Christiane Blasius
Gesetzt den Fall es gäbe dich Eine phantastische Erzählung
lucy körner verlag
Die Deutsche Bibli...
48 downloads
1157 Views
969KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Christiane Blasius
Gesetzt den Fall es gäbe dich Eine phantastische Erzählung
lucy körner verlag
Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme Blasius, Christiane: Gesetzt den Fall es gäbe dich : Eine phantastische Erzählung / Christiane Blasius. -1. Auflage -Fellbach : Körner, 1991 ISBN 3-922028-19-5
1. Auflage Oktober 1991 © 1991 lucy körner verlag Postfach 1106, 7012 Fellbach. Alle Rechte vorbehalten. Satz und Druck: J. F. Steinkopf Druck + Buch GmbH, Stuttgart. ISBN 3-922028-19-5
3
4
Tina verlangsamte den Wagen, denn soeben war das Ortsschild etwas zu schnell an ihr vorbeigehuscht. Willnau, ein Name, den die meisten Landkarten verschwiegen, da sich nicht genug dahinter verbarg, das einen kleinen schwarzen Punkt rechtfertigen würde. Der Ort bestand aus ein paar Häusern, einem längst stillgelegten Steinbruch und einem Heimatmuseum, das nur deshalb durchgehend zu besichtigen war, weil ohnehin nie jemand vorbeikam. Willnau war kaum mehr als eine Landstraße, die Ortskundige dazu benutzten, der überfüllten Autobahn zu entgehen. Tina parkte ihren Wagen an einem Feldweg und stieg aus, um ein bißchen von diesem Willnau einzuatmen. Sie war viele Jahre nicht mehr hier gewesen, doch ihre Erinnerungen hatten diese lange Zeitspanne unbeschadet überdauert. Willnau - das war noch immer Sommerferien, Onkel Thomas und bisweilen die heimliche Sehnsucht nach dem Meer, besonders wenn man bei starkem Ostwind die Autobahn rauschen hörte. Heute wehte eine kalte Brise von Westen her zwischen den Häusern hindurch, und es roch nach Schnee. Der Sommer war weit weg, und die Fähigkeit, aus Willnau eine Zauberinsel zu machen, hatte mit den Jahren stark nachgelassen. Tina schloß die Wagentür ab. Als Kind war sie behender über den Zaun geklettert, um den Weg zum Haus ihres Onkels abzukürzen. Nach den Vögeln, die wie Noten auf den Hochspannungsdrähten hockten, sah sie dabei allerdings noch immer. Je näher sie dem alten, zu keiner Jahreszeit freundlichen Fachwerkbau kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Die „Burg“ ihres Onkels lag, von der eigentlichen Häuserzeile zurückgezogen, hinter einem Hof in einem vernachlässigten Garten. Nur gelegentlich fiel Licht darauf. Die meiste Zeit des Tages bestimmten Schatten das Gesicht des Gebäudes. Sie kamen von den verwilderten Obstbäumen, die kaum noch Früchte trugen, weil niemand sie beschnitt. Tina sah sich um. Es war Mittag, eine Zeit, in der Willnau endgültig zu einer Geisterstadt erstarrte. Tina setzte sich auf einen mit Spänen bedeckten Baumstumpf, der wohl noch immer von Thomas zum Holzhacken benutzt wurde. Der Wind strich durch ihre Haare und ließ sie frösteln. Sie hoffte, daß sich wenigstens die Gardine eines nahen Fensters bewegen würde. Doch das wäre um diese Tageszeit gegen jede Regel gewesen. Es gab nicht viele Gründe, an einem grauen Wintertag nach Willnau zu fahren, um einen kauzigen alten Onkel zu besuchen, der die meiste Zeit in der Vergangenheit lebte und sich nach Meinung der anderen Dorfbewohner kaum von den Ausstellungsstücken seines Museums unterschied. Aber es gab keinen besseren Platz, um sich eine Weile vor der Realität zu verstecken, als das schwarzweiße Schaffell in der Küche von Onkel Thomas. Den nie ganz verflogenen strengen Geruch in der Nase, 5
hatte Tina auf diesem Fell so manches Kindheitsproblem gelöst. Sie war nicht sicher, ob die Wirksamkeit dieser Methode noch Bestand hatte. Sie schämte sich ein bißchen für ihren Rückzug. Doch ihr war nichts anderes mehr eingefallen. Sie mußte jetzt irgendwie herausfinden, warum sie ihre Energien benützte, um ihr eigenes Leben zu demontieren. Sie konnte sich keine weiteren Amokläufe mehr leisten. Tina erhob sich schwerfällig. Ihre Ankunft in Willnau glich einem atemlosen Stehenbleiben. Das war keine Lösung, aber immerhin ein Versuch. Zerstreut strich Tina über das verwitterte Schild, das auf die Existenz des Museums hinwies und der Umgebung so angepaßt war, daß es keinerlei Aufmerksamkeit mehr erregte. Sie schüttelte die Beklemmung ab und griff nach dem Lederband der Türglocke. Das scheppernde Geräusch ließ sie auch heute noch zusammenzucken. Sie mußte lachen. Es wirkte eher störend, daß die massive Holztür beim Öffnen weder knarrte noch quietschte. Die rauhe Stimme von Onkel Thomas glich diesen Mangel aus: „Da bist du ja endlich! Der Tee wird nach einer Stunde auf dem Stövchen auch nicht besser.“ Tina gab ihrem Onkel einen flüchtigen Kuß neben die Nase, obwohl er das nie gemocht hatte. Dann ging sie ihm voraus in die Küche. Den Tee warten lassen hieß Thomas warten lassen. Außer dem Museum gab es kaum etwas, das ihr Onkel wichtiger nahm als die vielfältigen Blätter, die unter seinen Händen und kochendem Wasser zu wundertätigen Getränken wurden. Die Messingwaage und die Eieruhr verrieten, daß sich wenig an diesem Brauch geändert hatte. Tina setzte sich auf das Schaffell und drückte ihren Rücken fest gegen den Kachelofen. „Wie geht es deinem Museum?“ fragte sie in einem Tonfall, mit dem man sich für gewöhnlich nach Gesundheit, Familie und beruflichem Fortkommen erkundigt. „Als ob dich das interessieren würde“, murmelte Thomas und reichte Tina den Tee. „Dein Brief war ziemlich verworren. Ich habe nur verstanden, daß du für einige Tage bei mir unterkriechen willst.“ Tina blinzelte in ihre Tasse, die Gläser ihrer Brille beschlugen dabei. „Darf ich eine Erklärung verschieben?“ fragte sie. „Schon gut“, sagte Thomas und wandte sich seinem Tee zu. Es wurde still in der Küche. Nur das Ticken der Standuhr drängte sich auf. Das Schweigen war für Tina bedrückend und vertraut zugleich. Sie blickte aus dem Fenster in die kahlen Baumkronen. „Im Winter war ich noch nie hier“, bemerkte sie, um etwas zu sagen. Thomas stand auf. „Wenn es schneit, ist es sehr schön. Ich bin drüben im Museum. Dein Zimmer kennst du, richte dich häuslich ein.“ Tina blieb noch eine ganze Weile neben der Ofenbank auf dem Schaffell sitzen, das Kinn gegen die spitzen Knie gedrückt. Geborgenheit war plötzlich das Gefühl, niemanden in der Nähe zu haben, der etwas ver6
langte. Es zog Tina nicht auf die Straße, wo sie befürchten mußte, plötzlich von einem erfreuten „Ach sieh an, ist das nicht die kleine Tina, die Nichte vom Evers“ ertappt zu werden. Die Welt bestand vorläufig aus einem Schaffell und war damit groß genug. Tina trank bedächtig eine zweite Tasse Tee, bevor sie hinausging, um den Wagen auf den Hof zu fahren und die Koffer ins Haus zu tragen. Die Straßen und Feldwege waren noch immer verlassen. Nur ein Hund bellte Tina nach. Es war etwas mühsam, die Koffer über die schmale Stiege hinauf in die Dachkammer zu befördern. Hier hatte sich nichts verändert, sogar der vertraute Geruch war geblieben, obwohl die Dachluke offenstand. Tina stellte den Radiorecorder mitten auf den von Thomas gezimmerten Tisch, ein Akt, mit dem sie von jedem Ort der Welt Besitz ergreifen konnte, sofern eine Steckdose vorhanden war. Thomas hatte das Bett frisch bezogen, und auf dem Kissen saß Rudi, ein Plüschpandabär und Spielgefährte aus alten, leicht verklärten Zeiten. Der Heizlüfter war neu. Tina schaute kritisch hinauf zu den groben Dachbalken. Als Kind hatte sie großen Respekt vor Feuer gehabt und nur mit Überwindung ein Streichholz anzünden können. Heute rauchte sie, aber manchmal träumte sie noch von brennenden Häusern. Tina schaltete das Radio ein, warf den Koffer auf das Bett und begann, lieblos auszupacken. Der schmale Kleiderschrank knarrte unter den dicken Pullovern. Tina drehte sich im Stehen eine Zigarette und trat an die Dachluke. Thomas hatte ihr einen Aschenbecher hingestellt, ein nachsichtiges Zugeständnis, das sich allerdings auf dieses Zimmer beschränken würde. Tina blies den Rauch ins Freie und sah zu, wie er seitlich über das Dach gedrückt wurde. Sie blieb an der Dachluke stehen, bis ihre melancholische Stimmung bedrohlich angenehm wurde. Das Museum befand sich im größten Zimmer des alten Hauses. Es war noch immer schlecht ausgeleuchtet. Thomas saß über einem dicken, abgegriffenen Buch. „Was treibt mein Onkel?“ erkundigte sich Tina. Thomas hielt mit dem Zeigefinger eine Zeile fest. „Dein Onkel sichtet neues Material.“ Tina spürte ein aggressives Kribbeln in den Fingerspitzen. „Sag bloß, es gibt über diese langweilige Gegend noch immer was Neues zu entdekken?“ In seinem Museum war Thomas kein geeigneter Partner für einen Streit, er besaß dort eine unantastbare Souveränität. „Ich konnte ein Buch auftreiben, das sich mit dem vulkanischen Ursprung dieser Gegend befaßt. Noch vor dreihundert Jahren soll es hier eine warme Quelle gegeben haben. Leider gehen Wissenschaft und Legende sehr durcheinander.“ Tina hockte sich auf eine massive Glasvitrine mit alten Münzen und zupfte ein Haar von ihrer Schulter. „Bei mir nicht“, sagte sie heftig, „ich hatte 7
erst vor kurzem einen Vulkanausbruch allererster Güte.“ Thomas blickte über den Rand seiner Lesebrille. „Wie groß ist der Flurschaden?“ erkundigte er sich höflich. Tina mußte niesen und ließ ihren Zorn am Taschentuch aus. „Peter und ich haben uns vorübergehend getrennt. Partnerschaftsurlaub nennen wir das. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal zu solchen Methoden greifen würde. Aber ich bin tatsächlich an einem Punkt... Also eines schwöre ich dir: Sollte Peter vor Ablauf der nächsten drei Wochen hier auftauchen, werfe ich ihn raus!“ Damit war alles Wichtige gesagt, die Spielregeln lagen fest. Thomas nickte und vertiefte sich wieder in sein Buch. Eher unmerklich hatte sich die Dämmerung über den blassen Himmel geschoben. Es war die Zeit, in der die Willnauer zu ihren Milchkannen griffen, um bei einem der umliegenden Bauernhöfe den Bedarf für den kommenden Tag zu decken. Tina stand in der Küche und erinnerte sich daran. Sie mußte auf einen Stuhl steigen, um die zerbeulte Kanne vom Haken zu holen. Im Gegensatz zu seiner Nichte mochte Thomas keine Milch, das sah man. Er besaß die Kanne wohl nur noch, weil er ungern etwas wegwarf. Der Wind war umgesprungen und hatte die Wolken aufgerissen. Tina zog ihre Pudelmütze noch tiefer über die Ohren. Sonnenstrahlen kamen und gingen wie Irrlichter. Wechselnde Schatten gaben dem eintönigen Straßenbild neue Konturen. Tina beschloß, den Weg über den Steinbruch abzukürzen, um noch eine Weile allein zu sein. Den ersten Spaziergang mochte sie nicht teilen. Sie kletterte wieder über einen Zaun, diesmal fiel es ihr schon bedeutend leichter. Beschwingt ging sie am Wiesenrand weiter. Die Milchkanne schaukelte in ihrer Armbeuge und schlug rhythmisch gegen ihre Hüfte. Vor ihren Füßen kreiselten braune Blätter im Wind. Hinter dem kleinen Krähenwäldchen gaben die Bäume den Blick in den Steinbruch frei. Tina schaute an der senkrechten Felswand hinauf und atmete tief ein. Ihr wurde auch heute noch schwindelig dabei. Sie verließ den Pfad, um ein paar Erinnerungen zu folgen und durch das Gelände zu streifen. Der Steinbruch war besonders am Abend eine ideale Bühne für Phantasien aller Art. Vielleicht lag es an Thomas' neuen Studien, daß sich die Felswand in einen gigantischen Vulkan verwandelte, der ein zerfranstes Wolkenfeuerwerk über Willnau ausspie. Schon immer war Tina am liebsten allein im Steinbruch gewesen. Doch sie konnte das Kunststück, sich in ihrer eigenen Haut wohlzufühlen, nicht wiederholen. Die schweigenden Felsen vermittelten keine Ruhe. Tina empfand sich als unvollständig. Sie wußte nicht, was sie vermißte, doch seit sie es verloren hatte, lebte sie halbherzig. Keine noch so deutliche Erinnerung kam gegen dieses Vakuum an. 8
Sie mußte sich setzen, da ihre Schuhe beim Gehen drückten. Sie zog sie aus. Dabei hörte sie hinter sich Schritte im Geröll. Der Gedanke an Gesellschaft war ihr eher unbehaglich. Tina wandte sich um, mit einer nichtssagenden Begrüßung auf den Lippen, die keinen Unterschied zwischen Fremden und ehemaligen Bekannten machte. Sie mußte sofort die Augen schließen, da sie etwas Grelles schmerzhaft blendete. Sie war so erschrocken, daß sie sich erst einmal abwandte und einen alten Abzählreim aufsagte, ehe sie versuchte, ein zweites Mal hinzusehen. Sie mußte heftig blinzeln. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand eine menschliche Gestalt, die von Kopf bis Fuß hell glühte und eine trockene Wärme abstrahlte. Tina nahm Einzelheiten auf, ohne reagieren zu können: Lange, weit über die Schultern fallende Haare umgaben in flammenden Wellen ein kindlich rundes Gesicht, das von einem fragenden Blick beherrscht wurde. Tina wandte sich erneut ab, hob einen Stein hoch und wog ihn in der Hand. Dann warf sie ihn über das Geröllfeld. Es gelang ihr nicht, ihren Herzschlag zu beruhigen. Kalter Schweiß rann zwischen ihren Schulterblättern den Rücken hinunter. Die Grenzlinie, die sonst Einbildung und Wirklichkeit zuverlässig voneinander getrennt hatte, war plötzlich nicht mehr erkennbar. Tina mußte sich auf andere Weise bewußt machen, daß sie phantasierte. Die Maßlosigkeit ihrer Einbildung half ihr dabei. Das glühende Wesen war trotzdem näher gekommen. Tina sah es so deutlich vor sich wie ihre eigenen, zitternden Hände. Auch die Wärme spürte sie zusammen mit dem Wind in ihrem Gesicht. Das Gefühl war zu intensiv. Tina sprang auf. Dabei stolperte sie über ihre ausgezogenen Schuhe und stürzte. Eine ansteigende Hitze lag auf ihr, die glühende Gestalt beugte sich über sie. „Bitte“, sagte Tina, „tu mir nicht weh!“ Das Wesen schien zu erschrecken, es wich zurück. Tina richtete sich auf und versuchte, ihrer Stimme einen drohenden Unterton zu geben: „Verschwinde! Mach, daß du wegkommst, na los!“ Betont langsam zog sie ihre Schuhe an. Das Wesen ging dabei weiter rückwärts, ohne seinen Blick von Tina zu lösen. Manchmal strich es sich die langen Haare aus dem Gesicht. Seine Hand berührte den Ast eines abgestorbenen Holunderbusches. Das dürre Holz fing sofort Feuer. Der brennende Zweig knickte ab, fiel zwischen die Steine, und die Flamme erlosch. Tina rannte los. Sie lief, bis sie den Hund von Bergheims bellen hörte. Keuchend lehnte sie am Zaun der Kuhweide. Ihr Rücken prickelte, obwohl die Drähte im Winter keinen Strom führten. Sie mußte sich zwingen zurückzuschauen. Ein Mensch aus Feuer und Glut war nirgendwo sichtbar. Tina schloß die Augen. Ihr Kopf schmerzte, und ihr war übel.
9
Tina nahm Frau Bergheim erst wahr, als sie fast mit ihr zusammenstieß. „Hallo, daß du dich auch mal wieder hier sehen läßt. Du bist ja ganz außer Atem. Was soll das sein? Wieder so eine neue Sportart aus Amerika?“ Tina spürte, daß sie lächelte. Sie stand neben sich und hörte sich undeutlich reden: „Man nennt das Jogging, aber neu ist es nicht. Im Gegenteil, ich glaube, es ist schon wieder aus der Mode. Tag, Frau Bergheim.“ Die Bäuerin legte Tina vertraulich den Arm um die Schulter. „Was kümmert uns die Mode. Du kommst sicher Milch holen. Aber wo hast du denn deine Kanne?“ Die Frage traf wie ein Messerstich. Tina fuhr zusammen. Trotzdem antwortete sie ohne Zögern: „Die hab' ich Schussel jetzt im Steinbruch liegengelassen.“ Frau Bergheim lachte. „So jung und schon so vergeßlich. Komm rein, du kannst dir von uns eine Kanne ausborgen. Es ist fast dunkel, da stolpert man leicht im Geröll.“ Tina folgte willenlos der Einladung. Sie ließ sich auf die Eckbank fallen. Frau Bergheim reichte ihr eine Tasse Kaffee. Tina zitterte noch immer so stark, daß sie kaum trinken konnte. „Ja, es ist kalt geworden“, sagte Frau Bergheim, ehe sie die Küche verließ, um die Milch zu holen. Tina versuchte, sich durch regelmäßiges Atmen zu beruhigen. Schließlich gelang es ihr, eine Zigarette zu drehen und anzustecken. Als Frau Bergheim zurückkam, hatte Tina sich auch innerlich wieder vollkommen in der Gewalt. „Ich muß mich sputen“, sagte sie. „Ich hab' mich total verbummelt. Morgen komme ich früher, dann können wir plaudern.“ Frau Bergheim entließ sie mit Grüßen an Onkel Thomas. Tina ging bewußt langsam den Feldweg entlang. Es war still, sie konnte bei jedem Schritt das Schwappen der Milch in der Kanne hören. Die Dunkelheit war angenehm und beruhigend. Ein glühendes Wesen würde sich schon von weitem verraten. Thomas stand in der Küche und schnitt Brot ab. Tina verspürte ein spontanes Bedürfnis, alles sofort zu erzählen, aber sie hielt sich zurück. Sie hatte gelernt zu schweigen, um unerwünschten Reaktionen zu entgehen. Außerdem gab es keinen Grund, die Dinge zu überstürzen. Alles, was Tina hier in dieser Küche sah, war absolut gewöhnlich. Der Tisch war ein Tisch, der Ofen ein Ofen, und der Mann da vor ihr war ihr Onkel. Jede noch so intensive Einbildung barg die Möglichkeit, daß man sie verschwinden lassen konnte.
10
Tina hatte lange geschlafen. Unten auf der Straße bimmelte der Holländer, der je nach Jahreszeit Obst, Gemüse, Blumen oder Käse ausfuhr. Über der Dachluke lärmten ein paar Tauben. Tina tastete schlaftrunken nach dem Radio. Es lief eine Duschbadwerbung. Pandabär Rudi war aus dem Bett gefallen und machte einen unfreiwilligen Kopfstand auf dem Flickenteppich. Tina zog die Bettdecke fest um ihre Schultern. Sie wehrte sich erfolglos dagegen, wach zu werden. Bereits im Halbschlaf hatte sie ein dumpfes Unbehagen empfunden, und die einsetzende Erinnerung verdichtete das Gefühl zu einigen konkreten Problemen. Thomas war vermutlich längst im Museum, aber er hatte Spuren in der Küche hinterlassen. Der Kachelofen war geheizt und der Frühstückstisch gedeckt. Tina wärmte sich einige Minuten den Rücken, bevor sie frischen Kaffee aufbrühte. Sie legte ihre kalten Hände um die dampfende Tasse und versuchte, in sich hineinzuhorchen. Daß sie ihrem Freund Peter im Verlauf der letzten Auseinandersetzung einen Schuh nachgeworfen hatte, war dank der räumlichen Distanz eine eher undeutliche, wenn auch beschämende Erinnerung. So eindeutig waren ihr nie zuvor die Argumente ausgegangen. Aber weder die Spitze dieses Vorfalls noch der darunterliegende Eisberg hatten augenblicklich eine größere Bedeutung, denn im Steinbruch stand eine Milchkanne. Tina sah sie vor sich und mußte sich zu dem Eingeständnis zwingen, daß sie Angst gehabt hatte, von einer glühenden Gestalt angegriffen zu werden, die es nicht gab. Das wog um einiges schwerer als ein nachgeworfener Schuh. Es war fast Mittag, als Tina den Weg in das Badezimmer fand. Thomas besaß keinen Fernseher und keinen elektrischen Dosenöffner, aber er brauchte eine zwei Meter lange Badewanne, eine Dusche und himmelblaue Kacheln vom Fußboden bis zur Decke. Wenn man ausgiebig in Thomas' Küche gefrühstückt hatte, war das Erlebnis seines Badezimmers ein vorübergehender Sprung in eine andere Welt. Tina duschte lange und verbrachte eine weitere halbe Stunde damit, ihren Körper einzucremen und sich die Haare zu fönen. Danach fühlte sie sich gut. „Auch schon wach?“ Thomas stand auf dem Flur. „Sei beim nächsten Mal so nett und wirf den Filter nicht in den Mülleimer. Kaffeesatz gibt nämlich einen guten Kompost ab.“ Und im selben Atemzug sagte er: „Peter hat angerufen.“ Tina stemmte die Hände in die Hüften. „Das war gegen die Abmachung! Was wollte er?“ „Jetzt beruhige dich und wirf nicht gleich wieder mit Schuhen“, sagte Thomas, „er hat nur gefragt, ob du gut angekommen bist. Sprechen wollte er dich nicht, aber Grüße soll ich dir ausrichten.“ „Danke!“ Tina atmete heftig aus. „Das mit dem Schuh mußte er dir natürlich gleich auf die Nase binden. Stimmt, ich bin ausgerastet. Aber das 11
wollte ich dir eigentlich selbst erzählen.“ „Ich konnte ihn leider nicht bremsen“, entschuldigte sich Thomas. „Besorgst du uns ein paar Eier von Bergheims?“ Tina erinnerte sich daran, daß sie Frau Bergheim ein Plauderstündchen versprochen hatte. Es war eine Gelegenheit, die geborgte Milchkanne zurückzugeben, denn bis dahin würde sie die Kanne ihres Onkels längst wiederhaben. Sie befand sich allein auf der Straße. In Gedanken sortierte sie ihre vergangenen Lebensjahre nach dem, was sie Frau Bergheim erzählen wollte und dem, was sie für sich behalten würde. Ein langes Gespräch durfte es demnach nicht werden. Tina schlurfte durch altes Laub am Straßenrand. Zum ersten Mal dachte sie in Willnau an ihr Büro. Eine Kette von Widrigkeiten kam ihr dabei in den Sinn. Das Puzzle einzelner Szenen blieb unvollständig, einer der Gründe, warum sich ein solch häßliches Bild ergab. In der Erinnerung waren die Kunden am Telefon immer unzufrieden und aufgebracht. Wenn Tina an ihren Chef dachte, sah sie ihn mit gerötetem Gesicht schreiend vor sich. Von dem Auszubildenden Michael existierte nur noch sein Leidensweg bis hin zur Prüfung, bei der er durchgefallen war. Tina verzog das Gesicht und schob diese Gedanken beiseite. Das Büro ging sie nichts mehr an. Sie hatte gekündigt, fristgerecht und unter Angabe von Gründen. Die Genugtuung darüber war berauschend gewesen, auch wenn sie kaum mehr als einen Tag angedauert hatte. Die neue Situation offenbarte zu viele Schönheitsfehler. Vier Wochen bezahlter Urlaub standen Tina noch zu, dann hatte sie drei Monate lang keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Ehrlich empfundene Reue blieb jedoch aus. Tina spielte nicht einmal mit dem Gedanken, ihren Entschluß rückgängig zu machen. Sie wollte ihre plötzliche Freiheit auskosten, solange sie diese noch als solche empfinden konnte. Es gab nur ein Problem, das hier und sofort zu lösen war. Tina bog in den Feldweg ein. Der Steinbruch lag vertraut still und einsam vor ihr. Tina sah sich um und lauschte. Das Echo des Steinbruchs vervielfältigte nur den Klang ihrer eigenen Schritte im Geröll. Ganz unvermittelt stand sie vor ihrer Milchkanne. Es war genau der Platz, an dem sie am Tag zuvor ihre Schuhe ausgezogen hatte. Sie hob die Kanne auf. Zuerst war sie nur erleichtert, dann kam sie sich lächerlich vor. Sie stand da, die Kanne an die Brust gedrückt und mußte lachen - bis ihr Blick auf den verbrannten Ast des Holunderbusches fiel. Die Kanne glitt ihr aus der Hand und rollte einen kleinen Abhang hinunter. Tina ging wie an einer Schnur gezogen vorwärts. Prüfend zerrieb sie etwas Asche zwischen den Fingern. Es gab sicher irgendeine einleuchtende Erklärung dafür, doch selbst dann blieb das Zusammentreffen der 12
Dinge unheimlich. Sie starrte auf ihre schmutzigen Finger. Ein warmes, helles Licht fiel auf ihren Rücken. Vor ihren Fußen entstand ein langer Schatten. Sie drehte sich um, obwohl sie bereits wußte, was sie sehen würde. Das Wesen stand vor ihr. Sie mußte die Augen zusammenkneifen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sie war plötzlich ganz ruhig. „Ich hab's also tatsächlich geschafft“, sagte sie laut zu sich selbst, „ich bin total übergeschnappt. Ich sehe einen glühenden Menschen. Ich weiß, daß er nicht da ist, aber ich sehe ihn trotzdem.“ Das feurige Geschöpf wich wieder zurück. Doch dann blieb es stehen, neigte den Kopf zur Seite und sah Tina fragend an. Es konnte lächeln, und es redete. Seine Stimme war sanft und klang etwas rauchig: „He, das ist ja aufregend. Du kannst mich tatsächlich sehen?“ Tina kletterte in die Mulde zu ihrer Milchkanne. Dabei rief sie über die Schulter: „Jetzt reicht's mir aber! Mach mir nicht auch noch vor, daß du reden kannst!“ Es kam keine Antwort. Tina hob die Kanne hoch. „Na siehst du, es geht doch. Wenn du dich jetzt freundlicherweise noch in Luft auflösen würdest, meinetwegen auch in Rauch - Himmel, warum begreife ich nicht, daß ich mit mir selbst rede?“ „Du magst mich nicht.“ Das glühende Wesen kniete am Rand der Mulde, ständig bemüht, sein Gesicht von den langen, flammenden Haaren freizuhalten. „Das wird ja immer besser“, stotterte Tina, „mögen soll ich dich jetzt auch noch.“ Sie blieb kraftlos in der Mulde sitzen. Warme Luft umhüllte sie. Tina musterte das Feuerwesen genauer. Nüchtern betrachtet hatte sie einen nackten Mann vor sich, wenn auch die Konturen durch das helle Licht und die dicht über der Körperoberfläche flirrende Luft etwas verschwammen. Tina putzte sehr ausgiebig ihre beschlagene Brille. „Sigmund Freud hätte seine helle Freude an uns beiden gehabt“, sagte sie leise. Das glühende Geschöpf nahm unbefangen die Unterhaltung wieder auf: „Du hast mir gestern einen riesigen Schrecken eingejagt, als du mich plötzlich angesprochen hast. Außer dir sieht mich doch keiner, daran kann man sich ganz schön gewöhnen.“ Tina hatte Mühe, die Bügel ihrer Brille wieder hinter die Ohren zu schieben. „Ich habe dir einen Schrecken eingejagt? Das ist ja wirklich großartig. Wenn einer erschrocken ist, dann ich!“ Das Wesen lachte hell auf. „Tut mir leid, ehrlich. Woher sollte ich wissen, daß du mich siehst? Aber komm doch hoch, ich glaube, wir brauchen keine Angst mehr voreinander zu haben.“ Tina kroch auf Händen und Knien über den Rand der Mulde. „Also schön“, dozierte sie angestrengt, „mal angenommen, es gäbe dich. Verrate mir, wer du bist und wo du herkommst.“ 13
Ein erstaunter Blick streifte sie. „Woher soll ich das wissen? Ist es wichtig? Ich bin eben da, das ist alles.“ Tina stand auf und klopfte sich den Schmutz von den Hosenbeinen. „Das ist sehr wichtig. Ich will dir sagen, warum du mir nicht antworten kannst. Du bist nichts weiter als eine Einbildung. Du existierst nur in meiner Phantasie, es gibt dich gar nicht!“ „Mich gibt's nicht? Komisch!“ Das glühende Geschöpf streckte sich im Geröll aus und reckte mit sichtlichem Behagen seine feurigen Glieder. „Na gut, einverstanden, ich fühl' mich ganz wohl dabei.“ Tina schloß müde die Augen. Sie wünschte sich, mitten in ihrer Welt der Visionen einschlafen zu können. Nur dann waren Träume legitim, und jede noch so phantastische Einbildung hatte ihre Berechtigung. Kein Mensch wird nach dem Aufwachen ernsthaft für seine Träume verantwortlich gemacht. Das Wesen wärmte aus sicherer Entfernung wie ein Ofen. Tina legte sich in das Geröll, schob die Milchkanne unter ihren Kopf und schaute unverwandt in den Himmel. Sie dachte daran, daß sie vielleicht erfrieren würde, denn eingebildete Wärme konnte sie unmöglich vor der Winterkälte schützen. Sehr erschreckend war diese Vorstellung nicht. Ein unangenehmer Geruch stieg Tina in die Nase. Sie hob den Kopf und sah eine glühende Hand, die forschend ihren Jackenärmel berührte. Unter der Hitze begann der synthetische Stoff dunkel zu verschmoren. Tina riß wortlos ihren Arm zurück und starrte auf das Brandloch. „Ach, schon wieder!“ Die Stimme des feurigen Wesens klang nach Enttäuschung, und ein wenig hilflose Wut mischte sich darunter. „Ich hatte gehofft, daß du nicht brennen würdest. So was passiert mir dauernd. Ich glaube, nur die Steine mögen mich. Darum bin ich auch am liebsten hier.“ „Das hat nichts mit mögen zu tun, sondern mit Chemie und Physik“, murmelte Tina. Sie war im Begriff, etwas zu trösten, für dessen Entstehung sie sich verantwortlich fühlte und das jetzt traurig aussah. „Ich heiße Tina.“ „Ich hab' leider noch keinen Namen“, sagte das glühende Geschöpf. „Gibst du mir einen?“ Tina streckte abwehrend die Hände aus. Sie kannte das. Wenn sie Tieren, Gegenständen oder Phantasien einen Namen gab, blieb sie an ihnen hängen. Das Wesen warf sich mit einem Ruck die Haare aus dem Gesicht. „Na ja, wenn es mich nicht gibt, dann brauche ich auch keinen Namen. Hab' ich dich da richtig verstanden?“ „Ich muß gehen!“ Tina sah auf die Uhr und stand auf. Ihr Abgang geriet schlecht, und sie schämte sich dafür. Aber sie drehte sich nicht mehr um.
14
Der Hund von Bergheims begrüßte Tina mit unverwechselbarem Bellen. Er war eine Promenadenmischung namens Kügelchen, vermutlich wegen seines runden, wohlgenährten Bauches. Frau Bergheim klopfte von innen an die Fensterscheibe und winkte. „Komm rein, Kaffee ist fertig.“ Tina hob Kügelchen hoch, und die feuchte, kalte Hundenase an ihrer Wange tat ihr gut. „Ich glaube, er kennt mich noch“, sagte sie zur Begrüßung und putzte sich erst einmal gründlich die Schuhe ab, ehe sie den mosaikartig gefliesten Küchenfußboden betrat. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen strömte ihr entgegen. Das alles war vertraut und mit zahllosen vergangenen Szenen belegt. Es gehörte so eindeutig auf die Seite der Wirklichkeit, daß Tina befreit aufatmete. „Da bin ich, wie versprochen. Was gibt es Neues in Willnau?“ Frau Bergheim legte die Schürze ab, goß Kaffee ein und schnitt den Kuchen an. „Eine Menge“, sagte sie augenzwinkernd, „wie immer. Dich zum Beispiel. Man behauptet, du sähest blaß aus und wärest viel zu dünn. Nimm bitte Kuchen, ich möchte nicht auch noch persönlich dafür verantwortlich gemacht werden.“ Es entspann sich ein Gespräch, das die Bezeichnung Tratsch redlich verdiente. Tina genoß es unbefangen. Über den ganz normalen Wahnsinn ließ es sich bequem reden. Die Fragen, wer wann und wo ein Glas zuviel getrunken hatte und dann ausfallend geworden war, wer plötzlich ein neues Auto besaß, das nicht zum monatlichen Einkommen paßte, und wer mit wem zusammen war oder sich trennte, behielten immer ihre typische Faszination. Frau Bergheim war eine angenehme Tratschpartnerin. Sie konnte auch sich selbst mit dem ihr eigenen Humor zum Gegenstand von Klatschgeschichten machen. „Was ist denn mit deinem Ärmel passiert?“ Es war eher beiläufig gefragt, doch Tina mußte die Kaffeetasse abstellen. Ihr wurde heiß im Gesicht. „Ein Brandloch“, sagte sie dann kopfschüttelnd. „Das kommt davon, wenn man beim Rauchen nicht aufpaßt.“ Diese Erklärung ging ihr so selbstverständlich über die Lippen, daß es sich dabei um die Wahrheit handeln mußte. Tina lächelte erleichtert. Trotzdem konnte sie sich nicht mehr in die Idylle finden und verabschiedete sich wenige Minuten später. Mit sechs in Zeitungspapier eingewikkelten Eiern und einer Blechdose voll Kuchen trat sie den Heimweg an. Tina fühlte sich matt und krank. Sie sank schwer auf das Bett. Dabei streifte ihr Blick den Tabak, die Blättchen und das Feuerzeug. Sie begriff so unvermittelt, daß sie das Blut in ihren Ohren klopfen hörte: Sie hatte nicht geraucht im Steinbruch, denn alles, was dazu nötig gewesen wäre, lag hier in der Dachkammer auf dem Tisch. Das Brandloch an ihrem Jackenärmel stammte nicht von einer Zigarette, sondern von einer glühenden Fingerkuppe. Damit waren die Fragen plötzlich nicht mehr die15
selben. „Willst du etwas essen?“ rief Thomas von unten herauf. „Ich esse später!“ Tina zog die Schuhe aus. Sie traute sich keinen klaren Gedanken mehr zu. Sie mußte zwischen Rätsel und Lösungsversuch eine Atempause einlegen. Sie war erschöpft und ersparte sich jede weitere Frage, indem sie einfach schlief. Am späten Abend kam Thomas herauf. „Fieber hast du keines“, sagte er und nahm seine flache Hand von Tinas Stirn, „also wirst du jetzt was essen. Bei der Gelegenheit: Wir müssen uns mal kurz unterhalten.“ Tina widersprach nicht. Sie setzte sich folgsam im Bett auf. Thomas hatte Graupensuppe gekocht, ein sicherer Hinweis darauf, daß er seine Nichte in irgendeiner Form für krank hielt. Er setzte sich auf die Bettkante. Schweigend sah er ihr beim Essen zu. Tina schluckte mühsam, was nicht nur daran lag, daß sie den Geschmack von Graupensuppe widerlich fand. Sie war nervös. „Was wolltest du mir sagen?“ fragte sie zwischen zwei zaghaft gefüllten Löffeln. Thomas faßte sie kurz am Arm. „Nichts Weltbewegendes. Du weißt, du kannst so lange hierbleiben, wie du willst. Aber es macht mich krank, dich zu beobachten. Wenn du eine Leidenszeit brauchst, bin ich einverstanden. Aber sage mir vorher, was du von mir erwartest.“ Tina seufzte. „Brau mir einen Tee gegen Dummheit. Ich glaube, ich renne mit offenen Augen in mein Unglück, in jeder Hinsicht. Ernsthaft: Ich brauche nur Zeit. Du brauchst nichts anderes für mich tun, als mir einen Unterschlupf zu geben.“ Tina fand sich selbst überzeugend. Eine beinahe euphorische Stimmung ergriff sie. Hier in Willnau war sie vollkommen sicher vor allem, was ihr Angst einjagte oder sie ratlos machte. Und bezüglich des Steinbruchs und seines möglicherweise tatsächlich existierenden glühenden Bewohners beruhigte sie sich mit dem Gedanken, daß es noch andere Wege gab, um zum Bauernhof der Bergheims zu gelangen. „Du kannst noch etwas für mich tun“, sagte sie und schwang die Beine aus dem Bett. „Mach für mich eine Führung durch dein Museum, so wie früher, jetzt gleich.“ Thomas schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst. Als du dich das letzte Mal für mein Museum interessiert hast, steckte deine Nase noch in Karl-May-Büchern.“ Tina suchte nach ihren Schuhen. „Na und?“ fragte sie leichthin, „was schließt du daraus? Sehr viel erwachsener kann ich in den letzten Jahren nicht geworden sein. Jetzt muß ich nur noch herausfinden, ob ich das gut oder schlecht finde.“ 16
Tina war noch müde, aber sie hatte ihren Vorsatz wahrgemacht, so rechtzeitig aufzustehen, daß sie mit ihrem Onkel frühstücken konnte. Thomas war bereits angezogen. Obwohl er häufig die Kleidung wechselte, schien er immer dasselbe zu tragen. Alles an ihm spielte sich in einer Vielfalt unterschiedlicher Grautöne ab. Auch seine Augen und seine Haare machten da keine Ausnahme. Neutral wirkte er trotzdem nicht. Tina versuchte, der Ursache ihres Eindrucks auf die Spur zu kommen. Sie betrachtete ihren Onkel verstohlen von der Seite und verweilte vorsichtig bei den Augen, die sehr wach und offen wirkten. Thomas entfaltete geräuschvoll seine Zeitung. „Willnau hat wieder ein Gesprächsthema“, sagte er nach einer Weile, „gestern abend hat es gebrannt, bei den Bergheims im Hühnerstall. Die Ursachen liegen im dunkeln - ziemlich unpassender Ausdruck, wenn man von einem Feuer redet.“ Tina sah in raschem Wechsel die schwarzen Aschenreste des Holunderzweiges und das Brandloch in ihrem Jackenärmel vor sich. „Ich kann mir denken, wie es passiert ist“, sagte sie geistesabwesend. Thomas blickte an seiner Zeitung vorbei. „Tatsächlich?“ Tina schwieg erschrocken. „Dein Willnauer Vulkan ist ausgebrochen“, sagte sie dann hastig und versuchte zu lächeln. „Mach keine Witze!“ Thomas versank wieder hinter der Zeitung. „Über so etwas scherzt man nicht. Zum Glück ist nicht viel passiert.“ Tina setzte sich an den Küchentisch. Sorgsam vermied sie jede weitere Form der Unterhaltung, während sie frühstückte. Ihr lag nur ein Gedanke auf der Zunge, und den wollte sie nicht aussprechen. Das Schweigen ließ alle Geräusche dröhnend erscheinen. Beim Glockenschlag der Standuhr fuhr Tina erschrocken zusammen. „Ich brauche einen Morgenspaziergang. Wofür bin ich auf dem Lande“, bereitete sie vorsichtig ihren Fluchtversuch vor. „Kann ich dich mit dem Abwasch allein lassen?“ Thomas brummte nur und überließ es seiner Nichte, diesen Laut in ihrem Sinne auszulegen. Herr Bergheim stand am Gatter. Ein paar obdachlos gewordene Hühner flatterten aufgeregt herum. „In der Zeitung steht es tatsächlich auch schon“, sagte er und begrüßte Tina mit kräftigem Handschlag über den Zaun hinweg. „Dabei ist nicht viel passiert. Ich wüßte nur gern, wie es soweit kommen konnte, die Versicherung übrigens auch. Vielleicht ein rauchendes Liebespaar, obwohl zu dieser Jahreszeit?“ Tina erwiderte etwas Zurechtgelegtes, um ihr Bedauern auszudrücken und spähte vorsichtig über die Hofmauer. Sie konnte nichts sehen, nur der Geruch von verbranntem und abgelöschtem Holz lag noch in der Luft. 17
Tina versuchte, ihr Gefühl der Verantwortung in Gedanken wegzudiskutieren. Sie konnte niemandem erklären, daß wahrscheinlich in der Gegend des Steinbruchs ein unsichtbarer Brandherd auf zwei glühenden Beinen herumlief. Und sie hatte nicht den Mut von Filmhelden, um ihre Vermutung zu äußern. Herr Bergheim nutzte die längere Gesprächspause, um sich mit einem „Schönen Tag noch“ wieder seiner Arbeit zuzuwenden. Tina ging weiter. Es war ein nebliger Morgen. Die Wiesen und Äcker erstreckten sich weichgezeichnet entlang der Zäune. Hinter dem Krähenwäldchen war der Absturz des Steinbruchs nur als verschwommene Silhouette zu sehen, und die Spitzen der Hochspannungsmasten verloren sich in den tief hängenden Wolken. Tina hatte dem Wesen einen Namen verweigert, jetzt konnte sie es nicht rufen. Sie mußte warten und begann, ein Lied zu summen, das sie nie gemocht hatte. Nichts geschah. Tina begann, die Möglichkeit zu erwägen, daß sich zumindest dieses Problem ebenso unvermittelt lösen würde, wie es sich ergeben hatte - ein angenehmer Gedanke. Schließlich erhob sie sich und suchte den Weg zurück durch die Steine. Er lag direkt neben dem Pfad, ausgestreckt und wie hingeschüttet. Seine Glut war schwächer und dunkler als an den Tagen zuvor. Über seinem Körper lag ein weißer Hauch, er dampfte und sah plötzlich schutzlos aus. Tina blieb stehen. Sie hatte Angst um ihn. „Was ist mit dir?“ fragte sie laut. Eine zuckende Bewegung kam in die verschlungenen Beine, die Gestalt glühte so heftig auf, daß Tina die Hand vor die Augen hielt und einen raschen Schritt rückwärts machte. Das Wesen richtete sich auf und streckte sich. „Bei der Nässe könnte ich den ganzen Tag schlafen, entschuldige.“ Mit einem strahlenden Lächeln fügte er hinzu: „Du bist tatsächlich wieder da. Ich freu' mich. Als du gestern gingst, hatte ich Angst, du kämst nie wieder.“ Tina wärmte ihre Hände. Sie war nicht fähig zuzugeben, daß genau das ihre feste Absicht gewesen war und daß sie nur die beunruhigende Nachricht vom Brand in den Steinbruch geführt hatte. „Hallo“, sagte sie unbeholfen. Einer solchen Wiedersehensfreude hatte sie nichts entgegenzusetzen. Das glühende Geschöpf umklammerte mit beiden Händen seine Knie, wie um einen neuen versehentlichen Übergriff zu vermeiden. Unter seinen neugierigen Blicken drehte sich Tina eine Verlegenheitszigarette. Noch ehe sie zum Feuerzeug greifen konnte, hatte ein glühender Zeigefinger die Zigarette entzündet. „Wir sind vielleicht ein Gespann“, seufzte sie, „ein unsichtbarer Feuermann und eine Frau auf der Flucht vor sich selbst und ihrer Flamme.“ „Flamme?“ Das Wesen riß erstaunt die Augen auf. „So was wie ich?“ 18
Tina mußte lachen, verschluckte sich am Rauch und hustete. „Nein, wirklich nicht. Ich rede von Peter Wiesmann, dem normalsten Menschen der Welt.“ Sie erzählte, daß Peter ihr Freund sei und sprach von dem merkwürdigen Umstand, daß sie sich unablässig mit ihm stritt, obwohl sie das Bedürfnis hatte, ständig mit ihm zusammenzusein. Das glühende Wesen verstand sie nicht. „Peter und ich sind wie Hund und Katze, wir passen einfach nicht zusammen“, erklärte Tina ungeduldig, „aber wir hängen irgendwie aneinander.“ Das Feuerwesen grub nachdenklich seine glühenden Zehen in das Geröll. „Das ist doch nichts Besonderes. Du paßt ja auch nicht zu mir, und ich hab' dich trotzdem sehr lieb. Ich bin gern bei dir. Kann ich nicht auch deine Flamme sein?“ Tina drückte ihre Zigarette mit ungewohnter Heftigkeit aus. „Bitte nicht“, murmelte sie, „mehr als eine Flamme verkrafte ich auf keinen Fall.“ „Nicht mal ein Flämmchen?“ fragte das Wesen zaghaft und ohne aufzublicken. Tina sah plötzlich keinen Grund mehr, warum sie ablehnen sollte. „Schön, ein Flämmchen.“ Ihr fiel ein, daß sie noch über den abgebrannten Hühnerstall reden mußte. „Hör mal zu, Flämmchen ...“ Das Wesen sprang auf und sprühte Funken. „Jetzt hast du mir doch einen Namen geschenkt. Sag es noch mal, es klingt so lieb.“ Tina begriff, daß sie sich soeben endgültig eingelassen hatte. Eine Vision konnte man handhaben, ein Gegenüber war wie eine unbekannte Größe in der Gleichung. Flämmchen hatte sich wieder beruhigt. Er setzte sich. „Ich muß dir was erzählen“, sagte er mit vertrauensvollem Augenaufschlag. „Ich bin dir gestern nachgegangen. Ich wollte sehen, wo du lebst. Ich war richtig froh, daß du dich nicht umgesehen hast. Vor dem Haus hab' ich gewartet und bin prompt eingeschlafen, die nasse Luft macht mich so müde, weißt du. Dann ist es wieder passiert: Ich war wohl noch nicht ganz wach, und schon fing es an zu brennen. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Wie kann ich mich bemerkbar machen, ohne Schaden anzurichten? Ich hab' dann den Hund am Schwanz verbrannt, damit er endlich Krach macht und bin weggelaufen. Ich hab' mich so geschämt.“ Tina mußte mehrfach schlucken, um gegen das trockene Gefühl in ihrem Hals anzukommen. „Ich wohne gar nicht da, ich war nur zu Besuch.“ „Auch das noch“, seufzte Flämmchen und sank in sich zusammen. „Dann war ich ja noch dümmer, als ich dachte.“ „Vergiß es“, sagte Tina. „Aber versprich mir, daß du in Zukunft im Steinbruch bleibst. Deine Ausflüge sind einfach zu gefährlich.“ Flämmchen blickte auf und lächelte. „Ich tu' alles, „was du sagst. Du bist mir wirklich nicht böse?“ Tina konnte ehrlichen Herzens verneinen. Und 19
dieses Mal sah sie sich mehrfach um, als sie den Steinbruch verließ. Sie winkte zurück und fand es irrsinnig, daß sie Flämmchen zum Abschied beinahe die Hand gereicht hätte. Tina wußte, was sie jetzt nicht wollte. Der Gedanke, ihrem Onkel begegnen und ein unbefangenes Gesicht aufsetzen zu müssen, war ihr unbehaglich. Sie kletterte zwischen den Bäumen des Krähenwäldchens den Hügel empor. Die Anstrengung tat ihr gut. Der hämmernde Herzschlag galt für sie ebenso als sicherer Lebensbeweis wie die schmerzenden Füße in zu engen Schuhen. Es gab noch immer die Lichtung mit den inzwischen brüchig gewordenen Autoreifen. Früher war es ein leichtes gewesen, diesen Ort in ein Schloß, ein Indianerzelt oder ein Segelschiff zu verwandeln. Es wäre einfach gewesen, den Kindern von damals etwas über Flämmchen zu erzählen. In einer Ritterburg aus Autoreifen hatte auch ein glühender Mensch Platz. Doch mit dem Erwachsenwerden kommt das Mißtrauen. Autoreifen im Wald sind gegen die Regel, und Tina empfand sie als störend. Sie hob eine Vogelfeder auf und steckte sie an ihre Pudelmütze, doch die Zauberwirkung blieb aus. Weglaufen war nicht so einfach, wie es den Anschein hatte. „Ich bin am Wochenende in der Stadt“, sagte Thomas beim Mittagessen. Er schöpfte eine große Kelle Linsensuppe auf seinen Teller. „Ein ehemaliger Studienkollege von mir ist gerade dort. Ich fahre Freitag und bin Montag zurück. Kann ich dich so lange allein lassen?“ Tina warf ihrem Onkel einen argwöhnischen Blick zu. „Wofür hältst du mich? Für ein Baby oder einen Fall für den Psychiater?“ „Ich halte dich für meine Nichte, die Stunden im Steinbruch verbringt und dabei Selbstgespräche führt“, sagte Thomas ruhig. Tina ließ den Löffel fallen. „Woher weißt du das denn nun schon wieder?“ Thomas lachte. „Vom alten Friedmann. Er fand, daß du dich wieder wie ein spielendes Kind angehört hast. Glaubst du, es lag an meinen hellseherischen Fähigkeiten, daß ich früher immer wußte, wann du etwas ausgefressen hattest? Willnau hat mehr Augen als der liebe Gott.“ „Aber der tratscht nichts herum“, bemerkte Tina erbittert. Es machte sie nervös, daß sie so dicht beim Thema waren, denn dadurch wurde die Versuchung, endlich alles zu erzählen, noch unwiderstehlicher. Sie aß hastiger als gewöhnlich. Sie suchte einen Anfang, verschob ihr Vorhaben von einem Bissen auf den anderen und sagte schließlich: „Ich kann dich fahren, du mußt nicht den Bus nehmen.“ Oben in der Dachkammer ließ Tina ihrer Wut freien Lauf. Sie riß die Vogelfeder aus ihrer Pudelmütze und zerknickte sie. Dann zog sie die Schuhe aus, damit die Dielen beim raschen Auf- und Abgehen nicht zu sehr knarrten. Sie war auf der Suche nach edlen Motiven. Sie sagte sich, 20
daß sie Thomas ihre Begegnung im Steinbruch verschwiegen hatte, weil sie ihm seinen Wochenendausflug nicht verderben wollte. Und Flämmchen würde sie wieder besuchen, weil sie sich für ihn verantwortlich fühlte. Es war einfach, nicht zu lügen und dabei die Wahrheit trotzdem völlig zu verfehlen. Tina wurde aufmerksam, weil sie unten im Flur Stimmen hörte. Thomas mußte Besuch bekommen haben. Tina dachte spontan an Peter und schwankte sofort zwischen einem Gefühl von Bedrohtheit und angenehmer Erregung. Die Stimme, die Thomas antwortete, war ihr fremd. Sie konnte nicht verstehen, worum es in dem Gespräch ging. Sie wurde neugierig und beschloß nachzusehen. Vor dem Spiegel in der Kleiderschranktür band sie sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und plante ihren Auftritt. Sie entschied sich bis auf weiteres für die Rolle der vorzeigbaren Nichte. Thomas lehnte am Eckschränkchen im Flur. „Tina, das ist Herr Breidenberg. Er interessiert sich für das Museum.“ „Das spricht für ihn“, sagte Tina mit einem liebenswürdigen Lächeln und reichte Herrn Breidenberg die Hand. „Sie sehen die Nichte des Museums. Für Geschichte bin ich allerdings nicht zuständig, allenfalls für den Kaffee.“ Da sich die Platitüden von selbst entwickelten, konnte Tina ihre Konzentration darauf verwenden, Herrn Breidenberg zu betrachten. Ihrer Vorstellung von Onkel Thomas' Kundschaft wurde er nicht ganz gerecht. Er war zu jung und zu ausschließlich in Jeansstoff gekleidet. Thomas führte Herrn Breidenberg hinüber in sein Museum. Tina ging in die Küche. Sie war so angespannt freundlich gestimmt, daß ihr die Hände feucht wurden. Gewissenhaft bereitete sie die Plauderei bei Kaffee und Kuchen vor. Sie sortierte die Tassen mit Sprung aus, von denen Thomas etliche besaß, legte eine frische Tischdecke auf und nahm zwei Löffel Kaffeepulver mehr als gewöhnlich. Für ihren Onkel setzte sie einen Früchtetee an. Die tiefstehende Wintersonne schien in schrägem Winkel durch das Küchenfenster und beleuchtete einige tanzende Staubkörnchen. Herr Breidenberg und Thomas waren noch immer in ein Fachgespräch vertieft, als sie in die Küche kamen. „Themenwechsel“, sagte Tina und goß Kaffee ein. Herr Breidenberg lächelte. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich immer hier in Willnau verstecken“, sagte er. Tina entnahm der Anspielung auf die Trostlosigkeit des Landlebens ein Kompliment und gab es auf demselben Wege unbeeindruckt zurück: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich nur mit Museen beschäftigen.“ Auf diesem Niveau setzte sich ihre Unterhaltung fort. Mit den Augen waren sie bei einem ganz anderen Thema. Thomas rührte in seinem Tee. 21
Gelegentlich warf er seiner Nichte einen Blick zu, den Tina unschuldig erwiderte. „Schade, daß ich Sie bei meinem nächsten Besuch wohl nicht mehr hier antreffen werde“, sagte Herr Breidenberg zum Abschied. Tina erwiderte den Händedruck. „Wer weiß, vielleicht bewerbe ich mich um den Posten einer Museumshaushälterin. Sollte es aber nicht dazu kommen, stellen Sie sich gut mit meinem Onkel. Er kennt meine Telefonnummer.“ Thomas begleitete Herrn Breidenberg zu seinem Wagen. Tina warf sich auf das Schaffell und lachte in die Wollhaare, bis sie niesen mußte. „Du bist vielleicht ein Luder“, sagte Thomas, wieder an der Tür stehend. „Demnächst werde ich mich fragen müssen, ob meine Besucher wegen des Museums oder wegen meiner Nichte kommen, zumindest die männlichen.“ Tina richtete sich auf. „Tut mir leid“, sagte sie schamlos vergnügt, „das hatte ich jetzt nötig. Schlimm genug, ich weiß. Schimpf meinetwegen mit deiner unartigen Nichte, aber gib diesem Herrn Breidenberg nie meine Telefonnummer!“ In der Küche spielte knisternd das alte Röhrenradio, das wie viele überholte Rundfunkgeräte noch ein Gesicht hatte. Es überblickte mit braunen Drehknopfaugen den Raum und zeigte eine Reihe gelblicher Tastenzähne. Thomas packte seinen ausgebeulten Koffer und machte kleine Häkchen auf der Liste der unentbehrlichen Gegenstände. Ein Stapel Bücher und ein Pappkarton mit vergilbten Fotos bildeten das Kernstück seines Gepäcks. Tina saß am Kachelofen und sah ihm zu. „Was ist das für ein Typ, den du da besuchst?“ fragte sie ohne ehrliches Interesse. Sie fand es schwierig, mit ihrem Onkel ein Gespräch anzuknüpfen. Ob seine Gedanken der Zeit vorauseilten oder sich gerade in der Vergangenheit aufhielten, war nicht festzustellen. In der Gegenwart befanden sie sich jedenfalls kaum. Thomas klappte den Koffer zu. „Der Typ ist ein Geschichtsprofessor mit Lehrstuhl in Berlin. Ich hatte das Vergnügen, die Hörsaalbank hinter ihm zu drücken, als es noch ungewiß war, aus wem mal etwas werden würde. Momentan hält er Vorträge über die jüngere deutsche Geschichte.“ Tina hob die Hände. „Ich erstarre in Ehrfurcht.“ Thomas versuchte vergeblich, den Koffer zu schließen. „Setz dich hier drauf und erstarre da weiter“, sagte er unfreundlich, „ich krieg' das Ding nicht zu.“ Tina ließ sich schwungvoll auf den Koffer fallen. „Bücher kann man nicht zusammenquetschen. Warum hast du eigentlich nie weiterstudiert?“ 22
Thomas zog den Lederriemen fest, die Metallverschlüsse rasteten ein. Er schwieg und erhob sich etwas mühsam aus der Hocke. „Ganz einfach“, sagte er nach einer Weile, „Willis Eltern hatten nach der Währungsreform eine Fabrik, die nur auf den Aufschwung wartete, meine Eltern hatten zusammen achtzig Mark. Sonst noch Fragen?“ Tina nickte. „Ja, soll ich dir den Koffer zum Wagen tragen?“ Im Steinbruch regte sich kein Windhauch, und nur ein Sportflugzeug störte für einen Moment die Stille. Tina sah sich um, sie wollte nicht wieder unbemerkt beobachtet werden. Außer einem Kaninchen, das mit angelegten Ohren in das Krähenwäldchen floh, bewegte sich nichts. Tina fuhr zusammen, als ihr ein Stein direkt vor die Fuße fiel. Flämmchen saß auf einem Felsvorsprung und vertrieb sich die Zeit mit dem Versuch, eine rostige Bierdose zu treffen. „Hoppla!“ rief er von oben. „Hab' ich dir weh getan?“ Tina winkte. „Komm runter, wenn du dich traust!“ Flämmchen glitt mühelos an der brüchigen Felswand herab, sein Körper glich einem gleißenden Strom. „Ich freue mich schon den ganzen Tag auf dich“, sagte er und schob mit beiden Händen die Haare über die Schultern zurück. „Das ist ein tolles Gefühl.“ „Stimmt.“ Tina setzte sich auf ein Felsstück und ließ die Beine baumeln. Sie erzählte, daß ihr Onkel für drei Tage verreist sei. Flämmchen hörte aufmerksam zu. Schließlich fragte er: „Was ist ein Onkel?“ Tina stutzte. Dann versuchte sie mehrere Erklärungen, konnte sich aber nicht verständlich machen, da Flämmchen auch mit dem Begriff Eltern nichts Vertrautes verband. Das glühende Wesen hörte trotzdem regungslos mit glänzenden Augen zu. „Das ist schön“, seufzte er, „ich bin froh, daß Worte nicht verbrennen können.“ Tina betrachtete den Felsen. „Ich fürchte, bei Menschen können sie's“, sagte sie nachdenklich. Sie blieb lange im Steinbruch. Sie sah nicht auf die Uhr. „Du mußt mal nachts kommen“, sagte Flämmchen. „Du ahnst ja nicht, wie schön es aussieht, wenn mein Licht auf die Steine fällt. Ich bin immer wieder ganz begeistert von mir.“ Tina versuchte, sich dieses Bild vorzustellen. Sie war überzeugt, daß sie dabei nicht zu hoch greifen konnte, weil Flämmchen selbst die glühende Übertreibung in Person war. „Kein Problem“, sagte sie, „solange Thomas nicht da ist, kann ich mich auch nachts mal herumtreiben.“ Flämmchen folgerte schnell: „Weiß denn dein Onkel gar nichts von mir?“ „Noch nicht.“ Tina stand plötzlich auf. Ihr Fuß war eingeschlafen. Sie schwankte. „Das ist schwieriger, als du denkst, aber das erkläre ich dir ein anderes Mal. Bis heute abend dann.“ 23
„Du kommst?“ Flämmchen warf einen Stein und traf die Bierdose, die scheppernd ein Stück weiterrollte. Er lachte. „Siehst du, wie gut ich bin. Du mußt nur neben mir stehen. Weck mich ja auf, falls ich gerade schlafen sollte.“ Leere Häuser haben unheimliche Züge. Der alte Fachwerkbau erwies sich ohne Thomas als feindselig. Tina war ein Eindringling. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sie einen Schlüssel besaß, der sich schwerfällig im Schloß drehen ließ. Fast auf Zehenspitzen durchquerte sie den mit Parkett ausgelegten Flur. In der Küche war nur das Ticken der Standuhr zu hören. Auf dem Tisch lag noch Thomas' Gepäckliste. Tina stellte das Radio an und setzte den Wasserkessel auf. Sie war entschlossen, den unfreundlichen Raum zu versöhnen, indem sie sich einen Nachmittagstee kochte. Während sie auf das Sieden des Wassers wartete, studierte sie den Inhalt des Kühlschranks, der in regelmäßigen Abständen durch lautes Rasseln auf sich aufmerksam machte. Sie hatte keinen Hunger, und besondere Gaumenreize boten sich ohnehin nicht. Tina goß den Tee auf und beschloß, ihn in der Dachkammer zu trinken, weil sie eine Zigarette rauchen wollte. Sie kam nicht einmal bis in den Flur. Die Türglocke schepperte. Frau Helms stand an der Schwelle. „Tag, ich bringe die Sachen für deinen Onkel.“ Tina verband mit diesem rundlichen Gesicht den Anblick von altmodischen Bonbongläsern, die ihr während ihres Sommeraufenthaltes nie verschlossen geblieben waren. Frau Helms war eine angenehme Erinnerung. Sie hatte zwar mehrfach Tinas Kinderschandtaten an Thomas weitergegeben, doch sie gab grundsätzlich alles weiter. Es war eine Angewohnheit, hinter der sich keinerlei böse Absicht verbarg. „Kommen Sie rein“, sagte Tina, „mein Onkel ist ausgeflogen, aber Sie dürfen mir die Sachen ruhig anvertrauen. Läßt er noch anschreiben?“ Beim Tee sprachen sie über alte Zeiten. Viele längst vergessene Begebenheiten drängten sich wieder in Tinas Bewußtsein. „Du bist doch oft im Steinbruch.“ Mit diesen Worten kehrte Frau Helms ohne Vorwarnung in die Gegenwart zurück. Für Tina kam es zu unvermittelt, ihre Mundwinkel verspannten sich. „Ich gehe gerne da spazieren und rede mit mir selbst.“ Frau Helms winkte ab. „Du kennst doch noch den alten Friedmann. Na ja, etwas wunderlich war er ja immer, aber neuerdings erzählt er die verrücktesten Dinge über den Steinbruch.“ Tina versuchte, langsamer zu atmen. Ihre Gedanken griffen jedem weiteren Wort vor, sie waren bei Flämmchen und malten seine glühende Gestalt an die gegenüberliegende Küchenwand. Er sah zerbrechlich aus, und Tina hatte Angst. 24
„Was erzählt der Friedmann denn?“ fragte sie zögernd. „Schauermärchen!“ Frau Helms lachte. „Von Steinen, die ganz von selbst in Bewegung geraten, heißen Luftströmen und Felsen, an denen man sich die Finger verbrennt. Lauter Unsinn eben -oder ist dir das auch passiert?“ Tina war erleichtert. Jetzt mußte sie nur noch geschickt formulieren: „Ich bin jeden Tag im Steinbruch gewesen, aber ich versichere Ihnen, von selbst sind bei mir keine Steine herumgerollt.“ Frau Helms goß Tee nach. „Natürlich nicht. Wer glaubt schon an Geister, die Hühnerställe anzünden und am hellichten Tag Steine bewegen?“ Augenzwinkernd fügte sie hinzu: „Wer weiß, ob Friedmanns Hitzewellen nicht was mit einem Flachmann zu tun haben.“ Es war dunkel geworden. Im schwachen Schein des Teelichtes lachte Tina verstohlen in sich hinein. Frau Helms sagte mit einem Blick auf die Uhr: „Oje, schon so spät, mein Mann wird warten.“ Nachdem sie gegangen war, verbrachte Tina einige Zeit damit, den Haushalt ihres Onkels nach einer Taschenlampe für ihr nächtliches Unternehmen abzusuchen. Sie fand nur eine alte Eisenbahnerlaterne. Es erstaunte sie nicht sonderlich. Sie verließ das Haus, zündete eine Kerze an, setzte sie vorsichtig ein und ließ die Glasscheibe herunter. Dabei fiel ihr ein, wie sie im Alter von zehn Jahren ausgerissen war, um mit dem Sohn von Bergheims eine geheimnisvolle mitternächtliche Zeremonie zu vollziehen. Während dieser warmen Nacht hatten sie sich die Namen Adlerauge und Schleiereule verliehen und in einer ausrangierten Pfeife getrocknete Birkenblätter geraucht. Inzwischen war Adlerauge Referendar in einer Anwaltskanzlei. Während der letzten Tage hatte Tina nicht ein Kind in Willnau gesehen. Die kalte Nachtluft prickelte auf der Haut. Der Geheimweg war noch derselbe. Tina wollte ungesehen bleiben. Die Dunkelheit vermittelte zwar den Eindruck tiefer Nacht, doch tatsächlich war es erst früher Abend. Willnau schlief noch nicht. Das Licht der Eisenbahnerlaterne kreiste nur den nächsten Schritt ein. Am Rand des Hügels konnte Tina für einen Moment die Lichter der Autobahn sehen. Flämmchen wartete in aufrechter Haltung, bewegungslos wie eine Goldstatue. Tina sah ihn so plötzlich, daß sie den Atem anhielt. Sie blieb stehen und bewegte sich nicht. Sie wollte ihn betrachten. In einer unendlichen Vielfalt von Gelb- und Rottönen spielte die Glut auf seinem von runden Formen geprägten Körper. Tina lief die Geröllhalde hinunter. Sie rutschte bei jedem Schritt. Flämmchen drehte sich im Kreis. Seine Haare stoben in die Luft. „Gefall' ich dir?“ fragte er erwartungsvoll. Seine Direktheit machte Tina verlegen. „Ja, sehr“, sagte sie leise. „Laß uns spazierengehen.“ Flämmchen tänzelte den Pfad entlang. Er schien nur wenig schwerer als 25
die Luft zu sein. Sie gingen lange nebeneinander her, ohne zu sprechen. Tina beobachtete seine leichten Bewegungen und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er seine Anmut sehr bewußt und gezielt entfaltete, ohne dabei den Anschein von Mühelosigkeit zu zerstören. Das Schweben steckte an. Tina hatte zunehmend Schwung in ihren Schritten. Schließlich setzten sie sich unter den Felsvorsprung, wo noch immer die rostige Bierdose lag. Flämmchen streckte Arme und Beine aus. „So“, sagte er, „nun hab' ich dir lange genug gefallen. Erzähl mir was!“ Tina lächelte. „Wovon soll ich dir denn erzählen?“ Flämmchen hatte die Augen geschlossen. „Von deinem Onkel, dem Bruder deines Vaters, was immer das auch sein mag.“ Tina schaute in das Licht der Laterne, das neben Flämmchen verblaßte. „Früher war ich oft bei meinem Onkel. Er heißt Thomas. In den Tagen, bevor ich hierherkam, habe ich oft daran gedacht. Manchmal konnte ich den Steinbruch richtig sehen und riechen, genau wie das Museum. Darin bewahrt mein Onkel lauter sehr alte Dinge auf. Er ist ein bißchen komisch, aber ich mag ihn.“ Flämmchen rutschte ein Stück tiefer, so daß er eher lag als saß. „Früher ... alt... was bedeutet das?“ Tina mußte die Frage nicht mehr beantworten. Flämmchen war eingeschlafen, seine nachlassende Glut verriet es. Tina nahm die Lampe auf. Auch sie war plötzlich müde. Mit einem zärtlichen Blick trennte sie sich von Flämmchen. Er hatte die Harmonie in den Schlaf mitgenommen, und keiner würde sein Glück in den nächsten Stunden stören können - nicht einmal er selbst. Tina hatte keine Lust mehr, auf dem Rückweg den mühevollen Geheimpfad einzuschlagen. Sie bummelte die Straße entlang. Die Kerze in der Eisenbahnerlaterne war fast heruntergebrannt und flackerte unruhig. Willnau schlief jetzt, seine Fenster waren dunkel. „Um diese Zeit noch unterwegs?“ Tina fuhr herum. Der alte Friedmann stand vor ihr. Das Kerzenlicht verwandelte ihn in eine Märchengestalt, von der man noch nicht wissen konnte, ob sie in das Reich des Guten oder des Bösen gehörte. „Mann, haben Sie mich erschreckt!“ stieß Tina kurzatmig hervor. „Ich konnte nicht schlafen. Ein Spaziergang hilft mir da immer.“ Friedmann trat einen Schritt näher, sein Gesicht wurde heller und menschlicher. „Du warst im Steinbruch, ich hab's gesehen. Die Leute hier halten mich für verrückt, aber du weißt auch, daß da was vorgeht, stimmt's?“ Tina zögerte. Der Ruf, den der Friedmann in Willnau genoß, kam ihr sehr gelegen. Andererseits war sie nicht fähig, den einzigen Menschen als Phantasten hinzustellen, der wenigstens ein kleines Stück von Flämm26
chen einfach für die Wahrheit hielt. „Ja“, sagte sie, „ich weiß es, aber ich spreche nicht darüber.“ Friedmann nickte bedeutungsvoll. „Du hast recht, man darf nicht auf die Leute zählen. Je mehr man redet, desto weniger glauben sie einem. Aber gut, daß ich dich getroffen habe. So läßt sich's leichter schweigen.“ Tina hatte das Bedürfnis, von Flämmchen zu erzählen, ihr Herz war übervoll. Sie tat es trotzdem nicht. Die Angst, der alte Friedmann könnte die Geschichte in Willnau verbreiten und unnötiges Interesse erzeugen, war zu groß. „Ich muß nach Hause, meine Kerze hält nicht mehr lange durch“, sagte Tina stattdessen. Friedmann wandte sich zum Gehen. „Laß dich von niemandem beirren. Die Leute sind bei aller Gelehrtheit dumm. Können sie etwa elektrischen Strom sehen? Aber daß davon die Lampe brennt, das glauben sie alle.“ In der Nacht hatte es geschneit. Tina erkannte es an der grauen Schicht, die auf der Dachluke lag und das Tageslicht nur gedämpft ins Zimmer ließ. Das Radio spielte immer noch. Sie bemerkte, daß sie mit Pullover und Socken im Bett lag. Tina stöhnte leise, sie fühlte sich verkatert wie nach einer feuchtfröhlichen Party. Sie hatte wirr geträumt und dabei ihre eigene Erlebniswelt immer wieder mit den Worten des Radiomoderators vermischt. Sie rauchte auf nüchternen Magen, danach fühlte sie sich noch schlechter. Zerschlagen tappte sie die Stiege hinunter in die Küche. Der Kachelofen war ausgegangen. Frierend kauerte Tina nieder, um die Schlacke zu entfernen und mit alten Zeitungen das Feuer neu zu entfachen. Der Anblick der ersten unruhigen Flammen erinnerte sie sofort an den nächtlichen Steinbruch, an Flämmchens prachtvolle Erscheinung und an ihre Begegnung mit dem alten Friedmann. Sie schob ein Brikett nach und beschloß, vorerst an gar nichts zu denken. Es mißlang ihr. Sie verlagerte lediglich ihre Erinnerung auf andere unbequeme Themen. Peter saß jetzt sicher längst im Büro und unterhielt sich mit seinem Bildschirm. Vielleicht bereute er es gerade, daß er seinem neuen, in der Testphase befindlichen Programm den Codenamen Tina gegeben hatte. Sie brühte Kaffee auf und aß lustlos die Reste von Frau Bergheims Kuchen. Der Blick aus dem Fenster hellte ihre Stimmung ein wenig auf. Willnau war weiß gekleidet. Auf den kahlen Bäumen hielt sich der Schnee bis in die dünnsten Zweige. Jeder Zaunpfahl leistete sich eine eigene Mütze. Der Kachelofen verströmte inzwischen wohnliche Wärme. Tina trank ihren Kaffee und war unruhig, ohne genau zu wissen warum. Der Schnee fiel in dicken Flocken. An der Fensterscheibe schmolzen sie zu Tropfen. Tina sah es und wußte plötzlich, worum es ging. Hatte Flämmchen je27
mals Schnee erlebt? Konnte er ihm schaden? Wie würde er darauf reagieren, was stellte er in seiner möglichen Aufregung an? Tina wußte auf keine dieser Fragen eine Antwort, und das war bedrohlich. Sie verzichtete auf die Dusche und nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken. Auch der Steinbruch war durch den Schnee wie verzaubert. Tina hatte keine Augen dafür. Sie wischte sich die Tropfen von der Brille und schüttelte den Schnee von den Jackenärmeln. Flämmchen stürmte so schnell auf sie zu, daß er sie fast gestreift hätte. Mit ängstlich aufgerissenen Augen blieb er vor ihr stehen. „Tina, was ist das?“ Er sah in den Himmel, sein heißer Körper zitterte, und um seine glühenden Füße begann der Schnee kreisförmig zu schmelzen. Feine Nebel aus Wasserdampf stiegen auf und hüllten Flämmchen ein. „Ich hab' Angst, es ist so ein komisches Gefühl, es prikkelt überall. Hier bleib' ich nicht!“ Tina versuchte, Flämmchen zu beruhigen: „Langsam, hör mir erst mal zu. Weglaufen hat keinen Zweck, es schneit überall. Das ist wie die Nässe vom Tau, die du schon kennst. Komm, wir stellen uns erst mal unter.“ Flämmchen huschte in den Schutz des Felsvorsprungs. „Bin ich froh, daß du hier bist. Ich war schon gar nicht mehr ich. Ich hätte fast mein Versprechen gebrochen und wäre aus dem Steinbruch gelaufen.“ Tina hatte nur den Wunsch, Flämmchen in den Arm zu nehmen und zu streicheln. Damit wäre alles leichter gewesen. Worte bildeten einen schlechten Ersatz. Tina redete behutsam, bis das Entsetzen in Flämmchens Augen milder wurde. „Wann hört das auf?“ fragte er zaghaft. „Ich weiß es nicht“, sagte Tina, „so was kann Stunden oder Tage dauern.“ Flämmchen stierte sie an. „Tage?“ hauchte er. „Das ist ja furchtbar. Noch so eine Nacht halte ich bestimmt nicht aus. Nimm mich mit - bitte.“ Tina hätte beinahe gelacht. „Flämmchen, wie stellst du dir das vor? So jemand wie du kann sich doch nicht in einem geschlossenen Raum aufhalten. Du weißt, wie schnell was passiert. Denk an den Hühnerstall.“ Flämmchen glitt in die Hocke. Das Haar loderte widerspenstiger als sonst um seinen Kopf. „Ich seh's ja ein“, sagte er, „aber das hilft mir nicht.“ Tina starrte in das Gewirr von Schneeflocken. Zu spät bemerkte sie, daß ihre Hilflosigkeit in Wut umschlug. Ihre Worte kamen schneller: „Verdammt, sieh mich nicht so an, als ob ich dich im Stich lassen würde. Soll ich mich jetzt schuldig fühlen oder was? Ich kann nichts für den Schnee, und ich kann nichts für dich. Was willst du eigentlich von mir?“ Flämmchen kauerte sich zusammen und schwieg. Tina lehnte müde an der Felswand. Sie drehte eine Zigarette und mußte sie sich selbst anstecken. „Hör auf zu schmollen!“ sagte sie heftig. „Ich hab's nicht so gemeint. Wenn es dir hilft, entschuldige ich mich.“ 28
Flämmchen hob den Kopf. Er lächelte. „Es kann schon sein, daß du es nicht so gemeint hast. Aber es stimmt natürlich trotzdem. Darum entschuldige dich lieber nicht. Es tut nur weh, daß du es mir ausgerechnet jetzt sagen mußtest, weißt du.“ Tina warf ihre Zigarette weg, die Glut verlosch zischend im Schnee. Graue Asche wirkt wie tot. „Wenn es heute abend nicht aufgehört hat, komme ich und hole dich“, hörte sie sich sagen. „Irgend etwas wird mir einfallen. Vielleicht kann ich dich im Keller unterbringen.“ Tina floh vor Flämmchens wortloser Dankbarkeit. Noch blieben sechs Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Der Gedanke, dann mit Flämmchen unter einem Dach zu sein, erforderte Vorstellungskraft. Tina formte einen Schneeball und drückte ihn zu Eis zusammen. „Es geht nicht“, sagte sie laut vor sich hin, „ich muß irre sein, denn ich tu's trotzdem, wenn es nötig sein sollte.“ Sie stapfte mit großen Schritten durch den immer tiefer werdenden Schnee und versuchte, sich zu beruhigen. Bis zum Abend konnte es trocken sein, und das Problem würde gar nicht aufkommen. Doch der eisgraue, tiefhängende Himmel machte ihr wenig Hoffnung. In der Küche hängte Tina ihre Jacke, die Mütze und die Handschuhe über den Ofen, ehe sie die kurzen Stiefel mit Zeitungspapier ausstopfte. Simple, zweckmäßige Handgriffe gaben ihr das Gefühl von Normalität und Sicherheit. Sie stellte das Radio an, um die Mittagsnachrichten und den Wetterbericht zu hören. Für die kommende Nacht wurden weitere Schneefälle vorhergesagt. Tina wärmte sich die kalten Füße am Kachelofen und lauschte der unbeteiligten Stimme des Nachrichtensprechers, der ahnungslos eine Katastrophe verkündete. Die Möglichkeit einer falschen Wettervorhersage war nicht wahrscheinlich und kein Grund mehr, den Gedanken an Flämmchens Unterbringung aufzuschieben. Tina zitterte vor Erregung. Sie spielte mit der Überlegung, wortbrüchig zu werden und prüfte verschiedene Ausreden. Es war einfach, etwas zu erfinden, das Flämmchen glauben würde, sich selbst konnte sie jedoch nicht überzeugen. Sie hatte Peter vor Augen, der sie oft darauf hingewiesen hatte, daß sie immer ein größeres Stück abbiß, als sie kauen und schlucken konnte. Seit langem stimmte sie ihm wieder einmal zu, und diese Niederlage verlieh ihr trotzige Energie. Tina musterte die geschwungene Kellertreppe. Diesen Weg konnte sie für Flämmchen ausschließen. Die Stufen bestanden aus altem Holz, erfüllten zwar seit vielen Jahren ihren Zweck, waren aber für glühende Füße nicht geeignet. Die Außentür des Kellers war abgesperrt. Der Schlüssel dazu hing vermutlich an Thomas' Schlüsselbund. Der einfachste Weg in den Keller war damit ausgeschlossen. Die Fenster hatten 29
massive Gitter. Tina setzte sich mit einem Stöhnen auf die oberste Treppenstufe. Es gab nur noch einen Ort, wo sich Flämmchen möglicherweise aufhalten konnte, ohne das Haus in Brand zu setzen: das Bad. Tina erhob sich energisch, setzte sich jedoch sofort wieder. Ihr war eingefallen, daß der Weg zum Badezimmer aus etwa drei Metern Parkettboden bestand, den Thomas seit dem Tag seines Einzugs mit viel Sorgfalt und Sachkenntnis pflegte. „Wenn mir nicht bald etwas einfällt“, murmelte sie, „werde ich Thomas einen ruinierten Parkettboden erklären müssen.“ Es schneite immer noch. Tina floh vor ihrer Ratlosigkeit ins Museum. Die dicken, stark gewölbten Butzenscheiben, die immer ungeputzt wirkten, hielten die Dunkelheit im Raum fest. Tina zählte die alten Münzen in der Vitrine und legte ihre Hand auf eine ausgebleichte Fahne. Ein kleines Modell zeigte Willnau vor hundert Jahren. Viel irisches Moos bedeckte die Spanplatte. Daneben lagen Fossilien aus dem Steinbruch, in welchem jetzt eine glühende Gestalt unter einen Felsvorsprung geduckt vertrauensvoll wartete. Das Schneegestöber ließ die Dämmerung früher als sonst niedersinken. Tina hatte jetzt nicht die Zeit für einen längeren Museumsbesuch. Sie stieß gegen den großen schmiedeeisernen Teewagen, den Thomas benützte, wenn er eine Mahlzeit im Museum einnehmen wollte. Sie begriff, daß sie vor der Lösung stand und schob den Teewagen in den Flur. Tina fand Flämmchen in derselben Haltung, in der sie ihn verlassen hatte: dicht an den Felsen gedrückt. Sie sprach ihn an, und er erschrak so heftig, daß seine Hände am Gestein Funken sprühten. „Es geht los!“ rief sie und winkte hastig. „Ich habe schon eine Menge Dummheiten veranstaltet, aber heute übertreffe ich mich selbst um Längen. Geh immer hinter mir her und bleib nicht stehen.“ Flämmchen löste sich nur zögernd vom Felsen. „Ich möchte wissen, wer von uns beiden mehr Angst hat“, sagte er. „Sollte ich was bei dir anzünden, verzeih' ich mir das nie!“ Der Schnee fiel aus dem Dunkel. Flämmchens Glut ließ die Kristalle glitzern. Sie erinnerten an Wunderkerzen. Tina staunte sekundenlang über das Feuerwerk. Dann wandte sie sich um und ging voraus. Flämmchen folgte ihr geduckt. Die Schneeflocken deckten seine Schmelzspuren sofort wieder zu. „Hallo Tina, bist du's?“ Herr Bergheim war im Dorf unterwegs. Er nahm den Hut ab und wischte den Schnee von der Krempe. „Das ist vielleicht ein Wetter. Da freuen sich nur die Wintersportler, ich kann darauf verzichten.“ Tina stimmte zerstreut zu und drehte sich nach Flämmchen um. Er war stehengeblieben und musterte Herrn Bergheim in einer Weise, die Ärger über die Verzögerung verriet. Er wirkte abgekämpft und atmete unruhig. Tina versuchte zu begreifen, daß Herr Bergheim nicht dasselbe sah wie 30
sie: einen glühenden Menschen, der unter der Berührung der Schneeflocken zusammenzuckte und nicht wußte, was er mit seinen schlenkernden Armen anfangen sollte. Herr Bergheim nahm offensichtlich auch keinen aufsteigenden Wasserdampf wahr, denn für ihn herrschte Dunkelheit. „Seltsam“, sagte er, „mir kommt es gar nicht so kalt vor. Ich denke, das Wetter schlägt bald um.“ Er klopfte noch einmal den Hut aus, bevor er ihn aufsetzte. „Sieh zu, daß du ins Trockene kommst, man fängt sich schnell was ein.“ Tina ging weiter. „Endlich“, sagte Flämmchen hinter ihr. „Ich dachte schon, der geht überhaupt nicht mehr.“ Tina schlurfte durch den schillernden Schnee und schob mit ihrer Schuhspitze kleine Haufen vor sich her. „Er hat dich nicht gesehen“, sagte sie, „ich begreife das einfach nicht. Du bist doch da, oder?“ Flämmchen streckte die Hand aus und wärmte Tinas Wange. „Seit ich dich kenne, bin ich ziemlich sicher, daß ich da bin“, sagte er. Flämmchen schüttelte sich, als sie unter dem Vordach standen. Sein Blick fiel auf die mit Grünspan überzogene Glocke. Er stieß den Schwengel an und schreckte vor dem Klang zurück. „Laß das!“ fuhr Tina ihn an. Sie versuchte, die Haustür zu öffnen. Das Schloß klemmte, weil sich das Holz durch Feuchtigkeit und Frost verzogen hatte. „Von jetzt ab wird nichts mehr angefaßt, ohne daß du mich vorher ausdrücklich gefragt hast, verstanden?“ Flämmchen schob die Hände in die Achselhöhlen. „Das Ding gefällt mir, vor allem brennt es nicht.“ Tina war es gelungen, den Schlüssel zu drehen. Das Schloß schnappte zurück. Flämmchen sah den Parkettboden. „Das sieht aber sehr nach Baum aus“, bemerkte er verunsichert. Tina wies auf den Teewagen. „Steig da rauf und rühr dich nicht.“ Sie schloß die Tür. Flämmchen stellte keine Fragen, und Tina schob den Teewagen vorwärts. Sie hatte wenig Mühe, es schien kein Gewicht darauf zu lasten. Noch ehe sich das Eisen erhitzen konnte, erreichten sie das Bad. Flämmchen sprang vom Teewagen. Die blauen Kacheln spiegelten seine Glut wider und streuten sie durch den Raum. „Ist das schön hier!“ Flämmchen drehte sich einmal um sich selbst und brachte die Lichtreflexe auf den Kacheln in Bewegung. „Und endlich kein Schnee mehr.“ Tina stand noch immer an der Tür. Sie wußte nur zu genau, daß sie nicht träumte. Ihre Glieder waren steif und ließen sich nur mit größter Anstrengung bewegen. Flämmchen hatte unterdessen den Spiegel entdeckt. Er sagte nichts und machte nur ein paar vorsichtige Gesten, ohne sein Spiegelbild aus den Augen zu lassen. „Das bin ich“, stellte er dann fest. „Aber wie komme ich an die Wand, ich steh' doch hier.“ Tina gelang es endlich, ihre Lähmung zu überwinden. „Das ist bloß ein Spiegel. Ich kann mich auch darin sehen.“ Sie trat zu Flämmchen und 31
verbrannte sich fast, weil sie versuchte, ihren Kopf neben dem seinen sichtbar werden zu lassen. „Das ist lustig.“ Flämmchen sah erst Tina, dann wieder das Spiegelbild an. „Also eigentlich sind wir gar nicht so verschieden. Wenn man mal von der Farbe absieht...“ Tina öffnete das Fenster und atmete tief ein. „Und dem kleinen Temperaturunterschied“, fügte sie hinzu. Flämmchen deutete auf die Badewanne. „Das sieht behaglich aus. Sag mal, brennt das Ding?“ Tina versuchte, diskret das Toilettenpapier zu entfernen. „Nein, im Gegenteil, ich denke, das wird dein Platz für die nächste Zeit.“ „Schön.“ Flämmchen ließ sich über den Wannenrand gleiten und streckte sich mit einem übermütigen Laut aus. „Ganz glatt. Ich hab' noch nie so gut gelegen.“ Tina saß auf dem Toilettendeckel. Sie hoffte, daß die Bodenfliesen bei sehr hohen Temperaturen gebrannt worden waren und daß Flämmchen nach den Anstrengungen des vergangenen Tages bald einschlafen würde. Sie wartete. Zumindest was Flämmchen betraf, erfüllte sich ihr Wunsch umgehend. Es war ein beruhigendes Gefühl, das feurige Wesen regungslos, sanft glühend und mit leicht geöffnetem Mund in der Badewanne liegen zu sehen. Die kommenden Stunden versprachen relative Sicherheit. Tina ging in die Küche. Ihr erster Griff galt der Wodkaflasche, die Thomas zwischen Essig, Reis und Nudeln aufbewahrte. Sie trank ein großes Glas in einem Zug aus, hustete und mußte sich setzen. Ihr leerer Magen reagierte auf den Alkohol mit heftigem Brennen, und ihre Knie wurden angenehm nachgiebig. Tina verweigerte sich ein weiteres Glas, obwohl sie das dringende Bedürfnis nach einem Rauschzustand hatte, der die Situation angemessen unwirklich erscheinen ließe. Doch Flämmchen wieder für eine Halluzination halten zu wollen, konnte gefährlich sein. Sie stellte die Wodkaflasche zurück. Der Gedanke, daß sie nicht nur für ein altes Fachwerkhaus, sondern auch für das Museum und damit für das Lebenswerk ihres Onkels verantwortlich war, verursachte in ihr eine schleichende Panik. Tina stieg in die Dachkammer, suchte ein paar Dekken zusammen und nahm ihren Reisewecker vom Tisch. Sie kehrte in das Badezimmer zurück. Dort füllte sie drei Eimer mit Wasser, ehe sie die Decken für ein Nachtlager zurechtlegte. Mit einem Buch versuchte sie, sich wachzuhalten. Es fiel ihr schwer, sich auf den Text zu konzentrieren. Minutenlang schloß sie die brennenden Augen. Dabei schlich sich der Schlaf an. Tina schreckte noch mehrmals auf, ehe ihr das Buch aus der Hand fiel. Es war eine Nacht für die vertrauten Träume von brennenden Häusern. Tina erwachte und konnte nicht in die Realität finden. Der Feuerschein blieb auf der Kachelwand. Durch das offene Fenster wehten aus der 32
Dunkelheit ein paar Schneeflocken herein. Tina richtete sich auf, ihr Rücken schmerzte. Sie stieß einen Eimer an, das Wasser schwappte über den Rand und durchnäßte ihre Decke. In der Badewanne schlief Flämmchen. Er atmete ruhig, sein Gesicht und seine Körperhaltung strahlten Geborgenheit aus. Tina vertiefte sich in diesen Anblick und wurde ruhiger dabei. In Gedanken kämpfte sie noch dagegen an, aber sie fühlte sich wohl. Flämmchens Wärme lag auf ihrem Gesicht. Diese Nacht hatte eine eigene unwiderstehliche Faszination. Tina weigerte sich, unter Problemen zu leiden, die sie frühestens morgen haben würde. Sie schloß die Augen und kostete den flüchtigen Moment der Unbeschwertheit ganz aus. Dann stellte sie den Wecker auf sechs Uhr, da sie noch nicht wußte, wie lange Flämmchen gewöhnlich schlief. Sie wollte möglichst vor ihm wach sein. Der Wecker klingelte. Tina sah gerade noch, wie er, von der eigenen Erschütterung getrieben, quer über die glatten Fliesen wanderte und schließlich umfiel. Sechs Uhr morgens, zudem an einem Sonntag, war keine Zeit zum Aufstehen. Sie ließ ihren Kopf schwer zurückfallen. Ein flackernder Haarschopf wurde über dem Wannenrand sichtbar. Trotz ausgeruhten, kraftvollen Glühens wirkte Flämmchens Mimik eher verschlafen. Er blinzelte, als blendete er sich selbst. „Warum machst du so einen Krach? Bist du denn nicht mehr müde?“ Tina griff nach dem Wecker, der auf dem Uhrenglas liegend in veränderter Tonlage weiterklingelte, und stellte ihn ab. „Morgen, Flämmchen richte dich nicht nach mir. Schlaf weiter, wenn du willst. Du verpaßt nichts Spannendes.“ Flämmchen stützte sich mit den Unterarmen auf den Wannenrand. „Das kann man nie wissen. Außerdem geht es jetzt nicht mehr, ich bin doch ganz wach.“ Tina ging zum Fenster und sah hinaus. Es war noch dunkel. Sie massierte sich die Schultern und den verspannten Nacken. Dabei spürte sie einen Luftzug, denn die Badezimmertür schloß am Boden nicht dicht ab. Nach links wurde der Spalt zunehmend breiter und bot genügend Raum für eine flache Hand. Flämmchen kletterte aus der Wanne, deren weiße Innenbeschichtung unversehrt war. Nicht die geringsten Rußrückstände beeinträchtigten den Eindruck makelloser Sauberkeit. Flämmchen machte einen Schritt vorwärts, er sah Tina an, trat auf den Badezimmerteppich und sprang sofort zurück. „Oh, das ist wohl nichts für mich!“ Tina goß zur Sicherheit etwas Wasser darauf und beruhigte Flämmchen. „Ist nicht so wichtig“, sagte sie, „ich hätte ihn wegräumen sollen.“ Gleichzeitig überlegte sie, wie sie Flämmchens Fehltritt vor ihrem Onkel ver33
heimlichen konnte. „Schön war's heute nacht“, erzählte Flämmchen. „Ich bin aufgewacht, und ich war nicht allein. Du siehst so lieb aus, wenn du schläfst. Ich wäre gerne ganz nah herangekommen.“ Tina warf einen Blick auf den Badezimmerteppich, und plötzlich zitterte sie, ohne zu frieren. Flämmchen schüttelte heftig den Kopf. „Du mußt keine Angst haben. Ich weiß ja, daß du brennst. Ich habe dich nur lange angesehen. Das ist doch nicht schlimm, oder?“ Tina schob die Decke zur Seite. „Nein, das ist nicht schlimm“, sagte sie lächelnd. „Ich habe dich auch lange angesehen letzte Nacht. Und ich weiß sehr genau, was du meinst.“ Tina nahm an, daß sie wach war, doch sie hätte es nicht beschwören können. Sie brauchte erst einmal Kaffee und Musik, um endgültig zu sich zu kommen. Sie ließ Flämmchen allein, nachdem sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, nicht herumzuwandern und keine Dinge anzufassen. Er tat ihr leid. Mit seiner begründeten Angst, etwas zu zerstören, lebte er in einer für ihn feindseligen Welt. Ohne Gleichgültigkeit gegen seine verheerenden Auswirkungen konnte er sein unsichtbares Gefängnis nicht verlassen. Der Kachelofen war wieder ausgegangen. Tina brauchte ihn nicht. Von der Straße drangen die ersten Geräusche der Schneeschaufeln herein. Es wurde hell, Häuser und Bäume zeigten sich als graue Umrisse. Tina genoß den Duft von frischem Kaffee. Morgen würde Thomas wieder da sein. Bis dahin mußte es aufgehört haben zu schneien, oder sie war gezwungen, ihrem Onkel von Flämmchen zu erzählen. Und mit diesem Gedanken konnte sie sich noch immer nicht vertraut machen. Tina holte ihren Radiorecorder aus der Dachkammer und nickte Pandabär Rudi zu, der verwaist in ihrem Bett lag. Sie hatte es eilig, denn sie traute Flämmchen zwar, aber sie rechnete mit seiner arglosen Neugierde. Es gab im Badezimmer nicht viel, das Feuer fangen konnte, und ein eventueller Brand war dort leicht zu löschen, doch Tina quälte die Vorstellung von einem glühenden Finger, der die Löcher einer Steckdose erforschte. Flämmchen beobachtete Tina, die den Toilettendeckel bestiegen hatte, um ihren Radiorecorder sicher vor unbefugtem Zugriff auf dem hohen Wasserbehälter zu plazieren. Tina warnte Flämmchen vor der Steckdose: „Ich weiß nicht, welche Reaktionen das bei dir oder bei altersschwachen Stromleitungen auslöst.“ Sie sprang auf den Boden, setzte sich und trank ihren Kaffee. Flämmchen schwieg noch immer, er träumte mit offenen Augen. Sein Kopf pendelte unmerklich hin und her. „Was ist das für ein Geräusch?“ fragte Flämmchen sinnend. 34
Tina ließ die Kaffeetasse sinken. „Geräusch? - Ach so, du meinst die Musik.“ Flämmchen blickte sich unsicher um. „Da ist jemand - und er schreit.“ Tina grinste und schwenkte den Kaffee wie Cognac in ihrer Tasse. „Also wirklich, das hätte auch Thomas sagen können. Da schreit niemand, das ist Gesang.“ Flämmchen suchte mit den Augen die spiegelnden Kachelwände ab. „Ich sehe aber niemanden.“ Tina versuchte recht erfolglos zu erklären, daß niemand außer ihnen im Raum war und daß die Stimme aus dem Radio kam. Flämmchen hörte ihr nicht zu. „Musik gefällt mir“, unterbrach er sie. Tina machte ein paar rhythmische Schritte und holte mit Hüftschwung zu einer Drehung aus. „Man kann auch dazu tanzen, das geht so ...“ Flämmchen sah ihr zu. Er wurde unruhig, seine Hände zuckten leicht und sein Blick folgte ihren Tanzschritten. Dann kam sein Körper in Fluß. Zuerst ahmte er scheu nach, er setzte nur die Zehenspitzen auf und federte mit dem Spann seines Fußes. Tina ahnte, was kommen würde und wich an die Tür zurück. Flämmchen machte einen Sprung und drehte sich in der Luft. Er füllte den ganzen Raum aus. Vom schnellen Takt der Musik diktiert, explodierte sein Körper in Bewegungen, die nichts Menschliches mehr hatten und jetzt einem Feuer gleichkamen. Seine langen Haare schienen sich bei ihrem Flug lösen zu wollen. Tina geriet in Panik. Flämmchens Glut fegte mehrfach dicht an ihrem Gesicht vorbei. Sie konnte nicht ausweichen, und ihre Hand griff auf der Suche nach der Türklinke ins Leere. Sie schrie Flämmchen an, er reagierte nicht. Plötzlich herrschte Stille im Bad; die Kassette war abgelaufen. Auf der Straße hupte ein Auto. Flämmchen fand seine vertraute Gestalt wieder. Tina lehnte den Kopf gegen die Tür und schloß für einen Moment die Augen. Die Luft erschien ihr stickig. „Man müßte mehr Platz haben“, sagte Flämmchen tief einatmend. „Was ist denn? Hab' ich was falsch gemacht? Du siehst so komisch aus.“ Tina versuchte zu lächeln und scheiterte an ihrem maskenhaften Gesicht. „Nein“, sagte sie. Sie hatte die Klinke gefunden. „Aber ich muß jetzt was essen, ich habe Hunger und kann leider nicht von der Luft leben. Ich bin gleich wieder da.“ Sie drückte sich rasch durch den Türspalt, jeder trennende Meter zwischen ihr und Flämmchen tat ihr gut. In der Küche setzte sie sich langsam, legte die Arme auf den Tisch und barg ihren Kopf darin. Flämmchens Wesen hatte ihr bislang das Gefühl gegeben, die Situation nach Belieben bestimmen zu können. Tina begriff ihren Irrtum. Es war nicht Flämmchens unbedachter Übermut, den sie fürchtete, es war seine Macht. Sie konnte nichts gegen ihn tun, wenn er 35
sich seiner Überlegenheit erst bewußt werden und sie einsetzen würde. Er war in der Lage zu fordern, und es mußte Situationen geben, in denen er versuchen würde, davon Gebrauch zu machen. Tina hatte Fluchtgedanken. Sie empfand den Verlust ihrer Souveränität in dem Bewußtsein, daß es überlebenswichtig war, zumindest nach außen die Stärkere zu sein. Tina hatte noch nie in einem Badezimmer gefrühstückt. „Da sieht man mal, wie gut du es hast“, sagte sie gezwungen, „ich muß essen und trinken, um das kleine bißchen Wärme zu erzeugen, das ich brauche.“ Flämmchen saß auf dem Wannenrand und sah aufmerksam dem ihm fremden Vorgang zu. „Macht essen und trinken Angst?“ „Wie kommst du denn darauf?“ Tina schluckte krampfhaft. Flämmchen suchte forschend ihren Blick. „Weil du Angst hast. Deine Augen sind wieder so wie an unserem ersten Tag, und sie gefallen mir nicht.“ Tina antwortete ausweichend: „Weißt du, was Peter immer sagt? Man soll keine schlafenden Hunde wecken, das heißt, über gewisse Dinge spricht man besser nicht. Sonst gibt es nur Ärger, verstehst du?“ Flämmchen zog die Schultern hoch. „Du hast immer noch Angst vor mir. Und ich dachte, du hättest mich gern.“ Tina stöhnte leise. „Das ist nicht das Problem“, sagte sie. „Ich bin mir eben nicht sicher, wie gern du mich hast. Verstehst du das?“ Flämmchen runzelte die Stirn. Sein Gesicht drückte Anstrengung aus. Er schob eine glühende Haarsträhne in den Mund. „Nein“, sagte er. „Ich wußte nicht, daß es so schwierig ist.“ Er ließ sich in die Badewanne gleiten. „Ich schlafe jetzt. Tu so, als ob ich nicht da wäre.“ Tina stellte das Radio an, um den Wetterbericht zu hören. Bis zur vollen Stunde blieb noch etwas Zeit. Flämmchen setzte sich auf. „Ich kann gar nicht schlafen.“ Tina wußte plötzlich wieder, wie man lächelt, es gelang ihr ganz leicht. „Und ich kann nicht tun, als ob du nicht da wärst“, sagte sie. „Also lassen wir doch den Unsinn.“ Sie wartete, bis Flämmchen wieder in der Wanne lag, ehe sie sich Gesicht und Hände wusch. Während das Wasser rauschte, überhörte sie den Wetterbericht. Sie rieb ihre Brillengläser sauber und spähte aus dem Fenster. Das Schneetreiben hatte nachgelassen, der Himmel war heller geworden und spannte sich als hochhängendes, gebleichtes Laken über Willnau. Tina sah die ersten Kinder. Sie bewarfen sich mit zerstäubenden Schneebällen. Ihr Lachen klang sehr hell und wirkte beruhigend auf Tina. Es gab also doch noch Kinder in Willnau. „Ich hab' nachgedacht.“ Flämmchen stand neben ihr. „Wir glauben uns jetzt gegenseitig, daß wir uns liebhaben. Dann muß doch niemand mehr 36
Angst haben.“ Tina wandte sich vom Fenster ab. „Und du meinst, das wäre so einfach? Mit dem Vertrauen ist das so eine Sache. Du kennst das nicht, man kann ganz schön an die Falschen geraten. Es ist nicht jeder lieb, der es behauptet. Manche lügen.“ Flämmchen nickte und legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. „Wenn du es sagst - aber bis man's merkt, geht's einem schon mal gut. Das wäre mir lieber als von Anfang an immer Angst.“ Tina hätte Flammchen beinahe über den Kopf gestrichen. Im letzten Moment zog sie angesichts der Hitze ihre Hand zurück. „Also irgendwie beneide ich dich manchmal“, sagte sie. „Gut, versuchen wir es nach deiner Methode. Und jetzt muß ich mir das Gesicht eincremen, ich bekomme eine ganz trockene Haut in deiner Gesellschaft.“ Tina lag neben Flämmchen auf dem Bauch und hörte Musik. Sie fühlte sich angenehm müde. Ihr Buch, das sie am Abend zuvor begonnen hatte, war Flämmchens Unwissenheit zum Opfer gefallen. Die letzten Seiten fehlten. Sie vermißte es nicht. Ihre eigene Geschichte war phantastischer. Tina war fast eingenickt, als sie die Türglocke hörte. Sie versuchte erfolglos, es für einen Traum zu halten. Flämmchen räkelte sich. „Oh, ich hab' aber gar keine Lust auf Besuch.“ „Ich auch nicht“, murmelte Tina und kam etwas schwerfällig auf die Beine. „Bleib hier, verhalte dich ruhig, ich lass' die Tür ein bißchen offen.“ Ihre Sorge konzentrierte sich auf ein bestimmtes Bild: Thomas, der zu früh zurückgekehrt war und mit dem Koffer in der Hand vor ihr stand. Die Glocke schepperte wieder, ungeduldig und aufdringlich. Tina fluchte leise. Sie riß die Tür auf. Vor ihr stand Peter Wiesmann, sehr groß und sehr vertraut, mit den wenigen Schneeflocken geschmückt, die er auf dem kurzen Weg vom Wagen bis zur Tür eingefangen hatte. „Peter! Was willst du denn hier?“ „So etwa hatte ich mir deine Begrüßung vorgestellt“, sagte er mit einem Kopfnicken. „Darf ich trotzdem einen Moment reinkommen?“ „Mein Onkel ist nicht zu Hause“, bemerkte Tina bissig. Dabei konnte sie die Erleichterung darüber kaum unterdrücken, daß nicht Thomas vor der Tür stand. In dieser konkreten Situation war Peter das kleinere Übel. „Na schön, wenn du schon mal da bist...“ Tina schlug die Tür hinter ihm zu. Im Flur warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Ihr Bild stimmte sie unzufrieden. Gleichzeitig ärgerte es sie, daß sie plötzlich wieder darauf achtete. Peter hatte die Schuhe ausgezogen und betrat auf Socken die Küche. Er setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ja sibirisch hier drin. Ist euch das Holz ausgegangen? Du frierst doch sonst so schnell.“ 37
Tina kniete auf dem Schaffell. „Wenn du mir sagst, wie lange du bleiben willst, sage ich dir, ob es sich lohnt, dieses Monstrum von Kachelofen anzuwerfen.“ Peter zuckte unschlüssig die Schultern. Tina ergriff die Initiative. In Gegenwart ihres Freundes ergab sich diese Gelegenheit selten genug. Sie begann, eine Fülle von Tätigkeiten zu entfalten, die unbeabsichtigt Gastlichkeit signalisierten. Sie machte Feuer, setzte Teewasser auf, deckte den Tisch und dachte plötzlich an Flämmchen. Sie entschuldigte sich unter einem Vorwand und eilte ins Badezimmer. Dort wurde sie bereits ungeduldig erwartet. „Das ist ja toll, deine Flamme ist da. Den Peter wollte ich immer schon kennenlernen. Wenn er dich gern hat, muß er nett sein.“ Tina räumte hastig ihr Frühstücksgeschirr in den Spiegelschrank, und wieder mißfiel ihr der eigene Anblick. Ihr war heiß, und sie hatte dicke Schweißtropfen auf der Stirn. „Du wirst niemanden kennenlernen. Ich beabsichtige nicht, ihm von dir zu erzählen, verstanden?“ Flämmchen senkte enttäuscht den Blick und ließ die glühenden Schultern hängen. „Du schämst dich wegen mir“, sagte er traurig. „Quatsch!“ Tina mußte sich zur Ruhe zwingen, ihre Hände bewegten sich gegen ihren Willen, und ihre Kopfhaut kribbelte. „Versuch jetzt, mich zu verstehen“, beschwor sie Flämmchen, „Peter kann dich nicht sehen, und er würde mir kein Wort glauben, ich kenne ihn. Also halte dich zurück, auch wenn er ins Bad kommen sollte. Ich bitte dich.“ Flämmchen hob die Hände. „Ich mach' mich so klein und kalt, wie es geht. Aber verstehen kann ich das alles nicht. Warum glaubt er dir nicht? Also, ich würde dir alles glauben.“ Tina nahm die Brille ab, um ihre Nasenwurzel zu massieren. „Ich wollte hier allein sein“, murmelte sie, „und jetzt hängen mir schon zwei auf der Pelle. Kann man denn nirgendwo seine Ruhe haben?“ Sie spürte Flämmchens fragende Besorgnis. „Wir sprechen später darüber“, sagte sie und rieb sich die Augen. „Laß die Tür offen!“ rief ihr Flämmchen nach. Peter saß im Korbsessel. Er hatte den Mantel ausgezogen und die Beine überkreuzt. Mit dem Finger malte er Kreise auf die beschlagene Fensterscheibe. „Mistwetter, du glaubst nicht, wie die Straßen aussehen.“ Tina rührte in ihrem Tee. „Ich hab' dich nicht gebeten zu kommen. Im Gegenteil, wir hatten eine Abmachung. Also zur Sache, was führt dich her?“ Peter lehnte sich zurück, der Korbsessel knarrte unter seinem Gewicht. „Sagt dir der Name Breidenberg etwas?“ „Wie kommst du denn auf den?“ Tina forschte in Peters Gesicht und konnte die Falle nicht finden. Seine wasserblauen Augen boten keinerlei 38
Widerstand. „Der war neulich wegen des Museums da. Kennst du ihn?“ Peter malte jetzt Zacken auf die Scheibe. „Ein Arbeitskollege von mir ...“ „Tja, die Welt ist klein.“ Tina lächelte mechanisch und legte die Hände hinter den Kopf. Auf ihrem Schaffell fühlte sie sich sicher. „Ich nehme an, er hat von mir berichtet“, mutmaßte sie genießerisch. Peter schob die Teetasse zur Seite und stand auf. „Also, ich will ehrlich sein. Ich habe dir den guten Herrn Breidenberg geschickt. Moment! Sag noch nichts! Ich wollte nur wissen, wie's dir geht. Ich habe ihm eingeschärft, er solle sich so geistlos wie möglich benehmen.“ Tina stöhnte auf. Dann schlug sie einen Purzelbaum über das Schaffell und lachte. „Das ist ihm trefflich gelungen. Ich bin ja so eine Idiotin, und du bist so ein Mistkerl. Wen bring' ich denn zuerst um?“ „Keinen“, sagte Peter ruhig, „aber vielleicht verstehst du jetzt, warum ich kommen mußte. Breidenberg hat mir erzählt, du hättest mit ihm geflirtet, daß sich die Balken bogen. Das gab mir zu denken.“ Tina stand ganz langsam auf. „Du darfst das Haus durchsuchen, dein Herr Breidenberg hängt nicht im Kleiderschrank.“ Peter strich sich den Oberlippenbart glatt und setzte sich wieder. „Geschenkt“, sagte er, „Breidenberg ist übers Wochenende in die Berge gefahren, zum Skilaufen. Außerdem wirkst du nicht so, als hättest du hier einen Liebhaber versteckt.“ Tina warf einen Blick über ihre Schulter. Am Ende des langen Flures konnte sie im Spalt unter der Badezimmertür etwas glühen sehen, ein Lichtschein geisterte über den Parkettboden. Weil Tina trotz Flämmchens Wunsch die Tür geschlossen hatte, hockte das glühende Wesen jetzt vermutlich dicht an der Schwelle, spähte durch den schrägen Spalt und lauschte. Es gefiel Tina, daß er neugierig war, gleichzeitig hoffte sie, er würde der Tür nicht zu nahe kommen. „Du irrst dich“, sagte sie und wandte sich wieder Peter zu. „Ich habe einen ausgesprochen glühenden Verehrer im Badezimmer sitzen. Aber gib dir keine Mühe, er ist unsichtbar, außer für mich natürlich.“ Peter schmunzelte amüsiert. „So, so, dann verbrenn dir bloß nicht die Finger. Ach, Mädchen, mit dir sollte man Gespräche nur über Bildschirm führen. Ein Knopfdruck und die wechselseitigen Entgleisungen sind gelöscht. Man fängt einfach wieder von vorn an.“ „Da bliebe aber nicht viel übrig, und wir wurden nie fertig“, sagte Tina. Sie suchte nach einem freundlichen Zusatz, die Sticheleien des Gespräches ermüdeten sie plötzlich. Sie war erschöpft und versöhnlich gestimmt. Doch sie dachte nicht zu Ende - ein Schrei unterbrach ihre Überlegungen. „Tina! Hilfe!“ Sie war wie gelähmt und sah Peter an, der wie von weit her fragte, ob ihr nicht gut sei. Sie antwortete mit einer wirren Kopfbewegung, zog sich an der Ofenbank hoch und rannte ins Badezimmer. „Ich werfe sie beide 39
raus“, flüsterte sie dabei. An der Tür schlug ihr heißer Wasserdampf entgegen. Sie konnte nichts sehen und versuchte vergeblich, die weißen Schwaden mit den Händen zur Seite zu schieben. Irgendwo rauschte Wasser, und Tina orientierte sich danach. Dann sah sie durch ihre beschlagene Brille die verwischten Formen von Flämmchen, der ganz hinten auf dem Wannenrand kauerte, die dampfenden Fäuste gegen die Brust gepreßt. Das Wasser erreichte ihn dort nicht mehr. „Tina, bitte sei lieb. Ich war so aufgeregt, als du von mir gesprochen hast, da hab' ich ein bißchen mit den silbernen Dingern gespielt und dann ...“ „Scheiße!“ schrie ihn Tina an. „Mußt du alles anfassen? Das war der Wasser ...“ Sie verstummte abrupt, weil sie bemerkt hatte, daß Peter hinter ihr stand und ihre Schulter berührte. Sie drehte den Wasserhahn zu und fingerte daran herum, bemüht, alles möglichst kompliziert und wichtig aussehen zu lassen. „Der Boiler ist kaputt“, sagte sie. Wasserdampf schlug sich langsam an den Wänden nieder. Tropfen rannen die Kacheln herab und fingen sich in den Fugen. Peters Gesicht wurde scharfkantiger. „Das sollte dein Onkel aber nachsehen lassen.“ „Du hast recht.“ Tina nickte inbrünstig. „So geht das echt nicht mehr weiter.“ Peter strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht. „Du gibst mir recht? Du mußt krank sein. Du siehst sowieso elend aus. Mit dir stimmt was nicht.“ Tina nahm Peter in die Arme und drückte ihn kurz, aber dankbar an sich. Flämmchen dampfte noch immer. Er sah zur Wand und hatte die Hände über den Kopf gelegt. Tina schob Peter von sich. Es irritierte sie, daß sie sich dazu noch überwinden mußte. „Du, ich möchte jetzt allein sein, es war ja auch so geplant. Aber ich ruf dich an.“ Peter widersprach nicht. Er ging in die Küche zurück, zog seinen Mantel über und suchte in der Tasche nach den Wagenschlüsseln. Tina reichte ihm die Schuhe. An der Tür küßte sie ihn flüchtig auf die Wange. Durch das Flurfenster sah sie, wie Peter mit kräftigen Bewegungen die Scheiben freifegte, einstieg und seinen Wagen vom Hof lenkte. Der Anblick weckte Heimweh nach einer Wohnung im sechsten Stock, in die nur am Nachmittag für ein paar Stunden Sonne fiel. Tina schlenderte in die Küche und legte zwei Briketts nach. Die Wärme der Glut machte ihr unangenehm bewußt, daß sie nicht so einsam war, wie sie sich fühlte. Das Telefon klingelte und gab ihr die Möglichkeit, den Gang ins Badezimmer noch einen Moment aufzuschieben. Es war Frau Helms, die sich erkundigte, ob etwas passiert sei. Sie hatte die Wasserdampfschwaden aus dem Fenster quellen sehen. Tina beruhigte die enttäuschte und um ihre Sensation gebrachte Frau, ohne den Vorfall weiter 40
zu begründen. Sie beendete das Gespräch unter dem Vorwand, nach ihrem Badewasser sehen zu müssen. Flämmchen hatte seine Haltung kaum verändert. Tina mußte ihn ansprechen, um auf sich aufmerksam zu machen: „Schau doch mal aus dem Fenster, es schneit nicht mehr.“ Flämmchen wandte sich langsam von der Wand ab. Sein Gesicht wirkte trotz der hellen Glut düster, und sein Blick zielte ins Leere. „Schön“, sagte er dumpf, „aber ich wäre sowieso gegangen.“ Tina setzte sich auf den feuchten Fußboden. „Vielleicht wäre das wirklich besser. Aber so traurig lasse ich dich nicht weg. Wir wollten uns doch glauben, daß wir uns liebhaben. Daran ändert weder die Panne mit dem Wasserhahn etwas noch Peter. Und langsam scheint es mir, nicht mal wir beide ändern was dran.“ Flämmchen seufzte tief. Seine Augen belebten sich. „Du hast mich so böse angeschaut, da hab' ich ganz vergessen, daß du mich gern magst. Tut mir leid.“ Er kletterte über den Wannenrand und kreuzte die Arme vor der Brust. „Peter glaubt wirklich nicht, daß es mich gibt. Schade.“ Er sah nach draußen. „Wenn das weiße Zeug endlich unten liegt, sieht es eigentlich sehr hübsch aus.“ Tina lachte. „Ich möchte, daß du heute nacht noch bleibst. Mein Onkel kommt erst morgen zurück.“ Flämmchen drehte sich auf den Zehenspitzen. Fast hätte er wieder zu tanzen angefangen. „Oh gut, ich möchte auch.“ Die Fliesen waren abgetrocknet. Tina rückte sich wieder ihre Decken zurecht. Flämmchen döste zufrieden in der Wanne und tauchte das Badezimmer nur noch in Dämmerlicht. Tina verließ im Laufe des Abends zweimal das Bad. Zuerst machte sie sich etwas zu essen und rauchte eine Zigarette in der kalten Dachkammer. Später rief Thomas an und bat darum, gegen Mittag abgeholt zu werden. „Ist alles in Ordnung?“ erkundigte er sich. Tina saß auf dem Eckschränkchen, sie hatte die Schuhe abgestreift und die Füße gegen die Wand gestemmt. „Mir geht's gut“, sagte sie, „und dein Museum steht auch noch. Keine besonderen Vorkommnisse in Willnau. Doch, Peter war da. Aber das erzähle ich dir morgen.“ Tina tastete zur Seite. Einen undeutlichen Moment lang beherrschte sie der Gedanke, aufstehen und ins Büro gehen zu müssen. Erst als ihre Hand, statt einen schlafwarmen Körper zu berühren, über kühle, unangenehm glatte Fliesen streifte, zerfloß der Traum. Sie konnte ihren Kopf nicht bewegen. Die Nacht unter dem weit geöffneten Fenster hatte ihr einen steifen Nacken eingebracht. Flämmchen schlief fest. Einige seiner Haarsträhnen hingen in sanftem 41
Schwung über den Wannenrand und verdoppelten sich durch ihren Widerschein. Es war neuerdings völlig unerheblich, welches Datum der Kalender zeigte. Flämmchens stetige Glut machte aus den Tagen unterschiedslose Zeitabschnitte. Es gab weder Wochenende noch Feierabend, es gab nur willkürlich verteilte Momente, die niemand vorhersehen oder planen konnte. Damit war Flämmchen das ständige Abenteuer an sich. Tina setzte sich auf und zog die Beine an. Sie war müde, aber sie konnte nicht mehr schlafen. Eine heftige Unruhe lief wellenförmig durch ihren Körper. Sie hatte Herzklopfen und kämpfte gegen ein Gefühl an, das der Angst ähnelte, ohne ihr gleichzukommen. Tina beschloß zu duschen, obwohl sie Hemmungen hatte, sich in Flämmchens Gegenwart auszuziehen. Seit zwei Tagen war sie nicht mehr aus den Kleidern gekommen. Der Pullover roch nach getrocknetem Schweiß und verflogenem Parfüm. Tina rümpfte die Nase. Es deprimierte sie, daß es so unangenehm war, nach sich selbst zu riechen. Ihr wurde beinahe übel. Sie warf noch einen Blick auf Flämmchen, ehe sie das Bad verließ, um sich frische Sachen aus der Dachkammer zu holen. Der Boiler ließ die Wassertemperatur schwanken. Tina stieß ungewollt einen Schrei aus, als plötzlich ein kalter Guß auf ihren Körper trommelte. Flämmchen richtete sich auf, Tina sah seinen Schein und schob den zart geblümten Duschvorhang ein Stück zur Seite. „Ich bin hier drin.“ Flämmchen ließ sich zurücksinken. „Du wachst immer vor mir auf. Warum schläfst du nicht mehr? Bist du schon wieder nicht mehr müde? Was machst du da überhaupt?“ Tina hatte Mühe, Flämmchen gegen das Rauschen des Wassers zu verstehen. „Ich komme gleich!“ rief sie durch den wieder geschlossenen Duschvorhang. „Im Gegensatz zu dir kann ich gar nicht genug Wasser um mich herum haben.“ Flämmchen war näher gekommen, Tina konnte seine glühenden Zehen erkennen. Seine Stimme klang unsicher. „Was ist denn nur los, ein Teil von dir liegt hier auf dem Boden.“ Tina begriff nicht sofort, daß er ihre Kleider meinte. Als sie ihn verstand, wurde sie nervös. Überwiegend empfand sie Flämmchen als Neutrum, doch es gab Momente, in denen sich diese bequeme Sichtweise schwer herstellen ließ, weil sie nicht ganz den Tatsachen entsprach. Tina war darauf gefaßt, daß Flämmchen sie angaffen würde, wenn sie nackt aus der Dusche kam. Seine Mischung zwischen Erstaunen und Bewunderung war ihr weniger unangenehm, als sie erwartet hatte. Sie blieb eine Weile stehen, ohne nach dem Handtuch zu greifen. Sie fühlte sich sicher und unbefangen. Der Wind, der durch das Fenster hereinwehte, strich kühl über Tinas Schultern und verursachte ihr eine leichte Gänsehaut. Flämmchen rea42
gierte zunächst mit einer Feststellung: „Du siehst mir ja noch ähnlicher, als ich dachte“, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Pullover, Hose und Schuhe, die unordentlich über den Fußboden verstreut waren. „Allerdings, wenn ich genauer hinsehe, da unten und ...“ Tina begann, sich abzufrottieren, und unterbrach ihn lachend. „Schon gut, ich weiß, was du meinst. Das liegt daran, daß ich eine Frau bin und du ...“ Sie zögerte einen Moment davor, es auszusprechen, „so was wie ein Mann. Zu deiner Beruhigung: Wenn Peter sich auszieht, sieht er genau so aus wie du, bis auf die Glut natürlich. Und lange Haare läßt er sich auch nicht wachsen.“ Flämmchen dachte nach. Er legte seinen Zeigefinger auf die Nasenspitze, ohne Tina aus den Augen zu lassen. „Dann würde ich ja eher zu Peter passen“, sagte er mehr in einem Selbstgespräch, „das gefällt mir nicht.“ „Im Gegenteil.“ Tina wickelte ein Handtuch um ihren Kopf und zog frische Wäsche an. „Frauen passen zu Männern und Männer zu Frauen. Es kommt zwar auch vor, daß ... Aber das führt jetzt wirklich zu weit!“ Flämmchen reckte sich und versuchte, seine durcheinandergeratenen Haarsträhnen zu ordnen. „Da bin ich froh.“ Er setzte sich auf den Wannenrand und stutzte den Kopf in die Hände. „Ich glaube, ich muß noch viel lernen. Warum läufst du nicht immer so herum wie eben, das sah schöner aus.“ „Du hast gut reden, du mit deiner Glut“, sagte Tina etwas außer Atem. Sie versuchte, sich durch ein paar Kniebeugen aufzuwärmen. „Für uns ist das zu kalt.“ „Ich kann dich ja wärmen“, sagte Flämmchen mit einem schwärmerischen Unterton in der Stimme. „Ach, der Peter hat's gut, der kann dich anfassen. Das würde ich auch gern.“ Tina lächelte Flämmchen an, aber es kostete sie Mühe. Ihre Unruhe kam zurück, sie fand sich in einer Entwicklung wieder, die unabsehbar in eine fremde Richtung wies. Tina verstand, was in Flämmchen vorging. Sie entdeckte seine Empfindungen in ihrer eigenen Gefühlswelt wieder. Schon mehrfach hatte sie den Wunsch gehabt, Flämmchen zu streicheln, und war nur vor seiner schmerzhaften Hitze zurückgeschreckt. Obwohl das Problem eindeutig unüberwindbar war, gelang ihren Bedürfnissen keine Kehrtwende. „Du bist komisch“, sagte Flämmchen, „ich glaube, je mehr du mich liebhast, desto weniger möchtest du mich um dich haben. Kannst du mich dann nicht etwas weniger liebhaben?“ Tina versuchte, Flämmchens Blick standzuhalten, es gelang ihr nicht, denn sie wußte bereits, daß sie jetzt etwas Verletzendes sagen würde: „Ich wäre wirklich manchmal froh, wenn es dich nicht gäbe. Ich möchte meine alten, vertrauten, langweiligen Probleme zurückhaben. Ich will mich nicht von anderen unterscheiden. Warum muß ausgerechnet ich 43
dich sehen und hören können? Mich hat niemand gefragt, ob ich das will. Ich will nämlich gar nicht - ach, was rede ich denn da alles?“ Sie betrachtete ihre nackten Füße und fürchtete sich vor Flämmchens Reaktion. „Du sagst nur, was du meinst“, bemerkte Flämmchen. Seine Gelassenheit machte ihn ungewohnt überlegen. „Ich lerne, daß es wirklich schwierig ist. Als ich dich noch nicht kannte, war ich allein. Das war nicht schlimm. Heute tut es manchmal weh, wenn du nicht da bist. Dann bin ich traurig und vergeude Zeit. Aber ich kann nicht so tun, als ob ich dich nie liebgehabt hätte. Und ich will auch gar nicht.“ „Ich kann's auch nicht“, sagte Tina leise. Das Geständnis verdrängte ihre Unruhe. Nur eine leichte Beklommenheit blieb zurück. In Flämmchens Gegenwart mißlang es ihr immer wieder, ihre Gespräche wie Schachpartien anzulegen. Er spielte einfach nicht mit. Flämmchens Auszug verlief ohne viele Worte. Tina nutzte die Stunde vor der Dämmerung. Alle, die montags früh zur Arbeit in die Stadt fuhren, hatten Willnau bereits verlassen. Flämmchen ging voraus. Tina folgte ihm, bemüht, seine Schmelzspuren mit ihren Stiefelabdrücken zuzudekken. Daraus ergab sich eine seltsame Form des Gleichschritts. Tina fror durch ihre Fäustlinge. Jeder Atemzug biß in den Nasenflügeln. Flämmchens Wärme verflog ebenso schnell wie die grauen Fäden aus den Willnauer Schornsteinen. „Wird es nicht sehr ungemütlich sein?“ fragte Tina gegen Flämmchens glühenden Rücken. „Es liegt doch alles voller Schnee, und Schnee ist naß.“ „Das macht nichts.“ Flämmchen wandte sich kurz um. „Ich hab' mir schnell ein Plätzchen abgeschmolzen und getrocknet.“ Tina rüttelte an einem Ast, ließ die weiße Lawine über sich ergehen und schüttelte sich. Dann grüßte sie einen Schneemann mit Wollschal und Rübennase, indem sie die Hacken zusammenschlug und die Hand an die Pudelmütze legte. Flämmchen lachte. „Du bist toll! Du kannst lustig sein, obwohl du gar nicht fröhlich bist.“ Am Eingang zum Steinbruch blieb Tina stehen. Es wurde hell. Das Licht hatte einen der seltenen Grautöne, die nicht deprimierten, sondern bereits auf Sonne und tiefblauen Himmel hinwiesen. Der Steinbruch hielt eine schwankende Balance zwischen faszinierender Unberührtheit und bedrohlicher Einsamkeit. Flämmchen wirkte völlig verloren darin. Es schien, als glühe er vergeblich gegen eine grenzenlose Kälte an. „Ich lass' dich richtig ungern hier allein“, murmelte Tina. Flämmchen hüllte sich langsam in Wasserdampf. „Mach dir keine Gedanken“, sagte er, „solange ich weiß, daß du wiederkommst, stört mich nichts.“ „Na schön.“ Tina wandte sich zum Gehen. „Sobald ich meinen Onkel abgeholt habe, lass' ich mich sehen.“ 44
Flämmchen hob die Trennung noch einmal auf: „Was ich sagen wollte“, rief er, „denk daran, daß du deine Eßsachen im Badezimmer versteckt hast, als Peter kam. Nimm sie lieber raus, ich hab' das Gefühl, sie gehören da nicht hin!“ Tina nickte und stapfte langsam dem heller werdenden Tag entgegen. Sie sehnte sich plötzlich nach ihrem Onkel. Und sie würde ihm auf keinen Fall erzählen, daß das Interesse von Herrn Breidenberg eigentlich nicht dem Museum gegolten hatte. Nach dem Frühstück fuhr Tina los, um ihren Onkel abzuholen. Blinkende Räumfahrzeuge und Streuwagen waren unterwegs. Mit ihnen näherte sich die Stadt. Der Winter färbte sich schmutzig und zog sich zurück. Die nassen Straßen waren nicht schön, aber sie wirkten realer als ein Flämmchen im Schnee. Thomas wartete bereits in der Hotelhalle. Er paßte selbst nach drei Tagen noch nicht in diese vornehme Umgebung, obwohl er ungewohnt gründlich rasiert war. Tina winkte ihm zu. „Dein Taxi ist da!“ rief sie durch die Hotelhalle. Einige Leute wandten sich nach ihr um. Ihre Blicke tadelten diskret, ohne die Form zu verletzen. „Geht's auch etwas leiser?“ erkundigte sich Thomas schmunzelnd. Thomas machte eine anerkennende Bemerkung über den geheizten Kachelofen und begann, sich sofort mit seinen dunkelbraunen Teegläsern und der Messingwaage zu beschäftigen. „Es ist unglaublich, was in diesen Hotels als Tee serviert wird. Mich schaudert's, wenn ich den Beutel aus der Tasse ziehen muß“, sagte er. „Schau, schau, an meiner Wodkaflasche warst du also auch.“ Tina nahm den Honig vom Regal. „Ich habe ein Problem“, sagte sie zögernd. Thomas war dann vertieft, eine weitere Prise Teeblätter in die Messingschale zu legen. „Eines mit zwei Beinen?“ Tina nickte. „Ja, gewissermaßen ...“ Thomas sah überrascht auf. Er tippte dabei an die Waage, sie geriet vollends aus dem Gleichgewicht und pendelte sich nur langsam wieder ein. „Was meinst du mit gewissermaßen?“ „Gewissermaßen habe ich keine Lust, mir den schönen Nachmittag durch Probleme zu verderben“, sagte Tina und hob den pfeifenden Wasserkessel von der Gasflamme. Flämmchen war plötzlich wieder weit weg. Das Frühstücksgeschirr stand nicht mehr im Spiegelschrank, und kein Feuerschein huschte über die Kacheln des Badezimmers. Das Leben war vorerst ohne Außergewöhnlichkeiten. Es beging seinen Verrat an Flämmchen fast zwangsläufig. Beim Tee erzählte Thomas in der ihm eigenen Knappheit von den vergangenen Tagen, von Vorträgen, von Kellnern, die während des Essens dienstfertig hinter den Gästen stehenblieben, und von langen Gesprä45
chen bis tief in die Nacht. „Meine Welt ist das nicht“, sagte er, „aber Willi ist nun mal ein Teil davon. Er hat mir versprochen, Ausschau nach Material über Willnau zu halten. Ich möchte gerne die heiße Quelle belegen, die es hier mal gegeben haben soll. Fest steht, daß sich der Verlauf der Willnauer Landstraße ziemlich genau mit einer mittelalterlichen Handelsroute deckt. Und irgendwo, vielleicht gerade hier, wo wir sitzen, gab es Pferdeställe. In Reiseberichten ist immer wieder von einer heißen Quelle die Rede. Sie wurde nicht genutzt, man schrieb ihr dämonische Kräfte zu. Nur einmal wird in diesem Zusammenhang ein Steinbruch erwähnt. Die meisten Zeitzeugen haben wohl nur aufgeschrieben, was ihnen erzählt wurde. Wenn ich die Lage der Stallungen genauer bestimmen könnte ... Vielleicht jage ich aber auch bloß einer Legende nach.“ Tina berichtete von Peters Auftritt in Willnau. Mühelos sparte sie dabei sowohl Herrn Breidenberg als auch Flämmchen aus. Verschweigen hatte nicht dieselbe Peinlichkeit wie Lügen, und doch waren die Auswirkungen durchaus vergleichbar. Tina redete, und es gelang ihr, sich die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen zurechtzurücken. Thomas zog es in sein Museum. Er nahm nur die Bücher und die Fotos aus dem Koffer. „Keine Bange, deine Fossilien haben sich nicht vermehrt“, sagte Tina augenzwinkernd, „sie sind bloß drei Tage älter.“ „Wir auch“, erwiderte Thomas, „und bei uns wiegt das schwerer.“ Er schloß die Museumstür hinter sich. In solchen Momenten fiel es Tina auf: Sie hatte nichts, das sie mit solcher Intensität vereinnahmte und seine Wichtigkeit über Jahre hinweg behielt. Sie wußte nicht, ob sie darüber erleichtert sein oder es bedauern sollte. Flämmchen hatte sich unterhalb des Felsvorsprungs ein kleines Stückchen Lebensraum abgetaut. Die Luft war weicher geworden. Tina nahm ihre Pudelmütze ab, die Wolle juckte plötzlich auf der Stirn. „Na, was hast du so gemacht?“ fragte sie und lehnte sich gegen den Felsen. Flämmchen sah in die untergehende Sonne. „Ich hab' gewartet“, sagte er und wandte sich Tina zu. „Früher wußte ich gar nicht, wie das geht. Da gab es auch nichts, was so wichtig gewesen wäre. Warten ist komisch. Ich stelle mir dann vor, wie etwas sein wird. Das ist sehr schön. Trotzdem wünsche ich mir, daß das Warten schnell vorbeigeht.“ Tina ließ ihren Blick über den Steinbruch wandern. Sie empfand Flämmchens Erwartungshaltung wie einen dumpfen Druck. Vielleicht war sie das einzige, was er außer seinen Gedanken und Phantasien besaß. Zwischen einem Mangel an Vergangenheit und Zukunft klaffte ein gro46
ßes Loch. Tina fühlte sich unfähig, es mit ihrem Leben auszufüllen. Sie versuchte trotzdem, heiter zu sein. Sie wollte Flämmchen nicht die kurze Zeit verderben, die er mit ihr gemeinsam haben würde und auf die er immer mehr hinzuleben schien. Sie zeigte ihm schillernde Eiszapfen, ohne vorauszusehen, daß sie in seiner Nähe schmelzen könnten und er darüber traurig sein würde. Sie sprach von Thomas und mußte zugeben, daß sie ihrem Onkel noch immer nichts von Flämmchen erzählt hatte. Trotz ihres Bemühens, das Zusammensein harmonisch zu gestalten, verfing sie sich selbst in einer düsteren Stimmung. „Woran denkst du?“ fragte Flämmchen und beugte den Kopf vor. „Es erscheint mir, als wärst du ganz weit weg.“ Tina runzelte die Stirn. Sie verübelte es Flämmchen, daß er ihr jeden Rückzug in sicheres Schweigen verstellte. Selbst ihr ansonsten erfolgreichstes Verhaltensmuster verfehlte bei ihm seine Wirkung. „Ich habe mich gefragt, was wird, wenn ich wieder in die Stadt ziehe. Dann kann ich dich nicht mehr jeden Tag besuchen.“ „Wann tust du's?“ fragte Flämmchen mit einem leichten Beben in der Stimme. „Morgen?“ „Nein“, sagte Tina, „auch nicht übermorgen, irgendwann eben.“ „Ach so -“. Flämmchen streckte sich im Geröll aus und bettete den Kopf auf ein Kissen aus flammenden Haaren. „Dann habe ich heute noch keine Angst.“ Tina versuchte zu erklären, daß der Tag kommen würde und daß man sich rechtzeitig Gedanken darüber machen mußte, doch Flämmchen folgte ihren Argumenten nicht. „Angst ist schlimm'', sagte er nur, „ich will sie erst haben, wenn es nicht mehr anders geht.“ Tina lachte ärgerlich auf. „Du machst es dir verdammt einfach! Die Sache geht doch auch mich etwas an. Und ich werde es sein, die in Zugzwang kommt.“ Flämmchen hob beschwichtigend die Hände. „Nicht böse sein! Eigentlich möchtest du doch auch keine Angst haben. Oder nützt es dir, wenn ich mich ab jetzt fürchte? Dann muß ich neu darüber nachdenken.“ Tina verwarf ihre ursprüngliche Antwort, die keinen Sinn mehr ergab. „Ach was“, sagte sie nur. Gemeinsam mit Flämmchen sah sie dem Sonnenuntergang zu, der die Wolkenformen über dem Horizont farbig anhauchte. Sie wurden zu Bildern: Neben einem Drachen und einem Baum war auch ein glühender Mensch dabei. „Man könnte auf den Gedanken kommen, daß du vom Himmel gefallen bist“, sagte Tina zu Flämmchen, der den Sonnenuntergang mitten in einem verschneiten Steinbruch weiterlebte. „Fragst du dich nie, wo du herkommst?“ „Doch, das tue ich.“ Flämmchen schloß die Augen. „Ich bin aber nicht sicher, ob ich es wissen will. Wenn ich es herausfinde, bin ich vielleicht 47
nicht mehr hier. Und ich möchte doch noch ein bißchen bei dir sein.“ Er deutete auf die Wolken. „Schau dir an, wie sich da alles dauernd verändert. Ich wundere mich jeden Morgen, daß ich noch so bin wie vor dem Einschlafen. Es könnte doch sein, daß ich plötzlich nur ein Bein habe und dafür zwei Nasen. Obwohl, schön wäre das ja nicht, ich könnte gar nicht damit laufen.“ „Mir wäre es auch lieber, du würdest bleiben, wie du bist“, sagte Tina lachend. Und leise fügte sie hinzu: „Du bist schön. Manchmal möchte ich dich einfach nur anschauen.“ Frau Bergheim war guter Laune und sehr beschäftigt. „Albert kommt morgen zu Besuch. Na, den kennst du doch von früher. Schau mal vorbei!“ Tina saß auf der Eckbank. Sie badete in den sich abwechselnd überlagernden Küchendüften. „Gern“, sagte sie. „Ich muß doch sehen, was aus Adlerauge geworden ist. Vielleicht hat er ja jetzt zwei Nasen.“ „Du kommst auf Ideen ...“ Frau Bergheim schüttelte den Kopf, schloß die Herdklappe und wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. „Ich mach' mir wieder viel zuviel Arbeit. Aber der Junge lebt ja sicher nur aus Dosen. Wäre gut, wenn er mal eine Frau fände.“ Tina verkniff sich die Bemerkung, daß Peter besser koche als sie selbst. Es gab nur wenige Themen, über die es sich mit Frau Bergheim streiten ließ. Die Pflichten einer Frau gegenüber einem Mann war eines von ihnen. Sie sagte stattdessen: „Es ist halt immer schön, die Beine mal wieder unter Mutters Tisch zu strecken. Wenn meine Eltern nicht so weit weg wären, täte ich es auch öfter.“ „Man macht's ja gern“, sagte Frau Bergheim. .“Schließlich kommt Albert selten genug. Er muß halt jetzt viel arbeiten. Er wird sicher mal ein guter Anwalt - und eine gute Partie.“ Der Himmel über Willnau war unruhig weiß gesprenkelt. Tina stand in ihren wollenen Beduinenmantel gehüllt an der Dachluke und ließ den Blick schweifen. Der Schnee hatte die kristallene Härte des vergangenen Nachtfrostes. Die Luft war eisig. Tina spürte den Wind auf der Stirn. Er stahl ihr die Wärme aus dem Gesicht und gab ihr das Gefühl, daß Wachsein etwas mit Kälte und Herausforderung zu tun hatte. Sie schaute hinunter auf die Straße und nahm nur am Rande wahr, was sie sah und hörte. Ihre Gedanken waren bei Flämmchen. Sie hatte ihn schlafend vor Augen, und während er schwächer glühte, rückte der Schnee näher heran - die schmale trockene Insel wurde kleiner. Unten in der Küche klapperte Thomas mit Geschirr. Die Geräusche drangen wohltuend vage und beruhigend zur Dachkammer herauf. Tina 48
wußte, daß sie jetzt mit jemandem über Flämmchen reden mußte. Ihr ursprüngliches Bedürfnis verstärkte sich immer mehr zu einem Zwang. Aber ein bloßer Zuhörer genügte längst nicht mehr. Sie sehnte sich nach jemandem, der das Unmögliche glaubte, dem sie vertrauen konnte. Sie war sich bereits sicher, daß sie damit zuviel verlangte. Es widersprach jeder Vernunft, sich allein auf Worte zu verlassen. Sie selbst kannte keinen Menschen, dem sie blind geglaubt hätte. Flämmchens glühende Hitze konnte sie zumindest in ihren Auswirkungen beweisen. Wie aber sollte sie jemandem verständlich machen, daß sich hinter dieser unsichtbaren Energiequelle ein Wesen verbarg, das ihr Zuneigung entgegenbrachte und anziehend war? Tina konnte es empfinden und hatte selbst tagelang gezweifelt. Doch der Druck, Flämmchens Existenz allein tragen zu müssen, war größer geworden als die Angst vor den Folgen der Offenheit. Tina verschob das Gespräch noch um eine Zigarettenlänge, ehe sie in die Schuhe schlüpfte und den Weg in die Küche wie einen Sprung in eisiges Wasser antrat. Sie war gespannt, ob es sich darin schwimmen ließ. Thomas spülte seine Teetasse aus. „Guten Morgen“, sagte er über das Becken gebeugt, ohne sich umzusehen. Als Tina nur mit einem tiefen Atemzug antwortete, ließ er die Tasse sinken und fragte, den Blick noch immer auf die Wand gerichtet: „Stimmt etwas nicht?“ „Es stimmt alles. Dabei wünschte ich, es wäre nur ein Traum. Genau das ist ja mein Problem.“ Tina ließ sich sehr langsam auf dem Schaffell nieder. „Hast du Zeit? Mit fünf Minuten ist mir nämlich nicht geholfen.“ Thomas trocknete die Tasse ab und stellte sie vorsichtig in den Schrank. Dann wandte er sich um, nickte und hockte sich neben Tina auf das Schaffell. Seine Kniegelenke knackten unwillig dabei. „Zeit ist so ziemlich das einzige, was ich reichlich habe“, sagte er, „also sprich dich aus. Ich warte schon seit Tagen darauf.“ Tina vermied lange Einleitungen oder Vorwarnungen, da sie wußte, daß sie dann nicht darüber hinauskommen würde. Sie begann direkt im Steinbruch und schilderte ihre Begegnungen mit Flämmchen erstaunlich chronologisch. Sie verschwieg dabei ihre anfänglichen Zweifel ebensowenig wie ihre spätere Gewißheit. Während sie redete, gab ihr Thomas keinen Anlaß, sich zu unterbrechen. Er hörte zu, still, ohne kommentierendes Mienenspiel. So konnte sich Tina vollständig darauf konzentrieren, die richtigen Worte zu finden, die den Kern trafen, wenn sie schon nicht glaubwürdig klangen. Es hatte etwas Anmaßendes, Flämmchen in Worte einfangen zu wollen, die Stimmungen der einzelnen Situationen waren nicht mehr zurückzuholen. Immer wieder geriet Tinas Schilderung zu einem nüchternen Bericht, der unwichtige Details enthüllte und das Wesentliche verschwieg. 49
Selbst in einem Moment, in dem Tina nichts als aufrichtig sein wollte, filterte sie ihre Aussagen nach einem Vernunftprinzip, das sie bei ihrem Zuhörer voraussetzte. In der Sachlichkeit ging die Persönlichkeit Flämmchens verloren. Tina degradierte ihn zu einer Laune der Natur. Damit wurde die Geschichte noch unglaubhafter, als sie es ohnehin schon war. Von Flämmchen zu erzählen, wurde letztlich ebenso unmöglich, wie einen Traum originalgetreu wiederzugeben. Tina spürte es um so stärker, je länger sie redete. Sie versprach sich immer häufiger, aber sie erzählte weiter, bis sie auch ihre letzte Begegnung mit Flämmchen abgehandelt hatte. Dabei befiel sie die Angst davor, an ein Ende kommen zu müssen. Solange sie redete, fühlte sie sich sicher. Thomas' erste Bewegung war ein heftiges Reiben der Nase. Tina betrachtete ihn vorsichtig über die Brille hinweg und sah sein Gesicht nur verschwommen. Seine Augenbrauen waren nachdenklich zusammengezogen. „Der Wasserhahn tropft“, sagte Tina dumpf. Thomas lächelte flüchtig. „Ich glaube kaum, daß das jetzt unser größtes Problem ist.“ Tina kniff die Augen zusammen. „Ah ja, unser Problem ...“ Sie atmete laut durch die Nase aus. „Ich stell' mir vor, daß so ein Psychiater redet: Wir haben da ein kleines Problem, aber das werden wir gemeinsam lösen.“ Sie lachte und empfand es selbst als unangenehm laut und mißklingend. „Warum gibst du nicht offen zu, daß du mich für übergeschnappt hältst? Ich wäre echt die letzte, die dir das verübeln würde.“ „Bleib gelassen.“ Thomas stand auf. „Ich will vorerst nur eines wissen: Wie ernst ist dir diese Geschichte?“ „Todernst“, sagte Tina, und erschöpft fügte sie hinzu: „Ein sicheres Kriterium für Wahnsinn, nicht wahr? Der Kranke glaubt felsenfest an seinen Unsinn.“ Thomas hatte sich in den Korbsessel gesetzt. Er sah Tina nicht an. „Mir ist da der Badezimmerteppich aufgefallen“, sagte er und zupfte an den Ärmeln seiner Wolljacke. „Er ist angebrannt. Es kam mir vor, als hätte der Fleck die Form eines Fußes mit einem sehr ausgeprägten großen Zeh.“ Tina winkte ab. „Das kann tausend Gründe haben. Du bist eben ein phantasievoller Mensch. Ich deute auch die Risse in der Zimmerdecke.“ Thomas griff nach der Kohlenzange und legte ein Brikett in die Glut. „Sicherlich“, sagte er und verschloß die Tür zum Kachelofen. „Du scheinst gar nicht wirklich zu wollen, daß ich dir glaube. Nun, um ehrlich zu sein, ich weiß auch noch nicht, ob ich es tue. Ein bißchen Zeit mußt du mir schon lassen.“ Tina hatte Mühe, ihren schweren Kopf gerade zu halten. „Ich geh' eine Zigarette rauchen“, sagte sie. 50
Tina saß auf dem Bett. Nun hatte sie ihr Geheimnis geteilt. Sie versuchte, sich ihre Gefühle bewußt zu machen. Seit ihrer ersten Begegnung mit Flämmchen hatte sie daran gedacht, über ihn zu reden. In ihrer Vorstellung waren die Folgen extrem gewesen, je nach Stimmung gut oder schlecht. Die Wirklichkeit hatte nichts davon übriggelassen. Selbst die erwartete Erleichterung war ausgeblieben. Tina fühlte sich nur müde und leer. Sie starrte auf die dunkel gebeizten Dachbalken, in der Überzeugung, dies für den Rest ihres Lebens tun zu können, ohne etwas zu vermissen. Überlegungen streiften sie und verflogen: Peter anrufen, am Nachmittag Adlerauge besuchen und selbstverständlich Flämmchen. Doch diese Unternehmungen erforderten Energie, und Tina war nicht einmal in der Lage, von ihrem Bett aufzustehen. Sie schloß die Augen und fror innerlich. Sie kannte dieses Symptom der Einsamkeit, es warf immer die Schuldfrage auf. An wem lag es also, daß alle Menschen bei ihr eine Lücke hinterließen, in die Flämmchen paßte? Wer, wenn nicht sie selbst, versetzte diese teuflische Spirale in immer schnellere Umdrehungen? Tina stand auf und stieg die Treppe hinab. Sie hatte aufgehört, über den Begriff Realität nachzudenken. Sie besaß zwar noch die kleine Schublade, in die sie die Wirklichkeit einordnete, und die große, in der sie ihre Träume versteckte. Aber neuerdings gab es vieles, das nirgendwo hineinpaßte und das ganze System in Frage stellte. Im Haus regte sich nichts. Selbst die Standuhr in der Küche war stehengeblieben und tickte nicht mehr in ihrem vertrauten Takt. Thomas hatte vergessen, die Gewichte nach oben zu ziehen. Tina wählte Peters Nummer vom Büro und ging das Risiko ein, ihn zu stören. Er reagierte tatsächlich etwas kurz angebunden, und es war schwer herauszuhören, ob er sich über den Anruf freute. „Vorhin ist wieder mal das System abgestürzt“, betonte er, als sei dies eine persönliche Beleidigung für ihn. „Kannst du mich nicht heute abend anrufen?“ „Ich wollte mich nur mit dir verabreden“, sagte sie, „und jetzt bist du schließlich in Reichweite deines Terminkalenders.“ Peter lachte. Ein Geräusch wie rasches Umblättern von Papierseiten war zu hören. Tina wußte sehr genau, daß sich die Fehler im Computerprogramm nicht an einen Terminkalender hielten. Ein Zeitplan war immer ohne Gewähr. „Du hast Glück“, sagte Peter, „wie wäre es mit morgen? Kommst du in die Wohnung, oder bevorzugst du neutrales Territorium?“ Tina schlug ein Lokal vor. Sie hatten sich vor drei Jahren dort kennengelernt, und damit war es mindestens so erinnerungsträchtig wie die gemeinsame Wohnung. Aber es würde etwas einfacher sein, dort wieder aufzustehen und zu gehen. „Okay“, sagte Peter knapp, „ich muß jetzt Schluß machen. Bis dann.“ Tina legte mit dem Gefühl auf, eine unangenehme Pflicht hinter sich gebracht zu haben. 51
Das Leben schien in letzter Zeit nur noch aus Dingen zu bestehen, die erledigt werden mußten. Der nächste Punkt des Programms war das Wiedersehen mit Adlerauge. Tina schlenderte hinüber ins Museum, um sich bei ihrem Onkel abzumelden. Thomas nickte ihr zu. Er verlor kein Wort über Flämmchen, und Tina schien es, als sei das, was sie erzählt hatte, spurlos an ihm vorübergegangen. Einerseits empfand sie eine gewisse Erleichterung, andererseits kränkte es sie. „Soll ich Bergheims grüßen?“ fragte sie, um wenigstens eine banale Antwort ihres Onkels zu provozieren. Thomas beugte sich so tief über das Buch, daß man die kahle Stelle an seinem Hinterkopf sehen konnte. „Grüß, wen du willst“, sagte er, und es klang hohl zwischen den alten Papierseiten, „aber vergiß Flämmchen nicht.“ Tina überlegte, ob sie die letzte Bemerkung als Scherz auffassen sollte, und kam zu einem negativen Ergebnis. „Ich werd's ihm ausrichten. Er wird vermutlich entzückt sein. Er hat sowieso nie verstanden, warum ich ein Geheimnis daraus machen mußte. Er glaubt, alles wäre ganz einfach.“ Thomas schlug das Buch zu, es staubte ein wenig dabei. „Manche Dinge könnten vermutlich wirklich einfacher sein“, sagte er, „wenn es sich nur erst herumsprechen würde. Aber beeil dich jetzt lieber. Philosophische Erkenntnisse sind kein hinreichender Grund, zu spät zum Kaffee zu kommen, schon gar nicht in Willnau.“ Tina ging langsam die Straße entlang. Der Schnee unter ihren Füßen war festgefahren und glänzte matt. Sie versuchte, sich an Adlerauge zu erinnern. Es fiel ihr schwer. Sommersprossen kamen ihr in den Sinn, abgeschnittene Hosenbeine und blonde Haare, deren Farbe an die Heuhaufen auf der Wiese erinnerte. Augenblicke zwischen Tag und Nacht unter einem Baum, in denen die Phantasie unglaubliche Wege gegangen war. Anfangs hatte Tina nicht gerne den weiblichen Part in ihren Indianerspielen übernommen, sie wäre lieber ein Krieger gewesen. Doch damals hatte die Lösung des Problems auf der Hand gelegen. Schleiereule war zu einer besonderen Squaw geworden, die ohne weiteres auf den Kriegspfad gehen konnte. Tina lächelte vor sich hin. Worüber würde man sich heute mit Adlerauge unterhalten können? Im Hause Bergheim herrschte hektische Gastlichkeit. Kügelchen tobte durch die Küche und wurde von einer strengen Stimme ebenso laut wie erfolglos zurechtgewiesen. Frau Bergheim führte Tina ins Wohnzimmer, das eine Frische ausstrahlte, als erwache es nur alle hundert Jahre aus seinem mit Schonbezügen zugedeckten Dornröschenschlaf. Tina begrüßte ein paar Willnauer. Ihr Blick verfing sich an Adlerauge. Sein Gesicht und besonders seine Nase waren länger geworden. Die hellen blauen Augen schienen noch immer zu Dummheiten aufgelegt. 52
„Sei mir willkommen, Schleiereule. Mein Herz ist erfreut, dich nach so langer Zeit wiederzusehen“, sagte er. Tina hob die Hand. „Ich grüße dich, großer Häuptling Adlerauge.“ Die Gäste am Kaffeetisch lächelten und bemerkten kopfnickend, daß aus Kindern Leute wurden. Tina hielt sich an den Nußkuchen und betrieb artig Konversation, die zu dem Goldrandgeschirr und der Rosentapete paßte. Dabei hoffte sie auf eine Gelegenheit, mit Adlerauge allein sprechen zu können. Es war beinahe wie früher. Man bemühte sich, nicht zu krümeln, redete nur, wenn man von den Erwachsenen gefragt wurde, grinste sich an und sparte die Geheimnisse für einen passenderen Moment auf. Eine unangenehm lange Zeitspanne beschäftigte sich die Willnauer Runde mit dem alten Friedmann, der von Tag zu Tag sonderbarer werde und neuerdings sogar an Gespenster glaube. Tina zerkrümelte den Rest ihres Kuchens. Gegen ihren Willen tauchte vor ihren Augen die Vision eines brennenden Willnaus auf, in dessen Mitte Flämmchen mit dem Friedmann tanzte. Sie und Adlerauge standen lachend dabei. Nachdem Albert mit den Männern noch einen Klaren getrunken hatte, begleitete er Tina bis zur Straße. Der frühe Winterabend hatte bereits begonnen. Sie standen im runden Lichtschein einer Straßenlaterne wie ein festgefrorenes Liebespaar. Tina war plötzlich verlegen und kratzte mit der Schuhspitze den harschen Schnee zur Seite. „Deine Mutter ist mächtig stolz auf dich, großer Häuptling“, sagte sie. Albert rieb sich die von der Kälte geröteten Ohren. „Ja, ja, sie sieht mich schon als Staranwalt, nur - so einfach ist das nicht. Aber ich bin ein harter Knochen. Manchmal weiß ich wirklich nicht, woran ich mehr verzweifeln soll, an den Menschen oder an unserem Rechtsstaat. Aber du erinnerst dich vielleicht: Halbe Sachen konnte ich noch nie machen. Oft geht so viel Zeit dafür drauf, daß ich zu nichts anderem mehr komme. Frag mich mal, wann ich zuletzt in einer Disco war und einen Kriegstanz aufs Parkett gelegt habe.“ Tina schlang ihren Arm um den Laternenpfahl. „Kriegst du nicht manchmal Angst, daß du was Entscheidendes versäumst?“ „Gelegentlich ...“ Albert lächelte irgendwo weit weg in der Dunkelheit jenseits des Laternenscheins. „Aber ich weiß genau, daß es das Leben ist, das ich führen möchte. Auf etwas muß man wohl immer verzichten.“ „Weise gesprochen, großer Häuptling.“ Tina war verblüfft über die Ironie, die sich in ihre Worte mischte. Sie fühlte sich minderwertig, da sie auch nichts annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. In ihrem Bekanntenkreis wußte scheinbar jeder, welchen Weg er für sich einschlagen mußte. Nur sie irrte noch durch das Labyrinth ihrer Möglichkeiten. „Du bist zu beneiden“, sagte sie. „Ich habe bis heute nicht herausfinden 53
können, wie ich leben will. Aber ich weiß sehr genau, was ich nicht will. Etwas dürftig auf die Dauer, oder? Vielleicht sollte ich mich dem Allgemeinwohl verschreiben, in den Urwald gehen, um ein Albert Schweitzer in weiblicher Ausführung zu werden. Aber ich fürchte, ich kann kein Blut sehen.“ „Du solltest dich mit etwas mehr Respekt behandeln, anstatt dich selber zu verulken“, sagte Albert. „Was ist aus der stolzen Indianerin geworden, die als erste Frau die Emanzipation über unser rotes Geschlecht gebracht hat?“ Tina stieß sich von dem Laternenpfahl ab und rutschte aus. „Das Leben ist ein bißchen verzwickter als ein Indianerspiel.“ „Aber nicht minder spannend, und so soll es auch bleiben. Ab und zu habe ich einen Alptraum. Ich sehe mich als betagten, verknöcherten Notar in einem dicken Ledersessel sitzen und in Papier ertrinken, buchstäblich ertrinken. Grauenvoll, sage ich dir. Unsere alte Friedenspfeife habe ich übrigens immer noch.“ Tina lachte und malte mit der Schuhspitze eine Feder in den Schnee. „Pandabär Rudi gibt's auch noch.“ Sie verabschiedeten sich mit Indianergruß. „Ich melde mich mal“, versprach Tina, obwohl sie wußte, daß sie es wahrscheinlich nie tun würde. Tina wartete, bis sie sicher sein konnte, daß Adlerauge ins Haus zurückgegangen war, um sich seinen Eltern zu widmen. Dann machte sie kehrt. Sie schlich sich an den Weiden entlang am Hof vorbei. Der Ostwind trug das feine, geschäftige Rauschen der Autobahn herüber, aber an diesem Abend wurde keine Meeresbrandung daraus. Tina hob den Kopf. Der Himmel war klar und schien zerbrechlich wie Glas. Das Mondlicht auf der weißen Schneefläche machte die Dunkelheit porös. Tina hatte keine Mühe, den Eingang zum Steinbruch zu finden. Sie war ungeduldig, Flämmchen zu sehen. Auf dem Weg in Richtung Felsvorsprung entdeckte sie ihre eigenen Fußspuren vom Vortag. Behutsam setzte sie ihre Stiefel hinein. Sie hatte plötzlich Angst, sich jeden Moment in Luft auflösen zu können, und begann zu laufen. Der Schnee stob zwischen ihren Schuhen auf. Flämmchen schlief, den Kopf in den Armen geborgen. Tina stand hilflos neben ihm. Sie wagte es nicht, im Schweigen des Steinbruchs ein lautes Geräusch zu verursachen, und eine glühende Schulter konnte sie nicht anfassen und schütteln. Sie suchte in Flämmchens Zügen nach Anzeichen für eine Enttäuschung über ihr langes Ausbleiben. Er lächelte, als beschäftige ihn ein sanfter Traum. Tina lehnte am Felsvorsprung. Sie fühlte sich allein gelassen mit ihrer unbändig aufkeimenden Zuneigung. Sie streckte ihre Hand aus und ließ sie so nahe wie möglich über Flämmchen hinweggleiten. Sie spürte die Wärme wie eine körperliche Berührung an ihrer Handfläche. Dabei war 54
sie auf einmal sicher, daß sie den ganzen Tag über Sehnsucht nach Flämmchen gehabt hatte, ohne es zu bemerken. Er zog sie auch jetzt noch an, obwohl er nichts anderes tat, als da zu sein. Sie konnte gehen oder bleiben, die Entscheidung war ohne Belang. Trotzdem fror Tina zwischen den beiden Alternativen fest. Sie konnte keinen Schritt machen, die Spannung ließ sie innerlich vibrieren. Sie verbrannte sich an Flämmchens Schulter. Der Schmerz machte sie wieder handlungsfähig. „Du sollst nicht denken, daß ich dich heute vergessen habe“, sagte Tina leise. Sie nahm ihre Pudelmütze ab und setzte sie neben Flämmchen in den Schnee. „Schlaf gut, mein Kleiner, träum weiter.“ Sie verwischte ihre alten Fußspuren, als sie zum Feldweg zurückging. „Du kommst spät.“ Thomas saß am Küchentisch und nähte einen völlig unpassenden Knopf an eine seiner zahllosen Wolljacken. Die Lesebrille war ihm tief auf die Nase gerutscht. Tina rieb sich die steifen Hände am Kachelofen. „Ich hab' Flämmchen beim Schlafen zugesehen.“ Sie betrachtete ihren Onkel herausfordernd, aber sie konnte keine außergewöhnliche Reaktion feststellen. Die Wärme des Kachelofens kroch ihr den Rücken hinauf und stockte eine Weile im Nacken, ehe sie in den Kopf strömte. Tina trat an den Tisch und spielte mit der Garnrolle. „Wann wirst du mir sagen können, ob du mir glaubst?“ Thomas biß den Faden ab und warf die Jacke über die Lehne des Korbsessels. „Du solltest wissen, daß mich ganz Willnau für den größten Sonderling nach dem Friedmann hält. Und Sonderlinge haben bekanntlich eine Schwäche für Wunder. Du mußt mir nicht beweisen, daß Flämmchen so existiert, wie du ihn beschreibst. Die anderen müssen uns beweisen, daß du dich irrst. Aber das wird kaum möglich sein.“ Tina deutete mit der Garnrolle auf ihren Onkel. „Ich möchte wissen, woher du dieses verdammte Vertrauen nimmst“, entfuhr es ihr. „Es gibt doch nun wirklich nicht viel, was für mich spricht.“ „Doch, du!“ Thomas nahm die Brille ab und sah Tina lange an. Dann begab er sich an seine Vorbereitungen für den Abendtee. Dabei sprach er weiter: „Selbst wenn Flammchen nur ein Gedanke von dir wäre, gäbe es ihn, er hätte seine Gründe und seine Daseinsberechtigung. Vielleicht steckt auch etwas anderes dahinter, möglich, sehr wahrscheinlich sogar, aber ich weiß es eben noch nicht. Solange ich mir darüber im unklaren bin, werde ich sehr vorsichtig sein. Man zerstört leicht etwas, nur weil man es nicht sieht. Leichtfertigkeit ist keine Entschuldigung, vorsehen kann sich jeder.“ „Flämmchen würde dich mögen“, sagte Tina, „da bin ich ganz sicher.“ 55
„Tina, wach auf!“ Thomas streckte den Kopf zur Tür herein. Er hob sich nur unbestimmt gegen das Halbdunkel ab. Seine Haare sträubten sich widerborstig in verschiedene Richtungen und vergrößerten die Silhouette des Kopfes zu einer unregelmäßigen Form. Tina richtete sich benommen auf und tastete nach ihrer Brille auf dem Nachttisch. „Himmel“, murmelte sie, „was ist denn los? Du siehst ja zum Fürchten aus.“ Thomas trat an ihr Bett. „Mädchen, ich habe ein ungutes Gefühl“, sagte er ungewohnt hastig. „Ganz Willnau ist aus dem Häuschen! Der Friedmann hat heute morgen ein paar Leute in den Steinbruch geschleppt. Was denkst du, was sie dort entdeckt haben?“ Tina krampfte ihre Hände in die Bettdecke. Flämmchens schlafende Züge zersplitterten vor ihren Augen in tausend kleine Stücke. „Keine Ahnung, erzähl's mir ...“, bat sie und erstickte ihre Worte im Kopfkissen. „Keinen glühenden Menschen.“ Thomas hatte ihre Angst durchschaut. „Aber immerhin eine Stelle, an der aus unerfindlichen Gründen nicht der geringste Schnee liegt und die warm ist. Vorerst haben alle panikartig den Steinbruch wieder verlassen. Man ließ sich herab, mich danach zu fragen, was ich über den vulkanischen Ursprung dieser Gegend wisse. Und ich soll dich warnen. Deine Mütze muß ganz in der Nähe gefunden worden sein.“ „Ich hab' sie für Flämmchen dagelassen, damit er nicht so allein aufwacht.“ Tina schob die Beine aus dem Bett und fuhr mit den Zehen über den rauhen Flickenteppich. Sie musterte ihren Onkel, um herauszufinden, ob sie einen Gegner oder einen Verbündeten vor sich hatte. Sie kam zu keinem klaren Ergebnis. „Was denkst du, was jetzt passieren wird?“ Thomas setzte sich neben sie. „Man hat die Polizei informiert. Wir müssen damit rechnen, daß Fachleute den Steinbruch untersuchen werden. Flämmchen sollte da jetzt nicht bleiben.“ Tina blies sich die Haare aus der Stirn. Sie versuchte, eine Zigarette zu drehen, krümelte den Tabak auf ihr Bett und ließ schließlich ihre Hände unverrichteter Dinge sinken. „Wo soll er hin?“ fragte sie. „Flämmchen ist nicht gerade ein pflegeleichter Besuch.“ Thomas strich über die Bettdecke, seine Finger glitten ruhelos von einem Karo zum anderen. „Ich habe einen Kellerraum, den ich nicht brauche und der nur Gerumpel enthält. Er ist etwas feucht, aber wenn Flämmchen wirklich so heiß ist, dürfte er die Wände bald getrocknet haben. Wir müssen uns allerdings beeilen. Wenn erst Leute im Steinbruch sind ... Sprich also mit Flämmchen. Kennst du noch den Geheimweg, den du als Kind immer gegangen bist? Es sollte dich wirklich keiner sehen.“ Tina lächelte, obwohl ihre trockenen Lippen über den Zahnen spannten. „Du erinnerst dich daran? Ja, den kenne ich noch.“ 56
Thomas' zielstrebiges Verhalten erfüllte sie fast mit Wohlbehagen. Die Tatsache, daß sie nicht mehr allein vor ihren sonderbaren Problemen stand, gab den Dingen eine ganz neue Qualität. Das Abenteuer war angenehmer geworden. „Ich sag's nicht gerne“, erklärte Thomas, bereits wieder vor der Tür stehend, „aber wenn dich jemand zu der Sache befragt, mußt du lügen, was das Zeug hält. So, und ich gehe jetzt den Keller ausräumen. Viel Glück.“ Tina sah ihrem Onkel nach. Nur in Gedanken sagte sie ihm, wie dankbar sie für seine Initiative war. Einen Moment lang ließ sie sich durch die Frage ablenken, ob Thomas aus Besorgnis um seine Nichte handelte oder ob Flämmchen nun auch von ihm Besitz ergriffen hatte. In diesem Fall mußte sie ihren Onkel warnen, doch dazu blieb ihr jetzt keine Zeit. Das friedlich verschlafene Willnau hatte sich über Nacht in einen Bienenstock verwandelt. Tina spähte vorsichtig aus dem Fenster, ohne die Gardine zu verschieben. Wie durch ein Raster sah sie Gruppen von Menschen, deren aufgeregte Gespräche die Straße mit einem bedrohlichen Summen erfüllten. Für Tina war es der Feind, dem sie da gegenüberstand und den es zu täuschen galt. Sie hatte Angst und Spannung nie lustvoll erlebt. Doch jetzt berauschte sie sich an dem unregelmäßigen Ziehen in den Fingerspitzen. Sie warf noch einen Blick auf die Stellungen ihrer Gegner, ehe sie das Haus durch die Kellertür verließ und im Schutz der Buchenhecke den Hof überquerte. Sie schlich in geduckter Haltung. Immer wieder glitten ihre Stiefelsohlen an den eisüberzogenen Baumwurzeln ab. Sie brauchte beide Hände, um weiterzukommen. Ihre Schritte erfolgten mechanisch. Durch ein Gefühl von Wichtigkeit angetrieben war sie aufgezogen wie ein Uhrwerk. Im Steinbruch hatten die Willnauer ihre Aufregung als wirr durcheinanderlaufende Fußspuren hinterlassen. Tina suchte Flämmchen und fand seine Glut halb verborgen unter dem Felsvorsprung. Bisher hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, was sie ihm sagen wollte. Ratlosigkeit ergriff sie, und sie beschloß, erst einmal herauszufinden, in welcher Verfassung sich Flämmchen derzeit befand. Tina schöpfte tief Luft, dann schlitterte sie den glatten Abhang hinunter. Dabei sah sie sich prüfend nach allen Seiten um. Jedes noch so leise Geräusch, das sie verursachte, beunruhigte sie. Irgend jemand mußte da sein und sie sehen. Die Ausrede, daß sie ungeachtet der Warnung ihres Onkels gekommen war, um ihre Mütze zu suchen, war fadenscheinig und doch das einzige, was Tina einfiel. Sie stolperte über einen unförmig vorstehenden Stein und fiel in den Schnee. Tina blieb einen Moment liegen. Sie war sicher, daß sie jetzt jemand ansprechen würde. Der kalte Schnee brannte auf ihrer Wange. „Da bist du ja! Ich hab' deine Mütze gefunden. Aber steh doch auf.“ Flämmchen glühte sehr hell an diesem Morgen. Tina kniff die Augen zu57
sammen. Sie suchte vergeblich nach Besorgnis in Flämmchens Gesicht. Seine Unbekümmertheit täuschte sie mühelos über die bedrohliche Situation hinweg. „Ich wollte dich gestern nicht wecken“, sagte sie, stand auf und schüttelte den Schnee von ihrer Kleidung. Flämmchen trippelte auf der Stelle, als bereite ihm der Schnee unter den Füßen Unbehagen. „Ich hab' mich so gefreut über deine Mütze“, sagte er. „Ach, heute morgen hättest du da sein müssen. Alles war hier voller Leute - und eine Aufregung! Ich glaube, ich hab' noch nie so viel gelacht, aber das konnte ja keiner hören. Du, ich fürchte, ich hab' jemandem die Finger verbrannt, nicht absichtlich, wirklich, ich konnte nichts dafür. Er streckte die Hand aus und...“ „Mach dir deswegen keine Gedanken.“ Tina unterbrach ihn. „Komm lieber mit, wir stehen hier wie auf einem Präsentierteller. Ich muß dir was sagen.“ Flämmchen trippelte nicht mehr. Er wandte den Blick von der Pudelmütze ab, die irgendein Willnauer in das Geäst des Holunderbusches gehängt hatte und die sanft im Wind schaukelte. Verborgen unter dem tiefen Schnee lagen die Reste des verbrannten Zweiges. Mitten in der üppigen Winterlandschaft tat sich ein Loch auf, umrahmt von einer Eiskruste. Es ergab weder einen Sinn, noch war es möglich, daß ein Mensch den rauhen Boden so vollkommen vom Schnee befreit haben konnte, vor allem ohne an der Seite einen Wall aufzuwerfen. Tina begriff erst jetzt, wie verwirrend dieser Anblick war, weil Flämmchen neben ihr ging und nicht seine kleine Insel hütete. Die Willnauer hatten ein Recht auf ihre Verwunderung. „Es ist was Schlimmes passiert“, sagte Flämmchen vor sich hin. „Du hast so was Komisches in deiner Stimme. Erzähl's mir lieber gleich, ehe ich anfange, es mir auszumalen.“ Tina wartete, bis sie unter dem Felsvorsprung standen, der sie weitgehend vor Beobachtern schützte. Flämmchen sah sie unablässig an. Mit den Augen forderte er sein Unglück wie ein persönliches Grundrecht ein. Seine runden, angespannten Schultern zitterten leicht, und er hatte den Mund geöffnet, ohne seine Frage auszusprechen. „Du mußt hier weg!“ Tina sagte es so bestimmt wie möglich. „Deine Hitze ist aufgefallen. Wirklich komisch, daß ich nie an diese Möglichkeit gedacht habe. Bald wird es hier von Leuten nur so wimmeln, und solange du da bist, verschwinden sie auch nicht wieder.“ „Das ist alles?“ Flämmchen glühte rhythmisch auf. Um seine Mundwinkel zitterte ein unterdrücktes Lachen. „Ich freue mich schon. Jetzt, wo es lustig wird, möchte ich gerade hierbleiben. Mich sieht wirklich niemand. Wenn du wüßtest, was das für einen Spaß macht. Und nebenbei kann ich auch noch ein bißchen über die Menschen lernen.“ Tina seufzte deprimiert. Sie mußte einen starken Widerwillen gegen ihre 58
Gedanken niederkämpfen, ehe sie weiterreden konnte. „Du hast keine Ahnung von der Neugierde der Menschen. Sie müssen dich kriegen, du bist etwas Unerklärliches, und das beunruhigt sie. Glaub mir, du hast keine Chance, bei dem Spiel verlierst du.“ „Na wenn schon!“ Flämmchen strich sich in faszinierender Zärtlichkeit zum eigenen Körper über die Schenkel. „Ich bekomme direkt Lust auf etwas Aufregung.“ Tina hatte die Handschuhe ausgezogen und warf sie mit erbitterter Heftigkeit in den Schnee. „Du willst mich wohl nicht verstehen!“ schrie sie Flämmchen an. „Ich mach' mir Sorgen um dich! Für die anderen bist du doch allenfalls eine Sache. Wenn ich daran denke, was manche schon mit Tieren anstellen, nur um irgendeine offene Frage beantworten zu können - und Tiere kann man sehen. Sollten wir tatsächlich einmal die Wissenschaft brauchen, dann muß es so sein, daß du die Fragen bestimmst und nicht umgekehrt. Wenn du dich finden läßt, wirst du zum Objekt, nichts weiter. Im Falle eines Falles mußt du dich präsentieren, möglichst auf einem silbernen Tablett.“ Flämmchen schaute wieder hinüber zu der Pudelmütze, die sich durch den Wind langsam aus den Zweigen gelöst hatte und plötzlich herunterfiel. „Ich verstehe dich nicht“, sagte er, „aber es klingt so, als hättest du recht. Nur, wo soll ich denn mit mir hin? Ich kann mich sehr klein machen, aber ich kann nicht verschwinden, und wenn ich's mir noch so wünsche, es geht nicht.“ „Ich möchte doch gar nicht, daß du verschwindest“, sagte Tina. Sie hatte die gute Nachricht schon viel zu lange zurückgehalten und sich damit überreizt. Jetzt konnte sie Thomas' Einladung nicht mehr großzügig als ein hübsch verpacktes Geschenk darbieten. Ihre Worte waren nur noch eine Wiedergutmachung. „Mein Onkel möchte, daß du zu uns kommst. Ich habe ihm gestern alles erzählt. Er räumt gerade einen Kellerraum für dich aus. Da gibt es nichts, was brennt.“ „Merkwürdig“, sagte Flämmchen und ließ nachdenklich einen kleinen Stein in seiner glühenden Handfläche kreisen. „Wieso glaubt er's und andere nicht? Ich bin doch immer derselbe.“ „Du schon“, sagte Tina, „aber die Menschen sind ziemlich verschieden. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er es glaubt. Aber er schließt die Möglichkeit eben nicht aus, daß es so ist. Spar dir jetzt bitte dein Versteh-ich-nicht. Ich weiß, es klingt verdreht.“ „Warum denn?“ Flämmchen schüttelte sich die zu Korkenzieherlocken gedrehten Stirnhaare aus dem Gesicht. „Ich lebe jeden Tag so.“ „Hallo Tina!“ Die Stimme von Herrn Bergheim schlug an die Felswand. Danach folgte eine Schrecksekunde lang Stille. Flämmchen hockte regungslos am Boden. Er schielte vor Aufregung. „Sind sie etwa schon da?“ Tina schüttelte unmerklich den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich kaum, 59
als sie antwortete: „Das ist der Bauer, der hier in der Nähe wohnt, der mit dem Hühnerstall, den du auf dem Gewissen - ach, das ist ja jetzt völlig unwichtig. Sei ganz ruhig.“ Sie selbst stampfte nervös mit dem Fuß auf. „Wenn ich gehe, gehst du auch. Egal was passiert, bleib nicht stehen. Du darfst auf keinen Fall anfangen zu dampfen.“ Herr Bergheim war zögernd nähergekommen. Sein Hut saß schief und weit im Nacken. Seine Hosenbeine kräuselten sich nachlässig über den Stiefeln. „Mein Gott, Kind, was machst du denn hier? Hat dir dein Onkel nichts gesagt?“ In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Besorgnis um Tina und eigener Angst mit. Seine Augen waren direkt auf Flämmchen gerichtet, doch wie schon vor ein paar Tagen im Schneetreiben der Willnauer Straße schien er nicht einen Funken des leuchtenden Körpers zu sehen. Tina erstarrte erneut vor Staunen und in der Erwartung, daß sich jeden Moment die ersten Anzeichen des Erkennens auf dem Gesicht des Bauern niederschlagen würden. Sie kannte das Phänomen von Flämmchens Unsichtbarkeit, aber sie gewöhnte sich nicht daran. Sie nahm selbst das kleine weißglühende Härchen an Flämmchens Kinn wahr, während keine zwei Meter von ihr entfernt Herr Bergheim durch die strahlende Gestalt hindurchsah. Der Bauer deutete auf die schneefreie Fläche. Tina bückte sich und hob ihre schwergewordene, steifgefrorene Pudelmütze auf. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen, denn ihre Gedanken liefen durcheinander. „Ich weiß Bescheid“, sagte sie schließlich im Aufstehen, „aber ich konnte es einfach nicht glauben. Ich bin in den letzten Tagen doch so oft durch den Steinbruch gebummelt. Ich mußte mir das ansehen.“ Tina kam sich lächerlich vor. Der Mut, den sie gezwungenermaßen heuchelte, stand ihr nicht. Flämmchen warf ihr einen Blick aus weit geöffneten Augen zu. „Daß du einfach was sagen kannst, was gar nicht stimmt ...“ Tina machte eine wegwischende Handbewegung in seine Richtung. „Sei jetzt still, bring mich nicht aus dem Konzept.“ „Hast du was gesagt?“ Herr Bergheim hielt sich in achtbarer Entfernung von dem geheimnisvoll schneefreien Oval. Tina stand dicht daneben. „Ich hab' nur laut gedacht“, sagte sie atemlos. Vor Aufregung bekam sie Bauchschmerzen. Die Anspannung dauerte bereits zu lange. „Mir gefällt's nicht mehr hier“, stotterte Tina und ließ die Pudelmütze in den Schnee zurückfallen. „Ich verschwinde.“ Herr Bergheim deutete ihr Verhalten in seiner Ahnungslosigkeit völlig falsch. Er legte Tina den Arm um den Nacken. „Das ist jetzt auch kein Ort für junge Mädchen. Meine Frau und ich machen uns Sorgen. Unser Hof liegt schließlich in unmittelbarer Nähe vom Steinbruch.“ Tina schaute an seiner Schulter hinauf und stellte fest, daß er schlecht rasiert war. Der Bauer redete weiter: „Am besten kommst du erst mal mit zu uns. Du siehst ganz blaß aus. Meine Frau macht dir einen Kaffee, dann geht es dir gleich besser.“ 60
Tina hatte ein Schwächegefühl in den Beinen, sie drückte mühsam die Knie durch und beantwortete Flämmchens ratlosen Blick mit einem kurzen Augenzwinkern. „Ich möchte lieber direkt zu meinem Onkel zurück“, sagte sie bestimmt. „Thomas wartet schon auf mich. Ich glaube, er hat noch etwas vor. Ich möchte nicht, daß er sich Sorgen macht.“ Flämmchen unterdrückte ein gurgelndes Lachen. „Was du alles mit Worten machen kannst - du brauchst ja nicht mal was Falsches zu sagen, und der Mann da versteht etwas ganz anderes.“ An der Straße blieb Herr Bergheim noch einmal stehen. „Kommst du wirklich allein zurecht?“ erkundigte er sich. Tina empfand seine Fürsorglichkeit als Würgegriff. „Sicher“, sagte sie ungeduldig. Sie sah, daß Flämmchen gehorsam weitergegangen war und, ohne zurückzusehen, genau in die falsche Richtung strebte. „Ich kenne den Weg zu meinem Onkel!“ Sie schrie fast. „Richtung Tanne und dann immer geradeaus!“ Flämmchen blieb stehen, sah sich suchend um und kam zurück. „Verzeihung“, sagte er im Vorbeigehen. Herr Bergheim hob grüßend die Hand und bog in den Feldweg zum Bauernhof ein. Tina stieß die Luft durch die Nase und schnitt hinter seinem Rücken eine Grimasse. Dann folgte sie Flämmchen, der bereits einige Meter vor ihr über die Straße stolzierte und bei jedem Schritt die Knie fast bis an die Brust zog. Sie gingen direkt durch die feindlichen Linien hindurch. Tina grüßte höflich nach allen Seiten, ohne die Willnauer im Zweifel darüber zu lassen, daß sie es eilig hatte und jetzt nicht zu einem Gespräch aufgelegt war. Flämmchen ahmte sie nach, und Tina verspürte einen schmerzhaften Lachreiz in der Kehle. Ihre Schritte wurden immer schneller, bis sie völlig außer Atem vor dem Haus ihres Onkels stand. Die dunkelgrün gestrichene Kellertür zog sie magisch an. Sicherheit war alles, woran Tina noch dachte. Thomas öffnete, bevor sie sich bemerkbar machen konnte. Seine graue Jacke hatte schmutzige Flecken, und er trug den moderigen Kellergeruch bis vor die Türschwelle. Flämmchen musterte ihn mit unverhohlener, fast dreister Neugierde. „Seid ihr beide da?“ fragte Thomas. Seine Stimme klang heiserer als sonst, beinahe brüchig. Tina nickte. Sie konnte sich kaum noch rühren. Ihre Gedanken bewegten sich vorwärts, ihre Füße blieben stehen. „Zeig meinem Onkel mal deine Hitze“, wandte sie sich an Flämmchen, „aber nicht zu nah rangehen.“ Das Feuerwesen streckte seine Hand aus und bewegte sie dicht vor Thomas' Gesicht hin und her. Es schien ihm Spaß zu machen. Tina stand als stumme Zeugin dabei. Es fiel ihr schwer, sich ihre Enttäuschung einzugestehen. Unbewußt hatte sie die ganze Zeit über gehofft, daß auch ihr Onkel Flämmchen sehen würde. Thomas war einen Schritt zurückgewichen. „Verdammt“, sagte er, „daß da was ist, läßt sich nicht 61
leugnen. Und daß dieses Etwas auf dich hört, auch nicht.“ Er breitete einladend die Arme aus, seine Geste geriet etwas theatralisch und entging so nur knapp der Lächerlichkeit. „Willkommen bei uns, wer immer du auch bist.“ „Ich freue mich sehr.“ Tina mußte Flämmchens Worte für ihren Onkel wiederholen. Sie schritten wie in einer Prozession durch den schmalen Gang. Die moderige Kellerluft legte sich wie Blei auf Tinas Lunge. „Du mußt mir noch sagen, was ich anfassen darf!“ rief Flämmchen. Tina fiel ein, daß sie heute abend mit Peter verabredet war. Sie überlegte, worüber sie mit jemandem reden sollte, der nichts von Flämmchen wußte. Abgesehen davon gab es kaum etwas, wovon es sich zu sprechen lohnte - alles hatte damit zu tun. Flämmchen nahm sein neues Heim mit großer Selbstverständlichkeit in Besitz. Die vollkommene Leere des Raumes schien ihn eher zu beruhigen. Mit einem wohligen Laut streckte er sich auf dem nackten, kalten Boden aus und räkelte sich so lange, bis sein Körper der harten Unterlage gänzlich angepaßt war. Thomas folgte dem Blick seiner Nichte. „Was macht er?“ „Er besitzt die Unverschämtheit, sich absolut wohl zu fühlen“, seufzte Tina, „und ich wette, er wird die Nerven haben, gleich ein Nickerchen zu halten.“ „Warum nicht?“ Flämmchen gähnte und zog die Beine an. „Jetzt ist doch alles in Ordnung, oder?“ Tina öffnete das Kellerfenster. Sie mußte ihre ganze Kraft einsetzen, etwas Rost bröckelte auf ihre Finger. „Er braucht Luft. Und ich brauche etwas zu essen.“ Thomas zog seine Jacke zurecht. „Erkläre ihm bitte, daß er unbedingt hier in diesem Raum bleiben muß.“ Tina zog den linken Mundwinkel hoch. „Sag's ihm selber, er kann dich hören.“ Das Mittagessen bedeutete für Tina eine besondere Anstrengung. Thomas erwähnte Flämmchen mit keiner weiteren Silbe. Er schwieg oder sprach ganz selbstverständlich von Alltäglichkeiten. Tina schluckte mit jedem Bissen unausgesprochene Gesprächsansätze hinunter. „Du hast die Uhr noch immer nicht aufgezogen“, sagte sie schließlich kapitulierend. „Richtig.“ Thomas blickte nur kurz zur Seite. Danach erlahmte das Gespräch endgültig. Tina sah ihren Onkel an, dessen Gesicht im schräg einfallenden Licht besonders zerfurcht und unnahbar aussah. „Warum läßt du mich jetzt so hängen?“ fragte sie leise. „Erst reichst du mir die Hand, dann ziehst du sie zurück.“ Thomas stützte die Unterarme auf die Tischplatte. „Sei nachsichtig mit mir. Ich muß mich erst zurechtfinden. Es fällt mir doch schwerer, als ich 62
dachte. Ich kann mich nicht mehr dahinter verschanzen, daß meine Nichte eine blühende Phantasie hat. Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht, aber ich bin sicher, daß etwas vorgeht.“ Tina griff nach der kraftlos daliegenden Hand ihres Onkels. „Kann ich dir nicht dabei helfen?“ Thomas schüttelte langsam den Kopf. „Nein, aber mach dir keine Sorgen. In meinem alten Schädel ist eine Menge Platz.“ Tina war, ohne es zu wollen, auf dem Schaffell eingenickt. Thomas weckte sie. „Es geht los! Das Expertenteam war schon im Steinbruch. Heiße Steine können sie ja nicht mehr gefunden haben. Im Augenblick gehen sie von Haus zu Haus und befragen die Leute. Wenn der Friedmann sie lange genug aufhält, und davon gehe ich aus, kommen wir vielleicht erst morgen dran. Weißt du eigentlich, was du sagen willst?“ Tina streckte die Beine aus. Sie hatte dröhnende Kopfschmerzen. Ihre Stirn war heiß und der Mund trocken. Vor ihren Augen zerfloß die Küche in nebeligen Schwaden, ehe sich das Bild langsam und zitternd stabilisierte. Thomas kniete neben seiner Nichte nieder. „Mädchen, du wirst mir doch nicht krank? Was soll ich dann mit unserem Gast anfangen?“ Tina schüttelte heftig den Kopf, um den Druck in den Ohren loszuwerden. Der Anblick der strahlend weißen Küchengardinen tat ihr weh. „Es geht schon“, sagte sie mechanisch. Sie stand energisch auf und mußte sich sofort wieder setzen. „Ich bin erledigt, ich brauche eine Pause. Ich will nichts sehen, und ich will nichts hören.“ Sie weinte vor Schwäche. Thomas versuchte weder mit einer Geste noch mit einem Wort, sie zu beschwichtigen. Tina war ihm dankbar. Sie wollte nicht getröstet, sondern in ihrem Elend akzeptiert werden. Fahrig suchte sie nach einem Taschentuch. Ihre Nase fühlte sich geschwollen an. Mitten im Weinen schlief sie wieder ein. Das Schaffell unter ihrer Wange war naß. Tina tauchte immer wieder auf, um sich genußvoll in den Schlaf zurückfallen zu lassen. Irgendwann blieb sie wach. Sie fühlte sich matt und ruhig. Sie hatte Durst, und ihre Nase war verstopft. Behutsam zog sie die Füße an, um aufzustehen. Sie trank hastig ein Glas Wasser und behielt einen unangenehmen Geschmack im Mund. Dann rief sie Peter an, um das Treffen abzusagen. Sie hatte nicht das Gefühl, daß er ihr die Erkältung abnahm, obwohl ihre Stimme ausgesprochen verschnupft klang. Er machte aber auch keinen sonderlich erstaunten Eindruck. „Verschieben wir es auf unbestimmte Zeit“, sagte er. „Ruf mich an, sobald es dir besser geht.“ „Tue ich“, versprach Tina und hängte rasch ein. Ihre schlechte Verfassung machte sie anfällig für Geständnisse. Sie suchte Thomas und fand 63
ihn wie erwartet im Museum. „Ich seh' mal nach Flämmchen“, sagte sie. „Und dann lege ich mich ins Bett. Morgen bin ich wieder wie neu.“ „Neu, das wäre etwas radikal.“ Thomas nahm einen Schluck aus seiner Teetasse, die keinen Henkel mehr hatte und mit der ganzen Hand umspannt werden mußte. „Ich will dich noch wiedererkennen, ich mag deine Macken und Kanten.“ Tina deutete eine Verbeugung an, ihr wurde schwindelig dabei. „Schmeichler!“ rief sie und verließ rasch das Museum. Flämmchen bemerkte sofort, daß es Tina nicht gut ging. Er drückte sich unsicher in eine Ecke des Raumes. „Hat es mit mir zu tun? Das wäre aber schlimm. Da gehe ich doch lieber in den Steinbruch. Die Leute dort wollen wenigstens mit mir zu tun haben, wenn sie auch nicht wissen, was sie sich da einhandeln.“ „Du bleibst, wo du bist!“ Tina konnte kaum noch an etwas anderes denken, als endlich in ihr Bett zu fallen. Sie erzählte auch Flämmchen, daß sie erkältet sei und es ihr bald ganz von selbst wieder besser gehen würde. Sie log ohne Sorgfalt und beobachtete erschrocken, wie bereitwillig und arglos Flämmchen ihr glaubte. Damit wurde die Genesung zum Zwang. „Bis morgen dann“, verabschiedete sich Tina. „Wenn du dich einsam fühlst, denk immer daran, daß wir alle unter einem Dach sind. Aber komm bitte nicht auf die Idee und begib dich auf die Suche.“ Flämmchen lächelte treuherzig. „Keine Sorge, ich kann warten. Das habe ich gelernt und geübt. Darin ist bestimmt keiner so gut wie ich.“ Tinas Nacht begann früh und mit einer wirren Aneinanderreihung von Alpträumen: Flämmchen irrte durch den Keller, stieg schließlich die hölzerne Kellertreppe hoch und zog überall ein Flammenmeer hinter sich her. Oder er schlief neben den Gasleitungen ein, und das Haus zerbarst in einer ungeheuren Explosion. Doch was auch geschah, Tina stand auf einem hohen Turm, unbeteiligt, unversehrt, gleichgültig. Und während sich anklagende Finger auf sie richteten, zuckte sie nur mit den Schultern. Sie rief den Leuten zu: „Was habe ich damit zu tun? Ich habe doch nichts damit zu tun!“ Als Tina langsam zu sich kam, prüfte sie mißtrauisch, ob sie sich noch immer krank fühlte. Ihr Gesicht war kühl, und sie konnte bereits aufrecht sitzen, ohne Übelkeit oder Schwindel zu empfinden. Der Wind, der so heftig hereinwehte, daß sich die Tischdecke bauschte, war ungewohnt mild. Die Luft trug den Duft von Tauwetter mit sich. Ganz gegen ihre Gewohnheit stand Tina fast unmittelbar nach dem Erwachen auf. Sie wußte nicht genau, was der Tag für sie bereithielt, aber sie wollte in je64
dem Fall gewappnet sein. Angriff und nicht Verteidigung hatte sie sich verordnet. Sie fuhr mit dem linken Fuß in den rechten Hausschuh und war bemüht, keinen abergläubischen Schluß daraus zu ziehen. Frau Helms stand unten im Flur. Ihr rundes Gesicht war hektisch gerötet. „Ich muß weiter!“ rief sie Tina zu. Thomas schloß hinter ihr die Tür und lehnte sich dann mit einem tiefen Seufzer dagegen. „Die Willnauer Morgenpost - dank Frau Helms bin ich wieder absolut auf der Höhe des Geschehens. Was finge ich nur ohne sie an? Wie geht es dir, Mädchen?“ „Gut!“ Tina kam die letzten Stufen der Stiege herab, warf einen Blick in die abgenutzten Plastiktüten, die Frau Helms gebracht hatte, und nahm ein rundes, frisch duftendes Brötchen heraus. Sie biß hinein, und Thomas sagte nichts zu den Krümeln, die auf den Parkettboden fielen. „Was gibt es denn Neues?“ fragte Tina und zog ihren Beduinenmantel zusammen, in dem sich noch immer ein wenig der kuscheligen Schlafwärme hielt. Thomas zwinkerte übertrieben. „Willnau im Strudel der Ereignisse. Inzwischen schließt man die Möglichkeit nicht mehr aus, daß sich jemand einen üblen Scherz erlaubt hat. Fragt sich jetzt nur, wer und wie. Der arme Friedmann muß gestern sternhagelblau durch die Straßen getorkelt sein. Seine große Stunde war etwas zu schnell vorbei. Nüchtern traut er sich sicher nicht vor die Tür.“ „Er tut mir leid.“ Tina bohrte nachdenklich das Innere aus ihrem Brötchen. „Er hat schließlich mehr recht als alle anderen zusammen, zumindest auf seine Weise.“ Entschlossen fügte sie hinzu: „Ich werde ihn besuchen.“ Thomas nickte. „Das ist eine gute Idee. Sei aber vorsichtig mit dem, was du sagst. Wollen wir eigentlich noch länger im Flur herumstehen?“ Tina kam immer wieder gern in die Küche. Dort war alles auf hinreißende Art unvollkommen. Die Möbelstücke paßten nur deshalb so gut zusammen, weil ihr hohes Alter sie verband. Soweit Tina zurückdenken konnte, war dieser Teil des Hauses der Schauplatz des täglichen Lebens gewesen. Tinas Morgenbesuch bei Flämmchen war sehr kurz ausgefallen. Der neue Untermieter hatte noch fest geschlafen und den ehemals kalten Raum mit vertrauensvoller Behaglichkeit ausgefüllt. Tina war dieses Bild noch sehr gegenwärtig, als sie vor Friedmanns Haus stand. Der alte Mann lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung unter dem Dach. Als Kinder hatten sie sich Spukgeschichten über dieses einstöckige, schiefe Haus erzählt, und Tina spürte wieder den leichten, angenehmen Schauer auf der Haut. Damals hatte die Parterrewohnung leergestanden. Inzwischen war eine junge Familie dort eingezogen, die man in Willnau Stadtflüchtlinge nannte und die im Verdacht stand, alter65
nativ zu sein. So gesehen war das Haus ein Ort für Außenseiter geblieben. Tina ging vorsichtig weiter. Der schmelzende Schnee hatte eine gefährliche Glätte bekommen, und jeder Schritt verursachte ein schmatzendes Geräusch. Tina sah sich um, ehe sie auf den Klingelknopf drückte. Sie hatte das sonderbare Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. In Willnau war augenblicklich sicher niemand gut auf den Friedmann zu sprechen. Die Leute trugen unsichtbare Steine in den Taschen, die ihr Ziel sicher nicht verfehlen würden. Tina mußte mehrfach klingeln, ehe der Summer ertönte. Friedmann stand in der Etagentür. Er hatte offensichtlich die Nacht in den Kleidern verbracht. Als er Tina erkannte, belebte sich sein blasses Gesicht. „Du bist es“, sagte er. Sein Husten wurde von einem asthmatischen Pfeifen begleitet. „Komm rein.“ Er ging taumelnd voran, und Tina stieß gegen die leeren Flaschen, die wie Slalomhindernisse im Flur umherstanden. Der Geruch von billigem Klaren und Zigarettenasche hing mit Körperausdünstungen vermischt in der abgestandenen Luft. Tina mußte sich zwingen weiterzugehen. Sie versuchte, flacher zu atmen. „Machen Sie um Himmels willen ein Fenster auf, bat sie gepreßt. Friedmann warf die zusammengeknäuelte Wolldekke von seiner Schlafcouch. „Ich habe alles verdorben“, sagte er matt. „Du weißt ja, was ich meine. Ich bin ein redseliger Narr. Jetzt kommt die Strafe über mich, ich muß sie tragen.“ Tina setzte sich. Sie konnte die Sprungfedern durch das dünne Polster spüren. Der Inhalt eines umgestoßenen Aschenbechers verteilte sich über den Tisch. „Ein Streich soll es jetzt gewesen sein“, fuhr Friedmann fort. „Enge Köpfe haben diese modernen Leute. Ich sage dir, es wird wiederkommen. Es ist etwas Großes, ein Fingerzeig des Himmels oder der Hölle. So was passiert immer an unbedeutenden Orten.“ Tina starrte die Wand an, deren vergilbte Tapete sich an einigen Stellen abzulösen begann. Sie war mit viel gutem Willen, aber völlig unvorbereitet gekommen. Jetzt wußte sie nicht, wie sie Friedmann begreiflich machen sollte, daß sein Fingerzeig derzeit in Thomas' Keller schlief und dabei gelegentlich Laute von sich gab, die sehr stark an menschliches Schnarchen erinnerten. Flämmchen hatte keine hinreichend übersinnlichen Züge. Er paßte weder auf einen Götterberg noch in eine fliegende Untertasse. Er paßte eigentlich nirgendwohin. In diesem Augenblick, als Tina dem Friedmann gegenübersaß, war sie geneigt, Flämmchen für einen Irrtum zu halten oder für eine liebenswerte Naturkatastrophe. „Sie hätten wirklich keine Leute in den Steinbruch bringen sollen“, sagte sie. „Sie haben ihn verscheucht.“ „Ihn?“ Friedmann kniff die Augen zusammen. „Du weißt mehr darüber als alle anderen.“ 66
Tina legte den Zeigefinger auf die Lippen. Ihre beschwörende Geste war eher dazu angetan, sich selbst vor einer unbedachten Äußerung zu schützen. „Ich kann jetzt nicht mehr darüber sagen“, wehrte Tina entschlossen ab. Sie drehte nervös den schmalen Weißgoldring an ihrem Finger. Peter hatte ihn vor ein paar Monaten bei einem gemeinsamen Einkaufsbummel spontan gekauft. Sie waren in einer besonders ausgelassenen Stimmung gewesen. Tina erinnerte sich plötzlich ganz genau daran, daß sie alle Fußgängerampeln, an denen sie vorbeigekommen waren, gedrückt hatten, um die Autofahrer zu ärgern. Und immer, wenn Tina bewußt wurde, daß sie sich in Peters Gesellschaft einmal wohl gefühlt haben mußte, berührte es sie fast peinlich. Sie hatte eine Schwarzweißzeichnung von dieser Beziehung angefertigt, mit der es sich gut leben ließ. Jeder noch so blasse Zwischenton irritierte zwangsläufig. „Tina!“ Friedmann zwang sie wieder in die Gegenwart zurück. „Du bist ja so abwesend. Was geht in dir vor?“ „Ich dachte bloß an meinen Freund“, sagte Tina, und ihre Ehrlichkeit klang aggressiv, „möglicherweise meinen Exfreund. Sie sehen, ich beschäftige mich mit ganz irdischen Dingen. Das sollten Sie auch mal versuchen.“ Friedmann griff wortlos nach einer halbvollen Flasche. Obwohl seine gekrümmten Finger zitterten, verschüttete er beim Trinken keinen Tropfen. Es mißlang ihm allerdings, den Schraubverschluß wieder auf die Flasche zu drehen. „Du mußt mich nicht belehren. Du weißt gar nichts. Du hältst mich genauso für verrückt wie die anderen. Geh zurück zu deinem Onkel. Ich lasse mich nicht beirren.“ Tina hatte sich instinktiv unter der schrill gewordenen Stimme von Friedmann geduckt. Sie wischte ihre feuchten Hände an den Hosenbeinen ab. Das Gespräch war ohne Vorwarnung aus dem Gleis geraten. Tina widerstand nur mit Mühe der Versuchung, einfach aufzustehen und zu gehen. Sie wollte sich nicht noch für ihre guten Absichten entschuldigen müssen. „Sie irren“, sagte sie und drückte die Füße fest auf den Boden. „Ich bin hier, um Ihnen zu versichern, daß mehr vorgegangen ist als nur ein dummer Streich. Aber Erklärungen kann ich Ihnen nicht liefern. Vielleicht steht es mir nicht zu, Sie zu kritisieren. Trotzdem: Sie machen einen Fehler. Sie glauben, Sie könnten Dinge nur Wirklichkeit sein lassen, indem Sie sie anderen zeigen oder mitteilen. Das ist ein Irrtum.“ Tina schwieg überrascht. Diese Erkenntnis hatte sich beim Sprechen unbemerkt eingeschlichen und war ihr selbst gänzlich neu. Eigentlich hatte sie etwas anderes sagen wollen. Friedmann senkte den Kopf. Seine gebeugte Haltung ließ ihn noch älter erscheinen. „Die Anerkennung der Leute ist angenehm, aber sie wertet die Dinge nicht wirklich auf“, sagte Tina nachdenklich. „Wissen Sie, was mein Problem ist? Ich möchte am liebsten allen Leuten dieser Welt gefallen. Lo67
gisch, daß es nicht funktioniert. Im Gegenteil, es macht mich oft regelrecht blindwütig. Und es ist verdammt einfach, jemanden anzugreifen, der perfekt sein möchte.“ Friedmann hatte sich wieder aufgerichtet. Er lächelte. „Ich ziehe mich zurück, ehe ich wütend werde - und das sehr oft.“ Tina drehte zwei Zigaretten. Sie rauchten schweigend und betrachteten einander durch den blauen Dunst hindurch. „Ich sollte jetzt etwas schlafen“, sagte Friedmann, als er seine bis zu den Fingerspitzen heruntergerauchte Zigarette ausdrückte. „Besuch mich bald wieder.“ „Verlassen Sie sich drauf“, sagte Tina lächelnd, „und wenn ich mir den geballten Zorn der Willnauer dabei zuziehe. Wen juckt das schon?“ Thomas öffnete die Tür und warnte Tina mit den Augen. Aus der Küche drangen fremde Stimmen in den Flur. Sie waren also da, ohne zu ahnen, daß sich das, was sie suchten, ziemlich genau unter ihnen befand. Tina zog sehr langsam ihre Stiefel aus. Doch die so gewonnene Zeit half ihr nicht mehr. Sie würde wieder unvorbereitet sein, ein paar Minuten hektischen Nachdenkens führten jetzt zu keinem klaren Konzept. „Was hast du ihnen gesagt?“ fragte sie ihren Onkel flüsternd. Thomas hängte ihre Jacke auf einen Bügel und zog die dezent wattierten Schulterstücke gerade. „Nichts natürlich. Übrigens war ich im Keller. Ich habe Flämmchen erklärt, daß er sich still verhalten soll. Weiß der Himmel, ob er mich gehört hat.“ Tina ging zuerst noch ins Bad und wusch sich die Hände. Alles dort erinnerte sie plötzlich an Flämmchen. Sie stellte sich vor den Spiegel und kämmte sich die Haare streng aus dem Gesicht, als könnte sie damit ihre Nervosität zügeln. Sie nickte sich beruhigend zu und ging in die Küche. Thomas erledigte die üblichen Formalitäten rasch und ohne große Herzlichkeit. Tina reichte den beiden Männern die Hand. Von der ersten Minute an ignorierte sie den Polizeibeamten, obwohl seine Uniform sofort das Gefühl in ihr wachrief, sich verteidigen, eventuell ein Alibi nennen zu müssen. Die Anwesenheit von Polizisten ließ bei Tina immer nur den einen Schluß zu, daß auch sie irgendwann einmal gegen die öffentliche Ordnung verstoßen haben mußte, vielleicht ohne es zu wissen. Tina konzentrierte sich auf Professor Begerich. Sie wollte möglichst nur einen Gegner haben. Wie ein moderner Frankenstein sah er nicht aus. Er weckte keine spontane Antipathie in ihr. Verunsichert bemerkte Tina, daß er dasselbe energische Kinn besaß wie Peter. Ihre Erfahrungen mit dieser Entschlossenheit zählten nicht zu den angenehmsten. „Sie stellen so ziemlich unsere letzte Hoffnung dar.“ Professor Begerich begann das Gespräch. „Sie sind häufig im Steinbruch spazierengegangen. Was ist Ihnen aufgefallen? Denken Sie nach, jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“ Tina lächelte über diese Einleitung, die wie das gesamte Szenario einem 68
Kriminalroman entliehen zu sein schien. Während sie von Thomas eine Tasse Tee entgegennahm, beschloß sie, Professor Begerich etwas Unverfängliches anzubieten, in das er sich gefahrlos verbeißen konnte. „Das einzige, was ich beobachtet habe, war unvermittelter Steinschlag.“ Professor Begerich blätterte in einem kleinen, schwarzen Buch. „Ein gewisser Herr Friedmann hat das auch beobachtet. Mal ganz im Vertrauen, was halten Sie von dem Mann? Mir kam er etwas überspannt vor.“ „Er ist überspannt“, sagte Tina gnadenlos liebenswürdig, „er hat einen Hang zur Mystik. Jeder Kleinigkeit, die nicht für ein Wunder reicht, dichtet er etwas hinzu.“ Professor Begerich blätterte wieder in seinem Notizbuch, bis er auf leere Seiten stieß. Er machte nur eine kurze Eintragung. „Tja, auch mein Eindruck. Wärmeentwicklung haben Sie nicht beobachtet?“ Tina schüttelte unbefangen den Kopf. „Tut mir leid, die einzige Wärme, die ich da bemerkt habe, kam von meiner Zigarette. Ich rauche nämlich, leider.“ Das Gespräch schien bereits erschöpft. Plötzlich wandte sich der Polizeibeamte an Tina: „Sagen Sie, halten Sie es für möglich, daß dieser Herr Friedmann die ganze Sache inszeniert hat? Vielleicht um auf sich aufmerksam zu machen? Ich kenne ähnliche Fälle aus der Praxis.“ Tina mußte schlucken. Über ihre Teetasse hinweg suchte sie den Blick ihres Onkels, der ihr bestätigte, daß sie kurz davor stand, zu weit zu gehen. Tina gab sich noch einen Moment den Anschein des Nachdenkens, ehe sie antwortete: „Nein, ausgeschlossen! Der Friedmann glaubt an das, was er sagt. Verstehen Sie, für ihn existiert das alles ja längst. Er braucht es nicht zu inszenieren.“ Professor Begerich hatte es plötzlich eilig. Er klappte geräuschvoll sein Notizbuch zu, erklärte noch, daß die Messungen in Willnau keine ungewöhnlichen Strahlenwerte ergeben hätten, und bat, trotzdem die Augen offenzuhalten. Tina drehte eine schmucklose Visitenkarte zwischen Daumen und Zeigefinger, die sie mit ihren nüchternen Informationen beunruhigte, weil sie sich wie ein Spion in ihren Geheimbund mit Thomas und Flämmchen drängte. Professor Begerich blieb durch das Pappkärtchen im Zimmer, obwohl er gegangen war. Tina konnte der Versuchung kaum widerstehen, ihn einfach in den Kachelofen zu werfen. Thomas goß sich den Rest Tee in seine Tasse und blies die Flamme im Stövchen aus. „Du warst recht überzeugend“, sagte er, unentschlossen zwischen Bewunderung und Vorwurf schwankend, „also früher konntest du nicht so gut lügen. Du wirst ja nicht einmal mehr rot.“ Tina seufzte. „Für Flämmchen würde ich Herrn Bergheim weismachen, daß sein Stier Milch gibt. Manchmal bin ich mir selbst richtig unheimlich. Ich hab' auch nicht gewußt, wie einsam ein Geheimnis machen kann. Du 69
bist doch der einzige, mit dem ich noch wirklich rede.“ „Auf Dauer müssen wir uns was einfallen lassen!“ sagte Thomas plötzlich heftig, „zumal ich das seltsame Gefühl habe, daß wir diesen Professor Begerich nicht endgültig losgeworden sind. Vielleicht sollten wir uns ihm doch anvertrauen.“ „Bist du verrückt?“ Tina war aufgesprungen. „Flämmchen wird kein Versuchskaninchen! Und ich teile ihn auch ganz bestimmt nicht mit einem wissenschaftlichen Institut. Eher gehe ich mit ihm in die Wüste.“ Thomas lächelte müde. Tina zog sich einmal mehr auf das Schaffell vor dem Kachelofen zurück und sah ihrem Onkel beim Aufräumen zu. In Gedanken streifte sie neben Flämmchen über endlose Sandberge - Bilder mit der wunderbaren Leichtigkeit von Träumen, die sich nicht an der Wirklichkeit messen lassen mußten. Alles war möglich, sogar ein Happy-End. „Flämmchen strahlt nur Liebe aus“, sagte Tina zu einer Fata Morgana, die die Gestalt ihres Onkels hatte. Und die Luftspiegelung antwortete ihr: „Eine sehr gefährliche Strahlung. Komm in die Wirklichkeit zurück, Mädchen, die ist für uns momentan schon unwirklich genug. Es ist übrigens Post für dich da.“ Thomas wedelte mit einem Brief. Der leichte Luftzug entwickelte sich zu einem Sturm und blies Tinas Sandberge in mächtigen Stößen auseinander. Sie stand auf und ergriff den Brief ohne ehrliche Neugierde. Sie hatte damit gerechnet, daß sich Peter irgendwann auf diese Weise in Erinnerung bringen würde. Sie überflog die Anrede. Die Schrift war am oberen Rand naß geworden und kunstvoll ausgefranst: - Hallo Schleiereule! Tina zog die Augenbrauen hoch und suchte auf dem Umschlag nach dem Absender. Der Brief kam von Albert, und der Frankierstreifen trug das Siegel einer Anwaltskanzlei. Der Text war kurz und die Buchstaben drückten das Bemühen um Schönschrift aus: - Du hast mir neulich gar nicht gefallen. Komm doch mal vorbei, wenn Du Lust hast. Besondere Klienten empfange ich auch ohne Termin und nach Büroschluß. PS: Ich esse gerne italienisch. Tina legte den Brief zur Seite und verschob damit die Entscheidung. „Von Adlerauge“, informierte sie Thomas betont gleichmütig. Flämmchen sah aus dem vergitterten Kellerfenster. Der Anblick verwirrte Tina, da er die Tatsache der Gefangenschaft erbarmungslos verdeutlichte. „Unser Besuch ist weg“, sagte sie bemüht fröhlich. Flämmchen wandte sich um. „Ich hab's gesehen. Ein Glück, jetzt kann ich ja wieder in den Steinbruch zurück.“ Tina schwieg und setzte sich auf eine zerbrochene Zementplatte. Das rettende Kellerversteck erwies sich als Verlies, aber sie wußte nicht, wie sie es Flämmchen beibringen sollte. 70
Es fiel ihr schwer, ihn zu trösten, da sie sich selbst wie im Gefängnis fühlte. „Gefällt's dir denn nicht mehr bei uns?“ fragte sie vorsichtig. „Aus dem Badezimmer wolltest du kaum noch weg, und da war es viel enger.“ Flämmchen kauerte vor ihr nieder und stützte sich auf die ausgestreckten Arme. Seine Haare hingen lang und fast glatt herab. „Das war doch was anderes“, sagte er mit unbekümmert lebhaftem und hellem Blick, „da warst du immer bei mir. Aber fürs Alleinsein brauche ich viel Platz, sonst werde ich traurig und bekomme Angst. Du mußt das deinem Onkel genau erklären, damit er nichts Falsches denkt. Ich bin ihm wirklich sehr dankbar.“ Tina hob einen Metallstab auf, den Thomas beim Aufräumen vermutlich übersehen hatte, und strich Flämmchen damit vorsichtig eine leicht flakkernde Haarsträhne zur Seite. Es gab keinen freundlicheren Weg, ihm mitzuteilen, daß sein Gnadengesuch längst abgelehnt war. „Du kannst nicht zurück in den Steinbruch. Wir müssen warten, bis sich die Aufregung gelegt hat.“ Flämmchen reagierte gelassen. Er sah sich nur sehr lange in seinem Kellerraum um. „Na gut“, sagte er schließlich und breitete ergeben die glühenden Arme aus, „ein paar Tage halte ich schon noch durch.“ „Ein paar Tage?“ Die Anspannung ließ Tina laut werden. „Flämmchen, Willnau ist ein Nest! Es kann verdammt lange dauern, bis man hier ein neues Gesprächsthema von dieser Qualität gefunden hat. Und selbst dann müssen wir höllisch vorsichtig sein. Deine Hitze ist ein Dauerproblem.“ Flämmchen rollte sich zusammen und verbarg den Kopf in den Armen. „Ich nehme mir jetzt vor zu verschwinden“, sagte er ernsthaft. „Vielleicht gelingt es. Ich wünschte bloß, ich könnte dich mitnehmen.“ „Du kannst nicht verschwinden!“ Tina schrie Flämmchen an. „Genausowenig wie ich! Es hat keinen Zweck, vor Problemen wegzulaufen, man muß sie lösen!“ Flämmchen legte sich auf den Rücken und starrte die Decke an. „Als wenn du so mutig wärst - vor den Problemen mit deiner Flamme bist du doch auch weggelaufen. Wenn ich bedenke, daß ich bloß dein Flämmchen bin ...“ Tina bemerkte, daß die glühende Gestalt vor ihren Augen verschwamm. Ihre Wut brachte einen Tränenfilm hervor, der bei der geringsten Bewegung überschwappen würde. „Das geht dich gar nichts an! Außerdem wenn du noch immer nicht bemerkt hast, daß du für mich viel mehr als eine Flamme bist, dann tust du mir leid.“ Flämmchen kam ganz langsam hoch, seine Arme wickelten sich umständlich auseinander. Erst an dem Ausdruck seiner staunend geweiteten Augen erkannte Tina den Sinn ihrer eigenen Worte. Ihr Geständnis überraschte sie selbst genauso wie Flämmchen. „Laß uns heute abend 71
Spazierengehen“, sagte sie. Sie wollte das Gespräch nicht abbrechen, ohne einen Hoffnungspunkt zu setzen. „Der Schnee ist dann sicher fast weggetaut. Und um diese Zeit stört uns niemand.“ „Ja, gut.“ Flämmchen ließ sich wieder fallen, überschlug sich rückwärts und blieb dann still liegen. Er lächelte und schloß die Augen. „Jetzt kannst du mich ruhig allein lassen, es macht mir nichts mehr aus. Ich hab' dich trotzdem.“ Tina war so ratlos, daß sie nicht stillsitzen konnte. Sie mußte etwas tun. Mit verzweifelter Energie begann sie, das Bad zu schrubben, als könne sie die Erinnerung an Flämmchens Widerschein abwischen. Schließlich lehnte sie erschöpft an der spiegelnden Wand, während ihre Gedanken ruhe- und sinnlos weiterkreisten. Immer wieder kam sie zu dem Schluß, daß sie nur warten konnte, bis die Katastrophe hereinbrechen und der Sache endlich ein Ende setzen würde. „Welch ein Glanz in meiner Hütte! Ich dachte, du haßt Hausfrauenarbeit?'' Thomas wischte sich zum Schein über die Augen. Tina schleuderte das Fensterleder in die Badewanne. „Ich hasse mich, und ich hasse Flämmchen. Ich glaube, ich habe ihm vorhin eine Liebeserklärung gemacht, noch dazu eine ziemlich schlechte.“ Thomas leerte den Putzeimer in die Toilette aus. „Kommst du nicht langsam durcheinander? Von Peter bist du noch nicht richtig getrennt, Flämmchen machst du eine Liebeserklärung, und Albert schreibt dir einen Brief.“ Tina grinste gequält. „Weiß Gott, ich entdecke zum ersten Mal eine Neigung zur Nymphomanie an mir. Und unter all den Verehrern ist nicht einer mit Perspektive. Adlerauge ist idealistisch genug, ein guter Anwalt werden zu wollen, was zweifellos neunzig Prozent seines Lebens in Anspruch nehmen wird. Peter ist so nüchtern, daß er nicht einmal einen Alptraum zustande bringt. Und Flämmchen ist so phantastisch unberührbar, daß man ihn in einen Keller einsperren muß. Was glaubst du, weiser Onkel, für wen soll ich mich entscheiden?“ Thomas nahm sie in die Arme. „Versuch's doch mal mit einer vierten Möglichkeit“, sagte er, „entscheide dich für dich selbst. Manchmal kommt der Rest dann von ganz allein. Allerdings nur manchmal.'' Die Nacht war dunkler ohne Schneeflächen. Flämmchen spiegelte sich auf den nassen Steinen des Hinterhofs. Die Luft war schwer und zum Anfassen dicht. Tina sah sich prüfend nach allen Seiten um. Noch brannte Licht hinter einigen Willnauer Gardinen. Überall dort waren Menschen wach, die nicht einmal ahnten, mit welcher Anmut Flämmchen seine Schritte setzte. Er ging im Kreis, als umrunde er einen unsichtbaren Gegenstand. Sein Vergnügen daran war anscheinend so groß, daß er nicht einmal Unbehagen über den nassen Boden äußerte. Tina fühlte sich un72
sicher. Ein einziger Gedanke vereinnahmte sie. Flämmchen durfte in keiner noch so verschlüsselten Form erneut auffallen. „Bleib nicht zu lange an einer Stelle“, sagte sie ungeduldig, „es fängt schon wieder an, du dampfst.“ Flämmchen drehte eine Pirouette, die Hände der nach oben gestreckten Arme gefaltet. „Wohin soll ich mich wenden?“ Tina ging voraus. „Du hast noch immer nicht begriffen, daß das Leben auf dieser Welt kein Spiel ist“, sagte sie. „Aber wie solltest du auch? Du hast ja jemanden, der die verrücktesten Dinge tut, nur um dich in dem Glauben zu lassen, das alles hier wäre ein Sandkasten. Ich bin bestimmt eine Traumtänzerin, aber du bist besser!“ Flämmchen blieb stehen. Fast augenblicklich waren seine Füße in Nebel gehüllt. „Wem bist du jetzt böse, dir oder mir?“ Tina drehte sich nicht um. Sie wußte, wie Flämmchen sie jetzt ansah und welche Wirkung davon ausgehen würde. „Ich bin niemandem böse, das ist ja das Elend.“ Unter den Straßenlaternen ging Tina schneller. Sie hatte das Gefühl, aus jedem Fenster beobachtet und überwacht zu werden. In ihrer Hosentasche steckte noch immer die Visitenkarte von Professor Begerich, die viel mehr Gewicht hatte, als es einem Stück Pappe zukam. Tina blickte in den sternenlosen Himmel. Sie sehnte einen kräftigen Regenschauer herbei, der Flämmchens Freigang sicherlich rasch beenden würde. Es blieb trocken. Nur gelegentlich fielen ein paar Tropfen von den kaum noch schneebedeckten Bäumen. Obwohl Tina vorausging, bestimmte Flämmchen die Richtung. Als sei es ein Naturgesetz, schlugen sie den Weg zum Steinbruch ein. Die Straße lag verlassen da. Im Fernsehen lief ein spannender Krimi, der Tag war vorbei. „Wir müssen verrückt sein, ausgerechnet hierher zu gehen“, stöhnte Tina. Sie standen nebeneinander am Felsvorsprung, fast an der Stelle, die Flämmchen durch den abgetauten Schnee beinahe verraten hätte. „Jeder vernünftige Mensch würde sich in unserer Lage möglichst unauffällig benehmen. Aber vernünftige Menschen kommen wohl gar nicht erst in unsere Lage. Hoffentlich hat der Friedmann noch mit seinem Kater zu tun.“ „Du glaubst also, daß es Zeit für mich wird, einmal das Leiden zu lernen?“ Tina ließ den nassen, schmutzigen Stein fallen, den sie mit unbegreiflichem Interesse studiert hatte. Sie sah Flämmchen in die Augen. „Was ist?“ Das glühende Wesen hob den Stein auf und betrachtete ihn nun seinerseits. „Ich versuche bloß, deinen Gedanken zu folgen. Du meinst doch, daß ich mir keine Sorgen mache und daß du deswegen den ganzen Ärger hast. Soviel verstehe ich, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ein 73
Sandkasten ist. Es stimmt, ich verlasse mich sehr auf dich, und ohne Sorgen leidet man nicht, jedenfalls nicht richtig.“ Tina schob sich die Kapuze über, da ihr ständig Wasser vom Felsen auf den Kopf tropfte und ihre Gedanken rhythmisch verschwimmen ließ. „Ein bißchen leiden kann wirklich nicht schaden“, sagte sie. „Es macht angeblich einen wertvolleren Menschen aus einem. Ob das allerdings auch für dich zutrifft, weiß ich nicht. Abgesehen davon bist du mir längst wertvoll genug. Und ich glaube auch nicht, daß du nie leidest.“ Flämmchen lächelte strahlend. Sein rundes Kinn bekam ein Grübchen dicht unter der Lippe. „Ach, mir geht's zwar manchmal nicht so gut, aber das macht doch nichts. Darüber denke ich nicht nach. Sonst verderbe ich mir noch die Zeiten, in denen ich mich toll fühle.“ Er begann, sich übermütig zu drehen. Schließlich rotierte er wie eine wirbelnde Goldmünze. Tina hatte keine Kraft mehr, sich gegen Flämmchens Zauber zu wehren. Sie war plötzlich bereit, ein Leben gegen eine Stunde einzutauschen. Obwohl ihr die Dramatik ihrer Gefühle und Gedanken bewußt war, begann auch sie zu tanzen und zu lachen. Sie fühlte sich für nichts mehr verantwortlich, am allerwenigsten für sich selbst. Sie legte die Hände zu einem Schalltrichter zusammen und schrie gegen die Felswand: „Ich lasse mir mein Glück von niemandem vorwerfen!“ Am Ende war es Flämmchen, der zum Aufbruch drängte: „Ich bin müde. Wenn wir nicht bald gehen, schlafe ich hier ein.“ Tina kickte die verrostete Bierdose mit dem Absatz in die Luft, und Flämmchen fing sie auf. „Untersteh dich! Bis zum Keller mußt du dich wohl oder übel noch zusammenreißen.“ Am Abhang des Krähenwäldchens zitterte ein kleines Licht. Nicht Flämmchen, sondern die Anwesenheit eines anderen Menschen schien in diesem Moment unwirklich. Die Bierdose fiel mit hohlem Klang zu Boden. „Sei jetzt um Himmels willen ernst“, flüsterte Tina Flämmchen zu, der mitten in einer übermutigen Bewegung verharrte. „Und halte Abstand. Ich habe keine Ahnung, wer das wieder ist.“ Das Licht bewegte sich langsam die Geröllhalde herunter und kam näher. Tina fixierte es, um so früh wie möglich erkennen zu können, in welcher Art von Gefahr sie sich befanden. Peter wirkte hinter dem Schein seiner Taschenlampe noch größer. Sein Gesicht und seine Absichten blieben in der Dunkelheit unkenntlich. „So schlimm kann deine Erkältung ja wohl nicht sein“, sagte er ohne hörbaren Groll. „Dein Onkel erzählte mir, du seist spazierengegangen. Grüß dich.“ Tina befreite sich mit einem lauten Hallo von dem unerträglichen Druck in ihren Lungen. Peter war stehengeblieben, das Schlurfen seiner Schritte verstummte. Er reichte Tina die Hand. „Ich muß mit dir reden. Ich weiß, daß du mir ausweichen willst, aber darauf kann ich jetzt keine 74
Rücksicht nehmen.“ Tina sah sich nach Flämmchen um, der respektvoll zurückgewichen war und nun das Geschehen mit Mißtrauen und Neugierde verfolgte. Sein Blick war verändert und seine Lippen schmaler gezogen. Tina zwinkerte ihm zu, dann wandte sie sich an Peter: „Laß uns zurückgehen. Ich friere, auch wenn's sehr warm ist für diese Jahreszeit.“ „Übers Wetter wollte ich nicht sprechen.“ Peter hakte sich bei Tina ein und sah zur anderen Seite. „Du hast mal wieder falsch geparkt, ich hab's schriftlich. Aber darüber wollte ich eigentlich auch nicht mit dir sprechen.“ „Der Brei muß ziemlich heiß sein, um den du herumzureden versuchst“, sagte Tina und gab sich wenig Mühe, ihre Genugtuung zu verbergen. Peters Verhalten ließ sich durchaus als Verlegenheit interpretieren. „Du bist ganz schön egoistisch!“ Peter drückte ihren Ellenbogen fest in seine Armbeuge. „Du haust einfach ab. Okay, du bist ein freier Mensch, und ich akzeptiere, daß du dir Entscheidungen vorbehältst. Aber ich hänge da mit drin. Ich möchte auch Entscheidungen treffen, doch das kann ich nicht, solange du dir alle Wege offenläßt und ich keine Ahnung habe, in welcher Datei du mich eigentlich abgelegt hast. Ich habe keinen Zugriff mehr zu mir selbst. Das macht mich fertig. Seit fast zwei Wochen hänge ich in einer Warteschleife, von der ich nicht einmal weiß, wie lang sie ist.“ Tina glaubte, Flämmchens Wärme in ihrem Rücken spüren zu können. An seinem Widerschein im Geröll erkannte sie, daß er ihnen folgte. Er wartete ebenso auf eine Antwort wie Peter. „Niemand hindert dich daran, Entschlüsse zu fassen“, sagte Tina. „Doch, du.“ Peter war nicht lauter geworden, nur seine Worte kamen schneller. „Wenn du zurückkommst, steht mein Entschluß bereits fest. Solange ich darüber aber im unklaren bin, will ich mich nicht absetzen. Du kannst tun, was du willst, nur sag mir bitte endlich, was du vorhast.“ Tina befreite sich von Peters Arm und blieb stehen. Sie sah in ein Gesicht, das ihr schon einmal untergekommen war, das sie aber nicht besser kannte als das des Schauspielers in einer Fernsehserie. Sie verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. „Versuch nicht, mich unter Druck zu setzen. Damit erreichst du gar nichts.“ Peter ging langsam weiter. „Du mußt dich ja wirklich für großartig halten“, sagte er über die Schulter. „Garantiert bestärkt dich dein überspannter Onkel darin. Aber nur weil er ein Einsiedler ist, muß das noch lange nicht das Heil für dich sein. Willst du dich in seinem Museum ausstellen lassen? Noch eine Woche, und du bist genauso weltfremd wie er. Das stinkt mir, und zwar gewaltig! Klar?“ Tina brauchte nur zwei Schritte, um dicht neben Peter zu stehen. „Laß meinen Onkel aus dem Spiel! Thomas hat damit nichts zu tun.“ Sie bekam nur ein herausforderndes Lachen als Antwort. „Wie gut, daß Frauen hysterisch sein dürfen!“ Tina schrie diese Worte 75
heraus. Ihre Hand hob sich wie die einer Marionette und schlug zu. Peter stieß die Hand zur Seite, packte Tina an den Schultern und schüttelte sie. Jetzt schrie auch er, seine Stimme kippte über: „Genau, hysterisch bist du! Und ich will verdammt noch mal endlich wissen, warum!“ Aus dem Augenwinkel sah Tina, daß Flämmchen sich in Bewegung setzte. Er rannte auf sie zu, eine Lohe von Haaren flatterte hinter ihm her. Sie wollte ihm etwas entgegenrufen, um ihn aufzuhalten, aber ihre Stimmbänder erzeugten nur ein wirkungsloses Krächzen. Einen Augenblick lang lehnte sich Tina in der wohlig ergebenen Erkenntnis an Peters Schulter, daß nun endlich alles vorbei war. Sie hatte keine Kontrolle mehr, also gab es auch keinen Vorwurf. Doch mit Flämmchens Hitze kamen Entsetzen und Angst zurück. Tina ließ Peter los und taumelte zur Seite. Im selben Moment war der hell glühende Körper da: ein Komet auf Kollisionskurs. Peter schrie. Flämmchens Hände waren an seinem Hals und in seinem Gesicht. Tina fiel auf die Knie, griff nach einem großen Stein - ihre Fingernägel splitterten. Sie schleuderte ihn mit ganzer Kraft gegen Flämmchens Rükken. Der Brocken flog wie in Zeitlupe, traf Flämmchen an der Schulter und drückte ihn zur Seite. Peter fiel auf den Rücken und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Flämmchen ließ von ihm ab und sah Tina an. Seine wirren Haare flatterten zur Seite und gaben den Blick auf zwei Augen frei, die ohne Begreifen anklagten. Flämmchen wich zurück, er zitterte, und helle Flecken zuckten über seinen Körper. Tina beachtete ihn nicht. Sie kroch zu Peter hinüber, jeder Zentimeter kostete sie zuviel Zeit. Sie wollte nicht wissen, wie das Gesicht unter seinen Händen aussah. Sie fürchtete sich davor, begreifen zu müssen, was Flämmchen Peter angetan hatte. Wie groß die Schuld war, die unweigerlich auch auf ihr lastete, hing von der Schwere der Verletzungen ab. Tina überwand ihre Angst. Sie mußte Gewißheit haben. Peter stöhnte leise. Er hatte rotumrandete Brandmale am Hals und auf beiden Wangen. „Was ist denn passiert?“ flüsterte er mit entrückt verwundertem Blick. Tina versuchte, ihm aufzuhelfen. Sie fielen zweimal hin, ehe sie aneinandergeklammert stehenblieben. „Komm“, preßte sie unter der körperlichen Anstrengung hervor, „du brauchst einen Arzt.“ Sie schaute zurück. Flämmchen war nicht zu sehen. Lediglich die zu Boden gefallene Taschenlampe spendete durch zerbrochenes Glas ein ärmliches Licht. Tina empfand darüber nur maßlose Erleichterung. Jetzt endlich mußten der Spuk vorbei und die Zukunft wieder absehbar sein. Sie wußte nicht, wie sie zum Haus ihres Onkels gekommen waren. Sie spürte keine Knie mehr. Die Türglocke schien plötzlich weiter oben zu hängen. Es war ihr fast unmöglich, nach dem Lederriemen zu greifen 76
und daran zu ziehen. Peter sah Tinas Bemühungen wortlos und ohne Regung zu. Auf seiner weißen Stirn perlte kalter Schweiß. „Gütiger Gott!“ Thomas griff Peter unter die Arme. „Flämmchen?“ Tina nickte. Sie ging an ihrem Onkel vorbei in die Küche. Als sie die Wodkaflasche aus dem Schrank nahm, fiel eine Tüte Reis um. Die Körner ergossen sich in Kaskaden über den Boden. Tina lachte krampfhaft. Dann setzte sie die Flasche an und hörte erst auf zu trinken, als der Brechreiz jedes weitere Schlucken unmöglich machte und sie innerlich verbrannt war. Auch Thomas griff zur Wodkaflasche. Er machte sich noch die Mühe, ein Glas zu benutzen. Sein Gesicht war hart und spröde wie trockenes Leder. „Ich habe Peter in mein Bett gelegt und seine Beine hochgelagert. Ich glaube, er steht unter Schock. Wir werden einen Arzt rufen müssen. Aber vorher will ich unbedingt wissen: Wo ist Flämmchen?“ Der Alkohol ließ Tina verklärt lächeln. „Weg ist er, er war plötzlich nicht mehr da, er hat sich in Luft aufgelöst. Der Streifen ist abgedreht. Alles was recht ist: Das Finale war nicht übel. Aber frag mich jetzt nichts mehr. Mir ist so schlecht.“ Thomas hielt die Wodkaflasche gegen das Licht der Küchenlampe und nickte. „Gut, aber morgen müssen wir über einiges reden. Einstweilen erinnerst du dich an nichts, verstanden?“ Tina rutschte tiefer in den Korbsessel, die Rückenlehne drückte hart gegen ihren Nacken. Das Rauschen in ihren Ohren war betäubend, und um sie herum drehte sich alles. „Sie werden es mir anhängen“, lallte sie und konnte das Gesicht ihres Onkels nur noch schemenhaft erkennen. „Das ist zwar nicht wahr, aber es stimmt.“ „Ich bin nicht da!“ Tina zog die Bettdecke über das Gesicht, doch ihr Spiel hatte die Unschuld früherer Tage verloren. Zum ersten Mal war ihr der Anblick ihres Onkels verhaßt. Seine bloße Anwesenheit bedeutete eine Fülle von Vorwürfen, die sie sich selbst machte, sobald sie an den gestrigen Abend erinnert wurde. Der Alkohol arbeitete nicht mehr in ihr, und ihre schillernde Seifenblasen-Vorstellung, daß sie sich einfach in Luft auflösen könnte, zerplatzte unter den Spitzen des Tageslichts. Tina bekam Atemnot unter der Decke und hob das Federbett um einen Zentimeter. Ihr Blick fiel auf einen Eimer, der unerträglich rot war und sich mit den Farben des Flickenteppichs nicht vertrug. „Du hast dich vielleicht erbrochen“, sagte Thomas. „Ich dachte, du erstickst.“ 77
Tina grinste. „Ich glaube, mir fehlt das Talent zum Säufer. In meinem Kopf hat sich ein Schmied eingenistet. Wie geht es Peter?“ „Er schläft.“ Thomas schob den Eimer mit dem Fuß zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. „Wir hatten Glück. Meine größte Sorge war, daß sie Peter ins Krankenhaus bringen würden. So sind uns erst mal einige unangenehme Fragen erspart geblieben. Dir muß ich sie allerdings trotzdem stellen, daran führt kein Weg vorbei.“ „Sicher.“ Tina warf als Symbol ihrer Ergebenheit die Decke bis zu den Knien zurück. „Wo hast du geschlafen, wenn Peter in deinem Bett liegt?“ Thomas deckte sie wieder zu. „Gar nicht. Erst mußte ich mich um dich kümmern, dann habe ich jede halbe Stunde nach Peter gesehen. Aber bleib bei der Sache. Heute mittag kommt noch mal der Arzt vorbei. Bis dahin müssen wir eine triftige Erklärung haben.“ Tina berührte zaghaft die vorgewölbten Schultern ihres Onkels. Sein Gesicht wies Schatten auf, die nicht vom Licht herrührten. Am Bett saß ein alter, müder Mann, dessen helle Augen energisch weiterkämpften, ohne die Zusammenhänge durchschauen zu können. „Warum sagen wir nicht endlich die Wahrheit?“ murmelte Tina. „Jetzt, wo Flämmchen weg ist...“ Thomas zog die Schultern ruckartig zurück. „Die Wahrheit glaubt uns kein Mensch, mein Mädchen, gerade weil Flämmchen weg ist. Außerdem, was macht dich derart sicher, daß er wirklich nie mehr auftaucht? Bei ihm ist doch alles möglich, so oder so!“ Tina fror und grub sich tiefer in ihr Bett ein. „Ich weiß es einfach. Wenn du seine Augen gesehen hättest, würdest du kaum zweifeln. Ich bin nicht einmal erstaunt. Wer keine Erlaubnis braucht, um aus dem Nichts aufzutauchen, der geht auch dahin zurück, ohne uns zu fragen. Als Flämmchens Naturgesetz klingt das doch logisch, oder?“ „Vielleicht siehst du ihn nur nicht mehr.“ Thomas überlegte laut. „Irgend etwas muß vorgefallen sein, etwas, das eure Beziehung durcheinandergebracht hat. Bitte, erzähle mir alles.“ Tina war zum ersten Mal in Thomas' Schlafzimmer. Als Kind hatte sie dieses Stück Intimsphäre ihres Onkels immer respektiert und sich nie dort hineingetraut. Auch am Tag drang kaum Licht in den düsteren Raum, da das Fenster fast vollständig von Efeu überrankt wurde. An den cremefarben verputzten Wänden hing kein Bild. Tina mußte die schwere schmiedeeiserne Deckenlampe anknipsen, um den dunklen Klotz in der Mitte des Raumes als Bett erkennen zu können. Zwischen massiven, schmucklosen Holzpfosten türmte sich ein dickes Plumeau. Tina umrundete mit vorsichtigen Schritten das Bett auf der Suche nach Peters Kopf. Für einen Moment wurde sie durch ein altes Foto abgelenkt, das in Leder gerahmt auf dem Nachttisch stand und neben anderen auch ihre Eltern zeigte. Peter schlief. Sein Gesicht und sein Hals waren zum größten Teil 78
mit weißen Verbänden abgedeckt, die eine völlig unpassende Frische ausstrahlten. Tina hatte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Es war ihr schwergefallen, ihrem Onkel noch einmal die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu schildern und dabei dem ungeheuren Tempo der Aktionen und Reaktionen gerecht zu werden. Die Erinnerung war qualvoll präzise gekommen. Thomas hatte kein Wort darauf gesagt. Er war in sein Museum gegangen, ohne Tina im Zweifel darüber zu lassen, daß er jetzt nicht gestört werden wollte. Wieder sah sie das Familienfoto an, und erst jetzt entdeckte sie sich selbst: klein, in kurzen Hosen und mit Zöpfen, ein verschämtes Lächeln auf den Lippen. Sie hatte es immer gehaßt, fotografiert zu werden. Thomas' Arm um ihre schmalen Schultern erinnerte sie an Zeiten, in denen eine Beichte noch ihr Gewissen erleichtert hatte. Die Geständnisse waren damals kleiner gewesen, ihrer Körpergröße angemessen, aber darum nicht weniger unangenehm als die heutigen. Thomas hatte die Dinge zurechtgerückt, ohne Tina die kleine Demütigung einer Entschuldigung zu ersparen. Nichts war so sicher und selbstverständlich gewesen wie die Vergebung. Ein kleines Mädchen hatte sich mit dem Gefühl, geläutert zu sein, in ihr Bett gelegt und Pandabär Rudi in den Arm genommen. Die Wege aus der Schuld waren geradlinig und eben gewesen, man hatte sie nicht verfehlen oder sich vor ihnen drücken können. Tina drehte das Foto ins Licht. Auf dem Glas lag Staub. Peter bewegte leicht den Kopf und seufzte im Schlaf. Sehr bald würde der Arzt kommen und arglos nach den Ursachen für Peters Verbrennungen fragen. Tina setzte sich vor das Bett auf den Teppich, zog die Beine an ihr Kinn und schlang die Arme um die Knie. Die Efeublätter vor dem Fenster nickten leicht im Wind, einige von ihnen trugen einen hellen Saum aus Sonnenlicht. „Tina -?“ Peter hatte die Augen ungewöhnlich weit offen, er sah jünger und hilflos aus. Er versuchte, seinen Arm unter der wuchtigen Bettdecke hervorzuziehen, um auf die Uhr zu sehen. „Hast du für mich in der Firma angerufen und gesagt, daß ich nicht kommen kann? Du kennst doch meinen Chef, der ist in diesen Dingen reichlich pingelig.“ Tina wunderte sich, daß sie Reaktionen dieser Art noch immer überraschten. Es war schließlich nicht das erste Mal, daß sie mit einer Gewichtung von Dingen konfrontiert wurde, die sie schaudern ließ. Sie hatte keinen Gedanken an die Firma verschwendet, geschweige denn dort angerufen. Und sie war davon überzeugt, daß dies keine Blauäugigkeit, sondern eine zutiefst menschliche Regung war. Sie fragte Peter, ob er Schmerzen habe. Sein Versuch, ein überlegenes Lächeln aufzusetzen, erstarb schon im Ansatz. „Verdammt, dagegen war mein Sonnenbrand vom letzten Jahr das reinste Vergnügen. Du hast also nicht angerufen. 79
Ein Glück, daß ich wenigstens meine Probezeit schon hinter mir habe.“ Tina legte ihm die zerkratzte Hand mit den abgebrochenen Fingernägeln auf den Arm. „Ist es sehr unverschämt, wenn ich dich in dieser Situation um deine Hilfe bitte?“ fragte sie. Diesmal gelang Peter ein Grinsen, das die Enden seines Oberlippenbarts in sanftem Schwung nach oben führte. „Natürlich helfe ich dir, soweit ich das als bettlägeriger Mann tun kann.“ Seine Stimme klang belustigt. „Bist du in Schwierigkeiten?“ „Ja!“ Tina streichelte Peters angesengte Haare gegen den Strich. „Um ehrlich zu sein, ich kann mir momentan keine Schöpfkelle vorstellen, die groß genug wäre, um die Suppe auszulöffeln, die ich mir binnen kürzester Zeit eingebrockt habe.“ Sie mußte tief Luft holen nach diesem langen Satz. „Du hast dich verändert“, sagte Peter. „Du warst ja schon immer für eine Überraschung gut, aber seit du hier in Willnau bist... Also, was kann ich für dich tun?“ „Eine Notlüge gebrauchen, weiter nichts.“ Sich selbst gegenüber hatte Tina eine Unwahrheit selten auf diese beschönigende Art relativiert. „Es wird wohl die Frage aufkommen, wie du dir deine Verletzungen zugezogen hast. Es war ein Unfall, begreifst du? Du hast an Thomas' Kachelofen hantiert und bist in eine Stichflamme geraten. So was kommt vor.“ „Gut“, sagte Peter nur. Tina beugte sich über ihn und küßte ihn auf die medizinisch duftende Stirn. „Ich nehme an, daß du als Gegenleistung die Wahrheit von mir erwartest, wenn du so schnell einverstanden bist.“ Peter antwortete nicht, aber sein Schweigen signalisierte Zustimmung. Tina erzählte ein zweites Mal von Flämmchen, doch ihr Blickwinkel hatte sich verändert. Sie schaute zurück, ohne gleichzeitig nach der Zukunft zu schielen. Sie erinnerte sich an ein Glück, von dem sie froh war, daß es nicht mehr existierte. Sogar das Eingestehen von Fehlern fiel leicht, schließlich war es mit dem Versprechen verbunden, daraus gelernt zu haben. „Also, wenn ich das alles richtig kapiert habe, verdanke ich meinen momentanen Zustand meinem Nebenbuhler“, sagte Peter ernsthaft. Tina lächelte zärtlich erleichtert. „Ja, gewissermaßen. Ich bin froh, daß du mir die Sache überhaupt glaubst. Ich hatte nämlich schon befürchtet...“ Peter fuhr auf, sein Rücken versteifte sich. „Soll ich dir sagen, was ich glaube? Du bist übergeschnappt, irre! Und das Schlimmste ist: Du bist auch noch gefährlich dabei! Dir habe ich diese Verbrennungen zu verdanken, wenn ich auch nicht weiß, wie du's angestellt hast. Was du jetzt am wenigsten gebrauchen kannst, ist die Rückendeckung eines weltfremden Onkels, der selbst einen Stich hat. Du brauchst einen Arzt. Such's dir jetzt aus: Entweder du begibst dich freiwillig in Behandlung, oder ich zeige dich wegen Körperverletzung an. Spätestens für das Ver80
fahren wird man dich zwangsläufig auf deinen Geisteszustand untersuchen lassen.“ Etwas sanfter und weniger erregt fügte er hinzu: „Ich will dich ja nicht reinreißen, ich will dir helfen. Notfalls kann ich dir sogar einen guten Anwalt empfehlen, wenn du mich zum Äußersten zwingst.“ Tina fühlte sich seltsam frei. Thomas zog sich zurück, Peter drohte ihr, und Flämmchen war verschwunden. Es gab niemanden mehr, auf den sie Rücksicht nehmen mußte. Jetzt war sie vielleicht endlich an jenem Punkt, den zu erreichen sie nach Willnau gefahren war. „Danke, ich kenne einen Anwalt“, sagte sie im Aufstehen. Die Adresse von Alberts Anwaltskanzlei war mit einem Klebestreifen am Armaturenbrett befestigt. Tina fuhr zu schnell. Die nasse, von Bäumen gesäumte Landstraße war wie geschaffen für einen Unfall. Zwischen den Feldern drückten heftige Windböen den Wagen aus der Spur. Tina sah stur geradeaus. Ihre Hände berührten kaum das Lenkrad. Sie strebte keine tödliche Lösung ihrer Probleme an, aber sie hatte auch kein Bedürfnis nach Gegenwehr, falls sich die Umstände auf diese Weise ergeben sollten. Der Lastwagen vor ihr schleuderte feine Wasserschwaden gegen ihre Windschutzscheibe. Tina überholte, ohne hinzusehen. Dicht neben ihr rauschte hupend der Gegenverkehr vorbei, doch die Empörung verfehlte ihr Ziel. Es wurde dunkel, als sie die Stadt erreichte. An einer Tankstelle hielt sie an. Sie betrachtete die lebhaft flatternden bunten Wimpel. Langsam kehrte das Gefühl für die greifbaren Dinge der Umgebung zurück. Tina freute sich auf Berufsverkehr, verstopfte Straßen und Menschen, die mit Taschen und Problemen beladen einfach ihrer Wege gingen. Zu leben konnte nicht so schwer sein, wie es den Anschein hatte. Es gab zu viele Menschen, die es täglich irgendwie schafften. Tina tankte. Als sie bezahlte, fragte sie nach der Titaniusstraße, wo sich die Kanzlei befand und ein Mensch, der ebenso wie sie längst kein freier Indianer mehr war. Die Straße lag in einem Neubaugebiet. Tina nahm es erleichtert zur Kenntnis. Die Atmosphäre konnte für sie nicht unpersönlich genug sein. Sie stieg aus und schlug schwungvoll die Wagentür zu. Sie ging an Häusern vorbei, die ausschließlich Geldinstitute, Makler, Ärzte und Anwälte beherbergten. In fast allen Fenstern brannte noch Licht. Die Eingangshalle aus Marmor strahlte Wichtigkeit und Schweigepflicht aus. Tina blieb zerstreut vor den Hinweisschildern stehen. Niemand hier würde sie daran hindern, wenn sie es vorzog, einfach wieder zu gehen, und niemand konnte sie zwingen, mehr zu sagen, als sie wollte. Sie stieg die wenigen Stufen zur ersten Etage hinauf. Willnau war in jeder Beziehung weit weg, und Thomas hatte den Status einer angenehmen Kindheitserinnerung zurückerlangt. Tina konnte sich plötzlich wieder vorstellen, in ein Büro zu gehen und Geschäftsbriefe zu schreiben - mit 81
geheuchelt freundlichen Grüßen. „Donnerwetter, das ging aber schnell!“ Albert sah von einem Schriftstück auf und ließ den Kugelschreiber fallen. „Du hast Glück, rote Schwester, der große Meister ist schon weg. Arbeitsessen mit einem wichtigen Klienten. Setz dich doch.“ Tina zog sich einen Stuhl heran, sie fühlte sich am richtigen Platz. Hier hatte alles seine Ordnung. Was erst mit Stempel und Unterschrift versehen war, verfiel nie wieder dem Zweifel. Während Albert noch ein Telefonat erledigte, gab sie sich der Vorstellung hin, daß man den Fall Flämmchen notariell beglaubigen und später endgültig zu den Akten legen könnte. „Ich hab' mich über deinen Brief gefreut“, sagte Tina, noch während Albert den Hörer auflegte. Sie verschwieg, daß sie erst einen Tag später so empfunden hatte. Albert wirkte trotz Krawatte und blaugrauer Anzugjacke nicht sehr amtlich hinter seinem überhäuften Schreibtisch. Für Tina trug er wieder eine Feder hinter dem Ohr und ärgerte sich darüber, daß er blond und nicht schwarzhaarig war. „Was hat dich aus unserem lauschigen Willnau gelockt?“ fragte er und lehnte sich zurück. „Ich oder die Aussicht auf den Duft von Knoblauch und Parmesan?“ „Beides.“ Tina sah an Albert vorbei und bewunderte die Hydrokulturen vor dem Fenster. Thomas hatte nicht eine Pflanze in seinem Haus. Er nannte es Natur im Käfig, und es war ihm zuwider. „Außerdem brauche ich Rechtsbeistand.“ Albert gab seinem Erstaunen zunächst nur mit den Augen Ausdruck. Er zwinkerte mehrfach, als sei sein Blick durch ein Staubkorn getrübt. „Was hast du verbrochen? Etwa den Kramladen von Frau Helms ausgeraubt?“ Tina mußte lachen. Sie erinnerte sich plötzlich daran, daß sie einmal mit Albert ein Bonbonglas gestohlen und geleert hatte. Die Geschichte war mit verdorbenem Magen und dem Verlust des gesamten Taschengeldes ausgegangen. Albert hatte eine Tracht Prügel bezogen. Aber ein bißchen Stolz auf ihre Verwerflichkeit war ihnen geblieben neben dem Gefühl, zusammenzugehören und die Welt gegen sich zu haben. „Ich muß mit einer Anklage wegen Körperverletzung rechnen“, sagte Tina. Albert stellte seine Kaffeetasse ab. „Willst du mich erheitern? Es ist übrigens noch Kaffee da, mein täglich Brot im Moment.“ „Danke.“ Tina schüttelte den Kopf. „Es ist kein Scherz. Ich muß dich warnen, roter Bruder. Was ich dir zu erzählen habe, ist ein großer Zauber und garantiert nicht in deinen Gesetzbüchern berücksichtigt.“ „Schieß los, Schleiereule“, sagte Albert. „Du ahnst nicht, wie langweilig die Fälle sind, die mir in der Regel unter die Finger kommen.“ Dieses Mal erzählte Tina ihre Geschichte, die immer kürzer zu werden schien, indem sie mit dem Ende anfing. Sie mußte sich zwingen, nicht 82
völlig nachlässig zu werden. Einzelheiten waren unwichtig und fielen einem unbewußten Rotstift zum Opfer. Die Heftzange in Tinas Hand war real - die Worte phantastisch. Ein Büro in einem Betonklotz; Stapel von Papier, die, wenn auch sicher nicht sehr unterhaltsam, so doch Geschichten von Menschen erzählten; und ein aufmerksam lauschender angehender Anwalt - das war das Leben. Tina redete stockend, als müsse sie immer wieder erst eine Seite umblättern. Sie hatte all diese Begebenheiten satt. Nur die Bedrohung durch Peter reizte sie noch zum Widerstand. „Trotz allem eine schöne Geschichte“, sagte Albert nachdenklich. Tina versuchte erfolglos, in seinen Augen Spott zu entdecken. Sie machte eine fahrige Handbewegung und wischte einen schmalen Hefter vom Schreibtisch. „Ich bin fertig damit! Mich interessiert nur noch, wie ich halbwegs heil aus der ganzen Sache rauskomme. Ich bin schließlich unschuldig.“ Albert tauchte unter den Tisch, um den Hefter wieder aufzuheben. „Als angehender Anwalt muß ich dir sagen, daß deine Chancen nicht sehr gut stehen“, sagte er. „Ohne Flämmchen können wir den Tathergang weder richtig rekonstruieren noch beweisen. Das einfachste wäre wirklich, du würdest einen Psychiater aufsuchen, das ist ja heutzutage nichts Ehrenrühriges mehr. Wenn Flämmchen verschwunden bleibt, wie du glaubst, dürfte deine Behandlung rasche Fortschritte machen, und alle wären zufrieden.“ „Klingt einleuchtend“, sagte Tina, „das Blöde ist bloß: Ich bin nicht verrückt!“ Sie drehte sich eine tütenförmige Zigarette. Albert gab ihr Feuer. „Das ist nicht der Punkt. Vor dem Gesetz kommt es darauf an, ob man dich für verrückt hält, nicht, ob du's wirklich bist. Verhandelt werden die Auswirkungen, das Motiv kann sich höchstens mildernd auswirken.“ Tina mußte die Zigarette ausdrücken, da sich die Gummierung löste und Glut auf den Schreibtisch fiel. „Damit kannst du leben?“ fragte sie und fügte hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten: „Also ich kenne solche Büros bislang ja nur aus Filmen, aber da gibt es immer einen Cognac für die verstörten Klienten.“ Albert trank seinen Kaffee aus. „Du vergißt, daß ich nur Referendar bin, teure Schleiereule. Laß uns essen gehen. Oder wolltest du wirklich lediglich meine Meinung als Fachmann hören?“ Das Restaurant lag nur zwei Straßen entfernt, und Albert wurde mit der freundlichen Vertraulichkeit begrüßt, die einem Stammgast zusteht. Tina hielt sich dicht an seiner Seite, obwohl es ihr peinlich war, daß man sie für ein Paar halten könnte. Sie wußte: Ihr Haar war fettig und strähnig, sie hatte ihre verkaterte Blässe nicht mit Schminke abgedeckt, und ihre Brille war so schmutzig, daß jeder helle Gegenstand vor ihren Augen einen Strahlenkranz bekam. Ein kommender Staranwalt wie Albert hatte in 83
seinem Stammlokal sicherlich ein besseres Aushängeschild verdient. Tina wählte eine Nische und verkroch sich hinter dem Tisch auf der rot gepolsterten Bank. Sie sah, daß sich der Kellner ihrem Tisch näherte. „Viel kann ich nicht essen“, sagte sie rasch, „mein Magen ist noch immer sauer auf mich. Am liebsten wäre mir eine Schüssel Salat.“ Albert bestellte ihr einen Martini. Tina ließ die Speisekarte ungeöffnet vor sich liegen. Vom Nebentisch duftete es nach Lasagne. „Ich warte“, sagte Tina, „wo bleibt deine Psychoanalyse?“ Albert betrachtete sie eine Weile schweigend. „Davon verstehe ich nichts“, betonte er dann, „aber für mich bist du das Größte. Du bist der schlagende Beweis dafür, daß ich recht habe. Was man allgemein für die Wirklichkeit hält, ist nur ein Ausschnitt. Manchmal fällt es mir unwahrscheinlich schwer, keinen engen Blickwinkel zu kriegen. In unserem Metier ist die Wirklichkeit ganz schön reduziert auf Paragraphen und Beweisbarkeit.“ Tina versenkte sich in die rote Farbe ihres Martini. „Ich wußte gar nicht, daß du einen Hang zum Hokuspokus hast“, bemerkte sie. „Ich warne dich noch einmal: Das ist nichts für einen Häuptling. Damit befaßt sich der Medizinmann.“ Albert hielt seinen Blick ungerührt auf Tina gerichtet. „Was soll ich jetzt über dich zu Protokoll geben? Daß du noch immer Spaß daran hast, dich schlechtzumachen? Oder daß du dich weigerst, einen Standort zu beziehen, und mit dir selbst Katz und Maus spielst? Ich werde das Gefühl nicht los, daß du genau die Lebensform für die einzig richtige hältst, die du aus tiefster Seele ablehnst. Das muß zwangsläufig in Frust enden.“ „Also doch eine Analyse“, sagte Tina mißmutig. Albert gelang es im Verlauf des Abends mehrfach, das Gespräch ganz unverfänglich in Richtung Peter zu lenken. Tina baute keine Deckung auf. Mit der ihr verbliebenen Energie malte sie ihn in düsteren Farben, so daß sie sich fast zwangsläufig hell dagegen abheben mußte. Peter saß mit am Tisch, er hatte die Züge eines Mannes, der im Hintergrund kühl kalkulierend die Fäden hielt. Albert versuchte, diese Sichtweise anzugreifen, doch Tina fand auf alle seine Bemühungen, Peter aus dem Abseits zu holen, eine Antwort, die sogar sie selbst überzeugte. „Sei mir nicht böse“, sagte Albert schließlich resigniert, „aber so ganz verstehe ich dich nicht. Wenn Peter wirklich ein solches Ekelpaket ist, wo liegt dann das Problem? Dann muß doch eine Trennung möglich sein. Dich wird's nicht umhauen und ihn nach deinen Schilderungen auch nicht.“ „Ich hab' was vergessen.“ Tina balancierte ihre letzte Radieschenscheibe auf der Gabelspitze. „Ich mag das Ekelpaket. Er hat allen anderen Menschen, denen ich mich jemals zugewandt habe, eine unglaubliche Tatsa84
che voraus: Er ist da, immer, nicht nur für einen Sommer, ein Wochenende oder eine Nacht. In guten und in schlechten Tagen sozusagen, selbst wenn ich es gar nicht will. Das nervt gelegentlich, aber Verläßlichkeit hat eine unglaubliche Faszination, besonders für jemanden wie mich, der nach deiner Ansicht noch seinen Standort im Leben sucht.“ Der Kellner kam, um die Teller abzuräumen und sich zu erkundigen, ob man zufrieden gewesen sei. Tina murmelte ihr obligatorisches „Ja danke, sehr.“ Albert bestellte zwei Cappuccinos. „Und du bist sicher, daß das für eine Beziehung ausreicht?“ fragte er, als sie wieder allein waren. Tina schüttelte langsam den Kopf und drehte sich aus den letzten ihr verbliebenen Tabakkrümeln eine Zigarette. Dann sah sie dem weißgekleideten Pizzabäcker hinter der großen Glasscheibe zu, der mit fließenden Bewegungen aus einer kleinen Teigkugel einen hauchdünnen, haltlosen Fladen formte. Es sah aus, als würde er zu einer unhörbaren Musik tanzen. Plötzlich lachte sie. „Wäre es nicht herrlich kitschig, wenn wir uns zusammentun würden? Vom Sandkastengespann zum Liebespaar ...“ Albert nahm die Cappuccinos in Empfang und betrachtete ausgiebig das Zuckerstückchen, das sein Sternkreiszeichen trug. „Wir würden gut zusammenpassen“, sagte er dann, „aber eine feste Beziehung kann ich dir nicht versprechen, nicht einmal die ferne Aussicht darauf. Aber du kannst heute nacht bei mir schlafen, wenn du willst.“ Tina rührte die Sahnehaube unter den Kaffee, ihr Löffel schlug den Takt zu einer Melodie an den Tassenrand. „Ich will schon, aber nicht heute. Ich habe mir einen kleinen Ausflug gegönnt, aber jetzt muß ich aufhören, Schlupflöcher zu suchen. Da ist so viel, was ich in Ordnung bringen will. Wer vom Pferd fällt, soll sofort wieder aufsteigen. Aber sei vorsichtig, wenn du mich in ein paar Wochen noch mal fragst, mußt du damit rechnen, daß ich mitgehe.“ Albert blies die Kerze aus. „Da bin ich nicht so sicher“, sagte er und verlangte die Rechnung. Den Weg zurück zur Anwaltskanzlei gingen sie schweigend. Tina drängte es zu Entschuldigungen, obwohl sie beschlossen hatte, endlich damit aufzuhören. Über ihre Köpfe flog dröhnend eine Passagiermaschine hinweg. Tina sah den blinkenden Lichtern nach. „Einfach wegfliegen müßte man können“, seufzte sie. Albert blieb stehen und hinderte sie am Weitergehen. „Schon wieder Fluchtgedanken, Schleiereule? Bring mir keine Schande über unser rotes Geschlecht. Kannst du überhaupt fahren?“ „Klar!“ Tina reichte Albert sehr förmlich die Hand, er hielt sie nicht länger als üblich fest. Dann stieg sie in ihren Wagen. Bevor sie losfuhr, kurbelte sie noch einmal das Fenster herunter. „Ich melde mich“, sagte sie. Und 85
dieses Mal meinte sie es ehrlich. Tina fand den Weg aus dem ihr unbekannten Winkel der Stadt mit gedankenloser Sicherheit. Sie sah in die hell erleuchteten Fenster eines Linienbusses und winkte fremden Gesichtern zu, die verständnislos zurückschauten. Auf der leeren Landstraße gab sie Gas. Der Wunsch, stark zu sein, weckte Kräfte. Ganz gleich, wie die Herausforderung aussehen würde, sie kam gerade recht. Plötzlich entdeckte Tina eine leuchtende Gestalt am Straßenrand Flammchen. Sie trat auf die Bremse. Der Wagen geriet ins Schleudern. Dicht neben dem linken Graben kam er zum Stehen. Sie drückte die Stirn gegen das Lenkrad und lauschte auf das Pochen ihrer Halsschlagader. Dann hob sie zögernd den Kopf: Ein weißer Begrenzungspfosten und ein Hinweisschild reflektierten hell das Licht der Scheinwerfer. Tina ließ sich mit einem Stöhnen gegen die Kopfstütze fallen. Sie wollte Erleichterung spüren, doch sie war maßlos enttäuscht. In den vergangenen Stunden hatte sie alles getan, um Flämmchen unter Alkohol, räumlicher Entfernung, Gedanken und vielen Worten zu verschütten. Flämmchen war mühelos wieder in ihr Bewußtsein emporgeklettert. Tina bemühte sich, diese Niederlage zu verkraften. Sie putzte ihre Brille und ließ den Wagen an. Vorsichtig lenkte sie auf die rechte Fahrspur zurück. Den Rest ihrer nächtlichen Fahrt beschäftigte sie die Frage, ob es einen Ort gab, an dem verschwundene glühende Wesen weiterlebten, und ob es einen Richter gab, der diejenigen verurteilte, die glühende Wesen auf dem Gewissen hatten. Eine Antwort fand sie nicht. Sie war froh darüber. In der Küche brannte noch Licht für einen Zettel, der auf dem Tisch lag. Thomas hatte ihn in seiner typischen Mischung aus lateinischen und deutschen Buchstaben geschrieben. Tina setzte sich müde und las. Falls du noch heute zurückkommst: Peter ist nach Hause gefahren. Der Arzt sagt, daß nur am Hals ein paar Narben bleiben werden. Peter hat erzählt, er wäre aus Unvorsichtigkeit an meinem Kachelofen in eine Stichflamme geraten. Du sollst ihm die Adresse des Psychiaters schikken, den du aufsuchen willst. Mir wäre wohler, wenn ich wüßte, was das alles zu bedeuten hat. Tina drehte den Zettel herum und schrieb: Kein Grund zur Aufregung, lieber Onkel. Ab heute geht alles seinen geregelten Gang. Mit Brief und Siegel. Tina schloß die Tür zu Thomas' Schlafzimmer vorsichtig wieder. Er schlief noch fest. Er hatte es verdient. Tina war zu dem Schluß gekommen, daß sie jetzt nicht plötzlich ihre re86
gelmäßigen Spaziergänge zum Steinbruch aufgeben konnte, ohne sich verdächtig zu machen. Damit hatte sie ein perfektes Alibi für ihre verleugnete Hoffnung, Flämmchen doch noch einmal wiederzusehen. Sie trank eiskalte Milch aus dem Kühlschrank. Erst nach mehreren Schlucken bemerkte sie, daß die Milch sauer war. Sie nahm einen Bleistiftstummel und schrieb unter ihre Worte vom vergangenen Abend: Guten Morgen. Trink keine Milch, sie ist sauer. Tina wußte, daß ihr Onkel nicht einmal Kakao mochte. Aber sie fand, verdorbene Milch war ein herrlich alltägliches Problem. Sie öffnete die Klappe zum Kachelofen und warf die Visitenkarte von Professor Begerich in die Glut. „Sie irren sich“, sagte sie zu der Pappe, die schwarze Ränder bekam, einen Flammensaum ansetzte und schließlich vom Feuer gefressen wurde. „Willnau ist ein stinknormales Nest, genau wie seine Bewohner und seine Besucher! Merken Sie sich das gefälligst!“ Die Häuser von Willnau sahen nach dem Tauwetter aus wie frisch gewaschen. Nur an den Straßen hielten sich letzte schmutzige Reste aus Streugut und Schnee. Tina atmete die kalte Luft ein, die ihr den Kaffee ersetzte. Sie hatte vergessen, Albert zu fragen, ob er einen guten Psychiater kannte. War es möglich, sich in ein Behandlungszimmer zu setzen und ohne Lachen einem fremden Menschen, der von Berufs wegen die Ungläubigkeit kultivierte, etwas über Flämmchen zu erzählen? Briefträger Schulte kam die Straße entlanggeradelt. Er klingelte stürmisch. Tina winkte ihm zu. „Was für uns dabei heute?“ Schulte bremste scharf. „Feuer!“ rief er Tina entgegen. „Es brennt im Krähenwäldchen. Die Bauern sind schon draußen. Jeden Moment wird die Feuerwehr eintreffen.“ Tina versuchte, nicht zu denken. Sie reckte den Kopf. Erst jetzt nahm sie die schwarzgraue Färbung des Himmels hinter den Bäumen wahr, und plötzlich roch sie es auch. „Wie ist denn das möglich?“ fragte sie, wütend die Antwort niederkämpfend, die sie längst wußte. „Das Holz muß naß wie ein triefender Schwamm gewesen sein. So was brennt doch nicht!“ Schulte zuckte die Schultern. „Was weiß ich. Sie meinen, daß es wahrscheinlich schon seit Tagen dort geschwelt hat. Ich sage dir, so ganz unrecht hat der Friedmann nicht. Erst der Hühnerstall von Bergheims, dann die Sache im Steinbruch und jetzt das. Irgendwo hier treibt sich ein Feuerteufel herum. Würde mich nicht wundern, wenn es der Friedmann selbst wäre.“ Schulte machte eine eindeutige Handbewegung. „Der ist doch plemplem, so einer gehört unter Verschluß.“ „Das dürfen Sie nicht sagen“, reagierte Tina erschrocken, „das dürfen Sie höchstens denken. Sie wissen doch, wie schnell hier in Willnau ein Gerücht rum ist. Einer vermutet es, der nächste weiß es dann schon ge87
nau, und der übernächste handelt danach.“ Schulte setzte seinen Fuß wieder auf das Pedal. „Ich bin kein Klatschweib. Aber ich weiß, was ich sehe. Man macht sich so seine Gedanken. Grüß deinen Onkel.“ Er radelte weiter. Seine Hosenklammern glänzten in der Sonne. Tina hatte den Eindruck, als sei der Brandgeruch intensiver geworden. Die Luft schmeckte bitter und kroch durch die Nasenlöcher bis in die Stirnhöhle hinauf. Der starke Westwind begünstigte sicher die Gefahr, daß das Feuer auf Bauernhöfe oder den Ort übergreifen könnte. Tina sah die ersten Leute, die auf die Straße gelaufen waren und sich schreiend verständigten. Dann begann die Sirene zu heulen, ein dämonisch dunkler Pilz, der auf einem der Hausdächer thronte. Das an- und abschwellende Geräusch erstickte alle Gespräche im Keim. Ein Hund reckte seine Schnauze gegen den Himmel und jaulte synchron mit den betäubend intensiven Tonwellen. Von ferne mischte sich lauter werdend das Martinshorn der Feuerwehr ein. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Löschzüge durch Willnau rollten. Tina rannte die Straße hinunter. Ihr Alptraum war endgültig Wahrheit geworden. Im Augenblick hatte es keine Bedeutung, welche Ursache dahintersteckte. Sie lief der Brandstelle entgegen, anstatt vor ihr zu fliehen. Niemand nahm von ihr Notiz. Der rauchhaltige Wind stellte sich ihr in den Weg, aber er hielt sie nicht auf. Für Tina war es wie der Weltuntergang. Sie bemerkte nicht mehr, daß sie dramatisierte. Sie brauchte jetzt die Katastrophe. Nur ihre Atemlosigkeit und die schneidenden Seitenstiche brachten sie dazu, den Feldweg langsamer weiterzugehen. Die Luft roch jetzt beißend und würgte in der Kehle. Tina sah die ersten Flammen, die an den Ästen der jungen Bäume hochzüngelten und sich wie Krebsgeschwüre in das feuchte Holz fraßen. Tina wurde von einer kräftigen Gestalt zurückgehalten, die mit Mund- und Nasenschutz maskiert war. „Was tun Sie denn hier? Das ist kein Kino! Gehen Sie zurück. Sie fangen sich noch 'ne Rauchvergiftung ein.“ Tina machte höflich zwei Schritte rückwärts. Dann blieb sie wieder stehen und sah den Willnauern zu, die mit Hacken und Schaufeln gegen den Brand ankämpften. Sie hatte keine Angst mehr. Sie war nur noch maßlos fasziniert. Das Knistern der Flammen, der Rauch und das aufgeregte Stimmengewirr verwandelten die sonst friedliche Landschaft in ein brodelndes Gemisch. Ein brennender Ast fiel herunter, krachend und funkensprühend schlug er auf. Herr Bergheim trug ein verletztes Reh über den Feldweg. Tina dachte daran, daß jetzt vermutlich auch der kleine Hügel mit den Autoreifen brennen würde, der Ort, an dem sie sich als Kind so oft wie ein Abenteurer gefühlt hatte -eine Welt der tausend Möglichkeiten. Damit fand die Zeit der Träume endgültig ein Ende. 88
Tina wandte sich ab. Sie hatte genug gesehen. Bei ihrem letzten Blick auf das vom Wind zerfaserte Feuer entdeckte sie es: eine Flamme von menschlicher Gestalt, geduckt und mühsam atmend. Gleichzeitig bahnte sich der erste strahlend rote Löschzug quer über das Feld einen Weg zur Brandstelle. „Flämmchen!“ Tinas Ruf verhallte als einer unter vielen. Weder die Willnauer noch die Feuerwehrleute hatten Zeit, darauf zu achten. Tina rief wieder. Flämmchen wandte langsam und ziellos suchend den Kopf. Der Brand war längst heller und heißer als er. Die Feuerwehrmänner riefen sich Kommandos zu. Jeden Moment mußte das Wasser aus den Schläuchen auf die brennenden Bäume schießen, in deren Mitte Flämmchen kauerte und keinen Versuch machte, sich zu retten. Tina war nicht sicher, ob Flämmchen sie überhaupt erkannt hatte. Er sah genau in ihre Richtung und verharrte in dieser Haltung. Tina winkte, den Blick wie hypnotisiert auf einen Wasserschlauch gerichtet. Flämmchen regte sich. Er löste sich aus dem Feuer und dem weißen Aschenregen, der auf ihn niederging. Seine Bewegungen waren qualvoll langsam. Vor Tina blieb er stehen und sah sie mit großen Augen an, die wie alte, blinde Fensterscheiben undurchschaubar waren. „Sie sind ja immer noch da“, sagte jemand. Tina zuckte zusammen. „Ich geh' schon.“ Der erste Wasserstoß traf die Flammen. Sie entfernten sich eilig von der Brandstelle. Erst als sie den Bauernhof der Bergheims und Kügelchens heiseres Bellen hinter sich gelassen hatten, blieben sie stehen. Mit einem Satz brachte Tina ihre Empfindungen auf den Punkt: „Gott sei Dank, das war Rettung in letzter Sekunde!“ Flämmchen wühlte in seinen völlig durcheinandergeratenen Haaren und sagte kein Wort. Er sah nicht so aus, als wäre er sehr glücklich über seine Rettung, und zeigte keinerlei Wiedersehensfreude. Aber er folgte Tina, und seine Füße traten genau auf den Rand ihres Schattens. Die Willnauer Sirene war verstummt. Die Stille wirkte beruhigend. Schulte befand sich auf dem Rückweg. „Die Feuerwehr ist jetzt da“, informierte ihn Tina. „In ein paar Stunden ist der Spuk sicher vorbei.“ Schulte beugte sich über den Lenker. „Für dieses Mal vielleicht. Aber wer weiß, was als nächstes kommt? Man sollte endlich was unternehmen!“ Er trat in die Pedale, und Flämmchen mußte zur Seite springen, um nicht angefahren zu werden. Thomas stand vor der Haustür und sprach mit Frau Helms, unter deren offenem Mantel ein Morgenrock zu sehen war. „Da macht extra mein Mann den Laden auf, damit ich mal länger schlafen kann - also in Willnau geht's ja neuerdings zu wie in der Großstadt. Hallo Tina, du hast dir doch nicht etwa das Feuer angesehen? Du bist ja 89
voller Asche. Also Angst kennst du wohl überhaupt nicht?“ „Mehr als Sie glauben“, murmelte Tina und suchte für ein lautloses Gespräch den Blick ihres Onkels. „Ich bin mal eben kurz im Keller“, sagte sie dann. Thomas nickte beiläufig. Nur ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen entlarvte ihn. „Du bringst ja richtig Hitze mit“, bemerkte Frau Helms lächelnd. Tina räusperte sich und dirigierte Flämmchen mit nach außen gekehrten Handflächen ein Stück zurück. „Die Tür ist offen“, sagte Thomas. „Wir sehen uns später noch!“ rief Frau Helms Tina nach. Flämmchen kroch auf allen vieren in den Kellerraum. Dort blieb er erst einmal regungslos liegen. Nur seine Brust hob und senkte sich, als pumpe er Unmengen Luft in seinen glühenden Körper. Tina sah schweigend zu. Sie hatte Flämmchen wieder und mit ihm unüberschaubare Probleme. Aber sie war glücklich darüber, nichts weiter. Flämmchen hob den Kopf. „Es ist furchtbar. Ich kriege Angst vor mir selbst. Du hättest mich nicht holen sollen. Ich habe das viele Wasser gesehen. Ich wäre bestimmt ein für allemal gelöscht worden.“ „Es muß einen besseren Weg geben“, sagte Tina sanft, „ich weiß nur noch nicht welchen.“ Flämmchen setzte sich auf. „Wie geht es Peter?“ fragte er zaghaft. „Ganz gut für das, was passiert ist.“ Tina kam näher. Die alte Vertrautheit hatte sich sofort wieder eingestellt. „Nur hält er mich für total bescheuert. Er glaubt, ich hätte ihn verbrannt. Aber eine solche Flamme bringt selbst mein Feuerzeug nicht zustande. Ich fühle mich allenfalls als Auslöser. Du bist auf Peter losgegangen, weil du dachtest, daß er mir etwas antun will, nicht wahr?“ Flämmchen riß die Augen auf. Er staunte lange. „Wenn es bloß so wäre“, sagte er dann zögernd und rutschte näher an die Kellerwand. Dort verharrte er eine Weile schweigend. „Nein, das war's nicht“, begann er schließlich. „Du hast doch zugeschlagen, und irgendwie mußte er sich ja wehren. Zuerst habe ich mich bloß geärgert, daß Peter kam, als es gerade so schön mit dir war. Ich wollte auch gar nicht zuhören, aber mir war plötzlich, als würde es mich etwas angehen. Schließlich machte er dir Vorwürfe. Ich war sehr verwirrt darüber, daß er dir fast dasselbe sagte wie du mir, als ich mich nicht fürchten wollte - nämlich, daß man nicht nur für sich allein entscheiden kann, wenn man jemanden liebhat. Und ich dachte, daß ihr euch sehr liebhaben müßt, wenn ihr euch die Mühe macht, euch so zu streiten. Mich hast du gar nicht mehr beachtet. Ich war sicher, ihr würdet euch jetzt endgültig wieder vertragen, du würdest mit ihm gehen und mich allein lassen. Dagegen mußte ich doch was tun! Ich war wohl sehr durcheinander. Jetzt begreife ich, warum du mit dem Stein nach mir geworfen hast, aber in dem Augenblick verstand ich nur, daß du mich nicht mehr wolltest. Sonst hatte ich gar nichts im Kopf. Also 90
machte ich mich davon. Ich war sicher, ich seh' dich nie wieder. Ich war gar nicht richtig böse auf euch beide. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß es für mich noch weitergehen würde.“ Flämmchen schloß seine Erinnerungen mit einem zittrig wimmernden Seufzer. Es klang nach Weinen, aber seine heißen Augen waren unfähig, Tränen hervorzubringen. „Ich dachte auch, daß ich dich nie wiedersehe“, murmelte Tina und setzte sich. Sie betrachtete ihre abgebrochenen schwarz geränderten Fingernägel, weil sie annahm, daß ihr Blick Flämmchen jetzt unangenehm sein könnte. „Also verstehe ich dich richtig? Du warst eifersüchtig?“ „Wenn das so aussieht -“, Flämmchen wippte mit dem Fuß, „dann war ich es wohl. Es muß etwas ganz Gefährliches sein, ich hab' mich so schlecht dabei gefühlt.“ Tina sah Flämmchen nun doch an. „Die Auswirkungen waren nicht gerade berauschend“, sagte sie. „Aber ansonsten fühle ich mich geschmeichelt. Es stimmt, Peter hat mich sehr lieb, ich ihn wohl auch, trotzdem würde er mich sofort ziehen lassen, wenn ich es wollte.“ Flämmchen streckte seine heißen Glieder. Seine Haare hatten wieder ihren sanften Schwung zurückgewonnen. „Das verstehe wer will!“ rief er. „Ich nicht! Soll ich dir die Hände wärmen?“ Tina streckte die Arme aus. „Ich hab' mich immer gefragt, ob du jemanden angreifen und verletzen könntest.“ „Ich kann!“ Flämmchen legte seine Hände in sicherem Abstand über die ihren. „Aber nur wenn ich ganz viel Angst habe - und die hatte ich. Dagegen das bißchen Schnee damals, der war nicht so endgültig.“ Tina saß mit geschlossenen Augen da. Sie spürte nur die Wärme auf ihren Händen. Sie begriff nicht mehr, wie sie sich jemals ein Ende dieser Geschichte hatte vorstellen können. Frau Helms wollte es sich trotz der Ereignisse nicht nehmen lassen, heute wieder einmal für Thomas und Tina zu kochen. Kein Weg führte an dieser Einladung vorbei. Tina hatte nur ein paar Minuten Zeit, um mit ihrem Onkel zu reden, und das schien ihr nicht ausreichend. Die restliche halbe Stunde würde unweigerlich den Vorbereitungen gehören. „Flämmchen ist wieder da“, sagte sie darum nur. „Wir müssen später darüber sprechen.“ Thomas stimmte schweigend zu und machte sich auf die Suche nach der Strickjacke, die am wenigsten verfilzt war, und nach einer nicht völlig abgetragenen Hose. Soviel gebot die Höflichkeit. Tina duschte sich ausgiebig den vergangenen Tag vom Körper und wusch den Brandgeruch aus dem Haar. Gemeinsam mit Thomas stand sie schließlich vor dem Spiegel. Ihr Onkel rasierte sich, und Tina ließ beim Fönen die Haarsträhnen durch ihre Hand gleiten. „Ich wünschte, du würdest nicht ganz so glücklich aussehen!“ brummte 91
Thomas und blies den Schaum ins Waschbecken. „Flämmchen ist kein Geburtstagspäckchen mit Grußkarte. Er ist ein permanenter Unruheherd, in jeder Beziehung.“ „Nicht jetzt!“ Tina warf den Kopf nach vorn, um etwas mehr Fülle in ihr feines Haar zu fönen. Thomas wusch sein altmodisches Rasiermesser aus. Das Wasser spritzte gegen die blauen Kacheln. „Na schön, aber unterlasse wenigstens bei Frau Helms deinen seligen Blick. Vergiß nicht: Willnau ist eben nur knapp einer Brandkatastrophe entgangen. Das Krähenwäldchen ist ein Aschenhaufen, und die Löschzüge sind wie Panzer durch Bergheims Wintergerste gefahren. Da hat man wenigstens ein bißchen betreten auszusehen.“ Sie kamen durch den Laden ins Haus. Herr Helms bediente den letzten saumseligen Kunden. Man sprach über den Brand. Ladenschlußzeiten wurden hier nie sehr streng ausgelegt. Tina sah sich lächelnd um. Die Bonbongläser an der Kasse waren jetzt aus Plastik, und auch ihr Inhalt hatte sich verändert. Nur der sehnsuchtige Blick, den ein Kind darauf wirft, wird vermutlich immer derselbe bleiben. „Ich mache jetzt dicht“, sagte Herr Helms. Er erhob sich von dem kleinen Drehstuhl und zwängte seinen Bauch an einem Stapel Waschmittelkartons vorbei. „Jetzt habe ich aber auch Hunger. Meine Frau macht Rouladen. Und bestimmt kocht sie auch wieder ein paar Neuigkeiten oder Gerüchte mit hinein.“ Der Tisch war schon gedeckt. Die Stoffservietten in den Porzellanringen deuteten daraufhin, daß es vornehm zugehen sollte. Thomas und Tina sahen sich bedeutungsvoll an, ehe sie Platz nahmen. Sie dachten dasselbe. „Wir haben noch mal großes Glück gehabt“, eröffnete Frau Helms das gemeinsame Essen. Tina starrte auf die schneeweiße Tischdecke. Vorerst bestand ihre größte Sorge darin, daß ihr ein Kartoffelstückchen mit tiefbrauner Sauce neben den Teller fallen könnte. Das Besteck hielt sie merkwürdig gekünstelt in der Hand. Sie hatte sich ihre abgebrochenen Fingernägel noch immer nicht gefeilt, was zumindest eine grobe Nachlässigkeit bedeutete. Thomas saß kerzengerade am Tisch. Er duftete nach Rasierwasser. „Aber erledigt ist die Sache noch nicht!“ Frau Helms nahm den Gesprächsfaden wieder auf: „Wenn ihr mich fragt, der Brandstifter ist unter uns, hier in Willnau!“ Tina wies die gereichte Kartoffelschüssel zurück. Sie konnte sich Flämmchen schlecht in der Rolle eines Übeltäters vorstellen. Sowohl seine Motive als auch seine körperliche Beschaffenheit entschuldigten ihn. „Wer sagt, daß es Brandstiftung war?“ Frau Helms sah erstaunt von ihrem Teller auf. „Alle, die zwei und zwei 92
zusammenzählen können. Und wißt ihr, wen man in der Nähe der Brandstelle gesehen hat?“ Sie machte eine Spannungspause und schaute von einem zum anderen. „Den Friedmann! So, nun sagt was.“ Tina tupfte sich den Mund ab und drückte dabei einen dicken braunen Fleck auf die Serviette. „Na und? Ich war ja schließlich auch da, oder?“ „Ja, ja ...“ Frau Helms stand auf, um abzuräumen. „Aber du hast kein wirres Zeug dabei geredet.“ Während des Desserts begann Herr Helms, von seiner Arbeit zu erzählen. Thomas interessierte sich plötzlich sehr ausgiebig für vollautomatische Fertigungsstraßen im Automobilbau. Frau Helms' Gesicht versteinerte - sie verstand. „Das Essen war hervorragend“, sagte Tina, die die Deutlichkeit des Ablenkungsmanövers etwas schäbig fand. „Soll ich Ihnen beim Abwaschen helfen? Lassen wir die Männer doch reden.“ Sie sprachen nicht mehr über den Brand oder den Friedmann. Frau Helms sah gekränkt aus wie ein unverstandener Prophet. Mit Inbrunst scheuerte sie die Töpfe. Erst als sie das Spülwasser ablaufen ließ, sagte sie: „Ich werde nur noch ein Auge zumachen beim Schlafen. Mir steckt niemand das Dach über dem Kopf an.“ „Ich pass' auch auf“, versprach Tina. Beinahe hätte sie gelacht. Tina fiel in den Korbsessel, der sich bedenklich nach hinten neigte und warnend knarrte. Thomas blieb stehen, seine Haltung war eine einzige Drohung. „Schluß jetzt mit dem Schmierentheater! Tatsachen auf den Tisch. Allein kriegen wir das Problem Flämmchen nicht mehr in den Griff.“ Tina ließ die Beine baumeln und schlug mit den Absätzen ihrer Stiefel gegen das Korbgeflecht. „Du denkst an Professor Begerich? Tut mir leid, ich hab' seine Visitenkarte verbrannt.“ „Sei nicht albern!“ Thomas begann, in der Küche auf und ab zu gehen. „Die Adresse kann ich jederzeit über die Polizei bekommen.“ Sie schwiegen sich feindselig an. Keiner verließ seinen Schützengraben. Tina wußte längst, daß ihr Höhenflug mit einem Absturz geendet hatte. Der Wasserkessel verharrte wie ein Spiegelbild der beiden Menschen still auf dem Herd. Niemand kochte heute Tee, obwohl es Zeit dazu war. Thomas gab als erster seine Deckung auf: „Was passiert ist, kann ich nicht mehr als Kleinigkeit betrachten, und es wäre noch Schlimmeres möglich gewesen. Hier kommen Menschen zu Schaden, und wir machen uns mitschuldig. Ich will das nicht mehr verantworten.“ „Mußt du auch nicht“, sagte Tina, „weil nichts mehr passieren wird. Ich kümmere mich um Flämmchen.“ Thomas setzte sich, es war eher ein Fallen. Er umklammerte Tinas Arm mit verzweifelter Härte. „Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens damit verbringen, auf ein glühendes Wesen aufzupassen!“ 93
Tina machte sich frei. „Und ob ich das kann!“ Thomas forschte in ihrem Gesicht nach einem Detail, das ihm das Verständnis erleichtern würde. Er gab sehr schnell auf. „Was hat Peter mit dem Psychiater gemeint - und mit der Stichflamme?“ Tina berichtete erschöpft und leidenschaftslos. „Was wirst du tun?“ erkundigte sich Thomas. „Ich geh' hin und lass' mich behandeln“, sagte Tina. „So gewinne ich Zeit. Und jetzt lege ich mich ein bißchen hin, es ist gestern abend ziemlich spät geworden.“ Tina legte sich nicht hin. Sie stand an der Luke und spuckte in die Dachrinne. Die Willnauer Dorfstraße war für einen Samstagnachmittag noch sehr belebt. Die Fußballbundesliga hielt weniger Männer im Haus als sonst. Tina konnte nicht verstehen, worüber man sprach, aber sie wußte es trotzdem. Sie las in beredten Gesichtern und in ihren eigenen Gedanken. Den Brandgeruch hatte der Wind verweht, doch die Tatsachen blieben. Der Hügel des Krähenwäldchens hatte seine Umrisse verändert. Wie ein fast kahler Kopf mit vereinzelten Haarbüscheln erhob er sich gegen den Abendhimmel. Tina sah zu, wie es dunkel wurde und die Willnauer ihre Gespräche endgültig ins Haus verlegten. Die Normalität machte sehr schnell von ihrem Recht Gebrauch, wieder das Leben zu bestimmen. Aus einem geöffneten Fenster drang Torjubel. Die Sportschau lief. Tina ahnte, daß es leicht sein würde, ihrem Onkel aus dem Weg zu gehen. Thomas hatte sich sicherlich in sein Museum zurückgezogen, wo er einen uneinholbaren Wissensvorsprung besaß und ihm niemand widersprach - allenfalls er selbst. Es mußte Vorteile haben, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, denn sie war bereits gelebt. Und wer lernte schon daraus? Tina hatte ihrem Onkel nicht gesagt, wie sehr sie seine Besorgnis teilte. Alle vernünftigen Überlegungen wurden im Zusammenhang mit Flämmchen zu grauer Theorie. Das glühende Wesen brachte jedes noch so kunstvolle Gedankengebäude zum Einsturz, und mit einem fast schon schmerzhaften Gefühl der Zuneigung ließ sich nicht fehlerfrei rechnen. Tina stimmte ihrem Onkel zu. Flämmchen war ein Problem, aber Professor Begerich sollte noch keine Gelegenheit bekommen, es zu lösen. Tina wollte nicht übereilt handeln. Flämmchen hatte mehr Sorgfalt verdient. Tina war überrascht, ihren Onkel vor einer Tasse Tee sitzend in der Küche anzutreffen. „Laß uns Frieden schließen“, sagte sie. „Das einzige, worum ich dich bitte, ist ein bißchen Bedenkzeit.“ „Gut.“ Thomas wandte sich zu ihr um. „Aber ich habe auch eine Bitte. Rechne nicht damit, daß die Zeit das Problem von selbst löst und du nur zu warten brauchst. Das klappt fast nie.“ Er stand auf und nahm eine zweite Tasse aus dem Schrank. „Chinesisch“, sagte er, als er den Tee 94
eingoß. „Ich habe vorhin an Albert gedacht. Es ist beinahe beruhigend, einen Anwalt zu kennen. Wenn herauskommt, daß wir schon fast zwei Wochen von Flämmchens Existenz wissen - es gibt bestimmt keine gesicherte Rechtslage in diesem Fall, aber stell dir mal vor, man würde Schadensersatzansprüche an uns stellen.“ Tina lachte. „Vorerst weiß es ja niemand. Außerdem hast du vergessen, daß ich verrückt bin. Wenn du dich ein bißchen anstrengst, kommst du auch damit durch.“ Thomas rührte schmunzelnd in seinem Tee. „Vielen Dank. Du bist äußerst charmant.“ Tina setzte sich mit ihrer Tasse an den Kachelofen. Aus dem Radio klang leise Musik, und der Wasserkessel pfiff für eine zweite Portion Tee, jetzt, da nicht mehr nur einer allein in der Küche saß. Es gab tatsächlich noch andere Gesprächsthemen als Flämmchen. Thomas, der Vorträge über die Willnauer Geschichte hielt und ungern von seiner eigenen Vergangenheit redete, sprach über sich und eine Zeit, die Tina weniger aus eigener Anschauung als von Erzählungen her kannte. Viel hatte sie nämlich nicht damit anfangen können, wenn ihr Vater über Rationalisierungsmaßnahmen in den Betrieben sprach, und daß Thomas eine Umschulung machen sollte, ehe der Zug ohne ihn abfuhr. Es war ihr eher gelegen gekommen, als der Onkel seine Stelle verlor und plötzlich unglaublich viel Zeit hatte, sechs Sommerferienwochen lang. „Für einen Frührentner reichte es damals ebensowenig wie für eine neue Stelle“, erzählte Thomas. „Dreiundfünfzig ist ein verteufeltes Alter. Ich bekam einen Haufen höflicher Absagen. Ich war nicht mehr gefragt, beruflich nicht und privat noch weniger. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich begriff, daß ich trotzdem nicht aufhörte zu leben. Ich fing an, mein Museum einzurichten, anfangs aus purer Langeweile. Im Sommer kamst du, das war wie ein Orientierungspunkt Jahr für Jahr. Ich hatte mir sozusagen meine eigene Ordnung geschaffen, und sie funktionierte. Es war ein ziemlicher Schock, als ich hörte, daß auch dein Vater seine Stelle verloren hatte. Mein Bruder war schon immer zielstrebiger als ich. Er hatte außerdem eine Familie als Triebfeder und wohl auch das nötige Glück. Ich bewunderte ihn trotzdem. Einfach mit Sack und Pack so weit wegziehen - du kamst nicht mehr, und ich gewöhnte mich daran. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß du sowieso dabei warst, erwachsen zu werden.“ „Ich bin dort nie heimisch geworden“, sagte Tina. „Ist es nicht lächerlich, daß ein junger Mensch in unserer modernen, mobilen Zeit so heimatverbunden sein kann? Irgendwie war ich ganz schön sauer auf meinen Vater. Damals sah ich nur, daß er ständig das entschied, was ich nicht wollte. Völlig weg ist das Gefühl bis heute nicht, obwohl ich ihn längst verstehe. Immer sollte ich vernünftig sein, ich war ja schon ein großes Mädchen, und die Sachzwänge - das Wort vergesse ich nie: Sachzwänge. Seit Wochen will ich meine Eltern anrufen, und ich krieg's nicht hin. 95
Je länger ich warte, desto lieber verschiebe ich es.“ Die Türglocke unterbrach ihr Gespräch. Thomas warf einen erstaunten Blick auf die Standuhr. „Jetzt? Wer kann denn das sein?“ „Ich geh' schon.“ Tina löste sich von dem warmen Halt des Kachelofens. Erst als es ein zweites Mal läutete, betrat sie den Flur. An der Tür zögerte sie. Es war nur Friedmann. Tina bat ihn herein und roch die süßliche Fahne von Bier und Korn. „Ich muß mit jemandem reden, ich weiß nicht, was ich machen soll“, sagte er ohne erkennbare Anzeichen von Trunkenheit. Tina führte ihn in die Küche und drückte ihn auf die Ofenbank. „Was ist los?“ Friedmann nestelte unsicher an seiner Manteltasche herum, dann zog er einen zerknitterten Brief heraus. „Das hat mir der Schulte heute morgen gebracht.“ Während Tina das Schreiben aus dem bläulichen Umschlag zog, suchte Thomas nach seiner Brille. Tina sah ihrem Onkel beim Lesen über die Schulter. „Das ist eine Vorladung zu einer amtsärztlichen Untersuchung“, sagte Thomas schließlich. „So wie es aussieht, hat dein Sohn einen Antrag auf Entmündigung gestellt.“ Friedmann zeigte keine Regung. Tina starrte abwechselnd den Brief und ihren Onkel an. „Das können sie doch nicht machen. Mit welcher Begründung denn?“ Thomas zuckte die Schultern. „Was weiß ich. Sag mal, Friedmann, gibt's eigentlich was zu erben bei dir?“ Tina lachte wütend auf. „Wovon träumst du nachts? Sieh ihn dir doch an oder meinetwegen seine Wohnung, dieses Loch.“ „Laß bitte ihn reden“, sagte Thomas ruhig. Friedmann grinste verlegen. „Ich habe schon ein paar stille Reserven, falls mal wieder schlechte Zeiten kommen. Aber nicht in Geld. Das ist mir schon einmal passiert, daß es plötzlich nicht mal mehr das Papier wert war.“ Thomas faltete das Schreiben gewissenhaft wieder zusammen. „Hingehen mußt du, sonst gibt's Schwierigkeiten. Aber ganz so leicht entmündigt man keinen.“ Tina breitete die Arme aus. „Willkommen im Club, alter Freund. Mir ist auch ein Psychiater ans Herz gelegt worden. Das muß an der Luft liegen.“ Friedmann senkte den Kopf. „Ich habe aber Angst. Seit dem Brand sagen alle in Willnau, ich hätte das Krähenwäldchen angesteckt. Ich war ja auch oft da. Und wenn ich zu viele Schnäpse hatte - na ja, ich habe auf der Straße gesagt, daß die Strafe Gottes nahe ist und es bald Feuer vom Himmel regnen wird. Und so kommt's auch eines Tages, glaubt mir. Aber ich habe keinen Brand gelegt. Man soll dem Gericht nicht vorgreifen.“ 96
„Hast du auch nicht.“ Thomas sah seine Nichte an. „Denkst du immer noch, daß wir viel Zeit zum Überlegen haben? Den Friedmann steckt niemand in eine Anstalt, nur weil dir für Flämmchen jedes Opfer recht ist!“ Tina drückte die ausgebreiteten Arme gegen den Kachelofen. In ihrer Verwirrung glaubte sie, einen glühenden Körper zu halten. Sie mußte schon nach kurzer Zeit wieder loslassen. Die Hitze war zu groß. Tina sah Friedmann, der ein unnatürlich aufgedunsenes Gesicht hatte und sich an der Ofenbank festklammerte. Gegen ihren Willen begann sie, den Wert von Flämmchen und den von Friedmann gegeneinander abzuwägen. Sie sträubte sich gegen Thomas, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen durchschaute und ihr unterstellte, daß sie ungleiche Gewichte benützte. Tinas Entscheidung war längst gefallen. Sie mußte nur noch ausgesprochen werden: „Gut, Professor Begerich, treten wir den Beweis an.“ Thomas reichte Friedmann den Brief. „Laß dich untersuchen, reiß dich em bißchen zusammen, und mach dir keine Sorgen. Um das Willnauer Geschwätz kümmern wir uns. Es wird sich alles aufklären. Schaffst du's allein, oder soll ich dich nach Hause bringen?“ Friedmann stand energisch auf. Er hatte feuchtglänzende, rebellische Augen. Plötzlich schwankte er, als hätte ihn erst die Erleichterung wirklich betrunken gemacht. Er drückte Thomas und Tina die Hand. „Die paar Schritte? Ihr seid echte Freunde. Euch wird die Strafe Gottes nicht treffen.“ „Tröstlich zu wissen“, sagte Thomas, „aber vergiß das Ende der Welt in den nächsten Tagen ein bißchen. Propheten waren schon immer unbeliebt, besonders in ihrem Heimatort. Und ganz so dringend kann es ja nicht sein, sonst würdest du dir nicht so viele Gedanken und Sorgen um deine Zukunft machen. So, nun komm, ich begleite dich doch noch.“ Tina saß wie betäubt auf dem Schaffell. Sie ließ ihren Onkel gehen, obwohl sie ihn gerade jetzt um sich haben wollte. „Heuchler!“ schrie sie die verlassene Teetasse an. „Jahrelang hast du dich nicht um den Friedmann gekümmert, und jetzt bringst du ihn sogar nach Hause. Muß sich um eine Art Solidarität des Alters handeln.“ Es tat gut, ein wenig gehässig zu sein. Dabei vermutete Tina längst, daß es wohl um das oft zitierte Prinzip gegangen war. Jeder hätte Friedmann sein können. Sie wollte es nicht leugnen. Sie war auf eine gewisse Art erleichtert. Der Zwang, Wege zu finden, hatte sich gelöst. Ein Verrat konnte durchaus angenehme Seiten offenbaren. Zumindest würden sich ab jetzt andere um das Problem kümmern und es verantworten, auf welche Weise auch immer. Es gab nun keinen Grund mehr, mit Thomas zu streiten oder ihn leiden zu sehen. Tina stellte sich vor, wie sie Peter beweisen konnte, daß sie nicht schuldig im Sinne der Anklage war und daß er sich getäuscht hatte. Seine Abbitte würde sie dann großzügig entge97
gennehmen. Tina geriet in eine durch logische Argumentation erzeugte Hochstimmung. Doch ihre Euphorie fiel sofort in sich zusammen, sobald sie an Flämmchens zuversichtliche, vertrauensvolle Ahnungslosigkeit dachte. Was immer sie augenblicklich tat, nützte dem einen und ging zu Lasten eines anderen. Eine Wahl treffen zu müssen, war unmenschlich, ganz gleich, wer den Zuschlag erhielt. Tina wartete auf ihren Onkel. Sie wollte von ihm gelobt werden. Thomas nahm seine Nichte noch an der Tür in die Arme. „Wenn du wüßtest, wie erleichtert ich bin. Ich weiß, daß es dir nicht leichtgefallen ist.“ Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Zu oft gewaschene Naturwolle kratzte warm an ihrer Wange. „Ach hör auf“, murmelte sie und hatte plötzlich keine Lust mehr auf einen Heldenstatus. „Bis jetzt kann ich ja wohl nicht viel vorweisen. Sich zu entscheiden, ist einfach. Nachher dazu stehen, das ist das Problem.“ Thomas strich ihr über den Kopf und löste dabei versehentlich ihre Haarspange. Ihr straff nach oben gebundener Pferdeschwanz fiel auseinander. „Du denkst an Flämmchen?“ Tina lockerte die Umarmung. „Sicher! Kannst du mir verraten, wie ich ihm das beibringen soll? Ich war es doch, die ihm erst die Angst davor eingeredet hat. An seiner Stelle würde ich die Welt nicht mehr verstehen.“ Thomas bückte sich nach der Haarspange. „Kannst du Flämmchen denn wirklich nicht begreiflich machen, daß auch du dich gelegentlich irrst? Tagtäglich tischst du ihm da eine unfehlbare Figur auf, die alles im Griff hat, alles regelt. Verlangt er das, oder möchtest du dich nur so sehen?“ „Ich weiß nicht“, sagte Tina nachdenklich, „ich hab' auch Angst um ihn.“ „Angst wovor eigentlich?“ Thomas faßte sie an den Schultern und sah sie eindringlich an. „Man gibt doch nicht gleich das Heft aus der Hand, nur weil man sich helfen läßt.“ Tina fiel plötzlich auf, daß die Jacke ihres Onkels falsch geknöpft war. „Vielleicht hält uns Professor Begerich ja auch für bescheuert“, sagte sie. Thomas' Blick zweifelte. „Das nehme ich nicht an. Leute, die schon viel wissen, glauben meistens auch, daß es noch mehr gibt. Du kannst dir übrigens Zeit lassen. Morgen ist Sonntag, da geht sowieso nichts.“ Tina wandte sich ab. „Da kennst du Flämmchen aber schlecht. Dem kann ich nichts vormachen, der merkt sofort, wenn etwas im Busch ist. Morgen sag' ich's ihm. Und heute nacht schlafe ich im Keller. Du hast doch noch das alte Klappbett. Frieren werde ich bestimmt nicht.“ Die Glühbirne an der Decke des Kellergangs flackerte unruhig. „Macht's auch nicht mehr lange“, murmelte Thomas. Er trug das Klappbett. Tina folgte ihm mit den Wolldecken unter dem Arm, die sie schon bei ihren Übernachtungen im Badezimmer benutzt hatte. Flämmchen schlief zusammengerollt in der hintersten Ecke des Raumes. Er erwachte auch nicht, als Thomas beim Aufstellen des Klappbettes der Bügel aus der 98
Hand rutschte und geräuschvoll zurückschnappte. „Habe ich ihn geweckt?“ Tina sah lächelnd nach dem sanft glühenden Gliederknäuel, das seinen Kopf versteckte. „Nein, keine Sorge.“ Thomas wünschte sehr förmlich gute Nacht. Tina schob das Bett noch näher an Flämmchen heran, ehe sie die Decken auseinanderfaltete, um sich hinzulegen. Die Sprungfedern begleiteten jede noch so kleine Bewegung mit einem knarrenden Geräusch. Sie stützte ihre Wange in die Handfläche und sah Flämmchen beim Schlafen zu. Sie wollte keine einzige Sekunde mehr verschenken. Zum Ausruhen blieb ein anderes Mal noch genügend Zeit. Flämmchen bewegte sich, seufzte zufrieden und richtete sich plötzlich auf. „Oh, du bist da?“ fragte er verschlafen mit dem leisen Zweifel, der zwischen Traum und Erwachen stand. „Ja, ich bin da“, flüsterte Tina. „Schlaf jetzt weiter.“ Flämmchen schloß gehorsam die Augen. „Ach, ich bin doch froh, daß ich nicht gelöscht wurde. Wenn ich überlege, was für wunderbare Dinge mir da entgangen wären ...“ Die Situation hatte sich umgekehrt: Als Tina erwachte, wurde sie von Flämmchen betrachtet. Er lag auf dem Bauch und stützte sich auf die Ellenbogen, das Kinn in den Händen. Seine Glut war hell und sein Blick voll freudiger Erwartung und Zuneigung. Tina schloß rasch wieder die Augen. Sie fühlte sich Flämmchen noch nicht gewachsen. Sie mußte erst eine Nacht verarbeiten, die sie unruhig mit verschlüsselten Träumen hinter sich gebracht hatte. „Schläfst du wieder?“ fragte Flämmchen. Tina ließ die Augen geschlossen, aber ihren Lippen entglitt ungewollt ein Lächeln. „Nein, ich bin gerade dabei aufzuwachen. Also gönn mir noch einen kleinen Moment Ruhe.“ Es klopfte. Thomas blickte in den Kellerraum. „Guten Morgen, ihr zwei“, begrüßte er mit großer Selbstverständlichkeit die eine Person, die er sah. Tina stöhnte ohne Groll. Soeben hatte unwiderruflich der Tag begonnen. Thomas strahlte eine Frische aus, die sonst nur in Werbesendungen beschworen wurde und Tina immer suspekt war, weil sie etwas Unnatürliches hatte. In der Hand hielt er eine große Tasse, die nach Kaffee duftete. „Was macht Flämmchen?“ Tina setzte sich auf. „Er schaut dich an“, sagte sie und nahm die Tasse. „Wahrscheinlich ist er froh, daß du mich endlich geweckt hast. Was verschafft mir denn die Ehre, den Kaffee ans Bett gebracht zu bekommen?“ Thomas streckte die Hände aus und tastete sich wie ein Blinder an Flämmchens Wärme heran. „Aha, da steckst du also.“ 99
Das glühende Wesen wich mit erschrockener Miene zurück. „Sag ihm, er soll aufpassen. Morgens bin ich besonders heiß.“ Thomas wandte sich an Tina: „Peter hat angerufen. Im Sonntagsblatt stand wohl ein ausführlicher und kräftig aufgebauschter Bericht über den Waldbrand. Den Rest kannst du dir denken. Peter will herkommen. Er war sehr heftig. Ich bin ein rotes Tuch für ihn, er traut mir nicht über den Weg. Ich mußte zusagen, sonst wäre er vermutlich mit einer Polizeistreife vorgefahren.“ Tina trank gelassen ihren Kaffee. „Das ist schon in Ordnung. Er soll nur kommen. Wenn er sich freiwillig den Schock seines Lebens holen will, soll mir das recht sein.“ Flämmchen hielt den Kopf schief und spielte mit den Fingern. „Ich hab' aber keine große Lust mehr, dem Peter zu begegnen.“ Tina lachte. „Und wie du ihm begegnen wirst. Ich verspreche dir: Das wird der Spaß deines Lebens. Das Versteckspiel ist zu Ende. Du bist da, mit derselben Berechtigung wie alle anderen auch. Ich hab's satt, mich zu schämen, nur weil mein Freund etwas aus dem Rahmen fällt.“ Flämmchen betrachtete eingehend seinen glühenden Körper. „Etwas? Ich weiß nicht. Ach, es klingt schön, was du da sagst, aber auch gefährlich.“ Tina wagte keinen weiteren Vorstoß. Sie sah in Peter plötzlich eine Chance, Flämmchen behutsamer an die neue Situation heranzuführen. „Verlaß dich auf uns“, sagte sie. „Du wirst sehen, es ist gut so. Schließlich sind doch wir im Recht und nicht die anderen! Was verstecken wir uns also dauernd?“ Die Jeans war zu eng. Tina bemerkte beim Hinsetzen, daß an den Hüften das Garn der Nähte sichtbar wurde. Sie hatte sich zum ersten Mal in Willnau geschminkt. Thomas akzeptierte zwar den schwarzen Lidstrich und das Rouge, aber er mißbilligte die wie eine zweite Haut anliegende Hose. Er tat es ohne Worte. Ein Wechsel im Spiel seiner Augenbrauen und ein gezielter Blick genügten. Tina hatte sich nicht zurechtgemacht, um Peter zu beeindrucken, sie wollte sich selbst gefallen. Die für Flämmchen demonstrierte Zuversicht zersetzte sich während des Wartens immer mehr. Tina brauchte jeden Zipfel Selbstbewußtsein, den sie greifen konnte. Ein angenehmes Spiegelbild war da sehr beruhigend. Thomas stand am Fenster. Tina sah auf seinen leicht gebeugten Rükken. Sie fragte sich, ob sie diesen Schultern nicht zuviel zumutete. „Er kommt!“ Thomas trat von der Gardine zurück. „Jetzt tu, was du willst, aber laß dich nicht in die Defensive drängen. Dein Freund macht ein ziemlich entschlossenes Gesicht. Mir scheint, er sucht eine schnelle Entscheidung.“ Tina stand auf. „Ich auch!“ 100
Ein paar Sekunden herrschte atemlose Stille. Nur die Standuhr tickte. Tina zählte in Gedanken Peters große Schritte über den Hof bis zur Haustür. Beim Klang der Türglocke fuhr sie heftig zusammen, weil sie genau dieses Geräusch angespannt erwartet hatte. „Laß noch“, sagte Thomas, „er muß nicht gleich merken, daß wir seit Stunden nichts anderes tun, als auf ihn zu warten.“ Tina hielt inne. Ungeduldig ließ sie ein zweites, längeres Läuten verstreichen, dann öffnete sie. Ihr erster Angriff war ein prüfender Blick. Peter trug noch ein Pflaster auf der linken Wange und einen Verband am Hals. Seine Augen wirkten weniger entschlossen als seine Kopfhaltung. Eine Spur Betroffenheit mischte sich in das Blau und vertiefte es. „Wir müssen reden“, sagte er. „In aller Ruhe. Die Dinge nehmen Dimensionen an - also ich hatte keine Ahnung, daß es dir so schlecht geht.“ Tina spürte, wie ihr ein besonders kühles Lächeln gelang, das sie schaudern ließ. „Es geht mir großartig. Thomas findet, ich sehe blendend aus.“ Peter drängte sich an Tina vorbei in den Flur. „Dein Onkel interessiert mich wenig. Er würde wohl nicht mal merken, wenn du versteinerst. Er braucht vermutlich 'ne Brille.“ „Aber nur zum Lesen.“ Tina lächelte immer noch, ohne Anstrengung. „Scheiße!“ Peter drehte sich auf dem Absatz herum. „Es geht schon wieder los. Ich kann mit dir nicht reden. Es funktioniert einfach nicht.“ Thomas war aus der Küche gekommen. Er stand da, als wären seine Füße mit dem Parkettboden verwachsen. „Streitet euch nicht wegen mir, es gibt lohnendere Themen. Damit das klar ist: Ich halte mich da raus“, sagte er bestimmt. „Und jetzt kommt, der Flur ist nicht geheizt.“ Tina ging hinter Peter her. Es schien ihr, als unterdrücke er mühsam etwas; seine Schultern bebten leicht. Der Vergleich vom Fels in der Brandung traf zumindest äußerlich nicht mehr auf ihn zu. Tina zog vorerst keine Schlüsse daraus, sie wollte mißtrauisch bleiben. Thomas bereitete den Tee vor. Niemand sprach. Die Ouvertüre war zu Ende, aber der Vorhang blieb einfach unten. Niemand erinnerte sich jetzt noch an seine Noten oder seinen Text. Und jeder hatte Angst davor zu improvisieren. Schließlich schob Peter die noch leere Tasse zur Seite. „Ich bin nicht gekommen, um zu plaudern. Ich will wissen, was ihr zu tun gedenkt. Ohne mich unternimmt hier ja offensichtlich niemand was. Und es muß schnellstens etwas unternommen werden, bevor noch Schlimmeres passiert.“ „Das ist mir auch klar.“ Tina sah an Peter vorbei und beinahe durch die Wand. Sie hatte sich ihre Revanche angenehmer und triumphaler vorgestellt. Es machte keinen großen Spaß zu erkennen, daß Peter ehrlich in Sorge war. „Ich werde mich an einen Fachmann wenden, gleich morgen. 101
Professor Begerich. Ich kenne ihn persönlich.“ Peter atmete laut aus und sackte gleichzeitig in sich zusammen. Jetzt nahm er den Tee an. „Das beruhigt mich sehr. Ein guter Psychiater?“ Tina zog den Kopf ein. „Ein Naturwissenschaftler, Fachrichtung Energie und Strahlung, glaube ich. Ich hoffe, daß er gut ist. Wir werden ihm Flämmchen anvertrauen, es muß einfach sein. Wohl ist mir nicht dabei.“ Peter machte eine irritierte Geste und warf die Tasse um. Der Tee ergoß sich über den Tisch. Die wollene Decke sog den Schwall dunkler Flüssigkeit nur mühsam auf. Thomas nahm schweigend einen Lappen von der Spüle und wischte die Tropfen weg, die sich am Boden sammelten. Peter zitterte. In seinen Augen zeigte sich unverhohlene Angst. „Mein Gott“, stöhnte er, „hier sind wohl alle verrückt geworden, einer mehr als der andere. Welchen Virus hat man euch denn ins Programm gepflanzt? Ich muß hier raus, das ist ja nicht auszuhalten!“ Er sprang auf und griff noch in der Bewegung nach seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing. In seiner Verwirrung fand er den Ärmel nicht, und die Autoschlüssel fielen klirrend zu Boden. Tina sah wie gelähmt zu. Das Wissen darum, daß sie jetzt etwas sagen mußte, machte sie sprachlos. Dieses Mal war sie sorgfältig vorbereitet in das Gespräch gegangen, aber sie erinnerte sich an keinen der vorformulierten Sätze mehr. Thomas stellte sich Peter in den Weg, seine Faust hielt noch den Lappen. „Sie bleiben hier!“ sagte er energisch. „Ich verstehe Ihre Erregung. Aber Sie werden Tina die Chance geben, Ihnen etwas zu zeigen, das die Dinge in einem anderen Licht erscheinen läßt, ob Ihnen das jetzt paßt oder nicht. Danach können Sie uns beide meinetwegen in Handschellen abführen lassen, das heißt, wenn Ihnen dann noch danach ist.“ Peter fiel wieder auf den Stuhl zurück. Er hatte seine Jacke nur halb an, der rechte Ärmel hing leer herab. Tina sah ihm ins Gesicht. Es war eine vollkommen neue Erfahrung für sie, soviel Angst an ihm wahrzunehmen. Sein Blick irrte durch das Zimmer, und seine Hände zitterten. „Bitte“, flehte Tina, „ich kann doch auch nichts dafür, daß zwei und zwei auf einmal fünf ist.“ „Ich will damit nichts zu tun haben“, flüsterte Peter, „egal was es ist.“ „Du hast schon längst damit zu tun, weil du mit mir zu tun hast“, sagte Tina. Sie wartete. Sie brachte sich selbst als letzten Einsatz in das Pokerspiel mit ein, aber sie wußte nicht, wieviel sie noch wert war. „Okay, zwei und zwei sind also fünf...“ Peter zog seine Jacke wieder aus. „Ich warte, das müßt ihr mir schon vorrechnen.“ Während sie die Treppe hinuntergingen, hatte Tina ständig die Vorstellung eines leeren Kellerraumes vor Augen. Seit Flämmchen im Badezimmer getanzt hatte, wußte sie, wie gelenkig er war, und wenn er das Fenstergitter aus der Wand drücken konnte, stünde seiner Flucht nichts 102
mehr im Wege. Ohne Flämmchen würde Peter an seiner bisherigen Sichtweise festhalten, dafür hätte selbst Tina Verständnis gehabt. Auf halber Treppe erlosch die Deckenlampe endgültig. Tina stolperte die letzten Stufen hinunter. Sie griff nach Peters Hand, aber der Druck kam nicht zurück. Thomas hatte die Tür erreicht und öffnete sie. Tina hangelte sich an einem Lichtstrahl entlang, der durch den Spalt fiel. Sie hielt noch immer Peters Hand. Flämmchen sah ihnen erwartungsvoll entgegen. Die Dunkelheit hob ihn strahlend hervor und setzte ihn kunstvoll in Szene. „Mach doch endlich Licht!“ rief Peter. „Was soll das werden, ein Gruselkabinett?“ Thomas knipste die Lampe an. Flämmchen tippte mit der Fußspitze auf den Boden. „Ich bin doch nicht gruselig!“ Peter sah sich um. „Das hier ist kein Fall für einen Naturwissenschaftler, sondern für einen Anstreicher.“ Flämmchen setzte sich und legte den Kopf so weit in den Nacken, daß sein Haar fast den Boden berührte. „Wenn er mich hören könnte, wurde ich mich jetzt entschuldigen. Ich muß ihm sehr weh getan haben.“ „Ich werd's ihm ausrichten“, sagte Tina. „Steh bitte mal auf.“ Sie faßte Peter wieder an der Hand und führte ihn näher an Flämmchen heran. „Spürst du schon etwas?“ Das glühende Wesen wirkte aus Angst vor einer neuen Berührung fluchtbereit. Die Erinnerung schien ihn mehr zu beschäftigen als die Gegenwart. Peter war blaß geworden, das fahle Licht übertrieb die Reaktion. „Ganz heiß - was soll das werden, willst du mich auch noch in den Wahnsinn treiben?“ Tina führte Peters Hand an Flämmchens Körperlinie entlang. Das glühende Wesen breitete willig die Arme aus und spreizte die Beine. Nach anfänglichem Mißtrauen lachte er, als würde er gekitzelt. Peter riß sich los und taumelte rückwärts. Doch Tina fuhr erbarmungslos in ihrem Programm fort, sie wollte ihm keine Atempause gönnen. „Schreib etwas auf diesen Zettel, aber laß es mich nicht sehen.“ Peter kam der Bitte nach, bemüht, den Stift zu halten, ohne dabei zu zittern. Er stellte keine Fragen über den Sinn seines Tuns, sondern schrieb wie in Trance. Thomas löschte das Licht, und Tina las in Flämmchens Schein fehlerlos vor, ohne zu stocken. Eine glühende Hand kam dem Papier zu nahe, der Zettel fing Feuer. Peter sagte nichts, auch nicht, als Tina wieder Licht machte und Wasser auf den glühenden Körper sprenkelte, das dabei deutlich sichtbar verdampfte. Flämmchen schüttelte sich und stieß einen hohen Laut aus: „Also jetzt reicht es aber!“ Peter war der Vorstellung mit großen Augen gefolgt. Seine Arme hingen kraftlos herab. „Wenn das alles ein Trick ist, kannst du in jedem Zirkus der Welt damit auftreten“, sagte er tonlos. „Wenn aber nicht...“ Er ließ den Satz unvollendet. 103
„Gehen wir nach oben“, schlug Thomas vor. „Ich könnte einen Tee vertragen. Es ist auch Stärkeres da.“ Tina bemerkte erst jetzt, daß die Vorgänge im Keller ihren Onkel ähnlich beeindruckt hatten wie Peter. Bis auf das Spüren der Hitze war Thomas nie tiefer in eine mögliche Beweisführung eingestiegen. Tina bedankte sich lächelnd bei Flämmchen, der vergnügt eine Verbeugung andeutete. Dann tastete sie sich als erste durch den dunklen Gang zur Treppe zurück. Peter folgte ihr. Dieses Mal krampften sich seine Finger in Tinas Hand. Peter kippte den ersten Wodka seines Lebens, ungeachtet der Tatsache, daß er Schnaps verabscheute. „Fragt mich jetzt bitte nicht, was ich davon halte. Ich weiß es nicht. Fest steht nur, daß für mich zwei und zwei vier bleiben muß, sonst kippt mein ganzes Programm.“ Tina legte ihren Arm um seine Schultern. Peter zweifelte an sich, und das machte ihn zerbrechlich. „Wo nimmst du die Kraft her, damit fertig zu werden?“ fragte er. „Bist du in eine andere Schule gegangen? Haben sie dir was anderes beigebracht als mir? Dich schmeißt doch sonst alles sofort um. Stattdessen bin ich am Boden.“ Tina küßte Peter auf das Pflaster. „Wenn es nicht so gemein klänge, würde ich sagen, es ist eine tolle Erfahrung, dich so zu erleben.“ „Na, vielen Dank.“ Peter lehnte den Kopf an Tinas Schulter. „Du hast eine merkwürdige Art, dich zu emanzipieren. Kannst du nicht einer Frauengruppe beitreten und Hetzartikel gegen die Männergesellschaft schreiben, so wie alle anderen auch?“ „Das hat doch damit nichts zu tun“, sagte Tina sanft. „Es stört mich nur, daß du dir immer so sicher bist. Für dich ist nicht nur alles ganz einfach, es ist auch noch allgemeinverbindlich. Man kann doch nicht sein ganzes Dasein am Maßstab des Machbaren orientieren. Das Leben ist keine Pflichtübung, die man nach und nach erledigt und bei der man jeden Teilabschnitt abhakt: Schule, Studium, Anstellung, Beförderung, Rente ...“ Peter schenkte sich noch einen Wodka ein. „Du hast ja ein trostloses Bild von mir. Aber wo wir gerade dabei sind: Es macht mich verrückt, daß du mich dauernd umkrempeln willst. Ob du's glaubst oder nicht: Ich bin kein Computer, der sich nach deinen Vorstellungen umprogrammieren läßt. Mich kannst du allenfalls noch etwas zurechtschleifen.“ Tina trank aus Peters Glas und fragte: „Glaubst du eigentlich, daß wir nicht zusammenpassen? Wenn ich uns reden höre, klingt es fast so.“ „Kommt drauf an, was du erwartest“, sagte Peter. „Ich bin kein Typ für Wolke neun, das ist nichts Neues. Aber ich bilde mir ein, dich zu lieben. Wir könnten ein gutes Team sein, vorausgesetzt, wir finden jemals einen Hut, der groß genug ist, daß wir beide drunterpassen. Ich fürchte nur, momentan haben wir ein ganz anderes Problem.“ „Morgen rufe ich Professor Begerich an“, sagte Thomas, der bisher das 104
Gespräch schweigend verfolgt hatte, „dann sehen wir weiter. Zumindest im Augenblick sitzen wir alle im selben Boot und sollten gemeinsam rudern.“ „Gut gebrüllt, Löwe.“ Peter reichte Thomas die Hand. „Ich bin sicher, ich bereue es. Aber jeder Mensch hat das Recht auf einen kapitalen Fehler in seinem Leben. Notfalls springe ich über Bord, das schwöre ich euch jetzt schon.“ „Sie sollten nicht fahren“, sagte Thomas. „Wodka und Aufregung sind eine höllische Mischung. Auch wenn ich Ihnen immer suspekt war, fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich zeige Ihnen sogar das Museum, wenn Sie wollen.“ Tina und Peter hatten sich vorerst gegen das Museum und für einen Spaziergang entschieden. Die Abmachung, ein paar Stunden nicht über Flämmchen zu reden, begleitete sie. Anfangs fiel es Tina schwer, sich daran zu halten, denn die Erinnerung steckte in jedem Detail, selbst in der leeren Milchkanne, die an ihrem Arm pendelte. Es war angenehm, Peters raschen Schritt mitgehen zu müssen. Die milde Luft strömte dabei schneller durch die Lungen. Am Himmel zogen hohe, fein gewobene Federwolken vorbei. Der aufgeweichte Weg wies in ein Niemandsland aus Feldern, das sich bis zu einer Hügelkette am Horizont erstreckte. Tina und Peter versuchten, den Schlamm zu meiden, und gingen hintereinander auf dem spärlichen Gras in der Mitte des Feldweges. „Ich würde gern umkehren“, bat Peter wenig später. „Mir ist schwindelig. Ich vergesse immer, daß ich nicht ganz auf dem Damm bin. Der Arzt hat mich schließlich bis Mittwoch krank geschrieben. Ich dürfte hier gar nicht so rumrennen. Du wolltest doch auch noch Milch holen.“ Tina sah auf die Uhr. Ja, das paßt. Bis wir da sind, ist bestimmt gemolken.“ Sie schob Peter den Arm um die Hüfte, obwohl sie sich nicht die Kraft zutraute, ihn körperlich zu stützen. Frau Bergheim wirkte abgehetzt. „Was für ein Sonntag“, schimpfte sie. „Nicht mal in die Kirche bin ich gekommen.“ Sie reichte Peter nur zerstreut die Hand, als Tina ihn vorstellte, und fuhr unbeirrt fort: „Heute morgen sind sie eingefallen wie die Heuschrecken. Sachverständige von der Versicherung, Leute vom Kreis, Polizei und wieder Fotografen, als hätten die nicht gestern schon genug Asche geknipst. Und hinterher war die ganze Horde noch zum Kaffee da, man kann ja nicht so sein. Was die alles geredet haben, dabei wäre ein Satz genug gewesen, nämlich, daß sie auch nichts Genaues wissen.“ Frau Bergheim unterbrach sich lachend und strich sich die Schürze glatt. „Aber warum schimpfe ich euch dafür aus? Kommt doch rein. Es ist noch Kaffee übrig.“ Frau Bergheim setzte sich mit der Kanne an den Tisch. „Ich hab' gehört, der Friedmann war gestern abend bei euch?“ 105
„Das ist doch nicht zu fassen!“ rief Tina und schüttelte den Kopf. „Hier spricht sich wirklich alles rum. Ja, er war da. Seit ihn jeder für den Brandstifter vom Dienst hält, säuft er noch mehr als vorher. Ehrlich gesagt, ich kann's verstehen.“ „Ach, Gerede ...“ Frau Bergheim reichte Peter eine Tasse. „Wenn alle, die besoffen Unsinn reden oder das Ende der Welt verkünden, auch Wälder in Brand setzen würden, dann gäb's schon lange keinen einzigen Baum mehr.“ Tina war beeindruckt, daß gerade eine der Hauptbetroffenen diesen Standpunkt vertrat. „Mein Onkel wird noch mal mit Professor Begerich reden“, sagte sie. „Irgendeine Erklärung muß es ja geben.“ Sie verplauderten die Zeit. Peter erzählte von seiner Arbeit und hatte Mühe, nicht ständig in seinen Fachjargon zu fallen. Tina richtete Grüße von Albert aus, obwohl er ihr keine aufgetragen hatte. Auf dem Tisch brannte eine Kerze. Sie malte einen hellen Kreis auf die Wachstuchdecke. Tina lehnte sich zurück und überlegte, warum die besten Momente immer in Küchen stattfanden. Herr Bergheim nickte seinen Gästen schweigend zu und nahm die Milchkanne mit. Tina kuschelte sich an Peter. Die Dämmerung und die Ofenwärme im Zimmer erzeugten in ihr eine angenehme Müdigkeit. Es gab keinen vernünftigen Grund, jemals wieder aufzustehen. Schließlich brachen sie doch auf. Es war kalt geworden. Tina legte ihren Arm um Peters Hüfte und schob ihre Hand in seine Jackentasche. Sie vermißte ihre Pudelmütze. Ein paar Sterne blinkten durch die dünne Wolkendecke. Der Mond stand blaß über den Resten des Krähenwäldchens. Es war ein schwermütiger Anblick, der Tina an einige Gedichte aus der Schulzeit erinnerte und ihre Brust verengte. Peter gähnte. „Mann, bin ich kaputt.“ „Bleib doch hier. Wenn du nicht zur Arbeit mußt, kannst du genausogut bei uns schlafen“, sagte Tina spontan. „Mit dir?“ Tina empfand das Aufblitzen in Peters Augen wie eine kurze elektrische Entladung in der Luft. Sie kam aus dem Gleichschritt. Ihre Hand rutschte unwillkürlich aus seiner Jackentasche. „Das geht nicht. Ich muß doch sehen, wie ich Flämmchen den Professor Begerich schonend beibringe. Mir graut davor. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie er reagieren wird.“ „Auch gut, dann komme ich wenigstens zum Schlafen“, sagte Peter und versuchte, sich Tinas kleineren Schritten anzupassen. Unter der Straßenlaterne wurde die ihr vertraute Müdigkeitsfalte über seiner Nasenwurzel sichtbar. „Glaubst du, dein Onkel ist einverstanden? Ich habe ihn bis jetzt nicht gerade mit Herzlichkeiten überhäuft.“ Sie waren in den Hof eingebogen. „Natürlich, du sollst dich doch wie zu Hause fühlen. Oder hätte Thomas 106
besser sagen sollen: wie im Büro?“ Tina ging in die Hocke und spähte durch das Kellerfenster. Flämmchen lag regungslos auf dem Rücken, aber seine Glut leuchtete hell. „Aha, er ist noch wach.“ „Es wäre mir lieber, ich könnte meinem Konkurrenten in die Augen sehen“, murmelte Peter. Er versuchte, das Dunkel hinter dem rostigen Gitter zu durchdringen. „Sei froh, daß du es nicht kannst“, sagte Tina und wandte sich vom Fenster ab. „Ich bin sicher, diese Augen würden auch dich umhauen, ob du willst oder nicht. Und was heißt hier Konkurrent? Flämmchen ist nicht von dieser Welt.“ Peter hakte seine Finger in das Gitter. „Aber er ist auf dieser Welt“, sagte er leise. Peter war früh zu Bett gegangen. Tina hatte ihm ihre Dachkammer und Pandabär Rudi überlassen, einen mehr als unzureichenden Ersatz. Thomas saß in seinem Museum und las bei dem spärlichen Licht einer Nachttischlampe noch immer in dem Buch über die heiße Quelle von Willnau. Er war während der letzten Tage nicht weit gekommen mit seinen Studien. Tina setzte sich einen Augenblick zu ihm. Sie wollte aus seiner Ruhe, selbst wenn sie möglicherweise nur scheinbar war, Kraft für ihr Gespräch mit Flämmchen schöpfen. Sie wartete. Vielleicht schlief Flämmchen längst, wenn sie sich endlich entschloß, in den Keller zu gehen. Aufschub war plötzlich eine unwiderstehliche Verlockung. Doch Tina wußte bereits, daß sie den so erschwindelten Frieden kaum genießen würde. Ihr Herz klopfte nicht im vertrauten Rhythmus. Thomas schlug eine Seite um, blickte kurz auf und nickte seiner Nichte zu. Die Art, wie er weiterlas, machte deutlich, daß er weder in der Lage noch gewillt war, Tina ihre unangenehme Aufgabe abzunehmen. Flämmchen hatte sich sichtlich bemüht, wach zu bleiben. Jetzt empfing er Tina eher zurückhaltend. „Sag's mir, wenn ich mich irre, aber mir kommt es so vor, als hätte sich etwas geändert.“ „Zwischen mir und Peter oder mir und dir?“ fragte Tina gereizt. Die Chance, das Gespräch selbst zu beginnen und ihm sofort die gewünschte Richtung zu geben, war vertan. Flämmchen kam näher. „Das wäre ja dasselbe“, sagte er, „davon spreche ich nicht. Ich meine bloß dieses komische Gefühl da in mir drin.“ „Diesbezüglich kann ich dir nicht weiterhelfen“, wehrte Tina ab. Sie setzte sich auf das Klappbett und legte die Beine hoch. „Zumindest solange du nicht etwas präziser ausdrückst, was dich umtreibt.“ „Ach, tu doch nicht so!“ Flämmchen bewegte die Arme, als versuche er, ein Hindernis zur Seite zu schieben. „Du hast das komische Gefühl doch selbst.“ 107
Tina starrte an die fleckige Decke. Flämmchen trieb sie in die Enge. Es war schwer, nicht mit Wut darauf zu reagieren und auszubrechen. Sie redete mit sich selbst und war sich gleichzeitig bewußt, daß ihr jemand zuhörte: „Es ist schon merkwürdig. Da habe ich mich endlich dazu durchgerungen, Flämmchen meiner Umwelt nicht länger vorzuenthalten. Doch statt erleichtert zu sein, habe ich Angst, ihn zu verlieren.“ „Angst, nur so, ohne Grund - das ist schlimm“, sagte Flämmchen. „Oder denkst du an was Bestimmtes?“ Das Stichwort stand im Raum, vermutlich war es das letzte, das sich Tina anbieten würde. Sie nutzte es: „Wir haben beschlossen, dich Professor Begerich vorzustellen. Er soll untersuchen, was an dir dran ist. Schon allein die Tatsache, daß wir einfach über dich bestimmen, ist widerlich. Ich an deiner Stelle ließe mir das nicht gefallen. Ich könnte es dir nicht übelnehmen, wenn du mir böse wärst und einfach abhauen würdest.“ Flämmchen warf einen Blick auf das Kellerfenster. „Vielleicht tu' ich's“, sagte er, „aber nicht, bevor du's mir erklärt hast.“ Tina beschäftigte sich damit, ihre schmutzigen Schuhe auszuziehen. „Es geht einfach nicht, daß ständig Dinge passieren, für die es keinen erkennbaren Grund gibt. Wir Menschen brauchen immer einen Grund. Da von dir niemand weiß, steht der Friedmann im Verdacht, den Waldbrand gelegt zu haben. Das ist ein schwerer Vorwurf, der Schwierigkeiten mit sich bringen wird. Sachschäden könnte man ja irgendwie wiedergutmachen, bloß ...“ „Das verstehe ich.“ Flämmchens angespannte Zuge lösten sich. Er war erleichtert. „Wenn du wüßtest, wie froh ich bin, daß ich's verstehe. Meine Fehler gehören mir, die muß mir keiner abnehmen.“ Tina verlor die Anspannung zu plötzlich. Ihr wurde übel, und ihre Gliedmaßen lagen wie festgenagelte Fremdkörper auf dem Klappbett. „Hast du jetzt Angst?“ fragte sie schließlich. „Ein bißchen schon.“ Flämmchens Lächeln stand in krassem Gegensatz zu seiner Aussage. „Aber solange du bei mir bist, kann dieser Mensch mit mir machen, was er will. Du mußt sowieso endlich damit aufhören, mich immer glücklich machen zu wollen. Du siehst schon ganz krank aus. Und jetzt möchte ich schlafen, ich bin sehr müde. Morgen muß ich bestimmt die hellste Glut meines Lebens zustande bringen. Ich will euch doch nicht blamieren.“ Tina deckte sich zu und verfolgte fasziniert, wie Flämmchen innerhalb weniger Minuten die Kraft seiner Glut herabsetzte und mit genießerischem Gesichtsausdruck in Schlaf fiel. Er veränderte noch einige Male seine Liegestellung, dann bewegte er sich nicht mehr. Tina blieb lange wach. Sie nahm in Gedanken den kommenden Tag vorweg und betrieb Planspiele, wohl wissend, daß sie spekulierte. Die Möglichkeiten, die sie erwog, hatten viele ähnlich wahrscheinliche Gesichter. Doch die letzte Theorie blieb unvollendet. Tina schlief ein. 108
Der Montagmorgen war offenbar das Datum für eine Zusammenkunft unfreiwilliger Frühaufsteher. Ohne eine Absprache getroffen zu haben, erschienen alle fast zur gleichen Zeit in der Küche. Nur Flämmchen schlief noch, doch verbannt in den Keller vermißte ihn niemand oben im Haus. Peter hatte Schlaffalten im Gesicht. Dort, wo kein Pflaster oder Verband die Haut verdeckte, wuchsen dichte Bartstoppeln. Tina hatte sich in ihren Beduinenmantel gehüllt und trug die dicken Winterstiefel, weil sie eiskalte Füße hatte. Die Frage, ob sich das schmutzige Schuhwerk für die Küche ziemte, kam nicht einmal auf. Nur Thomas war bereits angezogen, aber frisch geduscht wirkte er nicht. Schweigend saßen sie um den Tisch herum. In der Mitte lag der Zettel mit Professor Begerichs Adresse und Telefonnummer. Tina fühlte sich wie in einer Runde von Verschwörern. Niemand fragte den anderen, ob er gut geschlafen habe. Nur einer würde diese Frage vermutlich mit ja beantworten: Flämmchen. Das Frühstück fand lediglich in Form von Kaffee und Tee statt. Tina registrierte, daß Peter keinen Zucker mehr nahm. Thomas stellte fest, daß sein Honig zur Neige ging. Keiner wollte von dem Zettel Notiz nehmen. „Wie hat es Flämmchen denn aufgenommen?“ Peter mußte sich diese Frage sichtlich abringen. Tina rührte in ihrem schwarzen Kaffee. Sich deutlich zu erinnern, machte ihr Mühe. „Viel besser als ich gedacht hatte. Er setzt ein solches Vertrauen in mich, daß ich gar keine Luft mehr kriege.“ Thomas stand auf. Er griff nach dem Zettel hinter dem Schutzwall aus Tassen. „Bringen wir's hinter uns“, sagte er, „dann geht's uns wahrscheinlich auch besser. Ich wäre euch übrigens dankbar, wenn ihr euch anziehen würdet. Oder wollt ihr Professor Begerich nachher so begrüßen?“ Weder Peter noch Tina verließen den Tisch. Sie lauschten durch die offene Küchentür auf das Surren der Wählscheibe. In irgendeinem Büro klingelte jetzt das Telefon. Tina hielt sich ungewollt an Peter fest. Thomas nannte zögernd seinen Namen und verlangte nach Professor Begerich. Danach mußte er erst einmal warten. Vermutlich wurde er weiterverbunden. Thomas meldete sich erneut. Mit kurzen Sätzen schilderte er sein Anliegen. Er machte keine Pause und wurde wohl auch nicht unterbrochen. „Sie können jederzeit vorbeikommen“, schloß er. Wenig später hängte er ein. Professor Begerichs Antwort hatte nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Thomas kam in die Küche zurück und trank seinen Tee im Stehen. Sein vorstehender Adamsapfel bebte unter dem einen langen Schluck. „Bin ich froh, daß ich das hinter mir habe“, sagte er inbrünstig. „Wenn ich eines nicht leiden kann, dann ist es, fremde Leute anzurufen und auch 109
noch kreuz und quer verbunden zu werden.“ Tina drückte ihm dankbar den Arm. „Ohne dich wäre ich verraten und verkauft. Ich hätte bestimmt kein Wort herausgebracht. Aber was hat Begerich denn nun gesagt?“ „Er kommt sofort. Er hatte uns sowieso schon in seinem Terminkalender, wegen des Waldbrandes. Einstweilen glaubt er mir wohl nur die Hälfte von dem, was ich erzählt habe, und das wiederum ist höchstens die Hälfte von Flämmchen. Ich kam mir plötzlich so senil vor - Alterswahn! Jedenfalls bedankt sich der Professor im voraus für unsere kooperative Haltung.“ „Oh, bitte“, sagte Tina und klemmte den Teelöffel zwischen die Zähne, „es ist uns doch zu jeder Zeit ein Vergnügen.“ Thomas spülte die Tassen aus. „Zwischen den Zeilen glaubte ich zu hören, daß der Professor der Ansicht ist, wir hätten uns durchaus ein bißchen früher melden können.“ Peter half Thomas beim Auswechseln der kaputten Glühbirne. „Hört ihr auch, wenn es klingelt?“ fragte Tina, die unterwegs zu Flämmchen war. Peter wandte sich auf der wackeligen, schmalsprossigen Leiter um und stützte sich mit der Hand an der Decke ab. „Jetzt werde bitte nicht hektisch, der Mann kann doch nicht fliegen!“ „Hallo Tina!“ rief Flämmchen durch die angelehnte Tür. „Was macht ihr denn für einen Lärm. Da kann ich ja gar nicht mehr schlafen!“ „Du sollst auch nicht schlafen!“ rief Tina und riß die Tür auf. Flämmchens Ruhe fing an, sie wütend zu machen. Er gewann sie aus seinem Vertrauen und warf damit die der Situation angemessenen Ängste ausnahmslos auf Tina zurück. Flämmchen ordnete seine Haare und streckte seinen Körper wie an jedem anderen Morgen auch. Er vergewisserte sich, daß das Wetter schön war, dann wandte er sich an Tina: „Ich weiß nicht, warum du dir solche Sorgen machst. Was kann mir dieser Professor denn tun? Hier bestimmt doch Onkel Thomas, was geschieht - und der hält zu uns.“ Tina stimmte halbherzig zu. In Gedanken war sie längst bei der Frage, was geschehen würde, wenn Flämmchen erst für Öffentlichkeit und Forschung von Interesse wäre. Welchen Stellenwert hätten dann seine eigenen Bedürfnisse noch? Tina wollte Flämmchen wenigstens ein bißchen Angst einjagen. Nur die Gefahr, daß sie dabei nicht das richtige Maß finden und ihn in Panik versetzen könnte, hielt sie davon ab. Flämmchen wirkte in seinem unerschütterlichen Optimismus stark und gleichzeitig sehr leicht angreifbar, denn seiner Zuversicht fehlte die tragfähige Grundlage. „Ich werde jeden verprügeln, der es wagen sollte, dir weh zu tun“, sagte Tina und kam sich dumm dabei vor. Flämmchen drehte sich auf den Zehenspitzen. „Dann vergiß aber nicht, 110
dir gelegentlich selbst eine runterzuhauen. Hoffentlich mußt du mich nicht wieder mit Wasser vollspritzen, das ist scheußlich.“ Peter hatte die Leiter zurückgestellt und stand zögernd an der Tür. Flämmchen begrüßte er nicht. „Weißt du, was mein Alptraum war letzte Nacht? Professor Begerich kam und fand nichts, aber auch gar nichts Außergewöhnliches vor. Ich erwachte schweißgebadet, denn ich hatte gerade angefangen, an diesen Spuk zu glauben.“ Flämmchen warf den Kopf herum. „Meint er etwa mich damit?“ Tina lachte Peter an und sagte mit einer großzügigen Handbewegung: „Wenn du solche Zweifel hast, kannst du ja rasch noch mal testen, ob er da ist.“ Peter rieb über sein Pflaster an der Wange. „Nein danke, mir reicht die Vorführung von gestern. Ich gehe jetzt hoch zu Thomas, Türwache schieben.“ Tina sah aus dem Fenster, dessen untere Kante genau mit den Steinplatten des Hofes abschloß. Vor ihr, nur durch das Gitter getrennt, pickten zwei Spatzen nach Brotresten. Ein Wagen bog in den Hof ein. Drei Männer stiegen aus, unter ihnen Professor Begerich. Tina sah sie näher kommen. Die Spatzen ließen ihr Brot im Stich und flogen auf. Drei Beinpaare gingen dicht am Kellerfenster vorbei, eines hatte ungeputzte Schuhe. Tina trat einen Schritt zurück. Sie krampfte die Hände so fest zu Fäusten zusammen, daß die Nägel sichelförmige Abdrücke in den Handballen hinterließen. Flämmchen seufzte spielerisch: „Ich bin froh, wenn es vorbei ist. Dann kann ich wieder was mit dir anfangen.“ Tina verschwieg ihre Befürchtung, daß es von nun an nie mehr vorbei sein würde. Sie lauschte auf die Stimmen im Hausflur, die höfliche Begrüßungsformeln austauschten. Entschlossen ging sie die Situation an. Sie verließ den Raum und trat Professor Begerich im Kellergang entgegen. Es durfte nicht der geringste Zweifel darüber aufkommen, wer hier die Grenzen setzte. Für lange Einleitungen schien Professor Begerich die Geduld zu fehlen. Er stellte lediglich seine zwei Mitarbeiter vor, Namen, die Tina sofort wieder vergaß. Statt dessen fiel ihr auf, daß das Beinpaar mit den schmutzigen Schuhen zu Professor Begerich gehörte. Der Umstand beruhigte sie. Die Menschengruppe und eine Anzahl fremdartig anmutender Gerätschaften fanden ihren Weg in den Kellerraum. Tina schwieg. Sie hatte Respekt vor Technik und Wissenschaft, vermutlich weil sie nicht genug davon verstand und auch keine Neigung verspürte, sich näher damit zu beschäftigen. Jetzt bereute sie den Vorsprung, den sie anderen, auch Peter, bereitwillig gelassen hatte. Flämmchen machte ein etwas erschrockenes Gesicht, denn er konnte Tina, die hinter Peter ging, einen Moment lang nicht sehen. Aber er blieb sitzen, und obwohl seine steif ausgestreckten Fingerspitzen kaum den 111
Boden berührten, stützte er sich mit ihnen ab. Tina nickte Flämmchen beruhigend zu. Sie sah zum ersten Mal einen Geigerzähler im Einsatz. Doch weder das dunkel knisternde Geräusch, das sie vom Fernsehen her kannte, noch ein nennenswerter Zeigerausschlag waren erkennbar. Professor Begerich nickte. Die Untersuchung verlief nach seinen Vorstellungen. „Ich möchte die Temperatur messen“, sagte er. „Wo etwa befindet sich denn bitte ...“ Tina deutete in die Mitte des Raumes. „Hier. Aber sparen Sie sich doch die Mühe. Wenn Sie das Ding da hinlegen, nimmt er es schon in die Hand. Ich hoffe, es ist für hohe Temperaturen geeignet.“ Professor Begerich warf Tina einen unangenehmen, kühlen Blick zu. „Bitte, junge Frau, ich stimme mit Ihnen überein, daß wir es hier mit einer sehr außergewöhnlichen Energiequelle zu tun haben, aber wir wollen doch nicht übertreiben.“ Tina stand plötzlich ganz aufrecht, um sich größer zu fühlen. Professor Begerich mochte wissen, was die Welt in den Angeln hielt. Flämmchens im Moment eher zweifelnden Gesichtsausdruck kannte er nicht. „Halten Sie keine Predigt!“ fuhr sie den Professor an. „Tun Sie lieber, was ich Ihnen sage!“ „Bravo, gib's ihm“, flüsterte Peter hinter ihr. Er schaute genau in Flämmchens Richtung, und es schien fast, als könne er ihn sehen. Professor Begerich legte den Meßfühler auf den Boden und trat ein paar Schritte zurück. Um seine Lippen lag ein skeptischer Zug. Flämmchen blickte Tina an, dann streckte er die Hand nach dem Meßfühler aus und hob ihn hoch. Der leuchtend rote Streifen auf der Temperaturskala begann erst langsam, dann immer schneller nach rechts zu wandern. Professor Begerich achtete nicht darauf, obwohl ihm einer seiner Mitarbeiter die ständig steigenden Celsiuswerte zurief. Die Tausend-Grad-Marke war bereits überschritten, und Professor Begerich stand regungslos da. Erst der Ausdruck seiner Augen erinnerte Tina daran, welches Bild der Professor jetzt vor sich hatte: einen aus unerfindlichen Gründen in der Luft schwebenden Meßfühler. Peter grinste taktlos. Er hatte sichtlich Spaß an Professor Begerichs Erstaunen, das noch einen Tag zuvor sein eigenes gewesen war. Thomas rieb sich gleichmütig das Kinn, aber seine Augen glänzten lebhaft. Flämmchen stand etwas ratlos da, den Meßfühler noch immer in der Hand haltend. „Kann ich jetzt loslassen?“ „Sagen Sie ...“ Professor Begerich sprach ungewöhnlich zögernd, „welche Form hat diese Energiequelle, die Sie sehen und wohl auch kontrollieren?“ Tina mußte lachen. Ihre Anspannung löste sich etwas dabei. „Die Energiequelle, wie Sie es nennen, ist ein Er und heißt Flämmchen. Zugegeben: kein sehr origineller Name. Wie er aussieht? Also ich wurde sagen: Ungefähr wie Sie, wenn man sich die Kleider wegdenkt, ein männlicher 112
Menschenkörper mit allem Drum und Dran - nur aus Glut. Bemühen Sie Ihre Phantasie.“ Plötzlich lachten alle, sogar Flämmchen, doch nur Tina hörte ihn. Das glühende Wesen bewegte sich jetzt unbekümmert und im Bewußtsein seiner Unsichtbarkeit. „Nun“, sagte Professor Begerich, „dann wollen wir doch mal sehen, wie wir dem Herrn auf die Spur kommen. Seine Wärme ist unbestritten. Mit Infrarotkamera müßten wir ihn also sichtbar machen können. Auf geht's, meine Herren! An die Arbeit!“ Es war eine ungewohnt gleichartige Spannung, die Tina mit allen anderen verband. Thomas führte Professor Begerich zur Kellertür, durch die der Weg über ausgetretene Steinstufen direkt auf den Hof führte. Peter nahm Tina in die Arme und wirbelte sie herum. „Das hat uns auch keiner an der Wiege gesungen, daß wir es mal mit einem solchen Hausgenossen zu tun haben würden. Ich wollte eigentlich immer einen Hund.“ Er winkte in die Richtung, wo noch vor wenigen Augenblicken der Meßfühler in der Luft geschwebt hatte. Flämmchen winkte scheu zurück. Tina wagte nicht, ihrem Gefühl zu trauen, daß sie wenigstens in diesem Moment wie eine kleine Familie zusammengehörten. Der Keller hatte sich in ein Raumschiff verwandelt. Der Kontrast zwischen den schmutzig-weißen Kellerwänden und den Kameras samt Monitoren und zugehörigem Kabelwerk war atemberaubend. Tina konnte ihre Aufregung kaum bezähmen. Sie bat Flämmchen in eine Ecke, damit er leichter zu orten war. Das glühende Wesen benahm sich geziert wie ein Star, der einem Aufnahmetermin entgegensieht. Die Kamera begann surrend zu laufen. Tina wunderte sich, daß sie so klein war. Sie hatte sich alles viel größer vorgestellt. Außer dem Kameramann und Flämmchen starrten alle in wortloser Erwartung den Monitor an. Die Spannung lief Tina in unregelmäßigen Wellen über die Haut. Dann knackte es, und der Bildschirm zeigte nur noch schwarz. „Das ist die Sicherung“, bemerkte Thomas trocken. „Wir sollten eine Steckdose von oben benutzen, da ist der Stromkreis leistungsfähiger. Haben Sie ein Verlängerungskabel dabei?“ Tina mußte sich setzen. „Zur Hölle mit diesem altersschwachen Bau“, murmelte sie. Die Vorbereitungen begannen erneut, und Flämmchen sah interessiert zu. Er genoß als einziger die Situation. Thomas setzte sich neben Tina und sagte mit einem wissenden Lächeln: „Gebt den Menschen ein Rätsel, und sie werden wie die Kinder. Ich kenne mich da aus.“ Der zweite Versuch wurde von noch größerer Spannung begleitet. Auf dem Monitor zeigte sich ein Fleck. Hellgraue Streifen liefen in rascher Folge darüber hinweg. Dann wurde das Bild deutlicher. „Steh bitte still!“ rief Tina Flämmchen zu, da sie nicht sicher war, ob er oder der Kameramann die Wiedergabe verwackelte. Weil das Bild keine 113
Schatten hatte und durch die verschiedenfarbig umgesetzten Wärmezonen stark verfremdet wurde, blieb nicht viel von Flämmchens menschlichem Aussehen übrig. Kopf und gewellte Haare flossen zu einem unförmigen Klecks zusammen. Doch die Umrisse des Körpers waren deutlich erkennbar, besonders wenn Flämmchen Arme und Beine spreizte. Die Temperaturen schienen nicht konstant zu sein. Das Bild veränderte sich in wechselnden Rhythmen, die sich in Tinas Herzschlag und Atmung wiederfanden. Die höchsten Temperaturen wurden für den Bereich der Augen angegeben. Flämmchen bewegte sich aus seiner Ecke und rutschte aus der Kameraeinstellung. Er war neugierig geworden: „Na, wie bin ich?“ Tina mußte ihn mit einem lauten Ausruf zurückhalten: „Stopp! Wenn du den Apparaten hier zu nahe kommst, gibt es ein Unglück!“ „Schade. Aber gut, ich weiß ja, wie ich aussehe.“ Flämmchen nahm es gelassen. „Die Dinger brennen also auch. Hätte ich nicht gedacht, sie sehen gar nicht danach aus.“ Professor Begerich wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das ist unglaublich! Dynamit! Sprengstoff für Tausende von wissenschaftlichen Theorien. Kommen Sie, meine Herren, führen wir die Untersuchungen zu Ende. Ich brenne darauf, die Ergebnisse im Institut auswerten zu können.“ Das klang zumindest nach einer Gnadenfrist. Tina tippte auf Flämmchens Monitorbild. Er hatte den Sprung in die akzeptierte Wirklichkeit geschafft. Doch was fing die Wirklichkeit nun mit ihm an? Thomas bot sich an, Tee zu kochen, doch Professor Begerich lehnte dankend ab. Alle halfen beim Einladen der Geräte. Tina hielt die Kellertür auf. Zu größeren Anstrengungen reichte ihre Kraft nicht. Der silbergraue Kombi verschluckte ein Symbol des technischen Zeitalters nach dem anderen. Thomas brachte die Rede auf Friedmann, und Professor Begerich versprach, sich persönlich mit der zuständigen Stelle in Verbindung zu setzen. Frau Helms lehnte aus dem offenen Fenster, und sie war nicht die einzige. In lautlosen Lippenbewegungen verarbeitete sie alles Gesehene bereits zu wirkungsvollen Sätzen. „Guten Tag!“ grüßte Peter sie fröhlich. Frau Helms lächelte ertappt, ohne sich zurückzuziehen. Professor Begerich nahm Tina beiseite. „Wir müssen über organisatorische Probleme sprechen“, sagte er. „Glauben Sie, daß Sie dieses - äh - dieses Flämmchen die nächsten Tage hier im Griff haben?“ Tina stutzte, dann klopfte sie Professor Begerich, berauscht von dem plötzlichen Gefühl der eigenen Wichtigkeit, leutselig auf die Schulter. „Keine Sorge, das ist kein Problem. Warum fragen Sie?“ Professor Begerich sah etwas irritiert die Hand auf seiner Schulter an. „Vollständig untersuchen können wir das Phänomen nur bei mir im Institut. Für den Transport brauchen wir ein Spezialfahrzeug. Sie werden 114
verstehen, daß wir auf so etwas wie Ihr Flämmchen nicht eingerichtet sind. Es dauert also ein paar Tage“ „Lassen Sie sich Zeit“, sagte Tina. „Und scheuchen Sie uns bitte die Presse nicht auf. Der Dorfklatsch wird schon schlimm genug werden.“ „Verrammelt die Fenster, verriegelt die Türen“, seufzte Thomas, als er zusammen mit Tina und Peter die Küche betrat. „Der Ansturm der Willnauer wird fürchterlich.“ Er öffnete den Kühlschrank und schüttelte den Kopf. „Auf eine Belagerung sind wir kaum eingerichtet. Aber für heute wird's wohl noch reichen.“ Tina konnte nicht nachvollziehen, daß ihr Onkel jetzt an Essen dachte. Sie war vollkommen davon in Anspruch genommen, sich in einer Situation zurechtzufinden, die sie unzählige Male gedanklich konstruiert hatte und die jetzt eingetreten war, ohne sich an ihre Theorien zu halten. Unsichtbar war Flämmchen ihr trotz aller Schwierigkeiten lieber gewesen. Was nun auf sie zukam, wollte sie sich nicht mehr vorstellen und tat es doch. Gesellschaftlich war sie ab heute völlig rehabilitiert. Peter empfahl ihr keinen Psychiater mehr - er bewunderte sie sogar ein wenig. Thomas zeigte seine Erleichterung über den Stand der Dinge mit einer Wiedergeburt seines alten Humors. Tina saß teilnahmslos zwischen zwei Menschen, die sie liebte, und fühlte sich Flämmchen ferner denn je. Von nun an würden alle an ihm herumzerren und ihn für sich beanspruchen, ohne sein Wesen zu begreifen, angewiesen auf Äußerlichkeiten. Tina fühlte sich diesem Kampf nicht gewachsen und war doch entschlossen, ihn auszufechten. Ein Infrarotbild gab keine Antwort darauf, warum ihr Flämmchen nähergekommen war als alles andere in ihrem bisherigen Leben, näher noch, als sie sich selbst jemals gekommen war. In den nächsten Minuten läutete es mehrfach an der Tür, dann klingelte auch noch das Telefon. „Ich sehe schon, wie ihre Köpfe rauchen“, sagte Thomas grimmig. Er blieb vor Tina stehen. „Du machst so ein trauriges Gesicht, Mädchen, was hast du?“ „Angst“, flüsterte Tina und senkte den Kopf. „Du hast gesagt, daß man das Heft nicht aus der Hand gibt, nur weil man Hilfe annimmt. Aber es ist schon passiert, verstehst du? Flämmchen soll geholt werden, und ich hab' nicht widersprochen, im Gegenteil, alles schien mir richtig und schlüssig. Sicher, ich werde Flämmchen das erklären können, ich kann's sogar mir erklären. Aber das macht es um keinen Deut besser.“ „Du bleibst doch bei ihm.“ Peter streichelte ihre schmale Hand. „Wenn nötig, nehme ich Urlaub und komme auch noch mit. Ich weiß zwar nicht, wie diese Dreiecksbeziehung in Zukunft aussehen soll, aber ich werde den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen. Das war noch nie meine Art.“ Es läutete erneut an der Tür, und dieses Mal hörte es nicht wieder auf. 115
Das Geräusch drang durch die geschlossenen Türen in die Küche. Thomas schlug mit der Faust in die Handfläche. „Na schön, wie ihr wollt. Die Meute soll ihren Knochen haben.“ Tina folgte ihm und lugte durch das Flurfenster. Eine Menschentraube stand vor der Tür, mit bekannten, aber ungewohnt finsteren Gesichtern. Tina hatte sekundenlang die Vision, daß alle Willnauer Fackeln, Knüppel und Forken in den Händen hielten. Thomas riß die Tür auf. „Was soll der Aufstand?“ Einer der Männer trat vor. „Wir müssen dich sprechen, Evers. Was da bei dir passiert, geht wahrscheinlich auch uns etwas an.“ Thomas ließ seinen Blick über die Willnauer schweifen. Er nahm sich Zeit, das machte ihn unangreifbar. „Gut, komm rein“, sagte er dann, „aber die anderen bleiben draußen. Mein Haus ist keine Turnhalle.“ Es folgte eine kurze Beratung der Willnauer Bürgerwehr. Die Stimme von Frau Helms war deutlich herauszuhören. Dann streifte der Sprecher seine Schuhe auf der Fußmatte ab. Tina fiel ein, daß er Erich Hauke hieß und den Hof hinter den Bergheims bewirtschaftete. Thomas bot ihm einen Stuhl an und blieb selbst stehen. „Also, hör zu“, sagte er forsch. „In meinem Haus sind heute Probemessungen gemacht worden. Man nimmt an, daß hier ein Zentrum für Erdstrahlen liegt. Und ehe du mich jetzt fragst, warum ich nicht auf der Stelle ausziehe: Es ist ganz ungefährlich für mich. Das Ausbruchsgebiet für die Strahlen liegt im Steinbruch, und außerdem kommt so etwas nur alle paar hundert Jahre vor, die letzten Augenzeugenberichte über vergleichbare Vorfälle stammen aus dem Jahre 1734. Der nächste Ausbruch dürfte uns wohl nicht mehr betreffen. Ein wissenschaftliches Gutachten folgt in Kürze, ich bezweifle allerdings, daß dich die Lektüre viel weiterbringen wird. Bist du jetzt zufrieden?“ „Donnerwetter!“ Erich Hauke krempelte die Ärmel auf. „Heißt das, die Sache mit dem Steinbruch und der Waldbrand ...“ „Hängen damit zusammen“, vollendete Thomas. „Der Friedmann ist ein Wirrkopf, aber kein Brandstifter. Ihr habt einiges gutzumachen bei ihm. Willst du einen Schnaps?“ Tina stand auf, um die Flasche zu holen und ihr Grinsen zu verbergen. Peter rettete sich in einen Hustenanfall. Erich Hauke kippte den Wodka. „Dann entschuldige, Evers, aber du mußt verstehen, das betrifft auch uns. Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Thomas nickte. „Sicher, aber ihr hättet es auch ohne euer Komitee erfahren. Und jetzt geh mal Bericht erstatten, ehe meine ersten Fensterscheiben klirren. Ihr benehmt euch wie im Mittelalter.“ Erich Hauke schlug den Jackenkragen hoch. „Nichts für ungut“, sagte er. „Ich finde allein raus.“ Tina prustete los, kaum daß sich die Tür hinter Hauke geschlossen hatte. „Wie bist du denn bloß auf diese Story gekommen? 116
Thomas goß sich auch einen Wodka ein. „Ich brauchte nur mein Buch über die heiße Quelle von Willnau zu zitieren und etwas neumodischen Kram hinzuzufügen. Ich denke, jetzt haben wir erst einmal Ruhe. Mein Gott, so rettet man sich von einem Tag zum anderen.“ „Wir sollten anfangen, über unsere Ausreden Buch zu führen“, bemerkte Peter nachdenklich. „Vielleicht gebe ich sie in meinen Computer ein und lass' uns ein paar logische Fortsetzungen ausspucken ...“ In gewohnt moderiger Schäbigkeit lag der Kellerraum in Flämmchens Lichtschein da. Nachträglich präsentierte sich die Episode mit Professor Begerich wie ein Spuk. Selbst die zwei Spatzen waren wieder da und vertrieben sich gegenseitig von den Brotresten. Tina hegte ein fast herzliches Gefühl für den vernachlässigten Kellerraum. Professor Begerich hatte nicht einmal eine deutliche Erinnerung hinterlassen. „Gut, daß es vorbei ist“, sagte sie vor sich hin. Flämmchen zeigte ihr den Rücken. „Ist es denn wirklich vorbei, oder ist nur eine Pause?“ Tina hob ein Stück Drahtband auf, das dem Zusammenhalt gewickelter Kabel gedient hatte. Sie formte einen Ring daraus. Eine Unsicherheit beschlich sie, ähnlich der, die sie damals empfunden hatte, als sie die ersten Meter dicht an der Bande Schlittschuh gelaufen war. „Wie meinst du das denn, Flämmchen?“ Das glühende Wesen drehte sich um, sein Lachen klang fremdartig und hatte nichts mit Heiterkeit zu tun. „Du stellst komische Fragen. Du weißt doch die Antwort. Ihr wollt mich von hier wegbringen, stimmt's?“ „Hör auf, dich im Gedankenlesen zu versuchen“, wehrte Tina reflexartig ab, „das ist selbst für einen wie dich zu schwierig. Kein Mensch will dich von hier wegbringen, du gehörst doch zu uns.“ Flämmchens Augen glühten gleißend hell auf und strahlten dabei eine eisige Kälte aus. Tina fuhr erschrocken zurück. Sie hatte noch nie einen solchen Blick bei Flämmchen gesehen. Sie konnte ihm nicht standhalten, doch sie spürte ihn weiter auf ihrem Gesicht, als hätte jemand ein Brennglas auf ihre Stirn gerichtet. Flämmchen kam einen Schritt näher und blieb stehen. „Ich sage nicht, daß ich Gedanken lesen kann. Aber ich kann gut hören, wenn sich zwei genau vor meinem Fenster darüber unterhalten, was mit mir geschehen soll. Ob du mich im Griff hast, wollte der Professor wissen. Und von organisatorischen Problemen hat er geredet. Weißt du, was du geantwortet hast? Er solle sich Zeit lassen. Was soll ich mit der Zeit, die er sich läßt? Die ist doch nur zum Warten gut - und zum Angsthaben.“ Tina faßte sich an die Stirn. Das Blut schoß ihr in den Kopf und rauschte in ihren Ohren. Sie schämte sich maßlos. Flämmchen hatte sie ertappt, nicht als Folge mißtrauischer Nachforschungen, sondern ganz zufällig. Er wußte nun, daß sie es nicht dabei bewenden ließ, andere täuschen zu 117
wollen - sie belog auch ihn. Und er würde als einziger niemals begreifen, daß manchmal gute Absichten dahintersteckten, oft Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit, selten Böswilligkeit. Flämmchen vertrug keine Kompromisse. Für ihn gab es Dinge, die brannten, und Dinge, die nicht brannten, Wahrheit und Lüge. Dazwischen war absolut nichts. Ein Vertrauen wie das seine kannte keine Nuancen. All das wurde Tina in rasend schneller Folge bewußt, als sie Flämmchen ansah, der nicht einmal eine Entschuldigung von ihr forderte. Tina drückte den Drahtring mit aller Kraft zusammen. „Was soll ich jetzt machen?“ fragte sie kaum hörbar. Flämmchens Blick wurde etwas dunkler und wirkte sofort traurig. „Du sollst nicht mit mir sprechen. Ich muß nachdenken, ob ich das verstehen kann und ob ich es verstehen will. Du sollst es mir nicht erklären. Ich traue dir nicht, ich traue nur noch dem, was ich selbst herausfinde.“ Tina öffnete die Tür und wandte sich noch einmal um. „Hast du jetzt Angst?“ Flämmchen tat, als höre er sie nicht, doch dann antwortete er unvermittelt: „Du machst dir Sorgen, daß ich was anstellen könnte? Nein, du mußt dir keine Sorgen machen. Meine einzige Angst war immer, daß ich dich verlieren könnte, weil ich dich so liebhatte. Aber jetzt ist diese Angst vorbei, denn ich hab' dich nicht lieb, verstehst du?“ Tina schloß leise die Tür von außen. Sie hielt sich am Geländer fest und ging schleppenden Schrittes die Treppe hoch. „Sag nicht, er ist weg“, empfing sie Thomas. „Ich bin weg, wenigstens für Flämmchen“, brachte Tina mühsam hervor. Sie erkannte, daß sie in ein unbekümmertes Gespräch geplatzt war. Das Lachen hing noch in der Luft, und Peter stellte sein vergnügtes Mienenspiel nur langsam auf Besorgnis um. Tina erzählte, was zwischen ihr und Flämmchen vorgefallen war. Sie tat es im Bewußtsein zu stören und hob nicht ein einziges Mal die Stimme. „Nur einen Moment lang hätte ich nicht so verdammt feige sein dürfen“, schloß sie resigniert. Sie setzte sich auf das Schaffell und erwartete Kritik. „Hast du wirklich geglaubt, daß du ihm diese Erfahrung auf immer und ewig ersparen könntest?“ Thomas nahm Tinas kalte Hände in die seinen. „Er soll doch dich lieben und nicht ein Phantom. Ach, Mädchen, ich weiß, es klingt wie ein Kalenderspruch, aber wenn er wirklich so viel für dich empfunden hat, dann soll er jetzt beweisen, wen er mit seiner Zuneigung gemeint hat. Bist du's, dann verzeiht er dir. In fünf Minuten geht so etwas allerdings nicht. Du bittest dir doch immer so gerne Zeit aus. Nun laß sie auch mal einem anderen. Außerdem: Ist er denn wirklich ganz ohne Schwächen, oder sitzt er nur im Glashaus und schmeißt mit Steinen?“ „Er kann eifersüchtig sein“, sagte Tina. „Aber das ist keine Schwäche, zumindest nicht in seiner Situation.“ Thomas nahm ein Fädchen von Tinas Hosenbein. „Ich wünschte, du 118
würdest dir dieselbe Mühe geben, für dich selbst Entschuldigungen zu finden“, sagte er dabei. Tina lehnte ihren Kopf an Peters Brust. Für einen Moment war es möglich zu weinen, ohne sich im Unrecht zu fühlen. Tina nutzte die Gelegenheit und kostete sie aus. „Du hast einen klugen Onkel“, bemerkte Peter ohne den gewohnten Anflug von Sarkasmus. „Ich wundere mich über dich. Bei mir feierst du jeden Schwächeanfall als willkommenes Ereignis. Und ausgerechnet Flämmchen gegenüber entwickelst du einen regelrechten Perfektionismus. Mir wirfst du vor, daß ich das Leben zu simpel sehe, aber Flämmchen macht sich die Dinge auch ganz schön einfach.“ Tina drehte heftig Peters Ring an ihrem Finger. „Was soll das? Du kennst Flämmchen doch gar nicht. Vor ein paar Tagen war er noch ein Hirngespinst für dich. Von seiner Psyche hast du nicht die geringste Ahnung, wie solltest du auch. Also rede nicht darüber. Ich mische mich schließlich auch nicht ein, wenn du ein neues Computerprogramm entwickelst. Und weißt du, warum? Weil ich nichts davon verstehe.“ „Entschuldige“, sagte Peter mit wachsender Ungeduld, „ich ärgere mich bloß. Wieso macht Flämmchen dir Vorwürfe, während er gleichzeitig duldet, daß da drei Leute das Blaue vom Himmel lügen, damit er seine lichte Psyche ausleben kann? Findest du das konsequent? Da steckt der Fehler doch schon im System.“ Tina lächelte plötzlich. Von einer Sekunde zur anderen erlitt sie einen solch heftigen Anfall von Zuneigung für Flämmchen, daß sie überwältigt die Augen schloß und versuchte, nach vergangenen Bildern und Gesprächsfetzen zu greifen, die in wirrem Wechsel an ihr vorbeizogen. Peters Angriff verfehlte dabei sowohl sie als auch Flämmchen. „Du hast leicht reden“, sagte sie schließlich nur. „Du steckst auch nicht alles in Brand, womit du in Berührung kommst. Aber wenn du denkst, daß ich was falsch gemacht habe, stimmt das sicher.“ „Ach was!“ Peter warf den Kopf in den Nacken. „Du hast gar nichts falsch gemacht. Du konntest einfach nicht verhindern, daß Flämmchen mit unserer schnöden Welt zusammenrasselt. Himmel ...“ Peters Blick blieb an der Standuhr hängen. „Ich muß ja noch zum Arzt, den Verband wechseln lassen. Das wird knapp. Kommst du mit, Tina? Wir könnten ja danach noch etwas essen gehen. Es tut dir bestimmt gut, wenn du mal was anderes siehst. Die schnöde Welt hat auch ihre schönen Seiten.“ Der Gedanke war reizvoll und nicht neu. „Um ehrlich zu sein, ich würde gerne“, seufzte Tina, „aber ich bleibe besser hier. Wenn Flämmchen auf dumme Gedanken kommt, kann ich ihn vielleicht bremsen, ehe wir in die nächste Brandkatastrophe schlittern.“ Sie sah Peter an, der sich über die Bartstoppeln strich und etwas von einem elenden Haushalt murmelte, in dem es nicht einmal einen Elektrorasierer gab. 119
„Kommst du zurück?“ fragte sie. Die Nacht gemeinsam mit Peter in der Dachkammer zu verbringen, war sehr verlockend. Peter war berührbar. Ihm konnte man wortlos nahekommen, und um sich an ihm festzuhalten, bedurfte es nur zweier Arme, einfach, selbstverständlich, ohne aneinander vorbeizureden. Alles andere erschien Tina plötzlich als Umweg. Sie spürte ihren Körper wieder, ein fast vergessenes, angenehm unruhiges Gefühl. Sicherlich, auch Flämmchen gegenüber hatte sie bisweilen erotische Empfindungen, doch dank der theoretischen Art verließen sie ihre einsame höhere Ebene nie. Physisch war Flämmchen nicht greifbar, doch Tina wollte körperlich ergriffen werden, und sei es nur, um festzustellen, daß sie noch existierte wie jeder andere Mensch auch. „Weiß noch nicht.“ Peter zuckte die Schultern, strich den Pulloverärmel zurück und sah auf seine Armbanduhr. „Ich habe das blöde Gefühl, daß sich heute abend ein paar teure Arbeitskollegen nach meinem Gesundheitszustand erkundigen und mir bei der Gelegenheit einen Stapel Arbeit auf den Tisch packen werden. Ich ruf dich an.“ Peter gestaltete seinen Aufbruch überhastet. Tina half ihm in die Jacke und streifte dabei sein stoppeliges Kinn. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Haus und legte die wenigen Meter zu seinem Wagen im Laufschritt zurück. Die Zeit hetzte ihn vermutlich weniger als das Bedürfnis, diesen Ort und all seine Umstände wenigstens vorübergehend zu verlassen. Tina verstand sich als einen dieser Umstände. Sie blieb unentschlossen an der Tür stehen, zog fröstelnd die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Es drängte sie, nach Flämmchen zu sehen, aber sie wagte keinen offiziellen Besuch. Sie schlenderte über den Hof. Scheinbar absichtslos passierte sie die Stelle, wo ihr Gespräch mit Professor Begerich stattgefunden hatte. Sie spionierte in schrägem Winkel durch das Kellerfenster. Flämmchen saß aufrecht, den Kopf gegen die getünchte Ziegelwand gelehnt. Seine offenen Augen blickten ins Leere. Tina flüchtete sich in die Frage, warum Flämmchen nirgendwo auch nur die geringsten Rußspuren hinterließ. Was verbrannte er in seiner Glut? War es möglich, daß er eines Tages einfach erlosch? Oder hatte er das ungeheure Reservoir einer Sonne, nur auf einer anderen Basis? Professor Begerich würde all diese Fragen vielleicht einmal beantworten können. Aber wirklich wichtig waren sie Tina nicht, ebensowenig wie die Erkenntnis, daß sie selbst Teil eines wissenschaftlichen Phänomens war. Es erfüllte sie mit Unruhe zu sehen, wie sie und Flämmchen ihre Zeit vergeudeten. Bei Menschen hatte sie Auseinandersetzungen und Lernprozesse nie in dieser negativen Form gesehen, weil sie nicht darüber nachgedacht hatte, wie ungewiß das Maß der zur Verfügung stehenden Zeit war. Flämmchen hingegen gab ihr neuerdings ständig das Gefühl, daß morgen schon alles vorbei sein könnte und daß es die Zukunft, für die sie zu lernen versuchten, vielleicht gar nicht mehr geben wurde. Tina 120
legte ihre Hände auf das Fenstergitter und ließ die Zeit verstreichen. Sie träumte davon, daß Flämmchen ihr wieder einmal eine Zigarette mit dem Zeigefinger anzünden würde. Beim Abendessen rief Peter an. Er sprach leise, und im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Tina spielte die Rolle der Gleichgültigen und gab sich alle Mühe, keine Enttäuschung zu zeigen. Erst als Peter sich verabschiedete, und das Knacken in der Leitung mit dem darauffolgenden Schweigen unmittelbar bevorstand, gab Tina ihre Tarnung kurz entschlossen auf: „Schade, daß du nicht kommst. Ich hätte dich gern bei mir gehabt. Ich möchte dich drücken und endlich herausfinden, wo du kitzelig bist. Ich glaube, ich werde mich heute nacht sehr einsam fühlen. Ich weiß jetzt schon nicht genau, wo ich mit mir hin soll.“ Peter dämpfte seine Stimme noch mehr. „Aha, jetzt, wo du bei Flämmchen abgemeldet bist, habe ich wieder Chancen.“ Tina brachte es nicht fertig, den Hörer aufzulegen. Stumm flehte sie Peter um einen Nachsatz an, und er kam tatsächlich: „Entschuldige, das war ein saublöder Scherz. Du weißt ja, in welchen Situationen ich dazu greife. Was macht Flämmchen?“ „Wie soll ich sagen“, murmelte Tina. Der Hörer in ihrer Hand wurde immer schwerer. „Wenn er ein Mensch wäre, würde ich behaupten, er ist depressiv. Er macht nämlich gar nichts. Ich hoffe aber, er denkt nach, während er trauert. Melde dich wieder.“ Tina hängte ein, um sicherzustellen, daß das Gespräch positiv endete. Dann rief sie kurz entschlossen ihre Eltern an und verabredete sich mit ihnen für das kommende Wochenende. Sie hatte ihre Insel satt. Sie war nicht Robinson, und Flämmchen war nicht Freitag. Noch vor dem Frühstück hatte Tina einen Blick durch das Kellerfenster geworfen und Flämmchen in unveränderter Haltung vorgefunden. Thomas war im Museum. Er traf letzte Vorbereitungen, denn es hatte sich vor wenigen Minuten ein Besucher telefonisch angemeldet. Sie stellte nicht ohne Genugtuung fest, daß ihr Onkel sich wie ein lampenfiebergeplagter Showkandidat benahm und sogar seinen Tee vergaß, der inzwischen eine Viertelstunde gezogen hatte und damit völlig ruiniert war. Tina fühlte sich ausgeruht. Es verursachte ihr Gewissensbisse, daß sie in ihrer Situation, von jedem Alptraum verschont, bis zehn Uhr morgens durchgeschlafen hatte, etwas, das sonst Flämmchen vorbehalten war. Tina saß unschlüssig auf dem Küchentisch. Ihre Trägheit vermittelte ihr ein Gefühl trügerischer Ruhe. Ein unbeschwertes Feriengefühl überkam sie dabei. Sie nahm es hin, denn sie hatte schließlich Urlaub. Im Radio redete jetzt ein Experte über die Gefahren, die sich ergeben, 121
wenn Streichhölzer oder Feuerzeuge kleinen Kindern in die Hände geraten. Es folgte eine Statistik, die mit dem Prasseln eines Zimmerbrandes unterlegt war. Tina riß fluchend den Stecker aus der Dose. Die Ferienvilla verwandelte sich wieder in das, was sie war: ein Haus mit einem Keller, der Flämmchen beherbergte. Tina sprang auf, weil es geläutet hatte. Sie öffnete Thomas' Museumsbesucher, begrüßte ihn hölzern-freundlich und bat ihn herein. Sie gönnte es ihrem Onkel, daß sein Museum endlich Interesse fand, aber sie verzieh ihm nicht, daß dieses Interesse letztlich mit Flämmchen zu tun hatte. Niemand durfte aus diesem Wesen Nutzen ziehen, solange es litt. Thomas bemerkte, daß in der Kanne noch immer das Teenetz hing. „Unverzeihlich! Ich benehme mich wirklich wie ein kleines Kind, das sein selbstgemaltes Bild herzeigt und auf Streicheleinheiten wartet.“ „Und?“ fragte Tina kauend. Sie hielt das Brot so schräg, daß etwas Marmelade auf den Tisch tropfte. „Hast du sie bekommen?“ Thomas zog mit spitzen Fingern das Teenetz aus der Kanne und warf es in das Spülbecken. „Wie man's nimmt. Der Herr schreibt eigentlich an einem Bericht über die Ursachen von Waldbränden.“ Tina wischte die Marmelade mit dem Finger auf. „Du hast ihm doch nicht etwa auch die Geschichte von den Erdstrahlen aufgetischt?“ „Ach wo“, sagte Thomas lachend, „am Ende versteht er noch was davon. Nein, ich habe ihn nur vor den Gerüchten gewarnt, die diesbezüglich im Dorf umgehen, und dann ein bißchen über die Ursprünge unserer Gegend referiert. Mir schien, er war beeindruckt. Verzeih meine Eitelkeit.“ „Geschenkt.“ Tina leckte ihren Finger ab. „Nur schade, daß der gute Mann nie erfahren wird, was in Willnau wirklich den Waldbrand ausgelöst hat. Das wäre doch mal ein neuer Aspekt gewesen, stimmt's? Stell dir die Schlagzeile vor! Mir wird ganz schwindelig bei dem Gedanken. Was denkst du, wird es bringen, wenn ich meine Story an eine Zeitschrift verkaufe? Ich sollte es ernsthaft in Erwägung ziehen, so wäre ich wenigstens meine Geldsorgen los.“ „Flämmchen benimmt sich also unverändert“, sagte Thomas. Tina ließ ihr Brot fallen. „Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich es wirklich nicht verhindern konnte. Als ich Flämmchen kennenlernte, bestand er aus einer Unmenge faszinierender Eigenschaften. Er war fröhlich und unbekümmert, zuversichtlich, vertrauensvoll, offen und verblüffend ehrlich. Wenn ich mir ansehe, was ich aus ihm gemacht habe, meinetwegen auch unter dem Zwang der Umstände - es ist nicht viel von ihm übriggeblieben. Ich möchte wissen, ob Flämmchen von vornherein keine Chance hatte.“ „Du machst zu schnell einen Strich unter die Rechnung“, sagte Thomas. „Ich glaube, du unterschätzt ihn.“ „Das gibt's nicht!“ Tina schob die Gardine zur Seite und rückte ihre tief 122
auf die Nase gerutschte Brille zurecht. „Da kommt der Friedmann - mit Schlips und Kragen.“ Thomas, der gerade neues Teewasser aufgesetzt hatte und noch den Topflappen in der Hand hielt, trat neben Tina ans Fenster. „Unser Dorf wird ihm doch wohl keinen Lorbeerkranz geflochten haben?“ „Ich befürchte, wir werden es gleich erfahren“, sagte Tina. „Er will zu uns.“ Sie ging in den Flur, ohne das Läuten der Glocke abzuwarten. Sie tat es widerwillig. Auch Friedmann verdankte seinen momentanen Aufwind einem geopferten Flämmchen - daß er daran keine Schuld trug, war erst in zweiter Linie entscheidend. Tina konnte ihre Ablehnung nicht aufrechterhalten, als sie Friedmann gegenüberstand. Glückliche Menschen haben eine unwiderstehlich bezaubernde Ausstrahlung. Man kann sie beneiden, aber nicht ablehnen. „Tina, mein Kind, laß dich umarmen!“ Es war auffällig, daß Friedmann nur nach Mottenkugeln und nicht nach Schnaps roch. Tina klopfte ihm auf den Rücken und fühlte dabei teuren Stoff unter ihrer Hand. „Sie sehen aber schnieke aus“, sagte sie, während sie in die Küche gingen. Friedmann grinste und blickte auf seine Schuhe, die kaum getragen waren und ihr Alter nur durch ihre überholte Form verrieten. „Das letzte Mal habe ich so was bei der Beerdigung meiner Frau angehabt“, erklärte Friedmann mit leichter Verlegenheit in der Stimme, „und das ist jetzt fast 30 Jahre her. Ich fühle mich ganz komisch darin, es paßt nicht zu mir.“ Tina widersprach. Sie fand ihn durchaus überzeugend. „Gratuliere, du hast dich rasiert, ohne dich zu schneiden“, scherzte Thomas über die Teekanne hinweg. „Ich fühle mich geehrt, daß du dich für deinen Museumsbesuch so in Schale geworfen hast.“ „Laß die Witze, Evers.“ Friedmann setzte sich auf die Ofenbank, wobei er die Bügelfalten seiner Hose über den Knien etwas hochzog. „Ich war heute morgen in der Stadt wegen dieser sogenannten Untersuchung. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was die da alles mit mir angestellt haben.“ Er ließ seine Worte sprudeln, sein Gesicht rötete sich zusehends. „Wie im Zirkus! Ich mußte mit geschlossenen Augen durch den Raum laufen, die Hände kreisen lassen, den Zeigefinger zur Nasenspitze führen und all so'n Zeug. Dann hat dieser Arzt an meinen Fußsohlen gekratzt und mir mit einem Hammer unters Knie gehauen. Ha, meine Reflexe sind gut, ich hätte ihn fast getreten. Dann mußte ich Bilder anschauen, Farben auswählen und einen Haufen unsinniger Fragen beantworten. Ich sage euch, die sind selber verrückt da. Der Arzt wollte wissen, warum ich an das Ende der Welt glaube.“ „Und?“ fragte Tina, die sich das Lachen kaum noch verkneifen konnte. Friedmann rümpfte selbstbewußt die Nase. „Ich habe ihm geraten, mal in die Bibel zu schauen. Da steht es schwarz auf weiß. Und dann habe ich noch gefragt, ob es strafbar wäre, daran zu glauben. Da war er still. Aber 123
mal Hand aufs Herz, Evers ...“ Er rückte seine großzügig gemusterte, breite Krawatte zurecht und ließ sich von Tina eine Zigarette anzünden. „Was hast du mit den Willnauern angestellt? Sie sind alle ausnehmend freundlich zu mir. Vorhin hat Schulte bei mir geklingelt, obwohl er gar keine Post für mich hatte. Da steckt doch was dahinter. Ich glaube nicht, daß der flammende Geist des Himmels in alle Willnauer Starrschädel gleichzeitig gefahren ist.“ „Ich habe halt auch mal gepredigt“, sagte Thomas, „allerdings auf eine etwas andere Art als du.“ „Alle Achtung, da mußt du aber sehr überzeugend gewesen sein.“ Friedmann spuckte auf seinen linken Schuh, zog ein großes Taschentuch hervor und polierte sorgfältig das schwarze Oberleder. Nach einem prüfenden Blick, dessen Ergebnis offenbar zu seiner Zufriedenheit ausfiel, stand er auf. „Ich muß weiter. Ich bin zum Essen eingeladen, bei der Familie unter mir. Ich kann mir den Namen nie merken, genaugenommen sind es ja auch zwei Namen. Komische Leute, essen kein Fleisch und so, aber immerhin waren sie die einzigen, die mal nach mir geschaut haben, außer euch natürlich. Und in der Bibel heißt es schließlich: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Von einem Trauschein steht da nichts.“ Tina brachte ihn zur Tür, denn Thomas war gerade mit dem Abwiegen von Teeblättern beschäftigt und würde sich durch nichts dabei stören lassen. Der Abschied verlief herzlich, doch Tina konnte eine dumpfe Traurigkeit nicht abschütteln. Sie erlag der Versuchung, rasch einmal durch das Kellerfenster zu schauen. Das rostige Gitter lag mehrere Schritte von der Wand entfernt auf dem Boden. Tina blieb wie angewurzelt stehen. Sie starrte fassungslos auf das Gitter. Gleich zweimal brüllte ihr jemand die Frage ins Ohr, ob sie Flämmchen im Griff habe: Professor Begerich und das glühende Wesen selbst. Als wäre es ihr jemals gelungen, etwas im Griff zu haben. Die Frage war falsch, nicht die Antwort. Tina ging weiter, kniete nieder und sah in ein schwarzes, abweisendes Loch. Es mochte Einbildung sein, daß ihr noch ein Hauch zurückgebliebener Wärme entgegenströmte. Sie streckte ihre Hände in den Kellerraum und kämpfte gegen einen Wirrwarr aus unterschiedlichsten Gefühlen: ein Stück Wut, eine Schlinge aus Selbstvorwürfen und ein Fallstrick aus Angst, alles ohne Anfang und Ende. Sie versuchte ein Plädoyer für Flämmchen und anschließend eines für sich selbst. Als Richterin verurteilte sie sich wegen Untätigkeit. Sie stand vorsichtig auf, weil sie ihren Beinen noch nicht traute. Jetzt brauchte sie einen Komplizen, der ihr einen Teil der Schuld abnahm. Für diese Rolle kam nur Thomas in Frage. Die Haustür war zugefallen, und Tina klingelte Sturm. „Flämmchen ist abgehauen!“ 124
Thomas sagte nichts. Tina konnte ungehindert fortfahren: „Wir waren doch bescheuert! Flämmchen braucht Zeit - Hilfe hätte er gebraucht. Ist dir jemals aufgegangen, wie schnell jemand Rücksichtnahme mit Gleichgültigkeit verwechseln kann? Asbesthandschuhe hätte ich mir kaufen sollen, um ihn schütteln zu können, damit er aufwacht.“ „Beruhige dich, Mädchen“, sagte Thomas und zog Tina in den Flur. „Asbest ist gesundheitsschädlich, und alles hätte bringt uns jetzt nicht weiter. Wir müssen etwas unternehmen, und das möglichst schnell.“ Tina lehnte an der Wand. Sie glitt langsam in die Hocke wie ein herablaufender Tropfen. Die Brisanz der Situation wurde ihr erst jetzt wirklich bewußt. Wenn Flämmchen verzweifelt und ohne Illusionen war, hatte er etwas mit einem entlaufenen Raubtier gemein, er war unberechenbar und damit gefährlich. Die Umwelt mußte geschützt werden. Doch wer bewahrte Flämmchen vor sich selbst? „Wir müssen Professor Begerich informieren“, sagte Thomas und half Tina auf die Beine. „Unsere einzige Chance ist, daß wir Flämmchen vor ihm finden. Du bist im Vorteil, du siehst und hörst ihn. Also mach dich auf die Socken, ich gebe dir ein paar Stunden Vorsprung, ehe ich im Institut anrufe. Das ist aber auch das äußerste Zugeständnis, das ich machen kann.“ Tina nahm wie in Trance ihre Jacke vom Garderobenhaken. „Sei vorsichtig“, bat Thomas eindringlich. „Mit oder ohne Absicht: Flämmchen ist brandgefährlich.“ Tina riß die Tür auf und mußte sich zwingen, nicht zu rennen. Sie wollte sich einen unverfänglichen Anschein geben, wenn sie jetzt wieder einmal den Weg in Richtung Steinbruch einschlug. Nüchtern betrachtet war die Chance sehr gering, daß sich Flämmchen ausgerechnet an den Ort geflüchtet haben sollte, wo sie ihn zuerst suchen würde. Es gab dort kaum Stellen, die als Versteck dienen konnten. Die einzige Möglichkeit bestünde darin, sich in das locker aufgeschichtete Geröll einzugraben. Dann allerdings wäre die Tarnung bis zum Einbruch der Dunkelheit nahezu perfekt, und erst die Nacht würde jeden noch so schwachen Lichtschimmer von Flämmchen sichtbar machen. Tina sah auf die Uhr. Es war kurz vor eins. Thomas würde keine fünf Stunden warten. Sie mußte Flämmchen schneller finden. Sie war jetzt verzweifelt genug, um auf ein Wunder zu hoffen. Zufälle kommen vor, sie können sogar ein Leben verändern. Die große Liebe ist purer Zufall, ebenso wie ein Volltreffer im Lotto oder die Tatsache, daß man nicht zu denen gehört, die mit dem Flugzeug abgestürzt sind. Doch wenn es eines gibt, auf das man sich nie verlassen kann, ist es ein Wunder in der gewünschten Art. Tina sah zum Hof der Bergheims hinüber. Herr Bergheim stand vor der Tür und verabschiedete sich von Thomas' Museumsbesucher. Tina versteckte sich hinter einem mächtigen Busch und wartete regungslos, bis der buntbemalte Wagen weggefahren und Herr 125
Bergheim im Haus verschwunden war. Sie begriff erst jetzt, daß sie befürchtet hatte, der Besucher könne einen Kontrollgang durch den Steinbruch und die angrenzenden Reste des Krähenwäldchens machen. Tina kletterte die Geröllhalde hinunter und versuchte, soviel Gelände wie möglich mit einem Blick zu erfassen. Flämmchen saß ganz offen auf einem Felsblock. Er winkte ihr entgegen. Nichts deutete darauf hin, daß er an Flucht dachte. Er ließ sich mit zurückgelegtem Kopf vom Wind streicheln. Tina nahm minutenlang die Schönheit dieses Anblicks in sich auf. Dann begriff sie, daß sie Flämmchen gefunden hatte. Sie fing an zu laufen und blieb erst stehen, als die Hitze sie dazu zwang. „Hallo Tina“, sagte Flämmchen unbefangen. Er hatte die Unterarme auf die Oberschenkel gelegt und die Hände gefaltet. Tina versuchte, ihre Gedanken wieder in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Sie hatte mit vielem gerechnet, nur nicht mit dem, was sie jetzt vorfand. „Wie geht es dir?“ fragte sie hilflos. „Gut. Ich bin froh, daß du gekommen bist.“ Flämmchen sah Tina unverwandt an. „Du mußt wissen, daß ich hierbleiben werde. Ich gehe nicht zurück in den Keller, und ich gehe auch nicht mit dem Professor.“ Tina wagte einen Einwand: „Was tust du, wenn es schneit oder regnet? Irgendwann fällst du auch sicher wieder jemandem auf.“ Flämmchen schaute in den dunstigen blaßblauen Himmel. „Ach, ich glaube nicht, daß sich das Wetter in der kurzen Zeit ändert, die ich noch hier bin.“ Tina zuckte erst nach ein paar Sekunden zusammen. „Wie meinst du das?“ fragte sie. Ihre Stimme klang belegt. Flämmchen stützte den Kopf in beide Hände und sah mit großen Augen auf die Felswand. Gelassenheit und Resignation kamen sich in diesem Blick sehr nahe. „Ich weiß noch nicht, wie ich das meine. Ich habe da unten im Keller das Denken angefangen, und das Schlimme ist, ich kann gar nicht mehr damit aufhören. Inzwischen habe ich schon viel mehr begriffen, als ich jemals verstehen wollte. Und nicht alles davon ist schön.“ Tina suchte in der Jackentasche nach ihrem Tabak. Der Klebestreifen des Päckchens war abgerissen. „Bist du mir noch böse?“ fragte sie und lenkte sich gleichzeitig mit dem Gedanken ab, daß ihre Jackentasche jetzt voller Krümel sein würde. „Schon lange nicht mehr“, sagte Flämmchen und forderte sanft ihre Aufmerksamkeit zurück. „Das war das erste, was ich begriffen habe. Ich bin nichts Besonderes.“ Er entzündete Tinas Zigarette mit dem Daumen. „Wenn man mal von ein paar Äußerlichkeiten absieht. Warum sollte sich also deine Liebe zu mir von der zu anderen unterscheiden? Ich verlange nicht mehr, auch wenn ich dich ganz brauche - oder gar nicht. Das ergibt keinen Sinn - später vielleicht mal.“ Tina drückte ihre halbgerauchte Zigarette aus. „Ich muß zurück zu Tho126
mas“, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. „Wenn ich nicht rechtzeitig komme, ruft er im Institut an und läßt zur Jagd auf dich blasen. Den Rest kannst du dir denken.“ Flämmchen zog einen Stein zwischen den Zehen hervor, der sich dort festgeklemmt hatte. „Grüß deinen Onkel von mir. Ich freue mich, wenn du wiederkommst.“ „Hast du schon angerufen?“ schrie Tina ihrem Onkel entgegen, der gerade versuchte, das Gitter wieder vor dem Kellerfenster zu befestigen. Thomas legte den Hammer aus der Hand. „Natürlich nicht. Ich bezweifle sogar, daß ich es in zehn Stunden tun würde. Aber wenn ich dich so ansehe ...“ Tina war näher gekommen. Sie konnte ihre Stimme zurücknehmen: „Flämmchen sitzt im Steinbruch, ganz ruhig, ganz versöhnlich, aber ziemlich uneinsichtig. Ich glaube kaum, daß er was anstellen wird, aber er weigert sich auch zurückzukommen.“ Sie verschwieg, daß Flämmchen etwas angedeutet hatte, das sie sich inzwischen nicht mehr vorstellen konnte: sein Verschwinden. Thomas rüttelte an dem Fenstergitter und hielt es in der Hand. „Gut, daß ich ein gebildeter Mensch bin, sonst würde ich jetzt Scheiße sagen.“ Er rieb die Hände aneinander, um sie zu säubern. Tina überlegte, ob sich seine Erbitterung auf seine mangelnden handwerklichen Fähigkeiten oder auf Flämmchens Eigensinn bezog. „Gehen wir rein“, sagte er. „Ich habe heute schon den zweiten Tee zu lange ziehen lassen. Beim dritten Versuch stört mich jetzt nicht mal Friedmanns Weltuntergang!“ Tina legte Briketts nach und schloß das Küchenfenster, obwohl der Wasserkessel auf dem Herd kraftvoll Dampfwolken ausstieß. Es war merklich kühler geworden draußen. „Das Wasser muß sprudelnd kochen“, sagte Thomas entschuldigend. „Peter kommt am Nachmittag. Bevor du mich danach fragst: Ich habe ihm noch nichts erzählt.“ Das Telefon klingelte. Thomas goß Wasser in die Teekanne und machte nicht den Eindruck, als wäre er bereit abzunehmen. Tina ging ans Telefon und meldete sich. Eine weibliche Stimme erklärte ihr, daß sie mit Professor Begerich verbunden würde. Nach einem kurzen Knacken in der Leitung fragte eine tiefe Stimme: „Wie geht es Ihrem Untermieter, Frau Evers.“ Tina kratzte sich ungeniert am Kopf und war froh, daß ihr Gesprächspartner sie nicht sehen konnte. Sie verzichtete darauf zu erfahren, wie Professor Begerich reagieren würde, wenn sie ihm erzählte, daß der Untermieter ausgezogen war. „Es geht ihm gut“, antwortete sie stattdessen wahrheitsgemäß. „Warum 127
fragen Sie?“ „Ich habe mir viele Gedanken gemacht“, kam nach kurzem Zögern die Antwort, „nicht nur über das Phänomen an sich, sondern auch über Sie. Ist Ihnen klar, daß Sie besondere Fähigkeiten besitzen müssen? Das ist natürlich nicht mein Fachgebiet. Ich halte normalerweise nicht viel davon, aber in Ihrem Fall sollten wir vielleicht einen Spezialisten für Parapsychologie und Psychokinese hinzuziehen.“ Tina betrachtete sich beim Telefonieren im Spiegel. Sie fand, daß sie sehr normal aussah. Sie konnte nichts Übersinnliches an sich entdecken. Der Begriff Fähigkeiten paßte nicht zu ihrem Umgang mit Flämmchen, selbst wenn er sinngemäß korrekt sein mochte. „Ich hab' mein Lexikon nicht griffbereit“, sagte sie, um das Gespräch in Gang zu halten. Professor Begerich räusperte sich. „Nun, es gibt eine Wissenschaft, die der Theorie nachgeht, daß Menschen allein durch die Kraft ihrer Konzentration auf Materie einwirken können und ...“ „Ja, ich weiß“, sagte Tina ungeduldig, „aber ich hatte von jeher eine schlechte Konzentration, schon in der Schule. Es war auch nie meine Leidenschaft, Löffel zu verbiegen.“ „Nein, Sie freunden sich lieber mit unsichtbaren, glühendheißen Gestalten an“, unterbrach sie Professor Begerich. „Ich will Sie nicht drängen, es war nur ein Vorschlag. Ich möchte, daß Sie ihn ernsthaft prüfen. Versprechen Sie mir das?“ „Tu' ich“, sagte Tina und hängte ein, ohne zu verstehen, warum sie einem fremden Menschen gegenüber solche Zusagen machte. Sie hatte nicht das Bedürfnis, irgend etwas zu prüfen, denn der Sinn stand ihr nicht nach Ergebnissen. An den Gedanken, daß auch sie langsam zu einem Objekt wurde, mußte sie sich erst gewöhnen, aber gefühlsmäßig brachte sie das Flämmchen näher. „Es ist zum Kotzen“, schimpfte sie. „Jetzt habe ich den Psychiater gerade vom Tisch, da kommt mir dieser Professor Begerich mit einem Parapsychologen. Mir langt's. Mein Privatleben geht niemanden was an, und Flämmchen gehört nun mal dazu.“ „Ein ziemlich abenteuerliches Privatleben“, sagte Thomas. „Leider verschonst du deine Umwelt nicht mit dessen Auswirkungen. Du darfst es den Leuten nicht übelnehmen, daß sie sich wundern. Neugierde ist nun mal menschlich. Sie können Flämmchen nicht so wahrnehmen wie du. Sie sehen nur seine Auswirkungen. Aber laß dich bloß nicht in eine Schublade stecken. Dafür ist mir meine Nichte zu schade.“ Tina starrte aus dem Fenster. „Glaubst du, daß ich etwas an mir habe ich meine etwas, das Phänomene wie Flämmchen anzieht?“ Thomas nahm ihr die Tasse aus der zitternden Hand. „Jeder Mensch hat etwas an sich. Es fällt nur nicht immer gleich spektakulär aus. Das ist alles.“ „Woher nimmst du bloß deine Weisheit, lieber Onkel?“ fragte Tina liebe128
voll spöttisch. Thomas zog die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. „Ich bin ein Eigenbrötler“, sagte er, und ein Hauch von Bedauern mischte sich in seine Stimme. „Ich war nie fähig, feste Beziehungen zu anderen aufzubauen. Das hat mich fast zu einem Forscher gemacht. Ich beobachte die Menschen und mache mir Gedanken über sie, denn gleichgültig sind sie mir nicht. Jeder baut sich seinen Käfig, so gut er kann. Niemand will ernsthaft frei sein.“ Tina griff nach der Hand ihres Onkels. „Fühlst du dich eigentlich einsam?“ Thomas lächelte, und die Falten um seine Augen vertieften sich. „Nein, ich denke nicht. Die Zeiten sind vorbei. Aber bis dahin war es ein weiter Weg. Den möchte ich nicht noch einmal gehen. Ich kann ihn nicht mal weiterempfehlen.“ Peter packte den Kuchen aus, den er auf dem Weg nach Willnau gekauft hatte. „Mit anderen Worten, das Versteckspiel geht wieder von vorne los“, sagte er unzufrieden. „Irgendwann müßt ihr doch zwangsläufig damit auffliegen. Habt ihr keine Angst, daß euch mal die Ausreden knapp werden?“ Tina naschte eine kandierte Kirsche vom Kuchen. „Du verstehst das nicht“, sagte sie. „Flämmchen ist kein Kanarienvogel. Er hat angefangen, sich seiner Persönlichkeit bewußt zu werden. Er definiert sich nicht mehr durch mich, sondern durch sich selbst, eine Entwicklung, die ich nur begrüßen kann.“ „Hallelujah!“ Peter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Eine Grillkohle mit zwei Beinen auf dem Egotrip. Ist ja alles schön und gut: Rechte für glühende Minderheiten, aber die hören da auf, wo sie die Rechte anderer einschränken, ihre Hühnerställe, ihre Wälder und ihre Haut unversehrt zu behalten. Flämmchen kann vielleicht nichts dafür, aber er gehört nicht hierher, nicht in die freie Wildbahn.“ Für Tina war dieser Peter mit seiner festen Überzeugung sehr vertraut. Die Haut, die sich in seinem Gesicht abzulösen begann, unterstrich sein Recht auf eine solche Meinung. Er hatte nur Flämmchens gefährliche Seite erfahren. „Der Herr von Gottes Gnaden hat mal wieder eine seiner Radikallösungen parat“, sagte Tina bitter. „Es muß doch auf dieser großen Erdkugel ein paar Quadratmeter geben, wo jemand wie Flämmchen leben kann, den Steinbruch zum Beispiel. Wen stört er denn da, wenn er sich vernünftig aufführt?“ „Wahrscheinlich gibt es diesen Platz nicht“, warf Thomas ein. „Selbst wenn er nie wieder etwas in Brand stecken würde - er wäre anders, und Andersartigkeit macht den Leuten Angst.“ Tina sah sich plötzlich einer geschlossenen Front gegenüber. „Was 129
schlagt ihr also vor?“ „Du warst doch schon auf dem richtigen Weg“, sagte Peter. „Professor Begerich ist der einzige, der das Problem lösen kann. Flämmchen ist bei ihm bestens aufgehoben.“ „Und ich bei einem Parapsychologen.“ Sie senkte den Kopf. Wieder hatte sie das Gefühl, daß ihr alles entglitt und sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie konnte tun, was sie wollte: Sie geriet immer wieder an einen Punkt, den sie nicht erreichen wollte, obwohl sie längst darauf zumarschierte. Sie hatte ihr ganzes Leben lang versucht, erträgliche Wege der Anpassung zu finden, um jetzt gemeinsam mit Flämmchen vor der Tür zu stehen. Tina hob langsam das Tablett, kippte es und klatschte den Kuchen auf die gehäkelte Tischdecke. Sie wußte nicht, wen oder was sie da zerquetschte, aber die Befriedigung war überwältigend. „Gehen wir's an“, sagte sie, „steckt euch eure Gesellschaft an den Hut. Ich verschwinde mit Flämmchen in den Käfig. Aber ich schwöre euch: Wer wirklich hinter den Stäben sitzt, wird sich noch zeigen.“ „Laß die Trotzreaktionen!“ fuhr Peter sie an. „Du hast das falsche Feindbild. Du hast immer ein Feindbild parat, dem du's in die Schuhe schieben kannst, wenn etwas nicht nach deinem Kopf geht. Aber ich bin nicht dein Feind. Ich suche nur Wege, gangbare Wege! Paßt das in deinen Kopf denn wirklich nicht rein? Tina stand auf, holte einen Lappen von der Spüle und begann, den zerdrückten Haufen aus Teig, Obst und Sahne von der Tischdecke zu wischen. „Sachzwänge“, murmelte sie dabei, „das ist mein Schicksal, ich lande immer wieder da.“ Peter half ihr, die Spuren ihres Wutausbruchs zu beseitigen. „Eben“, sagte er. „Du und Flämmchen seid die normalsten Menschen auf der Welt. Wir landen nämlich alle immer wieder da. Und jetzt setz dich nicht so unter Streß. Sprich noch einmal mit Flämmchen, in aller Ruhe. Wenn er wirklich nicht begreift, daß er seine persönlichen Interessen auch mal zurückstellen muß, ist er für mich eine Null. Dann werde ich keinen einzigen Gedanken mehr an sein Seelenheil verschwenden. Und dich zieh' ich da raus, glaub mir das!“ „Ich setze mich nicht unter Streß“, sagte Tina. „Du setzt mich unter Streß, wie immer.“ Von einer Telefonzelle aus rief Tina Albert in der Kanzlei an. Sie wollte Peter neben Flämmchen nicht auch noch ihren Freund aus Kindertagen zumuten. „Kein leichter Fall“, sagte Albert und deutete damit an, daß er nicht frei sprechen konnte. Er war offensichtlich in Eile. „Du solltest versuchen, dich gerichtlich zu wehren. Ich bezweifle, daß man dir Flämmchen einfach gegen deinen Willen wegnehmen kann. Aber ohne Experten geht es auch vor Gericht nicht. Alles würde wohl davon abhängen, wie hoch 130
sie das Sicherheitsrisiko einschätzen. Ich kann mich mal verdeckt umhören.“ Tina bedankte sich förmlich. Auch Albert hatte nicht den Rat für sie bereit, den sie so dringend brauchte. Die Reihe war wieder an ihr, sie mußte sich selbst entscheiden, aber sie traute ihren eigenen Ansichten nicht. Tina ging zum Wagen. Sie hatte Sehnsucht nach kleinen, überschaubaren Welten. Sie parkte in der Nähe des Bergheimschen Bauernhofes. Die Vorstellung, Flämmchen in der Dunkelheit aufzusuchen, beunruhigte Tina. Vor dem Hintergrund der Nacht hatte Flämmchen immer eine besonders bewegende Wirkung auf sie. Vielleicht schlief er aber auch längst. Sie streifte durch das abgebrannte Krähenwäldchen. Zwischen den Baumskeletten war es auf eine ganz besondere Art still. Es lagen Geräusche in der Luft, aber sie waren nicht vertraut. Tina bemerkte Flämmchen erst, als seine Wärme ihren Körper überströmte. Er stand direkt hinter ihr. „So schnell hatte ich dich aber nicht wieder erwartet.“ „Schläfst du überhaupt nicht mehr?“ fragte Tina. Sie wußte, was passieren würde, und vielleicht geschah es gerade deswegen. Flämmchens Anblick erregte sie bis in die Haarspitzen. Der vor Hitze flimmernde Körper kam sehr nahe. Er wirkte greifbarer denn je. Die besondere Fähigkeit bestand nicht darin, Flämmchen zu sehen. Es war außergewöhnlich, ihn zu übersehen. „Erinnerst du dich an die erste Nacht, als Thomas verreist war und ich dich im Steinbruch besuchte?“ fragte sie, völlig vertieft in diesen Rückblick. „Natürlich!“ Flämmchen wies mit einladender Geste auf das Geröllfeld seines Steinbruchs. „Ich bin sehr stolz, daß wir es bereits zu Erinnerungen gebracht haben. Aber es hat auch was Beunruhigendes, wenn man anfängt zurückzuschauen. Findest du nicht auch?“ Tina schwieg. Flämmchens ruhig überlegener Tonfall machte sie betroffen. Ihr kam der Gedanke, daß er sie vielleicht gar nicht mehr brauchte. Er nahm ihre Anwesenheit so gelassen hin, als sei sie ihm gleichgültig. „Störe ich dich in deinen Gedankengängen?“ fragte Tina, und sie war verlegen dabei. Die Situation gestaltete sich zu neu. Flämmchen saß auf der verbrannten Erde. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen wie jemand, der seine Glieder nach Belieben formen konnte. Aus dem taufeuchten Boden stiegen feine, durchsichtige Nebelschwaden auf, leichter als die kalte Luft und lautlos. „Es gibt nichts, was mir wichtiger wäre als du“, sagte Flämmchen. „Ich fürchte, wir schaffen es nicht, uns den Menschen zu entziehen“, erklärte Tina. „Mein Onkel hat recht. Andersartigkeit macht ihnen Angst, und Angst macht böse, das weißt du ja selbst.“ Flämmchen widersprach nicht. „Es ist schön, daß du wir sagst. Das 131
macht mir wirklich Mut, weißt du.“ Tina wärmte ihre Hände an Flämmchens glühender Brust. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich halte zu dir, egal was passiert. Du und ich gegen den Rest der Welt. Wir werden viel Spaß haben, verlaß dich drauf.“ „Das ist lieb von dir, aber so meinte ich das nicht.“ Flämmchens Glut wurde etwas schwächer. „Den Mut brauche ich, um dir die Wahrheit zu sagen, jetzt, da ich sie weiß.“ Tina zog ihre Hände zurück. Die Kälte des Bodens stieg langsam in ihr auf. Dann bewegte und veränderte sich nichts mehr. Tina saß da wie versteinert. Sie war nicht sicher, ob die Zeit noch weiterlief und ob sie noch atmete. „Du mußt doch nicht so erschrecken!“ Flämmchen riß sie aus ihrer beängstigenden Verwirrung. Er bewegte den Kopf und senkte die Lider. „Es ist nichts wirklich Schlimmes. Wir müssen uns nicht trennen, nein, müssen wir eigentlich nicht.“ Er rieb seine Wange an der Schulter. Das unausgesprochene Aber nahm seinen Worten die tröstliche Wirkung. Tina sah an der Felswand hinauf. In Gedanken kletterte sie und setzte ihre Füße in die silbern schimmernden Ritzen des Gesteins. Vom Gipfel aus betrachtet würde Flämmchen sehr klein aussehen. „Erklär es mir“, bat sie widerstrebend, stützte den Kopf in die Hände und hielt sich dadurch beide Ohren zu. „Du willst es ja gar nicht wissen“, sagte Flämmchen zögernd. Tina nahm die Hände von den Ohren. „Stimmt! Leider ist es völlig unerheblich, was ich will oder nicht. Wir zwei zählen nicht, Hauptsache Ruhe und Ordnung geraten niemals aus dem Gleichgewicht. Also laß hören. Ich bin an einem Punkt, wo ich alles verkrafte.“ „Es wird Zeit, daß ich dahin zurückgehe, wo ich hergekommen bin“, sagte Flämmchen. „Wenn ich's jetzt nicht tue, finde ich vielleicht nie mehr zurück. Und das wäre für uns beide schlimm.“ Tina schlug einen heftigen Trommelwirbel auf ihren Knien, ihre Hände wurden heiß. „Mach's doch nicht so spannend. Wohin gehst du?“ Flämmchen hob den Blick. Er betrachtete Tina mit den forschenden Augen eines Fremden auf der Suche nach mehr als einer flüchtigen Bekanntschaft. „Ich gehe in deinen Kopf zurück, denn da komme ich her. Mir scheint, du hast nicht einmal geahnt, daß ich eine Erfindung von dir bin und damit ein Teil von dir.“ Tina musterte Flämmchen vor den bizarren, verkohlten Gebilden, die der Brand zurückgelassen hatte, dann lachte sie, bis es schmerzte. „Du hast vielleicht Ideen!“ rief sie nach Luft ringend. „Du bist wissenschaftlich dokumentiert. Nicht mal Professor Begerich zweifelt an deiner Existenz, zumindest nicht an deiner körperlichen. Wie sollte er auch? Sei so nett und sieh dich mal um. Das hier war ein Wald, ehe du darin herumgestrolcht bist.“ 132
„Dafür schäme ich mich heute noch“, sagte Flämmchen leise. „Ich hab' nicht bestritten, daß ich da bin. Das wäre dumm. Ich glaube auch nicht, daß Menschen etwas aus nichts machen können. Meine Energie war immer hier, aber ohne dich wäre nie ein Flämmchen daraus geworden. Du wunderst dich sicher, weil du denkst, daß du das gar nicht gewollt hast. Du irrst dich. Niemand lenkt dich von außen. Du kennst dich bloß nicht. Du wolltest lieber mich kennen, dabei ist es dasselbe. Du hast es zugelassen, daß ich mich so selbständig gemacht habe. Und ich bin dir dankbar. Es war schön, ein richtiges Leben zu führen. Aber jetzt muß Schluß sein damit.“ Tina schüttelte heftig den Kopf. Die Haare peitschten ihr ins Gesicht. „Unsinn!“ schrie sie Flämmchen an. „So etwas gibt es nicht! Das ist nun wirklich Hokuspokus. Ich kann ja verstehen, daß du dir Gedanken über deine Herkunft machst, das tun wir mehr oder weniger alle und nennen es Religion. Aber du mußt leider weitergrübeln, du bist auf dem falschen Dampfer.“ „Ich verstehe deine Zweifel nicht“, sagte Flämmchen. „Du tust, als ob ich von etwas völlig Neuem reden würde. Warum glaubst du, sieht die Welt heute so aus und nicht anders? Weil die Menschen Ideen haben und versuchen, sie zu verwirklichen. Manchmal täten sie es besser nicht, aber sie können wohl nicht anders. Und eine Idee kommt von ganz tief innen. Sie hat nichts mit Denken zu tun. Darum lügt sie auch nicht und läßt sich nicht erzwingen.“ Tina lehnte sich zurück. Der Boden unter ihr war weich und nachgiebig. Sie sah in den Sternenhimmel, und der Wind strich kühl über ihr erhitztes Gesicht. „Verrücktsein ist schön“, sagte sie. „Ich fühle mich so leicht. Wer kann mir noch Vorwürfe machen?“ „Ich!“ Flämmchen warf mit einem Erdklumpen nach Tina. „Denn du bist nicht verrückt, nicht mehr als all die anderen, die sich für normal halten. Warum wehrst du dich plötzlich? Kein Professor hat bewiesen, daß ich mit dir rede und Gefühle habe. Daran glaubst du. Nein, das Phantastische beunruhigt dich nicht, sondern etwas ganz anderes.“ Tina richtete sich wieder auf. Sie biß sich in den mit Erde verschmierten Handballen. Sie hatte Angst, schreien zu müssen, obwohl kaum Luft in ihren Lungen war. „Ich kann doch nicht die ganze Zeit über mit mir selbst geredet, mich selbst geliebt haben!“ „Warum nicht?“ Flämmchen lächelte und ließ eine glühende Haarsträhne durch die Finger gleiten. „Das ist doch nichts Besonderes. Ist dir nie aufgefallen, daß jeder Mensch sein Flämmchen hat? Deines ist allerdings das schönste. An deiner Stelle wäre ich sehr stolz. Sieh mich doch an. Bin ich nicht ein Prachtexemplar?“ Tina zog wie eine Malerin Flämmchens Konturen mit den Augen nach. Keine Unvollkommenheit ließ sie stocken. Auch sie lächelte. „Stimmt“, sagte sie, „du bist ein Meisterwerk. Aber du bist eben ein Du und kein 133
Ich.“ Flämmchen fing ihren Blick ein und hielt ihn fest. „Jedes Ich ist gleichzeitig ein Du, Und jetzt tu doch endlich, was du schon immer tun wolltest: Nimm mich in die Arme!“ Tina rutschte ein Stück zurück. „Das geht nicht, das wissen wir doch beide!“ „Es geht“, sagte Flämmchen mit sanfter Bestimmtheit. „Wenn du verstanden hast, was ich dir gesagt habe, dann geht es.“ Tinas Gedanken liefen Sturm gegen die Sehnsucht nach Nähe. Flämmchen war aufgestanden. Er wartete. Tina ging auf ihn zu. Ihr war schwindelig vor Angst. Was für ein Selbstversuch - sie schloß die Augen und ließ sich in die Hitze fallen. Ein Widerstand fing ihren Sturz ab. Mit sanftem Druck legte sich etwas um ihre Schultern. Tina riß die Augen auf und sah direkt in Flämmchens leuchtendes Gesicht. Ihre Hand lag unversehrt in einem glühenden Nacken. Sie drückte ihren Kopf gegen Flämmchens Brust und ließ ihre Finger durch die lodernden Haarsträhnen gleiten, die sich wie heiße Luftströme um ihre Hand wickelten. Flämmchen rieb seine Nase an Tinas Hals und verstärkte den Druck seiner Arme. Er hob Tina hoch und wirbelte sie mit einem übermütigen Schrei herum. „Oh, bin ich erleichtert! Wenn du nicht ganz sicher gewesen wärst, daß du mich bestimmst, hätte ich dich fürchterlich verbrannt.“ Er legte seine Hand um einen Ast, der vom Feuer verschont geblieben war. Es geschah nichts. Alles war anders. „Stimmt es, daß ich mich jetzt von dir verabschieden muß, zumindest von dem, was ich hier sehe?“ fragte Tina unsicher. Flämmchen seufzte tief und streichelte ihre Wange. Er dachte lange nach, ehe er antwortete: „Du mußt dich von mehr verabschieden als von dem, was du hier vor dir siehst. Wenn ich erst wieder an Ort und Stelle bin, gibt es kein Flämmchen mehr, sondern nur noch Tina. Aber ich habe nichts dagegen. Dich mag ich ja. Es gibt andere Menschen, von denen ich nicht so gerne ein Teil wäre.“ Tina berührte Flämmchens Schulter, doch der schleichende Verdacht, daß alles nur eine Täuschung war, wurde stärker. „Es ist zu verdreht, um von Beweisen zu sprechen. Kann es sein, daß ich gleich erwache, und alles war nur ein Traum?“ Flämmchen tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Nein, bestimmt nicht. Du warst noch nie so hellwach.“ „Aha ...“ Tina sah sich unsicher um. „Und wie soll das jetzt weitergehen, ich meine praktisch?“ „Oh, ganz einfach: genauso wie schon mal, nur umgekehrt. Damals bist du gekommen.“ Flämmchen trat zur Seite, und Tinas Hand rutschte von seiner Schulter. „Du brauchst jetzt nur zu gehen.“ Tina hockte mit ausgestreckten Armen am Boden. Sie fühlte sich elend. 134
Aber es gab nur noch eine Richtung, in die sie jetzt gehen konnte. Erkenntnisse ließen sich nicht rückgängig machen, sobald man angefangen hatte, an sie zu glauben. „Du wirst mir verdammt fehlen“, sagte sie rauh. Flämmchen betastete verlegen lächelnd seinen glühenden Körper. „Ich mir auch. Aber wir haben ja jetzt dich. Von den anderen Menschen, die dich lieben, ganz zu schweigen.“ Tina erhob sich. Flämmchen trat zurück. Es fiel ihr erstaunlich leicht, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Untergrund trug. Tina ließ den Wagen stehen und ging ziellos durch die Felder. Sie dachte nach. Sie beobachtete sich. Sie suchte nach Anzeichen. Sie wollte den Moment nicht versäumen, in dem es passierte. Sie war sicher, daß sie es irgendwie spüren würde. Außer einem ständigen Hin und Her zwischen Bedrücktheit und Erleichterung, das schließlich in Verwirrung mündete, empfand sie nichts. Sie fror wie jeder Mensch, der in einer kalten Winternacht ohne Jacke auf einem ungeschützten Pfad zwischen Feldern unterwegs war. Sie konnte die wenigen Lichter von Willnau sehen, die Wärme und Menschen versprachen. Tina fühlte sich noch nicht davon angezogen. Sie hatte den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, aus ihrem Leben eine Schallplatte zu machen und die Nadel genau in der Rille aufzusetzen, in der sie nach Willnau gekommen war, um über sich nachzudenken. Doch das Krähenwäldchen stand nicht wieder auf. Auch das Phantastische unterlag festen Regeln. Tina nickte zufrieden. Es würde ihr nicht gelingen, Flämmchen ungeschehen zu machen. Und nur so bekam alles einen Sinn. Sie ging schneller. Die erste Straßenlaterne war ein lohnendes Ziel. „Du kommst spät“, sagte Thomas. Er zwinkerte dabei. „Peter sitzt schon wie auf heißen Kohlen, er will nach Hause.“ „Worauf wartet er?“ fragte Tina erstaunt. Thomas strich ihr über die Wange und zuckte zurück. „Himmel, bist du kalt. Komm erst mal und wärm dich auf. Worauf er wartet? Nun, wir nehmen beide an, daß du von einer Gipfelkonferenz mit Flämmchen kommst.“ „Ach so - ja ...“ Tina streckte ihre Finger, die in der Wärme angeschwollen waren und zu kribbeln begannen. Ihre Brille beschlug und machte sie fast blind. „Und?“ begrüßte Peter Tina. Er saß vor einem Glas Milch. Thomas hatte keinen Tee auf dem Stövchen, ein Zeichen für das Außergewöhnliche an dieser Situation. Tina bemerkte es sofort. Sie setzte sich und putzte umständlich die Brille mit ihrem Pulloversaum. „Ihr wollt Ergebnisse hören“, sagte sie schließlich. „Na gut, ihr sollt sie haben. Ich weiß nur nicht, ob sie euch gefallen 135
werden.“ Peter leerte das Glas in einem Zug und wischte sich den Bart ab. „Bitte laß jetzt die rhetorischen Feinheiten und komm zur Sache.“ „Flämmchen kehrt nicht zurück.“ Tina genoß die Spannung, aber sehr schnell wurde sie von Ratlosigkeit eingeholt. Sie wußte nicht, wie sie fortfahren sollte. Wenn ihre Geschichte stimmte, dann war diese Wahrheit das letzte, das sie erzählen konnte. „Und?“ Peter wiederholte sich. „Was jetzt?“ Tina zuckte die Achseln. Sie verstand die Frage nicht. „Was soll sein? Wir haben kein Problem mehr, weil wir Flämmchen nicht mehr haben, so einfach ist das.“ „Ach, haben wir nicht?“ Peter knallte das Glas, das er bisher in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. „Soweit waren wir schon einmal, wenn ich mich recht entsinne. Damals hat es nicht funktioniert, und jetzt soll ich das so einfach schlucken?“ „Schrei mich nicht an!“ Tina hob das Glas hoch und setzte es betont sanft wieder auf den Tisch zurück. „Was du glaubst oder nicht glaubst, ist deine Sache. Da kann ich dir auch überhaupt nicht helfen, selbst wenn ich wollte. Ich habe mich von Flämmchen verabschiedet. Wir haben alles besprochen. Du wirst keine Hitzephänomene mehr finden. Freu dich darüber. Das hast du dir doch immer gewünscht.“ „Er hat sich also wieder in Luft aufgelöst“, bemerkte Peter gedehnt. Tina warf ihm einen versonnenen Blick zu. „Nein, er ist nur wieder dort, wo er hergekommen ist, wo er hingehört, wie du es ausdrücken würdest. Aber frag mich nicht, wo das ist. Das würdest du sowieso nicht verstehen.“ „Logisch.“ Peter rückte das leere Glas ein paar Zentimeter weiter. „Ich verstehe ja nie was. Muß ich dumm sein!“ „Ach, Pepelino ...“ Seit Monaten hatte Tina diesen Kosenamen nicht mehr gebraucht. „Glaubst du denn im Ernst, ich verstehe das alles? Aber im Gegensatz zu dir macht es mir nichts aus. Ich muß es nicht verstehen, ich kann es jetzt einfach so sein lassen, wie es ist, zumindest vorläufig. Das ist ein gutes Gefühl.“ „Aha“, sagte Peter nach kurzem Schweigen. „Und das gute Gefühl behältst du für dich. Na schön, wie soll es weitergehen?“ „Muß ich das jetzt auf der Stelle wissen?“ Tina blickte ihren Onkel an. Peter sah zur Uhr. „Nein, mußt du nicht. Aber ich flehe dich an, zieh es nicht unnötig in die Länge. Da ich an deinem Mysterium offensichtlich keinen Anteil haben kann, bin ich leider auf Fakten angewiesen. 0 oder 1, darauf läßt sich was aufbauen. Mit vielleicht fang' ich wenig an.“ „Du mutest ihm schon eine Menge zu“, sagte Thomas, als sie allein waren. Tina streckte die Beine auf dem Schaffell aus. „Mir selbst auch. Das ist 136
der einzige Grund, warum ich nicht vor Scham in den Erdboden versinke. Ich kann es nicht ändern, billiger bin ich für nichts und niemanden zu haben. Das ist okay so, auch wenn's nicht immer Spaß macht.“ Thomas saß im Korbsessel. Er war ihr nahe und doch weit weg wie auf einem anderen Stern. „Kannst du mir sagen, was passiert ist?“ fragte er, ohne zu fordern. Tina rieb sich die Hände vor dem Kachelofen. „Irgendwann sicher“, sagte sie. „Aber nicht heute und nicht morgen.“ Thomas drehte sich in seinem Korbsessel und legte die Arme um die Rückenlehne. „Ich habe viel Zeit.“ Tina flüchtete sich vor ihrer Verlorenheit in praktische Überlegungen: „Was wird Professor Begerich dazu sagen, wenn er erfährt, daß er keine Sensation mehr hat?“ „Er wird auf den Nobelpreis verzichten müssen“, erklärte Thomas. „Ich rede mit ihm, falls du das möchtest. Mir scheint, was heute zwischen dir und Flämmchen passiert ist, geht nur euch beide etwas an. So ist das, es gibt eben Erfahrungen, die sich weder beweisen noch mit jemand teilen lassen, weil sie sich nur auf einen einzigen Menschen beziehen und für niemand anderen Gültigkeit haben. Wir leben zwar alle in derselben Welt und haben deshalb ähnliche Probleme, aber die Möglichkeiten, damit umzugehen, sind vielfältig. Wenn zwei dasselbe sehen, erleben sie nie dasselbe. Tja, Mädchen, in so wenigen Worten läßt sich eine hausbackene Philosophie ausdrücken, für die ich fast ein ganzes Leben gebraucht habe.“ Tina verkroch sich in sich selbst. Es bedrückte sie, daß ihr Thomas mit seinen Worten so nahekam und sich dabei fast widerlegte. „Eine traurige Philosophie“, sagte sie, „sie klingt nach Einsamkeit.“ „Warum denn?“ Nur der Klang von Thomas' Stimme verriet ein Lächeln. „Wenn du Wasser zu Wasser schüttest, bleibt es Wasser. Aber wenn du Regen mit Sonnenschein mischst, erhältst du einen Regenbogen.“ Thomas lachte auf. „Ich glaube, ich sollte ein Büchlein mit Sinnsprüchen schreiben. Ich bin langsam soweit, ich werde alt.“ Er erhob sich schwerfällig aus dem Korbsessel und ließ sich mit einem leisen Stöhnen auf dem Schaffell nieder. „Ich war auch schon mal gelenkiger.“ Tina lehnte ihren Rücken an seine Seite, so daß sie ihn nicht ansehen mußte. „Hältst du es für möglich, daß man in sich selber einen Regenbogen erzeugen kann?“ „Gelegentlich sicher“, sagte Thomas. „Ich hab's anfänglich vielleicht sogar zu oft versucht. Es macht ein bißchen blind, weißt du.“ Tina wandte sich ihrem Onkel zu. „Das war's wohl, was Flämmchen meinte. Und wahrscheinlich habt ihr beide recht. Aber ich kann machen, was ich will: Er fehlt mir jetzt schon.“ „Dabei hast du ihn gar nicht verloren“, sagte Thomas. Tina rückte von ihrem Onkel ab und brachte ihn dadurch aus dem 137
Gleichgewicht. Sie sah zu, wie er sich mit beiden Händen abfangen mußte. „Was weißt du?“ „Ich weiß gar nichts“, betonte Thomas. „Ich kenne dich nur schon sehr lange, und Flämmchen hat mich oft an dich erinnert, besonders an die Seiten, die du der Vergangenheit zuordnest. Aber glaube einem alten Sonderling: Seine persönliche Geschichte hat man immer im Gepäck. So gesehen steckt ein Teil von Flämmchen auch in dir selbst. Und sich selbst kann man nicht verlieren, obwohl man sich ja manchmal alle Mühe gibt.“ Tina half ihrem Onkel wieder auf. „In mir steckt mehr als nur ein Teil von Flämmchen. Aber sag jetzt nichts weiter dazu, du bist schon viel zu nahe dran. Koch uns lieber einen Tee.“ Tina stand außer Atem vor ihrer Wohnungstür. Sie mußte sich erst wieder daran gewöhnen, die Stufen bis in den sechsten Stock hinaufzusteigen. Sie klemmte den Brief zwischen die Zähne und steckte den Schlüssel ins Schloß. Im Treppenhaus war es still. Es fiel schwer, daran zu glauben, daß in diesem Haus tatsächlich Menschen lebten. Vierzehn Klingelknöpfe, vierzehn Briefkästen, die wie von Geisterhand jeden Morgen geleert worden waren, und nirgends ein Laut. Tina wandte sich um und rief etwas die Treppe hinunter. Außer einem hohlen Nachhall kam keine Antwort. Achselzuckend betrat sie die Wohnung. Sie ließ ihre Umhängetasche auf den Boden gleiten und trug die Einkaufstüten in die Küche. Dann warf sie sich in den tiefen Knautschsessel und legte die Beine auf den Glastisch. Erst am frühen Abend, wenn für kurze Zeit Sonne ins Wohnzimmer fiel, würde man wieder die vielen Fingerabdrücke sehen können, die ständig die Glasplatte verunzierten. Sie schob Antragsformulare und Informationsmaterial vom Arbeitsamt zur Seite. Nachdem sie mit einer Nummer versehen worden war, hatte sie drei Stunden in einem Warteraum verbracht. Auch dort war es merkwürdig still gewesen. Tina drehte sich eine Zigarette und betrachtete den Brief von Onkel Thomas. Der Umschlag hatte eine vergilbte, fleckige Farbe und war mit einem Klebestreifen verschlossen. Tina öffnete den Brief mit dem Daumennagel und kniff die Augen zusammen, denn die Schrift ihres Onkels war nahezu unleserlich: Liebe Tina! Ich muß Dir schreiben, weil ich fürchte, daß Du noch immer tung liest und Peter die Lokalmeldungen überblättert. Bis zu sehnachrichten haben wir es noch nicht gebracht, obwohl es eine neue Sensation gibt. Ich bin immer noch nicht sicher, ob 138
keine Zeiden Fernin Willnau es hier je-
mals eine heiße Quelle gegeben hat, aber zumindest jetzt gibt es eine. Sie entspringt im Steinbruch, hat etwa 40 Grad Celsius, und kein Geringerer als der Friedmann hat sie entdeckt. Du kannst Dir vorstellen, was jetzt hier los ist. Ich komme auf meine alten Tage noch mal richtig ans Arbeiten, denn mein Museum ist gefragt wie nie. Ich weiß nicht recht, ob mir das wirklich lieb ist. Ich befürchte, unserm kleinen Dorf steht eine große Zukunft bevor. Dein altes Willnau wirst Du wohl nicht mehr vorfinden, aber ich hoffe trotzdem, daß Du mich bald mal besuchst. Dein Thomas. Tina lehnte sich zurück und schloß die Augen. Dann mußte sie lauthals lachen, bis sie keine Luft mehr bekam. Fast wäre sie der Vorstellung eines Flämmchens erlegen, der tief in der Erde saß, seine glühenden Beine in einem Grundwasserbecken baumeln ließ und ihr zuzwinkerte. Manchmal vermißte sie ihn auch jetzt noch. „Du hast es noch immer nicht verstanden“, sagte sie leise zu sich selbst. Dann wandte sie sich den Antragsformularen zu. Sie wollte den Papierkrieg vom Tisch haben, wenn Peter kam. Schon beim Ausfüllen der Personalangaben schweiften ihre Gedanken ab. Sie kaute an ihrem Kugelschreiber und sah auf das gegenüberliegende Haus. Irgend jemand putzte gerade Fenster. Die vorbeifahrenden Autos verrieten sich durch Motorenlärm. Die Menschen waren bei der Arbeit, bei ihrer Freizeitbeschäftigung, bei Freunden oder Kollegen. Tina war bei sich: liebenswürdiges Neuland, etwas unüberschaubar, aber einladend - nicht zuletzt für andere.
139