks förderte. Rechts lagen die Arbeiterunterkünfte und eine halbe Meile flußabwärts Schur- und Wollschuppen. Ein Schaf blökte, Elstern schackerten und Kakadus krächzten. Sie flogen über Bony hinweg – es waren schwarze Kakadus, größer als Krähen, aber ebenso schwarz. Nur die Unterseiten der Flügel leuchteten blutrot auf. Ein Hund bellte. Ein Mann lachte. Der Koch trat aus der Küche und ließ mit einer Eisenstange den Triangel ertönen. Für einen hungrigen Mann war es genau der richtige Zeitpunkt, Mira einen Besuch abzustatten.
65
11
D
as Herrenhaus der Mira-Schafstation lag auf einem Hügel und war im Kolonialstil erbaut. Es enthielt ein Dutzend Schlafzimmer, einen Tanzsaal und ein Wohnzimmer, das fast ebenso groß war. Die Veranda war dreieinhalb Meter breit und mit Fliegendraht gegen die Moskitos geschützt. Der Garten bot Schutz vor den kalten Ostwinden im Winter und spendete Kühle bei den heißen Westwinden im Sommer. Für das Herrenhaus standen Mrs. Cosgrove eine ausgezeichnete Köchin, zwei Hausmädchen, ein Diener und eine Küchenhilfe zur Verfügung. Auch heute noch legte sie größten Wert auf gepflegte Tischsitten, und Bony war froh, seinen dunkelblauen Anzug im Koffer zu haben. Raymond Cosgrove saß am Kopfende der langen Tafel, seine Mutter rechts von ihm und neben ihr MacCurdle. Zu Rays Linken saß Bony, anschließend kam Jill Madden. Das Gespräch drehte sich naturgemäß nur um ein Thema: um die große Flut. »Sie haben doch wohl die Boote vom Wasser heraufholen lassen, Mac«, meinte Mrs. Cosgrove, und ihre Stimme verriet nicht den geringsten Zweifel. »Ja, Mrs. Cosgrove, das habe ich veranlaßt«, erwiderte der Manager. Sein schütteres Haar war sandfarben wie das Bärtchen, das er auf Soldatenart gestutzt hatte. Er hatte auch die Gestalt eines Soldaten, neigte aber mit seinen fünfzig Jahren etwas zur Rundlichkeit. »Es kann Monate dauern, bis sich die Verhältnisse auf dem Fluß so weit normalisiert haben, daß wir sie wieder hinunterbringen können.« »Mir wäre es lieber, wir könnten die Boote schon bald benützen«, meinte Ray Cosgrove. »Mir macht es mehr Spaß, zum Briefkasten zu rudern, anstatt zu reiten oder zu Fuß zu gehen. Flußaufwärts ist es zwar etwas anstrengend, aber es ist wunderschön, sich dann abwärts 66
treiben zu lassen. Außerdem hat man immer die Chance, einen Fisch an die Angel zu bekommen.« Seine Mutter betrachtete ihn zärtlich, dann blickten ihre dunkelgrauen Augen Bony an. »Ray hofft immer noch, einmal Jills Vater übertrumpfen zu können. Er hat nämlich einmal einen Zwanzigpfünder gefangen.« Sie wandte sich wieder an ihren Sohn. »Auf Wochen hinaus ist es nichts mit dem Angeln, und im übrigen wird derjenige, der die Post besorgt, jetzt nach Murrimundi reiten müssen. Wir werden auch nicht mehr dreimal in der Woche Post erhalten, sondern nur noch zweimal – oder sogar einmal.« »Steigt das Wasser schnell?« fragte Bony. »Nicht so schnell wie manche Bäche im Norden«, erwiderte Ray Cosgrove. »Es wird eine Woche dauern, bis hier der Höchststand erreicht ist. Sehen Sie, überall gibt es ja Nebenarme und kleine Seen, die sich erst füllen müssen. Beim letzten Hochwasser war das gesamte Gebiet von Madman’s Bend überschwemmt.« Er errötete leicht und lachte. »So hat. mir mein Vater erzählt. Es war ja noch vor meiner Zeit. Und diesmal wird das Wasser bestimmt wieder so hoch steigen. Damals haben wir einen großen Deich gebaut. Wir müssen auch diesmal aufpassen. Können Sie gut mit einer Schaufel umgehen, Inspektor?« Bony lachte. »Diese Frage habe ich erwartet.« Er wandte sich an Jill Madden, die bisher noch kein Wort gesprochen hatte. »Ihre Kookaburras werden auf das Abendessen warten. Haben Sie die Vögel gezähmt?« Jill nickte schweigend und hielt den Kopf gesenkt. »Sie werden etwas tun müssen, Inspektor«, bohrte Ray weiter. »Natürlich werde ich etwas tun: ich werde Fragen stellen, werde beobachten und vielleicht auch kritisieren.« »Jeder gibt also sein Letztes, wie?« »Das ist eine gesunde Philosophie.« Bony lächelte. »Wissen Sie, wenn mein Chef hier wäre öder Chefinspektor Macy, dann würde ich Ihren Vorschlag gutheißen. Ich sehe nämlich schon, daß die beiden sehr ungeduldig werden. Wenn sie aber eine Schaufel in die Hand nehmen müßten, hätten sie keine Zeit, an mich zu denken.« »Warum sollten sie ungeduldig werden, Inspektor?« fragte Mrs. Cosgrove. 67
»Nun, sie werden sagen, daß dieser Bonaparte auf Mira herumsitzt und den lieben Gott einen frommen Mann sein läßt, anstatt ihnen William Lush zu präsentieren.« »Glauben Sie denn immer noch, ihn zu finden – jetzt, wo der Fluß Hochwasser führt?« fragte Mrs. Cosgrove, und Bony bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Jill Madden interessiert den Kopf hob. »Ich hoffe, daß er noch lebt, damit ich ihn festnehmen kann. Sollte er nicht mehr leben, dann hoffe ich, die Person festzunehmen, die ihn getötet hat.« »Ganz gleich, ob er tot ist oder noch lebt – er befindet sich drüben am anderen Ufer, und es wird Wochen dauern, bis Sie wieder hinüber können«, gab Ray Cosgrove zu bedenken. »Das Hochwasser wird zurückgehen, und dann werde ich mit einem Boot übersetzen.« Bony fuhr mit der Hand durch die Luft. »Was bedeutet schon Zeit? Ob ich Lush morgen, nächste Woche oder nächsten Monat finde, ist mir gleich. Ja, selbst nächstes Jahr würde mir – im Gegensatz zu meinen Vorgesetzten – nichts ausmachen. Ich bin schon ein paarmal entlassen worden, weil ich nicht befehlsgemäß zurückgekehrt bin – aber ich wurde jedesmal wieder eingestellt. Im übrigen dürfen Sie beruhigt sein – im Notfall kann ich durchaus mit einer Schaufel umgehen.« »Nun, uns bereitet die Zeit schon Sorgen, Inspektor«, erklärte Mrs. Cosgrove. »Wir haben jetzt alle Hände voll zu tun, aber das soll Sie nicht abhalten, Ihre Ermittlungen zu führen. Sagen Sie uns Bescheid, wenn wir Ihnen irgendwie helfen können. Je eher Sie Lush finden oder herausbekommen, was mit ihm geschehen ist, um so besser für die arme Jill. Und auch für uns. Wir sind nämlich persönlich daran interessiert, Inspektor. Jills Eltern waren sehr tüchtige Leute. Sie waren zwar nicht so vermögend wie wir, aber genauso ehrenwert.« Hoppla! dachte Bony. Offensichtlich wollte diese Frau damit andeuten, daß die Cosgroves doch nicht auf eine Stufe mit den Maddens zu stellen waren. Der Manager betrachtete mit stoischer Ruhe das Käsedessert, einen Augenblick später erhob sich Mrs. Cosgrove. Sie werde sich jetzt mit Jill ins Wohnzimmer zurückziehen, verkündete sie. Bony öffnete ihr die Tür, und die Schafzüchterin nickte knapp, als sie an ihm vorbeischritt. 68
MacCurdle hatte inzwischen den Portwein und Gläser von der Kredenz geholt. »Meine Mutter hält schrecklich viel auf Etikette«, meinte Ray Cosgrove. »Mein Großvater mütterlicherseits war Dekan der Kathedrale von York. Mein Vater hat meiner Mutter immer wieder gesagt, daß er kein Dekan sei, und Mira sei eine Schafstation und keine Kathedrale. Trotzdem mußte er schließlich zugeben, daß gewisse Tischregeln gar nicht so schlecht waren, besonders die, wonach die Damen das Zimmer zu verlassen haben, damit die Herren ungestört trinken können. Also dann — auf unsere beiden Damen.« »Und auf Inspektor Bonaparte«, fügte MacCurdle hinzu, füllte rasch sein Glas nach und nahm sich eine Zigarre. »Wir hoffen, es gefällt Ihnen hier, Inspektor.« »Ganz bestimmt, Mac – vor allem, wenn Sie und Ray endlich einmal den Inspektor vergessen. Nennen Sie mich Bony, genau wie meine Frau und meine Kinder – und mein Chef, wenn er wütend auf mich ist.« Cosgrove grinste den Schotten an. »Wir könnten ja mal mit der strengen Etikette brechen, Mac.« »Allerdings, Ray.« »Wir können es ja so halten«, sagte Bony, »bei Tisch und wenn ich Ihnen dienstlich komme, bin ich Inspektor Bonaparte, ansonsten Bony!« »Einverstanden«, erwiderte Cosgrove, und MacCurdle nickte. »Wie war’s mit einer kleinen Wette?« schlug Bony vor, und die beiden Männer stimmten zu. »Ich setze gegen jeden von Ihnen einen Shilling, daß Mrs. Cosgrove binnen einer Woche ebenfalls Bony zu mir sagt.« MacCurdle runzelte die Stirn, und Bony glaubte, daß ihm ein Shilling zu riskant erschien, doch im nächsten Augenblick merkte er, daß er sich geirrt hatte. »Sie sind für mich eine völlig neue Erfahrung, Bony. Ich bin nun zwanzig Jahre in Australien, aber einem Menschen wie Ihnen bin ich bisher noch nicht begegnet. Geht es Ihnen nicht ebenso, Ray?« »Ich weiß nicht recht, Mac. In meiner Klasse waren zwei Jungs aus Singapore. Ich nehme an, daß Bony etwas besitzt, was uns abgeht. Aber es ist Zeit für den Kaffee!« Jill Madden hatte Bony bereits beim Abendessen überrascht. Sie trug ein Abendkleie, und ihr Haar war vorteilhaft frisiert. Ein wenig Makeup überdeckte den von Sonne und Wind strapazierten Teint. Ihre ge69
pflegte Sprechweise verriet, daß sie ein gutes Internat besucht hatte – gewiß ein finanzielles Opfer für ihren Vater. Schließlich bat Mrs. Cosgrove das Mädchen, etwas auf dem Klavier zu spielen, und Bony war überrascht, als sie an dem Stutzflügel Platz nahm und die ersten Takte von Liszts Liebestraum Nummer 3 erklangen. »Sie spielt ja ausgezeichnet«, flüsterte er Cosgrove zu. »Ich habe aber drüben bei den Maddens gar kein Klavier gesehen.« »Ihr lieber Stiefvater hat es vergangenen April kurz und klein geschlagen«, erklärte der junge Mann und lauschte wieder der Musik. Diese Information verdarb Bony allerdings jeglichen Kunstgenuß. Das Klavierspiel erschien ihm plötzlich nur noch wie ein Geräusch aus dem Hintergrund. Hier war ein starkes Motiv, William Lush zu töten, auch ohne die Drohung, das Mädchen schlagen zu wollen. Vielleicht hatte die Musik Mutter und Tochter in ihrem erbärmlichen Leben einen letzten Trost geboten. Wenn manchmal behauptet wird, daß ein bestimmter Mensch nur geboren wurde, um eines Tages ermordet zu werden, dann traf dies ganz bestimmt bei Lush zu. Schließlich erhob sich Jill Madden und entschuldigte sich. Sie sei im Augenblick nicht in der richtigen Stimmung. »Natürlich, Jill, das verstehen wir«, erklärte Mrs. Cosgrove sofort. »Aber Sie spielen wundervoll. Ihr Anschlag ist leicht wie ein Schmetterling. Ich hingegen dresche drauflos wie ein Ackergaul. So, und nun werden wir Inspektor Bonaparte erst mal unter die grelle Lampe setzen – oder was man sonst tut mit Leuten, die ins Kreuzverhör genommen werden. Er will uns eine Menge Fragen stellen, und da halte ich es nur für gerecht, wenn wir ihn zunächst einmal ins Gebet nehmen. Er hat uns überhaupt noch nicht gesagt, was er bisher herausgefunden hat – und was seiner Meinung nach mit Lush passiert ist.« »Mutter, du bist heute abend köstlich«, bemerkte Ray und blickte Bony lächelnd an. »Jetzt sitzen Sie ganz schön in der Klemme, Inspektor!« »Gut, schießen Sie los. Ich weiß allerdings nicht, ob ich immer die reine Wahrheit sprechen werde.« »Dann verraten« Sie uns, Inspektor, was Ihrer Meinung nach mit Lush geschehen ist«, bat Mrs. Cosgrove. »Ich nehme an, daß er verschwunden ist.« 70
»Natürlich ist er verschwunden!« erklärte Mrs. Cosgrove, und ihre Stimme klang etwas schärfer als sonst. »Glauben Sie, daß er über die Klippe in das Wasserloch gestürzt ist oder sich lediglich bis zur Bewußtlosigkeit betrunken hat?« »Nach allem, was ich über ihn gehört habe, hoffe ich, daß er über die Klippe gestürzt ist.« »Hoffen und glauben ist zweierlei«, brummte Ray. »Da müssen wir eben den dritten Grad anwenden.« »Erbarmen!« Bony stöhnte. »Ich will alles gestehen, Sergeant. Also – ich halte es für möglich, daß er in das Wasserloch gestürzt ist. Ob es ein Unfall war oder ob er hinabgestoßen wurde, kann ich allerdings nicht sagen.«
12
I
m Juli beginnt um sechs Uhr morgens der Tag gerade erst zu erwachen, und es ist noch eine lange Zeit, bis es um sieben Frühstück gibt. Bony stand in seinem blauen Morgenmantel und dazu passenden Pantoffeln auf der Veranda und atmete die kühle Luft ein. Er riskierte Mrs. Cosgroves Mißbilligung und machte sich auf den Weg in die Küche, die an das Haus angebaut war. Die Tür stand offen, und der Duft nach frischgebrautem Kaffee ließ sein Herz höher schlagen. »Darf ich eintreten?« rief er und trat ein. »Was wünschen Sie?« fragte eine kleine verschrumpelte Frau, die am Tisch saß. Ihr graues Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten gelegt. »Ich würde gern mit Ihnen eine Tasse Tee trinken«, erwiderte Bony. Die Küche war – wie alles hier auf Mira – sehr geräumig, und die kleine Frau wirkte darin wie eine Puppe. »Sie sind der neue Gast«, stellte sie fest. »Selbstverständlich, bitte. Es ist genügend Tee in der Kanne. Bedienen Sie sich.« 71
Bony schenkte sich ein. Er hätte sich gern den Rücken am Herd gewärmt, aber er wußte, daß einen Koch hier im Busch nichts mehr ärgerte, als wenn man sich vor seinen Herd oder sein Lagerfeuer stellte. »In der Dose sind Biskuits«, sagte die Frau. »Danke. Wie heißen Sie eigentlich?« »Ich bin Mrs., Tanglow. Sie sind Inspektor Bonaparte?« »Ja, Mrs. Tanglow. Heute gibt es wieder schönes Wetter, wie?« »Mir ist es egal, ob es schön ist oder ob es regnet.« Sie kniff ihre braunen Augen zusammen. »Stimmt’s, daß Sie Bill Lush suchen?« »Hm, ich habe ihn gesucht. Er scheint verschwunden zu sein.« ^ »Hoffentlich bleibt er verschwunden. Aber noch mehr wünschte ich, er käme hier zur Tür herein und bäte um eine Tasse Tee.« »Oh, Sie möchten ihn gern noch einmal sehen?« »Ich will Ihnen etwas verraten – es bleibt kein Geheimnis«, sagte Mrs. Tanglow. »Mein Mann ist doppelt so kräftig wie Sie. Als wir eine Woche verheiratet waren, verstauchte er mir den Arm, und eine Weile später schlug er mich ins Gesicht. Bis dahin war ich immer eine Dame, verstehen Sie? Ja, er ist mindestens zweimal so kräftig wie Sie. Dann habe ich ihn in den Bauch getreten, und als er sich zusammenkrümmte, habe ich ihm noch mit dem Holzstiel der Kehrichtschaufel auf den Kopf gehauen. Und um sicherzugehen, habe ich gleich noch zweimal zugeschlagen.« Mrs. Tanglow schwieg kurz. Bony war überzeugt, daß er sie ohne weiteres mit einer Hand hochheben könnte. »Und wissen Sie was, Inspektor? Von diesem Augenblick an fraß mir mein Mann aus der Hand. Nur so kann man mit einem Haustyrannen fertig werden. Hätte Mrs. Madden ihm jeden Schlag doppelt vergolten, würde sie heute noch leben!« »Da mögen Sie recht haben, Mrs. Tanglow«, gab Bony zu. »Natürlich habe ich recht! Und jetzt verschwinden Sie hier. Ich bin kein Polizist, ich muß für meinen Lohn arbeiten. Und machen Sie sich nicht erst die Mühe, Ihre Tasse abzuspülen. Das besorgt dann die Küchenhilfe.« »Na, vielen Dank auch«, murmelte Bony. »Wenn ich Lush finden sollte, werde ich ihn zu einer Tasse Tee herbringen.« »Tun Sie das. Aber drehen Sie sich dann um, damit Sie nicht sehen, wie ich diesem Kerl eine Messerspitze Strychnin in den Tee tue.« 72
Nachdem der Tag so nett begonnen hatte, duschte Bony und kleidete sich an. Er rauchte eine Zigarette und wartete auf das Gongzeichen zum Frühstück. Ray Cosgrove und MacCurdle unterhielten sich auf der Veranda. Sie begrüßten ihn mit ›Bony‹ und führten ihn in ein kleines Zimmer gegenüber der Küche, wo – so wurde ihm erklärt – die Männer ihr Frühstück einnahmen. »Haben Sie schon den Fluß gesehen?« fragte MacCurdle. »Nein! Bißchen früh, wie? Na ja, das Wasser steht schon in halber Höhe.« »Von jetzt an wird es langsamer steigen, Mac«, prophezeite Ray Cosgrove. »Je höher der Fluß anschwillt, um so langsamer geht es dann. Aber es wird ein gewaltiges Hochwasser geben. Wir müssen dann gleich die Deiche inspizieren. Möchten Sie mitkommen?« »Ich möchte schon, aber ich habe noch zu telefonieren, und« – Bony lächelte – »anschließend habe ich eine Menge Fragen zu stellen. Wo ist eigentlich das Telefon?« »Im Büro. Ich zeige es Ihnen dann.« Nach dem Frühstück zeigte der Manager Bony, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden und wie der Klappenschrank zu bedienen war. Bony stand eine Weile auf der Veranda vor dem Büro, ließ sich von der Sonne wärmen und sah den beiden Männern nach, die mit dem Kleinlaster davonfuhren. Er wartete bis acht Uhr, dann rief er bei Wachtmeister Lucas an. »Haben Sie die Aussage des Chauffeurs vom Postauto zu Protokoll genommen?« fragte er. »Ja, natürlich.« »Hat er erwähnt, zwei Männer vor der nahenden Flutwelle gewarnt zu haben?« »Nein, seine Aussage befaßte sich mit Lushs Lastwagen, mit dem Zeitpunkt seiner Ankunft bei den Briefkästen und seinem Zusammentreffen mit Ray Cosgrove.« »Wenn er wieder nach White Bend kommt, dann fragen Sie ihn doch, wen er an dem Morgen getroffen hat, an dem Lush verschwunden ist. Vielleicht sind ihm auch Autos begegnet.« »Wird besorgt«, versprach Lucas. »Wie hoch steht bei Ihnen das Wasser schon?« 73
»Das halbe Ufer hoch, habe ich gehört. Ich war heute morgen noch nicht dort. Aber ich habe gestern gesehen, wie die Flut kam. Sie kam eine Stunde zu früh, und ich wäre beinahe drüben bei der MaddenFarm eingeschlossen worden. In Madman’s Bend begegneten mir zwei Tramps. Der eine hieß Totenmarsch-Harry, den Namen des anderen weiß ich nicht. Kennen Sie die beiden?« Lucas lachte. »Und ob! Hatte aber noch nie Scherereien mit ihnen. Totenmarsch-Harry und Kittchen-Mick sind schon seit Jahren gemeinsam auf der Walze. Manchmal arbeiten sie auch, aber sie halten es niemals lange an einem Ort aus. Harry ist harmlos, und Mick kümmert sich um ihn. Ihr Revier reicht von Bourke bis hinunter nach Wentworth. Ich weiß nicht, inwieweit es wahr ist, aber ich habe gehört, daß der kleine Dicke früher Gefängnisaufseher in Victoria war. Kaum zu glauben – ein Gefängnisbeamter sinkt zum Vagabunden ab.« »Hm, das sind die beiden, die der Chauffeur vom Postauto vor der Flut gewarnt haben will. Sie hatten keine Ahnung, daß die Flut schon so nahe war. Nun wäre es möglich, daß der Postchauffeur an dem Morgen, an dem Lush verschwunden ist, auch noch anderen Tramps oder Reisenden begegnet ist. Wir nehmen an, daß Ray Cosgrove der erste war, der den Lastwagen gefunden hat. Vielleicht war aber ein anderer bereits vor ihm dort.« »Ich werde das überprüfen. Sonst noch was?« »Das wäre alles. Lushs Steckbrief wird zwar inzwischen bei allen Polizeidienststellen vorliegen, aber wir könnten zusätzlich noch alle Farmen im Umkreis von hundert Meilen verständigen. Würden Sie das veranlassen?« »Selbstverständlich. Sie glauben, daß er sich aus dem Staub gemacht hat?« »Nein, das glaube ich nicht – aber ich habe keinen Beweis für das Gegenteil.« Bony legte den Hörer auf, wartete kurz, dann ließ er sich mit Chefinspektor Macy verbinden. »Guten Morgen, Chefinspektor. Haben Sie Lush schon gefunden?« »Warum soll ich mir den Kopf zerbrechen, Bony. Sie sind ihm ja auf den Fersen – so hoffe ich«, meinte Macy mit seiner tiefen Stimme. »Verleben Sie einen netten Urlaub?« 74
»Wundervoll, Chefinspektor. Und vielen Dank, daß Sie mich bei meiner Gastgeberin so nett empfohlen haben.« »Wir kennen uns schon viele Jahre. Rauhe Schale, aber goldiger Kern. Sind Sie begeistert?« »Nicht von meinem Auftrag«, gab Bony offen zu. »Eigentlich habe ich Sie nur angerufen, um Ihnen zu sagen, daß Sie mich ja nicht drängen, auch wenn ich ein Jahr lang hierbleibe.« »Wie schlimm! Nun, ich kenne Sie ja. Auf jeden Fall werde ich Sie gegen eventuelle Vorwürfe Ihres Chefs abschirmen – soweit das in meiner Macht liegt. Ist bei Ihnen die Flutspitze schon durchgekommen?« »Sie kam gestern.« »Schön, wir bleiben in Verbindung. Wir werden hier nach Lush Ausschau halten. Wenn ich etwas über sein Vorleben herausfinden sollte, gebe ich Ihnen Bescheid.« Bony legte den Hörer auf, schloß das Büro ab und hängte die Schlüssel an ihren Haken. Er spazierte am Zaun entlang, am Gemüsegarten vorbei bis zum Deich, der sich am Ufer erhob. Seit vielen Jahren war er nicht mehr benötigt worden, nun war er verwittert und an manchen Stellen einen ganzen Meter eingefallen. Bony gelangte zur Männerunterkunft und zur Personalküche., Von hier aus konnte er den Fluß entlang bis zu der Biegung sehen, an der die Briefkästen standen. Die Entfernung war allerdings zu groß, um die Briefkästen zu erkennen. Er beobachtete das fahlbraune Wasser, das Baumstämme, Äste und allerlei anderes Treibgut mitführte. Das Wasserloch war nicht mehr sichtbar, doch brodelte es an dieser Stelle unaufhörlich. Der Nebenarm, der zum Hausgarten und dem dahinterliegenden flachen Land führte, hatte sich noch nicht gefüllt. Erst wenn der Fluß um weitere vier Meter stieg, würde er auch dieses Gebiet überschwemmen. Beim Maschinenschuppen hinter der Arbeiterunterkunft waren mehrere Männer tätig. Der Verwalter befand sich bei ihnen, und Bony ging hinüber. »Sie scheinen sehr beschäftigt zu sein«, sagte er zu Vickory. »Wir bereiten alles vor, damit der Deich notfalls rasch erhöht werden kann«; erwiderte der Verwalter. »Wir haben Lush bis jetzt nicht vorbeitreiben sehen.« 75
»Sie glauben immer noch, daß er über den Klippenrand gestürzt ist?« Vickory nickte. Gemeinsam mit einem jungen Mann überprüfte er das Raupenfahrwerk eines schweren Traktors. »Wird doch schließlich Zeit, daß Lush auftaucht. Ist jetzt drei Tage her, oder?« »Das ist so eine Annahme, daß eine Wasserleiche dann hochkommt. Bis jetzt hat niemand nach ihm Ausschau gehalten?« »Nein, wir haben hier alle Hände voll zu tun. Können Sie mit einem Bulldozer umgehen?« »Ich wurde schon gefragt, ob ich mit einer Schaufel umgehen kann. Den Bulldozer überlasse ich lieber Leuten mit mehr Erfahrung.« Zwei Männer überholten unter Anleitung eines dritten einen Bulldozer, der neben einem Schaufellader stand. Offensichtlich hatten diese Maschinen bisher dazu gedient, Gräben auszuheben und Staudämme zu bauen – nun waren sie geradezu ideal für die Errichtung des Deiches. Bony verließ die Männer und schlenderte an der Innenseite des Deiches entlang zum Werkstattschuppen, hinter dem der Schurschuppen lag. Der Werkstattschuppen war verschlossen. Zwischen Schurschuppen und Deich hockten mehrere Männer um ein Feuer. Zwei erkannte Bony sofort: Totenmarsch-Harry und KittchenMick. Ein wenig herausfordernd musterte Bony die acht Männer, dann wandte er sich an Kittchen-Mick. »Die Flut kam eine Stunde früher. Sie und Ihr Kamerad hätten leicht abgeschnitten werden können.« Der kleine Dicke grinste, seine Augen blickten abschätzend. Totenmarsch-Harry saß auf einer Kiste und starrte schwermütig ins Feuer. »Man soll dem Fluß niemals trauen«, sagte Kittchen-Mick. »Bereits zwei Stunden vor Eintreffen der Flutwelle haben wir das Flußbett durchquert. Haben Sie auch nach Lush gesucht?« »Ich habe versucht, seine Spuren zu entdecken — aber leider!« »Man glaubt allgemein, daß er von der Klippe in das Wasserloch gestürzt ist. Damit hätte er allen einen großen Gefallen getan.« »Wieso?« stichelte Bony. Er hatte sich auf eine leere Kiste gesetzt und drehte sich eine Zigarette. Die Männer musterten seine Kleidung, und schließlich antwortete ein großer, grauhaariger Mann. 76
»Lush war ein hinterhältiger, gemeiner Kerl. Ein Schafzüchter wird einem Tramp immer etwas geben, aber ein Farmarbeiter, der sich plötzlich einbildet, ein Schafzüchter geworden zu sein, ist das letzte. Bei den Cosgroves bekommt man immer etwas zu essen, aber Leute wie Lush vergönnen einem nicht einmal den Geruch eines Putzlumpens. Es wäre wirklich kein Verlust, wenn er ertrunken wäre.« Die Männer diskutierten eine Weile über Lushs Schlechtigkeit, und Bony erfuhr auf diese Weise, daß der Vermißte aus Cunnamulla stammte, das dicht an der Grenze von Queensland liegt. »Seit wann ist er von dort weg?« fragte Bony. Seit acht Jahren, wurde ihm erwidert. »Lushs Vater war der Wirt vom ›Black Cockatoo‹«, fügte ein Mann hinzu, der kurze weiße Haare und ein gestutztes weißes Bärtchen hatte. »Der alte Lush nahm vor sechs Jahren Zyankali. Wahrscheinlich hatte sein Söhnchen zu tief in die Ladenkasse gegriffen. Nach Verlassen der Schule hatte der Junge zunächst für seinen alten Herrn eine Schaffarm verwaltet.« Bony unterbrach die Männer nicht, die sich noch zwanzig Minuten lang über Wirtshäuser und Gastwirte unterhielten. Als er schließlich aufstand, fragte ihn einer der Männer, was ihn nach Mira führe. »Ich mache Ferien«, erwiderte Bony lachend. »Man hat mich schon gefragt, ob ich mit einer Schaufel oder einem Bulldozer umgehen kann. Na ja, vielleicht überlege ich es mir, wo das Hochwasser vor der Tür steht.« »Möglicherweise wird man auch unsere Hilfe brauchen«, meinte ein kleines Männchen im breiten Akzent des Westaustraliers. »Ganz richtig, Jacko. Also mach dich lieber schleunigst aus dem Staub«, wurde ihm unter allgemeinem Gelächter geraten. Bony hoffte, daß ihn niemand nach seinem Beruf fragen würde – obwohl es nicht weiter wichtig war –, doch Kittchen-Mick war neugierig. »Womit verdienen Sie sich eigentlich Ihre Brötchen?« »Ich bin Kriminalinspektor in Queensland«, antwortete Bony. »Aber wie gesagt, ich mache Ferien.« Die Versammlung versank in tiefes Schweigen, alle starrten Bony an. Schließlich brach der rundliche Gefährte von Totenmarsch-Harry das Schweigen. 77
»Schauen Sie uns an, Inspektor. Jedes Gesicht verrät Ihnen unsere Verbrechen. Sehen Sie den armen, alten Jacko an. Der hat eine ellenlange Vorstrafenliste. Er hat schon mehr Leute um die Ecke gebracht, als Sie Finger an Ihren beiden Händen haben. Immerhin, Sie haben uns gestern einen guten Dienst erwiesen.« »Ach was, ich wäre Ihrem Kameraden sogar nachgelaufen, wenn Sie nicht aufgetaucht wären – wo ich doch von dem Hochwasser wußte. Also, wir sehen uns gewiß irgendwann mal wieder.« »Ganz bestimmt. Wir bleiben lieber hier und arbeiten. Das ist besser als irgendwo vom Hochwasser eingekreist werden und dann nichts zu essen und nichts zu rauchen haben.«
13
E
ine Stunde lang sah Bony zu, wie die Maschinen und Geräte überholt wurden, und als der Gong zum zweiten Frühstück rief, begleitete er Vickory. »Am Schurschuppen traf ich acht Männer. Könnten Sie später einmal nachsehen, ob die drei, die drüben auf der anderen Seite des Flusses kampiert hatten, dabei sind?« bat er. »Ja, sie sind dabei«, erwiderte Vickory sofort. »Ich habe mir die Leute gleich heute morgen angesehen.« »Ich nehme an, daß alle Tramps, die sich augenblicklich am Darling River befinden, auf einer Schafstation Schutz suchen?« »Alle bis auf die hundertprozentigen Landstreicher. Die geben sich mit dem primitivsten Fraß zufrieden.« »Männer wie Totenmarsch-Harry?« »Ach, der ist nicht immer verrückt. Sein Kamerad paßt auf ihn auf. Die arbeiten ab und zu auch bei uns. Harry war früher ein guter Schafscherer. Aber wenn niemand auf ihn aufpaßt, ist er unzuverlässig. Deshalb muß man immer Kittchen-Mick zusammen mit ihm einstellen. 78
Man kann nie voraussagen, wann Harry plötzlich wieder einen Anfall bekommt.« »Dann stellen Sie von Zeit zu Zeit diese Leute ein?« Vickory lächelte säuerlich. »So ist es.« »Könnte ich dann von Ihnen die Namen dieser Leute erfahren?« fragte Bony, und der Verwalter nannte sie ihm. Bony notierte sie sich auf der Rückseite eines Briefes. Später beobachtete Bony, wie Vickory zu einem kleinen Haus ging, vor dem Wäsche auf der Leine flatterte, und da Damenwäsche darunter war, schloß er daraus, daß Vickory dort mit seiner Frau wohnte. Als ein kleines Kind um das Haus gerannt kam und von dem Verwalter auf den Arm genommen wurde, fand er seine Vermutung bestätigt. Die Bürotür stand offen, und Bony blickte hinein. Mrs. Cosgrove saß vor einer Schreibmaschine, und er wollte sich sofort wieder zurückziehen, doch sie bat ihn einzutreten. »Ich nehme an, daß Sie sich den Fluß angesehen haben. Sieht bös aus, wie? Bin froh, daß Sie kommen …« Sie trug ein Baumwollkleid, und ihre Augen glänzten in einem dunkleren Grau als am Tag zuvor. Auch ihre Stimme klang heute härter. »Zunächst – was können wir für Ihre Bequemlichkeit tun?« »Gar nichts – Ihre Gastlichkeit ist einfach perfekt«, erwiderte Bony. »Aber trotzdem könnten Sie vielleicht etwas für mich tun. Neben dem vorderen Büro – ich nehme an, daß dies hier das Privatbüro ist — befindet sich ein kleines Zimmer. Darf ich es benützen? Sehen Sie, ich werde die Leute vernehmen und Protokolle schreiben müssen.« »Aber gewiß, Inspektor. Das ist mir sogar lieb, denn dann kommen die Leute nicht ins Haus. Das Zimmer ist möbliert. Mr. MacCurdle hält dort immer sein Nickerchen.« »Vielen Dank. Ich werde versuchen, Mr. MacCurdle in seinen Gewohnheiten nicht zu stören.« Mrs. Cosgrove lächelte. Zum erstenmal schien sie ihre Unnahbarkeit abzulegen. Bony merkte, wie er gemustert wurde. Plötzlich biß sich Mrs. Cosgrove auf die Unterlippe. »Ich bin sehr unhöflich, Inspektor, entschuldigen Sie. Sehen Sie, ich bin seit vielen Jahren mit Chefinspektor Macy und seiner Frau eng befreundet. Wir haben uns neulich noch über Sie unterhalten. Er erzählte mir, welche bemerkenswerte Karriere Sie gemacht haben, und wenn ich 79
Sie so vor mir sehe, kann ich mir das gar nicht vorstellen. Wenn man Theaterstücken und Romanen Glauben schenkt, ist ein Polizeiinspektor alles andere als ein normaler Mensch. Na bitte – schon wieder ein Fauxpas!« »Absolut nicht. Polizeiinspektoren unterscheiden sich tatsächlich von den übrigen Menschen. Ich muß es ja wissen. Ich habe seit Jahrzehnten mit ihnen zu tun. Sie wissen alles. Sie kommandieren ganze Heerscharen von Experten herum. Und sie haben oft Mißerfolg. Ich aber benehme mich wie ein normaler Mensch und nicht wie ein Polizeiinspektor.« Dem strahlenden Lächeln konnte auch Mrs. Cosgrove nicht widerstehen, und die Reserviertheit, mit der sie Bony zunächst begegnet war, wich von ihr. »Ich kann mich noch gut an den Beginn meiner Laufbahn erinnern – da war ich sehr eingebildet und gab schrecklich an. Dann erkannte ich, daß die Fähigkeiten eines Menschen nicht sein eigenes Verdienst, sondern ererbte Gaben sind. Ich habe verschiedene Gaben von meinem Vater geerbt, und ebenso von meiner Mutter und ihrer Rasse. Nun sind Polizeiinspektoren im allgemeinen ziemlich einseitig, weil ihre Fähigkeiten nur von einer Rasse stammen. Deshalb sind sie im Vergleich zu mir sehr benachteiligt.« »Inspektor Bonaparte, Sie machen sich über mich lustig.« »Vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber ich meine es durchaus ernst«, erwiderte er, und ein Lächeln umspielte seinen ausdrucksvollen Mund. »Nun, wohin führt uns unser Tête-à-tête? Fing es nicht damit an, daß wir über Polizeiinspektoren diskutierten? Wollen wir doch einmal offen sein. Sie lassen sich durch meinen offiziellen Rang blenden. Ich glaube, daß Sie mich in Zukunft unverzerrt sehen, wenn Sie ganz einfach vergessen, daß ich Polizeiinspektor bin. Meine Freunde nennen mich Bony. Könnten wir nicht ebenfalls Freunde sein?« Mrs. Cosgrove brach in lautes Gelächter aus. »Nun machen Sie sich über mich lustig«, beklagte sich Bony und tat beleidigt. »Aber nein! Ich verstehe jetzt lediglich, was mir Jim Macy über Sie erzählt hat. Ja, wir werden Freunde sein. Aber erwarten Sie bitte nicht, daß ich Sie sofort voll und ganz verstehe. – Es klingt so, als ob Ray und Mac zurückkommen. Es ist Zeit für den Tee.« 80
Bei Tee und Butterhörnchen erstatteten die beiden Männer Bericht über den Deich. Sie nannten die gefährdeten Punkte, an denen sofort mit der Arbeit begonnen werden mußte. Mrs. Cosgrove hatte eine Aufstellung bei der Hand, auf der sie den Höchststand an den verschiedenen Punkten während des letzten Hochwassers notiert hatte, und verglich die Zahlen mit den Meldungen, die sie heute morgen erhalten hatte. Die beiden Männer sahen sich die Aufstellung an, und Ray stimmte dem Manager zu, daß es diesmal vielleicht doch nicht so schlimm würde wie beim letztenmal. »Möglich«, sagte sie brüsk. »Mein Mann erzählte mir, daß die’ am meisten gefährdete Stelle gegenüber von den Briefkästen liegt. Wenn nämlich der Wind aus Westen weht, treibt er hohe Wellen gegen den Deich und staut auch noch das Flußwasser.« Nachdem alles durchgesprochen war, bat Bony Raymond Cosgrove, ihn in sein ›Büro‹ zu begleiten. »Ihre Mutter hat mir freundlicherweise die Benützung dieses Raumes gestattet«, erklärte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Da wären ein paar Punkte, die ich klären möchte, und ich glaube, daß Sie mir dabei helfen können. Ich frage, Sie antworten, und das Ganze nehmen wir gleich zu Protokoll.« »Nur zu, Kollege.« Cosgrove lächelte, dann runzelte er plötzlich die Stirn. »Haben Sie eigentlich immer noch keinem Menschen etwas davon gesagt, daß Jill durch die Tür geschossen und sie anschließend verbrannt hat?« »Gewiß. Und ich kann mich ja wohl darauf verlassen, daß auch Sie mit niemandem darüber gesprochen haben. Eigentlich hätten Sie damals bei Jills Beichte gar nicht dabeisein dürfen, aber ich merkte natürlich sofort, daß Sie sehr viel von ihr halten.« »Allerdings. Also schön, ich will Ihnen helfen, so gut ich kann.« »Sagen Sie mir zunächst, wie oft Sie im Laufe des Monats bei den Briefkästen waren.« Bony stellte zufrieden fest, daß Ray mit der Antwort zögerte, denn dies bewies, daß er ernsthaft überlegte. »Ich möchte sagen, daß ich viermal in der Woche die Post besorgt haben. Old Mac hat nur ab und zu mal Lust zu einem Spaziergang.« 81
»Danke. Und nun versuchen Sie sich mal an den Morgen zu erinnern, an dem Sie Lushs Lastwagen entdeckt haben. Um welche Zeit sind Sie hier aufgebrochen?« »Mit der abgehenden Post machen wir uns nie später als Viertel nach elf auf den Weg. Dann treffen wir das Postauto ganz bestimmt.« »An diesem Morgen gingen Sie also am Gartenzaun entlang, überquerten den Nebenarm des Flusses und folgten dann dem Ufer des Darling. Richtig?« Raymond nickte. »Haben Sie außer Ihren Arbeitern jemanden gesehen oder getroffen?« »Nein.« »Haben Sie etwas Ungewöhnliches gehört?« »Nein – nicht, daß ich wüßte.« »Als Sie gegenüber von den Briefkästen ankamen, stiegen Sie an dem sanft abfallenden Ufer hinab zu der Landzunge, dann liefen Sie am Rande des Wasserlochs entlang und kletterten am anderen Ufer wieder hinauf. Und dann sahen Sie den Lastwagen?« »Den Wagen sah ich, bevor ich den Darling durchquerte.« »Was haben Sie getan, als Sie zu den Briefkästen kamen?« »Ich blieb zunächst am Briefkasten stehen und sah mich nach Lush um. Da ich ihn nicht entdecken konnte, nahm ich an, daß ihm der Sprit ausgegangen und er zu Fuß nach Hause gelaufen sei. Es ist ja nur ’ne knappe halbe Meile. Dann sah ich, daß es schon halb zwölf vorbei war, und da dachte ich, daß er seinen Rausch ausschlief, bevor er Benzin holte und den Wagen in die Garage fuhr. Ich drehte den Zündschlüssel um, und – der Tank war tatsächlich leer.« »Haben Sie daran gedacht, nach Spuren zu suchen?« fragte Bony weiter. »Was glauben Sie! Da stand der Wagen, und ein Stück weiter ist Lushs Farm. Außerdem war es windig, da wäre sowieso alles rasch verweht worden. Nein, ich habe überhaupt nicht daran gedacht, nach Spuren zu suchen.« »Wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie mir, daß die Scheinwerfer nicht brannten. Was haben Sie getan, nachdem Sie sich überzeugt hatten, daß der Tank leer war? Denken Sie mal scharf nach.« 82
»Hm, ich sah den Bierkarton auf dem Sitz und langte hinein, um festzustellen, was er enthielt. Aber es war nichts drin. Das überraschte mich etwas, denn der Karton mußte ja Flaschen enthalten haben. Und dann überlegte ich mir, daß Lush die Flaschen vielleicht in einen Sack gesteckt hatte. Er hatte ja immer einen dabei, um die Hose zu schonen, falls er sich bei einer Panne mal unter den Wagen legen mußte. Es wäre ja auch bequemer gewesen, einen Sack zu schultern. Ich war ganz sicher, daß es sich so verhielt, denn die Tür auf der Beifahrerseite war verschlossen.« »Und an dieser Tür stand der leere Karton?« »So ist es, Bony. Und als dann Tolley mit dem Postauto, kam, gab ich ihm unseren Sack und nahm die ankommende Post entgegen. Um nicht erst aussteigen zu müssen, bat er mich, auch den Sack für die Maddens abzunehmen, und als ich in den Briefkasten blickte, sah ich, daß er leer war. Tolley hatte Fahrgäste im Wagen, und wir unterhielten uns noch kurz über Lush und den stehengelassenen Wagen.« »Hat der Chauffeur erwähnt, an diesem Morgen einem Personenauto oder einem Lastwagen begegnet zu sein?« »Nein. Warum?« »Nach allem, was wir bisher wissen, waren Sie der erste, der den von Lush stehengelassenen Wagen gefunden hat. Das war gegen elf Uhr fünfundvierzig. Eigentlich schon reichlich spät am Tag.« »Ich verstehe, Inspektor. Es könnte aber auch jemand in südlicher Richtung vorbeigekommen sein.« »Die Möglichkeit habe ich bereits in Betracht gezogen«, meinte Bony ernst. »Nun interessiert mich, was aus sechs Flaschen Bier und drei Flaschen Whisky geworden ist, die in dem fraglichen Karton waren, als Lush in White Bend losfuhr. Sie glauben, daß Lush über die Klippe abgestürzt sei. Vickory meinte, Lush habe in seiner Wut einen Pfosten vom Briefkasten gerissen und auf seinen Wagen eingeschlagen. Dabei sei der Pfosten zerbrochen, und als er sich einen zweiten holen wollte, sei er versehentlich über den Klippenrand abgestürzt. Haben Sie Ihre Theorie mit Vickory diskutiert?« »Ja, noch am selben Tag.« »Hatten Sie denn nicht bemerkt, daß an Lushs Briefkasten tatsächlich ein Pfosten fehlte?« 83
»Nein, denn ich interessierte mich ausschließlich für den Lastwagen.« »Sie haben auch nicht auf dem vorderen Kotflügel ein Stück Holz liegen sehen?« »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Wenn es wirklich dort lag, habe ich es übersehen.« »Was halten Sie von Vickorys Theorie?« »Es könnte durchaus so gewesen sein. Aber wir wissen, daß es nicht passiert ist, als der Wagen plötzlich stehenblieb, sondern erst, als er mit dem Benzin zurückkam.« Bony drehte sich eine Zigarette und runzelte die Stirn. »Ich würde durchaus Vickorys Ansicht teilen. Aber leider konnte Lush unmöglich das Benzin in der Hosentasche mitnehmen. Dazu muß er einen Kanister benützt haben, und den hätten wir auf oder in der Nähe des Kleinlasters finden müssen. Aber da war keiner.«
14
A
ls Bony an den Fluß kam, konnte er nicht sagen, um wieviel er seit dem Morgen angestiegen war. Auf jeden Fall führte er jetzt bedeutend weniger Treibgut mit, und bei dem großen Wasserloch brodelte er kaum noch. Der Darling floß mit gleichbleibender Geschwindigkeit, aber Bony hatte gehört, daß er schon bald langsamer werden würde, sobald die Nebenarme und Teiche weiter flußabwärts gefüllt waren und das Gelände meilenweit überschwemmt wurde. Bony saß auf dem Deich und beobachtete, wie das Wasser dicht am Ufer, der Flußbiegung entgegengesetzt, zur Hauptströmung trieb. Er beobachtete ein Stück Treibholz, die Gegenströmung war an dieser Stelle stark. Ray Cosgrove hatte also recht gehabt, als er behauptet hatte, daß es trotz der starken Strömung nicht schwer sei, flußaufwärts zu 84
den Briefkästen zu rudern, wenn man sich mit dem Boot dicht am Ufer hielt. Ein Traktor knatterte beim Maschinenschuppen. Eigentlich sollte ich arbeiten und nicht träumen! dachte Bony. Der Wind hatte nachgelassen, das leise Rauschen in den Bäumen hatte eine einschläfernde Wirkung. Am liebsten hätte Bony sich in einem Boot auf dem Rücken liegend den Fluß hinabtreiben lassen. Dann hätte er in den Himmel starren können, und die Bäume wären langsam vorübergeglitten. Bony schlenderte auf der Deichkrone an dem seichten Nebenarm entlang und gelangte so zu dem Tor am unteren Ende des Gartens. Hier standen saftige Citrusbäume und – in mehreren Reihen – Weinstöcke. In einer Laube aus Bambusgras fand er Jill Madden mit dem Nähkörbchen vor. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte er, und sie musterte ihn ernst mit ihren großen schwarzen Augen, bis ein zaghaftes Lächeln ihren Mund umspielte. »Mrs. Cosgrove sagte mir, daß dies hier ihr Meditierhäuschen sei. Ich könnte es benützen, wenn ich ungestört nachdenken’ möchte.« »Dann will ich Sie nicht stören«, entschuldigte sich Bony und wollte wieder gehen. »Oh! Bitte bleiben Sie, Inspektor. So habe ich es nicht gemeint.« »Danke, Jill. Es ist immer nützlich, wenn man ab und zu etwas meditiert, aber Sie sollten eigentlich nicht viel zu meditieren haben. Natürlich, der tragische Tod Ihrer Mutter beschäftigt Sie, aber Sie sind jung-, das Leben liegt noch vor Ihnen. Das Leben ist wie eine Reise – meinen Sie nicht auch? Bei manchen dauert diese Reise etwas länger, bei anderen ist sie kürzer. Und unterwegs begegnen wir anderen Reisenden, wir erleben unsere kleinen Abenteuer, unsere Schwierigkeiten und Triumphe. Haben Sie sich schon entschieden, was nun weiter geschehen soll?« Das Mädchen schüttelte den Kopf und beugte sich über ihre Näharbeit. »Ich habe das Gefühl, eine Ewigkeit mit Lush zusammengelebt zu haben. Dabei ist es erst zwei Jahre her, seit Vater starb. Ich war damals sechzehn und mußte die Schule verlassen. Ich war knapp achtzehn, als Mutter Lush heiratete. Wie Mrs. Cosgrove schon sagte – ich hatte nie Ferien. Vater wollte mich auf eine Weltreise schicken, doch statt dessen 85
kam ich nach Hause, melkte die Kühe, versorgte die Schafe und half sogar bei der Schur. Nein, ich weiß noch nicht, was ich nun machen werde.« Das Mädchen trug ein hübsches blaues Kleid, und als sich Bony eine Zigarette drehte, mußte er an seine erste Begegnung mit Jill denken. Sie hatte Nietenhosen, Reitstiefel und eine verschossene Bluse getragen. Wenn man sie so reden hörte, mußte man sie für viel älter halten, aber die zwei Jahre mit Lush hätten wohl jedes Mädchen vorzeitig reifen lassen. »Was geschieht mit den Schafen?« fragte Bony. »Die sind doch noch nicht geschoren?« »Sie sollten nächsten Monat geschoren werden. Vosper – er hat seine Farm weiter drüben im Westen – bringt sie zu seinem Schuppen und kümmert sich darum. Das ist mein Dilemma, Inspektor. Ich kann nicht zu Hause wohnen, aber ich kann auf die Dauer auch nicht hier leben, oder?« »Ich wüßte nicht, was Sie daran hindert«, erwiderte Bony. »Das meinte auch Mrs. Cosgrove. Sie meinte, es würde eine ganze Weile dauern, bis alles geordnet ist. Sie wissen ja – Testamentseröffnung und all die Formalitäten. Und durch das Hochwasser wird sich alles noch verzögern. Ich bin sozusagen hier gefangen.« »Na, immerhin ein recht nettes Gefängnis, Jill. Ray ist schließlich auch hier.« »Ach, Ray ist ja nur noch eine zusätzliche Sorge.« Jill seufzte laut. »Er möchte seiner Mutter alles sagen und mich heiraten, aber ich weiß genau, daß sie niemals einwilligen würde. Deshalb lebe ich hier unter völlig falschen Voraussetzungen – wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Darüber würde ich mir im Augenblick nicht den Kopf zerbrechen. Schließlich sind Sie ja durch die Umstände dazu gezwungen. Lieben Sie Ray denn auch wirklich?« Jill nickte und beugte sich noch tiefer über ihre Arbeit. »Dann besteht noch die Möglichkeit, daß Mrs. Cosgrove ihre Meinung ändert. Wissen Sie eigentlich, wem Ihr Vater die Farm hinterlassen hat?« »Meine Mutter hat sie für mich treuhänderisch verwaltet.« »Dann besitzt Lush keinerlei Anteile?« 86
».Nein. Er glaubte, er würde die Farm bekommen, und erfuhr die Wahrheit erst, nachdem er Mutter geheiratet hatte. Das war einer der Gründe, warum er sie so schlecht behandelt hat. Aber Mutter wollte es ihm vor der Hochzeit nicht sagen.« »Das klärt die Situation, Jill. Sie sind also die alleinige Herrin der Schaffarm. Es sei denn, Ihre Mutter hätte Lush im Testament zu Ihrem Vormund bestimmt.« Das Mädchen schwieg lange, und als sie endlich sprach, geschah es so leise, daß Bony sie kaum verstand. »Das ist der Fall, Inspektor. Sie hat Lush zu meinem Vormund bestimmt.« »Seit wann wissen Sie das?« fragte er. »Seit einigen Monaten. Ich bat Mutter, das Testament zu ändern. Sie versprach es mir auch, sobald Lush sie mit nach Bourke zum Rechtsanwalt nehmen würde. Aber Lush wollte nichts davon wissen. Mutter hatte so schreckliche Angst vor ihm, und sie war so schwach.« »Ich bin sicher, daß man diese Klausel jetzt ändern kann. Schließlich wird Lush wegen Mordes an Ihrer Mutter gesucht, Jill. Im Augenblick sind Sie – wenn auch nicht laut Gesetz, so doch durch die Umstände – Ihre eigene Herrin.« »Das sagte Mrs. Cosgrove auch, Inspektor. Aber wir wissen nicht, ob Lush noch lebt.« »Es ist meine Aufgabe, das herauszufinden. Deshalb möchte ich noch einige Fragen stellen. Was ist eigentlich Ihre ehrliche Meinung: ist Lush tot oder lebt er noch?« »Ich glaube, daß er noch lebt«, erwiderte sie leise und hielt ihren Kopf noch immer gesenkt. Bony wollte wissen, was sie zu dieser Ansicht veranlasse. »Er lag am Morgen nicht vor der Tür. Er war auch nicht im Männerquartier oder im Schuppen oder sonstwo. Ray ist überzeugt, daß er über die Klippe abgestürzt ist. Ich glaube das nicht. Ich kenne Lush zu gut.« »Nämlich?« »Wenn es um die eigene Person ging, war er übervorsichtig. In betrunkenem Zustand fuhr er nur langsam. Einmal kamen zwei Tramps und bettelten um etwas Fleisch. Lush ging hinaus und beschimpfte sie. Da packte ihn der eine am Kragen – es war ein Hüne von einem Mann. 87
Da kroch Lush zu Kreuze und sagte keinen Ton mehr. Genauso verhielt er sich, als ich durch die Tür schoß. Er sagte kein Wort mehr.« »Interessant.« Bony mußte sich eingestehen, Lush bisher falsch eingeschätzt zu haben. »Wann hatte er diese Auseinandersetzung mit den beiden Tramps?« »Vor einigen Wochen. So um Ostern, glaube ich.« »Kannten Sie die Männer?« »Nein, aber Lush. Er drohte, sie verhaften zu lassen – das sagte er allerdings nur zu uns. Der eine hieß Wally Watts, der andere Miner Smith.« »Sind die beiden noch einmal gekommen?« Jill schüttelte den Kopf. Bony sah sich die Liste an, die er von Vickory erhalten hatte. Sie enthielt den Namen Watts. »Kennen Sie einen gewissen Totenmarsch-Harry, oder haben Sie schon von ihm gehört?« bohrte Bony weiter. »Totenmarsch-Harry kennt jeder, Inspektor. Seit Jahren zieht er am Darling auf und ab. Er ist immer mit Kittchen-Mick zusammen.« »Ich habe die beiden getroffen. Wann haben sie bei Ihnen zum letztenmal um Lebensmittel gebettelt?« »Am Tag, bevor Lush in die Stadt fuhr«, erwiderte das Mädchen, korrigierte sich aber sofort. »Nein, es war zwei Tage, bevor Lush in die Stadt fuhr. Ich war draußen bei den Schafen, Mutter erzählte mir später davon. Lush war auch nicht zu Hause gewesen, er war angeln. Er war ein leidenschaftlicher Angler. Mutter war stets großzügig zu Totenmarsch-Harry, und Harry revanchierte sich immer, indem er Holz hackte und es vor die Küchentür brachte. Das hat sonst keiner getan – keiner von den richtigen Tramps, meine ich.« »Von denen war um diese Zeit niemand da?« »Nein. Heutzutage gibt es nicht mehr so viele wie früher. So hörte ich jedenfalls von Mutter.« Bony starrte gedankenverloren vor sich hin, und schließlich wollte das Mädchen wissen, worüber er nachdenke. »Ach, mir ist so verschiedenes durch den Kopf gegangen«, meinte er. »Wissen Sie, Jill, ich komme langsam auch zu der Überzeugung, daß Lush noch lebt. Sie haben mir vorhin erzählt, daß er sofort klein beigab, als ihn dieser Tramp ordentlich durchschüttelte. Dann paßt es aber auch zu ihm, daß er kein Wort mehr gesagt hat, als Sie durch die Tür feuerten. Er wußte, daß er Ihre Mutter schwer mißhandelt hatte und 88
daß Sie entschlossen waren, ihn nicht ins Haus zu lassen. Trotzdem gibt es da noch einige dunkle Punkte. Gehörte der Lastwagen Lush?« »Nein, er gehörte zur Farm.« »Im Maschinenschuppen befindet sich ein größerer Benzinvorrat. Lush hätte also den Tank füllen, ein paar zusätzliche Kanister nehmen und mit dem Wagen davonfahren können. Er wußte ja nicht, wie schwer Ihre Mutter verletzt war, und das Risiko, wegen des gestohlenen Wagens festgenommen zu werden, war nur gering. Aber er hat den Wagen nicht genommen, und er hatte auch nur das bei sich, was er auf dem Leibe trug. Er kann also nicht aus dem Grund geflohen sein, den wir ihm unterstellen. Die Theorie, daß er zum Lastwagen zurückgekehrt und über den Klippenrand gestürzt sein könnte, ist dürftig. Schließlich kannte er sich ja genau aus. Nun deuten alle Tatsachen auf eine andere Möglichkeit, aber die dürfte Ihnen absolut nicht gefallen.« »Macht nichts, Inspektor. Und wie lautet diese Möglichkeit?« »Daß Sie ihn töteten, als Sie durch die Tür feuerten. Als es hell wurde, fanden Sie ihn vor der Tür. Sie luden ihn ohne fremde Hilfe auf den Schubkarren und warfen ihn in das Wasserloch. Natürlich mußte die beschädigte Tür verschwinden, und deshalb verbrannten Sie sie.« Bonys Worte führten zu einer unerwarteten Reaktion. Jill Madden legte langsam ihr Nähzeug neben sich auf die Bank und stand auf. Dann drehte sie sich zu Bony um, der ebenfalls aufgestanden war. Ihre großen Augen verrieten weder Furcht noch Groll. »Genau das hätte ich getan, wenn ich ihn getötet hätte.« Sie runzelte die Stirn, und ihre Augen bildeten schmale Schlitze. »Wie kamen Sie auf diese Vermutung, Inspektor? – Als ich den Rest der Nacht in der Küche saß, war ich überzeugt, Lush erschossen zu haben, und ich plante alles genauso, wie Sie gesagt haben. Im Schlafzimmer stöhnte Mutter vor Schmerzen, das Feuer im Herd ging aus, es wurde sehr kalt. Aber ich fröstelte nicht allein deshalb – das Maß des Erträglichen war ganz einfach voll. Jawohl, ich hätte Lush in das Wasserloch geworfen, wenn ich ihn tot vor der Tür gefunden hätte. Aber er lag nicht da, das müssen Sie mir glauben, denn es ist die Wahrheit.« »Wollen wir uns nicht wieder setzen, Jill?« Bony drückte das Mädchen sanft auf die Bank. »Wir haben verschiedene Möglichkeiten erörtert, und dabei dürfen wir nicht berücksichtigen, was wir glauben. Wenn ich mit meinen Ermittlungen beginne, steht im allgemeinen fest, 89
daß ein Verbrechen begangen wurde. Es kann aber auch vorkommen, daß ich lediglich annehmen muß, ein Verbrechen sei begangen worden. Bei Lush haben wir Grund zu der Annahme, daß er getötet wurde. Wie gesagt, es ist dabei völlig unwichtig, was wir glauben. Allein Tatsachen zählen. Ihre Aussage, Lush nicht ins Haus gelassen zu haben, wird durch die verbrannte Tür gestützt. Ob Sie ihn aber am Morgen vor der Tür gefunden haben, ist nicht bewiesen. Von der Hintertür zum Waschhaus führt ein betonierter Weg. Blutspuren hätten Sie also ohne weiteres abwaschen können. Ich habe zu beiden Seiten des Pfades Erdproben entnommen, viel. leicht erbringt eine Analyse den Nachweis von Blut. Dann der Schubkarren. Ich bin sicher, daß er keine Blutspuren aufwies, denn er ist schon lange nicht mehr gesäubert worden. Sie sehen, Jill, Tatsachen brauchen wir, keine Vermutungen. Ich hoffe, daß Sie Lush nicht getötet haben, ich hoffe, daß seine Leiche gefunden wird, aber ich denke dabei an die Möglichkeit, daß wir sie nie finden werden. Ich hoffe, daß er noch lebt, aber ich übersehe nicht die Möglichkeit, daß er tot ist. Ich halte es für möglich, daß Sie die Leiche in ein Wasserloch geworfen haben, aber ich habe bisher nichts entdeckt, was darauf hindeutet. Für alle unsere Theorien haben wir keine Beweise.« »Was werden Sie nun tun? Was soll ich tun?« »Ich werde weiter nach Spuren suchen, und Sie werden hier auf Mira bleiben und sich in Geduld fassen. Seien Sie dankbar, daß Mrs. Cosgrove Sie so freundlich aufgenommen hat und Ray Sie liebt. Glauben Sie fest daran, daß auf Regen Sonnenschein folgt, und ich werde fest daran glauben, daß das Verschwinden von William Lush aufgeklärt wird. Und nun lächeln Sie doch mal, Jill.« Jill blickte Bony an. Ihre Augen glitzerten feucht, und statt zu lächeln, begann sie zu schluchzen.
90
15
D
er Personalkoch verkündete mit dem Triangel die Nachmittagspause. Bony war überzeugt, daß das Mädchen nur erneut in Tränen ausbrechen würde, wenn er Mitleid zeigte, deshalb fuhr er sie barsch an. Sie tilgte die Tränenspuren, dann erhoben sich die beiden,, um ebenfalls den Nachmittagstee einzunehmen. In dem kleinen Zimmer fanden sie bereits Mrs. Cosgrove und MacCurdle vor. »Wir waren in Ihrem Meditierhäuschen«, sagte Bony. »Ein wundervoll friedliches Plätzchen, an dem man sich prächtig entspannen kann. Was gibt’s Neues vom Hochwasser?« »Wir haben nichts gehört, Inspektor. Aber Sie möchten Wachtmeister Lucas anrufen. Die Planung unserer Verteidigungsmaßnahmen ist nun abgeschlossen.« »Sie sprechen wie ein Generalstabschef, Mrs. Cosgrove.« »Ich muß ja auch Generalstabschef und Kommandierender General zugleich sein, Inspektor. Mira wird schon bald vom Feind belagert werden, und morgen beginnen wir damit, die Festungswälle aufzuwerfen. Wenn Sie nicht eingeschlossen werden wollen, sollten Sie morgen abreisen.« Bony lächelte. »Nur wenn Sie meine Abreise befehlen, mon général. Andernfalls ziehe ich es vor, zu bleiben und mit Schaufel oder Bulldozer den Kampf aufzunehmen. Liegt eigentlich der Landstreifen im Innern des Hochwasserdeichs?« »Ja, Inspektor. Außerdem bliebe Ihnen immer noch die Möglichkeit, bis zur Murrimundi-Station zu reiten. Dort könnten Sie den Fluß an dem Drahtseil überqueren, mit dem die Post befördert wird. Von da aus kommen Sie ohne Schwierigkeiten nach White Bend, aber von White Bend aus müssen Sie einen großen Umweg machen, um Bourke zu erreichen.« 91
»Ich werde bleiben. Ich werde nicht noch einmal mit Doktor Leveska fliegen.« »Dann könnten Sie höchstens noch mit Pater Savery fliegen, aber wie ich gehört habe, ist er ein noch miserablerer Pilot als der Doktor.« »Wie die beiden am Leben bleiben, ist mir ein Rätsel«, bemerkte der Manager. »Das ist doch gar nicht so rätselhaft«, erwiderte Mrs. Cosgrove mit leichter Ironie. »Den einen hält der Alkohol und den anderen der liebe Gott am Leben. Ich weiß nicht, was wir ohne die beiden machen sollten. Und jetzt wollen wir die Wolle kontrollieren. Kommen Sie mit, Jill – und Sie, Inspektor?« Sie wolle lieber auf ihr Zimmer gehen, erwiderte das Mädchen, aber Bony nahm die Einladung an. MacCurdle setzte sich ans Steuer eines Kleinlasters, und sie fuhren zum Wollschuppen. Hier stand ein großer Stapel fertiggepackter Wollballen. Mrs. Cosgrove entschloß sich, die Ballen umstapeln zu lassen, damit sie nicht vom Hochwasser beschädigt werden konnten, falls der Deich brechen sollte. »Dazu nehmen wir morgen früh diese Faulenzer, Mac. Sie können sie beaufsichtigen.« »Gut. Aber wollen Sie die Einstellung nicht lieber mir überlassen?« fragte der Manager. »Wieso? Die machen mir doch keine Schwierigkeiten.« »Sie könnten sich aber immer noch aus dem Staub machen. Wir sollten also etwas diplomatisch vorgehen.« »Diplomatisch! Quatsch! Ich weiß, wie ich mit diesen Leuten zu reden habe.« MacCurdle zuckte resigniert die Achseln und begleitete Bony und Mrs. Cosgrove zu den zehn Männern, die um ein Feuer saßen. »Guten Tag, Harry, Mick und ihr anderen, die ihr alle schon auf Mira gearbeitet habt«, begann sie, und Bony fand diese Einleitung nicht ungeschickt. »Ich will euch unsere Lage kurz schildern. Wir werden vom Hochwasser abgeschnitten werden – mindestens für eine Woche, wahrscheinlich aber länger. Wer also nicht hierbleiben möchte, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Wer aber bleibt, wird Verpflegung haben wollen. Ich brauche Arbeitskräfte. Wer also arbeiten möchte, meldet sich zum Frühstück beim Koch und anschließend bei Mr. 92
MacCurdle, damit er euch auf die Lohnliste setzt. Wer aber hierbleiben möchte, ohne zu arbeiten – nun, ich habe gehört, daß Leguane und Schlangen auch ganz gut schmecken.« »Ich und Mick werden uns zur Arbeit melden, Madam«, erklärte Totenmarsch-Harry, der im Augenblick einen völlig normalen Eindruck machte. »Ich glaube, ich packe lieber mein Bündel«, sagte ein kleines Männchen, das Jacko gerufen wurde. »Ich bin nicht für harte Arbeit geschaffen.« »Aber Sie können sich doch wohl noch Ihr Essen kochen?« meinte Mrs. Cosgrove ungerührt. »Allerdings, das kann ich.« »Gut, dann helfen Sie in der Küche«, erklärte Mrs. Cosgrove resolut. -Ein hochgeschossener Mann mit roten Haaren hob theatralisch die Arme. »Warum fangen wir nicht sofort an, Mrs. Cosgrove? Ich habe es satt, länger die Gesichter dieser Kerle anzustarren und ihr langweiliges Geschwätz anzuhören. Außerdem haben die meisten von uns keinen Tabak mehr.« Mrs. Cosgrove warf dem Manager einen fragenden Blick zu, MacCurdle zuckte die Achseln. Die Schafzüchterin betrachtete nachdenklich dieses Häufchen menschliches Strandgut. »Also schön, dann setzt euch Mr. MacCurdle gleich auf die Lohnliste. Jacko, Sie sagen dem Koch, wie viele Rationen zusätzlich gebraucht werden, und dann soll er Ihnen erklären, was Sie zu tun haben. So, das wäre alles.« Der Manager kletterte wieder in den Wagen, während Mrs. Cosgrove und Bony hinüber zum Deich gingen und den Fluß betrachteten. Schweigend stand Bony neben der Schafzüchterin, bis sie schließlich auf der Deichkrone zum Herrenhaus entlangschlenderten. Der Wind hatte sich gelegt. An der großen Flußschleife wirkte das Wasser wie flüssiges, aber schmutziges Gold, und das Treibgut schien in diesen zähen Brei eingebettet. »Sieht nicht gerade schön aus, wie?« bemerkte Mrs. Cosgrove. »Unsere großen australischen Dichter würden jedenfalls nicht inspiriert werden – höchstens später, wenn sich alles Trübe gesetzt hat. Sie haben den Fluß schon oft so gesehen?« 93
»Gewiß, Bony. Ich lebe ja nun schon viele Jahre hier. Oh, wie ich diesen Fluß am Anfang gehaßt habe.« Mrs. Cosgrove lachte leise. »Da haben Sie schon den Beweis, es fällt mir gar nicht schwer, Sie Bony zu nennen, denn ich habe meine englische Reserviertheit abgelegt.« »Sie müssen Australien nur Gelegenheit geben, dann wird es Sie bestimmt in seinen Bann schlagen«, erwiderte Bony. »Ich bin schon vielen Menschen begegnet, die mir gestanden, das Land zuerst gehaßt, dann aber liebgewonnen zu haben. Sie kamen kurz nach dem Krieg herüber, glaube ich?« »Ja. Mein Mann war bei der Air Force. Ich weiß nicht, was er an mir gefunden hat. Ich war das genaue Gegenteil von ihm. Er war fröhlich, unbekümmert und respektlos, immer etwas aggressiv, Ich verabscheute ihn und habe es ihm auch immer wieder gesagt. Aber schließlich wurden wir in unserer Kathedrale vom Bischof getraut. Dann kamen wir nach Mira. Der Fluß, von dem er mir vorgeschwärmt hatte, war ein winziges Rinnsal. Ich schwor damals, ihn ein Jahr nicht mehr anzusehen.« »Aber der Fluß lockte Sie?« »Richtig. Woher wissen Sie das?« »Der Darling hat eine Stimme. Er kann flüstern, aber er kann auch ein mächtiges Gebrüll anstimmen.« Mrs. Cosgrove blieb stehen und blickte Bony an. »Sie sprachen vorhin von Dichtern. Sie könnten selbst einer sein. Ja, der Fluß hat mich angebrüllt, und ich haßte ihn. Und wenn die Weststürme tobten, dann brüllten mich die Bäume an. Mein Mann besaß damals ein schnelles Motorboot. Eines Abends lud er mich ein, mit ihm ein Stück flußaufwärts zu fahren. Es war ein heißer Tag gewesen, der Abend war wundervoll kühl. Als mein Mann schließlich das Boot gewendet hatte, stellte er den Motor ab, und wir ließen uns treiben. Damals hörte ich zum erstenmal das Flüstern: die Rufe der Vögel, das Aufspritzen des Wassers, wenn die Fische sprangen, und all die anderen Geräusche, die man bei Tag gar nicht wahrnimmt. An diesem Abend herrschte zwischen meinem Mann und mir ein wirklicher Gleichklang der Seelen.« Einige Meter weiter blieben sie wieder stehen, um den Fluß zu beobachten. Sie befanden sich jetzt in Höhe der Arbeiterunterkunft und konnten bis zu der Biegung mit den Briefkästen sehen. Die Sonne stand im Westen, ihre schrägen Strahlen überzogen die Wasserfläche mit 94
leuchtendem Gold. Die überhängenden Zweige der Eukalyptusbäume schillerten grün und warfen schwarze Schatten über das Wasser. Der Spätnachmittag bereitete sich schläfrig auf die Nacht vor: Hähne krähten, Schafe blökten, Krähen krächzten, der Motor des Stromgenerators summte leise. Da sich Bony von jeher für die Sprache der Krähen interessiert hatte, versuchte er zu ergründen, wo sie sich befanden und worüber sie sich unterhielten. Hundert Meter oberhalb des flachen Nebenarms, der am Hausgarten entlangführte, hockten mehrere Krähen am Ufer, andere flatterten aufgeregt umher. Einen halben Meter vom Ufer entfernt standen zwei Krähen auf dem goldglitzernden Wasser. Da Krähen aber nicht auf dem Wasser laufen können, war Bony sofort hellwach. »Würden Sie mich bitte entschuldigen«, sagte er. »Ich möchte einmal sehen, was die Krähen so aufregend finden. Es sind zwar keine liebenswerten Vögel, aber sie sehen alles, sagen alles und wissen alles.« »Ich komme mit«, erklärte Mrs. Cosgrove resolut. Sie verließen den Deich in der Nähe der Pumpstation und durchquerten den seichten Nebenarm. So gelangten sie nur wenige Meter von den Krähen entfernt ans Ufer. Die Vögel flatterten sofort laut protestierend auf. In der Gegenströmung lag die Gestalt, auf der die beiden Krähen standen, fast bewegungslos. Sie lag mit dem Gesicht nach unten. Mrs. Cosgrove unterdrückte einen Entsetzensschrei, und Bony spürte im Nacken das bekannte Prickeln. Er hatte damit gerechnet, daß die Krähen von einem toten Schaf oder einer Leiche angezogen worden waren, deshalb bedeutete die Entdekkung für ihn keine allzu große Überraschung. »Schicken Sie doch bitte einige Männer mit Seilen und Geräten, damit wir den Toten herausholen können«, sagte er mit ruhiger Stimme, und nichts verriet seine innere Erregung. Während Mrs. Cosgrove davoneilte, sah er sich nach einer Stange um. Schließlich fand er eine Astgabel, brach den einen Zweig fast am Ende ab und erhielt auf diese Weise einen stabilen Haken. Nun kletterte er vorsichtig am Ufer hinab. Die steile Kiesböschung, die weder Pflanzenwuchs noch größere Steine aufwies, bot keinen sicheren Halt. Bony setzte tastend die Füße vor, und als er den Wasserrand erreicht hatte, bohrte er sich mit dem 95
Absatz ein kleines Loch. Nun konnte er mit der Astgabel die Leiche ans Ufer ziehen und festhalten. Bony verspürte ein Triumphgefühl, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich Stimmen vernahm, und als er aufblickte, sah er den Verwalter mit einigen Männern. »Himmel! Das ist tatsächlich Lush!« rief jemand. »Fassen Sie zu, Inspektor«, sagte Vickory. »Wir werfen Ihnen ein Seil hinunter.« Das Seilende wurde um einen Baumstumpf befestigt, dann wirbelte das freie Ende zu Bony hinab, der es sich mit einer Hand um die Hüfte wand. Der Verwalter befestigte ein zweites Seil an dem Baumstumpf und stieg zu Bony hinunter. »Damit binde ich die Leiche fest«, erklärte er. »Dann können wir sie hinaufziehen.« »Moment!« entgegnete Bony. »Binden Sie die Leiche fest, aber hinaufziehen dürfen wir sie nicht. Lassen Sie ein breites Brett oder eine Blechtafel besorgen und daran ein Seil befestigen. Darauf werden wir dann die Leiche vorsichtig nach oben ziehen, ohne daß wir sie beschädigen.« »Hm, verstehe.« Vickory erteilte ein paar Befehle. Zwei Männer liefen zum Schuppen. Der Verwalter band die Leiche fest, während Bony sich am Seil hinaufzog, weil ihn ein Wadenkrampf zu überkommen drohte. »Ist es Lush, Inspektor?« fragte Ray Cosgrove. »Es wäre ja wohl ein komischer Zufall, wenn wir noch eine zweite Leiche fänden«, erwiderte Bony und machte ein paar Kniebeugen, um die Steifheit aus seinen Beinen zu vertreiben. »Wir müssen die Leiche in einen Schuppen schließen, bis die Obduktion vorgenommen werden kann. Würden Sie das veranlassen?« »Selbstverständlich. Doktor Leveska wird zwar gewaltig zetern, aber er wird wohl kommen müssen.« Ein Mann brachte ein Stück Wellblech, das an einem Ende ein Loch aufwies, in dem das Seil befestigt wurde. Langsam ließ man die Blechtafel zu Vickory hinab. Er schob sie unter die Leiche, und nun wurde der Tote vorsichtig am Ufer heraufgezogen. Ein alter Wollsack wurde darüber gebreitet, zwei Stangen untergeschoben, und dann setzte sich die Prozession in Richtung Tischlerwerkstatt in Bewegung. 96
Die Männer blieben neugierig vor der Tür stehen, und auch die Tramps, die im Wollschuppen arbeiteten, kamen herüber. Schließlich fragte Bony, wer wohl nicht allzu zimperlich sei. Erstaunlicherweise meldete sich der kleine Jacko. Er habe schon als Gehilfe eines Leichenbestatters gearbeitet, erklärte er. Bony bat ihn, die Leiche auf den Rücken zu drehen, dann wartete er, bis Ray Cosgrove den Toten identifiziert hatte. »Es ist Lush«, sagte der junge Mann und stolperte sofort zur Tür. hinaus. Bony wäre ihm am liebsten gefolgt, aber er riß sich zusammen und bat Jacko, den Toten zu entkleiden. Nachdenklich starrte er zum Fenster, bis der kleine Mann ihm meldete, daß er fertig sei. »Inspektor«, rief Jacko im nächsten Augenblick. »Sehen Sie sich das an!« Bony kniete ihm gegenüber nieder. »Er hat ein Loch im Kopf, dicht über der linken Braue. Bill Lush ist also erschossen worden.«
16
J
ackos Gesicht hatte die Form eines Dreiecks. Über der breiten Stirn stand dichtes Haar, das Kinn war spitz. Die weit auseinanderstehenden Augen waren haselnußbraun und leuchteten erregt. »Als ich sah, daß er mit dem Gesicht nach unten trieb, wußte ich sofort, daß er nicht ertrunken ist«, sagte Jacko atemlos. »Ertrunkene treiben immer mit dem Gesicht nach oben. Lush scheint die Kugel noch im Kopf zu haben, was meinen Sie?« Er blickte den Inspektor an. »Anscheinend hat er schon tagelang im Wasser gelegen. Hier ist das Loch.« Bony hatte das Gefühl, der kleine Mann habe ihm seine Angst angesehen. Er riß sich zusammen und blickte dem Toten ins Gesicht. Jacko drückte die Fingerspitze auf Lushs Stirn, und als er den FÏnger zurückzog, konnte man keine große Veränderung feststellen. Bony preßte sei97
nen Finger ebenfalls darauf und konnte deutlich das runde Loch im Stirnbein spüren. »Ist der Ausschuß zu sehen?« Jacko schüttelte den Kopf. »Können Sie schweigen wie ein Grab?« fragte Bony. Jacko kicherte. »Und ob, Inspektor. Ich soll also über alles meinen Mund halten?« »Ein paar Tage. Werden Sie mir diesen Gefallen tun?« »Ich bin der gefälligste Bursche am Darling.« »Gut! Decken Sie den Toten zu, und dann verschwinden wir hier.« Die Männer standen nicht mehr vor der Tür, nur Vickory und Ray Cosgrove interessierten sich für das Ergebnis der Untersuchung. Bony eilte ins Badehaus, unter die Dusche, während Jacko um Karbol und zwei Rollen Tabak bat. Eine halbe Stunde später telefonierte Bony mit Chefinspektor Macy. »Wir haben William Lushs Leiche aus dem Fluß gefischt,« berichtete er. »Sie lag bereits einige Tage im Wasser. Es sieht ganz so aus, als sei Lush erschossen worden.« »Aha!« stieß der Polizeichef aus. »Dann ist also doch etwas an der Geschichte mit der Tür!« »Möglich«, antwortete Bony vorsichtig. »Sie reden wie ein spitzfindiger Anwalt, Bony. Das bedeutet natürlich, daß wir eine Obduktion vornehmen müssen, aber Doktor Leveska ist gerade nach Sydney geflogen. Wir werden die Leiche also vorübergehend beerdigen müssen, falls ich nicht einen anderen Arzt auftreiben kann. Er wird allerdings mit dem Auto kommen, und das wird eine Weile dauern – der Darling ist jetzt meilenweit über die Ufer getreten.« »Gut, Chefinspektor, ich werde die Leiche beerdigen lassen, und Sie werden alles Weitere veranlassen, ja?« »Sind Sie mit Ihren Ermittlungen schon weitergekommen?« »Lucas zieht noch gewisse Erkundigungen ein. Die neueste Entwicklung ist zwar interessant, kommt aber nicht unerwartet.« »Ich wette, daß Sie die Leiche gefunden haben!« Bony berichtete von den Krähen, die scheinbar auf dem Wasser gestanden hatten. 98
»Ja, sieht Ihnen ähnlich, auf so etwas zu achten. Aber etwas Glück hatten Sie trotzdem. Die Leiche hätte auch in der Mitte des Flusses treiben oder bereits viel weiter flußabwärts sein können. Dann hätte es vielleicht Jahre gedauert, bis sie gefunden worden wäre. Aber so ist es immer bei Ihnen, Bony. Gesunder Menschenverstand plus Glück. Ich muß mich allein auf meinen Verstand verlassen – Glück habe ich äußerst selten.« Bony beendete das Gespräch und rief Wachtmeister Lucas an. »Ich hätte Sie schon früher angerufen, Lucas, aber ich war anderweitig beschäftigt. Wir haben gerade Lush aus dem Darling gefischt.« »Na, dann haben wir endlich einen Ansatzpunkt«, knurrte der Wachtmeister. »Außerdem sieht es ganz so aus, als ob Lush eine Kugel in den Kopf bekommen hat.« »Oh! Also doch die Tür!« »Das glaubt der Chefinspektor auch. Ich bin allerdings noch nicht so fest überzeugt. Haben Sie mit dem Chauffeur des Postautos gesprochen?« »Ja. Er ist keinem Fahrzeug begegnet, wohl aber zwei Tramps, die er jedoch nur vom Sehen kennt – ungefähr drei Meilen südlich von dem verlassenen Lastwagen, sie marschierten nach Norden. Der Beschreibung nach waren es Totenmarsch-Harry und Kittchen-Mick. Er habe sie noch vor dem Hochwasser gewarnt, und die beiden waren erstaunt, daß es schon so nahe war. Darf ich mal neugierig sein, Bony?« »Für neugierige Leute habe ich immer Verständnis.« »Was soll mit der Leiche geschehen?« Bony berichtete von seiner Unterredung mit Macy. »Die Obduktion könnte doch Pater Savery vornehmen«, verkündete der Wachtmeister sofort. »Wir brauchen das Geschoß doch für die Schußwaffensachverständigen -- und zwar so bald wie möglich.« »Gewiß, wir wollen möglichst wenig Zeit verlieren«, erwiderte Bony kühl. »Soviel ich weiß, ist Pater Savery katholischer Priester.« »Natürlich, Inspektor«, antwortete Lucas, und man merkte deutlich, daß er Bonys barschen Ton nicht überhört hatte. »Aber er ist gleichzeitig voll ausgebildeter Mediziner. Ich hörte heute, daß er über Nacht auf Linley Downs bleibt. Morgen will er weiter nach Bourke. Er könnte ja über Mira fliegen.« 99
»Glauben Sie, daß er uns den Gefallen tun würde?« »Wir brauchen ihn ja nur zu fragen. Soll ich?« Bony zögerte. »Ich werde noch einmal mit dem Chef Inspektor sprechen. Schließlich ist dies hier nicht mein Dienstbereich. Ich rufe Sie dann später an.« Chefinspektor Macy bestätigte, daß Pater Savery schon oft die Justizbehörden unterstützt habe, und da Mrs. Cosgrove Friedensrichter sei, könne alles völlig im Rahmen der Gesetze erledigt werden. Er schlug vor, selbst mit dem Pater zu sprechen. Bony saß gerade beim Abendessen, als das Telefon schrillte. Ray Cosgrove nahm den Hörer ab und meldete, daß Macy den Inspektor zu sprechen wünsche. »Wir werden morgen einen hohen Gast haben«, erklärte Bony, als er kurz darauf an den Tisch zurückkehrte. »Und wer wäre das, Bony?« fragte Mrs. Cosgrove. »Pater Savery«, erwiderte er, dann blickte er mit einem vielsagenden Lächeln Ray und MacCurdle an. »Wie schön«, sagte Mrs. Cosgrove. »Wir dürfen nicht vergessen, die Rauchpatrone als Windrichtungsanzeiger auszulegen, Mac. Und fahren Sie sofort mit dem Wagen los, sobald wir das Flugzeug hören. Warum kommt er eigentlich, wissen Sie das?« »Um die Totenmesse zu lesen, möchte ich annehmen«, entgegnete Bony. »Aber Lush war doch nicht katholisch.« »Vielleicht will er uns auch für unseren Kampf gegen das Hochwasser seinen Segen spenden.« »Ach nein!« meinte Ray. »Nun, ich bin schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Erst telefonieren Sie mit dem Chefinspektor, dann sagen Sie uns, daß Pater Savery kommt. In der Tischlerwerkstatt liegt eine Leiche. Der Pater ist nicht nur Priester, sondern auch Arzt. Er kann also die Obduktion vornehmen und den Toten beerdigen.« »Aber Lush war doch nicht katholisch«, beharrte seine Mutter. »Immer noch besser, wenn ihn der Pater beerdigt, als wenn er ohne Segen unter die Erde kommt. Lush wird es bestimmt egal sein.« »Du vergreifst dich im Ton, Ray.« »Entschuldige, Mutter. – Aber ich habe doch mit meiner Vermutung recht, Bony?« 100
»Sie haben recht.« Bony nickte. »Ich bewundere Ihren Scharfsinn. Doktor Leveska ist gerade in Sydney und deshalb nicht erreichbar.« Später am Abend telefonierte Bony vom Büro aus mit Wachtmeister Lucas. Er informierte ihn, daß Chefinspektor Macy die Unterstützung von Pater Savery gewonnen habe. Der Wachtmeister solle nun den fliegenden Pater bitten, zunächst in White Bend zwischenzulanden. »Feuern Sie sechs Schüsse mit der Zweiunddreißiger und sechs mit der Vierundvierziger. Sie wissen ja: in eine Decke, die über einer Leine hängt, oder in tiefen Sand. Diese Geschosse soll der Pfarrer zusammen mit dem, das er hoffentlich in Lushs Kopf findet, zu Chefinspektor Macy mitnehmen.« »Ich werde sofort mit dem Pater sprechen. Unser Landeplatz ist in ausgezeichneter Verfassung, da wird er bestimmt Ihrem Wunsch nachkommen. Die Geschosse werde ich bereithalten. Was ist mit den Gewehren?« »Die verwahren Sie auch weiterhin. Gute Nacht!« Als MacCurdle ins Büro kam, saß Bony in dem kleinen Privatzimmer. »Kommen Sie herein, Mac, und zahlen Sie mir meinen Shilling«, rief Bony. »Das war aber schnelle Arbeit. Wahrscheinlich, als Sie mit der Chefin den Deich entlanggegangen sind.« »Setzen Sie sich doch, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Sie können ruhig rauchen. Was für ein Mensch war eigentlich Mrs. Cosgroves Ehemann?« »Wie ein verspielter junger Hund«, erwiderte MacCurdle. »Ich lernte ihn erst nach dem Krieg kennen. Er war gerade in England, als der Krieg ausbrach, und trat in die RAF ein. Sein Vater starb 1943, und da wurde ich beauftragt, mich um die Schafstation zu kümmern. Die alte Mrs. Cosgrove war auch schon tot. »Als John Cosgrove mit seiner jungen Frau und dem kleinen Raymond zurückkehrte, bat er mich, zu bleiben. 1953 starb er an Krebs, und ich verlor einen guten Freund.« »Wie sind Sie mit Mrs. Cosgrove ausgekommen?« »Zuerst schlecht. Sie war sehr schwierig, wie Sie sich leicht vorstellen können. Ich hatte nicht nur die Schafstation zu verwalten, ich mußte auch Mrs. Cosgrove anleiten. Dann kam die Agrarreform, und wir ver101
loren den größten Teil Land. Mrs. Cosgrove hat eine spitze Zunge, aber wir kommen jetzt ganz gut miteinander aus.« »Und Raymond?« bohrte Bony weiter. »Ein netter junger Mann«, meinte MacCurdle. »Er war ein miserabler Schüler – vier Jahre unten in Wesley im Internat. Mrs. Cosgrove hatte große Pläne mit ihm, aber sie mußte sie aufgeben und ihn nach Hause holen. Er wird trotz allem ein guter Schafzüchter. Am Anfang benahm er sich ziemlich hochnäsig, aber das haben’wir inzwischen abgeschliffen.« »Soviel ich weiß, waren die Cosgroves mit den Maddens gut befreundet. Können Sie das bestätigen?« MacCurdle zündete sich umständlich die Pfeife an, er zögerte. »Zum Teil. John Cosgrove verstand sich gut mit Madden und seiner Frau. Mrs. Cosgrove war immer äußerst reserviert.« »Hatte sie einen Grund dazu?« »Nun, Sie wissen doch Bescheid. In Australien wird ein Mann nach seiner Stellung und seinem Vermögen eingestuft. In England hingegen geht es danach, was Großvater und Vater waren. Jeff Madden war ein ganz gewöhnlicher Schachtarbeiter, bevor er durch die Agrarreform das Land bekam. Er wurde ein tüchtiger Schafzüchter, aber ein Schachtarbeiter bleibt eben immer ein Schachtarbeiter – wenn Sie wissen, was ich meine.« »Hm, verstehe. Ganz im Vertrauen, Mac – wissen Sie, daß Ray und Jill heiraten wollen, aber Angst haben, Mrs. Cosgrove einzuweihen?« MacCurdle lächelte. »Wir hatten einmal einen wichtigen Brief abzuschicken, aber Ray war bereits mit dem Postsack losgegangen. Da brachte ich den Brief selbst zum Kasten, und dabei überraschte ich die beiden, wie sie sich hinter einem Baum küßten. Ich glaube, alle wissen Bescheid, nur Mrs. Cosgrove nicht.« »Sie würde sich mit Händen und Füßen gegen eine Heirat sträuben, oder?« »Ganz bestimmt. Ray sprach mit mir darüber, und da riet ich ihm, noch eine Weile zu warten.« »Sie sagen, daß alle Bescheid wissen – auch Lush?« »Das ist mir nicht bekannt. Ich dachte an die Leute auf Mira.« »Sagen Sie, Mac, wie hat Ray eigentlich seine Abende verbracht?« 102
»Soviel ich weiß, liest er viel. Dann gibt es ja das Radio. Manchmal spielt er auch mit den Vickorys Karten -« »Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit. Hat er sich abends oft mit Jill getroffen?« »Ich denke schon.« MacCurdle zwinkerte. »Schließlich war ich ja auch mal jung, und warum sollte er die Gelegenheit nicht nützen.« MacCurdle bemerkte, wie die blauen Augen plötzlich kalt funkelten. »Können Sie mir das näher erklären?« »Na ja, eines Abends wollte Mrs. Cosgrove Ray sprechen. Sie wollte etwas wegen irgendwelcher Dokumente wissen. Ray war nicht da, und ich ging rasch hinüber zu den Vickorys, aber da war er auch nicht, und auch nicht in der Arbeiterunterkunft. Mrs. Cosgrove nahm ihn am nächsten Morgen ins Gebet, und da behauptete er, angeln gewesen zu sein. Mir aber hat er dann gestanden, daß er Jill Madden besucht hatte. Lush war in dieser Nacht in der Stadt.«
17
A
m nächsten Morgen wurde das Frühstück eine halbe Stunde eher eingenommen. Um sieben dröhnten bereits die schweren Motoren, die Arbeit am Deich begann. Der Fluß war um anderthalb Meter gestiegen, und MacCurdle hatte ausgerechnet, daß er pro Stunde fünfzehn Zentimeter stieg. Der Himmel war bleich, als Bony den Personalkoch aufsuchte. Der Mann war kräftig und besaß eine stoische Ruhe. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopf, hatte schwarze Augen und ein blasses Gesicht. Er sprach wie ein Filmschauspieler, der einen Arbeiter darzustellen hatte. Wahrscheinlich stammte er aus den Slums von Sydney oder Melbourne, wo früher hauptsächlich der Dialekt des Londoner Ostens gesprochen wurde. »Morgen, Inspektor.« 103
»Guten Morgen! Sie haben jetzt eine Menge Arbeit.« »Tja. Zehn Mann mehr zu verpflegen. Und Sie haben ’ne Leiche auf dem Hals. Mein Gehilfe hat mir erzählt, daß Lush jetzt kein besonders schöner Anblick ist. Das war er ja nie – aber jetzt soll er noch übler aussehen.« »Da ich ihn bei Lebzeiten nicht kannte, möchte ich mir kein Urteil darüber erlauben«, erwiderte Bony kühl. Jacko hackte Holz für den Backofen. »Morgen, Inspektor. Na, wie steht’s?« »Es geht, Jacko. Glauben Sie, daß der Koch Sie am späten Vormittag für eine Stunde entbehren kann? Pater Savery kommt herüber, er braucht vielleicht einen Assistenten.« »Ist mir recht«, meinte Jacko. »Will er die Kugel ’rausholen?« »Wenn sie noch drin ist, ja. Und dann muß der Tote ja beerdigt werden. Kannten Sie Lush gut genug, um seine Identität zu bestätigen?« »Ihn kennen! Er war der größte Lump am Darling. Und ob ich unterschreiben werde!« »Dann werde ich nach Ihnen schicken, wenn der Pater Sie benötigt.« Bony kehrte ins Herrenhaus zurück, suchte Mrs. Cosgrove auf und bat sie, ihn ins Büro zu begleiten. Sie sahen Ray und MacCurdle nach, die gerade mit einem Theodoliten loszogen, dann bat Bony Mrs. Cosgrove ins Privatbüro. »Da ich ungefähr weiß, was die Obduktion ergeben wird, werde ich Sie um Ihre Dienste als Friedensrichter bitten müssen«, sagte er. »Es ist notwendig, daß Sie den Sektionsbericht unterzeichnen und die Identität bestätigen, denn wir werden den Toten hier beerdigen müssen. Ich kann Pater Savery schlecht bitten, ihn mit nach Bourke zu nehmen. Es ist gar nicht nötig.« »Wie Sie wünschen, Bony. Unangenehm, aber nicht zu ändern. Und dann können wir uns endlich ganz auf das Hochwasser konzentrieren.« Mrs. Cosgrove spitzte die Lippen. »Das Resultat der Obduktion wird anders ausfallen als Sie glauben. Ich möchte Sie ins Vertrauen ziehen. Der Fall sieht sehr ernst aus: Lush ist nicht ertrunken. Er wurde erschossen.« »Oh! Wie schrecklich.« Mrs. Cosgrove musterte Bony durchdringend. »Von, Jill, als sie in der Nacht auf ihn gewartet hat?« »Das werden wir erst in einigen Tagen erfahren.« 104
»Sie hat mir ganz offen erklärt, daß sie Lush erschossen hätte, falls er ins Haus eingedrungen wäre. Ich kann ihr deshalb keinen Vorwurf machen. Ihre Lebensumstände waren einfach schrecklich.« »Ich kann mir meine Meinung erst bilden, wenn ich das Obduktionsergebnis kenne. Wir dürfen uns durch keinerlei Gefühle beeinflussen lassen, obwohl Jill mir sehr sympathisch ist. Wie stehen Sie eigentlich zu ihr?« »Sie ist ein nettes junges Mädchen«, antwortete Mrs. Cosgrove. »Sie hat sich auf dem Internat gute Manieren angeeignet. Allerdings lerne ich sie jetzt zum erstenmal näher kennen. Ich bin ganz Ihrer Meinung: Wir dürfen uns durch nichts beeinflussen lassen. Ich werde ihr auch weiterhin mit christlicher Nächstenliebe begegnen.« »Ich glaube, sie würde leichter über alles hinwegkommen, wenn sie eine Aufgabe zu erfüllen hätte.« »Eine sehr vernünftige Idee. Ich werde schon eine Arbeit für sie finden. Sie wissen nicht zufällig, wann Pater Savery hier eintrifft?« »Im Laufe des Vormittags. Ist der Windrichtungsanzeiger ausgelegt?« »Ja. Ich halte es für das beste, wenn wir beide hinausfahren und ihn abholen. Er wird uns seine Ankunft schon melden.« Pater Savery kündigte seine Ankunft an, indem er tief über dem Fluß angeflogen kam und über der Arbeiterunterkunft die Maschine steil nach oben riß, um dann im Sturzflug und einem weiten Bogen über das Herrenhaus hinwegzudonnern. Mrs. Cosgrove setzte sich ans Steuer des Wagens, mit dem sie die halbe Meile hinaus zum Landeplatz fuhren. Sie trafen rechtzeitig ein, und Bony konnte helfen, die Maschine gegen den Wind zu verankern. Der Pater war hochgewachsen und athletisch gebaut. Über einem breiten Gesicht stand borstiges braunes Haar, das ihn – er war einen Meter achtzig groß – noch um fünf Zentimeter länger erscheinen ließ. Er hatte eine leise, angenehme Stimme, und als er mit Bony bekannt gemacht wurde, umspielten tausend winzige Fältchen seine braunen Augen. »Ich habe für Sie ein Päckchen von Wachtmeister Lucas. Erinnern Sie mich dann bitte daran. Ich habe außerdem eine Nachricht von Chefinspektor Macy. Sie sollen sofort zu Ihrer Dienststelle in Brisbane zurückkehren. Ich kann Sie in meiner Maschine mitnehmen.« 105
»Sehr liebenswürdig, Pater, ich danke Ihnen für die Übermittlung. Leider ist es vergebliche Liebesmüh.« »Ha, ein Rebell! Ein Nonkonformist. Ich habe eine Menge über Sie gehört. Manche behaupten, Sie seien noch individualistischer als ein Nonkonformist. Was halten Sie eigentlich von ihm, Betty Cosgrove?« »Er hat mir überhaupt noch keine Zeit gelassen, eine Meinung zu bilden«, antwortete Mrs. Cosgrove und hielt vor dem Büro an. »Nun kommen Sie, auf der Veranda wird Tee serviert.« Pater Savery schien sich überhaupt nicht für den eigentlichen Zweck seines Kommens zu interessieren. Er sprach mit Mrs. Cosgrove über die Schafstationen, die hundert Meilen entfernt lagen. Bony hielt das für sehr diplomatisch, da Jill Madden abwesend war. Später führte der Inspektor den Pater ins Büro und berichtete ihm von der Schußwunde im Kopf des Toten. »Wenn das Geschoß noch drinsteckt, benötigen wir es für die Schußwaffensachverständigen, Pater. « »Das ist kein Problem, Inspektor. Macy machte bereits eine Andeutung, daß es sich um keinen Unfall handelt. William Lush war ein übler Mensch. Seine Frau hingegen – Gott hab’ sie selig! – war anständig und arbeitsam. Also, machen wir uns an die Arbeit?« »Die Leiche liegt in der Tischlerwerkstatt auf dem Boden. Zum Sezieren werden Sie vermutlich einen Tisch benötigen. Ich hole jetzt einen Mann, der war früher Gehilfe eines Bestattungsunternehmens. Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.« Bony fuhr mit dem Wagen zur Personalküche und holte Jacko ab. Als der Tramp schließlich vor dem hünenhaften Pater stand, wirkte er noch zwergenhafter. »Ich kenne dich, Jacko«, sagte Pater Savery mit dröhnender Stimme. »Was ist eigentlich aus deiner Tochter geworden?« »Sie hat einen Fleischer geheiratet, Hochwürden. Unten in Mildura. Sie hat auch schon Kinder.« »Freut mich, daß sie nicht ihrem Nichtsnutz von Vater nachgeraten ist. Du bist doch immer noch ein Stromer, nehme ich an.« »Aber Pater! Ich arbeite!« »Prächtig, dann bleibe aber auch dabei.« 106
Der Pater wurde in die Tischlerwerkstatt geführt, und er gab Anweisung, den Toten auf die Hobelbank zu legen. Bony trat ans Fenster, er mochte beim Sezieren nicht zusehen. »Da hat’s diesen Lumpen erwischt, Pater«, hörte Bony Jackos Stimme. »Entschuldigung, Hochwürden. Aber hier ist die Kugel eingedrungen. Da wette ich ’n Pfund!« »Hm! Geh aus dem „Licht. Der Schuß muß sofort tödlich gewesen sein. Sieht nicht so aus, als ob er ertrunken wäre.« »Er schwamm ja auch mit dem Bauch nach unten«, erklärte Jacko. »Bei Ertrunkenen ist der Bauch immer oben.« »Interessant, Jacko, aber reine Theorie. Keine Ausschußwunde, also müßte das Geschoß noch im Schädel stecken. Die Geschoßbahn ist allerdings unberechenbar. Wußtest du, daß ich im letzten Krieg Militärarzt war?« »Tatsächlich, Pater!« »Ich habe also Erfahrung im Auffinden von Geschossen. Halt doch den Kopf fest!« »Da fällt mir gerade was ein«, sagte Jacko. »Ich hatte mal mit meinem Chef ’ne Leiche abzuholen. Wir kommen also mit dem Sarg an, und der Kerl liegt ganz bequem auf seinem Bett. Als wir ihn gerade einsargen wollen, läutet in der Halle das Telefon.’ Weil niemand da ist, geht mein Chef hinaus und hebt den Hörer ab. Plötzlich kommt er ins Zimmer gestürzt und ruft: ›Rasch, Jacko! Wir sind im falschen Haus!‹« »Du paßt überhaupt nicht auf!« tadelte der Pater. »Jetzt konzentriere dich aber auf die Arbeit.« »Ich dachte immer, es macht mir nichts aus, aber plötzlich fühle ich mich ganz flau im Magen.« »Konzentriere dich auf die Arbeit und nicht auf deinen Magen! So, wo mag nun das Geschoß stecken? Im Krieg wurde mir einmal ein Verwundeter gebracht, bei dem befand sich der Einschuß unterhalb des linken Ohrs, der Ausschuß aber zwischen der zweiten und dritten Rippe links. Ha, da scheint es zu stecken. Festhalten! So, da hätten wir’s, Jacko. Kaliber zwounddreißig. Jetzt wollen wir uns mal die Lunge ansehen.« »Komisch!« vernahm Bony einen Augenblick später Jackos Stimme. »Sieht genau aus wie eine Schafslunge.« 107
»Kein Wasser – er war also schon tot, als er ins Wasser fiel. So, nun packen wir zusammen. Vielen Dank für die Hilfe, Jacko.« »Nichts zu danken, Pater. Ich bringe nur rasch den Eimer weg.« Bony wollte sich auch jetzt noch nicht umdrehen, und der Pater lachte. »In einer Minute können Sie uns getrost wieder anschauen, Inspektor. Dann sehen wir wieder manierlich aus. Ich lasse nur noch von Freund Jacko das Geschoß säubern.« »Können Sie sagen, ob der Schuß aus großer Nähe abgegeben wurde?« fragte Bony. »Nein, das kann ich nicht. Nach Durchschlagen der Schädeldecke ist die Geschoßbahn völlig unberechenbar. Da ich die Mündungsgeschwindigkeit nicht kenne, kann ich noch nicht einmal eine Vermutung aussprechen. Jedenfalls ist keine Schmauchspur zu sehen, aber das hat nichts zu besagen, weil die Blutegel bereits an der Wunde gesaugt haben.« Jacko kam zurück. »Donnerwetter! Sie haben ihn ja ganz schön zugerichtet, Pater. Jetzt könnte ich ihn in einen Sarg packen, falls einer greifbar ist. Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn einfach mit dem Bulldozer in den Deich -« »Genug, Jacko!« fuhr der Pater ihn an. »Auch er ist ein Geschöpf Gottes, und wir dürfen uns nicht zu seinem Richter aufspielen. Jetzt packen wir den Toten in einen Sack, und dann waschen Sie mir noch die Handschuhe. Ich werde Mrs. Cosgrove bitten, Ihnen für Ihre Hilfe ein halbes Pfund Tabak zu spendieren.« Bony, verließ die Werkstatt und atmete tief die frische Luft ein. Zehn Minuten später trat der Pater zu ihm. »Jemand hat einmal mit einem zweiunddreißiger Gewehr ein Loch in die Decke geschossen«, sagte Bony. »Das Geschoß drang durch die Zimmerdecke und das darüberliegende Wellblechdach. Wenn derjenige, der Lush erschossen hat, ungefähr drei Meter von ihm entfernt war – würde das Geschoß seinen Kopf dann nicht glatt durchschlagen haben?« »Schwer zu beantworten, Inspektor. Hängt von den verschiedenen Umständen ab. Ist das denn so wichtig?« »Solange die Schußwaffensachverständigen nicht eindeutig geklärt haben, daß das Geschoß aus Lushs Kopf mit diesem Gewehr abgefeuert 108
wurde – ja. Und bis ich von der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle Bescheid erhalte, werden Tage vergehen. Ich werde das Geschoß gut verpacken, und Sie übergeben es bitte zusammen mit dem Päckchen von Lucas so schnell wie möglich dem Chefinspektor.« »Sie sprechen zwar in Rätseln, aber ich werde Ihren Wunsch gern erfüllen. Wollen Sie nicht mit mir nach Bourke zurückfliegen?« »Nein, Pater, ich werde nicht zurückkehren, solange ich hier die Ermittlungen nicht abgeschlossen habe. Was würden Sie sagen, wenn man Sie mitten aus einer Messe wegholen würde?« »Dann würde ich höchst ungemütlich werden.« »Sehen Sie. Und so geht es mir auch.« »Sie sind köstlich, Inspektor. Es war für mich eine große Freude, Sie kennengelernt zu haben. – So, und nun will ich mir erst mal ordentlich die Hände schrubben. Ich bin zwar Mediziner, aber doch nicht so abgebrüht wie Freund Jacko. Er ist völlig gefühllos und dabei noch glücklich.« »Allerdings, Pater. Würden Sie ins Büro kommen, wenn Sie hier fertig sind?«
18
A
n diesem Abend wehte der Wind wieder kalt aus Südosten, und die zehn Tramps saßen zwischen Schurschuppen und Deich um das Feuer. Einige hockten einfach auf den Fersen, andere saßen auf leeren Kisten oder alten Petroleumkanistern. Der Wind spielte in den Zweigen des in der Nähe stehenden Eukalyptusbaumes, und die Flammen ließen die Gesichter der Männer rot aufleuchten. Als Bony sich dem Lagerplatz näherte, bedrängten sie gerade Jacko, er möge ihnen das Ergebnis der Obduktion verraten. Jacko mogelte sich geschickt am Rande der Wahrheit entlang. Mit schwungvollen Worten hatte er beschrieben, wie Pater Savery mit Skal109
pell und Säge hantiert hatte. Aber seine Zuhörer merkten, daß er ihnen etwas vorenthielt. Er befand sich bereits in einer ziemlich verzweifelten Lage, als Bony aus der Dunkelheit in den Lichtkreis des Lagerfeuers trat. »Sie können die Neuigkeit jetzt ruhig erzählen, Jacko«, sagte der Inspektor und setzte sich auf eine Petroleumkanne. Er drehte sich eine Zigarette und spürte das eisige Schweigen und die mißtrauischen Blikke. Er war Polizeibeamter und für diese Männer ein Gegner. Sie waren zwar keine Gesetzesbrecher, aber ihre abweisende Haltung war fest eingewurzelt. »Ich hatte Jacko gebeten, nicht auszutrompeten, was mit Lush passiert ist«, erklärte Bony, »Ich wollte vermeiden, daß seine Stieftochter davon erfährt. Seit ich hier bin, habe ich nicht ein einziges gutes Wort über Lush gehört, dafür zeigen alle viel Sympathie für seine unglückliche Frau. Mir ist deshalb schleierhaft, warum Lush sein Schicksal nicht schon vor Jahren ereilt hat. Also erzählen Sie, Jacko.« »Nun, das war so«, begann der Tramp, dann spie er erst einmal Tabaksaft ins Feuer, um die Spannung zu erhöhen. »Also, der Pater sagt zu mir, er möchte sich erst noch die Lunge ansehen, um sicherzugehen, daß Lush nicht ertrunken ist. Das kann nichts schaden, erwidere ich, aber ich sei sicher, daß Lush nicht ertrunken ist. Denn er war ja mit dem Bauch nach unten im Wasser getrieben. Der Inspektor kann es bestätigen.« Jacko schwieg, und Bony nickte. »Es ist eine bekannte Tatsache, daß ein Ertrunkener mit dem Bauch nach oben im Wasser treibt – aber wie gesagt, Lush lag andersherum.« »Das hast du uns doch alles schon erzählt«, brummte KittchenMick ärgerlich. »Schön. Der Pater schnipselt also Lush auf, aber wir finden keinen einzigen Tropfen Wasser in seiner Lunge. Das schien dem Pater gar nicht in den Kram zu passen. Vielleicht sei Lush ja auf einen Felsen geprallt, als er über die Klippe stürzte, meinte ich deshalb.« »Wer hat eigentlich die Leiche seziert – du oder der Pater?« fragte Wally Watts honigsüß. »Das haben wir gemeinsam gemacht. Ich habe Lush gehalten, und der Pater hat seziert«, antwortete Jacko ausweichend. »Also, wir sehen 110
uns die Leiche genau an, und da setze ich mich doch fast hin, als ich ein Loch in seinem Kopf entdecke. Stimmt’s, Inspektor?« »Stimmt«, bestätigte Bony. »Sie haben das Loch entdeckt.« »Wir drehen Lush also um, weil wir sehen wollen, wo die Kugel wieder rausgekommen ist, aber es ist kein zweites Loch zu sehen. Der Pater hat die Kugel dann in Lushs Kopf gefunden – eine zweiunddreißiger.« Jacko schwieg. Offensichtlich erwartete er Applaus. Tiefe Stille herrschte, nur der Fluß gurgelte leise, und in der Ferne bellte ein Fuchs. »Er ist also erschossen worden«, stellte ein grauhaariger Mann fest. »Ganz recht«, meinte Jacko. »Eigentlich keine Überraschung, er lag ja mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Überraschend ist nur, daß man ihn nicht schon vor Jahren erschossen hat. Stimmt’s?« Der weißhaarige Mann mit dem weißen Bärtchen, der so gut über William Lush Bescheid gewußt hatte, nickte. »So ist es, Jacko«, sagte er. »Die Kneipe vom alten Bill Lush war eine Goldgrube, und Mama Lush war eine prächtige Frau. Sie ließ niemanden hungern, und wenn einer sein ganzes Geld bei ihr gelassen hatte, dann gab sie ihm Proviant und eine halbe Flasche Whisky mit auf den Weg. Der Junge hatte seine Eltern ins Grab gebracht und alles, was sie sich erarbeitet hatten, in kürzester Zeit verjubelt.« »Dann ist er hierhergekommen, hat Mrs. Madden geheiratet und sie zu Tode geprügelt, bis ihm schließlich jemand eine Kugel in den Kopf gejagt hat«, fügte Kittchen-Mick hinzu. »Und die Polizei wird den, der das getan hat, verhaften und für zehn Jahre einbuchten«, prophezeite ein dürrer Mann, der schielte. »Stimmt’s, Inspektor?« »Wir müssen das Gesetz achten. Ich habe die Gesetze nicht gemacht«, entgegnete Bony. »Ich habe gesehen, wie schwer verletzt Mrs. Lush war, und da kann ich Champion gut verstehen, wenn er der Ansicht ist, daß Lush hätte früher sterben sollen.« »Na bitte! Was habe ich euch gesagt?« rief Jacko. »Wo kämen wir hin, wenn es keine Polizei gäbe? Dann würden Kraftprotze wie Wally Watts das große Wort führen und kleine Kerle wie mich an die Wand drükken.« »Ich hab’ nichts für die Polente übrig«, erklärte ein alter Mann, der feierlich wie ein Premierminister aussah. 111
»Ich auch nicht, aber sie ist nun mal da«, brummte Jacko. Ein langaufgeschossener Mann, der auf einer Kiste saß und die Ellbogen auf die Knie stützte, zog aus der Tasche seines alten grünen Mantels eine Mundharmonika. Er setzte sie an die Lippen, doch da nahm Kittchen-Mick sie ihm weg. »Nicht, Harry – wir arbeiten«, sagte er ruhig. Der verhinderte Mundharmonikaspieler protestierte nicht, sondern stützte die Ellbogen wieder auf die Knie. Bony erkannte ihn jetzt. Es war Totenmarsch-Harry – er hatte die Haare geschnitten und war frisch rasiert. »Ich verstehe nur nicht, wie Lush an die Fundstelle geraten ist«, meinte Champion. »Man sollte doch annehmen, daß ihn die erste Flutwelle weggespült hätte. Vermutlich lag er in dem Wasserloch bei den Briefkästen. Aber er ist nicht hochgespült worden, als das Hochwasser kam. Er hat eine Weile gewartet, und dann trieb er schön langsam flußabwärts.« »Was halten Sie davon, Inspektor?« fragte Wally Watts. »Ich bin kein Experte für Wasserleichen«, erwiderte Bony. »Das scheint Jackos Hobby zu sein. Der Zustand des Toten beweist eindeutig, daß er einige Tage im Wasser lag. Es dürfte feststehen, daß er in dem Wasserloch bei den Briefkästen lag. Jacko hat recht: Lush ist nicht ertrunken. Er war bereits tot, als er in das Wasserloch geworfen wurde. Die Leiche dürfte dann sofort gesunken und auf den Baumstämmen und Ästen liegengeblieben sein. Diese Baumstämme liegen so tief, daß die ersten Flutwellen sie überhaupt nicht aufwirbelten. Erst als der Fluß bereits über einen halben Meter tief war, wurde auch die Leiche hochgetrieben. Die Strömung brachte sie auf unsere Seite, und wenn Sie sich einmal den Fluß ansehen, werden Sie feststellen, daß es dicht am Ufer eine Gegenströmung gibt, und in dieser Gegenströmung wurde die Leiche festgehalten.« »Wenn man Bescheid weiß, ist alles ganz einfach«, sagte einer. »Sie hatten Glück, Inspektor, daß Sie gerade auf dem Deich entlanggingen und ihn sahen«, meinte Champion. »Ich habe ihn gar nicht gesehen. Ich sah vielmehr zwei Krähen, die auf dem Wasser zu stehen schienen, andere Krähen flatterten am Ufer umher. Wie wir wissen, können Krähen aber nicht auf dem Wasser ste112
hen, aber sie stellen sich gern auf ein totes Schaf. Diese beiden Krähen standen auf Lushs Leiche.« »Und Sie haben schnell geschaltet«, sagte Kittchen-Mick. »Nun ja, ohne Grund sind Sie bestimmt nicht Inspektor geworden.« »Da haben Sie nicht ganz unrecht.« Bony lachte, und auch die anderen prusteten los. Ihr Mißtrauen schwand langsam, vor allem, weil Bony ihnen nicht mit Amtsmiene entgegentrat, wie sie es sonst bei Polizeibeamten gewöhnt waren. »Und nun suchen Sie den Kerl, der Lush umgelegt hat«, meinte Wally Watts. »Mit einer Kugel im Kopf kann er ja nicht gut im Finstern aus Versehen über die Klippe gestürzt sein.« »Selbstverständlich suche ich den Täter.« »Und Sie glauben, daß Sie ihn auch finden?« fragte KittchenMick zweifelnd. »Durch das Hochwasser werden meine Ermittlungen erschwert.« »Na, ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken«, erklärte Jacko. »Meine Zeit, wie viele sind schon an den Ufern des Darling umgebracht worden. Hunderte! Erinnert euch mal an den Mann in Taylor’s Crossing. Die Geschworenen sprachen ihn frei, weil keine Leiche zu finden war. Hinterher hat er die Tat eingestanden, aber man konnte ihm nichts mehr anhaben, weil er wegen derselben Tat nicht zweimal vor Gericht gestellt werden konnte.« »Haben Sie von dem Fall gehört, Inspektor?« fragte der Schielende. »Es war im Jahr neununddreißig.« »Das war vor meiner Zeit«, erwiderte Bony. »Sie haben nun also eine Leiche und eine Kugel, Inspektor, aber der Fluß wird Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen«, meinte Champion. »Möglich.« Bony nickte. »Trotzdem muß ich versuchen, den Täter zu finden.« »Und wie wollen Sie das anstellen, Inspektor?« fragte der Schielende. Bony lächelte entwaffnend. »Wir wissen, daß Lush in der Nacht des neunzehnten Juli aus White Bend, abgefahren ist. Wir wissen außerdem, daß er in angetrunkenem Zustand besonders langsam fuhr. Er muß also gegen Mitternacht bei den Briefkästen angekommen sein. Am nächsten Morgen um elf Uhr fünfundvierzig hat Ray Cosgrove die Post 113
zum Briefkasten gebracht und den verlassenen Lastwagen entdeckt. Bisher hat sich niemand gemeldet, der den Wagen bereits vorher gesehen hat. Es waren also rund zwölf Stunden vergangen, seit Lush seinen Wagen stehengelassen hatte. In dieser Zeit ist nach unseren Ermittlungen kein anderes Fahrzeug vorübergekommen. Der Boden ist sandig, und die Nacht war windig. Ich konnte keine Fußspuren entdecken, und wir haben auch keinen Anhaltspunkt, ob Lush in der Nähe der Briefkästen erschossen wurde oder woanders.« »Vielleicht wurde er in seinem eigenen Haus erschossen«, warf der Schielende ein. »Es kann überall passiert sein. Er könnte sogar hier erschossen worden sein, oder auf der anderen Seite des Flusses an der Stelle, wo die drei Brüder kampiert haben. Alle haßten Lush, jeder hätte also ein Motiv haben können. Und da seine Leiche oberhalb von seiner Farm gefunden wurde, ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er irgendwo flußaufwärts ermordet wurde. Nun erhebt sich die Frage nach dem Täter. Da käme zunächst Mrs. Cosgrove in Frage, ebenso Jill Madden. Unwahrscheinlich, aber möglich! Jeder der auf Mira wohnenden Männer hätte die Gelegenheit gehabt, auch die drei Brüder. Und jeder von Ihnen ebenfalls.« Bony blickte von einem zum anderen und drehte sich eine Zigarette. Keiner der Männer sprach ein Wort. »Es ist nun meine Aufgabe, herauszufinden, wer William Lush ins Jenseits befördert hat. Selbstverständlich werde ich mir alle Mühe geben, aber der Täter ist meines Mitgefühls sicher, denn Lush war ein Mensch, der sein Schicksal herausgefordert hat.« »Sie sind ein seltsamer Mensch«, sagte das Ebenbild des Premierministers. »Ich wäre nicht überrascht -« Er brach ab, als Totenmarsch-Harry plötzlich aufstand und über das Lagerfeuer hinweg zu dem nicht sichtbaren Fluß blickte. »Bumm!« sagte er, drehte sich langsam um und machte einen Schritt auf den Schuppen zu. »Bumm!« Kittchen-Mick sprang auf und packte ihn am Arm. »Wach auf, Harry. Wir müssen arbeiten, da haben wir keine Zeit für so etwas.« »Ich bin tot! Ich bin tot!« murmelte Harry mehrmals und marschierte mit feierlichem Schritt davon. Mick ließ seinen Kameraden nicht los, und die beiden verschwanden aus dem Lichtkreis des Lagerfeuers. 114
»Morgen werde ich Sie alle verhören müssen«, verkündete Bony. »Ich muß wissen, wo sich jeder in der Nacht vom achtzehnten zum neunzehnten Juli und am folgenden Tag aufgehalten hat. Sie können Ihre Aussagen während der Arbeitszeit machen.«
19
B
ony wurde wach, weil der Regen auf das Blechdach trommelte. Im Frühstückszimmer traf er einen verstörten MacCurdle, und auch Raymond Cosgrove machte ein besorgtes Gesicht. »Aus heiterem Himmel«, sagte der Manager. »Die Meteorologen haben natürlich wieder mal nichts vorhergesagt.« »Ich habe gerade den Regenmesser abgelesen. Bis jetzt dreiundachtzig Millimeter, und keine Aussicht, daß es aufhört«, fügte Ray hinzu. »Genau im dümmsten Moment.« »Hoffen wir, daß der Regen nicht mit dem Höchststand der Flutwelle zusammentrifft. Dann könnten wir allerdings in eine schwierige Lage geraten.« »Da können die Männer wohl nicht arbeiten?« fragte Bony, erhielt aber die Auskunft, daß der Regen die Arbeiten am Deich lediglich etwas verlangsame. Als er vor das Haus trat, atmete er tief die köstliche Luft ein. Viele Monate hatte es nicht geregnet, nun saugte die ausgedörrte Erde das köstliche Naß, und aromatische Düfte stiegen auf. Bony ließ eine Stunde verstreichen, dann rief er Chefinspektor Macy an. »Ja, ich habe die Geschosse an die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle weitergeleitet«, erwiderte Macy. »Ich hoffe, heute nachmittag das Gutachten vorliegen zu haben. Sieht ganz so aus, als ob der Schuß durch die Tür Lush getötet hat, wie?« »Möglich wäre es«, meinte Bony ausweichend. »Ich warte erst mal das Gutachten ab. Regnet es bei Ihnen auch?« 115
»Tüchtig. Es sind bereits über fünfundzwanzig Millimeter gefallen. Die Leute sind wie verrückt vor Freude. Für Mira wird es dadurch allerdings etwas kritisch, nehme ich an. Pater Savery würde heute im Schlamm versinken. Wie gefällt er Ihnen eigentlich?« »Er ist der geborene Buschpfarrer«, antwortete Bony. »Ich habe schon viele Geistliche kennengelernt, aber bisher nur einen, der dem Pater ähnelte. Ich hoffe, Sie haben ihm für seine Unterstützung gedankt.« »Da können Sie sicher sein, Bony. Er erzählte mir, daß er in einem Tramp eine tüchtige Hilfe gehabt hätte.« »Er heißt Jacko.« »Ja, er erwähnte den Namen. Ein Sonderling. Ist nicht vorbestraft. Sie haben mal wieder Glück – wir gabeln hier immer nur Betrunkene auf.« »Ich beschäftige mich gern mit Sonderlingen, Chefinspektor. – Ich habe hier eine Liste. Würden Sie sich mal die Namen notieren und feststellen, ob diese Leute vorbestraft sind?« Bony las ihm die Namen vor, und Macy sagte, daß er alles überprüfen lassen und dann zurückrufen wolle. Nach einer halben Stunde klingelte das Telefon. »Sind Sie schreibbereit, Bony?« Inspektor Bonaparte nahm einen Zettel und notierte: Jacko: ohne Vorstrafen. Totenmarsch-Harry: o. V. Kittchen-Mick: o. V. Champion: 6 Monate wegen Pferdediebstahls. Wally Watts: o. V. Bill, Ned und Silas (bekannt unter dem Sammelnamen ›die Brüder‹) – Bill: o. V.; Ned: Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses; Silas: Diebstahl. Bosun Dean: o. V. Paroo Bikeman: Rauferei und Körperverletzung Von den sechs Farmarbeitern waren fünf in White Bend wegen Trunkenheit bestraft worden. 116
»Haben Sie alles?« fragte der Chefinspektor. »Gut! Dann hätten wir noch den Junior. Ray stand in Bourke wegen Trunkenheit am Steuer, in White Bend wegen Trunkenheit vor Gericht. Mehr habe ich nicht. Dieser Paroo Bikeman ist der übelste von allen, gleich nach ihm kommen die Brüder, die übrigens Wishart heißen. Warum sind Sie gestern nicht mit dem Pater zurückgekommen-?« »Ich wäre auch nicht mitgeflogen, wenn man mir den Posten des Polizeipräsidenten angeboten hätte«, entgegnete Bony. »Ich kann meine Ermittlungen nicht einfach abbrechen. Nun verwischt mir der Regen auch noch die letzten Spuren, und ich möchte zu gern nach Hause.« »Jetzt können Sie ja gut reden, Sie alter Fuchs. Also dann – auf Wiedersehen!« Bony lieh sich von MacCurdle Mantel und Schirm und marschierte den Deich entlang. Der Regen fiel stetig, es war noch kein Ende abzusehen. Das Wasser des Flusses stand an der Stelle, an der die Leiche geborgen worden war, zwei Meter unterhalb der Uferkante. In wenigen Stunden würde das Wasser auch in den Seitenarm hinter dem Garten strömen. Wenn es noch lange weiterregnete, wurde die Lage für Mira kritisch. Auf der hinteren Veranda der Personalküche schälte Jacko Kartoffeln. Bony setzte sich zu ihm und drehte sich eine Zigarette. »Jeder Regentropfen ein Shilling für den Farmer und ein Penny für den Farmarbeiter«, meinte das kleine Männchen. »Na, wie stehen Ihre Ermittlungen, Inspektor?« »Vielleicht können Sie mir helfen, ein wenig weiterzukommen«, antwortete Bony. »Wo waren Sie zum Beispiel am Morgen des neunzehnten Juli?« »Also an dem Tag, an dem Lush verschwunden ist. In der Nacht schlief ich im Wollschuppen von Markham Downs. Am nächsten Tag – und damit wird Ihre Frage beantwortet, Inspektor – kampierte ich immer noch dort, denn ich bin erst am darauffolgenden Tag weitergezogen.« »Und wo liegt diese Schafstation?« »Achtzehn Meilen südlich von White Bend, auf dieser Seite des Flusses.«xxx »Und Sie sind auch auf dieser Seite heraufgekommen?« »Ja. Ich bin nicht mal in White Bend über den Fluß gegangen, ich hatte nämlich Ebbe im Portemonnaie.« 117
»Damit wären Sie ja wohl außer Verdacht. Und nun, Jacko: Wer von den Männern, die gestern abend am Lagerfeuer saßen, war Paroo Bikeman?« »Hören Sie, Inspektor, ich möchte niemanden verzinken.« »Das sollen Sie auch nicht. Aber Sie können mir doch wohl noch sagen, wer dieser Bikeman ist, oder?« »Na schön, aber verraten Sie ihm nicht, daß Sie es von mir wissen. Er ist ein altes Ekel. Er saß neben Champion. Hat die ganze Zeit kein Wort geredet. Er hat einen kleinen Mund und ein schwarzes Bärtchen.« »Können Sie es verantworten, mir zu sagen, wie Champion zu seinem Spitznamen gekommen ist?« »Klar!« Jacko lächelte. »Er arbeitete damals oben in Yandama und gewann ziemlich viel in der Lotterie. Da machte er sich mit drei anderen auf den Weg nach Milparinka. Er versprach demjenigen hundert Pfund, der mehr Bier als er selbst trinken könne. Eine Halbe pro Minute – und das Bier wurde von ihm bezahlt. Sie nahmen also alle Platz, und der Wirt setzte sich auch dazu. Eine Flasche pro Minute, der Schankkellner mußte auf die Uhr aufpassen. Seit Monaten hatte keiner von ihnen Bier gesehen, und nun ging es also los. Der erste gab nach der fünften Halbe auf, der nächste schaffte acht Flaschen. Nun blieben nur noch einer und Champion übrig. Bis zur elften Flasche lagen sie Kopf an Kopf, dann schloß der dritte seine Augen und sank unter den Tisch. Man erzählt sich nun, daß Champion weitergetrunken habe, bis er in der einundzwanzigsten Minute die einundzwanzigste Flasche leer hatte. Nun verlor er das Interesse am Bier und verlangte Whisky, doch der Wirt weigerte sich, weil er keine Leiche im Haus haben wollte.« »Das ist wahr – so wahr ich hier stehe«, warf der Koch ein, der an der Küchentür lehnte. »Champion war damals allerdings zwanzig Jahre jünger als heute. Er war der beste Schafscherer weit und breit. – Regnet ganz schön, Inspektor, wie?« »Allerdings«, pflichtete Bony bei. »Wie lange sind Sie hier schon als Koch?« »Seit vierzehn Monaten. Wird Zeit, daß ich Urlaub mache. Ich möchte mal hinüber nach Neuseeland. Entschuldigung, die Schokoladeplätzchen!« 118
Bony folgte dem Koch in den großen Raum, der Küche und Kantine zugleich war, und setzte sich an das Tischende beim Herd. Er wartete, bis sich der Koch um die Plätzchen gekümmert hatte. »Wie lange kampierten eigentlich die drei Brüder auf der anderen Seite des Flusses?« fragte er, als der Koch ihm gegenüber Platz nahm und sich eine Zigarette drehte. »Ach, drei oder vier Wochen.« »Haben sie oft um Proviant gebettelt?« »Zweimal in der Woche kam einer von ihnen vorbei. Sie besaßen Geld und kauften sich auch Verpflegung im Lager.« Der Koch musterte Bony. »Dann ist Lush also umgelegt worden. Die Männer sprachen beim Frühstück darüber.« »Ein gutes Thema.« Bony erhob sich. »Nach den Geräuschen zu schließen, scheinen die Leute trotz des Regens zu arbeiten.« »Einige arbeiten im Akkord. Den Krach machen die Maschinen. Seit es regnet, ist die Chefin etwas nervös geworden.« Bony ging hinüber zum Schurschuppen, wo er Kittchen-Mick antraf, der Zeitung las. »Tag, Inspektor!« begrüßte ihn Mick. »Guten Tag, Mick. Wo ist denn Harry?« »Auf seinem Strohsack. Hatte eine schlechte Nacht. Wenn er hört, daß über Leichen gesprochen wird, regt er sich immer auf. Sie wissen ja, wie’s um ihn steht.« »Haben Sie eine Ahnung, wie es zu seiner Erkrankung gekommen ist?« »Ja. Bei einem Rodeo wurde er vom Pferd geworfen. Er stürzte auf den Kopf, aber es schien nichts weiter passiert zu sein. Sechs Monate lang war alles in Ordnung, dann begann er plötzlich sein unstetes Leben. Eines Abends lag ich am Lagerfeuer, und plötzlich stand er vor mir und erzählte mir, daß er tot sei. Er tat mir leid, und seitdem sind wir zusammen.« »Sie passen auf, daß ihm nichts zustößt. Warum haben Sie eigentlich den Gefängnisdienst quittiert? Oder darf ich den Grund nicht erfahren?« »Warum nicht? Meine Frau und mein Sohn kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, das ist alles. Ich brach völlig zusammen, und 119
als ich wieder auf die Beine kam, begann ich meine Wanderung. Und ich bin froh darüber.« »Gestern abend wurde doch über das Verhältnis der Tramps zur Polizei gesprochen. Wie begegneten Ihnen eigentlich diese Männer, Mick?« »Die Landstreicher, Inspektor!« Der rundliche Mann grinste. »Es gab kaum Schwierigkeiten. Besonders, nachdem ich zwei Kerle fertiggemacht hatte, die Streit suchten. Die Männer halten viel vom armen Harry, und ich glaube, ich bin ihnen auch nicht unsympathisch.« »Das denke ich auch. Wo waren Sie eigentlich in der Zeit, als Lush ermordet wurde?« »In Murrimundi. In einer alten Hütte an dem Kanal, in dem man Wolle wusch. Ungefähr zwei Meilen oberhalb der Station.« »Gut! Und wohin wollten Sie, als wir uns in Madman’s Bend trafen?« »Wir wollten uns einen Lagerplatz suchen und in dem Wasserloch unterhalb der Briefkästen angeln«, erwiderte Mick. »Dann überlegten wir uns, daß wir bei Mrs. Lush vorbeischauen könnten, denn Harry ist immer gut mit ihr ausgekommen. Harry hat manchmal für die Maddens gearbeitet. Richtiger gesagt – wir beide.« »Wie sind Sie mit Lush ausgekommen?« fragte Bony beiläufig. »Überhaupt nicht. Niemand ist mit ihm ausgekommen.« »Sie sagten vorhin, Sie hätten am Waschkanal von Murrimundi kampiert. Haben Sie da Lush nicht gesehen, als er nach White Bend gefahren ist?« »Nein, wir konnten ihn nicht sehen. Dieser Kanal liegt eine Meile von der Straße entfernt in einer Flußbiegung. Nein, wir hatten keine Ahnung, daß Lush vermißt wird. Das erfuhren wir erst, als wir hier ankamen.« Kittchen-Mick lächelte harmlos. »Sie werden sich reichlich unbeliebt machen, wenn Sie den Mann festnehmen, der Lush umgebracht hat.« »Anscheinend wurde er allgemein gehaßt.« Bony stand auf. »Wissen Sie, wenn ich plötzlich meine Familie verlieren sollte, würde ich auch auf die Walze gehen. Na, bis später, Mick.« Eine Viertelmeile hinter dem Schurschuppen bog der Deich vom Fluß ab und umschloß in weitem Bogen die Schafstation. Der Bulldozer war zwar zu hören, aber nicht zu sehen, und Bony nahm an, daß die 120
Männer mit dem Schaufellader ebenfalls an dieser Stelle arbeiteten. Es war windstill, der Regen fiel senkrecht wie aus einer Gießkanne. Immer größere Pfützen bildeten sich, und der Regen trommelte monoton auf das Laub der Eukalyptusbäume. Da die Sonne nicht schien, mußte Bony ins Büro gehen, um auf die Uhr schauen zu können. Er saß im Büro des Managers, als MacCurdle und Ray Cosgrove mit dem Theodoliten zurückkehrten. »So, jetzt hätten wir einen Drink nötig, Bony«, sagte der Manager forsch. »Können wir Sie vielleicht verführen, sich auch einen zu genehmigen?« »Ich denke schon«, erwiderte Bony, und Ray meinte, er werde sich lieber eine Flasche Bier holen. MacCurdle nahm die Whiskyflasche aus dem Schränkchen, stellte sie auf den Tisch und verschwand, um Wasser zu besorgen. Bony betrachtete die Flasche. Sie war noch nicht angebrochen und in das übliche Seidenpapier gewickelt. Der Manager kam mit dem Wasserkrug zurück, riß das Seidenpapier ab, entfernte mit dem Daumennagel die Zinnfolie am Flaschenhals und zog den Korken heraus. Dann schenkte er sich ein, als ob er am Verdursten sei. Bony goß sich nur einen kleinen Schluck ein, und die beiden Männer lächelten sich über die Gläser hinweg an. Bony dachte im Augenblick an nichts, doch in der hintersten Ecke seines Gedächtnisses schlug leise ein Glöckchen an. »Es regnet ununterbrochen, und der Fluß schwillt jetzt schnell an. Falls der Deich brechen sollte, werden lediglich Herrenhaus und Büro verschont bleiben. Es wäre also möglich, daß Sie sehr lange bei uns ausharren müssen, Bony. Aber ich habe immerhin noch neun Flaschen im Schrank. Bedienen Sie sich doch.« Ray kam mit einer Flasche Bier zurück. Er füllte sich sein Glas, leerte es auf einen Zug und schenkte nach. Er setzte sich auf die Armlehne eines Sessels, baumelte mit einem Bein und drehte sich eine Zigarette. »Mutter hat wieder mal ihren großen Tag«, sagte er, und Bony zog fragend die Brauen hoch. »Sie ist draußen bei den Männern. Kommandiert und schikaniert sie herum. Sie werden streiken, wenn sie so weitermacht. Sie sollte doch inzwischen gelernt haben, daß der Australier sich von einer Frau nichts befehlen läßt. Aber sie wird es schon noch lernen.« »Das lernt sie nie!« erklärte MacCurdle voller Überzeugung. 121
»Wenn die Leute die Arbeit niederlegen, sollten wir schleunigst schwimmen lernen.« »Können Sie denn nicht schwimmen?« fragte Bony verwundert. »Ich dachte, jeder Junge lernt das in der Schule.« »Ich meine lange Strecken – so zwanzig Meilen.« Das Telefon schrillte, der Manager ging hinaus, um den Hörer abzunehmen, doch das Gespräch war für Bony. Chefinspektor Macy war am Apparat. »Ich habe gerade das Gutachten über die Geschosse erhalten. Die Tür scheidet aus. Das Geschoß, mit dem Lush getötet wurde, ist nicht aus der Winchesterbüchse abgefeuert worden, die den Maddens gehört.« 20 »Ah! Da sind Sie ja! Ich habe Sie gesucht, Jill.« »Ja, Inspektor?« Das Mädchen saß an der Nähmaschine, und ihre dunklen Augen blickten Bony fest an, suchten den Grund seines Besuches zu ergründen. »Ich habe gute Nachricht für Sie, Jill«, sagte er. »Der Schuß, den Sie durch die Tür gefeuert haben, hat Lush nicht getötet. Das ist von unseren Experten eindeutig festgestellt worden. Es sei denn, Sie hatten noch ein anderes Gewehr oder eine Pistole vom Kaliber zweiunddreißig. « »Nein, es gab nur die beiden Büchsen, Inspektor.« »Dann ist der winzige Verdacht, der auf Ihnen ruhte, endlich von Ihnen genommen. Ich freue mich ehrlich darüber. Ray ist bei Mac, Sie können es ihnen ruhig sagen. Übrigens – erinnern Sie sich, daß ein gewisser Paroo Bikeman bei Ihnen nach Essen gebettelt hat?« »Ja, ich erinnere mich an ihn. Ich habe ihn einmal gesehen. Böse Augen. Vater sagte immer, dieser Mann könne an einem Tag hun-’ dert Meilen reiten. Er war einmal in Bourke, in der nächsten Woche aber schon unten in Mildura. Lush hatte Angst vor ihm. Er ließ immer durch Mutter etwas Essen hinausbringen.« »Und wann hat er zum letztenmal um Essen gebettelt?« »Acht bis zehn Tage, bevor Lush verschwand. Genau weiß ich es nicht mehr. Ich war nicht zu Hause, Mutter erzählte mir nur davon.« »Hat sie Ihnen erzählt, in welcher Richtung er weitergezogen ist?« Jill schüttelte den Kopf, doch Bony gab sich noch nicht zufrieden. 122
»Diese drei Männer, die drüben am anderen Ufer kampiert haben – man nennt sie die Brüder –, waren die in letzter Zeit auch bei Ihnen wegen Proviant?« »Nein. Ich weiß, wen Sie meinen. Die waren schon lange nicht mehr bei uns. Ich erinnere mich, daß Vater einmal gesagt hat, das seien die größten Faulenzer im ganzen Busch.« »Danke, Jill. Wenn Ihnen noch einfallen sollte, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat, bevor Lush die Tür einschlagen wollte, dann sagen Sie es mir bitte.« Während Jill mit Ray Cosgrove sprach, unterhielt sich Bony mit dem Manager. Er stellte noch einige Fragen über Paroo Bikeman und die anderen Tramps, doch MacCurdle konnte ihm nicht viel Neues erzählen. Er habe den Landstreichern hin und wieder Tabak und Konserven verkauft, meinte er. Bony sah ein, daß der Manager nicht so engen Kontakt mit diesen Leuten hatte wie der Koch. MacCurdle wußte lediglich, daß die Brüder einige Wochen am gegenüberliegenden Ufer kampiert hatten, weil er ihnen aus seinem Lager Tabak verkauft hatte. Beim Mittagessen ging es sehr schweigsam zu. Mrs. Cosgrove war verstimmt, und Bony konnte sich leicht denken, daß dies nicht nur am schlechten Wetter, sondern auch an ihrer Auseinandersetzung mit den Arbeitern lag. Einmal bemerkte er, wie Ray Jill verliebt zuzwinkerte und MacCurdle gleich darauf dem jungen Mann einen warnenden Blick zuwarf. Nach dem Mittagessen legte sich Bony aufs Bett. Er wollte sich an etwas erinnern, doch es gelang ihm nicht. Schließlich schlief er über der Grübelei ein, und als er wieder aufwachte, war es bereits vier Uhr. Es regnete immer noch. Er ging ins Büro und rief Wachtmeister Lucas an. »Die Schußwaffensachverständigen haben festgestellt, daß das Geschoß, mit dem Lush getötet wurde, nicht aus der Winchesterbüchse abgefeuert wurde, die ich Ihnen mitgegeben habe«, sagte Bony, und Lucas erwiderte, daß er darüber sehr froh sei. »Ich gebe Ihnen nun die Namen von zehn Tramps, die jetzt hier arbeiten.« Nachdem Lucas sich die Namen notiert hatte, fuhr Bony fort: »Wir wissen, wo die Brüder zur Tatzeit waren. Jacko behauptet, in Markham Downs gewesen zu sein. Harry und Mick wollen in einer Hütte am alten Waschkanal in Murrimundi kampiert haben. Würden Sie alle Angaben überprüfen?« »Selbstverständlich. Was ist mit den anderen?« 123
»Versuchen Sie festzustellen, wo sie sich zur fraglichen Zeit aufgehalten haben. Ich werde inzwischen hier mit meinen Ermittlungen fortfahren. In Ihrem Dienstbereich können sich aber auch noch andere Tramps aufhalten.« »Ich werde mein Bestes tun, Bony. Was macht bei Ihnen das Hochwasser?« »Man fürchtet, daß die Situation durch den anhaltenden Regen kritisch wird. Die Leute haben den ganzen Tag am Deich gearbeitet. Ich habe bis jetzt noch keine Schaufel in der Hand gehabt.« »Freuen Sie sich nicht zu früh, das wird schon noch kommen«, prophezeite Lucas. »Wenn der Regen anhält, wird White Bend ebenfalls abgeschnitten. Die Herren Meteorologen, die den Regen nicht vorhergesagt haben, prophezeien plötzlich, daß er nicht über Nacht anhält.« Bony beendete das Gespräch und machte es sich in dem Polstersessel bequem. Er drehte sich eine Zigarette und starrte gedankenverloren in den Papierkorb, in dem das Seidenpapier von MacCurdles Whiskyflasche lag. Wieder hatte er das Gefühl, daß er sich an etwas erinnern sollte. Zwei Sekunden später kam ihm die Erleuchtung: der kleine Fetzen Seidenpapier, den er in Madman’s Bend gefunden und wieder weggeworfen hatte! Er angelte das Seidenpapier aus dem Papierkorb und glättete es. ›Cape’s feinster Whisky‹ stand darauf, und dann noch: ›In Schottland abgefüllt‹. Plötzlich sah Bony wieder den Fetzen vor sich, den er in Madman’s Bend gefunden hatte. Am rechten, ausgefransten Rand waren noch die Buchstaben ›el‹ zu erkennen gewesen. Mit zwei Schritten war er am Telefon. »Lucas, ich habe vielleicht eine Spur. Stellen Sie bei dem Hotelier fest, ob die Whiskyflaschen, die er an dem betreffenden Abend an Lush verkauft hat, in Seidenpapier gewickelt waren, und welche Marke es war.« »In Ordnung. Bleiben Sie am Apparat, das Hotel liegt gleich gegenüber.« Seine anfängliche Ungeduld wich, und eisige Ruhe überkam ihn. Er vernahm eine Stimme, wahrscheinlich aus dem Radio, dann krähte ein Hahn, und er mußte an Jills Kookaburras denken. Er versuchte die Stimme im Büro des Wachtmeisters zu verstehen, doch da knackte es in der Leitung. Wachtmeister Lucas war zurück. 124
»Die an Lush verkauften Flaschen waren in Seidenpapier gewickelt. Es war Skilly’s Green Label Irish Whiskey. Nützt Ihnen das etwas?« »Möglich«, erwiderte Bony vorsichtig. »Vielen Dank.« Das Wort ›Label‹ endete mit den Buchstaben ›el‹. Dieses Stück Seidenpapier war so frisch und sauber gewesen, daß es gewiß erst kurz zuvor von einer Whiskyflasche gewickelt worden war. Er hatte geglaubt, daß es der Ostwind von Mira herübergeweht hatte. Der Wind hätte es aber ebensogut vom Lagerplatz der Brüder herüberwehen können, nicht aber von Lushs Lastwagen oder von der Madden-Farm. Bony suchte Jill auf, um ihr noch einige Fragen zu stellen. »Ja, Inspektor. Lush trank irischen Whisky«, bestätigte sie. »Aber ich habe auch schottischen Whisky gesehen. Die Flaschen müssen von ihm gewesen sein, denn Mutter hat das Zeug ja nicht angerührt.« »Waren sie in Seidenpapier eingewickelt?« »Ja, manche.« »Danke, Jill. Ich glaube, die Spur wird langsam warm. Was nähen Sie denn da?« »Eine Schürze für Mrs. Cosgrove. Sie bat mich darum, und ich bin froh, daß ich etwas tun kann.« »Ist Ihnen jetzt etwas leichter ums Herz?« Das Mädchen nickte, und ihre Augen leuchteten. »Sie sind sehr freundlich«, sagte sie. »Ich habe gehört, daß die anderen Sie Bony nennen. Darf ich Sie auch so rufen?« »Ich habe schon lange darauf gewartet, Jill.« Um vier Uhr ließ MacCurdle die Arbeiten einstellen. Er kam mit Ray ins Büro, beide waren durchnäßt und erschöpft. Bony begrüßte sie an der Tür zum Privatzimmer. »Dreiundsiebzig Millimeter Niederschlag!« verkündete Ray. »Und noch ist kein Ende des Regens abzusehen.« »Lucas sagte mir, daß die Meteorologen für die Nacht schönes Wetter vorhergesagt hätten.« »Den Regen haben sie auch nicht prophezeit, Bony. Und wie haben Sie die Zeit verbracht?« »Ach, ich bin lediglich herumgelungert. Ihr Whisky ist übrigens gut, Mac. Kaufen Sie eigentlich auch irischen – Skilly’s Green Label zum Beispiel?« 125
Der Schotte runzelte die Stirn. »Ich soll irischen Whisky trinken?« »Warum nicht? Ich bin kein Trinker, aber ich habe schon welchen getrunken, und er war ausgezeichnet.« MacCurdle verzog verächtlich die Mundwinkel. »Irischen Whisky trinkt man nicht, Bony. Den kippt man rasch hinunter, damit man den scheußlichen Geschmack nicht mitbekommt.« »Sie kaufen also keinen irischen Whisky?« »Hören Sie sich das an, Ray. Wir schuften im strömenden Regen, und dieser Mann redet über irischen Whisky.« »Na, ich würde mich jedenfalls nicht damit eindecken, Mac«, sagte Ray lachend, dann wandte er sich an Btony. »Mr. Sherlock Holmes, Sie können Mac glauben, daß er keinen irischen Whisky kauft. Interessieren Sie sich speziell für irischen Whisky?« »Ja, Ray. Haben Sie oder Ihre Mutter innerhalb der letzten sechs Monate ›Skilly’s Green Label‹ gekauft?« »Nein. Diese Marke habe ich hier nie gesehen. Aber in White Bend bekommt man sie. So, und nun unter die heiße Dusche, und dann trokkene Kleider!« MacCurdles Empörung hatte sich wieder gelegt. Er wolle ebenfalls duschen und sich umziehen, verkündete er und wollte gehen. »Moment, Mac – würden Sie mir noch rasch die Wetteraufzeichnungen für den laufenden und den vergangenen Monat geben?« bat Bony. Er studierte die Blätter, auf denen Windrichtung und Bewölkung aufgezeichnet waren. Westwind hatte zuletzt am 20. Juli geherrscht, am neunzehnten war er aus Nordwest gekommen. Die Windstärke war nicht verzeichnet. Nach dem Essen, beim Kaffee, kam Ray noch einmal auf den irischen Whisky zu sprechen. Er wollte wissen, warum Bony sich so sehr dafür interessierte, und der Inspektor berichtete von dem Papierfetzen, der anscheinend von einer Flasche stammte, die Lush in White Bend gekauft hatte. »Zweifellos hatte der Wind den Papierfetzen in den Busch geweht. Da ich keine menschlichen Spuren gefunden hatte, nahm ich an, daß er vom Wind über eine weite Strecke getragen worden war. Von Mira oder von der Madden-Farm oder auch von Lushs Lastwagen. Am neunzehnten des Monats wehte der Wind aus Nordwesten, und vom Fundort aus lag die Madden-Farm im Nordwesten. Am nächsten Tag kam der Wind 126
aus Westen, also von dem stehengelassenen Lastwagen. Haben Sie eine Ahnung’, wie stark der Wind an diesen beiden Tagen war?« MacCurdle meinte, es sei nicht sehr windig gewesen, bei weitem nicht so windig wie an den Tagen, an denen der Wind aus Ost und Südost gekommen war. Ray fügte hinzu, er könne es vielleicht im Arbeitstagebuch feststellen, und eilte ins Büro. Nach wenigen Minuten kam er zurück. Am zwanzigsten hätten er und Vickory mit zwei Männern beim Schurschuppen aufgeräumt. Den Unrat hätten sie verbrannt, und er erinnere sich, daß der Rauch nicht weiter gestört habe. Es habe also kein starker Wind geherrscht. »Ich bin sicher, daß auch am Vortag der Wind nicht so heftig war, daß er das Stück Seidenpapier hätte bis an die Fundstelle tragen können.« »Aber an den anderen Tagen war der Ostwind kräftig genug, um es von Mira hinüberzuwehen?« bohrte Bony weiter. »Ja, durchaus, Bony. Aber die Eukalyptusbäume bilden ein Hindernis. Sie sagen, das Papier habe völlig neu ausgesehen. Wie soll es aber an diese Stelle gelangt sein, wenn nicht durch den Wind?« »Das läßt sich nur vermuten«, erwiderte Bony achselzuckend. »Wirklich rätselhaft«, meinte Mrs. Cosgrove. »Ich war einmal mit meinem Mann in Madman’s Bend. Eine gespenstische Gegend. Halb abgestorbene Bäume, Löcher und Gräben – die reinste Mondlandschaft. Und man hat das Gefühl, daß hinter jedem umgestürzten Baum ein Buschgeist hervorlugt.« »Mir ging es ähnlich, Mrs. Cosgrove«, gab Bony offen zu, »trotzdem muß ich noch mal hin. Es wird schwierig sein, aber es läßt sich nicht vermeiden. Sie haben die Boote aus dem Fluß gezogen – warum?« »Sie lagen lange in dem Wasserloch, und da hielten wir es für angebracht, sie zu kalfatern, falls wir sie beim Hochwasser brauchen sollten. Ist das eigentlich schon geschehen, Mac?« »Sie sind frisch geteert, Mrs. Cosgrove, und können jederzeit wieder ins Wasser gelassen werden.« »Sie wollen doch wohl nicht hinüber nach Madman’s Bend rudern?« fragte Ray. »Ich habe mich dazu entschlossen, Ray.« »Aber es ist Hochwasser. Der Fluß ist reißend, voller Treibgut. Diese Baumstämme können sogar ein Schiff zum Sinken bringen.« 127
»Ich werde es schon schaffen. Mit dem Boot ist es immer noch einfacher, als wenn ich schwimmen müßte«, erwiderte Bony lächelnd.
21
D
ie Kookaburras lachten kollernd. Die Galahs ließen sich zu Hunderten nieder und veranstalteten Kunstflüge, bevor sie sich pärchenweise entfernten, um Hochzeit zu feiern. Millionen Frösche quakten im Chor. Die Sonne schien warm, und in der sandigen Ebene wiegten sich Gräser und Kräuter im Wind wie ein riesiges Weizenfeld. Bony stand auf dem Deich und betrachtete den Darling. Hinter dem Garten schoß gurgelnd das Wasser in den flachen Nebenarm. Der Fluß aber glitt in majestätischer Ruhe vorüber, passierte den Schurschuppen und das von Tramps verlassene Lager am anderen Ufer. Dieses Ufer war bedeutend niedriger, schien nur einen reichlichen Meter über der Wasserfläche zu liegen. Wie überall auf der Innenseite der Flußschleifen hatte sich auch gegenüber von Mira eine Landzunge aus weißem Sand gebildet. Es war unmöglich, an dem vom Regen schlüpfrigen Steilufer hinaufzuklettern, aber bei der Landzunge konnte man mühelos hinaufgelangen. Das felsige Ufer vor dem Deich ragte jetzt nur noch dreieinhalb Meter aus den gelblichen Fluten. Immer noch führte der Fluß Geröll und Zweige mit, ab und zu auch einen ganzen Eukalyptusbaum. Manchmal wurde die metallisch glitzernde Wasserfläche von einem Baumstamm zerteilt, der — vor langer Zeit gesunken – durch die andauernde Trokkenperiode wieder schwimmfähig geworden war. Diese Stämme konnten leicht unter ein Boot geraten und den Insassen ins Wasser werfen. Darin lag die größte Gefahr. Um den Fluß sicher zu überqueren, mußte man also genau den richtigen Zeitpunkt abpassen. Bony wog das Für und Wider sorgfältig ab. Die Risiken waren klar, der Gewinn fraglich. Er hatte das von den Brüdern verlassene Lager be128
reits gründlich abgesucht, hatte in den Abfällen herumgestochert. Und selbst, wenn er eine Flasche Green Label Whiskey finden sollte, wäre das noch kein Beweis, daß die Tramps einen Mord begangen hatten, denn sie besaßen Geld, hatten sich Tabak und Nahrungsmittel gekauft, und da konnten sie sich ebensogut Whisky gekauft haben. Nun stellte ihn das steigende Hochwasser vor die Wahl, sich entweder geschlagen zu geben oder sich schnellstens noch einmal am anderen Ufer umzusehen. Bis zum kommenden Abend würde es überflutet sein – Madman’s Bend war dann nur noch ein riesiger See. »Es wäre Wahnsinn, wenn Sie es versuchen«, sagte Mrs. Cosgrove, und ihr Sohn, der auf der anderen Seite von Bony stand, pflichtete ihr mit sorgenvollem Gesicht bei. »Es ist doch möglich, dicht am Ufer flußaufwärts bis zu dem Wasserloch zu rudern, in dem Lush lag«, erklärte Bony. »Dann müßte man rasch den Fluß überqueren, wobei man von der Strömung flußabwärts getrieben wird, so daß man dort drüben bei dieser Landzunge anlegen kann.« »Klingt durchaus vernünftig, ist aber verdammt gefährlich«, erwiderte Ray. »Und wie wollen Sie zurückkommen?« »Auf die umgekehrte Weise. Am gegenüberliegenden Ufer hinauf, dann wird der Fluß überquert, und ich lande genau wieder hier.« »Was hoffen Sie eigentlich da drüben zu finden?« fragte Mrs. Cosgrove. »Etwas, das ich bei meinem letzten Besuch übersehen habe.« »Sie wissen also gar nicht, was Sie eigentlich suchen?« Bony seufzte, zuckte die Achseln und drehte sich eine Zigarette. »Ich habe bisher viele Fälle erfolgreich gelöst«, murmelte er wie im Selbstgespräch. »Dazu gehört Geduld, Ausdauer und scharfe Beobachtungsgabe. Dabei hatte ich stets einen guten Verbündeten: die Zeit. Sollte es mir diesmal nicht gelingen, den Fall zu klären, wird niemand gelten lassen, daß das Hochwasser daran schuld war. Noch schlimmer aber wären die Selbstvorwürfe, die ich mir machen würde. Ich müßte mir doch immer wieder sagen, daß ich auch diesmal erfolgreich gewesen wäre, wenn ich nur den Fluß überquert hätte.« »Dann ist es besser, Sie machen sich so schnell wie möglich auf den Weg«, riet Ray Cosgrove. »Ich helfe Ihnen, das Boot zu Wasser zu bringen.« 129
»Da werde ich nicht zusehen«, erklärte seine Mutter energisch und marschierte davon. Ray führte Bony zu dem nahegelegenen Schuppen, in dem die beiden Boote auf Böcken ruhten. Er riet Bony, das kleinere zu wählen, denn es sei leichter zu dirigieren. Sie drehten es um und legten es auf den Bootswagen. »Nehmen Sie ein Reserveruder mit, Bony. Sie könnten eins verlieren. Man weiß ja nie, wie es kommt.« Unterhalb der Pumpenstation wurde das Boot ins Wasser gelassen. Ray hielt es am Heck fest, damit Bony einsteigen konnte. »Sie können doch rudern, nehme ich an?« fragte Ray. »Aber wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, setzen Sie sich mit dem Gesicht zum Bug – dann sehen Sie, wohin Sie rudern.« »Wird schon alles gutgehen«, rief Bony über die Schulter zurück und legte die Riemen ein. »Stoßen Sie mich ab, und vielen Dank.« Er spürte, wie das Boot davonglitt und das Heck tiefer einsank. Dann erbebte das Boot, Wasser spritzte auf. Er glaubte, Ray sei ins Wasser gestürzt, und wollte gerade wenden, als er die Stimme des jungen Mannes vernahm. »Volle Kraft voraus, Bony, oder wir werden in den Nebenarm getrieben!« »Sie Dummkopf! Weshalb kommen Sie mit?« »Weil Sie nicht dicht genug am Ufer bleiben können, wenn Sie das Steuerbordruder benützen. Ich aber kann vom Heck aus das Boot dicht am Ufer halten.« Nachdem sie den Nebenarm passiert hatten, erhielt Bony die Anweisung, die Ruder einzuziehen. Er drehte sich um und wetterte los. Ray stand am Heck und ließ das Boot einen knappen halben Meter von dem steilen schlüpfrigen Ufer entfernt entlanggleiten. »Halten Sie doch den Mund, Bony. Ich habe jetzt das Kommando. Sparen Sie sich Ihren Atem für das Rudern auf, da werden Sie ihn bitter nötig haben.« »Sie sind verrückt!« rief Bony ärgerlich. »Ihre Mutter wird mir Vorwürfe machen, daß ich Sie dieser Gefahr ausgesetzt habe. Drehen Sie sofort um!« »Tun Sie Ihre Pflicht, Sir. Bis jetzt klappt alles wunderbar.« 130
Bony gab es auf. Es war auch bereits zu spät zum Umkehren. Auf der einen Seite glitt langsam das Ufer vorbei, auf der anderen etwas schneller ein gewaltiger Baum, der mit seinen Ästen nach der kleinen Nußschale zu greifen schien. Bony wurde ungeduldig, weil er untätig dasitzen mußte. Schließlich wollte Ray wissen, ob sie nun weit genug flußaufwärts seien, um an die Überquerung denken zu können. »Was meinen Sie?« fragte Bony zurück, denn er verhehlte sich nicht, daß der junge Mann viel größere Erfahrung hatte als er. »Es, dürfte genügen. Jetzt wollen wir erst mal sehen, was alles angetrieben kommt. Gut! Weit und breit kein Baumstamm. Jetzt rudern Sie wie der Teufel!« Bony ruderte mit allen Kräften, während Ray sich bemühte, den Bug leicht flußaufwärts gerichtet zu halten. Die Strömung erfaßte sie. Die Bäume am anderen Ufer schienen plötzlich meilenweit entfernt und in rasender Geschwindigkeit vorüberzutreiben. Ray pfiff unbeschwert ein Marschlied. Plötzlich erfaßte Bony mit dem Steuerbordruder einen harten Gegenstand, dicht neben dem Boot tauchte ein Baumstamm auf. Glücklicherweise glitt er bereits davon, und als Bony das Ruder wieder ins Wasser tauchte, war der Stamm versunken. »Verstehen Sie jetzt, was ich vorhin gemeint habe, Bony?« rief Cosgrove ’fröhlich. »Diese Dinger bringen glatt ein Schlachtschiff zum Kentern. Und jetzt los!« Ein dicker Ast trieb auf sie zu, Ray mußte den Bug genau stromaufwärts richten, um ihn vorbeizulassen. Bis zum Ufer mochten es noch fünfzig Meter sein. Als sie dicht am Ufer das stehende Wasser erreichten, atmete Bony erleichtert auf. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Ray Cosgrove hätte er es wohl nicht geschafft. Als der Bug auf die Landzunge stieß, warf Bony den Anker aus und sprang an Land. Er zog den Bug noch ein wenig weiter aus dem Wasser, und Ray kletterte ebenfalls heraus. »Hat tadellos geklappt, Bony. Jetzt haben wir uns eine Zigarette verdient.« »Wir haben Zuschauer, Ray.« Auf dem Deich standen der Koch, Jacko und Mrs. Cosgrove. Die Entfernung war zu groß, um ihre Gesichter zu erkennen, doch der junge Mann wußte auch so Bescheid. 131
»Meine Mutter wird toben, wenn ich zurückkomme.« »Das haben Sie auch verdient«, erwiderte Bony ernst. »Ich will nicht undankbar sein, aber ich kann Ihr Verhalten nicht gutheißen. So, und nun wollen wir gehen.« Sie stiegen zum Ufer hinauf, und nun konnten sie sehen, daß zwischen den Bäumen von Madman’s Bend Wasser stand. Fast im gleichen Moment erblickten sie eine Rautenschlange, die ungefähr zweieinhalb Meter lang sein mochte. Sie mußten damit rechnen, noch vielen Schlangen zu begegnen, denn sie waren durch das Hochwasser hier zusammengedrängt worden. Sie bewaffneten sich mit Stöcken und gingen unter den Eukalyptusbäumen entlang. Viele Stellen hatten sich in tiefen Morast verwandelt. Vom Schurschuppen herüber drang Motorengeräusch, und weil niemand am Lagerfeuer saß, nahm Bony an, daß auch Totenmarsch-Harry und Kittchen-Mick arbeiteten. Die beiden Männer gelangten schließlich zu der Stelle, an der die drei Tramps gelagert hatten. Bony bat Ray, sich auf einen Baumstumpf zu setzen und sich ganz ruhig zu verhalten, damit er sich darauf konzentrieren könne, den vom Regen aufgeweichten Boden zu untersuchen. Abgeschnittene Stangen bewiesen, daß jeder der drei Brüder sich ein Giebelzelt errichtet hatte, in dem sie aus Laub dicke Matratzen gebaut hatten. Dies entsprach der üblichen Praxis, wenn jemand mehrere Nächte an demselben Platz lagern wollte. Bony durchstöberte die Laubmatratzen in der Hoffnung, daß einer der Brüder vielleicht einen Wertgegenstand versteckt und vergessen hatte, aber er fand nichts. Er bemerkte noch zwei weitere Laubmatratzen und untersuchte auch sie. Plötzlich wurde er gewahr, daß hier die Zeltstangen fehlten. Außer den drei Brüdern hatten also noch zwei Männer hier kampiert. Nun mußte er herausfinden, wer diese beiden gewesen waren. Eingedenk der Ameisen hatten die Brüder ihre Abfälle rund zwanzig Meter vom Lager entfernt in ein Loch geworfen. Leere Flaschen von Tomaten-Ketchup und Worcestersoße, einige Spirituosenflaschen und viele Bierflaschen lagen da. Bony fragte Ray, ob bei irischem Whisky der Name des Destillateurs auf der Flasche stünde. So sei es, erwiderte Ray, doch Bony konnte-kei132
ne Flasche von Skilly finden. Aber er stellte fest, daß ein Hund bei dem Abfallhaufen gewesen war, seit es zu regnen angefangen hatte. Der Ostwind hatte Zeitungspapier gegen Büsche und Bäume geweht, wo es trotz des Regens hängengeblieben war. Von Seidenpapier war keine Spur zu entdecken. »Nun, haben Sie etwas gefunden?« fragte Ray, als sich Bony zu ihm setzte und eine Zigarette rauchte. »Nichts von Bedeutung. Immerhin, hier haben fünf Männer gelagert und nicht nur drei. Die Brüder hatten zwei Gäste.« »Schade! Dann war unser Ausflug also umsonst. Na ja, war mal ’ne Abwechslung.« »Auf dem Rückweg bedauern Sie vielleicht, mitgekommen zu sein.« »Ach was, wir kommen schon wieder glatt hinüber«, meinte der junge Mann zuversichtlich. »Herrgott, sehen Sie sich das an!« Ein kleiner Hund äußerst zweifelhafter Abstammung stand vor dem Abfallhaufen und blickte zu den beiden Männern hinüber. Der Schwanz wedelte nur langsam, als sei sich das Tier über die Fremden im Zweifel. Als Ray pfiff, begann der Schwanz allerdings sofort schneller zu wackeln, und der Hund näherte sich mit zufriedenem Knurren. Seine Flanken waren vor Hunger ganz eingefallen. »Die Brüder müssen das Tier zurückgelassen haben«, sagte Ray und schnippte mit den Fingern. Der Hund kam auch sofort zu ihm und rollte sich zusammen. »Es ist eine Hündin, die geworfen hat. Wahrscheinlich hat sie die Welpen versteckt und will sie nicht im Stich lassen.« Ray sprach leise auf das Tier ein, fragte nach den Kleinen, wo es sie versteckt habe. Bony untersuchte inzwischen noch einmal den Lagerplatz, und weil er nun den Hund gesehen hatte, suchte er nach Knochen, fand aber keine. Die Hündin trottete langsam tiefer in die Flußbiegung, und Ray folgte ihr. Bony wühlte nochmals in den Laubmatratzen, und gerade als Ray nach ihm rief, wurde seine Ausdauer belohnt: er fand eine unbenutzte zweiunddreißiger Patrone. Er steckte sie in die Tasche und durchwühlte das Laub mit den Händen, doch ohne Erfolg. Er ging hinüber zu Ray, der am Ende eines dikken, vom Sturm heruntergerissenen Astes stand. Jetzt wurde es klar, warum auf dem Abfallhaufen Knochen gefehlt hatten: die halbverhungerte Hündin hatte alle hierhergeholt. 133
»Die Welpen sind da drin«, erklärte Ray und deutete in das zersplitterte und ausgehöhlte Ende des Astes. »Man hört sie. Ich habe schon hineingelangt, aber ich kann sie nicht erreichen.« »Das ist ein Problem. Wir können sie doch nicht hierlassen.« Bony war gezwungen, seine Überlegungen über die gefundene Patrone und zwei unbekannte Männer abzubrechen und sich dieser neuen Frage zuzuwenden. »Wenn wir ein Stück Draht hätten -« »Draht! Wenn es weiter nichts ist. Gleich da vorn ist ein alter Zaun. Wieviel benötigen Sie?« »Ungefähr zwei Meter. Holen Sie den Draht, ich versuche inzwischen, die Mutter herauszulocken.« Ray Cosgrove verschwand, Bony hockte sich nieder und pfiff, während er zärtlich über die Patrone in seiner Tasche strich.
22
B
ony hielt die Hündin fest, als Ray mit dem Draht zurückkehrte. »Ich möchte den Draht nur im äußersten Notfall verwenden, Ray. Ob wir den Ast nicht aufrichten können, damit die Welpen herauspurzeln?« »Ein Versuch könnte nichts schaden.« »Unsere junge Mutter können wir allerdings nicht freilassen, denn wir haben außer dem Draht nichts, womit wir sie festbinden könnten. Also halten Sie den Hund fest.« Hätte das, Tier ein Halsband getragen, wäre alles ganz einfach gewesen. Der Draht war zwar alt, aber immer noch steif. Schließlich gelang es Bony, eine Schlinge zu biegen, die sich nicht zuziehen konnte. Damit wurde die Hündin an einem Baum festgebunden. Die Bemühungen, den schweren Ast aufzurichten, schlugen fehl. Sie rauchten deshalb eine Zigarette und berieten die weiteren Schritte. 134
»Nun müssen wir, um helfen zu können, weh tun«, entschied Bony. »Morgen wird das ganze Gebiet unter Wasser stehen. Sie werden die Hündin festhalten müssen, denn die Welpen werden jammern.« »Ja, sie wird wild werden, Bony.« Die Hündin wurde von dem Draht befreit. Bony bog ihn gerade und wählte das gezackte Ende. Er legte sich lang auf den Boden, führte den Draht vorsichtig in den hohlen Ast ein. Als einer der Welpen erschrocken aufjaulte, preßte er den Draht fest gegen das Tier und drehte langsam. Das ausgezackte Ende verfing sich in den Haaren, und trotz heftigen Protestes zog Bony den Welpen aus dem hohlen Ast. Die Augen des Kleinen waren noch geschlossen. Die Hündin, die sich wie wild gebärdet hatte, beruhigte sich sofort etwas, als Bony ihr den Welpen hinlegte. Der zweite Versuch klappte nicht so gut, das Hundebaby protestierte lautstark. Die Nummern drei und vier jammerten gotterbärmlich. Nummer fünf schien einen besonderen Spaß daran zu finden, Verstecken zu spielen. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis Bony ihn endlich erwischte. »Ich kann keinen weiter hören«, rief Bony. »Ist einer verletzt?« »Der eine hat ein paar Haare eingebüßt, und zwei haben ein paar Kratzer abbekommen. Dieser Trick ist wirklich gut.« »Eine Eingeborenenfrau holte damit Karnickel aus dem Bau. Die Schwarzen sind sehr erfinderisch, wenn es darum geht, schwere Arbeit zu vermeiden.« »Und was nun?« Die Hündin hatte sich inzwischen beruhigt. Gemeinsam trugen sie die Welpen zum Boot. MacCurdle werde ihn für verrückt erklären, meinte Ray Cosgrove, denn wer bringe schon fünf Bastarde mit, die später nur unter den Schafen wildern würden. »Es konnten ja keine Kelpies oder Collies sein«, brummte er ärgerlich. »Nein, es mußten ganz gewöhnliche Bastarde sein. Wahrscheinlich werden wir sie erschießen müssen. Na ja, das soll Mac selbst erledigen. Ich kann es nicht, nach all der Mühe, die wir mit ihnen hatten.« Sie setzten sich an das feuchte Ufer, während die Hündin ihre Kleinen säugte. Bony starrte gedankenverloren auf den Fluß. »Das Wasser verändert doch seine Farbe!« sagte er plötzlich. »Oder bilde ich es mir nur ein?« 135
»Nein, Sie täuschen sich nicht. Es wird rot. Jetzt kommt das Wasser vom Red Creek. Sieht aus wie Blut. Drüben werden es immer mehr Zuschauer.« Der Koch in seiner weißen Schürze stand da, daneben Jacko und Vikkory und noch einige andere Männer. Bony sah nach dem Stand der Sonne. »Schon zwölf vorbei, Ray. Essenszeit. Fahren wir los?« »In Ordnung.« Die Hunde wurden im Bug untergebracht, Bony setzte sich wieder mit dem Blick nach vorn und packte die Ruder. Ray stand am Heck und stakte dicht am Ufer stromaufwärts. Diesmal schien es allerdings nicht so glatt zu gehen, denn zweihundert Meter oberhalb der Landzunge gab es dicht am Ufer einen Strudel. Flußabwärts hatten sie diese Stelle mühelos passieren können, doch nun konnte es geschehen, daß sie durch die Trift in die Hauptströmung gedrückt und flußabwärts getrieben wurden. »Ich könnte ein Ruder benützen«, rief Ray und hängte das Außenruder in die Dolle. Ohne dieses zusätzliche Ruder hätte wohl die Strömung die Oberhand behalten, so aber schob sich das Boot weiter flußaufwärts. Die beiden Männer beobachteten die Wasserfläche, um den rechten Moment zum Überqueren zu erhaschen. Sie ließen verschiedenes Treibgut passieren, darunter zwei gewaltige Baumstämme. Schließlich konnten sie die Überquerung wagen, und Bony war erneut froh, daß Ray Cosgrove mitgekommen war. Nach einigen bangen Minuten wurden sie von den am Ufer Stehenden mit Hallo begrüßt. Mrs. Cosgrove warf Bony einen vernichtenden Blick zu, dann fiel sie über ihren Sohn her. Vickory wollte wissen, was sie zu dieser Wahnsinnstat veranlaßt habe, und schnaufte verächtlich, als Bony erwiderte, daß sie einen Hund hätten bellen hören, den sie vor der steigenden Flut gerettet hätten. »Das ist ja unser Hund«, rief einer der Brüder. »Er verschwand drei oder vier Tage, bevor wir das Lager verließen.« »Die Kleinen müssen wir beseitigen, Silas. Schade, daß Sie sie mitgebracht haben, Inspektor.« 136
»Wir konnten sie doch nicht zurücklassen, nachdem die Mutter uns zu ihren Kleinen geführt hatte«, protestierte Bony. »Sie steckten in einem hohlen Ast.« Mrs. Cosgrove war mit ihrem Sohn bereits nach Hause gegangen. Die Brüder zogen mit ihrem Hund und den Welpen ebenfalls ab. Bony unterließ es wohlweislich, sich später nach ihnen zu erkundigen. Vor dem Mittagessen entschuldigte sich Mrs. Cosgrove bei Bony, weil sie ihm wegen ihres Sohnes Vorwürfe gemacht hatte. Ray habe ihr eingestanden, daß er gegen Bonys ausdrücklichen Willen mitgefahren sei. »Offen gestanden, ich war froh, daß er mitgekommen ist, Mrs. Cosgrove. Allein hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft. Haben Sie eigentlich jemandem erzählt, warum ich hinübergefahren bin?« »Nein.« Sie lächelte gezwungen, und Bony fragte sich, ob sie immer noch ärgerlich auf ihn sei. »Die Geschichte, die Sie den Leuten erzählt haben, war reichlich dünn, wie?« »Ich hielt sie für gut«, erwiderte Bony lachend. »Besser eine dünne Geschichte als gar keine. Und Sie sollten stolz sein auf Ray. Er ist ein unerschrockener, rasch entschlossener junger Mann.« »Ich bin auch stolz auf ihn. Ja, er ist unerschrocken. Aber Sie hätten beide dieses Risiko nicht eingehen dürfen. Sie haben mir bange Minuten bereitet, und ich hoffe nur, daß es sich auch gelohnt hat.« »Ja, es hat sich gelohnt.« Bony strahlte sie an. »Wir haben ja die Hunde gerettet.« »Bony, manchmal erinnern Sie mich an meinen Mann. Er war auch immer so spöttisch. Aber ich freue mich trotzdem, daß Sie Erfolg hatten. Und nun wollen wir essen gehen.« Nach dem Essen bat Bony MacCurdle um eine Karte der Umgebung, und er erhielt ein großes Blatt, auf dem alle Farmen, Brükken und Fähren eingezeichnet waren. Neben die Schafstation Markham Downs schrieb er: ›Jacko während der Tatzeit bis zum nächsten Morgen.‹ Bei Murrimundi notierte er: ›TotenmarschHarry und Kittchen-Mick.‹ Dann rief er Wachtmeister Lucas an. »Wenn Sie den Chauffeur des Postautos sehen, fragen Sie ihn bitte, ob er für die drei Brüder Pakete gehabt hat. Innerhalb der letzten vier Monate. Dann erkundigen Sie sich in der Gemischtwarenhandlung, wer in dieser Zeit Patronen vom Kaliber zwounddreißig gekauft hat. Gibt es sonst noch was?« 137
»Nicht viel, Bony. An dem fraglichen Abend hat Wally Watts in der Küche von Dunlop um Essen gebettelt, und Paroo Bikeman wurde gesehen, wie er in der Nacht zuvor im Schurschuppen von The Crossing kampiert hat. Über Bosun Dean und Champion habe ich bis jetzt nichts in Erfahrung bringen können, aber ich werde mich weiter umhören.« »Danke, Lucas.« »Was macht bei Ihnen das Hochwasser? Durch den Regen wird es noch weiter ansteigen. Wieviel Niederschlag hatten Sie denn?« »Reichlich hundert Millimeter«, erwiderte Bony. »Genau wie hier. Dann ist die Trockenperiode endlich vorbei.« Sie beendeten das Telefongespräch, und Bony schrieb neben die Dunlop-Farm den Namen Wally Watts und bei The Crossing Paroo Bikeman. Der Aufenthalt des letzteren war interessant. The Crossing lag sechzig Meilen flußaufwärts. von Mira, aber diese Entfernung hatte bei Paroo Bikeman nichts zu bedeuten – er konnte in der fraglichen Nacht also durchaus in der Nähe des Tatorts gewesen sein. Die DunlopFarm lag ungefähr fünfundzwanzig Meilen flußaufwärts, und es war unwahrscheinlich, daß Wally Watts diese Entfernung an einem Tag zurückgelegt hatte, wenn er auch groß und kräftig war. Um an einem Tag fünfundzwanzig Meilen zu marschieren, mußte man schon ein ganz bestimmtes Ziel haben, doch von diesen Stromern besaß wohl keiner mehr die nötige Energie. Bony verließ das Büro und schlenderte zur Pumpenstation. Das Wasser strömte jetzt bedeutend schneller in den Nebenarm, es war merklich rot gefärbt. Der Fluß führte wieder mehr Treibgut, es war wahrscheinlich durch den Regen aus den Nebenflüssen und Bächen angeschwemmt worden. Der Koch bereitete die Vesper vor, die mit einem Lastwagen zu den Arbeitern am Deich gebracht wurde. »Kommen Sie herein und trinken Sie eine Tasse Tee mit, Inspektor«, rief der Koch. »Na, wie gefällt Ihnen unser Darling River? Morgen früh wird er rot sein wie Blut. Vor drei Jahren war es genauso, aber da war kein Hochwasser. Eben noch war der Fluß klar und rein wie Quellwasser und im nächsten Augenblick blutrot.« »Es ist das Wasser vom Red Creek, habe ich gehört. Der Fluß führt jetzt auch wieder mehr Treibgut.« Der Koch packte Kuchen in einen Karton und blickte auf. 138
»Sie haben sich ja mit Ray ein tolles Stück geleistet! Nicht für eine Million wäre ich hinübergerudert. Ich war schon ganz seekrank vom Zusehen. Kein Wunder, daß die Chefin in die Luft ging.« Der Koch hieß Fred, und nachdem er vor der Küchentür den Triangel angeschlagen hatte, füllte er die beiden Becher nach. »Ist Jacko in der Nähe?« fragte Bony. »Ich habe ihm von drei bis fünf freigegeben. Ganz anständiger Kerl. Die meisten von diesen Landstreichern sind ganz in Ordnung. Ich bin selbst mal ’ne Weile getrampt. Das haben wohl die meisten von uns gemacht. Schließlich will man doch sehen, was hinter dem Berg liegt.« »Stimmt genau«, pflichtete Bony bei. »Mir geht’s genauso. Und nun hätte ich noch ein paar Fragen.« »Nur heraus damit.« »Haben in der Nacht, in der Lush seinen Wagen stehenließ, unten beim Schuppen Tramps kampiert?« »Das weiß ich nicht. Aber am Nachmittag kam der alte Peter Petersen in die Küche. Ich habe ihn noch gewaltig angefahren, weil ich kaum fünf Minuten die Augen geschlossen hatte. Ich sagte ihm, daß er um diese Zeit hier nichts zu suchen hätte, und er meinte, er habe seit dem Vortag nichts mehr gegessen. Ich weiß allerdings nicht, ob er hier geschlafen hat.« Ein Auto näherte sich, und Fred warf Teeblätter in zwei neue Kübel und goß kochendes Wasser darüber. Dann stellte er die Kübel vor die Tür. Der Lastwagen hielt an, ein Mann kam in die Küche, holte die vorbereitete Vesper und fuhr zum Deich. Der Koch setzte sich wieder und stopfte seine Pfeife. »Haben die Brüder viel geschossen, als sie drüben am anderen Ufer lagerten?« fragte Bony. »Das glaube ich nicht. Ich habe keine Schüsse gehört. Diese Tramps haben normalerweise keine Gewehre bei sich. Sie haben ja auch so schon genug mitzuschleppen. Angelschnuren, ja – die haben sie. Ich besaß mal ein Gewehr, aber da habe ich ein Fahrrad geschoben. Man kann ja unerhört viel auf ein Rad packen. Ich kannte einen, der hatte die Pedale abgeschraubt, damit er sein Rad besser schieben konnte.« »Na, jetzt wird wohl so bald niemand angeln können.« »Genau, Inspektor. Aber wenn das Hochwasser zurückgeht und die Niederungen austrocknen, werden die Fische in den Teichen und Tüm139
peln geradezu danach schreien, herausgeholt zu werden. Ich habe mal eine siebenundzwanzigpfündige Aalrutte gefangen. Dann traf ich Petersen, und wir haben eine Woche lang von Fisch gelebt. Schließlich bekam ich Heißhunger auf Hammelfleisch und ging kurzentschlossen als Koch nach Netley.« Bony heuchelte noch einige Minuten lang Interesse für die Angelei, dann lenkte er das Gespräch unauffällig auf Petersen. »Wie alt ist er eigentlich?« »Ach, um die Sechzig. Er ist nicht so alt, wie er aussieht. Er ist ein tüchtiger Schmied. Könnte überall sofort Arbeit finden, aber seit zehn Jahren vagabundiert er herum. Ich hab’ mal gehört, er hätte einen Revolver. Ich selbst habe das Ding nie gesehen. Petersen ist immer allein auf Walze, da kommt so ein Schießeisen manchmal ganz gelegen. Man trifft ab und zu üble Gesellen, besonders in der Schurzeit.« »Leute hier aus der Gegend?« »Ach was, die sind in Ordnung! Dieses Gesindel kommt aus den Städten. Und da die Schafschur in der Hauptsache vorüber ist, könnte es durchaus so ein Kerl aus der Stadt gewesen sein, der Lush umgelegt hat.«
23
B
ony trug den Namen Petersen auf seiner Karte ein. Er saß immer noch im Büro, als die Männer die Arbeit am Deich beendeten. Kurz darauf trat der Manager ein. »Wenn ich wieder mal auf die Welt komme, werde ich auch Kriminalbeamter«, spöttelte er. »Dann kann ich auch am Vormittag eine Bootspartie machen und am Nachmittag Spazierengehen. Ich bezweifle zwar, daß Sie einen Schluck verdient haben – aber warum haben Sie sich nicht bedient?« »Ich hatte keinen Appetit auf Whisky, Mac. Wie war’s bei Ihnen?« 140
»Schlecht. Die Erde ist feucht und schwer. Die Arbeit geht nur langsam voran.« »Hat die Chefin viel dazwischengeredet?« »Heute nicht. Ich mußte gestern hart bleiben.« Der Schotte lächelte. »Ich dachte nämlich gestern, die Leute werfen die Arbeit hin. Heute morgen hat die Chefin die Prämie erhöht. Dafür hat sie ihren Ärger an Ray ausgelassen, weil er mit Ihnen drüben in Madman’s Bend war.« »Es war mein Glück. Allein hätte ich es wahrscheinlich gar nicht geschafft.« MacCurdle nippte an seinem Whisky. »Hat sich denn das Risiko gelohnt?« »Ja, Mac. Ich bin wieder einen Schritt weiter. Haben Sie übrigens gehört, daß die Brüder geschossen haben, als sie drüben ihr Lager hatten?« »Nein, nicht daß ich wüßte. Warum?« »Verkaufen Sie hier auch Munition?« »Nein. Ich habe nicht mal welche auf Lager.« »Und wie steht es damit bei den anderen Schafstationen?« »Ich glaube nicht, daß sie Munition führen. Sehen Sie, hier am Fluß führt man Kleidung und persönlichen Bedarf. Drüben im Westen, wo mit den Eingeborenen Handel getrieben wird, führt man auch Munition. Sie darf allerdings nicht an die Eingeborenen verkauft werden, sondern nur an Weiße.« Bony verschwieg, daß er die Verhältnisse im Westen sehr gut kannte, und wandte sich einem anderen Thema zu. »Haben Sie jemals im Briefkasten Post gefunden, die jemand dort hingelegt hat, oder hat der Postbote Briefe hineingelegt, die für jemand bestimmt waren, der nicht auf Mira arbeitet?« »Ja, aber nur sehr selten. Das letztemal war es ein Brief für Silas Wishart. Zwei Tage später lag ein Brief für den Postboten im Kasten.« »Und Pakete, Mac?« »Pakete nicht.« »Nur noch eins: die Brüder haben wochenlang am gegenüberliegenden Ufer kampiert. Ich finde das seltsam. Diese Landstreicher sind doch sonst ununterbrochen auf der Walze. Können Sie mir das erklären?« »Das dürfte keinen besonderen Grund haben«, entgegnete MacCurdle. »Die drei nehmen nur gemeinsam Arbeit an. Während der Schaf141
schur haben sie bei uns gearbeitet, dann waren sie zwei oder drei Tage in White Bend. Anschließend haben sie in Madman’s Bend ihr Lager aufgeschlagen. Das Gebiet gehört zu Murrimundi, aber Sie haben ja selbst gesehen, es handelt sich um Brachland, und da sich die Männer anständig aufgeführt haben, hatten wir auch nichts dagegen.« Das Telefon klingelte, MacCurdle reichte Bony den Hörer und verschwand aus dem Büro. Lucas meldete, daß der Gemischtwarenhändler sehr hilfsbereit gewesen sei und ihm eine Liste der Leute gegeben habe, die zweiunddreißiger Munition gekauft hätten. William Lush und Raymond Cosgrove befanden sich darunter. Lucas erklärte, daß er sämtliche Kunden kenne, aber gegen keinen liege etwas vor. Wegen der Pakete hatte der Wachtmeister mit dem Postchauffeur gesprochen. Zweimal hatten die Brüder Pakete bekommen. Einer von ihnen hatte jedesmal eine Meile südlich der Briefkästen auf das Postauto gewartet. Das eine Paket war vom Hotel gekommen und hatte sechs Flaschen Whisky enthalten, das andere ein Paar Stiefel und drei Hemden. Außerdem hatte Lucas noch drei Namen für Bonys Landkarte. Bosun Dean hatte im Schurschuppen von Murrimundi geschlafen, Champion und Miner Smith waren beobachtet worden, wie sie am anderen Ufer des Darling zwei Meilen nördlich von Murrimundi gefischt hatten. Bony setzte auch diese Namen auf die Karte, doch einen Hinweis auf den Mörder von Lush hatte er immer noch nicht. Bis auf Wally Watts waren alle verdächtig. Selbst bei Jacko hatte er lediglich dessen Wort, daß er in Markham Downs übernachtet habe. Aber auch Raymond Cosgrove war verdächtig, und Bony entschloß sich, ihm auf den Zahn zu fühlen. Nach dem Abendessen bat er den jungen Mann in MacCurdles Privatzimmer, und nachdem er die Tür geschlossen hatte, begann er sofort mit dem Verhör. »Besitzen Sie ein Gewehr Kaliber zweiunddreißig?« »Ja. Möchten Sie es sich ausleihen?« »Wenn Sie nichts dagegen haben, ja«, erwiderte Bony. »Ich möchte nämlich gern damit sechs Schuß abfeuern und die Geschosse an die Kriminaltechniker einsenden.« »Geht in Ordnung.« Ray lächelte, doch plötzlich riß er die Augen auf. »Glauben Sie etwa, ich hätte Lush erschossen?« 142
»Ich halte es nicht für unmöglich. Es gibt eine ganze Menge Leute, die ihn alle erschossen haben könnten, aber bis jetzt habe ich bei keinem ein Motiv gefunden. Sie hätten ein Motiv gehabt. Sie hätten die Möglichkeit gehabt. Und Sie besitzen auch ein Gewehr mit dem entsprechenden Kaliber. Zunächst das Motiv: Sie lieben Jill, und Jill liebt Sie. Anscheinend sind Sie der erste, der den verlassenen Lastwagen entdeckt hat. Vielleicht kamen Sie gerade dazu, als Lush an seinem Wagen herumbastelte, und da dachten Sie daran, wie brutal er sich gegen Frau und Stieftochter benahm. Das könnte für Sie die Veranlassung gewesen sein, ihn zu erschießen und die Leiche über den Klippenrand zu werfen.« »So ein Unsinn!« stieß Ray aus, und seine Augen funkelten. »Gewiß.« Bonys Stimme klang ganz ruhig. »Deshalb möchte ich ja Ihr Gewehr haben und ein paar Schüsse abgeben. Und falls noch andere Gewehre dieses Kalibers vorhanden sein sollten, möchte ich auch diese haben. Gibt es noch andere?« »Hier nicht, aber Vickory besitzt eins.« »Gut. Morgen werde ich mir Ihres ansehen. Nun noch etwas: haben Sie irgendwann einmal Patronen verkauft oder verschenkt?« Ray schüttelte den Kopf. »Wäre es Ihnen aufgefallen, wenn sich jemand ein paar Patronen von Ihrem Vorrat genommen hätte?« »Ja, unbedingt. Meine Munition war ausgegangen, und da ließ ich mir vor zwei Wochen aus White Bend einen neuen Vorrat kommen. Die Schachteln habe ich überhaupt noch nicht geöffnet.« »Holen Sie doch bitte die Schachteln und das Gewehr.« Bony drehte sich nachdenklich eine Zigarette. Er war überzeugt, daß Ray unschuldig war, denn der junge Mann hatte sich viel zu unbefangen benommen. Ray brachte das Gewehr, das tadellos gepflegt war, dazu drei Schachteln Munition. Dies entsprach genau Lucas’ Bericht. »Und niemand hat sich das Gewehr ausgeborgt?« fragte Bony, aber er kannte die Antwort schon im voraus. »Haben Sie eigentlich gehört, daß die Brüder drüben in Madman’s Bend geschossen haben – oder jemand anders?« Ray erwiderte, er habe seit Monaten keinen Schuß gehört, und früher habe nur Lush in Madman’s Bend gejagt. »Sie halten es also für möglich, daß ich ihn erschossen habe?« 143
»Für möglich, Ray, aber für unwahrscheinlich. Wußten Sie, daß außer den Brüdern noch zwei Männer da drüben kampiert haben?« »Nein, aber Sie erwähnten es ja heute morgen.« »Ich habe ganz einfach zu früh mit meinen Ermittlungen begonnen«, sagte Bony und starrte auf seine Schuhe. »Als ich die Lagerstelle zum erstenmal besuchte – es war an dem Tag, an dem das Hochwasser kam –, war ich beinahe überzeugt, daß Lush noch lebt, weil ich ziemlich sicher war, daß Jills Schuß ihn nicht getötet hatte. Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich denken soll. Immer wieder frage ich mich, ob Sie der Mörder sind. Sie werden gewiß verstehen, warum.« »Ich verstehe Sie vollkommen, Bony. Wie Sie schon sagten: Ich hatte das Motiv, ich hatte die Gelegenheit, und ich hatte die entsprechende Waffe. Schließlich wären Sie ein schlechter Polizeibeamter, wenn Sie mich da nicht verdächtigen wollten. Ich nehme es Ihnen nicht übel.« »Das freut mich, Ray. Wissen Sie, ob hier auf Mira jemand einen Revolver oder eine Pistole besitzt?« »Soviel ich weiß, niemand. Wozu sollten wir auch.« »Kennen Sie einen gewissen Peter Petersen?« fragte Bony weiter. »Der alte Petersen! Klar kenne ich den. Vor ein paar Tagen habe ich noch mit ihm gesprochen.« »Am Tag, bevor Lush verschwunden ist?« Bonys Stimme klang plötzlich schneidend. »Ja, am Nachmittag«, antwortete Ray. »Er kochte vor dem Schurschuppen ab. Er hat manchmal hier gearbeitet, und da fragte ich ihn, wie es ihm geht.« »Und …?« »Er meinte, es ginge ihm gut. Er befinde sich gerade auf dem Weg zu einer neuen Arbeitsstelle. Nun, er sah wohl mein skeptisches Gesicht, denn er erzählte mir, daß seine Tochter in Adelaide krank sei. Diese Tochter hat mit ihrem Mann eine Zeitlang bei uns gearbeitet, aber ihr Mann ist gestorben, und nun macht Petersen sich Sorgen um sie.« »Hat er Ihnen gesagt, wo er arbeiten wollte?« »Ja, bei den Vospers. Ihre Farm liegt ungefähr neun Meilen westlich von der Madden-Farm. Sie kümmern sich jetzt um Jills Schafe.« »Die Vospers haben doch Telefon, oder?« Ray nickte, und Bony ließ sich von der Vermittlung in White Bend verbinden. 144
»Mr. Vosper? Hier spricht Inspektor Bonaparte. Ich bin im Augenblick auf Mira. Haben Sie einen gewissen Petersen eingestellt? Ja – wann?« »Am zwanzigsten dieses Monats«, erwiderte der Farmer. »Ich nehme an, daß er am Tag zuvor bei Ihnen eingetroffen ist?« »Ja, so ist es. Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte gern mit Petersen sprechen, aber durch das Hochwasser kann ich nicht zu Ihnen kommen. Ich könnte natürlich Wachtmeister Lucas schicken, aber der hat Arbeit genug. Könnten Sie wohl einmal unter vier Augen mit Petersen sprechen und hören, ob er immer noch eine Pistole oder einen Revolver besitzt und welches Kaliber die Waffe hat?« »Natürlich, Inspektor. Es wäre schlimm für ihn, wenn er eine Waffe besitzt, nicht wahr?« »Deshalb möchte ich Wachtmeister Lucas nicht schicken. Lucas wird Sie wahrscheinlich anrufen und fragen, ob Sie zu dem Zeitpunkt, an dem Lush verschwunden ist, Tramps gesehen haben. Erwähnen Sie bitte nicht mein Interesse für Petersen. Könnten Sie mir heute abend noch Bescheid geben?« »Selbstverständlich. Ich rufe dann zurück.« Bony wandte sich wieder an Ray Cosgrove. »Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie mit niemandem darüber sprechen, was Sie soeben gehört haben?« »Ich werde keine Silbe verraten, Bony. Geht mich ja auch gar nichts an.« »Gut! Und nun noch eins: Was für ein Mensch ist dieser Petersen? Jähzornig, streitsüchtig?« »Nein, das glaube ich nicht. Er ist Schmied, und wie ich bereits sagte, hat er schon einige Male für uns gearbeitet. Ein ruhiger Mann, hat nie gestritten. Er muß jetzt über Sechzig sein. Was will er mit einer Pistole? Er ist doch ganz harmlos?« »Er könnte aber unterwegs Leuten begegnen, die nicht so harmlos sind.« Bony drehte sich eine Zigarette. Er musterte den jungen Mann und blickte auf die Uhr. »Wie spät war es eigentlich, als Sie mit Petersen gesprochen haben?« »Ungefähr drei Uhr.« »Hat er Ihnen gesagt, wo er übernachten wollte?« 145
»Nein. Er hatte sein Bündel nicht aufgeschnürt – ich habe deshalb keine Ahnung.« »Es ist anzunehmen, daß er im Schurschuppen übernachtet hat. Am nächsten Tag – also an dem Tag, an dem der Wagen gefunden wurde — traf er bei den Vospers ein. Wenn nun Petersen im Schurschuppen übernachtet hat, muß er am folgenden Morgen den Last’ wagen gesehen haben, denn auf dem Weg zu den Vospers muß er ja daran vorbeigefahren sein. Warum habe ich dann aber beim Wagen seine Spuren nicht gefunden?« »Das ist leicht zu beantworten, Bony. Er trug Tennisschuhe mit Gummisohlen. Sie waren schon ziemlich abgetragen. Der Boden ist bei den Briefkästen ziemlich hart, und der Wind hat die schwachen Spuren verweht.« »Trotzdem, ich hätte etwas sehen müssen.« Bony versank in nachdenkliches Schweigen, und Ray nahm eine Viehzüchterzeitschrift in die Hand. Nach einer halben Stunde klingelte das Telefon. Es war Vosper. »Ich habe mit Petersen gesprochen, Inspektor. Er hat zugegeben, einen zweiunddreißiger Revolver zu besitzen. Er habe aber schon seit einem Jahr keine Patronen mehr.«
24
A
m nächsten Morgen waren die Meldungen über das Hochwasser äußerst beunruhigend. Mrs. Cosgrove arbeitete mit MacCurdle fieberhaft, um festzustellen, wie groß die Gefahr für Mira werden würde. Mit dem Höchststand war zwar erst in zehn Tagen zu rechnen, aber das Ansteigen des Flusses wurde durch die anhaltenden Regenfälle merklich beschleunigt. Es war also nur zu hoffen, daß das abfließende Regenwasser Mira bereits passiert hatte, bevor das Hochwasser seinen Höchststand erreichte, sonst bestand die Gefahr, daß der Deich brach. 146
»Unsere drei Viehhüter sollten jetzt lieber hereingeholt werden«, schlug der Manager vor. »Die Schafe, die sich nicht in der Flußniederung befinden, sind außer Gefahr. Wir könnten ja die Leute auf Wilga bitten, daß sie einen Mann hinschicken, der sich um sie kümmert, falls wir länger als vierzehn Tage vom Hochwasser eingeschlossen werden.« »Gut, veranlassen Sie das«, erwiderte die Schafzüchterin. »Dann macht sich Ray am besten gleich mit dem Kleinlaster auf den Weg.« »Einverstanden, Mac. Ich werde inzwischen hören, wie das Wetter wird.« Mrs. Cosgrove rief Chef inspektor Macy an. »Ah, guten Morgen, Betsy! Was macht das Hochwasser?« »Sieht bös aus. Wie ist eigentlich der Wetterbericht?« »Ich dachte mir schon, daß Sie ihn haben möchten, und habe deshalb bei Dubbo angerufen. Die bekommen die Zeitung mit der Wetterkarte ja immer sehr zeitig. Es gibt keinen Regen. Das Zentrum des Hochs liegt über Kalgoorlie, es gibt also keinen Grund zur Beunruhigung. Dieses Hoch wird in ungefähr achtundvierzig Stunden hier sein.« »Und folgt dann ein Tief?« »Nicht unmittelbar. Westlich von Port Hedland steht ein Tief. Es ist allerdings zu weit weg, um uns Sorgen zu bereiten. Sind schließlich mehr als fünfzehnhundert Meilen.« »Danke, Jim. Behalten Sie dieses Tief trotzdem im Auge. Es könnte Weststurm bringen, und Mac fürchtet, daß dann die Wellen gegen unseren Deich getrieben werden.« »Das wäre möglich. Ich werde mir gleich morgen früh wieder die Wetterkarte besorgen. Wie kommt eigentlich unser Freund voran? Hoffentlich heitert er euch etwas auf.« »Ich kann nicht sagen, daß er Fortschritte macht«, antwortete Mrs. Cosgrove. »Gestern ist er mit unserem kleinen Boot spazierengefahren. Hat sich am anderen Ufer umgeschaut. Ray war idiotisch genug, ihn zu begleiten. Mir ist jetzt noch schleierhaft, wieso sie nicht ertrunken sind. Mac wollte wissen, ob sich die Fahrt wenigstens gelohnt hat, und Bony meinte, sie habe sich gelohnt. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen, Jim. Ach ja, einen Hundebastard mit fünf Welpen haben sie mitgebracht. Als ob wir nicht schon genug Hunde durchzufüttern hätten.« 147
Macy lachte. »Richten Sie ihm doch aus, Betsy, daß sein Chef ganz schön sauer ist. Er hat gedroht, Bony rauszuschmeißen – aber diesmal für immer.« »Dann richten Sie seinem Chef aus, daß Bony jetzt von der Außenwelt abgeschnitten ist – vielleicht für volle zwei Monate.« Während Mrs. Cosgrove telefonierte, stand Bony auf dem Deich und betrachtete nachdenklich den Fluß. Das Wasser hatte jetzt eine hellrote Farbe und reichte bis knapp zwei Meter unter die Ufergrenze. Das gegenüberliegende Ufer war bereits unsichtbar, die Eukalyptusbäume ragten aus dem Wasser. Madman’s Bend war überflutet. Der Fluß strömte im Augenblick nur träge und stieg auch nur langsam an. Die Männer arbeiteten an diesem Morgen hinter dem Schuppen, das Motorengeräusch hallte von den Eukalyptusbäumen wider. Der Himmel strahlte blau, der Wind wehte kalt aus Süden, und der regenfeuchten Erde entströmten aromatische Düfte. Wer mochte da in der Großstadt sein? Bony war zufrieden mit dem Stand seiner Ermittlungen, denn diesmal fehlte sein alter Verbündeter: die Zeit. Das Hochwasser verwischte nun auch die letzten Spuren. Eigentlich wollte er die Brüder nach den zwei Unbekannten fragen, die mit ihnen gelagert hatten, aber er bezweifelte, daß sie ihm Auskunft geben würden. Diese Vagabunden … Er entschloß sich, statt dessen noch einmal Peter Petersen verhören zu lassen. Mit langen Schritten marschierte er zum Büro und rief Wachtmeister Lucas an. Er sagte ihm, wo Petersen zu finden war, und bat ihn, hinzufahren. »Die Straße ist nicht überschwemmt«, erklärte der Wachtmeister. »Ich könnte noch heute morgen losfahren.« »Stellen Sie fest, wann Petersen den Schuppen in Mira verlassen hat. Ferner den genauen Weg, den er genommen hat, wen er unterwegs getroffen hat, und um welche Zeit er am Lastwagen vorbeigekommen ist. Er besitzt einen 32er Revolver. Vosper gegenüber hat er behauptet, seit über einem Jahr keine Patronen mehr zu besitzen. Feuern Sie mit diesem Revolver ein paar Probeschüsse ab und schicken Sie die Geschosse an die KTU ein. Zeigen Sie Petersen aber nicht wegen unerlaubten Waf148
fenbesitzes an. Sagen Sie ihm dies ausdrücklich und behandeln Sie ihn mit Samthandschuhen. Es dürfte sich lohnen.« »In Ordnung«, erwiderte Lucas. »Ich wollte sowieso die VosperFarm überprüfen. Übrigens habe ich noch zwei Namen für Ihre Karte. Richtiger gesagt, eine Korrektur. Ich sagte Ihnen gestern, daß man Champion und Miner Smith beobachtet hat, wie sie oberhalb von Murrimundi geangelt haben. Ich habe inzwischen erfahren, daß sie in der fraglichen Nacht in einer Hütte am Wollwaschkanal von Murrimundi geschlafen haben.« »Moment!« rief Bony erregt und zog die Landkarte heran. »Wo ist dieser Smith jetzt?« »Hier in White Bend. Vor einer Stunde wenigstens war er noch hier.« »Gut! Verhören Sie ihn, bevor Sie zu Vosper fahren. Wer sonst noch in dieser Hütte übernachtet hat, wen er an diesem Tag gesehen hat. Seien Sie geschickt, Lucas, von diesen Informationen kann unerhört viel abhängen.« »Wird besorgt, Bony. Ich rufe gleich wieder an.« Bony setzte sich auf die Veranda. Von hier aus konnte er den Deich von der Pumpenstation bis zum Männerquartier überblicken. Der Bulldozer schob Erdmassen an den Deich, Männer mit Schaufeln verstärkten die Krone, wo das Erdreich von anderen Arbeitern festgestampft wurde. Mrs. Cosgrove kam die Verandastufen herauf, und Bony bot ihr seinen Stuhl an. »Ich sah Sie hier sitzen, Bony, und wollte Ihnen sagen, daß ich mit Chefinspektor Macy gesprochen habe. Er wollte wissen, ob Sie mit Ihren Ermittlungen schon weitergekommen sind.« »Bisher bin ich nur einen kleinen Schritt weitergekommen.« Er lächelte gezwungen. »Macy hat Ihnen sicher erzählt, daß mein Chef ungeduldig wird.« »Er deutete es an.« »Ich werde ebenfalls ungeduldig, Mrs. Cosgrove. Der Fluß hat mich vom Tatort vertrieben und Spuren verwischt. Immerhin – es ist möglich, daß Lushs Mörder auf dem Deich arbeitet.« »Oh! Werden Sie ihn dann verhaften?« 149
»Erst wenn das Hochwasser zurückgeht. Im Augenblick werden Sie jede Arbeitskraft benötigen.« »Allerdings. Mac hat Ray losgeschickt, damit er die drei Viehhüter hereinholt, weil wir jede Hand brauchen.« »Dann dürfen Sie auch mit mir rechnen, obwohl meine Hände sehr verweichlicht sind.« Das Telefon klingelte. »Ah – ich erwarte einen Anruf.« Es war Lucas. »Smith sagt, daß er mit Champion in dieser Hütte am Wollwaschkanal übernachtet hat, und zwar vom neunzehnten bis zum einundzwanzigsten. Er behauptete, in dieser Zeit niemanden gesehen zu haben. Falls Sie es nicht wissen sollten, die betreffende Stelle liegt in einer Flußbiegung eine knappe Meile von der Straße entfernt. Nützt Ihnen das etwas?« »Es ist ein brauchbarer Hinweis, Lucas. Und nun knöpfen Sie sich bitte Petersen vor.« Mrs. Cosgrove lächelte, als Bony sich vor ihr auf den Boden der Veranda setzte und sich eine Zigarette drehte. »Dann haben Sie also einen brauchbaren Hinweis erhalten«, meinte sie. »Da hat jemand gelauscht.« Er drohte mit dem Finger. »Ich war so schamlos, Bony. Wissen Sie, wir Frauen würden bedeutend bessere Kriminalisten abgeben als die Männer. Wir sind nämlich skrupelloser.« »Der Himmel bewahre uns davor!« rief Bony mit gespieltem Entsetzen. »Dann würde ich ja arbeitslos.« »Kommen Sie, wir unterhalten uns beim Tee weiter. Als ich aus England kam, verabscheute ich dieses ununterbrochene Teegetrinke, aber inzwischen habe ich diese Sitte selbst angenommen. Wir hatten einmal Besuch aus Amerika. Diese Leute waren entsetzt über die riesigen Mengen Tee, die wir täglich konsumieren. Sie waren Tafelwasser gewöhnt. Wasser! sagte mein Mann immer verächtlich. Der Mensch sei doch kein Schaf oder Pferd!« »Ja, wer zum erstenmal nach Australien kommt, wundert sich über so manches«, meinte Bony. »Aber wir haben auch unsere guten Seiten. Wir strengen uns nicht an und bringen es trotzdem zu etwas.« Jill machte heute einen aufgeräumten Eindruck. 150
»Ich sah Sie kommen, und da habe ich das Frühstück gebracht, weil Emma gerade zu tun hat«, erklärte sie. »Ich war unten am Fluß. Er sieht geradezu majestätisch aus. loh bin gespannt, ob das Wasser auch unser Haus erreichen wird.« »Das ist bisher nie der Fall gewesen«, erwiderte Mrs. Cosgrove, und Bony brachte das Gespräch auf Petersen. Bereitwillig gab Mrs. Cosgrove Auskunft. »Ein armer Kerl«, stellte Mrs. Cosgrove fest. »Er hat oft bei uns gearbeitet. Wenn er mit dem Hammer auf den Amboß schlug, hatte ich immer das Gefühl, wieder bei meinen Verwandten zu sein. Sie wohnten in einem kleinen Dorf in Sussex. Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr gesehen.« »Er arbeitet jetzt bei den Vospers«, sagte Bony, und als Mrs. Cosgrove fragend die Brauen hochzog, fügte er hinzu: »Ich habe nämlich bereits einmal telefoniert, als Sie noch nicht auf der Veranda saßen.« »Entschuldigung, ich habe vorhin ungewollt gelauscht.« »Wie ich hörte, braucht er Geld, weil seine Tochter sehr krank ist. Er hat doch eine Tochter?« »Natürlich. Sie hat einmal zusammen mit ihrem Mann bei uns gearbeitet.« »Können Sie sich erinnern, wann Sie Petersen zuletzt gesehen haben, Jill?« »Er war seit Monaten nicht mehr bei uns«, antwortete sie. »Was für ein Mensch ist er eigentlich? Ich meine seinen Charakter, nicht sein Aussehen.« »Ach, Petersen ist völlig harmlos. Immer höflich und immer dankbar, wenn Mutter ihm was gab.« »Haben Sie ihn in Verdacht, Bony?« wollte Mrs. Cosgrove wissen, doch Bony lächelte nur geheimnisvoll. »Nur nichts verraten! Aber das bringt man euch Polizisten wahrscheinlich extra bei.« »Wir haben vor allem gelernt, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, wir wüßten bereits alles. Unsere Unwissenheit verbergen wir hinter einem tiefgründigen Lächeln. Nun möchte ich – wenn Sie nichts dagegen haben – nach dem Fluß schauen und nachdenken.« »Ich habe noch einige Briefe zu schreiben«, erklärte die Schafzüchterin. »Ray wird die Post heute nachmittag nach Murrimundi bringen.« 151
»Dann will ich auch einen Brief schreiben. Meine Frau macht sich immer Sorgen, wenn ich mich nicht regelmäßig melde.«
25
N
achdem Ray Cosgrove mit den Viehhütern eingetroffen war, wurde auch die letzte Lücke im Deich – hier führte die Straße hindurch – aufgefüllt. Die drei Viehhüter hatten bisher ein sehr einsames Leben geführt und freuten sich, einmal eine Zeitlang in einer größeren Gemeinschaft leben zu können, auch wenn sie schwer arbeiten und den Spott über sich ergehen lassen mußten, vom ›hohen Roß‹ klettern und eine Schaufel in die Hand nehmen zu müssen. Bony lieh sich ein Pferd und ritt mit Ray den Darling hinab bis zu einer Stelle gegenüber der Murrimundi-Station. Hier waren die Ufer sehr hoch, die Strömung deshalb stark. Ray feuerte aus seinem Gewehr einen Schuß in die Luft, um die Leute am anderen Ufer aufmerksam zu machen. Ein Mann erschien unter den hohen Dattelpalmen, die das Herrenhaus umsäumten. Sie hörten, daß er etwas rief, konnten ihn aber nicht verstehen. Ein zweiter Mann gesellte sich hinzu, und die beiden gingen zu einem großen Eukalyptusbaum, von dem Drahtseile über den Fluß hinweg zu dem Baum führten, unter dem Bony und Ray warteten. Einer der Männer kletterte mit dem blauen Postsack eine Leiter hinauf. Er verschwand zwischen den Zweigen des Eukalyptusbaums, und wenige Sekunden später begann der zweite Mann eine Kurbel zu drehen. In einer Schlinge sitzend, wurde der Mann mit dem Postsack über den Fluß gezogen. Nachdem er am diesseitigen Ufer heruntergeklettert war, wurde er von Ray begrüßt und Bony vorgestellt. »Was macht bei euch das Hochwasser?« war seine erste Frage. »Es langt, John. Und wie steht’s hier?« 152
»Es wird ziemlich lebhaft werden.« Der Mann war zirka dreißig Jahre alt, und die Sonne hatte ihn so stark gebräunt, daß seine Hautfarbe dunkler erschien als die von Bony. »Diesmal gibt’s ein anständiges Hochwasser. Ich wette, daß ihr am Deich arbeitet.« »Arbeiten! Wir schuften wie die Galeerensträflinge. Ihr habt hier mehr Glück.« »Haben bei euch viele Tramps Zuflucht gesucht?« fragte der Mann, und Ray zählte sie ihm auf. »Na, dann habt ihr ja etwas Hilfe. Wachtmeister Lucas war schon hier und hat sich erkundigt, ob bei uns welche untergeschlüpft sind. Aber hier sind keine, und wir brauchen auch keine.« »Kampieren diese Leute eigentlich häufig an Ihrem Wollwaschkanal?« fragte Bony, und der Mann antwortete, daß die alte Hütte nur selten benützt werde, weil von dort aus die Küchen der Stationen zu weit entfernt seien. »Die letzten, die dort kampiert haben, waren Miner Smith und Champion. Der ist ja jetzt auch in Mira.« »Smith behauptet, daß sie vom Tage vor Lushs Verschwinden bis einen Tag danach dort übernachtet hätten. Glauben Sie, daß das stimmt?« »Warum nicht? Hätte Smith denn einen Grund zu lügen?« »Er behauptet außerdem, während seines Aufenthaltes keine anderen Tippelbrüder gesehen zu haben. Ich überprüfe das gerade. Wie weit liegt der Buschpfad eigentlich östlich davon?« »Zwei Meilen. Sie sind dort entlanggekommen. Aber ich will Ihnen etwas sagen: an dem Tag, an dem Lush verschwunden ist, schickte der Boss zwei Männer mit einem Karren hinüber zum Wollwaschkanal. Sie sollten etwas abholen. Ich werde sie fragen, ob Smith die Wahrheit gesagt hat.« »Das ist ein glücklicher Zufall! Wann können Sie mir Bescheid geben?« »Ich bringe jetzt Ihre Post ins Büro, dann dauert es noch ungefähr eine Viertelstunde. Also, bis nachher. Grüßen Sie Jill, Ray. Sagen Sie ihr, daß wir alle mit ihr fühlen.« Er nickte Bony zu, kletterte die Leiter hinauf und wurde über den Fluß zurückgezogen. »Wer war das?« fragte Bony. 153
»Er ist Buchhalter und Lagerverwalter. Murrimundi ist sechsmal größer als Mira, aber es ist sehr viel Ödland darunter. Verstehen Sie was von Buchführung? Ich hab’s versucht, aber ich kapiere es nicht.« Nach einiger Zeit schwebte der Buchhalter wieder über den Fluß. »Ich habe mit den beiden gesprochen«, erklärte er. »Sie haben an dem betreffenden Tag gegen drei Uhr Alteisen aufgeladen, da kamen Champion und Miner Smith vom Angeln zurück. Sie sind an einem Wasserloch weiter flußaufwärts gewesen. Unsere Leute bestätigen, daß sie keine anderen Tramps gesehen haben. Der eine hat sogar in die alte Hütte geschaut, aber nichts habe darauf hingedeutet, daß noch andere Tramps dort genächtigt hätten. Smith dürfte also die Wahrheit gesprochen haben.« »Vielen Dank«, sagte Bony zufrieden. »Diesen Punkt wollte ich gern klären.« »Nichts zu danken, Inspektor. Aber jetzt muß ich zurück. Der Boss ist im Büro, und Sie wissen ja, wie Chefs sind.« Als sie zurückritten, war Bony nicht mehr so deprimiert wie am Vormittag, und als Ray wissen wollte, ob er nun klarer sehe, lächelte er nur vielsagend. Auf dem Weg nach Murrimundi hatten sie eins der vielen flachen Bachbetten durchquert, doch inzwischen hatte es sich in einen reißenden Fluß verwandelt. Sie waren deshalb gezwungen, einen Umweg von mehreren Meilen zu machen. »Bis morgen früh werden wir eingeschlossen sein«, prophezeite Ray. »Mein Vater hat oft davon gesprochen. Dann hat man den Eindruck, daß der Fluß bis zur Büroveranda reicht und Tausende von Enten zur Tür hereingeschwommen kommen.« »Genauso war es am Paroo, als er Hochwasser führte. Ich war damals gerade dort«, erwiderte Bony. Die Sonne stand bereits hinter den Briefkästen, als sie am Büro ankamen und die Post ablieferten. Der Himmel versprach windstille Tage und kalte Nächte. Bony war froh, daß in MacCurdles Privatzimmer ein Feuer brannte, und diesmal lehnte er den angebotenen Drink nicht ab. »Na, wie geht die Arbeit voran, Mac?« fragte Ray. »Ganz gut, aber Ihrer Mutter geht es nicht schnell genug.« Der Manager blickte über das Streichholz hinweg, mit dem er seine Pfeife anzündete. »Die Zeiten haben sich geändert, auch hier in Australien. 154
Niemand will mehr so hart und für so wenig Lohn arbeiten wie unsere Großväter. Heute kann man nicht gleich losschimpfen, wenn sich mal einer auf seine Schaufel stützt. Heute muß man warten, bis es kritisch wird, und dann muß man den Lohn erhöhen. Wenn die Leute genug verdienen, arbeiten sie sogar härter als ihre Großväter.« »Stimmt, Mac, aber Mutter sieht das eben nicht ein. Vielleicht sollten wir sie anketten, damit sie die Arbeiter nicht kopfscheu machen kann.« »Jetzt ist wohl kaum der rechte Moment für Witzeleien!« entgegnete der Schotte gereizt. »Wenn Sie gestatten, werde ich mit Mrs. Cosgrove sprechen«, sagte Bony rasch. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. »Das dürfte Lucas sein.« .Ray nahm das Gespräch an. Er lauschte kurz, dann reichte er den Hörer Bony. »Ich habe mit Petersen gesprochen«, erstattete Lucas Bericht. »Hat seinen Revolver ohne weiteres herausgegeben. Er war nicht geladen. Ich habe seine Sachen durchsucht, aber keine Munition gefunden. Als ich ihn fragte, warum er diese Waffe herumschleppe, meinte er, um im Notfall damit drohen zu können. Vor ein paar Jahren sei er von einem jungen Kerl ausgeraubt worden. Ich habe ihm gesagt, daß er den Revolver wiederhaben könne, sobald der Lauf mit Blei ausgegossen worden ist. Er versicherte, das Ding tauge sowieso nichts. Das stimmt. Der Abzugsmechanismus ist kaputt. Petersen schlief in der betreffenden Nacht am Lagerfeuer vor dem Schuppen von Mira. Er wollte nicht zu spät bei den Vospers eintreffen und machte sich deshalb noch vor Sonnenaufgang auf den Weg. Auf der Schafstation ist er niemandem begegnet, aber am Wasserloch beim Lager der drei Brüder holte gerade ein gewisser Bullocky Alec einen Eimer Wasser. Petersen überquerte dann den Fluß, folgte aber nicht dem Ufer, sondern marschierte quer durch Madman’s Bend direkt in Richtung auf die Briefkästen. Er war mitten im Bend, als sich von dem einen Turnschuh die Sohle löste. Er setzte sich hin und nähte sie wieder an. Er sei mit der Reparatur fast fertig gewesen, als er aus Richtung der Briefkästen einen Schuß gehört habe. Es hätte wie der Schuß aus einem 22er Gewehr geklungen, aber der Wind sei ziemlich stark gewesen, und da könne man sich im Klang täuschen. Er hat dann auch gleich noch seinen zweiten Schuh repariert, weil der 155
es auch nötig hatte. Er dürfte also eine Stunde, nachdem er den Schuß gehört hatte, zu den Briefkästen gekommen sein.« »Haben Sie ihn gefragt, ob der Schuß auch auf der MaddenFarm gefallen sein könnte?« wollte Bony wissen. »Ja, aber er war überzeugt, daß es bei den Briefkästen war. Es müsse halb sieben gewesen sein. Der Wind war so stark, daß man den Schuß weder auf Mira noch bei den Maddens, wo ja die Bäume stark rauschen, gehört haben kann.« »Klingt ganz Vernünftig, Lucas. Fahren Sie fort.« »Petersen hat niemanden in der Nähe des Lastwagens gesehen. Er hatte keine Ahnung, wem er gehört, und interessierte sich auch nicht dafür. Er ging gleich querlandein, um den Pfad zu erreichen, der von den Maddens zu den Vospers führt. An einem Wasserloch, das Blackman genannt wird, legte er eine Marschpause ein und kochte sich Tee. Bei den Vospers traf er zum Mittagessen ein.« »Holen Sie lieber die Genehmigung des Chefinspektors ein, ob Sie Petersen die Waffe belassen dürfen«, rief Bony. »Sie können ja ein paar Probeschüsse abfeuern, indem Sie den Hahn mit dem Daumen abschnellen lassen. Die Geschosse verwahren Sie gut, damit sie zu Vergleichszwecken zur Verfügung stehen. Ach, und erkundigen Sie sich doch mal nach diesem Bullocky Alec. Vielleicht hat sich Petersen getäuscht, und es war doch ein anderer.« Wie Cosgrove vorausgesagt hatte, war Mira am nächsten Morgen von den Wassermassen eingeschlossen. Während der Nacht war der Darling River um anderthalb Meter angestiegen, die aus dem Wasser ragenden Bäume in Madman’s Bend wirkten plötzlich klein und verkümmert. Bony begleitete MacCurdle, der mit dem Jeep hinaus zum Deich fuhr, um sich vom Stand der Arbeiten zu überzeugen. Sie starrten auf das rötliche Wasser, das nun die ganze Niederung überflutet hatte. Der Buschpfad, auf dem er mit Ray nach Murrimundi geritten war, und die Straße nach Bourke waren nun ebenfalls überschwemmt. Erst bei den lachsroten Sanddünen am Rande der höhergelegenen Ebene war das Land wieder trocken. Der Manager machte ein ernstes Gesicht und brummte unwirsch, als er Mrs. Cosgrove bemerkte. Sie sprach mit Vickory, der die Arbeiten 156
beaufsichtigte. Die Schafzüchterin trug Hosen und Reitstiefel, und als der Jeep anhielt, kam sie sofort auf MacCurdle zu. »Mac, ich habe den Eindruck, daß die Leute absichtlich langsam arbeiten. Ich verstehe das nicht. Ich habe ihnen gesagt, daß ich die Prämie verdoppeln werde. Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir überflutet.« »Vielleicht hängt es mit der Würde der Arbeit zusammen«, sagte Bony ruhig. »Diese Männer sind ja nicht nur wegen des Geldes hier. Wenn es ihnen nur ums Geld ginge, würden sie in der Stadt leben. Sie ziehen es aber aus dem gleichen Grund vor, hier im Busch zu leben, wie Sie. Und wenn diese Männer ihr Bündel schnüren und weiterziehen, dann nur, weil sie dadurch das Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit haben. Sie brauchen sich nicht nach der Fabriksirene zu richten, brauchen nicht zum Omnibus oder Zug zu rennen.« Mrs. Cosgrove musterte Bony mit einem schrägen Blick. »Es stimmt vollkommen, Mrs. Cosgrove«, bemerkte MacCurdle schroff. »Und noch etwas: Diese Männer können es für den Tod nicht leiden, wenn ihnen eine Frau bei der Arbeit zusieht«, fuhr Bony fort. »Sie wollen Ihnen einen Wink geben, indem sie betont langsam arbeiten. Wenn Sie nicht hier stünden, würden sie bestimmt normal arbeiten. Sie sind nicht wie die Arbeiter in der Stadt, die es gewöhnt sind, beaufsichtigt zu werden. In der Stadt herrscht aber auch zwischen Arbeitern und Chef ein ewig gespanntes Verhältnis. So etwas finden Sie hier nicht.« »Das haben Sie sehr schön gesagt, Bony. Ich werde Ihren Wink mit dem Zaunpfahl befolgen. Es ist ja nicht das erstemal, daß ich eingestehen muß, euch Australier nicht zu verstehen. So, und jetzt begleiten Sie mich ins Haus zurück.« »Sie sind eine kluge Frau«, meinte Bony lächelnd. »Wir werden gerade zum Tee zurechtkommen.« »Ihr Australier denkt an nichts anderes als ans Teetrinken, und mich habt ihr auch schon ganz verdorben.« Den Rest des Vormittags und einen Teil des Nachmittags verbrachte Bony damit, die umliegenden Schafstationen anzurufen. Auf diese Weise konnte er auf seiner Landkarte noch eine Menge Namen eintragen. Vierzehn Männer hätten Gelegenheit gehabt, Lush zu ermorden, davon 157
waren zwei ganz besonders verdächtig. Bei allen aber fehlte ein Motiv. Die Waffe konnte jeder besitzen.
26
A
m folgenden Morgen borgte sich Bony eine alte Hose und Stiefel und meldete sich bei Vickory zur Arbeit. Die Männer begrüßten ihn mit großem Hallo, und jeder wollte ihm seine Schaufel zur Verfügung stellen. »Prächtig«, sagte der Tramp, der wie ein Premierminister aussah. »Da wird man doch gleich wieder jung, wenn man sieht, daß ein Polizist eine Schaufel in die Hand nimmt.« »Dann können Sie gleich mit dem Inspektor beim Bulldozer bleiben«, ordnete Vickory an. Nach zwanzig Minuten schweigender, aber angespannter Schaufelei fragte Champion, ob Bony arbeiten müsse, um sein Essen zu verdienen. Dafür würde er mindestens den gewerkschaftlichen Lohn verlangen, erwiderte Bony mit einem verächtlichen Schnaufen. »Was zahlt man euch denn überhaupt?« wollte er wissen. »Nachdem sie heute morgen zugelegt hat, den halben Lohn. Sie hat sich geärgert, weil wir so langsam gearbeitet haben. Aber ich hasse es, von einer Frau herumkommandiert zu werden.« Bony nickte, und die Unterhaltung drehte sich um das Hochwasser und die Aussichten, ob der Deich wohl halten werde. Schließlich erwähnte Champion Lush und fragte Bony, ob er schon etwas herausgefunden habe. »Ich sitze völlig fest, Champion. Das Hochwasser hindert mich, nach Spuren zu suchen. Wo waren Sie übrigens an dem Tag, an dem Lush verschwand?« ’ 158
»Da war ich zusammen mit Miner Smith an dem alten Wollwaschkanal in Murrimundi. Mich können Sie nicht in die Geschichte hineinziehen.« »Sie beide können sich aber lediglich gegenseitig Ihr Alibi bestätigen, oder haben Sie sonst noch Zeugen?« »Nein, wir waren allein dort. Aber warten Sie: Zwei Arbeiter von Murrimundi haben Alteisen aufgeladen. Als wir vom Angeln zurückkamen, trafen wir sie. Sie können sie ja fragen.« »Ich glaube, das ist gar nicht nötig. Ich bin langsam überzeugt, daß Petersen der Täter ist. Er hat in der fraglichen Nacht hier beim Schurschuppen geschlafen und ist am nächsten Morgen sehr früh aufgebrochen, weil er zu den Vospers wollte. Ich habe gehört, daß er einen 32er Revolver besitzt, und Lush wurde ja mit einer Waffe dieses Kalibers erschossen. Aber nun sitze ich hier fest, und wenn das Hochwasser dann endlich zurückgeht, wird er schon über alle Berge sein. Aber erzählen Sie den andern nichts davon.« »In Ordnung«, versprach Champion, doch Bony wußte, daß der Tramp die Neuigkeit am Lagerfeuer ausposaunen würde. »Wie haben Sie eigentlich herausgefunden, daß Petersen einen Revolver besitzt?« »Er hat es mir gesagt.« »Er hat es Ihnen gesagt? Dann werden Sie ihn wegen unerlaubten Waffenbesitzes einbuchten lassen?« »Bestimmt nicht«, versicherte Bony. »Das geht mich nichts an, sondern ist Sache der hiesigen Polizei. Ich bin doch aus Queensland, wußten Sie das nicht?« »Nein. Aber ihr Polizisten haltet doch zusammen wie Pech und Schwefel.« »In gewisser Hinsicht, ja. Auch wir sind gewerkschaftlich organisiert und halten uns an die Vorschriften. Aber wir mischen uns nicht in die Angelegenheiten unserer Kollegen ein. Nur bei Mord dürfen wir – auf Anforderung – auch außerhalb unseres Dienstbereichs tätig werden.« Zur Nachmittagspause spürte Bony die ungewohnte Anstrengung, und lange vor Feierabend blickte er immer wieder nach dem Stand der Sonne. Eine heiße Dusche möbelte seine Lebensgeister wieder auf. Gleich nach dem Abendessen zog er schwarze Tennisschuhe an und band sich einen schwarzen Schal um. Nachdem er festgestellt hatte, aus welcher Richtung der Wind kam, schlich er in der Dunkelheit zum 159
Lagerfeuer der Tramps, um ihre Gespräche zu belauschen. Er brauchte nicht lange zu warten, dann spielte Champion die ihm zugedachte Rolle. »Der Polizeimann hat mir gesagt, daß er hinter Petersen her ist. Petersen ist an dem betreffenden Morgen von hier aus zu den Vospers aufgebrochen. Lush war wohl bei seinem Wagen, er hat Petersen bedroht, und da hat der Alte ihn erschossen.« »Glaube ich nicht«, widersprach Silas Wishart. »Lush war doch viel kräftiger als Petersen.« Nun folgte eine erregte Diskussion, ob Petersen der Mörder sein könnte oder nicht. Die Mehrheit hielt ihn für unschuldig. Nun, die Polizei werde ihn sowieso einbuchten, weil er ja einen Revolver mitführte, meinte schließlich einer der Männer, und Champion erwähnte, daß Bony sich in dieser Hinsicht nicht einmischen wolle. »Er ist schon ein komischer Polizist«, sagte Bosun Dean. »Diese Mischlinge sind mächtig schlau. Sagen nicht viel, verzinken aber auch niemanden. Er ist hier, um einen Mord aufzuklären – warum sollte er dann nach Leuten suchen, die einen Revolver haben? Ich besitze auch einen, weil ich immer allein auf Tour bin.« »Es ist ziemlich sicher, daß Petersen Lush umgelegt hat«, beharrte Champion. »Er hat sich noch beklagt, weil ihn das Hochwasser hindert, Petersen zu erreichen. Ich fragte ihn, wieso er so sicher sei, daß Petersen der Täter ist, aber er hat mich nur groß angeschaut. Als ich sagte, daß der Mörder vielleicht hier unter uns ist – wißt ihr, was er da geantwortet hat? Er meinte, der Mörder wäre bestimmt nicht hier, denn der hätte sich längst aus dem Staub gemacht.« »Klingt durchaus logisch«, warf Kittchen-Mick dazwischen. »Wenn ich Lush umgebracht hätte, wäre ich jetzt auch nicht mehr da.« »Du hattest doch auch einen Revolver, Mick. Besitzt du ihn noch?« fragte Bill Wishart. »Ich habe ihn gegen eine 44er Winchester eingetauscht. Vor ungefähr zwei Jahren.« »Der Revolver ging los«, rief Totenmarsch-Harry. »Bombe -« »Ach, hör doch auf, Harry«, schalt Mick. »Du kannst doch nicht schon wieder einen Anfall bekommen. Die Tabletten gehen langsam zur Neige. Hier, nimm jetzt eine, ich hole Wasser.« 160
Totenmarsch-Harry stand mit traurigem Gesicht da, wiederholte mehrmals seine monotonen Worte, dann brachte Mick das Wasser, und er schluckte die Tablette. Anschließend wurde er von seinem Gefährten ins Bett gebracht. Tiefes Schweigen folgte, das Champion schließlich brach. »Paßt aus ihn auf, als wäre Harry sein eigener Sohn. Ich glaube aber nicht, daß es schlimmer wird mit Harry.« Er blickte fragend zu Bosun Dean, doch Silas Wishart antwortete an dessen Stelle. »Doch, es wird schlimmer. Kürzlich kampierten wir zusammen, da bekam Harry in zwei Tagen vier Anfälle. Eines Tages wird Mick ihn in eine Anstalt bringen müssen. Mick weiß das. Komisch, ich habe für Gefängnisaufseher genausowenig übrig wie für Polizisten, aber für Mick würde ich alles tun.« »Ja, er ist ein prima Kerl«, meinte Paroo Bikeman und stand auf. »Ich hau’ mich jetzt aufs Ohr.« Die Brüder erhoben sich ebenfalls, und alle vier gingen zum Quartier. Wally Watts stand auf, reckte sich und setzte sich wieder auf seine Kiste. »Die Brüder haben davon gesprochen, morgen zu streiken. Was haltet ihr davon?« »Mir ist es egal«, erwiderte Bosun Dean. »Ich halte das nicht für fair«, erklärte Champion. »Schließlich werden wir ganz gut bezahlt.« »Das meine ich auch«, brummte Wally Watts. »Auf jeden Fall müssen wir abstimmen, und ich werde mich nach der Mehrheit richten. So, und jetzt verschwinde ich auch in meine Koje. Gute Nacht!« Die anderen folgten ihm, und Bony kehrte sehr nachdenklich ins Büro zurück. »Ich glaube, morgen kommt die Geschichte zum Klappen, Mac«, sagte er zum Manager. »Der Wind hat auf Nord gedreht, die Sterne sind umflort. Sie kennen ja die Wetterkarte, die Macy durchgegeben hat?« »Es nähert sich ein Tief, und das Wetter schlägt um. Als Sie vorhin weg waren, hat es auch das Radio gemeldet. Wie gesagt, bei scharfem Westwind kann die Lage bedrohlich werden.« »Ich gehe jetzt schlafen«, entgegnete Bony. »Der morgige Tag dürfte anstrengend werden.« 161
»Sie brauchen nicht auf dem Deich zu arbeiten, obwohl wir Ihre Hilfe schätzen.« »Morgen wird auch der letzte Mann benötigt werden, Mac.« Bei Tagesanbruch war Bony wieder auf den Beinen. Entgeistert starrte er auf den Fluß, der nun das Ufer überflutete und bis an den Fuß des Deiches reichte. In der Flußbiegung schien das Wasser leicht zu wallen, die Eukalyptusbäume am anderen Ufer standen noch tiefer in der trüben Flut. Nach dem Frühstück ging Bony zum Deich, fand aber niemanden bei der Arbeit. »Die halten eine Versammlung ab«, erklärte ihm der Koch. »Jacko ist auch hingegangen.« »Wo findet die Versammlung statt?« »Im Schurschuppen. Die Farmarbeiter sind auch dabei, ebenso der Manager und Vickory. Sie wollen sehen, was es gibt.« »Und wie verhalten Sie sich?« Die Augen des Kochs funkelten, und ein bissiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Wenn die Leute streiken, streike ich auch – das ist doch nur fair, oder? Na ja, und dann bekommen sie eben nichts zu essen.« Bony nickte und ging zum Schurschuppen. Der Manager und der Verwalter standen neben der Asche des Lagerfeuers. So konnten sie hören, was im Schurschuppen gesprochen wurde. Bony nickte ihnen zu, trat in den Schuppen und blieb im Rücken der Arbeiter stehen. »Es ist doch so, Leute«, sagte Silas Wishart gerade. »Mrs. Cosgrove will die Prämie nicht erhöhen. Wir wissen, daß der Lohn der Farmarbeiter mit der Prämie noch nicht einmal an den Lohn der Arbeiter in der Stadt heranreicht. Wir sollten deshalb streiken, bis sie die Prämie auf das Doppelte erhöht. Es ist harte Arbeit, und die muß entsprechend bezahlt werden.« »Schön, stimmen wir endlich ab«, knurrte Paroo Bikeman. »Sollte für Streik gestimmt werden, sollten sich die Streikbrecher in acht nehmen.« Als Streikbrecher zu gelten, war höchst verwerflich. Die Männer musterten sich argwöhnisch, um herauszufinden, wie die anderen wohl abstimmen mochten. Jetzt kletterte Bony auf einen Arbeitstisch und wandte sich an die verdutzten Männer. 162
»Wenn ihr euch zum Streik entschließt, werden die Folgen nicht wiedergutzumachen sein«, begann er, und seine blauen Augen funkelten. »Zunächst einmal: die Besitzerin von Mira ist eine Frau – allerdings eine sture Frau, die die Prämie nicht erhöhen will. Wird gestreikt, dürfte zweifellos der Deich brechen. Allerdings wird es nicht die große Katastrophe geben, wie manche denken. Zumindest nicht für Mrs. Cosgrove. Aber für euch wird es katastrophal.« »Wieso?« rief jemand. »Komm runter, Bulle!« rief ein anderer. »Halt!« mischte sich Wally Watts ein. »Wir wollen ihn anhören.« »Es wäre für euch alle sehr schlecht, wenn ihr ausgerechnet jetzt streiken wolltet«, fuhr Bony fort. »Ihr wißt ja, was es für Mira bedeutet, wenn der Deich bricht, und ich will euch sagen, was es für euch bedeutet. Ihr würdet von diesem Fluß weggejagt werden, und zwar vom Hunger – denn auf keiner Schaffarm würde man euch etwas zu essen geben oder Proviant verkaufen. Mit eurer Freiheit wäre es also aus. Ihr müßtet dann entweder zu den Weizenfarmern gehen oder in die Städte, aber auf jeden Fall müßtet ihr dann arbeiten, wenn ihr nicht verhungern wollt. Seit eh und je ist es üblich, daß ihr auf den Schafstationen Verpflegung bekommt, damit Arbeitskräfte zur Hand sind, wenn welche gebraucht werden. Das ist hier im Busch ein ungeschriebenes Gesetz, und wenn ihr jetzt streiken wollt, brecht ihr mit einer alten und sehr schönen Sitte.« Bony erhielt von völlig unerwarteter Seite Unterstützung. »Donnerwetter, Leute, er hat recht. Hat jemand Lust, mich einen Streikbrecher zu nennen?« fragte Paroo Bikeman gefährlich ruhig. Wally Watts und Champion schlossen sich ihm an, und die anderen wollten ebenfalls nichts mehr von Streik wissen, ohne zuvor abgestimmt zu haben.
163
27
D
er Nordwind frischte auf, steigerte sich zur steifen Brise – und so blieb es den ganzen Tag. Das meilenlange Stück des Deiches erlitt dadurch keinen Schaden, aber am Abend war der Fluß um einen weiteren halben Meter gestiegen. Mrs. Cosgrove hätte an diesem Tag keinen Grund zur Klage gehabt, wenn sie die Arbeiter beobachtet hätte, aber sie ließ sich wohlweislich nicht blicken. Jill Madden hatte den Knecht abgelöst, hatte die Kühe gemolken und die Rationsschafe auf die kleine Weide geführt, wo sie den spärlichen Pflanzenwuchs abgrasen konnten. Gegen Abend wurden drei Schafe geschlachtet. MacCurdle griff ebenfalls zur Schaufel und half bei einer Gruppe, die aus Bony, Champion und den drei Brüdern gebildet wurde. Am nächsten Morgen kurz nach acht drehte der Wind auf West und entwickelte sich rasch zum Sturm. Gegen Mittag wurde die Lage kritisch. Der Sturm peitschte kurze, meterhohe Wellen gegen den Deich und staute in der Flußbiegung das Wasser an. Die Männer arbeiteten fieberhaft, pausenlos donnerten die Motoren. Am Spätnachmittag waren alle so in ihre Arbeit vertieft, daß nur Bony bemerkte, wie Totenmarsch-Harry plötzlich die Schaufel wegwarf und mit feierlichen Schritten davonmarschierte. Bony sah sich nach Kittchen-Mick um – er arbeitete mehrere hundert Meter entfernt und hatte keine Ahnung, daß sein Gefährte wieder einen Anfall bekam. Bony lief hinter Harry her und packte ihn am Arm. Er wollte den Mann eigentlich nur zu Mick zurückbringen. Durch das Heulen des Sturms hörte er das »Bombe – Bombe – Bombe! Ich bin tot!« »Sie sind nicht tot, Harry. Es ist doch alles in Ordnung.« 164
»Tot! Der Revolver ging los. Es war nicht seine Schuld. Der Lump wollte mich totschlagen. Tot! Ich bin tot! Bombe – Bombe – Bombe!« Sie gingen zum Deich zurück, als Kittchen-Mick sie bemerkte. Er rannte sofort auf die beiden zu. Sein Gesicht verriet deutliche Sorge, und er faßte Harry am anderen Arm. »Vielen Dank, Inspektor. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß er nicht mehr da war. Ausgerechnet jetzt muß er wieder einen Anfall bekommen! So, Harry, alter Junge, jetzt kriegst du eine Tablette, und dann legst du dich aufs Bett.« Bony machte sich wieder an die Arbeit. Diese menschliche Tragödie erregte sein tiefes Mitgefühl, doch im Augenblick hieß es schaufeln und trampeln, während ihm der Sturm das Wasser in die Augen sprühte. Als die Sonne unterging, legte sich der Sturm. Um sechs Uhr stürmten keine Wellen mehr gegen den Deich an, der Fluß wälzte sich träge vorbei. Die Männer waren viel zu erschöpft, um sich beim Abendessen zu unterhalten. MacCurdle erschien in der Kantine und trat an das Ende des langen Tisches. »Von heute morgen an wird die Zulage verdoppelt, und zwar solange die Gefahr für den Deich anhält. Ich hoffe, daß ihr uns nicht im Stich laßt, falls wir euch während der Nacht brauchen sollten.« Drei Nächte und zwei Tage vergingen, dann wich das Hochwasser langsam zurück. Der Manager und Bony waren völlig erschöpft, sie hatten sich in den Nächten abgelöst, hatten mit Schaufel und Laterne die Deichkrone abpatrouilliert. Nachdem Bony sich überzeugt hatte, daß das Hochwasser tatsächlich zurückging, rief er Chefinspektor Macy an. »Ah, Bony, der Rebell!« begrüßte ihn Macy. »Was macht bei Ihnen das Hochwasser? Hält der Deich?« »Das Hochwasser geht zurück, und der Deich hat gehalten.« Bony vergewisserte sich, daß niemand im Büro war. »Ich möchte eine Verhaftung vornehmen – wegen dringenden Tatverdachts. Gelegenheit und Motiv liegen vor, aber ich muß erst noch die Waffe finden. Dazu brauche ich Unterstützung.« »Gut, ich schicke Ihnen ein paar Leute. Wahrscheinlich noch’ heute nachmittag.« 165
»Es müßte alles nach einem gewissen Zeitplan gehen, Chefinspektor.« »Gut, was schlagen Sie vor?« Bony erklärte seinen Plan, und Macy war einverstanden. Um drei Uhr schlug der Koch auf seinen Triangel, und fünf Minuten später saßen alle Männer am Tisch. Um drei Uhr fünfzehn fuhr Ray Cosgrove mit dem Kleinlaster zum Landestreifen. Zehn Minuten später landete ein Flugzeug, und zwei Männer mit grimmigen Gesichtern kletterten heraus. Sie wurden von Ray sofort zur Arbeiterkantine gefahren. Dort traten sie zu Kittchen-Mick. »Michael Carmody, ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, am Morgen des neunzehnten Juli dieses Jahres William Lush ermordet zu haben«, sagte einer der beiden Kriminalbeamten. »Sie können noch Ihre Sachen holen. Der Haftbefehl bezieht zwar einen gewissen Totenmarsch-Harry nicht mit ein, aber wir haben Anweisung, Ihnen mitzuteilen, daß er uns nach Bourke begleiten darf, wo er ärztliche Behandlung erhalten wird. Gehen Sie freiwillig mit oder …?« »Lassen Sie die Handschellen ruhig stecken«, erwiderte KittchenMick. »Komm, Harry.« Er ging zur Baracke der Scherer, ließ Totenmarsch-Harry zwischen den beiden Kriminalbeamten gehen. Als er Bony und MacCurdle vor der Tür stehen sah, zögerte er. »Inspektor«, sagte einer der Beamten aus Bourke, »wir haben die Verhaftung vorgenommen. Der Beschuldigte möchte noch seine persönliche Habe holen.« Bony schloß die Tür auf. Zu beiden Seiten eines langen Ganges lagen Zweimannkabinen. Bony fragte, welche Kabine von Mick und seinem Gefährten bewohnt werde, und Mick zeigte sie ihm. Die sechs Männer hatten kaum Platz in dem winzigen Raum. »Welches ist Ihr Bett, Mick?« fragte Bony, und der Tramp deutete wortlos darauf. Nur Bettstelle und Strohsack wurden von der Schafstation gestellt. Bony durchsuchte die Bettwäsche, hob den Strohsack hoch und griff seufzend nach dem Revolver. Ein kleiner Lederbeutel mit Patronen lag daneben. Er reichte die Sachen einem der Kriminalbeamten, der sich 166
die Nummer der Waffe notierte. Er ließ die Trommel herausschnappen, sie war leer, und dann lugte er durch den Lauf. »Haben Sie etwas zu sagen, Mick?« fragte Bony. »Sie haben mir die Waffe unter die Matratze geschoben, Inspektor.« »Ich hatte überhaupt keine Ahnung, welche Kabine Sie bewohnen, ich war auch nie zuvor in dieser Baracke. Ich muß annehmen, daß William Lush mit dem Revolver erschossen wurde. Sie wissen, daß es nicht schwer ist, dies zu beweisen. Wollen Sie uns nicht erzählen, warum Sie Lush erschossen haben?« »Da müssen Sie mir schon zuerst sagen, was Sie gegen mich vorbringen.« »Na schön. Ich will Ihnen den Gefallen tun. Sie überlegen sich inzwischen, was aus Harry werden soll. Also – ich fragte Sie, wo Sie in der Nacht vom achtzehnten zum neunzehnten Juli gewesen seien, und Sie behaupteten, mit Harry am alten Wollwaschkanal von Murrimundi kampiert zu haben. Das stimmt nicht. Champion und Miner Smith haben nämlich dort übernachtet, und keiner hat Sie gesehen. Außerdem waren zwei Arbeiter aus Murrimundi dort, und auch die haben keine Spur von Ihnen bemerkt. Am siebzehnten Juli haben Sie bei den Maddens um Essen gebeten. Dann trampten Sie flußabwärts und kampierten mit den Brüdern in Madman’s Bend. Am frühen Morgen des neunzehnten verließen Sie die Brüder und marschierten flußaufwärts. Ich weiß nicht, was Sie vorhatten – es spielt auch keine Rolle. Sie sahen Lushs Lastwagen, der bei den Briefkästen stand. Entweder war Lush schon da, oder er kam hinzu. Es gab einen Streit, in dessen Verlauf Lush drohte, Harry in eine Anstalt stecken zu lassen. Er war Schafzüchter, Sie aber sind Tramps, da konnte er seine Drohung ohne weiteres wahrmachen. Da erschossen Sie ihn und warfen die Leiche ins Wasserloch. Dann nahmen Sie die Flaschen aus dem Karton und verschwanden in Madman’s Bend. Sie überlegten, was nun zu tun sei. Dabei öffneten Sie eine Flasche Whisky. Von nun an konnte ich Ihre Spur nicht weiterverfolgen. Sie blieben unsichtbar bis zu dem Morgen, an dem Sie der Postchauffeu-r sah. Das war viele Meilen südlich der Briefkästen, und Sie marschierten in nördlicher Richtung. Sie führten dieses Zusammentreffen bewußt herbei, um den Eindruck zu erwecken, weit im Süden gewesen zu sein, als Lush verschwand.« »Nicht schlecht, Inspektor«, meinte Mick. »Fahren Sie fort.« 167
»Gern, Mick. Ein gewisser Petersen hat am Morgen des neunzehnten an der Feuerstelle vor dem Schurschuppen seinen Tee gekocht. Da hat er gesehen, wie ein Mann aus dem Lager der Brüder kam und in dem Wasserloch unterhalb des Schuppens einen Eimer Wasser holte. Petersen sieht nicht gut, er war sicher, Bullocky Alec gesehen zu haben. Aber er hat sich geirrt, denn Bullocky Alec saß um diese Zeit in Wilcannia im Gefängnis. Sie waren es, und Sie sehen Bullocky Alec ähnlich.« »Was Sie nicht sagen.« Mick nickte. »Der alte Petersen hat einen Revolver. Er muß an diesem Morgen auf seinem Weg zu den Vospers an Lushs Wagen vorbeigekommen sein. Verhören Sie ihn doch.« »Das haben wir bereits getan«, erwiderte Bony. »Wenn Sie doch den Revolver weggeworfen hätten.« Kittchen-Mick saß neben Totenmarsch-Harry, der zu Boden starrte, auf dem Bett. Er faßte seinen Gefährten am Arm. »Harry, hast du ihm erzählt, daß Lush gedroht hat, dich in eine Anstalt zu schicken?« fragte er leise. »Du mußt es ihm gesagt haben, denn außer uns beiden weiß es doch niemand.« Totenmarsch-Harry blickte Mick an. »Ich kann mich nicht entsinnen, Mick«, murmelte er, und Bony sah deutliche Zweifel in seinen Augen. »Ich muß es ja wohl gewesen sein. Ich erinnere mich nur, wie Lush auf uns zustürzte und schrie, wir würden seine Flaschen stehlen. Er war wie von Sinnen. Riß einen Pfosten vom Briefkasten los und schlug auf mich ein. Hat mich dabei an der Schulter verletzt. Dann brüllte er, er w.ürde mich in eine Anstalt bringen, und schlug nochmals zu, aber diesmal traf er seinen Wagen. Da ging der Revolver los. Der Revolver ging los. Der Re …!« Er brach ab, und tiefe Stille trat ein. Plötzlich stand er auf, hob feierlich einen Fuß, und dann ertönte das bekannte »Bombe!« »Das hat ihm den Rest gegeben.« Mick seufzte. »Ja, wenn ich den Revolver doch nur weggeworfen hätte. Geben Sie ihm bitte eine Tablette – sie sind hier in diesem Fläschchen.« Gehorsam schluckte Harry die Tablette, die ihm Bony reichte. »Ja, es war so, wie er gesagt hat«, fuhr Mick fort. »Wir wollten angeln, und da sahen wir den Wagen. Wir beäugten ihn gerade, da stand plötzlich Lush vor uns. Er ging mit dem Pfosten auf Harry los und traf ihn an der Schulter. Harry stand ganz still, er hätte ihn glatt totschlagen können. Ich stand auf der anderen Seite des Wagens, konnte Lush nicht 168
in den Arm fallen. Wahrscheinlich hat Lush mich gar nicht gesehen, so wütend war er. Ich wollte ihn lediglich kampfunfähig machen. Schnaps war überhaupt keiner da, den wir hätten stehlen können. Außerdem hätte ich keinen genommen, denn Alkohol ist schädlich für Harry. Lush muß die Flaschen irgendwo versteckt haben. Inspektor, werden Sie dafür sorgen, daß Harry gut untergebracht wird?« »Das verspreche ich Ihnen, Mick.« »Ich bin tot«, murmelte Totenmarsch-Harry. »Quatsch!« Mick schüttelte ihn. »Komm jetzt, wir packen unsere Sachen. Dann fahren wir für eine Weile in die Stadt. Nur für eine Weile, und dann kommen wir zum Darling zurück. Ganz bestimmt!«
169