Rotraud A. Perner
Darüber spricht man nicht Tabus in der Familie Das Schweigen durchbrechen
scanned by ab corrected by...
8 downloads
846 Views
821KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Rotraud A. Perner
Darüber spricht man nicht Tabus in der Familie Das Schweigen durchbrechen
scanned by ab corrected by ah Das Schweigen durchbrechen Familie hat viele Gesichter: Liebe, Vertrautheit, Wohlempfinden, Glück. Aber auch Scheidung, alltägliche Gewalt oder Beziehungsunfähigkeit. Manche dieser Gesichter gehören zu den bestehenden Klischees, andere zur Realität, wie wir sie täglich erfahren. Rotraud A. Ferner veranschaulicht die häufigsten Ursachen, warum Familie oft nicht funktioniert und legt dabei den Schwerpunkt auf die Sprache: Richtige Kommunikation will gelernt sein. Sie zeigt uns, wie das Sprechen möglich ist, und spricht darüber, worüber »man nicht spricht«. ISBN: 3-466-30486-5 Verlag: KÖSEL Erscheinungsjahr: 1999 Umschlaggestaltung: Kaselow Design, München Umschlagmotiv: Gonzalo Cienfuegos, Fine Art/Superstock
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Wärme, Vertrautheit, sich zurückziehen können, Wohlempfinden – wer würde diese Attribute nicht zu ›der glücklichen Familie‹ zählen? Betrachtet man allerdings Scheidungsstatistiken, Zahlen über die alltägliche Gewalt in den eigenen vier Wänden, zwischenmenschliche Krisen bis hin zur so genannten Beziehungsunfähigkeit, wird klar, dass uns ein fest verwurzeltes Klischee über die Realität hinwegzutäuschen versucht. Sprachlosigkeit bzw. die Unfähigkeit, mit dem Partner oder den Kindern zu kommunizieren, sowie bestehende, aber auch künstlich erzeugte Tabus sind nur einige der Ursachen für schlechte Beziehungen. Rotraud A. Ferner ergänzt die wissenschaftlich fundierte Bearbeitung des Themas durch praxisorientierte Fallbeispiele und zeigt einen Weg, wie Familien lernen können, die Schweigespirale aus Halbwahrheiten, Missverständnissen und Tabus zu durchbrechen.
Autor
Dr. Rotraud A. Perner, geb. 1944, ist Juristin, Sozialforscherin und Psychotherapeutin. Sie arbeitet als Lehrtherapeutin und Gastprofessorin an den Universitäten Klagenfurt und Wien, hat eine eigene psychotherapeutische Praxis und ist Autorin zahlreicher Bücher. Österreichischen Rundfunkhörern ist sie durch ihre Sendungen Du & Ich. Ein Ratgeber für das Leben zu zweit und Lust statt Frust bekannt.
Inhalt EINLEITUNG............................................................................ 6 Formen innerer Emigration...................................................... 7 Dichtestress............................................................................ 10 Wer schweigt, stimmt zu ....................................................... 12 Partnerschaft lernen verboten! ............................................... 14 DAS TABU DER ENTIDEALISIERUNG DER FAMILIE. 16 Erste Täuschung: Motiv Liebe............................................... 16 Zweite Täuschung: Bilderbuchklischees ............................... 19 Ein Käfig voller Narren ......................................................... 21 Dritte Täuschung: Wunschmagie........................................... 23 Säuglingsprivilegien .............................................................. 25 Vierte Täuschung: Kinopropaganda ...................................... 26 Frauen jammern, Männer handeln ......................................... 27 Fünfte Täuschung: Ergänzung ............................................... 29 Allheilmittel Mutter? ............................................................. 31 Der Hang zur Selbsttäuschung............................................... 35 Babyträume............................................................................ 37 Familie als Wertevermittler ................................................... 38 Familie als Heilbringer .......................................................... 42 Wege aus der Idealisierungsfalle ........................................... 44 DAS TABU DER REALITÄTSSICHT ................................. 50 Die Entstehung von Wirksamkeit .......................................... 50 Achtung – Unachtsamkeit – Missachtung – Sabotage........... 53 Sprachgewalt.......................................................................... 55 Familie – eine Gemein-schaft? .............................................. 57 Die Realität der Furcht........................................................... 59 Die Flüche der Eltern............................................................. 63 Das Sprachmonopol der Eltern .............................................. 65 Das Sprechblasenmonopol..................................................... 66 Sagen, was ist......................................................................... 68 Das Verdrängte kehrt wieder ................................................. 71 Politik der Polarisierung ........................................................ 74 DAS TABU DER MACHTLOSIGKEIT ............................... 79 Generationsgrenzen dienen dem Machterhalt........................ 83 Schutz oder Behinderung von Entwicklung?......................... 84 Tabu werden .......................................................................... 88 DAS TABU DER LEBENDIGKEIT.................................... 109 Beglückungsterror................................................................ 111
Ganzheitliche Gesundheit .................................................... 113 Zivilisation........................................................................... 115 Nur Überlebenstechnik? ...................................................... 119 Angstmechanismen.............................................................. 121 Zurück-Haltung.................................................................... 124 Seelenvergiftung .................................................................. 131 DIE LETZTEN TABUS ........................................................ 135 Umgang mit Grenzen – am Beispiel Sexualität ................... 135 Schweigemauern statt klarer Grenzen?................................ 145 Tabu ist die Berührung ........................................................ 148 Tabu ist Verantwortung ....................................................... 154 Tabu ist auch, jemanden im Stich zu lassen......................... 157 Tabus sind Grenzziehungen................................................. 163 Tabu ist das Reden............................................................... 168 TABUBRÜCHE: VERSUCH ODER VERSUCHUNG?.... 169 Klein und hilfsbedürftig....................................................... 172 Ambivalenz des Tabubruchs................................................ 175 Ersatzfamilie Psychotalkshow ............................................. 175 Medien: Lohengrin oder Parzival?....................................... 176 Das auffordernde Du............................................................ 178 Die andere Wirklichkeit....................................................... 180 Wo lassen wir fühlen?.......................................................... 182 Betonierte Menschen ........................................................... 183 Missbrauch der Gäste .......................................................... 185 Missbrauch des Publikums .................................................. 188 Missbrauch der ExpertInnen................................................ 191 Innen – Außen...................................................................... 194 Machtspiele.......................................................................... 196 Der Archetyp der Unschuld ................................................. 198 ENTTABUISIERUNG .......................................................... 200 Schutzhüllen ........................................................................ 201 Dressurakte .......................................................................... 203 Nähe? ................................................................................... 206 Grammatik der Verständigung............................................. 208 Der Konflikt ist der Vater aller Dinge ................................. 210 1. Schritt: Mediation ............................................................ 214 2. Schritt: Exorzismus.......................................................... 216 3. Schritt: Abgrenzung......................................................... 220 Schattenintegration .............................................................. 222 Ausblick............................................................................... 225 LITERATUR ......................................................................... 226
EINLEITUNG
1
. Oktober 1997. Zwei Frauen sind in der Weststeiermark mit dem Auto unterwegs. Ein Mann fährt ihnen nach, beblinkt sie mit der Lichthupe – sie fühlen sich bedrängt, belästigt, gefährdet und betätigen den Polizeinotruf. Als der Mann von den Beamten gestellt wird, versucht er, diesen eine Rohrbombe entgegenzuschmeißen. Dabei werden ihm beide Hände zerfetzt. Bei Durchsuchung seiner Wohnung stellt sich heraus: Ein lang gesuchter Terrorist scheint gefasst worden zu sein, das »Bombenhirn«, das jahrelang Sprengsätze in Briefen an mehr oder weniger prominente Personen versandte, die sich um Ausländerintegration bemühten, und mit Bekennerschreiben Fährten in rechtsradikale Lager legte. Und noch etwas stellt sich heraus: Obwohl der Mann im Hause seiner Eltern lebt, auch regelmäßig deren Mittagsmahl konsumiert, gibt es keine Kommunikation zwischen den Generationen. Weder Vater noch Mutter oder sonst irgendwer wussten, was in den Räumen neben ihnen vor sich ging, niemand durfte diese betreten, auch wurden keine Fragen gestellt … So erleichtert die österreichische »Öffentlichkeit« über die Festnahme des Verdächtigen war, so irritiert war sie über die seltsamen Familienverhältnisse. Tagelang wurde in den Medien gerätselt, welchen Anteil an der augenscheinlichen Sozialphobie des ausschließlich chemie- und physikinteressierten Sohnes wohl die Eltern hätten. Schließlich stellten sich diese »der Öffentlichkeit«: Sie »traten« in der österreichischen Paradetalkshow Vera »auf« – zwei unbeholfene alte Leute, begleitet von einem offensichtlich wohlgerateneren zweiten Sohn, hatten 6
allerdings nichts Aufklärendes zu sagen. Aber das Publikum sah: Das sind ganz normale Menschen wie du und ich und ebenso überfordert, wie wir es wohl alle wären, wenn von einer Sekunde auf die andere die heile Welt – und da vor allem die heile Familienwelt – ins Chaos kippt.
Formen innerer Emigration Ich selbst wurde etliche Male interviewt, was es wohl zu bedeuten hätte, dass sich ein Sohn so total von der Familie abschotte, was da in der Familie wohl schief gelaufen wäre. Und ich versuchte jedes Mal zu verhindern, dass hier ein »Einzelfall« phantasiert werde, sondern aufzuzeigen, dass damit ein gar nicht so seltenes Phänomen vorliege: Ich kenne zu viele Eltern, die es aufgegeben haben, Sohn oder Tochter aufzufordern, sich an die Ordnungsspielregeln der Familie zu halten, und schließlich vermeiden, in das Wohnchaos hineinzuschauen oder hineinzugehen. Ich kenne zu viele Ehemänner, die ihre Gattinnen aus dem Arbeitszimmer hinausjagen, wenn sie nächtelang in ihre Computerwelt oder ins Internet entschweben, oder sie aus der Werkstatt, dem Bastelraum oder der Garage verbannen. Nicht immer ist also Alkohol der verborgene Gefährte der einsamen Stunden. Aus meiner klinischen Erfahrung sind mir vielerlei Hintergründe für diese »Emigrationen« bekannt. Fast immer unterliegen diese aber einem Schweigegebot, einem Wahrnehmungs- und einem Redetabu. Was ich allerdings in mehr als dreißig Jahren psychotherapeutischer Praxis nie beobachten konnte, sind analoge Rückzugsmanöver von Frauen. Frauen »flüchten« höchstens in die Kirche oder ähnliche »Glaubensgemein7
schaften«. Das mag einerseits daran liegen, dass Frauen, die in Familien leben, selten über einen eigenen Raum verfügen und aus anerzogener Konfliktscheu meist auch vermeiden, Raum für sich zu beanspruchen und zu erkämpfen. In einer Untersuchung von Pollack und Gilligan (1982) an Collegestudentinnen wurde darüber hinaus sogar aufgezeigt, dass Männer sich eher durch persönliche Bindungen bedroht fühlten, Frauen hingegen durch Situationen der Isolation. Ich vermute allerdings, dass eine nochmalige Durchführung dieser Befragung zum heutigen Zeitpunkt bereits ein anderes Bild ergäbe, weil viele Frauen zwischenzeitlich gelernt haben – lernen mussten –, mit Situationen des „Alleinseins“, auch des „Verlassenwordenseins“, fertig zu werden, und diese Erfahrung auch anderen Frauen vorleben. Andererseits wurzelt das Phänomen, dass Frauen derartige Flucht- oder Isolierungsstrategien nicht anwenden, sicher darin, dass Frauen größere sprachliche Fähigkeiten besitzen und daher bevorzugt verbale Strategien einsetzen, wenn sie Unstimmigkeiten mit ihren Nächsten erleben. Und dennoch gibt es auch für Frauen Grenzen, wo sie nicht wagen, ihre kritische Stimme zu erheben, wo sie aufgeben, Bedenken zu äußern, oder wo sie von vornherein ihre Aufmerksamkeit abkehren und die Realität verharmlosen, verleugnen, verdrängen. Oft wird vermutet, es wären unerwünschte Gefühle der Scham oder der Schuld, des Hasses oder der Rache, vor allem der Verzweiflung, also des „Hin- und Hergerissenseins“ zwischen unterschiedlichen Intentionen, die Menschen hindern, angstfrei aufeinander zuzugehen. Das stimmt vielfach, aber um Gefühle loslassen zu können, muss man sie ausdrücken und Ausdrucksmöglichkeiten gibt es viele. Unsere genetische Ausstattung bietet uns als archa8
ischste Form des Gefühlsausdrucks alle die, die auch Tieren zur Verfügung stehen: Brüllen, Knurren, Winseln, aber auch Zähne fletschen und Pranken heben, Zubeißen, Zuschlagen und Anspringen. Wir erkennen darin Funktionen des Stammhirns, des ältesten Teils unseres Gehirns: Kämpfen, Unterwerfen, Flüchten, Tot stellen. Ein größeres Verhaltensrepertoire steht auf diesem Entwicklungsniveau nicht zur Verfügung. Erst im jüngsten Teil unseres Gehirns, in der Neocortex – der Großhirnrinde –, liegt unsere Sprachfähigkeit beheimatet, ebenso wie die Fähigkeit, nicht nur im Augenblick, sondern auch in die Zukunft zu denken und damit die Folgen von Handlungen abzuschätzen. Erfordert Sprachbildung bereits komplexere Denkstrukturen, wenn es nicht nur beim unartikulierten Stammeln bleiben soll, so zeigt sich bei wachsender Erregung zunehmend der Verlust von Denk- und Sprachfähigkeit. In Krisensituationen »überlappt« nämlich das Stammhirndenken das Großhirndenken. Gezieltes Training solcher Ausnahmesituationen kann allerdings ermöglichen, dass alternativ zum Stammhirnrepertoire ein wohl durchdachtes Alternativprogramm abläuft. Denn so wie Tiere dressiert werden können, können auch wir stereotype Verhaltensmuster einüben – und tun dies ja auch, vom Feueralarm in der Schule bis zu komplexen Einsatzübungen von Bundeswehr oder gar Staatenverbänden. Ebenso eingeübt ist das Zusammenspiel im Operationssaal oder in einer Raumkapsel. Und wenn im Konzertsaal die Darbietung beginnt, sind unzählige Proben vergangen, die nicht nur dazu dienen, die Interpretation des Dirigenten zu integrieren, sondern auch, bei allfälligen Disstresserscheinungen, Halt in Routineerfahrungen zu finden.
9
Dichtestress Zu den Stress auslösenden Situationen gehört auch große Nähe. Dass physische Nähe Disstress verursachen kann, merken wir daran, dass wir aggressiv werden, wenn uns jemand zu nahe kommt. Üblicherweise haben wir daher relativ früh, spätestens in der Grundschulzeit, gelernt, uns zumindest im Aufzug oder in anderen Verkehrsmitteln »zurückzuhalten«. Wir vermeiden dann jede Bewegung, ziehen unsere Aufmerksamkeit von den Nächststehenden ab und kehren den Blick nach innen und signalisieren so, dass wir keinerlei Kontakt wünschen. Wir ignorieren damit die oft unvermeidlichen Berührungen. Und weil anzunehmen ist, dass wir diese gesellschaftliche Spielregel einhalten werden, nützen Frotteure – Männer, die sich durch Reibung an »Wehrlosen« sexuell erregen oder auch befriedigen – das weidlich aus. Bei anderen Formen von Dichtestress üben wir uns allerdings nicht im Totstellen. Überbelegung in Wohnungen, Büros oder Schulräumen erhöht die Aggressionsbereitschaft ebenso wie die Ansammlung von Familienmitgliedern an Wochenenden, Feiertagen oder im Urlaub. Wenn dann die liebe Familie noch stundenlang im Auto zusammengepfercht schwitzt, entlädt sich meist die aufgestaute Spannung je nach Machtposition in »Schabernack«, Nörgelei oder Wutausbrüchen. Und eben weil unsere Gesellschaft darauf vertraut, dass Machtpositionen in der Familie und damit auch die Berechtigung, Aggressionen an anderen abladen zu können, hierarchisch geregelt sind, werden verbale, psychische oder physische Gewalttaten innerhalb der Familie grundsätzlich verharmlost und gerechtfertigt, daher werden sie auch nicht verborgen und nicht mit Schweigegeboten belegt. Diese werden erst dann auferlegt 10
oder im vorauseilenden Gehorsam befolgt, wenn Grenzen horizontal benachbarter Menschen verletzt werden. Denn jetzt droht Gefahr, dass diese sich juristisch oder in Selbstjustiz zur Wehr setzen. Bei Familienangehörigen steht das Tabu der unverletzbaren Loyalität zu »übergeordneten« Machthabern entgegen. Begründet wird diese Tabuisierung mit der trüben Aussicht auf drohende wirtschaftliche Notlage, wenn die »Fürsorgenden« – etwa durch Haftstrafen – ihrer Sorgepflichten entzogen würden. Durch solche Angstmache sollen die Angehörigen »klein gehalten« werden – nicht »gehalten« im Sinne einer »holding function«, die Schutz vermittelt und vielleicht sogar Geborgenheit, sondern »gehalten« im Sinne von jemand oder sich zurückhalten bzw. hemmen, beispielsweise an der eigenen Entwicklung. Denn Entwicklung braucht Raum, in den hinein man sich entfalten, in den man hineinwachsen kann. Techniken der Angstmache basieren darauf, anderen bedrohlich nahe zu kommen. Diese Art von Dichtestress kann körperlich, aber auch seelisch und sogar geistig ausgelöst werden, etwa indem man von sündiger Verderbtheit samt Aussicht auf ewige Verdammnis spricht. Das Wort Angst kommt von dem lateinischen Wort angustiae, die Enge. Und eng wird es einem auch, wenn man sich klein macht, um die Angriffsfläche des Körpers zu minimieren, oder wenn man die Luft anhält, um sich nicht durch Atemzüge zu verraten, oder wenn man die Blutgefäße verengt – ein unbewusster Automatismus, um nicht im Falle einer Verletzung zu viel Blut zu verlieren – und einem dann kalt wird und der Angstschweiß austritt … In der Körpersprache des Stammhirndenkens heißt diese Reaktion Unterwerfung: Der Gegner wird als übermächtig eingeschätzt, Widerstand scheint zwecklos 11
und komplexeres Denken zwecks Erarbeitung von Alternativstrategien steht – noch – nicht zur Verfügung. Damit dieses Verhalten – diese „Ver-Haltung“ – nicht chronisch wird, ist Ausgleich durch gegensätzliches Verhalten nötig: sich aufrichten, tief durchatmen und die eigene Kraft spüren, vielleicht auch das Gegengefühl der Wut … Zu diesem Ausbalancieren kommt es meist erst dann, wenn man einmal bewusst – selbstreflektierend – diese Erfahrung von Gegensteuerung gemacht und ins Verhaltensrepertoire eingespeichert hat. Die Großhirnfähigkeit der Selbstreflexion gilt in unserem Kulturkreis erst so um das vierzehnte Lebensjahr als ausgebildet. Deshalb werden zu diesem magischen Zeitpunkt Straf und Sexualmündigkeit zuerkannt. Da dies in anderen Kulturkreisen früher geschieht, erhebt sich die Frage, wie weit auch hier frühzeitige Übung früher bildet. Angst ist meiner Interpretation nach vor allem eine körpersprachliche Warnreaktion auf eine beunruhigende Wahrnehmung; sie gibt den Hinweis, dass noch kein geeignetes Problemlösungsverhalten zur Verfügung steht. Dieser Warnimpuls lässt sich als Aufforderung zur gedanklichen Suche nach einer passenden Reaktion definieren und kann bereits vom Denkverbot und damit vom Erstarren im Gefühl befreien.
Wer schweigt, stimmt zu Üblicherweise wird die Existenz von Tabus und damit von Denk- und Redeverboten in Familien damit erklärt, dass Angst, Scham- und Schuldgefühle verhinderten, aus diesen selbstwertschädigenden Gefühlen des Kleinseins, des Nichtswertseins herauszukommen. Meine klinische Erfahrung zeigt mir demgegenüber, dass 12
Menschen, wenn sie von derartigen Mechanismen betroffen werden, sich sehr wohl dieser durchaus ambivalenten Emotionen bewusst sind und Gelegenheit und Hilfe ersehnen, um diese Gefühle im wahrsten Sinn des Wortes »auszudrücken«. Es fehlen ihnen aber nachvollziehbare Modelle: Wie drückt man sich aus, ohne sofort wieder »mundtot« gemacht zu werden? Und: Macht man sich nicht wieder angreifbar – lächerlich –, wenn man Formen der Kunst wählt, aber nicht als Künstlerin anerkannt ist? Darf man den zugewiesenen – »angestammten« - Platz verlassen? Darf man »aufbrechen«? Und wie tut man das, ohne zu zerbrechen oder gebrochen zu werden? Wo, wie und von wem lernt man, seine Stimme zu erheben? Denn: Wer hat schon Interesse daran, ein Modell zu demonstrieren, wie man sich gegenüber Autoritäten behaupten, wenn nicht sogar durchsetzen kann – außer subversiven Revolutionärinnen? Machthaber sicherlich nicht – sonst bekämen sie ja Widersinn, Widerrede und Widerstand. Sie bekämen allerdings auch mitdenkende Partner und Partnerinnen, die nach einem Prozess des Zusammenredens auch wirklich verlässlich wären im Zusammenstehen. So paradox ist das Idealbild der »Einheit« der Familie: Anstelle einer horizontalen Gleichwertigkeit besteht vertikale Über- und Unterordnung. Einheit wird statisch als »eine Stimme« interpretiert – nämlich die des Lautesten –, die andere am stärksten niederbrüllen kann – und nicht als Prozess der Abstimmung, Zustimmung und erarbeiteten Übereinstimmung. Wenn jemand seine Sichtweise als die einzige oktroyiert, hat er die schnellste Form von »Einigung« hergestellt. Und die gewalttätigste: »Keine Widerrede!« macht andere 13
sprachlos. Schon im Römischen Recht galt der Grundsatz »Wer schweigt, stimmt zu«. Ob er oder sie überhaupt Gelegenheit hatte, dagegen zu sprechen, bleibt dabei unerheblich. Demgegenüber steht der langsame Ablauf des Ringens um Vereinigung von Gegensätzen. Gelingt dies, erfährt man oft sakramentales Erleben: wirkliche Einheit – grenzenlose Nähe. Im Fall der schnellen Vereinnahmung hingegen teilt sich ein Ganzes in mehr oder weniger hochmütiges Allmachtsstreben und gedemütigtes Nichtigkeitsgefühl, auch wenn beides mit »Schutz« beschönigt wird.
Partnerschaft lernen verboten! Ich definiere die Wurzel der Schweigegebote rund um die »letzten« Familiengeheimnisse – denn viele sind durch mutige Selbstzeugnisse vor allem von Frauen öffentlich gemacht worden – als bewusstes Vorenthalten von Lernmodellen, wie man einander respektvoll beisteht bzw. dazu auffordert, wenn eine oder einer Beistand braucht. Modelle, wie man kritisiert, straft und Herrschaft ausübt, gibt es mehr als genug. Hingegen mangelt es an Vorbildern für eine emanzipatorische und damit partnerschaftliche Kommunikation. Es wäre wohl eine der vordringlichsten Erziehungsaufgaben einer wirklich fürsorgenden Familie, Modelle zu zeigen, wie man gewaltfrei mit selbst erlebten, selbst zugefügten Grenzverletzungen, Vertragsbrüchen, Gewalt oder Machtmissbrauch umgehen kann. Und die vordringlichste Aufgabe der Selbsterziehung wäre sicherlich, selbst zu einem Modell für Gewaltverzicht zu werden. Tabus sicherten seit je die Grenzen um heilige oder 14
gefährliche Bezirke. Solchen darf man sich nicht nähern – weder räumlich, zeitlich oder auch nur verbal: Man darf den Namen nicht nennen … Tabus in Familien ziehen ebenfalls Grenzen, um die Familie als Ganzes oder Einzelnes zu schützen. Sie verhindern damit Nähe. Sie schaffen ein hierarchisches System von Eingeweihten, die bestimmen, und Ausgeschlossenen, über die bestimmt wird. Damit entstehen Über- und Unterordnung, ein Widerspruch zu dem, was heute der Begriff Familie überwiegend symbolisiert: einen Schutzraum, in dem man einander vertrauen und alles anvertrauen kann und in dem man ohne Leistungserfordernis um seiner selbst willen angenommen und gefördert wird. Tabus in Familien wirken kontraproduktiv, weil Gefahr und Schutzbedürftigkeit, Schutzobjekt und Schutzverhalten nicht gemeinsam definiert werden. Und ich behaupte, das geschieht deshalb, weil fast niemand weiß, wie man das tut. Mit dem Gebot »Darüber spricht man nicht!« wird verhindert, einander nahe zu kommen und beistehen zu können, aber das unterdrückte Sprachbedürfnis kehrt wie alles Verdrängte wieder: in Talkshows. Warum sprechen Menschen über Tabuthemen in Fernsehstudios, nicht aber in der Familie, also mit den Menschen, die es angeht? Mir geht es in diesem Buch nicht um tiefenpsychologische Deutungen von Scham- oder Schuldgefühlen, sondern um Denkanstöße, wie man vielleicht doch die richtigen Worte für Mitteilungen finden könnte. Bekanntlich ist geteiltes Leid halbes Leid. Dabei möchte ich auch zeigen, welche Tabus hinter den Tabus liegen und wer jeweils Interesse daran haben könnte, dass es bei diesen Sprechverboten bleibt. Und ich möchte zeigen, was man bedenken sollte, damit es nicht bei diesen Sprechverboten bleiben muss. 15
DAS TABU DER ENTIDEALISIERUNG DER FAMILIE
F
amilie gehört zu den Begriffen, die emotional besonders hoch besetzt sind: Je nachdem, wie unsere persönlichen biographischen Erfahrungen geprägt wurden, werden wir vor unserem geistigen Auge beglückende Erinnerungen oder Horrorvisionen aufsteigen sehen. Zu den biographischen Erfahrungen gehören auch die Indoktrinationen durch Erziehung und Erziehende, insbesondere durch die »geheimen Erzieher«, die Medien: was uns eingeredet oder vorgespielt wird, was Familie, insbesondere aber »unsere« Familie, sei. »Wir sprechen von Familien, als ob wir alle wüssten, was Familien sind«, meint Ronald D. Laing in Die Politik der Familie. »Als Familien identifizieren wir Netzwerke von Leuten, die für bestimmte Zeitabschnitte zusammenleben und durch die Ehe oder Blutsverwandtschaft miteinander verbunden sind.« Oder andere rechtliche Konstruktionen – denn traditionell werden »wilde Ehen«, allein erziehende Elternteile mit ihren Kindern oder gar homosexuelle Lebensgemeinschaften, die auch Kinder umfassen, nicht als Familien qualifiziert. Wir unterliegen bereits einer ersten Täuschung, wenn wir meinen, Liebe und Blutsverwandtschaft genügten, um Familie zu definieren.
Erste Täuschung: Motiv Liebe Erinnern wir uns an die biographischen Erfahrungen unserer Ahnen im vorigen Jahrhundert: Liebe als 16
Bindemittel taucht höchstens in der Dichtung auf. Frauen besaßen keine Rechtspersönlichkeit, keine »Mündigkeit« und waren daher auf einen Vor-Mund angewiesen. Sie wurden dementsprechend von ihren Vätern, Brüdern oder ihrem Vormund verheiratet und das primär nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. (Dass Letzteres oft auch zu dem Missbrauch führte, dass ein Vormund sein Mündel heiraten wollte, gab unzähligen Possen inhaltlichen Stoff, vor allem denen der Commedia dell’Arte oder auch Rossinis Oper Barbier von Sevilla.} Liebe war da zumindest auf Seiten der Frau nicht vorgesehen, nur Unberührtheit, hausfrauliche Tugenden und Folgsamkeit. Fehlte eines dieser Kriterien, war die Heiratsfähigkeit und damit die wirtschaftliche Existenzsicherung der jeweiligen Frau gefährdet. Dürfen wir den spärlichen Chronisten und zahlreichen Dichtern glauben, brachte leidenschaftliche Liebe – meist zu einer anderen Person als der, mit der Mann oder Frau verheiratet war – eher Verwirrung, manchmal Skandale, meist Resignation. Auch bot sich aufgrund mangelnder Mobilität, kaum begrenzter Arbeitszeiten und starr reglementierter Sozialbeziehungen nur geringe Wahlmöglichkeit für außereheliche Beziehungen; bei Frauen verhinderten zusätzlich die häufigen Schwangerschaften und Stillzeiten außerhäusliche »Umtriebigkeit«. »Sexuelle Beziehungen in und außerhalb der Ehe sind hier nicht als Grundlage, sondern als Folgeerscheinung der wirtschaftlich vernünftigen und notwendigen Heirat oder der ebenso wirtschaftlich bedingten Unmöglichkeit der Heirat zu betrachten«, spricht der Wirtschaftshistoriker Reinhard Sieder auch die damals noch vielfach bestehenden Heiratsverbote – für »unbemittelte Personen«, beispielsweise landwirtschaftliche Hilfskräfte oder Dienstboten – an, und: »Darüber hinaus war auch die 17
Zeugung von Nachkommen stärker von den Motiven des Arbeitskräftebedarfs in der Familie und der Notwendigkeit, einen Erben zu haben, bestimmt.« Manchmal war aber auch ein Geschäftsführer erwünscht, daher waren Heiraten mit bedeutend älteren Handwerkerswitwen durchaus nichts Unübliches – und für jüngere Gesellen oft der einzige reguläre Weg, um das Meisterrecht zu erwerben. Aus all dem folgt, dass Gefühlsbetontheit und Intimität in den meisten Ehen einen äußerst niedrigen Stellenwert hatten. Liebe war damals bestenfalls ein christliches Verhaltensgebot. Erst in der Zeit der Romantik, als die immer häufiger werdende Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz eine Privatisierung der Familie bewirkte, wurden familiäre Beziehungen emotionalisiert und gewannen jene »›Nest‹-Funktion, die heute oft fälschlich für ›immer schon dagewesen‹ und ›natürlich‹ gehalten wird«, weist Sieder nach. Zumindest für die relativ wohlhabenden Angehörigen der so genannten bürgerlichen Gesellschaft; für die proletarische Arbeiterschaft war es oft unmöglich, überhaupt eine eigenständige Wohnmöglichkeit zu finanzieren. Durch die notwendige regionale Mobilität der Zuwanderung in neu entstehende Industriegebiete war der traditionelle Verwandtschaftszusammenhang mit seinen Unterstützungsmöglichkeiten vielfach aufgelöst, auch Frauen und Kinder mussten in den Fabriken schaffen. Wer nicht arbeiten konnte, fiel meist der Verwahrlosung anheim. Erst mit der materiellen Besserstellung infolge der Erkämpfung der heute noch selbstverständlichen sozialpolitischen Errungenschaften erlangten die Privatisierung und Emotionalisierung der Familienverhältnisse auch für die Arbeiterschaft Geltung. Üblicherweise verstehen wir seitdem Familie als 18
»Kernfamilie« von Vater, Mutter und Kind bzw. Kindern. Aber auch das war nicht immer so: Im Römischen Recht, aus dem unser Wort »Familie« stammt, verfügte der »pater familias« nicht nur über Frau und Nachkommenschaft, sondern auch über alle Dienstboten, Sklaven und Tiere, und zwar über Leben und Tod. So mussten ihm Neugeborene zu Füßen gelegt werden; hob er sie auf, durften sie leben, wenn nicht, war ihnen der Tod bestimmt. Man »war« also nicht Familie, sondern man(n) »hatte« Familie. Aber auch heutzutage fällt es kaum jemand auf, wenn einer stolz formuliert, er oder sie »habe« Familie.
Zweite Täuschung: Bilderbuchklischees Die zweite Täuschung kommt spätestens mit dem ersten Schulbuch. Denn auch dort wird ein Familienbild gezeichnet, das bestenfalls dem Ideal derjenigen entspricht, die ebendieses Ideal pflegen, nicht aber der Lebenswirklichkeit. Die sieht nämlich nicht mehr so aus, dass der Vater Zeitung lesend auf sein Essen wartet, der Sohn daneben mit der Eisenbahn spielt, die Mutter kocht, die Tochter Tisch deckt und die Großmutter in Filzpantoffeln hinter dem Ofen Strümpfe strickt. Oder doch? Zumindest die Großmutter fehlt heutzutage zumeist in der patriarchalen Idylle. Rund die Hälfte der Frauen sind innerhalb der Ehe heute (1997) erwerbstätig, in Deutschland 55,2 %, in Österreich 58,5 %; zählt man die arbeitslos gemeldeten Frauen dazu, steigt diese Zahl – für Deutschland und Österreich identisch! – auf 61,8 %. Von den Österreicherinnen haben davon 89 % kein Kind, 77 % eins, 69 % zwei und 58 % drei oder mehr. Die Mehrzahl der Frauen ist also außer 19
Haus berufstätig, koordiniert Beruf, Haushalt und Kindererziehung und das oft unter schwierigsten Bedingungen. Und immer mehr Frauen verzichten dabei auf die Hoffnung, bei dieser Mehrfachbelastung von einem Mann unterstützt zu werden. Auch die eigene Mutter steht meist noch selbst im Erwerbsleben und daher nicht zur Verfügung. Andererseits gibt es immer mehr Zweit- und Drittehen mit eigenen und angeheirateten Kindern, mit legitimiertem oder adoptiertem Nachwuchs, und manchmal lebt sogar ein Kind in solch einer Patchworkfamilie, das zwar mit einem der ehemaligen Ehepartner, aber keinem der zusammenwohnenden Erwachsenen blutsverwandt ist; was bei Tod der Eltern logische Folge scheint, zieht bei andersartigen Trennungen meist Unverständnis, Kritik und auch Distanzierung nach sich. Ich erinnere mich auch an einen Paarkonflikt, in dem ein Mann seine Frau geheiratet hatte, als sie schwanger war, wohl wissend, dass das Kind im Mutterleib keinesfalls von ihm stammen könnte. Nun verließ sie ihn und das mittlerweile von ihm adoptierte Kind. Der Mann verstand die Welt nicht mehr, als er erfuhr, dass er künftig weiterhin das »fremde« Kind werde erhalten müssen. Solche neuartige, weil freiwillig gewählte anstatt wie früher durch ein herbes Schicksal erzwungene Familienformen werden nicht in Schulbüchern präsentiert. Oder die gar nicht so seltenen lesbischen Paare, die mit ihren Kindern aus ehemaligen Männerbeziehungen zusammenleben. Ihre Lebensgemeinschaften werden ja auch meistens »nur« als ökonomische Wohngemeinschaften interpretiert. Vielleicht wurzelt diese Sichtweise im »Andenken« an die zahlreichen Modelle von männerlosen Frauen-Haushalten aus der Zeit nach dem letzten Krieg, in denen eine Großmutter mit 20
einer Tochter und deren Kindern sowie meist mit einer weiteren Tochter zusammenlebte.
Ein Käfig voller Narren Für frauenlose Männer-Haushalte gibt es hingegen nur ein bekanntes Vorbild: den »Käfig voller Narren« – und der gehört in die Phantasiewelt von Bühne und Film. Wenn dann wirklich ein homosexuell liebendes Männerpaar gerne Kinder aufziehen möchte, folgt sogleich heftiger Protest. Der Grund liegt wohl darin, dass viele Menschen sofort von sexuellen Phantasien geplagt werden, was alles passieren könne. Damit wird bereits der Gedanke an das Inzesttabu ins Gegenteil verkehrt: Nicht die realen sexuellen Übergriffe leiblicher Väter oder Stiefväter auf ihre Töchter oder seltener Söhne erforderten klare Stellungnahme, nein, die phantasierten Übergriffe derjenigen, die man meist gar nicht näher kennt, werden genutzt, sich in Empörung zu »erregen«. Dabei galt die Internatserziehung von Knaben ausschließlich durch Männer jahrhundertelang als Gipfel der Elitenbildung – und wenn in diesem Zusammenhang sexuelle Übergriffe bekannt wurden, setzte immer noch sofort eine ausgeklügelte Strategie der Verharmlosung, Verleugnung oder Verkehrung ins Gegenteil ein. Die Werte der patriarchalen Männergesellschaft seien mit Strategien wie Homophobie geschützt worden, sie dienten aber auch der Verteidigung einer nostalgisch verklärten Familienidylle, attestiert der Baseler Psychologieprofessor Udo Rauchfleisch, denn es werden dadurch die »sonst gültigen gesellschaftlichen Normvorstellungen radikal in Frage« gestellt. Ich präzisiere dazu: und die »selbstverständliche« 21
Überlegenheit desjenigen, der die körperliche, finanzielle und informative Übermacht hat und erhalten will. Durch Modelle des egalitären, partnerschaftlichen Zusammenlebens wird diese patriarchale Familienorganisation hinterfragbar, da offensichtlich nicht mehr klar ist, wer in diesem »System« der Herr ist und wer die Untergebenen. Dies betrifft insbesondere gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Auch Marianne Walters, die Leiterin des Zentrums für familientherapeutische Praxis in Washington, formuliert es ähnlich: »Die Familie als soziales System beruht auf der Trennung der beiden Geschlechter. Sie hat die Funktion, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu strukturieren und deren soziale Lebenswelten zu organisieren; sie sorgt dafür, dass die Zeugung, der Schutz und das Großziehen der Nachkommenschaft in geregelter Weise vor sich gehen und dass zwischen den Generationen eine soziale Kontinuität gewahrt bleibt.« Unter sozialer Kontinuität wird unausgesprochen die unkritische Weitergabe der Werte, Moralvorstellungen und des Sittenkodex der vorherrschenden Kultur von einer Generation zur nächsten verstanden. Zu diesen »tradierten« Werten zählen männliche Führungsansprüche und komplementäres weibliches Dulden, hoch angesehenes männliches Schweigen und verachtete weibliche Redebedürfnisse, wobei alle, die nach diesem »arbeitsteiligen« Modell vom außerhäuslichen Gelderwerb ausgeschlossen sind oder sein sollen, also auch Kinder, kranke, behinderte oder schlichtweg alte Menschen, der weiblichen, sprich »im Haus befindlichen« Seite zugezählt werden. Bis zu den Partnerschaftsgesetzen des letzten Vierteljahrhunderts durften sich diese Personen ja auch nicht selbst »äußern« – ihre »Vertretung nach außen« stand dem 22
Haushaltsvorstand zu, und der hatte nach diesem Modell männlich zu sein. Dieser »Geist« von Über- und Unterordnung »geistert« auch heute noch durch manche Amtsstuben und -Formulare und steht damit im Gegensatz zu den Innovationen, mit denen die Gesetzgebung veränderten Lebenswirklichkeiten entsprechen will – nämlich einer Wirtschaftswelt, die nicht mehr auf die sozialen Schlüsselqualifikationen, Kreativität und vor allem Flexibilität von Frauen verzichten will und in der gleichzeitig immer mehr Männer die Anpassung an zunehmende Leistungsanforderungen – bewusst oder unbewusst, beispielsweise psychosomatisch – verweigern.
Dritte Täuschung: Wunschmagie Familien entstanden als Wirtschafts- und Sozialsysteme mit historisch und regional unterschiedlichen »Spielregeln«. Regeln legen immer fest, wer welche Zuständigkeit – Macht – und welche Verantwortung – Pflicht – hat. Dass es unterschiedliche Organisationsmodelle gibt, erfährt kaum jemand in seiner Herkunftsfamilie. Meist bekommt man nicht einmal die konkrete Information, wie man welche Regeln erfüllen kann, sondern kennt nur die Strafe, wenn eine übertreten wird. Wir lernen primär am Vorbild und durch Übung. Wir werden durch »positive Verstärkung« – Anerkennung, Lob, Zuwendung – motiviert, das so erfolgreiche Verhalten zu wiederholen. Wir finden es oft originell, wenn Kleinkinder erkennbare Vorbilder nachahmen – solange sie nicht unsere Unarten »spiegeln«. Dann leidet unser Selbstbild, das innere Größen selbst wie das äußere Image. Wir glauben, Achtung zu verlieren, und 23
versuchen rasche Restauration, indem wir demonstrieren, wie groß und mächtig wir sind. Üblicherweise wird ein Einschüchterungsversuch daraus: Es wird »von oben herab« geblickt, geschimpft, gebrüllt – je nachdem, welches Repertoire unserem »Wiederholungszwang« zur Verfügung steht; wir ahmen in solchen Situationen nämlich auch wieder nur nach, was wir als Regelverhalten der eigenen Bezugspersonen eingespeichert haben. Nur: So lernt das Kind nicht, was es das nächste Mal besser machen sollte – es lernt nur wieder einschüchtern und strafen. Damit es das erwünschte Alternativverhalten lernen könnte, brauchte es Informationen über die Zusammenhänge, eine Auflistung der verschiedenen Reaktionsformen und deren allfällige Demonstration, ein Aufzeigen der jeweiligen Vor- und Nachteile und eine Erklärung, weshalb es die erwünschte Form nachahmen sollte. Das erfordert nicht nur Wissen und Bereitschaft, pädagogisch zu handeln, sondern vor allem Zeit, Zuwendung und sprachliche Fähigkeiten. Auch wenn die jeweiligen Bezugspersonen vor ihrem geistigen Auge identische „Vor-Bilder“ ihrer Idealvorstellungen von heiler Familie und funktionierenden Familienbeziehungen »sehen« – die Realität ihres Lebens entspricht der »Drehbuchqualität« ihrer geistigen Filme und ihrer »Buchtreue«. Wenn sie sich nicht bewusst sind, dass zum Bild der Ton gehört, sind die Missinterpretationen vorprogrammiert und das Ergebnis gleicht einem Stummfilm ohne Untertitel: weitgehend verwirrend bis unverständlich. Wenn wir etwas nicht verstehen, reagieren wir üblicherweise mit Aggression. Um im Gleichnis zu bleiben: Plötzlich wird ein anderer Film gespielt, als wir bestellt zu haben glaubten, und wir reagieren mit Enttäuschung. Die Täuschung bestand darin zu glauben, dass es genüge, sich 24
etwas zu wünschen, damit es Wirklichkeit wird. »Wenn du mich liebst, dann weißt du, was ich will!« Oder: »Wenn du mich liebst, dann ist selbstverständlich, dass du tust, was ich will!«
Säuglingsprivilegien Ohne Worte verstanden zu werden, ohne sprechen zu müssen befriedigt zu werden, nenne ich die »Privilegien des Babys«. Ein Säugling ist ja tatsächlich auf das Einfühlungsvermögen seiner Bezugspersonen angewiesen. Säuglingsprivilegien werden meist von Menschen eingefordert, die sich entweder als besondere Elite fühlen – wie der Herrscher über Leibeigene – oder die sich nicht geachtet – beachtet – fühlen, wenn sie sich sprachlich artikulieren sollten. Beiden mangelt es tatsächlich an Liebe und mit diesem fordernden Verhalten werden sie sich auch kaum als liebenswert präsentieren. Tatsächlich ist Liebe durch besondere Sensibilität für die geliebte Person gekennzeichnet. So zeigen psychologische Untersuchungen immer wieder, dass Liebespaare oder Menschen, die sich »auf einer Wellenlänge« befinden, die gleiche Körperhaltung einnehmen. Bekannt sind auch vielerlei Berichte von der »unsichtbaren Nabelschnur« oder dem »mentalen Telefon«. Und wir alle kennen auch das Phänomen, dass zusammengehörige Menschen oft über größte Distanzen Signale voneinander empfangen bzw. aufeinander reagieren. Diese Seelennähe ist eines der Kennzeichen wahrer Intimität. Selbst für die liebevollste Mutter ist es aber gar nicht so einfach, sich immer in ihr schreiendes Baby einzufühlen – für zwei erwachsene und womöglich noch »starke« – was wohl heißt: dominante – Persönlichkeiten ist es umso schwieriger. Nur: Einfühlung 25
lässt sich lernen! Man braucht dazu: eine liebevolle Bezugsperson, Zeit – daher auch Geduld – und den Mut, sein Herz zu erschließen. Üblicherweise erinnert sich niemand an die ersten Lebensmonate, in denen hoffentlich eine Bezugsperson immer dann Zeit hatte, wenn das Baby wach und liebebedürftig war. Später ist es fast die Norm, dass niemand da ist, wenn man Zuwendung braucht, und wenn jemand da ist, hat er oder sie keine Zeit oder auch keine Bereitschaft, »aufzumachen« – zum Zuhören oder zum Rückmeldungen geben. Wen wundert es also, das durch das Lernen an Vorbildern vor allem Modelle der Abwehr, der Ungeduld und des „Sichverschließens“ – Zumachens – eingespeichert werden?
Vierte Täuschung: Kinopropaganda In diesem Jahrhundert konkurrieren neue und immer während verfügbare Vorbilder mit den traditionellen Vorbildern aus Groß- oder Kleinfamilie – die Movies, die »laufenden Bilder« und ihre statischen Pendants in Zeitungs- und Plakatwerbung. Egal wie die medialen Vorbilder Familienleben zeigen – in der Fernsehwerbung als Idylle, in Film und Video als dramatisches Einzelschicksal oder humoristisch krass überzeichnet –, die Bilder laufen so schnell, dass selbst für hochgebildete Erwachsene kritisches Überdenken während des Zusehens nur nach entsprechender Aufforderung und mit hoher Konzentration möglich ist. Zusätzlich bewirkt die Magie des Aufwärtsblickens Regression: Wir übernehmen körperlich wie geistigseelisch die Haltung des Kindes, das zu den Besserwissern 26
nach oben blickt. Diesen tief in uns allen verankerten Mechanismus machten sich schon immer diejenigen zunutze, die »überlegen« sein wollten – ob vom Schulpodium, vom Richtertisch oder von der Kanzel. So ist auch das Bild auf der Kinoleinwand »überlegen« – daher liegt es an uns, zu »überlegen«, was wir von diesen „Vor-Bildern“ mit unserer Lebenserfahrung verbinden können, wollen oder müssten und was nicht: Das betrifft vor allem das Kommunikations- und Konfliktlösungsverhalten sowohl in Partnerschaft, Familie und nachbarschaftlichem Zusammenleben wie im Beruf. Ich lasse in manchen meiner Selbstbewusstseinstrainings, aber auch im Unterricht von künftigen Psychotherapeutinnen, die Teilnehmerinnen spezifisch ausgewählte Filme ansehen. Dabei habe ich immer wieder die Erfahrung machen können, dass die Zuschauerinnen zwar im Großen und Ganzen die Handlung erinnern, nicht aber die konkrete Reihenfolge verschiedener Szenen und auch nicht deren Handlungsabfolge im Detail. Sehr wohl hingegen prägen sich die Szenen ein, in denen durch Kameraführung und vor allem durch die Begleitmusik besonders auf emotionale Reaktionen gezielt wurde. Meist sind das Szenen, die kein geeignetes Vorbild für reales Beziehungsverhalten bieten.
Frauen jammern, Männer handeln Üblicherweise lösen solche Szenen emotionale Betroffenheit aus, in denen entweder ein Mann eine Frau physisch oder psychisch bedroht oder attackiert oder in denen eine Frau einen Mann anfleht oder beschuldigt. Das klassische Stereotyp: Frauen jammern, Männer handeln. Dabei finde ich selten geschlechtsspezifische Unterschiede 27
im Erinnerungsverhalten von Männern und Frauen. Ich schließe daraus, dass diese Konstellationen so alltäglich erfahren werden, dass sie zwar Gefühle auslösen, nicht aber besondere Bewusstseinsprozesse. Wenn es umgekehrt ist – beispielsweise in der Szene mit dem Lastwagenfahrer in Thelma und Louise –, haben die Männer wenig, die Frauen dafür umso detailliertere Erinnerungen. Die Gedächtnisspuren sind also offensichtlich umso tiefer, je mehr sich die Betrachterinnen mit den jeweils machthabenden Akteuren identifizieren können. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders auf die Wirksamkeit der jeweiligen Kameraführung hinweisen, wenn es um die Darstellung von zugefügter oder erlebter Gewalt geht: meist »blickt« die Kamera aus neutraler Beobachterposition oder aus dem Blickwinkel des Helden. Damit werden wir bereits zur Identifikation mit diesem »Macher« verführt, und wir erleben dadurch eine deutliche Distanz zu all dem, worauf die Kamera ihr Objektiv richtet. Wenn die Kamera hingegen »aus den Augen des Opfers« blickt, bekommen wir fast unweigerlich Opfergefühle – Angst, Verzweiflung, selten, aber hoffentlich doch auch Wut. In Shining beispielsweise folgt die Kameraführung der Sichtweise des Kindes, dementsprechend fällt es im Gegensatz zu anderen Dramen schwer, sich der Einfühlung in die Gefühle des Kleinen zu entziehen. Denn Einfühlung heißt, den Blickwinkel eines anderen teilen und die aufsteigenden Gefühle zulassen. Wenn ich dann weiter forsche, welche Erinnerungen aus der Herkunftsfamilie dem Gesehenen entsprechen, finde ich immer wieder die gleichen Berichte: flehende und beschuldigende Frauen, schweigend flüchtende oder drohend mehr oder weniger gewalttätige Männer – wobei ich fairerweise anmerken muss, dass die Frauen und 28
Männer, die in meine Seminare kommen, diejenigen sind, die sich eben anders verhalten wollen als ihre Eltern. In meinen Seminaren frage ich immer auch, welche Idealbilder die Besucherinnen hätten, wenn es um die gewünschte Form von Zusammenleben ginge. Und wiederum kommen Stereotype, meist aus den aktuell gesendeten Vorabendfernsehsendungen, manchmal aus Filmklassikern. Männer haben schneller ein Wunschbild parat als Frauen, und es sind Szenen, in denen ein Held von einer liebenden Frau umsorgt, gepflegt und bedient wird. Daraus schließe ich, dass in den Drehbüchern offenbar Männerträume wiedergegeben werden. Frauen dagegen erzählen mehr Episoden von erfolgreichen Berufsfrauen. Offensichtlich haben die meisten Frauen Familienidyllen satt. Derart differierende Ideale und daraus folgende Erwartungen können somit eher Nährboden für Konflikte als für Krisenbewältigung sein.
Fünfte Täuschung: Ergänzung Auch Filme zeigen – genauso wie Familien – keinerlei Anleitung, wie mit schwierigen Alltagssituationen umgegangen werden könnte. Wenn die Handlungen in der Gegenwart spielen, zeigen sie nur Liebesglück oder Eifersucht, Opferverhalten oder Protestaktionen, kriminelle Handlungen oder Heldentaten. In vielen Filmen dominieren auch unterschwellige Spielregeln von »Hoffnung auf Belohnung« und »Angst vor Strafe«. Diese »schwarze« Pädagogik wurde im vorigen Jahrhundert noch als letzte wissenschaftliche Erkenntnis propagiert, beispielsweise in den Erziehungsbüchern des zu seiner Zeit als Pädagoge führenden Kinderarztes Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808-1861). Er hielt Gehorsam und 29
Disziplin bei einem Kind für wichtiger als alles andere. Seine Ansichten über Familienleben hießen: o Männer müssen dominieren; o die Sexualität der Kinder und Heranwachsenden muss überwacht werden; o Erwachsene müssen die Moral ihrer Sprösslinge zumindest bis zur Mitte oder zum Ende der Adoleszenz reglementieren; o die Kinder müssen frühzeitig lernen, sich dem Willen der Eltern unterzuordnen. Seine Kreativität ließ ihn nicht nur brutale gymnastische Übungsmethoden erfinden, sondern auch Instrumente wie beispielsweise den »Geradhalter«, das »Schulterband« oder den »Kopfhalter«, um zu verhindern, dass der Kopf bzw. die Schultern nach vorne fallen. Außerdem entwickelte er allerlei Gürtel und Fesselungsvorrichtungen, damit die Kinder ihre Beine nicht überkreuzten, sich im Schlaf nicht bewegten und vor allem nicht masturbierten. Wie sehr sich dessen »Abrichtungs«-Methoden in den Symptomen seines jüngeren Sohnes Daniel Paul widerspiegelten, belegte Morton Schatzman mit seiner Analyse der Langzeitwirkungen von Erziehungsmethoden: Daniel Paul Schreber (1842-1911) war Richter, bis er zweiundvierzigjährig an paranoider Schizophrenie erkrankte. Über sein Erleben in dieser Zeit verfasste er ein Buch, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903), das auch Sigmund Freud zu einer Abhandlung inspirierte. Er gesundete zwar, wurde aber acht Jahre später wieder krank. Sein älterer Bruder, Daniel Gustav, wurde ebenfalls geisteskrank und beging Selbstmord. 30
Schreber senior, der mit seinen Erfindungen weit über seine Zeit hinaus wirkte – davon zeugt ja auch der Begriff der »Schrebergärten« mit den gestutzten, in Reih und Glied ausgerichteten Obstbäumen –, bewarb seine Erziehungsbücher mit dem Hinweis, wie erfolgreich er sie bei seinen Söhnen eingesetzt hatte. Wie tragisch diese Folgen waren, erfuhren seine Anhänger nicht. Menschen verkrüppeln körperlich wie seelisch, wenn sie sich bemühen, den Widrigkeiten des Lebens mit vorgefertigten Rezepturen zu begegnen. Besonders dann, wenn die darin propagierten Problemlösungskonzepte einseitig entweder Dominanz oder Unterwerfung empfehlen. Dann bleibt man nämlich im Familienmodell der Spaltung in »groß und klein« hängen, und Solidarität findet ebenso wenig statt wie Entwicklung. Das gleiche Prinzip der Schwarz-Weiß-Malerei verwenden viele Filme, sozialdarwinistische Moral von »Stark und schwach – die Starken befehlen, die Schwachen haben sich dreinzufügen«.
Allheilmittel Mutter? Und auch hinter der Familienidyllisierung lauert genau dieses Modell. In Filmhandlungen gekleidet, taucht sie das erste Mal in der Filmproduktion des Dritten Reiches auf und unterstützt damit die Bevölkerungspolitik: Mutterschaft und Vielkinderfamilie – die im vorvergangenen Jahrhundert nur für Wohlhabende keine Gesundheitsgefährdung und Gefahr der Verelendung darstellten – wurden idealisiert und mit Auszeichnungen wie dem Mutterkreuz ab dem vierten Kind prämiert. Eheund Kinderlosigkeit verpflichteten zu Arbeitsdiensten, Empfängnisverhütung – in den zwanziger Jahren noch 31
eine wesentliche Forderung der erstarkenden Sozialdemokratie – wurde verteufelt und sabotiert, alle Sexualpraktiken, die nicht zu Fortpflanzung führten, verpönt. Bevor sich wie damals ein Propagandaminister um die ideologische Ausrichtung von Kunst und Kultur kümmerte, wurde der Film als neue Form zwischen bildnerischer und darstellender Kunst erarbeitet, vielfach mit historischen, surrealen oder sozialkritischen Inhalten. Vordergründige Pädagogik kam kaum vor. Nachdem der Nationalsozialismus Europa mit seinen Suggestionen – »Die deutsche Frau raucht nicht, trinkt nicht, schminkt sich nicht!«, »Jungscharjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungscharjungen sind Kameraden. Des Jungscharjungen Höchstes ist die Ehre« – geistig zu überfluten getrachtet hatte, wurden diese Techniken von den beiden großen Siegermächten übernommen. Während in der Sowjetunion das staatsgenehme Menschenbild – Kolchosenbauer und Traktorführerin ordnen persönliches Glück dem Gemeinwohl unter – genauso beworben wurde, widmeten sich die US-Filme nach dem Krieg der Produktwerbung: Vorgeführt wurde der amerikanische Traum, und der hieß Freiheit auf Motorrädern, Blue Jeans und Coca Cola. Das Thema Familie kommt erst mit den Verfilmungen der Horrorszenarien von Tennessee Williams’ Theaterstücken in die Kinos. Das Familienbild der NS-Ideologie basiert auf einem strikten Dualismus von heldischem Mann im Dienste von Führer und Vaterland, daher im Kriegseinsatz, und dienender Gebärerin künftiger Helden und Heldenmütter. So gab es von der Abteilung Mütterdienst der NSFrauenschaft bzw. dem Deutschen Frauenwerk nicht nur Mütterschulen, Mütterrunden, Frauennachmittage, Werkmütterschulen und Werkmütterschulkurse, 32
Bräuteschulen und Heimmütterschulen, ja sogar eine sechswöchige »Koloniale Mütterschule« für Frauen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhielten, sondern auch Wanderlehrgänge für Frauen in verkehrstechnisch entlegenen Gebieten. Bei diesen Veranstaltungen sollte nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch ideologische Schulung erfolgen. Sie sollten auch der »Demonstration der emotionalen Bindung an den nationalsozialistischen Staat, an Führer, an die Bewegung usw.« dienen. So schreibt der Wiener Historiker Georg Tidl. Aber auch Untertitel von Fotos oder Zeitungsmeldungen legen die Unterordnung unter den Mann nahe: »– der Frontsoldat kann sich auf sie verlassen« (unter dem Foto einer Frau im Blaumann) oder: »Sie hat im Betrieb manchmal auch ihren Ärger, und sie trifft vielleicht zu Hause ihren Mann missmutig und überarbeitet an. Aber sie wird sich heiter und Verständnis voll zeigen …« (Völkischer Beobachter 16.1.1945). Oder: »… kennzeichnete die Mutter als die Fackelträgerin des Lebens in der Not unserer Tage und bekannte, dass es zwei Formen letzter Einsatzbereitschaft gebe: das Soldatentum und die Mutterschaft.« (Völkischer Beobachter 16.12.1943). Das Gebären und Großziehen von Kindern wurde im Gegensatz zu den realen Erfahrungen mit dem Geburtsvorgang, prä- und postnatalen Depressionen und vor allem den Reaktionen des jeweiligen Erzeugers als Erlebnis von überwältigenden Glücksgefühlen hochgejubelt. Ähnliche Fortpflanzungspropaganda betreiben manche katholische Pfarrer, wenn sie im übertriebenen Marienkult suggerieren, die einzige Aufgabe der Frau sei, Kinder – und da vor allem einen bedeutenden Sohn – großzuziehen. So berichtet der zum katholischen Priester geweihte, 33
später verheiratete langjährige Professor für Kirchengeschichte an der Universität Bamberg Georg Denzler in seinem Buch über 2000 Jahre christliche Sexualmoral, dass in manchen Gegenden die Ehefrau erst dann als Frau angeredet werden durfte, wenn sie ein Kind geboren hatte. »Aus demselben Grund wurden unverheiratete Frauen lebenslang mit Fräulein tituliert, nicht ohne einen gewissen Ton von Geringschätzung.« Diese Praxis ist in ländlichen Gebieten bis heute nicht ausgestorben. Der Polarisierung des Entweder-oder-Denkens zu entsagen ist wohl die Menschheitsaufgabe schlechthin. In christlicher Mystik symbolisiert der Sündenfall aus der Einheit in Gott in die zweigeteilte Welt mit Gut und Böse, Himmel und Hölle, Engeln und Teufeln, Frauen und Männern im Erkennen ihrer Unterschiedlichkeit die Problematik. Insofern liegt es wohl an der Polarität von entweder strafend-donnernder oder romantisch-verklärter Sprache kirchlicher Publizisten, wenn ihr Versuch misslingt, die Dramatik der Sakramente auch am Beispiel des Sakraments der Ehe – das sich bekanntlich die Eheleute gegenseitig spenden – und der aus katholischer Sicht unabdingbaren »Bereitschaft zum Kind« zu verdeutlichen. Wenn der Moraltheologe und Salzburger Weihbischof Andreas Laun metaphorisch schreibt: »Soll man Froschteiche schützen, gesunde Frauen aber zwingen, Tag für Tag hochwirksame Präparate der Chemie zu schlucken?«, erntet er üblicherweise Protest oder Hohn, denn seine Nachdenklichkeit wird – ohne viel Nachdenkens – mit der über viele Jahrhunderte vertrauten Propaganda gleichgesetzt. Dabei geht es ihm um die Frage: »Oder dienen diese Mittel vielleicht doch mehr dazu, vor allem männlichem Begehren noch mehr Spielraum zu geben, wie heute auch manche 34
Feministinnen sagen und damit dasselbe behaupten wie der ehedem verlachte Papst Paul VI.?«.
Der Hang zur Selbsttäuschung Nicht in Extrempositionen solcher »Entweder« zu verfallen erfordert Ambiguitätstoleranz: Man muss Konflikthaftes und damit auch die körperlich spürbaren Spannungen aushaken. Das erfordert Selbstsicherheit, Standfestigkeit und auch Widerstandskraft. Diese zu erwerben braucht Kraft und Struktur und damit Jahre. Denn in den ersten Lebensjahren sind wir alle noch weich und biegsam, aufnahmebreit und anlehnungsbedürftig. Einem Säugling muss man bis in den dritten Lebensmonat hinein den schweren Kopf stützen, weil sein Rückgrat und seine Muskulatur noch nicht stark genug sind, ihn selbst zu halten. Wann immer wir erstarken und Widerstand zu leisten beginnen, folgen familiär üblicherweise Namensgebungen wie »trotzig«, »widerborstig« oder »frech«, begleitet von entsprechend wahrnehmbaren Stimmungen wie Ärger, Zorn oder Wut. Diese Gefühle sind es, die das noch ganz offene Kind nicht aushält, gar nicht aushaken kann. Es ist noch nicht „ichstark“ genug, standzuhalten. Es wird also jede Schuldzuschreibung aufnehmen und verinnerlichen. Es wird sich – in der Sprache der Psychoanalyse – mit dem Aggressor identifizieren. Es wird den Blickwinkel der kritisierenden oder strafenden Person übernehmen; dann ist es nämlich auf dessen Seite und nicht mehr in der gefährlichen Opposition. Dadurch verliert man aber auch das Gespür für den Verlust der Harmonie, der Einheit in der Zweiheit: Durch das Auftreten des Konflikts wird offenbar, dass Zwietracht 35
besteht und keine Einstimmigkeit. Wenn die beiden Zwistpartner keine Ahnung haben, wie man vom Gegensatz zur Einigung kommt, ohne dass einer sich durchsetzt und der andere besiegt wird, werden sie mit mehr oder weniger Gewalt versuchen, ihrer Alleinsicht zum Sieg zu verhelfen. Der stärkere, wissendere, unkontrollierbar Wissen behauptende Teil wird seine Definition geltend machen, der andere wird aufgeben – zunächst seine Definition, dann sich selbst. Für das Kind sind die Erwachsenen die Stärkeren, Wissenderen – gleichgültig wie gedankenlos, unwissend oder unverantwortlich diese im Vergleich zu anderen Erwachsenen sind. Für den Erwachsenen sind es seine Bezugsgruppen. Und die allernächste Bezugsgruppe ist üblicherweise die Familie. Wieso verharren Menschen aber in diesen Täuschungen? Wieso halten sie am Ideal der heilen Familie fest, wenn sie doch mit zunehmender Erfahrung und auch Körpergröße und -stärke automatisch einen anderen – symmetrischen – Blickwinkel zu Eltern, Erzieherpersönlichkeiten oder anderen »Autoritätsfiguren« einnehmen müssen? Wenn sie doch merken müssten, wie selten Konflikte ohne Machtmissbrauch bearbeitet werden? Und wie unmöglich es ist, ohne Konflikte, Schicksalsschläge, Entgleisungen zu leben! Das Ideal der heilen Familie ist keine Beschreibung selbstverständlicher Alltäglichkeit, es ist eben ein Ideal. Und dennoch erheben viele Menschen lebenslang den Anspruch, mit ihrem Ideal versorgt zu werden, ohne viel dazu beitragen zu müssen.
36
Babyträume »Heile Familie« ist einerseits ein Symbol für den Zustand und andererseits das damit verbundene Gefühl der Harmonie, der Geborgenheit und Sicherheit im Raum gewährenden Umschlossensein durch ein größeres Ganzes. Assoziationen zu Gebärmutter – vorausgesetzt es handelt sich um eine wohlgelittene Schwangerschaft – Nest, Bett, Wohnstube, Freundeskreis und – abstrakter: Heimat, Kosmos oder auch Gott – können dazu auftauchen. Jede Gruppe kann Geborgenheit vermitteln. Parallel dazu lauert aber immer auch die Gefahr, ausgestoßen zu werden: aus dem Uterus, aus der Wohnung, aus dem – physischen, psychischen oder sozialen Leben. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Erfahrung aus der Zeit, in der ich die Mitarbeiterinnen der Wiener »Zentralstelle für Haftentlassenenhilfe« des »Vereins für Bewährungshilfe und soziale Arbeit« supervidierte. Ein Schwerpunkt war das Phänomen, dass selbst Männer – für Frauen traf die Erscheinung aus verschiedensten Gründen nicht zu – mit mehrfachen Langzeithaftstrafen, kaum entlassen, voll Optimismus darauf vertrauten, dass ihnen sofort befriedigende Arbeit, eine werbungskonforme Wohnung und funktionierende Partnerschaften bzw. Familienverhältnisse zufallen würden. Sie waren kaum bereit, den Bedenken der Sozialarbeiterinnen auch nur das geringste Gehör zu schenken, geschweige denn die zugrunde liegenden Probleme zu bearbeiten. Sie blieben einfach weg – um erst dann wieder zu kommen, wenn ein plötzlich auftauchender Anlass Möglichkeit bot, die zuvor abgewehrten Sorgen durch Vorwürfe und Gewaltverhalten gegenüber den Sozialarbeiterinnen zu kompensieren. 37
Es scheint ziemlich klar, wieso es leichter ist, Hoffnungen auf altmodisches Familienglück in Zukunftsferne zu richten, als sich aktuell in die Pseudofamilie der Betreuten einer Hilfsstelle einzugliedern. Im ersten Fall kann man Glücksphantasien produzieren und träumen, im zweiten muss man gegenwärtige Unlustgefühle aushalten und sozialkreativ denken. Im ersten Fall genügen Fähigkeiten, die schon ein Kleinkind besitzt, im zweiten müssen komplexe Pläne entworfen und auf mögliche Negativfolgen geprüft werden. Das erfordert hohe Frustrationstoleranz für den Prozess wie für die Einschätzungsleistung. »Heile Familie« ist also auch ein Ausdruck unserer Fähigkeit zu hoffen, zu vertrauen. Denn Vertrauen ist keine Vorschussleistung: Wir sprechen ja auch davon, dass im ersten Lebensjahr Urvertrauen »erworben« wird, wenn die »hinreichend gute Mutter« oder eine andere Bezugsperson verlässlich als »Basis« für die Befriedigung der in der jeweiligen Entwicklungsphase auftretenden Bedürfnisse dient. Vertrauen entsteht aus Vergangenem, aus Erfahrung, nicht aus Zukünftigem. Zukunftssicht nährt Wünsche, Pläne, Erwartungen, Forderungen. Hingegen ist Vertrauen in die Zukunft entweder Selbstvertrauen oder Naivität.
Familie als Wertevermittler Die Vermittlung grundlegender Werte ist eine der Aufgaben, die immer wieder der Familie zugesprochen wird. So summierte der Wiener Soziologieprofessor Rudolf Richter auf der wissenschaftlichen Tagung 1995 der Österreichischen Gesellschaft für Interdisziplinäre Familienforschung (ÖGIF) »Werte, Weltanschauungen 38
und Einstellungen, Grundstrukturen des Handelns, die von Generation zu Generation weitergegeben werden« unter »kulturelle Transfers«. Entsprechend der allgemeinen Sozialisationstheorie werden in der primären Sozialisation in Kindheit und Familie weltanschauliche Grundlagen gelegt, die in sekundärer Sozialisation in Schule und Beruf nicht mehr radikal verändert werden. Bei seinen Untersuchungen, ob dies auch wirklich so wäre, zeigten sich hinsichtlich potentieller Konfliktfelder Meinungsunterschiede aus der Sicht der Kinder in den Bereichen Freizeitgestaltung, Gesellschaft und Politik, Ordnung und Geldverwendung, weniger, aber auch, in Bezug auf Kleidung: Aus der Sicht der Eltern war das Hauptproblem Ordnung. Aufgrund strukturell-hermeneutischer Analyse von Bildmaterial und Texten untersuchte Richter allgemeine Strukturen der Möglichkeit kultureller Transfers. So zeigte sich im Fallbeispiel einer zwanzigjährigen Medizinstudentin deren Protest gegen den subjektiv erlebten Druck der elterlichen Leistungserwartung: »Leistung – Gegenleistung in Form von Dankbarkeit, Unterwürfigkeit, Arbeit im Haus, brav zu Hause bleiben, nichts gegen ihren Willen tun, gute Zensuren etc …. Am liebsten wäre es mir, ich könnte ihnen nur geben und müßte nichts von ihnen nehmen. Dann wäre ich frei.« Richter präzisiert: »Heimorientierung, Familienzentriertheit, Angepasstheit und Strebsamkeit. Diese Dinge sind ihr verhasst, und sie wünscht genau das Gegenteil.« Anhand eines erbetenen Fotos eines »für sie typischen Teils ihrer Wohnung« zeigt Richter dagegen auf, dass der habituelle Transfer elterlicher Werthaltungen dennoch stattgefunden hat: »Ordentlichkeit, Fleiß, Leistungsstreben« sind studienbezogen deutlich wahrnehmbar, so dass er vermutet, dass »hier ähnliche 39
Lebensbewältigungsstrategien auftreten«. Gehen wir also davon aus, dass selbst bei Opposition gegen die elterlichen Einstellungen und Handlungsanleitungen im Individuationsprozess diese dennoch wirksam bleiben. Gehen wir weiter davon aus, dass Werte vielfach verbal vermittelt, aber nicht unbedingt vorgelebt werden. Und gehen wir drittens davon aus, dass oft genau gegenteilige Verhaltensweisen erlebt werden – Gewalt statt Fürsorge, Desorganisation statt Ordnung, Vernachlässigung statt Geborgenheit, Hass statt Liebe. Dann wird verständlich, weshalb idealisierte Familienmodelle außer Diskussion gestellt werden müssen, um die Frage »Warum hältst du dich nicht an dein Ideal?« nicht beantworten zu müssen. Würde nämlich die Übereinstimmung von propagiertem Ideal mit gelebter Realität überprüft, müsste man vielleicht zugeben müssen, dass das Ideal für einen selbst gar kein Ideal ist. o weil es einen auf ein Verhalten festlegt, o weil es zwingt, Erfahrungen, die das Ideal gefährden könnten, zu meiden, und somit o Aktivität, Lebendigkeit, einengt. Leben heißt aber immer Veränderung – Wechsel von Zuständen –, und dazu gehören auch Pausen. Somit kann allein das Ideal, dass die Familie Ideale vermitteln sollte, überanstrengen. Im Rahmen derselben oben zitierten Tagung der ÖGIF betonte der angesehene Meinungsforscher Rudolf Bretschneider den Generationenunterschied hinsichtlich des Umgangs mit Konflikten: Derzeit würden »Ehrlichkeit und Authentizität für Charakteristika der eigenen 40
Moralität« gehalten und »Konfliktvermeidung als feige Verdrängung und Verfälschung der eigenen Wahrheit« abgelehnt. Hingegen sei die Vorgeneration weniger konfliktfreudig, weil sie »genug davon im öffentlichen Raum« gehabt hätte. Ältere Generationen seien »in der Defensive«, weil sie »die neue Konfliktkultur weder verstehen noch für die eigene Person wirklich akzeptieren« könnten. Die Unlösbarkeit des Konfliktes zwischen dem theoretischen Anspruch von Ehe und Familie zur umfassenden Bedürfnisbefriedigung ihrer Mitglieder und der tatsächlichen Unfähigkeit, diesen Anspruch zu erfüllen, zeigte bereits 1969 Dieter Haensch, außer die Gesellschaft verzichtete »auf die Familie als Produktionsstätte autoritärer Charaktere«, was sie aus ökonomischen Gründen nicht könne. »Sie muss vielmehr bestrebt sein, den aus diesem Konflikt entstehenden Zerfall der Ehe und Familie aufzuhalten.« Das geschähe unter anderem durch die Propagierung der Ideologie der Familiensentimentalität. Dazu zitiert Haensch Wilhelm Reich: »So miserabel und trostlos, leidvoll und unerträglich die Ehesituation und Familienkonstellation ist, ideologisch muss sie nach außen sowohl wie nach innen von den Familienmitgliedern verfochten werden … Das Verschleiern vor sich selbst und die sentimentalen Schlagworte, welche wichtige Bestandteile der ideologischen Beeinflussungsatmosphäre bilden, sind seelisch notwendig, denn sie unterstützen das Durchhalten in der seelisch unökonomischen Familiensituation.« Durchzuhalten wird in diesem Modell höher bewertet als die Fähigkeit, loslassen zu können, Veränderungen zu wagen und überhaupt flexibel zu sein. Mundhalten ist besser als Mund aufmachen. Reden ist Silber, Schweigen 41
ist Gold, Starrheit ist richtig, Beweglichkeit falsch, lautet die geheime Botschaft, mit der seelische Gesundheit hinter sozioökonomische Sicherheit – oder was dafür ausgegeben wird – gesetzt wird. Dabei macht es wenig Unterschied, ob der Bewegungsdrang von Kindern, Trennungswünsche von Frauen oder gar Desertionsimpulse von Soldaten – oder katholischen Priestern – unterbunden werden. Selbst die derzeit geforderte berufliche und damit verbundene räumliche Mobilität wird in Alltagsgesprächen noch immer negativer bewertet als lebenslange Firmentreue. Denn subjektiv wird Trennung noch immer häufig mit Abtrennung, »Kastration« und damit Wertverlust gleichgesetzt: das Kind, das einem »weggenommen« wurde, die Frau oder der Mann, die/der »weggelaufen« ist, der Soldat, der »abgehauen« ist, der Priester, der »abgesprungen« ist – sie alle bedeuten für die Zurückgebliebenen die Gefahr objektiver oder subjektiver Entwertung, weil Negativbewertung: Wenn man sich nicht mag, wenn man nicht ideal ist, hält man auch nicht aus, wenn jemand Vermutungen anstellt, dass das alles nicht in Ordnung – nicht ideal – gewesen sein könnte. Die übliche Kompensation von Entwertungsgefühlen besteht in Racheaktionen. Diese gefährden wiederum die leibseelische Sicherheit und Gesundheit … – wozu also sich dieser Gefahr aussetzen? »Na, so schlimm ist es auch wieder nicht!«, lautet die gängige Selbstberuhigung. Denn objektiv bewertet ist Auswechseln nur erlaubt, wenn »man sich verbessert«. Nachweisbar, daher ökonomisch.
Familie als Heilbringer Idealisierung ist aber nicht nur eine Überlebenstechnik für unerträgliche Situationen, sie ist als Zukunftsvision auch 42
möglicher Zielpunkt, auf den man hinarbeiten kann. »Hoffnung muss in uns angelegt, ein sinnvolles Ziel der Menschheitsentwicklung in uns einprogrammiert sein, sonst würden wir alle nicht täglich neu den Kampf mit unserem Weltschicksal aufnehmen«, vermutet Felicitas Betz, denn: »Dieses Hinleben auf ein Besseres, diese Gewissheit, dass ein Heilendes in Gang ist, scheint die Menschheit schon seit ihren Anfängen bestimmt zu haben.« Nicht nur die Menschheit, auch das Neugeborene vollzieht in seiner leibseelischen Entwicklung die komplette Menschheitsgeschichte nach: Es kommt ebenso aus dem Wasser – dem Fruchtwasser –, macht die Entwicklung vom Vierfüßler zum aufrechten Gang durch, lernt – hoffentlich – seine Aggressionen zu zähmen und gelangt durch all die Phasen, die wir auch in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit beobachten zu dem, was wir jeweils historisch als reif bezeichnen. Ähnliches können wir in der Gegenwart an den jungen afrikanischen Staaten beobachten, die ebenfalls scheinbar verkürzt eine Jahrhundertgeschichte durcharbeiten. Etwas Ähnliches kann man Familien konzedieren: Konfliktlösungskompetenz wird einem nicht »in die Wiege gelegt«, man muss sie »entwickeln«, und das heißt: sich erarbeiten. Auch wenn uns vielfach verboten wurde, Unstimmigkeiten in der Familie anzusprechen oder gar die Ursachenvermutung, den Ursachennachweis auszusprechen: »heil« ist eine Familie nicht, wenn sie keine Konflikte hat, sondern wenn sie Konflikthaftes heilen, wenn sie aus Spaltungen wieder ein Ganzes machen kann. Der Gedankenfehler, den viele Menschen begehen, besteht darin, zu glauben, die Harmonie der Ganzheit entund bestehe aus dem Zusammenwirken gleichgeschalteter Teile. Damit bewirkt man aber nur die Verstärkung einer 43
Position von mehreren – es entsteht also eine Partei, ein Lager, eine Armee. Ganzheit wird gebildet durch das mehr oder weniger »glatte« Zusammenfügen zweier oder mehrerer unterschiedlicher Positionen, und dieser Prozess braucht nicht nur Vertrauen: Vertrauen nämlich, dass das überhaupt und mit den jeweiligen Personen möglich und von denen ebenso gewollt ist. Er braucht auch die notwendige Zeit und Geduld der Abstimmung, und er braucht eine gewaltfreie Kommunikation. Sonst folgt keine »glatte« Anpassung, sondern brutale Durchdringung oder Vereinnahmung – oder wenn wir die Sprache der Geschlechterbeziehungen oder der Betriebswirtschaft wählen: keine Verschmelzung/Fusion, sondern Vergewaltigung/Take over. Ich benützte für diese These die Metapher einer Bandbreite mit zwei Extrempositionen: Zwei in die gleiche Richtung Blickende ergänzen einander nicht, sie verstärken einander. Und genau das war bis vor zwanzig, dreißig Jahren auch der geheime Sinn von Familie – der patriarchal organisierten Familie. Es sollten Clans – Macht- oder Notgemeinschaften – gebildet werden. Wer nicht die geforderte Loyalität oder Solidarität aufbringen mochte, wurde als »nicht heil« – dumm, krank, kriminell oder »schwarzes Schaf« – etikettiert und mehr oder weniger isoliert – bis zur Verbannung, zum Ausschluss.
Wege aus der Idealisierungsfalle Im heute zumindest verbal propagierten Familienmodell der Partnerschaft würden entsprechend meiner Bandbreitenmetapher die Beteiligten von einander gegenüberliegenden Positionen unterschiedlicher Nähe auf 44
die Mitte der Begegnung hinblicken. Ob sie einander dann herzoffen, liebend entgegenkommen oder feindlich mit verengtem Blick und Denken, ist jeweils eine höchstpersönliche Entscheidung und abhängig von der Differenzierungsfähigkeit sowie der Ichstärke, andere Sichtweisen als die eigene gelten zu lassen, und der Fairness, diesen Respekt auch zu signalisieren. Nonverbal und verbal. All dies kann man lernen. Differenzieren heißt auch: trennen. Trennungserleben beinhaltet üblicherweise auch Trennungsschmerzen: Wenn Trennungen – beispielsweise von einer die leibseelischgeistige Gesundheit schädigenden Person – vor allem als Erleichterung empfunden werden, folgen meist nach einiger Zeit unerklärliche Stimmungsverschlechterungen. Diese benenne ich als Entzugserscheinungen. Die tägliche »Gift«-Dosis fehlt. Trennungen zu bewältigen, muss auch erst gelernt werden. Das geschieht in frühester Kindheit: Jede Entfernung der wichtigsten Bezugsperson löst Wut – nach Bowlby »Reaktion auf Verlust« – aus; »gesunde« Trauer ist nach ihm »die Niederlage zuzugeben und sich von neuem auf eine Welt einzustellen, in der das Fehlen der geliebten Person als unumstößliche Tatsache akzeptiert wird. Auflehnung – einschließlich der wütenden Forderung nach Rückkehr der Person und des Vorwurfs, im Stich gelassen worden zu sein – ist ebenso Bestandteil der Reaktion eines Erwachsenen auf Verlust, besonders einen plötzlichen Verlust, wie der eines kleinen Kindes.« Hingegen sei eines der Hauptmerkmale pathologischer Trauer die »Unfähigkeit, den Drang, die verlorene Person wiederzugewinnen und auszuschimpfen, mit all der damit verbundenen Sehnsucht und Wut offen zum Ausdruck zu bringen«. Der britische Psychoanalytiker kritisiert aber auch, »dass Kliniker manchmal unrealistische 45
Erwartungen hinsichtlich der Geschwindigkeit haben, mit der jemand über einen schweren Verlust hinwegkommen sollte«. Ich ergänze: Ebenso haben die Erziehungspersonen kaum eine Vorstellung davon, was für einen Säugling oder ein Kleinkind der Verlust der Anwesenheit seiner Bezugsperson bedeutet und wie viel Zeit sie brauchen, mit ihrer Wut und Trauer fertig zu werden. Da diese frühen Formen von »Trauer« weder als solche erkannt noch respektiert, sondern als Unart oder Trotz bekämpft werden, bilden sie oft die Grundlage späteren Schweige- oder Abkapselungsverhaltens. Damit zeigt sich eine Analogie zu dem »chronischen Trauersyndrom«, das Bowlby bei mehreren Witwen beobachtete, das »einen Zusammenbruch der Kommunikation« widerspiegelt, »zum Beispiel weil die Familie sich nicht als mitfühlend und hilfreich genug erwies«. Infolge mangelnden Verständnisses und mangelnder Unterstützung fanden die Trauernden keinen Anreiz mehr, einen neuen Anfang zu versuchen. Ob der Anspruch auf Mitgefühl vielleicht überfordernd – »neurotisch« – überdimensioniert war, untersucht Bowlby nicht. Auch für meinen Argumentationsaufbau ist solch eine Bewertung unerheblich: Sie soll aber der Korrektheit willen erwähnt werden. Ich kenne zahlreiche Fälle von Familienstreitigkeiten, deren Folge »ewiger« Kommunikationsabbruch war. Ein Beispiel: Ruth, die schöne und kluge Tochter von Edith, der Gattin eines hohen Staatsbeamten, lebt während ihres Rechtsstudiums bei Ediths hochbetagter Mutter Lea. Als Ediths stets rivalisierende Schwester Hanna, die 46
übergewichtige Ehefrau eines Speditionsangestellten und Mutter eines versoffenen Schulabbrechers, versucht, Lea dazu zu zwingen, ihre Ersparnisse für die Ausstattung von Hannas Ferienwohnsitz zu opfern, schaltet sich Ruth ein und verteidigt die finanzielle Selbstbestimmung ihrer Großmutter. Hanna schlägt darauf Ruth krankenhausreif. Als Ruth ihre Tante wegen Körperverletzung anzeigt, bricht Hanna jegliche Kommunikation zu Ruth, Edith und diesem Zweig der Familie ab. Spätere Vermittlungsversuche bleiben erfolglos. Ich möchte derartige Konflikte nun nicht tiefenpsychologisch entschlüsseln, sondern zeigen, dass hinter den »Heils«- und damit Ganzheitserwartungen (»In einer Familie müssen alle zusammenhalten«, »Wenn einer etwas braucht, müssen es die anderen liefern«) die Unfähigkeit lauert, mit Widersprüchen oder »bloßen« Teilmeinungen zurechtzukommen. Das erforderte nämlich Trauerarbeit: den Verlust des Trugbildes von den immer verfügbaren Familienangehörigen. Bowlby zeigt anhand der Entwicklung von Bindungsfähigkeit beim Kind und dem daraus folgenden Selbstvertrauen, dass wesentliche Merkmale der gesunden Persönlichkeit in der Fähigkeit bestehen, »sich vertrauensvoll auf andere zu verlassen, wenn die Gelegenheit es erfordert, und zu wissen, auf wen man sich verlassen kann« und umgekehrt: ebenso vertrauensvolle Basis für andere zu sein. Demgegenüber steht die Unfähigkeit, einen »Wunsch nach Unterstützung auszudrücken« oder man tut es auf eine »fordernde, aggressive Weise« und gibt somit mangelndes Vertrauen zu erkennen und seine Unfähigkeit, »auf andere einzugehen«. Nur Verbundenheit als Ideal gelten zu lassen und 47
Unabhängigkeit als Egoismus abzulehnen ist genauso eine Entweder-oder-Lösung wie gegenteilig Autonomie zu verherrlichen und Bindung als Abhängigkeit zu pathologisieren. Vielfach wird Verbundenheit dann idealisiert und eingefordert, wenn jemand ohne Worte bedient werden will – wie ein Baby. Kommt umgekehrt die gleiche Forderung auf einen zurück, wird oft mangelnde Selbstorganisation vorgeworfen. Um aus der Idealisierungsfalle herauszukommen, ist es nötig, das erwünschte »Gute« mit dem gefürchteten »Schlechten« zusammenzubringen: Das Mittel dazu ist Kommunikation, beispielsweise durch die Einladung, gemeinsam nach »Verbesserungsmöglichkeiten« zu suchen. G.G. Jung differenzierte »Funktionstypen« von Persönlichkeiten. Dieser Auffassung liegt eine Aufteilung des »ganzen« Bewusstseins in vier Funktionen zugrunde: in Denken und Fühlen, körperliches Empfinden und intuitives Ahnen. Jung sah bzw. beobachtete Denken als Hauptfunktion, Körperempfindung und Intuition als Nebenfunktionen und Fühlen als »minderwertige« – ich formuliere: minderbewertete – Funktion. Denn welche Funktion chronisch dominiert, hängt meiner Sicht nach wieder von der Verinnerlichung von Vorbildern, Übungserlaubnis und Lob ab; und ich sehe auch keinerlei Notwendigkeit für eine derartige Dominanz, außer man bezweckt die Verkümmerung einer dieser ergänzenden – Ganzheit vervollständigenden – Funktionen. Wenn wir also dieses Ganzheitsmodell auf die Familie anwenden wollen, ginge es darum, o die Intuition – das Ahnungsbild –, was »heile Familie« sein könnte, selbst zu »verkörpern« und 48
nicht von anderen einzufordern, o unsere Körperempfindungen können uns signalisieren, wie nah oder fern wir jeweils diesem Ziel gekommen sind, o unser Gefühl der Sehnsucht kann uns den Impuls liefern, uns an die Realisierungsarbeit zu machen, o unser Denken sollte uns helfen, unser Handeln bedächtig zu planen. Aber ohne Sprache werden wir uns den anderen nicht mitteilen und uns mit ihnen abstimmen können.
49
DAS TABU DER REALITÄTSSICHT
V
on Virginia Satir stammt die Analogie, Familie mit einem Mobile gleichzusetzen. Wenn ein Mobile auf dem Tisch liegt, scheint es nicht mehr zu sein als ein Durcheinander von Stangen, Fäden und daran befestigten Figuren. Wenn man aber dieses Wirrsal am mittleren Faden hochhebt, so ordnen sich alle Einzelteile zu einer gleichgewichtigen Einheit, in der keines an die anderen anstößt. Allerdings kann diese Balance leicht gestört – zerstört – werden. Dann muss man die Teile korrigieren, um ein neues Gleichgewicht herzustellen. Der eine Faden wird verkürzt, ein anderer verlängert … In Familien heißt dies meist: Ein Teil verzichtet auf etwas, ein anderer übernimmt neue Verpflichtungen, vielleicht kommt sogar jemand dazu oder zieht sich zurück, und je nachdem, ob das Familiengleichgewicht nur vorübergehend gestört wird, fallen solche Neuarrangements leichter, als wenn es sich um eine Daueranpassung an eine womöglich unerwünschte neue Situation handelt.
Die Entstehung von Wirksamkeit Ich benütze als Metapher noch lieber das Bild von Menschen auf einem Floß: Je nachdem, wie sie ihre Position verlagern, verändern sie den Flusslauf des Transportmittels. Und: Aus jeder Veränderung im Raum ergibt sich ein anderer Blickwinkel, eine andere Perspektive – und damit mögliche Konflikte mit denjenigen, die nicht dieselbe »An-Sicht« teilen. Je mehr sich jemand »in Opposition« befindet, desto eher werden 50
die Sichtweisen differieren. Das wäre eine Chance der Ergänzung: Einer sieht die Vorderansicht, der andere die Rückseite. Meist wird aber um die absolute Geltung und Einzigartigkeit der höchstpersönlichen Sicht der Welt gestritten. Das kostet nicht nur Zeit und leibseelische Energie, sondern behindert auch, die volle Aufmerksamkeit den eigentlichen Aufgaben und Zielen zu widmen. Zum Beispiel dem Ziel, eine »funktionierende« oder eine »glückliche« Familie zu werden. (Ich formuliere absichtlich zu werden, weil ich solche Ziele als permanenten Prozess verstehe und nicht als starren Zustand.) Es macht also einen Unterschied, von welchem Standpunkt aus man die Welt, die Personen, Beziehungen, Aufgaben und Ziele sowie die dazu notwendigen Hilfsmittel, fördernde oder schädigende Einflüsse betrachtet. Dabei zeigt sich: Je kleiner man ist, desto weniger Über-Blick hat man. Je mehr man überblickt, desto mehr kann man sich zum Medium machen: Man vermittelt Unkundigen die Informationen, zu denen sie weder Zugang noch Einsicht haben. Man hat damit nicht nur die Macht der Wahl des Blickwinkels, sondern auch der Formulierungen: der Hervorhebung, des Weglassens, der Auf- oder Abwertung und auch der Verfälschung. Wenn man der Einzige ist, der Über- oder Einblick hat – oder zumindest behauptet, ihn zu haben –, kann man weitgehend ungestört die eigene Sichtweise vermitteln. Bis andere nachwachsen, nachprüfen und mündig werden. In Familien spricht man dann von der Ablösungsproblematik: Die Kinder sind gleich groß geworden und sehen nicht mehr von unten hinauf. Sie schauen »Äug in Äug« und sie erblicken neue Realitäten – solche, die ihre Eltern nicht wahrhaben wollen. 51
Die Möglichkeit, seinen Aussichtspunkt frei zu wählen, zu tauschen, zu verbessern, gibt die Chance von mehr Erfahrung. Daher wird in Familien oft der erkämpfte Platz im Raum heftig verteidigt oder beschützt, beispielsweise der »Hausherrenplatz« bei Tisch, der Küchenzugangsoder der Ablagetisch vor dem Fernseher. Sehr schön kann man dieses Revierbehauptungsverhalten bei Haushunden beobachten, wenn sie sich auf Treppen hinlegen und die Schnauze auf den Vordertatzen gestützt »ihre« Familie überwachen … Bleiben wir bei dem analogen Bild vom Floß und nehmen wir an, alle wollen dasselbe Ziel erreichen: Dann können wir die Funktionalität der Bemühungen danach unterscheiden, welche Veränderungen des Standorts aufgrund welcher Motive erfolgen. Leider sind diese oft nicht wahrzunehmen – die Veränderung erfolgt scheinbar unmotiviert und unbewusst: o weil man nicht gelernt hat, auf andere Menschen zu achten – sie im Auge zu behalten und wahrzunehmen, was sie tun, o oder weil man – unbewusst – gelernt hat, nicht auf andere Menschen zu achten, egal, ob aus Selbstschutz oder aus Überheblichkeit, o oder man ist ganz im Gegenteil stärker auf eine andere Person bezogen als auf das Ziel, eine bestimmte Spur zu verfolgen, was bedeutet, man lässt sich vom Verhalten anderer ablenken, o oder die Geschehnisse laufen so schnell ab, dass man- ohne Training – nicht mit dem beschleunigten Zeitablauf zurechtkommt: Aus der Komplexität der Ereignisse werden dann einige wenige herausgefiltert, auf die man gerade noch reagieren 52
kann, und meist sind das die falschen – nämlich die, die nicht helfen, in die gewünschte Richtung zu korrigieren, o oder man begeht eine Fehlhandlung, stolpert etwa, aus Ungeschicklichkeit oder Unbeholfenheit, erschrickt, es kommt zu weiteren Fehlern, die Situation eskaliert, es kommt zu einem Unfall, und so kann es sogar passieren, dass jemand »von Bord geht«. Meist beruhen solche unbeabsichtigten Störungen aber auf »bloßer« Unachtsamkeit, unachtsam der eigentlichen Aufgabe gegenüber, oft aber auch gegenüber den anderen Menschen, die mit einem auf demselben Floß reisen.
Achtung – Unachtsamkeit – Missachtung – Sabotage Diese mangelnde Achtung kann in bewusste Missachtung übergehen. Und oft folgt als nächste Steigerungsstufe gezielte Sabotage. Das Wort »Achtung« hat eine dreifache Bedeutung: o die Verhaltensweise, auf etwas Acht zu geben, o das Verhalten als Endprodukt einer Verhaltensweise, jemandem achtsam zu begegnen, o und die Aufforderung, den Befehl, auf etwas Unbeachtetes zu achten. Und genau diese Aufforderung zur Achtsamkeit ist es, die 53
in den meisten Familien tabu ist – denn sie setzt ja logischerweise voraus, dass irgendetwas ignoriert wird oder wurde, das wesentlichen Anteil an einer Fehlentwicklung hat oder haben könnte. Dieses Verbot, erstens die Aufmerksamkeit auf Fehlentwicklungen zu richten, und das noch strengere Verbot, diese Wahrnehmung anzusprechen, trifft nur diejenigen, die in der Familie ohne Macht sind. Sie dürfen sich bestenfalls stumm bemühen, an der Schadensbegrenzung mitzuwirken. Was Kinder betrifft, hat Alice Miller aufgezeigt, dass sie dazu neigen, ihre Eltern zu »schonen«. Kinder sind nicht „ichstark“ genug, die Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Personen, von denen sie abhängig sind, zu ertragen. Umgekehrt besitzen aber auch die »Erwachsenen« häufig nicht die Ichstärke, auszuhalten, dass sie keine perfekten Übermenschen sind. Durch dieses Verbot, Mängel anzusprechen, wird o Wahr-Nehmung ebenso wie eigenes Nachdenken verboten. (Alice Miller formulierte »du sollst nicht merken«.) o Damit wird aber auch Achtsamkeit auf Mängel und damit auf die Notwendigkeit von Unterstützung verhindert. o Es wird weiterhin die Fehlsicht von Menschen verstärkt, die entweder als überstark phantasiert oder als Versager diskriminiert werden. o Durch diese Polarisierung kommt eine Schwarz-WeißSicht zustande, die wiederum zu Missverständnissen und Kämpfen führt und o so ein gelungenes partnerschaftliches Zusammen54
wirken von Menschen – insbesondere in der Familie – unmöglich macht.
Sprachgewalt Diejenigen allerdings, die in der Familie »das Sagen« haben, kritisieren, nörgeln und schimpfen oft nach Herzenslust und lassen auf diese Weise all ihre Enttäuschungen an den Unterlegenen aus. Damit setzen sie einen Kreislauf von Wiederholungszwängen in Gang: Ihr Vorbild wird weiter nachgeahmt, sowohl was die einseitige Weltsicht als auch das dogmatisierende Sprachverhalten betrifft. Durchsetzungsstrategien wie niederschreien, niederreden oder durch andere verbale Attacken mundtot machen erleben schwächere Familienangehörige oft schon, bevor sie selbst der Sprache mächtig sind. Sie werden Ohrenzeugen lautstarker Auseinandersetzungen ihrer Familienangehörigen oder selbst Adressat verbaler Gewalt. »Jahrhundertelang haben die Erwachsenen den Kindern, solange sie nicht sprechen konnten, keinerlei menschliches Gefühl zugesprochen«, mahnt die Pariser Kinderpsychiaterin und Psychoanalytikerin Caroline Eliacheff, »höchstens einige mechanische Fähigkeiten, ihre elementaren Bedürfnisse auszudrücken, wie sie auch Tieren zugestanden wurden …« Eliacheff behandelt Kinder, die noch nicht sprechen können, psychoanalytisch. Erfolgreich. Sie »übersetzt« den Säugling, womit sie die Wortfindung meint, und erzeugt so »gewissermaßen Untertitel« als Möglichkeit, »das, was er erlebt, in Worte zu fassen«. Ähnliches geschieht, wenn mit Hilfe von »basaler 55
Stimulation« versucht wird, die Vitalkräfte von Komapatientinnen zu aktivieren. In meiner jahrelangen Supervisionsarbeit in Unfallkrankenhäusern konnte ich allerdings leider immer wieder die folgende Erfahrung machen: Wie sehr sich Krankenschwestern auch bemühten, bewusstlose Menschen auf diese Weise pfleglich zu behandeln, ihre Arbeit wurde immer wieder durch laut dröhnende Chirurgen – »Die hören doch ohnedies nichts!« – zunichte gemacht. Wenn Eliacheff also formuliert: »Auch wenn Kinder die Sprache beherrschen, werden ihre Verständnisfähigkeiten noch lange nicht hoch eingeschätzt, vor allem dann nicht, wenn es die Erwachsenen stören würde«, so trifft diese Beobachtung auch für Erwachsene zu: Wenn Rücksichtnahme lästig erscheint, wird eher dem Berücksichtigungswürdigen die Wahrnehmung abgesprochen, als zuzugeben, dass man selber rücksichtslos ist. Sprachgewalt hat eine inhaltliche und eine formale Dimension. Letztere wird meist nur akustisch als Quantität von Lautstärke aufgenommen, nicht aber synästhetisch als energetische Attacke, die nicht nur durchs Ohr und unter die Haut, sondern durch Mark und Bein geht. Jeder Gedanke ist ein chemisch-elektrischer Prozess im Gehirn. Je intensiver gedacht wird, desto stärker werden die Neurotransmitterausschüttungen – die Freisetzungen chemischer Botenstoffe – von anderen wahrgenommen: Man »spürt«, ob jemand beispielsweise wütend ist oder sexuell erregt, auch wenn derjenige keinerlei aktive mimische oder verbale Äußerungen von sich gibt. Man spürt es über den elektrischen Hautwiderstand und der ist mittels physikalischer Apparaturen messbar. Dennoch bekommen Menschen, gleichgültig wie alt sie sind, wenn sie solcherart Erspürtes ansprechen, vielfach zu hören: 56
»Das bildest du dir nur ein!« Auch dieser Satz ist Sprachgewalt: Mit dem Wörtchen »nur« wird die Wahrnehmung der anderen Person abgewertet und sie selbst als nicht ernst zu nehmend disqualifiziert. Dass man sich aber etwas einbildet, ist – abgesehen von der beabsichtigten Abwertung – sprachlich korrekter Ausdruck: Wir bilden uns immer etwas ein – wir machen uns nämlich immer ein inneres Bild von den Erscheinungsformen der äußeren Welt. Und wir denken auch immer in Bildern – so wie in unserer vorsprachlichen Kinderzeit. Die Bilder laufen allerdings oft so schnell ab, dass sie in unserem Unbewussten bleiben, während wir sie in Sprache symbolisieren und damit kommunizierbar machen. Wenn also Wahrnehmung als unrealistische Einbildung verworfen wird, heißt diese Botschaft im Klartext: Diese Realitätssicht mag ich nicht akzeptieren – sie ist für mich tabu.
Familie – eine Gemeinschaft? In der heutigen hoch industrialisierten Welt mit ihrem überreichen Warenund Dienstleistungsangebot »brauchen« wir einander nicht mehr wirtschaftlich, sondern höchstens emotional; aber selbst Partnerschaft wird in einer Wegwerfgesellschaft zum Wegwerfprodukt: Wenn sie nicht mehr funktioniert, bringen wir sie bestenfalls zum »Kundendienst« – bei Paar- oder Familientherapeutinnen – oder der Partner wird gegen ein neues Modell getauscht. Nach heutigem Verständnis ist Familie nicht mehr primär Produktions-, Konsumations- und Beistandsgemeinschaft. Sie ist auch nicht mehr Schicksalsgemeinschaft. Dennoch 57
bleibt der Begriff der Gemeinschaft bestehen, es fragt sich nur, was noch »gemein« ist – und nicht nur, wer! Im Gegensatz zu den Vorstellungen im vorigen Jahrhundert (der, der das Geld verdiente, hatte nicht nur die ökonomische Macht über die einkommenslose Haushälterin, die vom Sockenstricken bis zur Vorratshaltung alle Versorgungsleistungen erbrachte oder überwachte) bestünde endlich die Möglichkeit, partnerschaftlich zu vereinbaren, ob man den Schwerpunkt bloß auf Wohngemeinschaft, Freizeitgemeinschaft, Studiengemeinschaft, Aufbaugemeinschaft, Genussgemeinschaft, Fortpflanzungsgemeinschaft oder was auch immer legen will. Soll es aber eine Gemeinschaft sein, in der nicht einer einseitig über den anderen bestimmt, ist es auf jeden Fall notwendig, dass es eine Sprachgemeinschaft ist! Wir sprechen von der Gemeinschaft »unserer Lieben«. Was verbirgt sich hinter dieser »Liebesgemeinschaft«? Gefühle beziehungsweise Forderungen: Alle wollen lieb gehabt werden. Alle sollen lieb zueinander sein. Jede Leistung soll aus Liebe erbracht werden. Und die Liebe soll immer währen, weil sie ja zur Familie dazugehört. In Liebe ist Achtung mit enthalten: Man achtet auf jemanden, weil es von Wichtigkeit ist, wie es der geliebten Person geht, und weil man außerdem Sorge trägt, dass ihr nichts Böses widerfährt. Und man achtet – wertschätzt – die Person auch dadurch, dass man sie annimmt, wie sie ist, auch wenn vielleicht die eine oder andere Eigenschaft, das eine oder andere Verhalten nicht den eigenen Wünschen entspricht; im Idealfall ist man sich über eigene Wünsche klar und definiert sie nicht in eine Bezugsberechtigung für Erfüllungspflichten um. Das macht ja gerade den Unterschied von Liebe und Abhängigkeit aus: Im einen Fall ist man von der geliebten Person begeistert und freut sich, dass es sie gibt, im 58
anderen Fall »braucht« man die »geliebte« Person und versucht sie zu kontrollieren, damit man keine Entzugserscheinungen bekommt.
Die Realität der Furcht Jemand zu achten ist etwas anders als jemand zu fürchten. Vielfach bedeutet im geheimen Organisationsplan von Familien »ehrfurchtsvolle Beziehung« in Wirklichkeit Gehorsam, »partnerschaftliche Erziehung« in Wirklichkeit Vernachlässigung. In beiden Fällen wird die Verantwortlichkeit der Erwachsenen, für die Befriedigung nicht nur der physischen, sondern vor allem auch der psychischen und sozialen Bedürfnisse der Heranwachsenden Sorge zu tragen, negiert. Macht wird nicht zur Förderung aller ausgeübt, sondern es entsteht Machtmissbrauch. Missachtung und in weiterer Folge Sabotage können demgegenüber Versuche bedeuten, diesen Machtmissbrauch zu stoppen. Eine gelungene Form, seine achtzehnjährige Tochter Rieke zur Unterordnung zu manipulieren, hat Robert in der Anschuldigung »Du bist nicht kooperativ.« gefunden. Wann immer die Abiturientin für Prüfungen lernen möchte, verlangt der ungebildete Vater dringende Schreibarbeiten für seinen Gewerbebetrieb. »Damit du etwas Vernünftiges lernst!« Einerseits attackiert er Rieke so mit dem konkreten Vorwurf, nicht kooperationsbereit zu sein, und behauptet gleichzeitig die alleinige Definitionsmacht darüber, was kooperativ (und vernünftig) ist: Nicht kooperativ zu sein bedeutet für ihn jedenfalls, nicht zu tun, was er will. Andererseits ist er sich gar nicht bewusst, dass er Rieke von ihrer Selbstwahrnehmung abbringt. Als 59
typischer Vertreter der Vorkriegsgeneration ist es für ihn selbstverständlich, dass der Mann »das Sagen hat« und Frauen stillschweigend gehorchen. Daher ist Kooperation – Zusammenarbeit – aus seiner Sicht, dass nach seinen Angaben mit ihm zusammengearbeitet wird. Rieke will nicht unkooperativ gelten, will sich aber auch nicht verteidigen müssen. Sie will sich jedoch auch nicht an Spielregeln – Geschäft geht vor Schule, Vater vor Tochter, Mann vor Frau – anpassen, die sie nicht für richtig hält; gleichzeitig will sie aber in ihrer Familie »mitspielen«. Sie fürchtet zu Recht Endlosdebatten, die sie auch nur wieder vom Lernen abhalten würden. Und sie fürchtet schulischen Misserfolg, der den Vater über ihr Versagen triumphieren ließe. Sie unterwirft sich ohne Widerrede. Ihre Furcht nimmt Robert nicht wahr; für ihn ist sie nunmehr kooperativ und – vernünftig. Damit die Machtverhältnisse in der Familie weder erkannt noch in Frage gestellt werden, werden Druckmittel eingesetzt, und zwar nicht nur o wirtschaftliche – zum Beispiel Entzug finanzieller Zuwendungen, o soziale – Einschränkung der Außenkontakte, aber auch Kommunikationsabbruch, o sondern vor allem auch moralische. Dass in Abhängigkeitsbeziehungen durch Moralgebote Druck ausgeübt wird, hat eine jahrhundertelange Tradition. Noch in der vorindustriellen Zeit forderte beispielsweise der Bauer Tugendhaftigkeit und Fleiß von seinen Hilfskräften, Lehrlinge und Gesellen waren in ihren privaten Beziehungen der umfassenden hausväterlichen 60
Gewalt ihres Meisters unterstellt und auch heute noch beinhalten Personalkonzepte auch »standesgemäßes« Verhalten. Dies betrifft pikanterweise vor allem die Kleidungsgewohnheiten weiblicher Mitarbeiter und nicht den Alkoholkonsum männlicher. Für die Zeit vor der durchgängigen Industrialisierung formuliert der Sozialhistoriker Reinhard Sieder: »Das in den genannten gesellschaftlichen Bereichen jeweils entsprechende Leistungsprinzip wurde also von persönlichen Autoritäten verkörpert und seine Einhaltung im Rahmen der Hausgemeinschaft auch persönlich überwacht.« In Familienbetrieben und Firmen mit stark patriarchaler Unternehmensorganisation besteht dieses Prinzip weiter- und in Familien wird es als allgemein gültige Norm verteidigt. Verkörpert heißt allerdings noch lange nicht »vorgelebt«. Es heißt vielmehr »vorgegeben« – behauptet. Wer nicht selbst demonstrierte, was »sittlich« oder »anständig« sei, berief sich ersatzweise auf eine übergeordnete Autorität: Gott oder die Natur, den Gesetzgeber oder den »gesunden Menschenverstand« und wo der nicht ausreicht, helfen »die Wissenschaft« oder die Medien aus. Aus einem juristischen Blickwinkel betrachtet, zeigt sich eine straff hierarchisch durchorganisierte Gesellschaftzumindest der Gesellschaftsteile, die als »staatstragend« Bedeutung hatten; die Bevölkerungsschichten, von denen weder personelle noch finanzielle Leistungen für den Staat zu erwarten waren, hatten immer eigene Organisationsstrukturen, die aus der Sicht der jeweils anderen unsittlich, kriminell, psychopathologisch hießen oder sonst einen diskriminierenden Namen trugen. Hierarchie hat in den letzten zwanzig Jahren der vielzähligen gesellschaftlichen Emanzipationsbemühungen einen »schlechten« Namen bekommen. Vom 61
Prinzip her zu Unrecht – denn Hierarchisierung heißt nichts anderes als: es wird ein von oben nach unten aufeinander einwirkendes Rechtssystem von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten samt Sanktionen konstruiert, in dem jeweils die obere Instanz die untere kontrollieren, aber auch unterstützen soll. Demütigungen, Angstmache, Mobbing sind dabei keineswegs vorgesehen; dass sie vielfach stattfinden, bedeutet nur, dass die Verantwortlichen sich selbst bei Konfliktlösungsaufgaben durch mangelnde Kommunikationsfähigkeiten disqualifizieren. Aus dem Blickwinkel der Machthaber gesehen, waren für die Staatsorganisation beispielsweise der österreichisch-ungarischen Monarchie oder des Dritten Reiches, gezielte Beschränkungen der Kommunikationsmöglichkeiten funktionell: Kein symmetrischer Informationsfluss nach beiden Richtungen, Aufträge von oben, Vollzugsmeldungen von unten ergaben deutliche Grenzziehungen zwischen Hierarchiestufen. Offizielles Ziel war die Schaffung von Standesbewusstsein. Real ging es aber um die Vermeidung von Austausch- und in der Folge möglichen Solidaritätsaktionen zwischen Zentralorganen und einheimischen Untergebenen; auch sollte durch Informationssperren die Gefahr von Revolten gebannt werden. Ähnliche, die Kommunikation vermeidende Strategien herrschten parallel in der Familienorganisation – vor allem von Beamten: Ein jeder war seiner Obrigkeit – dem Kaiser, König, Führer, Staat etc. – verantwortlich, dass auch in der Familie Zucht und Ordnung herrschte. War dies nicht der Fall, hatte das negative Auswirkungen auf die potentielle Karriere. Nicht auszudenken, wenn irgendein subversives Element in der Familie eines 62
Beamten die Staatssicherheit in Gefahr bringen könnte! In den Familien des Adels und des Großgrundbesitzes herrschten dagegen andere Spielregeln. Ihre Angehörigen hatten wie alle Reichen und Mächtigen die Möglichkeit, ihre Machtansprüche nicht nur in der Familie zu befriedigen. Der Psychoanalytiker Johannes Cremerius diagnostizierte für diese Sozialschicht, sie lebe »in einem Freiraum der Gesellschaft, in den die üblichen Regulative und Kontrollinstanzen nicht hineinreichen«, daher fehlt ihr auch weitgehend Unrechtsbewusstsein. In der Alltagsfamilie entziehen sich auch bestimmte Familienmitglieder der Kontrolle der anderen, und wieder sind es »die Reichen und Mächtigen«. Die »Armen und Ohnmächtigen« – die Kinder, die Kranken, Behinderten, die Alten, wenn sie Durchschnittsrentner sind – werden kontrolliert und sanktioniert. Und alle Auffälligen. Das sind die, die dem zwar irrealen, dafür aber umso heftiger beworbenen Klischee der »beautiful young people« nicht entsprechen.
Die Flüche der Eltern Von Norbert Elias stammt der Satz: »Gib einer Gruppe einen schlechten Namen, und sie wird ihm nachkommen.« Quasi eine selbsterfüllende Prophezeiung – ein Fluch. Die Familie gilt als Keimzelle des Staates. Einerseits. Andererseits bildet der Mikrokosmos Familie auch den Makrokosmos Staat ab: dominierte im Staat Kontrolle, herrschte sie auch in der Familie, wird im Staatshaushalt gespart, müssen auch die Familien sparen, propagiert der Staat Leistung, gibt sie auch in der Familie die Richtschnur. Aus dieser Einheit herauszufallen, Außenseiter zu werden macht Angst. 63
Tatsächlich erleben aber fast alle Menschen irgendwann einmal, dass ihre Lebenswirklichkeit anders ist, als sie sie erträumten. Plötzlich sind es nicht mehr die anderen, die die »schlechten Namen« tragen, sondern man selbst … Dann taucht die Angst auf – die Angst, elterliche Ermahnungen, religiöse Gebote, staatliche Befehle oder einfach die Leitbilder der Werbung nicht erfüllt zu haben. Dann tauchen vor dem geistigen Ohr all die Worte und Sätze auf, mit denen man diszipliniert wurde, sich der großen Masse anzupassen – oder dem, was einem als »normal« eingeredet wurde. Normal ist alles, was es in größerer Zahl gibt. Ob es erwünscht ist oder angenehm, ist eine andere Frage. Würde man miteinander reden, würde man möglicherweise erfahren, dass man mit einem bestimmten Symptom nicht allein ist. Aber um sich zu offenbaren, müsste man o wagen, sich überhaupt zu exponieren, o den Mut haben, seine Schwachstellen und seine Verletzlichkeit offen zu legen, o das Risiko ertragen, dann als schwach definiert zu werden, o die Gewissheit haben, auch in seiner Schwäche als wertvoller Mensch angenommen und respektvoll behandelt zu werden. Wieder wäre ein Vorbild vonnöten: Wie macht man das? Wie zeigt man seine bislang verborgenen Seiten? Und: Wie wehrt man sich, wenn man dann nicht mehr als Gesamtheit vieler Eigenschaften und Verhaltensweisen gesehen wird, sondern nur als Träger dieses einen Schwachpunkts? Fragen über Fragen, die blitzschnell 64
durch den Kopf schießen und Gefühle der Verwirrung und der Überforderung auslösen. Gefühle, die aus frühester Kindheit bekannt sind – aus den Situationen, in denen man von den Eltern gescholten wurde, weil man etwas nicht zusammenbrachte. Und wo man schwieg. Als Kind war man der Sprache noch nicht mächtig genug, um sich zu behaupten. Außerdem hätte es wahrscheinlich wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, denn man musste die Sprache ja erst lernen. Aber die »Reichen und Mächtigen« geben oft kein Vorbild, denn laut den in schöner Regelmäßigkeit wiederholten Untersuchungen führen Paare im europäischen Durchschnitt pro Tag maximal zehn Minuten Gespräche mit personbezogenem Inhalt. Es gibt also keinen Vor-laut; man ist nur »vorlaut«nach der Definition derjenigen, die ihr Sprachmonopol verteidigen.
Das Sprachmonopol der Eltern Kinder entwickeln sich vom Stammhirnniveau des Tieres – Kämpfen, Flüchten, Totstellen – zum Großhirnniveau des Homo sapiens. Durch die Fähigkeiten der Selbstreflexion und des Sprechens brauchte der Mensch auf dieser Entwicklungsstufe Konflikte nicht mehr mit Muskelkraft zur Entscheidung bringen – er kann stattdessen verhandeln, sich distanzieren und abwarten. Wenn Kinder sprechen lernen, lernen sie von ihren Bezugspersonen auch o die Wortwahl und damit Idealisierungen und Abwertungen, o monotone Appelle als – unzulängliche – Methode, 65
Ziele zu realisieren, o die Sprachlosigkeit im Affekt, o das Verstummen, wenn »Fäuste sprechen«, o die »Familienpropaganda« und die Realität hinter der potemkinschen Fassade und damit alle Register der Lügen. Erziehung gibt Ziele vor. Dabei ist wiederum ein Wandel in den Familienzielen feststellbar: Während bis in die späten sechziger Jahre Sparsamkeit und Zurückhaltung propagiert wurden, setzen danach mit den großen Befreiungsbewegungen – Studentenrevolten, betriebliche Mitbestimmungskämpfe, Frauenbewegung, Bürgerinitiativen und Suche nach psychosozialer Selbstbestimmung – auch die Kommerzialisierungswellen ein: Konsumverzicht verliert seinen Wert, Leistungsprinzipien erscheinen gekoppelt mit Konsumfähigkeit. Erfolg kann man kaufen. Allerdings erntete der Slogan »Die klügsten Köpfe kommen aus der Apotheke«, gekoppelt mit dem Bild eines Schülers, unmittelbare Proteste, als es auf österreichischen Plakatwänden auftauchte. Zu deutlich wurde eines der letzten Tabus verletzt: die verordneten Wege zur Tablettensucht.
Das Sprechblasenmonopol Mediale Vorbilder propagierten ursprünglich Konsum aufgrund von Aktivität: Lust ist etwas, das man sich erarbeiten kann! Zunehmend verschiebt sich diese Propaganda zur Forderung nach einer Lust, die einem zufällt. Derzeit dominieren in Filmen wie im 66
Werbefernsehen passive Versorgungswünsche, möglicherweise als Ausgleich zu einer immer brutaler werdenden Arbeitswelt des »Hire and fire« nicht nur von Einzelpersonen, sondern von ganzen Regionen und Nationen. Und das noch dazu in einer Geschwindigkeit, die Nachdenken, Mitfühlen, aber auch reflexhafte Abwehrbewegungen unmöglich macht. Bei dieser Geschwindigkeit der »modern times« bleibt keine Zeit zum Formulieren von Erklärungen. Man hat auf Zuruf zu funktionieren. Sprache verkümmert zu Sprechblasenfragmenten. Dazu finden wir die Vorbilder in den Comics, auf den Plakaten, in der TV-Werbung. Schnell und einprägsam. Selbst seriöse Tageszeitungen bieten mit »Hägar dem Schrecklichen«, »Blondie«, »Peanuts«, »Dilbert« oder wie sie alle heißen mögen Erholung von der Anstrengung, womöglich anspruchsvoll formulierte Sätze mit inhaltlicher Botschaft durchzuarbeiten. Auch die immer wieder aufgedrängten »In«- und »Out«Listen multiplizieren die Botschaft einer immer kommunikationsloseren Arbeitswelt: Will man »drinnen« bleiben, muss man sich nahtlos einfügen – wie die Hand gebenden Männlein in dem Bild von Escher, die spiralenhaft immer im Kreis gehen – in einem Höllenkreis. Das erklärt möglicherweise die Angst vor dem Draußen und die Sucht nach dem Innen – nach der zeitlosen Verschmelzung mit einer spendenden Mutterfigur: Das »Hotel Mama« wird ebenso frequentiert wie das »Hotel Freundin«. Das traditionelle weibliche Rollenbild wird wieder vehement eingefordert – von Männern wie von Frauen, von ablösungsresistenten Jugendlichen und sogar von »Erfolgsmachos« wie Frauenvernichter James Bond.
67
Sagen, was ist Die Beziehungsfähigkeit des einzelnen Menschen wird durch Zeitdruck und Arbeitsstress massiv beeinträchtigt oder durch Psychopharmaka manipuliert: Zeitdruck, Leistungsdruck – und auch der jeweilige Gegendruck aus Partnerschaft und Familie, sich Zeit zu nehmen und sich zu entspannen, führen zur Ausschüttung von Stresshormonen. Psychopharmaka betäuben dann oder putschen wieder auf. Der Satz »Ich bin im Stress«, womöglich noch gekoppelt mit Time Manager und zwei Handys, ist aber bereits zum Mitgliedsnachweis im Club der Wichtigen umgedeutet worden – wieder so ein Piktogramm, mit dem Unwichtige verführt werden, sich die vermeintlichen Insignien der »Reichen und Mächtigen« zu kaufen. Weil wir als Kinder so dringend den Schutz durch »mächtige« Elternfiguren brauchten und weil wir diese zumindest potenziell schützenden »Großen« bewunderten und liebten, glauben wir, Bewunderung und Liebe nur dann zu erlangen, wenn wir als ebenso mächtig angesehen werden. Solches »Ansehen« macht aber noch keine Wirklichkeit, deshalb bleibt neben dem Schein dieses Anscheins auch die Furcht vor seinem Verblassen und damit vor der Dunkelheit. Und dennoch sind es vielfach nicht die zugehörigen Begleitgefühle wie Furcht, Angst oder Scham, die die Enttarnung des Größenanscheins verhindern. Es ist die ausnahmsweise realistisch eingeschätzte Reaktion der »Gesellschaft«. Die »Angst vor der sozialen Degradierung« (Norbert Elias) bleibt so lange wirksam, bis man weiß, wie man mit ihr umgeht. Sie ist auch nichts anderes als die Angst vor etwas Anderem, etwas Neuem. Der erste Schritt, sich etwas Neues anzueignen, besteht 68
darin, es überhaupt als etwas Neues, noch Fremdes, wahrzunehmen – und nicht gleich als etwas Bedrohliches. Vielfach flüchten wir uns in Vorurteile, weil wir uns weder die Zeit nehmen wollen, das Unbekannte näher kennen zu lernen, noch glauben, die Spannungsgefühle der Erwartung auszuhalten. Es sind immer wieder die fehlenden Anleitungen, die Regression in frühere Entwicklungsphasen – ins Stammhirnrepertoire – bewirken. Die früheste Entwicklungsstufe ist das sprachlose Baby, dem die Bezugspersonen die Welt erst »benennen«. Aber auch später besteht die Gefahr, dass sich Menschen immer wieder von »Großen« die Namen vorsagen und sich damit eine »Realität« einreden lassen, die die Macht der Mächtigen über andere erhält, Macht nicht weiter- bzw. zurückgibt und Ohnmächtigen die Chance verweigert, Macht über sich selbst zu gewinnen. Die sechsundfünfzigjährige Ludmila wird von ihrer Hausärztin in Psychotherapie geschickt, da ihre Migräne jeglicher ärztlichen Behandlung widersteht. Im Erstgespräch klagt Ludmila über ihr »versäumtes« Leben: Sie hat den Eindruck, alles ziehe wie in einem Traum an ihr vorbei und sie warte eigentlich nur darauf, endlich aufzuwachen und zu erkennen, alles Leid wäre nicht real gewesen. Auf die Frage, was denn das früheste Leid sei, das ihr widerfahren wäre, spricht sie von der Flucht aus dem Sudetenland. Dabei wäre ihr Vater ermordet worden, berichtet sie ohne sonderlichen emotionalen Ausdruck. Auf meine Nachfrage, wie sie das als Kleinkind erlebt hätte, tönt so etwas wie Stolz in ihrer Stimme: Sie sei sehr »stark« gewesen, habe ihre Mutter gesagt. Wie sich die Mutter verhalten habe, wisse sie nicht mehr. In der nächsten Stunde berichtet sie die Antworten der greisen 69
Mutter: Die Familie habe Rast gemacht, Vater und Onkel seien beim Kartenspiel gesessen und plötzlich seien fremde Männer in Uniform in die Stube geplatzt, hätten die Männer weggeschleppt – und die Mutter habe die ganze Nacht stumm gezittert. Die vierjährige Ludmila sei wach gelegen und habe schweigsam nur immer zur Tür geschaut. Am nächsten Morgen habe die Mutter jemand gesucht, der ihr erklären musste, wie sie mit den Pferden umzugehen habe, denn der Vater, Tierarzt von Beruf, war nicht mehr zurückgekommen, genau wie der achtzehnjährige Onkel. Ohne ein Wort habe sie die Mutter in einer Tagesreise über die österreichische Grenze gebracht, nach Wien, zu Verwandten. Dass Vater und Onkel erschossen worden waren, habe sie erst als Dreizehnjährige erfahren. Aber so recht könne sie es immer noch nicht glauben – denn nie habe jemand in der Familie Trauer oder Verzweiflung gezeigt. Erst mit der Namensgebung kann etwas »in Besitz genommen« – ins eigene Erleben integriert – werden. Verschwiegen wird, was nicht integriert werden kann oder konnte, das sind vor allem die Bereiche von o Abhängigkeit (Sucht), o Hilflosigkeit (Machtmissbrauch) und o Gewalt. Alle drei Bereiche knüpfen an die Erfahrungen des sprachlos auf Versorgung angewiesenen Säuglings an, der nur schreien und um sich schlagen kann, um sein Unwohlsein zu kommunizieren – Erfahrungen, deren Erinnerung wir scheuen und nie wieder machen wollen. Die dazugehörigen Gefühle kennt wohl jeder, der einmal 70
bewegungsunfähig und ohne Anwesenheit einer Ansprechperson mit der aufsteigenden Verzweiflung konfrontiert war! Je mehr wir den Wunsch haben, nie wieder unversorgt, unfähig zum Widerstand oder der Gewalt ausgesetzt zu sein, desto mehr werden wir vermeiden, uns mit Konfrontationen auseinander zu setzen, die derartige Urerfahrungen ins Bewusstsein bringen könnten.
Das Verdrängte kehrt wieder In ihrer Essaysammlung Zwei Bäume im Garten schreibt die französische Psychoanalytikerin Janine ChasseguetSmirgel: »Ich möchte nur unterstreichen, was wir als Analytiker alle wissen, dass nämlich das, was vom Subjekt oder von seinen Identifizierungsobjekten verleugnet wird, am Ende bei ihm oder seinen Kindern auf unausweichliche, tragische, häufig psychotische Weise wieder zum Vorschein kommt.« Und sie stellt die Frage, was geschähe, wenn ein ganzes Volk seine Schuld nicht verarbeitet hat -»wenn die Eltern sowohl ihre Großtaten als auch ihre Untaten verleugnet haben«. Als Ansatz einer Antwort wagt sie einen Brückenschlag von den Vernichtungsaktionen der Nazis zum ökologischen Forderungsprogramm der Grünen: von den Verbrennungsöfen und Gaskammern zur Forderung nach Reinhaltung der Luft, von der Euthanasie zur Sorge um alte Menschen, Behinderte, Geisteskranke, von den Menschenversuchen zum Kampf gegen Tierversuche, von der Ausrottung »minderwertiger Rassen« zum Einsatz zugunsten der Dritten Welt und diskriminierter Minderheiten. Und sie verweist auf weitere Parallelen: »Die Broschüren der Grünen sind voller Fotos von 71
verhungernden Menschen und Kindern mit riesigen Augen und ausgemergelten Körpern, die nur allzu sehr an die Häftlinge erinnern, die bei der Befreiung der Konzentrationslager entdeckt wurden.« Wenn wir uns diese Sichtweise zu Eigen machen, fällt auch die Parallele der Schweigegebote auf: Verheimlichen wurde zur sozialen Überlebenstechnik, denn objektiv feststellbare Realitäten zuzugeben könnte existenzbedrohend werden, wenn Denunzianten versuchten, sich durch Anprangerung vermuteter Abweichungen vom propagierten Ideal Wettbewerbsvorteile zu schaffen. Wer »Untermenschen« anprangerte, sah sich in unausgesprochener Konkurrenz als Übermensch. Heute hingegen werden in TVTalkshows viele dieser »Abweichungen vom Ideal« öffentlich gemacht. Der selbst ernannte Übermensch von damals verliert an Ansehen, angesehen wird der Nebenmensch, was auch immer sein Stigma sein mag. Was damals aus der »Gemeinschaft« verbannt wurde, kommt so zurück in die Wohnstuben. War der Umgang mit dem Abweichenden vor der Errichtung des Dritten Reiches anders? Dieser Frage bin ich etliche Jahre nachgegangen: Wie gefährlich war es vor der NS-Ideologisierung persönliche Mängel oder dunkle Flecken in der Erfolgskarriere oder Gewalterfahrungen offen zu legen? Da ich fünfzehn Jahre lang Stadtteilsdeputierte des größten Wiener Gemeindebezirks – manche sprechen ehrerbietig von der »drittgrößten Stadt Österreichs« – war, hatte ich ausgiebig Gelegenheit, mit Angehörigen meiner Großeltern-, ja sogar Urgroßelterngeneration, zu sprechen. Ihre Sicht der Dinge lautete:
72
Wir hatten andere Existenzprobleme zu lösen: Die Arbeitslosigkeit ergab sich nicht aus Unterliegen in Konkurrenz um Arbeitsplätze, sondern aus dem Zusammenbruch von Firmen. o Es ging uns allen schlecht, daher waren Zusammenhalt und Solidarität selbstverständlich – anders hätten wir nicht überlebt. Familie – das waren auch die Untermieter, alle, die am selben Gang der Mietskasernen, oft sogar im ganzen Häuserblock wohnten. Wir standen uns alle nahe. Konkurrenz gab es höchstens in Liebesangelegenheiten. o Wir haben Offensichtliches nicht verleugnet – wir haben es aber auch nicht demonstriert – es hat ohnedies jedermann gesehen. o Gefährlich waren nur fundamentalistische Fanatiker. Aber die gab es schon vor dem Nationalsozialismus, nur nicht so gut organisiert wie danach.
o
Diese Aussagen stammen alle aus dem städtischen Bereich und von Menschen, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in »Arbeiterhochburgen« – wie die monumentalen Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit stolz genannt werden – wohnten. Für ländliche Gebiete soll keine Gültigkeit beansprucht werden: Geringere wirtschaftliche Abhängigkeit von Marktbeherrschern ermöglicht mehr Autarkie und auch Autonomie. Allein die Grenzziehung um Haus und Hof gibt mehr Abstand und damit auch mehr Möglichkeiten der Abschottung. Gleichzeitig steigt das nachbarliche Interesse am Uneinsehbaren. »Ich habe nur eine Angst«, vertraute sich mir Gudrun, 73
Gattin des Arztes Clemens, wohnhaft in einer kleinen Landgemeinde und Mutter eines zehnjährigen Sohnes, an, »dass ich die ehemalige Freundin meines Mannes beim Einkaufen treffe! Dann warten sicher alle, ob ich sie grüße!« Denn jeder in dem Zweihundert-Seelen-Ort weiß natürlich, dass Gudruns Mann mit Carola, der Chefsekretärin des Bezirkskrankenhauses, in der er einstmals Dienst machte, eine neunjährige Tochter hat. Glaubt Gudrun. Darum dürfe er seine Vaterpflichten nicht ernst nehmen und sich um das Mädchen kümmern. Dass er das tut, weil er selbst als Kriegswaise ohne Vater aufgewachsen ist, weiß Gudrun nicht. Dass sie das nicht aushält, weil sie als uneheliche Tochter eines US-Soldaten von ihrer Mutter gehindert wurde, den wiederholten Einladungen ihres Vaters zu folgen, weiß wiederum Clemens nicht. Sehnsucht nach einem Vater zu haben, der sich um einen kümmert, unterliegt ebenso einem Redetabu wie kümmernder Vater zu sein. Die Aussicht, dass sich im Ort irgendwer um all das kümmern und reden könnte, auch.
Politik der Polarisierung Familie ist vom Ursprung her Schicksalsgemeinschaft. Zum Ausdruck kommt dies in der »Beistandspflicht« der Ehepartner, die besagt, dass man sich mit der Eheschließung verpflichtet, zueinander zu stehen, in »guten wie in schlechten Zeiten«, also Probleme gemeinsam zu bewältigen und nicht beim ersten Tief nach der Hoch-Zeit das Weite zu suchen. Zueinander zu stehen, bildlich gedacht, unterscheidet sich deutlich vom Gegeneinander der Kampfposition oder vom vergleichenden Nebeneinander der Konkurrenz. Wer 74
aus seiner Herkunftsfamilie aber als Wert anerzogen bekommen hat, sich beim Auftreten von Schwierigkeiten zu distanzieren oder gar zu absentieren, wird sich bei konkretem Anlass nicht zu-, sondern abwenden wollen; er wird sozusagen eine 180-Grad-Wendung versuchen. Dann kehrt man einander den Rücken zu und braucht nicht zu sehen, wie »hinter mir die Sintflut« losbricht. Gedanklich bietet sich für diese Abwehr unerwünschter Ansichten das Verkehren ins Gegenteil: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld. Häufig wird diese Strategie bei Entdeckung von sexueller Misshandlung Unmündiger praktiziert: Das Mädchen oder der Junge hätten sich kokett verhalten, gar angeboten, die sexuelle Neugier, man wisse ja … Ähnliche Argumente höre ich immer wieder von Arbeitgebern in Seminaren zum Thema »Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz«, aber auch von Kriminalbeamtinnen bei Analysen von Vergewaltigungen erwachsener Frauen: Sogar entgegen der nachgewiesenen Tatsachen wird vielfach unterstellt, Minirock und Dekolletee signalisierten sozusagen die »Auslage« eines »Selbstbedienungsladens«, die Frauen wären also die Urheberinnen des Fehlverhaltens von Männern – und nicht deren Unwilligkeit, sich an das Strafgesetzbuch zu halten. Erworben werden diese Sichtweisen meist schon in der Jugend, wenn selbstgefällige Mütter, Tanten und Nachbarinnen sich auf diese Weise als »reine« von »befleckten« Frauen abgrenzen. Als die zwanzigjährige Iris beim gewohnten frühabendlichen Joggen in einem wohnungsnahen Park von einem plötzlich auftauchenden »Mitläufer« attackiert, zu Boden gerissen und verletzt wird, überschüttet sie ihre Mutter nur mit Vorwürfen: wie sie sich denn aufgeführt habe, dass der Mann von ihr so provoziert worden sei, 75
denn ohne Provokation täte das ja niemand; wozu sie denn überhaupt Bewegung brauche, sie solle doch nach der Arbeit zu Hause bleiben wie sie; und überhaupt solle sie ja niemandem davon erzählen, schon gar nicht dem Vater, denn der würde sie halb erschlagen, weil sie sich so »aufgeführt« habe. Es zählt zu den gesundheitsschädigendsten Kommunikationsstilen, immer und sofort nach einem Schuldigen zu suchen und dessen Versagen zu definieren. Üblicherweise ist es die Person, die ohnedies in ihrer leibseelischen und geistigen Integrität verletzt ist und eine Hilfe brauchte: Verständnis für ihre Gefühle, eine Möglichkeit sich auszusprechen, das Erleben, in Gemeinschaft geborgen zu sein – unabhängig von dem, was ihr zustößt, aber auch davon, wie sie sich verhält. Stattdessen verwandeln sich Wohnzimmer in Gerichtsäle und Schlafzimmer in Folterkammern: Denn erst, wenn Schuld festgemacht ist, können sich die anderen erleichtert zurücklehnen – sie sind nicht gefährdet, ihnen passieren ja keine Fehler. Statt einander beizustehen, eine belastende Realität zu bewältigen, wird polarisiert: wir, die Ordentlichen – ihr, die Nestbeschmutzer. Die vierundzwanzigjährige Antje wohnt während ihres Soziologiestudiums bei der Schwester ihrer Mutter, die am Universitätsort lebt. Bedingt durch ihre Abschlussprüfungen hat sie zu ihrem Freund, einem Studienassessor, weniger Kontakt – was dieser zu allerlei Abenteuern ausnützt. Er gesteht Antje, dass er sich und auch sie mit Gonorrhöe infiziert hat. Antje flüchtet sich in ihrer Verwirrung, Verletzung und Ratlosigkeit zur Tante. 76
Diese reagiert zuerst mit Beschimpfungen: »Du Schlampe!«, danach mit einem Schweigegebot: »Lass mich mit deinen Sauereien in Ruhe! Davon will ich gar nichts hören!«, und dann mit dem Verbot, die gemeinsame Toilette zu benützen. Antje beugt sich dem Befehl, einen Nachttopf zu benützen. Hinter derartigen Selbstschutzmechanismen verbirgt sich einerseits die Angst, durch zu viel Nähe zu einem »Außenseiter« selbst attackierbar zu werden, andererseits aber die Illusion, durch Abspalten des Symptomträgers der sozial unerwünschten Realität unangreifbar zu sein: So wie in der Nibelungensage Siegfried im Blut des erschlagenen Drachen badet und dadurch unverwundbar wird (bis auf die legendäre Schulterstelle, an der ihm Hagen die tödliche Wunde zufügt), baden viele Familienangehörige im »Herzblut« von Familienmitgliedern, die Schicksalsschläge, wie schwer auch immer sie subjektiv oder objektiv erfahren werden, überleben müssen oder mussten – eine Art von psychischer Immunisierung. Ich sehe in der Propagierung eines realitätsfernen Familienmythos vor allem den geheimen Sinn, Abweichungen vom Wunschzustand als Versagen zu benennen: damit kann man »Versagern« Angst machen und sie leichter beherrschen. Dann hat man nämlich einerseits Sündenböcke und die dienen als familieneinigender Außenfeind oder als mahnende Drohung; andererseits vermitteln ängstliche Menschen anderen den nazistischen Gewinn, sich selbst mächtig fühlen zu können – eine Chance für Politiker, sich als Heilsbringer andienen zu können. Nicht nur Politiker: auch alle Berufsangehörige, die Produkte und Dienstleistungen anbieten, die ein »Gewusst, wie« 77
versprechen – von Mode und Fitness bis zur kosmetischen Chirurgie und zu den Psychoberufen. Aber vielleicht fehlt es uns nur an den Kindern, die sich wie in Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider nicht scheuen, spontan mit ihrer Weltsicht hinauszuplatzen? Die ihren Augen mehr trauen als dem, was ihnen eingeredet wird?
78
DAS TABU DER MACHTLOSIGKEIT
W
enn Familie als System verstanden wird und nicht nur als zufälliges Nahestehen im zeitlichräumlichen Zusammenhang, ergibt sich die Frage nach den gemeinsamen Grenzen: Gibt es solche? Soll es solche geben? Was soll drinnen bleiben und was draußen? Und: Wer bestimmt die Grenzziehungen? Ein »System« kann »offen« sein – im Austausch mit anderen Systemen: dann darf sowohl etwas Fremdes hinein als auch etwas Eigenes hinaus. Oder es kann ein »geschlossenes System« sein: Dann sind die Grenzen dicht, alles von außen Kommende wird als feindlich erlebt und man begegnet dem als feindlich Interpretierten sicherheitshalber zuvorkommend bereits selber feindlich. Feind ist, wer nicht auf der eigenen Seite steht, wer nicht denselben Blickwinkel teilt, wer sich nicht an dieselben Spielregeln hält, wer nicht als »gleich« identifizierbar ist. Feind ist, wer einen Standpunkt einnimmt, aus dem heraus er wahrnehmen kann, was verborgen werden soll. Feind ist, wer den Blickwinkel der Kontrolle, der Kritik, des Widerspruchs, des Protests einnimmt. Feind ist, wer allein oder mit Verbündeten die Macht hat, das eigene Verhalten zu unterbinden oder zu bestrafen oder einem sonst Schaden zuzufügen. Feind ist, wer die Macht im »eigenen Revier« gefährden könnte. Und sei es nur mit einem Wort – nämlich dem, auszusprechen, dass es außerhalb der Familienmachtweit noch eine andere, mächtigere gibt. Daher müssen sein Einblick und sein Einwirken verhindert werden. Dazu ein Beispiel aus meiner Supervisionstätigkeit:
79
Karla kommt in die »Beratungsstelle für gewaltlose Erund Beziehung«. Fritz, ihr Ehemann, ist Hobbyfotograf. Gerne fotografiert er sich in allerlei paramilitärischen Gewandungen mit dem Selbstauslöser, oft mit einem Prachtstück seiner umfangreichen Waffensammlung in der Hand. Dass er sich auch in Masturbationsposen fotografiere, habe sie noch sprachlos geduldet, er habe sie als prüde und verklemmt bezeichnet, als sie Bedenken geäußert hatte, die Tochter könnte die Fotos finden; aber prüde wolle sie nun wirklich nicht sein … Aber jetzt habe sie Fotos der elfjährigen Tochter gefunden, da habe diese die Beine gespreizt, den Unterleib entblößt, das Genital sei wie für einen Gynäkologen einsehbar … und sie wisse nicht, wie sie sich verhalten solle, denn: sie habe keinerlei Kontakte zu Familienangehörigen oder Nachbarn, die habe ihr Mann stets verboten, und Widerstand sei zwecklos, denn er drohe ihr immer damit, sie umzubringen, und diese Drohung sei ernst zu nehmen, bei seinem Waffenarsenal … Nach längerer Durchforstung möglicher Helferpersonen kam der Berater zu der Frage, ob die Tochter nicht vor, während oder nach der Schule Kontakt zu einer Helferperson aufnehmen könne. Nur das nicht, wehrt Karla sofort entsetzt ab, da verlöre er ja womöglich seinen Job – er sei doch Schulbusfahrer! Und: er habe die Tochter ja auch im Bus und daher auch auf dem Schulweg unter Kontrolle. Oder Robert, ein hochangesehener Schulleiter: Auch er übt Psychoterror auf Frau und Tochter aus, sich nur auf ihn zu konzentrieren. Wozu ins Schwimmbad gehen, wenn es heiß ist – zu Hause ist es doch so schön kühl! Wozu sich mit Freundinnen treffen – die sind doch dumm, nur hinter Burschen her bzw. schimpfen nur über ihre Männer … Die beiden Frauen leiden – unterwerfen sich aber um »des lieben Friedens willen«. Ebenso dulden sie schweigend, 80
dass er zu Hause fast nur nackt herumläuft. Oder andauernd über Sexuelles spricht. Sexualerziehung nennt er dies. Überhaupt schafft er immer ein hoch sexualisiertes Klima, aber die Erkenntnis, dass sein »Stil« außer der Norm ist, kommt beiden Frauen erst, als die Tochter wegen Essbrechsucht in therapeutische Behandlung muss. Wer professionelle Erfahrungen mit »Missbrauchsfamilien« hat, kennt das Phänomen: Die Missbraucher verbieten und verhindern, dass Außenkontakte stattfinden. Sie inszenieren ihre Familie als »geschlossenes System«: Weder Ehefrau noch Kinder sollen Vertrauensbeziehungen zu anderen Menschen aufbauen dürfen – zu groß ist die Gefahr, dass sie diesen das Familiengeheimnis anvertrauen; daher dürfen sie niemand zu Besuch einladen, nicht auf Besuch gehen, ja oft überhaupt nicht aus dem Haus gehen. Dieses Abschotten hat nicht nur zum Ziel, Aussprachen unmöglich zu machen, sondern es sollen auch Vergleiche mit anderen Familien verhindert werden. Zu diesem Zweck werden potentielle Vergleichsmodelle bereits vorbeugend als gefährlich bezeichnet: So werden nicht nur andere Familien verteufelt – gleichsam »unberührbar«, »tabu« benannt –, sondern auch der Versuch eines Kontaktes. Denn um vergleichen zu können, muss man die Alternative »nahe« bringen – und dann werden Größenunterschiede sichtbar. Genau diese »Annäherung« soll aber durch Tabuisierung verboten werden. Im Konzept der Transaktionsanalyse werden, grob gesprochen, Verhaltensweisen mit drei Ich-Zuständen, die auf Größenempfindungen basieren, erklärt: 81
o Wenn man sich klein fühlt, kann man sich den Forderungen der »Großen« wie ein »braves« Kind anpassen oder o ihnen als »schlimmes Kind« rebellisch Widerstand leisten, o man kann aber auch versuchen, mit Koketterie einen Vorteil für sich herauszuholen oder mit List die »Großen« auszutricksen. All diese Strategien werden dem Zustand des »Kindheits-ich« zugeordnet: Es wird von unten nach oben »schief« kommuniziert. o Wenn hingegen versucht wird, Größe, Autorität, Macht herauszukehren, befindet man sich bereits im Zustand des »Eltern-Ich«, egal ob »liebevoll« gemeint oder »kritisch«-nörgelnd, verfolgend, strafend: Es wird wieder »schräg«, diesmal von oben nach unten. o Der dritte Ich-Zustand ist der des »Erwachsenen-Ich« und bedeutet, dass darauf verzichtet wird, sich anderen gegenüber zu erhöhen, egal ob unter der Selbstdefinition Helfer oder Strafer, oder auch dadurch, dass versucht wird, sich klein zu machen als Hilfsbedürftiger oder Trotzkopf. Wer im Zustand des Erwachsenen-Ich handelt, ist kontraktfähig – er oder sie spielt keine Machtspiele –, sondern bietet Verträge an und hält sie auch ein. Im Erwachsenen-Ich braucht man daher keine materiellen oder mentalen »Kulissen der Macht« (Claude Steiner): keine Podeste zum Belehren, keine Kanzeln zum Abkanzeln, keine Spitzmützen zum Hexen und keine Kronen zum Herrschen. Die beiden erstgenannten »Trans«-aktionen bewirken Anspannung und Vermeidung von Nähe: Denn vorausgesetzt, beide verändern ihren räumlichen Abstand 82
nicht, ist der Abstand in der »Inter«-aktion, also der symmetrischen Kommunikation – Auge in Auge – geringer als bei einer »gekreuzten«, einer asymmetrischen Transaktion. Zwei, die miteinander blödeln und sich im „Kindheits-ich“ gemütlich einrichten – haben ebenso wenig Probleme miteinander als zwei, die aus dem ElternIch heraus über die Schlechtigkeit der heutigen Jugend, der Frauen, der Fußballnationalelf etc. jammern oder schimpfen. Sie sind »auf einer Wellenlänge«. Aug in Aug, Schulter an Schulter geht das ja auch leichter, als wenn »Welten dazwischen« liegen. Kleinheitsgefühle bedeuten oft Regression in frühere Entwicklungsphasen und damit Verlust an Sprachfähigkeit. Und wer keinen Widerstand duldet – sich chronisch im »verbietenden Eltern-Ich« befindet, wird versuchen, den anderen »kleinlaut« oder sogar »mundtot« zu machen. In der Familie mit ihren Altersvorteilen und juristischen Vorrechten für die Älteren – die »Eltern« – gelingt das besonders gut.
Generationsgrenzen dienen dem Machterhalt Oft haben Grenzen nur den einen Sinn, Distanz herzustellen zu dem, was als gewöhnlich oder minderwertig definiert wird, damit das, was als besonders, erhaben benannt wird, nicht in kritisches Augenmerk genommen werden kann. Dazu dienen nicht nur reale Barrieren wie Zäune, Mauern, Wassergräben etc., sondern auch Worte. Durch Berufung auf das Wort »Schutz« zum Beispiel werden alle, die geschützt werden sollen, zu Schutzbedürftigen verkleinert. Andererseits kann der Satz 83
»Ich bin schutzbedürftig« auch die Aufforderung zur räumlichen Distanz beinhalten im Sinne von »Wende deinen Blick von mir ab und auf Außenfeinde zu!«. Damit muss man logischerweise aus dem Blickwinkel verschwinden, weil der Blick sich jetzt auf einen anderen Fokus richtet … In Familien ist es meist eine Person, die absolute Macht über die anderen Familienangehörigen beansprucht; körperliche, daher die häufigen Gewaltdrohungen oder taten, psychische, daher gezielte Verletzungen des Selbstwertes oder Belobigungen, soziale durch Einschränkung oder Gestattung von Kontakten zu anderen, geistige durch Gewähren oder Vorenthalten von Informationen und oft auch noch sexuelle durch energetische Prägung der leibseelischen und geistigen Ganzheit der »durchdrungenen« oder »aufgesogenen« Person. Durch Aufbau von Grenzen und Tabuisierung der Grenzüberschreitung übt man eine Verwirrtaktik: Niemand soll wissen, dass es auch anders geht, keiner soll Vergleichsmöglichkeiten gewinnen, alle sollen im Unklaren verharren und womöglich Angst haben, Rettung sollen sie sich nur vom Machthaber erhoffen und außer diesem soll sich niemand auskennen. So umgibt sich ein Machthaber mit einer Aura des Geheimnisses. Alle anderen sollen in Unwissenheit verharren, klein bleiben und einem »nicht über den Kopf wachsen« …
Schutz oder Behinderung von Entwicklung? In Friedrich Schillers Ballade vom Verschleierten Bild zu Sais stirbt, wer das Tabu bricht, die verhüllte Statue der Wahrheit zu entschleiern. Damit stellt sich auch die Frage 84
nach dem Phänomen der Folgen selbsterfüllender Prophezeiungen. Schon Sigmund Freud hat auf die Ambivalenz des Begriffes »Tabu« hingewiesen: Einerseits bedeute dieses polynesische Wort »heilig, geweiht«, andererseits »unheimlich, gefährlich, verboten, unrein«. Den Begriff des Gegensatzes zeigte er mit »noa = gewöhnlich, allgemein zugänglich«. Einer seiner Wissensquellen, der Encyclopaedia Britannica, folgend, unterschied er: »1. Ein natürliches oder direktes Tabu, welches das Ergebnis einer geheimnisvollen Kraft (Mana) ist, die an einer Person oder Sache haftet; 2. ein mitgeteiltes oder indirektes Tabu, das auch von jener Kraft ausgeht, aber entweder a) erworben ist oder b) von einem Priester, Häuptling oder sonst jemandem übertragen; endlich 3. ein Tabu, das zwischen den beiden anderen die Mitte hält, wenn nämlich beide Faktoren in Betracht kommen …« In der patriarchalen Familie ist eine bestimmte Person, zumeist die körperlich stärkste oder finanziell potenteste, der Häuptling. Und je unwissender, schwächer und wirtschaftlich abhängiger die anderen sind, erscheint ihnen dieser Häuptling gleichsam wie Gott oder zumindest ein Hohepriester. Dabei geht es nicht einmal so sehr um die reale Macht, die von diesem »Haupt der Familie« verkörpert wird, sondern wiederum um den Blickwinkel der »Untergeordneten«: Wenn ihre Sichtweise eine von unten hinauf ist, »wirkt« man größer. Dass kleine Kinder beispielsweise die Mutter der frühesten Kindheit als übermächtige Spenderin oder Versagerin von Lust erleben und dementsprechend eine »innere Objektrepräsentanz« von »guter Mutter« oder »böser Mutter« entwickeln und später dazu neigen, diese Urbilder ihrer Seele in alle Frauen hineinzuphantasieren, von denen sie sich abhängig erleben, scheint logisch. Da 85
Väter traditionell abwesend sind, eignen sie sich ja auch nicht so gut als Projektionsfläche frühkindlicher Interpretationen. Und möglicherweise sind Väter vor allem auch deshalb nicht situationsgemäß anwesend, um sich Attacken und Vorwürfe ihrer Familienangehörigen – liebesbedürftiger Kinder, unterstützungheischender Frauen, aber auch zusätzliche Beziehungsarbeit zu ihrer Berufsarbeit zu ersparen. Sie denken, es genüge, sich freizukaufen – und manchmal tun sie nicht einmal das. Wenn wir an die Entstehungsgeschichte von Familie in unserem heutigen Sinn zurückdenken, so finden wir in der Zeit des Übergangs von umherziehenden Gemeinschaften zur Sesshaftwerdung: o o
o o
die räumliche Fixierung der entstehenden Clans auf das in Besitz genommene Land, Ein- und Abgrenzungen und juristische Spielregeln zur Sicherung dieser Herrschaftsräume nach außen wie nach innen, beispielsweise durch Heirats- und Erbfolgeregelungen, Folgepflichten all derer, die sich in diesem Herrschaftsbereich befinden, und Schutzpflichten des Herrschers, egal, ob es sich um die unterste Stufe der Rechtsordnung, das Hausrecht, oder die oberste, das jeweilige Territorialrecht auf Fürstenebene, handelt.
Die Folgepflichten dienten nicht nur der Struktur des Zusammenlebens, sondern vor allem auch dem Schutz desjenigen, der mit seinen Strukturierungen dem Chaos des Lustprinzips Einhalt gebot – und damit zeigte, dass nur sein Lustprinzip Geltung habe. 86
Eine Parallele findet sich bei Freud, wenn er aufzeigt: »Die Ziele des Tabus sind mannigfacher Art. Direkte Tabus bezwecken a) den Schutz bedeutsamer Personen wie Häuptlinge, Priester und Gegenstände u. dgl. gegen mögliche Schädigung; b) die Sicherung der Schwachen – Frauen, Kinder und gewöhnlicher Menschen im allgemeinen – gegen das mächtige Man (die magische Kraft) der Priester und Häuptlinge; c) den Schutz gegen Gefahren, die mit der Berührung von Leichen, mit dem Genuss gewisser Speisen usw. verbunden sind; d) die Versicherung gegen die Störung wichtiger Lebensakte wie Geburt, Männerweihe, Heirat, sexuelle Tätigkeiten; e) den Schutz menschlicher Wesen gegen die Macht oder den Zorn von Göttern und Dämonen; f) die Behütung Ungeborener und kleiner Kinder gegen die mannigfachen Gefahren, die ihnen infolge ihrer besonderen sympathetischen Abhängigkeit von ihren Eltern drohen, wenn diese z.B. gewisse Dinge tun oder Speisen zu sich nehmen, deren Genuß den Kindern besondere Eigenschaften übertragen könnte. Eine andere Verwendung des Tabus ist die zum Schütze des Eigentums einer Person, ihrer Werkzeuge, ihres Feldes usw. gegen Diebe.« Interessanterweise werden hier nur Werkzeuge angesprochen – nicht aber Waffen, obwohl diese in zahlreichen Rechtsvorschriften besonders hervorgehoben wurden. Wenn man diese Passage aus »Totem und Tabu« unkritisch liest, mag es scheinen, als handle es sich um geschlechts- und altersneutrale Schutzvorschriften. Sucht man hingegen versteckte Diskriminierungen, so findet man als logische Folgen: a) den Schutz der zu Hauptpersonen Erklärten, b) Näheverbote für die als schwach Erklärten, c) Verhinderung der Erfahrung von Verletzlichkeit und Sterblichkeit, d) Verhinderung von 87
Erkenntnissen über Situationen, in denen die Hauptpersonen Angst zeigen, e) Unterbindung von Neugier und Protestaktionen und f) Schutz der Nachkommenschaft vor Aggressionen sowie Schutz des Besitzes all der Geräte, insbesondere der Kampfgeräte, durch die jemand mächtig wird und seine Macht verteidigen kann. All diese Ziele treffen auf Männer zu.
Tabu werden Übertretungen eines Tabus führten dazu, dass man selbst tabu wurde. Gewisse Tabuverletzungen konnten durch Bußhandlungen und Reinigungszeremonien ausgeglichen werden; andernfalls genügte offensichtlich der autosuggestive oder der suggestive Glaube der Gemeinschaft an die Zauberkraft, der sich der Frevler entgegengesetzt hatte, um den angedrohten Folgen zu erliegen. In weiterer Folge seiner Ausführungen äußert sich Freud dann auch kritisch: »Weder die Angst noch die Dämonen können in der Psychologie als letzte Dinge gewertet werden, die jeder weiteren Zurückführung trotzen. Es wäre anders, wenn die Dämonen wirklich existierten; aber wir wissen ja, sie sind selbst wie die Götter Schöpfungen der Seelenkräfte des Menschen …« Ähnliches kann man häufig bei kleinen Kindern finden, die unaufgeklärt Opfer ihrer selbsterdachten Interpretationen werden. Häufig erlebe ich solch eine Art »selbsterfüllender Prophezeiungen« im Zusammenhang mit dem Tabu des Todes. Kaum jemand macht sich die Mühe, Kindern die Phänomene des Sterbens und des Totseins zu erklären. Dazu ein Beispiel: Marina leidet an einer Zwangsneurose. Jeden Abend muss 88
sie alle Türen und Fenster des Einfamilienhauses, in dem sie mit ihren Eltern und drei weiteren Geschwistern in einer mittelgroßen Stadt lebt, mehrfach kontrollieren, ob sie auch ja gut abgeschlossen sind. Die Sechzehnjährige braucht zur Durchführung dieses Rituals zwei bis drei Stunden, vorher kann sie nicht zu Bett gehen – und die restliche Familie auch nicht –, und das ist dann meist erst nach Mitternacht. Als sie mit ihrer Mutter zu mir kommt, um durch Psychotherapie Befreiung von ihrem Zwangsverhalten zu finden, drängt sich mir als Arbeitshypothese sogleich die Vermutung einer verdrängten nächtlichen Sexualmisshandlung in früherer Kindheit auf. Ich entschließe mich aber, ohne mich von dieser allzu nahe liegenden Unterstellung beeinflussen zu lassen, mit der von mir entwickelten »Intuitivlinguistischen Integrationsmethode« nachzuforschen, welches verdrängte Erlebnis dieses deutliche Schutzverhalten ausgelöst haben möge. Ich finde die Angst vor dem Tod. Da die Mutter während der Therapiestunde auf Ersuchen der Tochter anwesend ist, können die aufbrechenden Gefühle leicht zugeordnet werden: Als Marina etwa fünf Jahre alt war, starb eine knapp ein Jahr jüngere, geistig behinderte Schwester – ihr Lieblingsgeschwister – während eines Anfalls. Marina wurde nur gesagt, der »Tod habe sie geholt«, denn bedingt durch den Schock, die Betroffenheit und die Alltagspflichten gegenüber der großen Kinderschar hatte niemand Zeit und auch nicht die Einsicht, sich mit Marina und ihrer Verwirrung geduldig auseinander zu setzen. »So ein kleines Kind versteht das ja noch nicht!« Und: Es hatten alle mit ihrer eigenen Trauerarbeit genug zu schaffen … »Reden macht sie nicht wieder lebendig!« Marina erlebte »den Tod« personalisiert und als 89
permanente Bedrohung aller, deren Leben ihr etwas bedeutete – sich selbst eingeschlossen. Aus dieser Logik heraus war klar, dass sie nicht schlafen gehen konnte, ohne sich zu vergewissern, dass »der Tod nicht hereinkommen und jemand holen« könne. Gleichzeitig brachte sie sich durch ihr Abendritual in eine Isolation, so dass sie für den Rest der Familie gleichsam »gestorben« war – sie wandelte wie ein Geist durch das Haus und versetzte alle anderen in Schrecken. In den Schrecken, den sie dadurch vermeiden wollte. – In diesem Fall war es relativ leicht, in dieser einen Stunde die »Versöhnung mit dem Inneren Kind« herzustellen. Marina ist seitdem symptomfrei. Freud summierte, Tabus beträfen meist Genussfähigkeit, Bewegungs- und Verkehrsfreiheit. Ich betone: Sie dienen vor allem dem Machterhalt: Die »Häuptlinge«, die Hauptpersonen wollen verhindern, dass ihre Macht angezweifelt wird oder dass sie als machtlos erlebt werden. Wenn Freud nur nebenbei erwähnt: »Zum persönlichsten Eigentum gehört in Australien auch der neue Name, den ein Knabe bei seiner Männerweihe erhält, dieser ist tabu und muss geheim gehalten werden«, so spricht er damit wohl eines der wesentlichsten Machtinstrumente an, die es gibt: die Namensgebung.
Am Anfang war das Wort Erinnern wir uns: Namensgebung ist ein schöpferischer Akt, denn er schafft Wirklichkeit. Nur was einen Namen hat, ist kommunizierbar. Was nicht kommuniziert werden soll, darf daher keinen Namen haben. 90
So fehlt beispielsweise im Deutschen ein Wort für den Begriff der Fairness – des Verzichts auf den eigenen Vorteil, wenn er jemand anderem zum Nachteil geraten würde. Wohl kennen wir »gerecht« oder »anständig« und »edel«, aber bereits die leichte Differenzierung »nobel« borgen wir uns aus dem Französischen aus. Fair zu sein bildet offenbar keinen Bestandteil von Germanentreue … Oder es fehlen adäquate Namen für unsere Sexualorgane und das, was wir mit ihnen erleben können. Es gibt nur Brutalausdrücke, in denen jeweils andere Menschen, insbesondere Frauen, verächtlich gemacht werden, schwülstiges Sentimentalgeschleim, in dem die Existenz von Leidenschaft und Gewalt verleugnet wird, und die emotionsleeren Fachsprachen von Medizin und Bürokratie. Wenn ein Vorschulkind dann etwa um Worte ringt: »Der Mann hat mir am Bauch wehgetan!«, dann spiegelt es nur die Sprachlosigkeit der Eltern wieder, die auch nur von »da unten« reden, sofern sie nicht gleich »Pfui!« schreien, wenn die lustspendendsten, aber auch verletzlichsten Körperteile angedeutet werden. Ich habe einige Jahre in Fremdenverkehrsfachschulen für heranwachsende Hotel- und Gastgewerbemitarbeiter Unterricht gestaltet, damit die Jugendlichen sich mit Wissen über sexuelle Phänomene, deren Bewältigung, aber auch deren Verhinderung, schlau machen könnten. Es ist nicht verwunderlich, dass ihr Interesse vor allem dahin ging, zu wissen, was sich hinter den im Familienleben tabuisierten Fachausdrücken wie Perversion oder Pädophilie verstecke. Noch immer speisen Eltern den Wortschatz ihrer Kinder nicht, weil sie entweder selbst arm an Worten sind oder weil sie befürchten, allein mit dem einen oder anderen 91
Wort so viel Neugier auf Inszenierungen zu wecken, dass ihre Kinder, aber auch Partner, ja sogar ihre Eltern dann auf »schlechte Ideen« kämen. Dadurch wären sie aber mit der Tatsache konfrontiert, dass sie keine Macht über das Verhalten anderer Menschen haben.
Verschreien Was Menschen von jeher nicht wollen, ist das Gefühl, sich unkontrollierbaren Mächten hilflos ausgeliefert zu fühlen. Und um sich so nicht fühlen zu müssen, treten mannigfaltige Organisations- wie Abwehrformen in Erscheinung: Das Gefühlschaos der Machtlosigkeit soll durch Strukturen der Machtabsicherung kompensiert oder sogar überkompensiert werden. Zu den Organisationsformen gehören alle Arten von »Spielregeln« – von der Behauptung von Gewohnheitsrecht – etwa einer Usance wie »Das war schon immer so!« – über Versprechungen, Vereinbarungen und all die Stufen der Rechtsordnung bis zu Verfassungsgesetzen und internationalen Abkommen. Gekennzeichnet sind diese Strategien zur Vermeidung von Unsicherheit durch Bewusstheit: Zumindest einer weiß, wie er sich seine gewohnte Macht sichern kann. Abwehr im psychoanalytischen Sinn hingegen ist unbewusst. Kleinheitsgefühle werden aus der Wahrnehmung der Realität – der Situation, in der man sich befindet, wie auch der eigenen Gefühle, Gedanken, Phantasien, Körperempfindungen – abgespalten und durch eine andere ersetzt. Wenn also beispielsweise Eltern sich gegenüber einem unglücklich brüllenden Kleinkind machtlos fühlen und dieses Gefühl loswerden wollen, tauschen sie die Wahrnehmung der Verzweiflung des Kindes unbewusst gegen die Wahrnehmung von 92
»Schlimmsein« und schreiten in ihrer nunmehr gefestigten Machtvollkommenheit zur Strafe. Denn jetzt wissen sie aus ihrer eigenen Kindheitserfahrung, was zu tun ist. Wenn zwei – oder mehrere – einander in einem Machtkampf gegenüberstehen, wird jeder versuchen, mächtiger zu sein als der andere; das macht ja den Machtkampf aus. Ein Machtkampf kann wiederum vollständig – auf allen Ebenen der leibseelischen und geistigen Ganzheit – ausgetragen werden oder nur auf Teilen. Körperlich sind uns die vielen Kampfformen aus eigenem Erleben wie aus künstlerischen Darstellungen wohl vertraut: vom Streit um Eimer oder Schaufel in der Sandkiste über Rangeleien der Schulzeit bis zu späteren Überfällen und Schlägereien. Seelisch kennen, suchen oder vermeiden wir Psychoterror – und all das meist unbewusst: Denn es fehlen vielfach die Worte, einerseits diese Attacken zu benennen und andererseits sich dagegen abzugrenzen. Geistige Machtkämpfe zu enttarnen ist wohl am schwierigsten. Denn vielfach kennen wir nur eine Denkform und nur eine Bezeichnung und müssen erst den Paradigmenwechsel wagen, kritisch zu hinterfragen, ob uns nicht eine Alternative – bewusst oder unbewusst – vorenthalten wurde und wer Interesse daran haben könnte, uns Alternativen zu verschweigen. Tragisch wird diese Einschränkung des Wissens- und damit auch Machterwerbs bei Kindern: Um sich selbst als Machtinstanz Geltung zu bewahren, wird Kindern häufig die Möglichkeit genommen, sich auszukennen. Die elfjährige Claudia hat sich daran gewöhnt, dass sie oft kochen muss, wenn sie heimkommt. Christine, ihre vierundvierzigjährige Mutter, ist »leidend«; so lautet zumindest die offizielle Sprachversion und Claudia fehlen 93
das Wissen und die Vergleichsmöglichkeit, um zu erkennen, dass ihre Mutter Alkoholikerin ist. Dass ihr Vater, viel bewunderter Rektor einer Volkshochschule, ebenfalls dem Whisky zuspricht, wundert sie auch nichtsie kennt es ja nicht anders. Wagt sie, Mutters Leiden nachzufragen oder Vaters »Jähzorn«, bekommt sie Ohrfeigen und wird zum Schweigen verdammt: »Sei nicht frech!« Über diese, von ihr sehr wohl so empfundenen Ungerechtigkeiten zu weinen hat Claudia sich abgewöhnt. Dafür plagt sie seit der Schulzeit eine chronische Kieferhöhlenentzündung. Vordergründig beobachten wir bei Machtkämpfen zumindest zwei Lager. Hintergründig zeigt sich bei tiefenpsychologischem Nachforschen zusätzlich eine unsichtbare Zuseherschar, die die inneren Ohren der Streitparteien mit Applaus oder Buhrufen volldröhnt. Diese Über-Ich-Instanz wird schon von klein auf – gleichsam wie bei einer Dämonenbeschwörung – »berufen«: »Was werden die Leute sagen?« Oder: »Du wirst schon merken, was die anderen sagen!« Gerade die Erziehungspersonen, die immer wieder warnen: »Verschrei es nicht!«, wenn ein Kind bedrohliche Zukunftsmöglichkeiten anspricht, verschreien sie auf diese Weise selbst. Der oft zur Demütigung von Kindern angewandte Satz »Wo gibt’s denn das, dass das Ei klüger sein will als die Henne?!« kann rein durch die Wortwahl als Verbot, klüger werden zu wollen, wirksam werden und jegliche Neugier oder Fragelust stoppen. Der Nachsatz »als die Henne« weist darauf hin, dass die ältere Person in ihrem Selbstwert unsicher ist. Sie stabilisiert ihre Selbstsicherheit dadurch, dass sie der jüngeren Person unterstellt, sich »überheben« zu wollen. Würde das Kind, der Jugendliche, der oder die 94
jüngere Familienangehörige sich selbstsicher abgrenzen, etwa durch einen Satz wie »Ich kann nicht verhindern, dass du phantasierst, ich wolle klüger sein – aber ich weiß, dass es mir nicht darum geht«, wird sich die ältere Person aller Wahrscheinlichkeit nach erst recht bemühen, mit weiteren Demütigungs- oder Abwertungsversuchen den selbst inszenierten Machtkampf zu gewinnen. Sie wird mit »Namensgebungen« versuchen, die andere Person zum Schweigen – zur Aufgabe von Protest und Akzeptanz der suggerierten Zuschreibungen – zu bringen. Verschreien bedeutet »den Teufel« – die unangenehmsten Zukunftsformen – »an die Wand malen«: Denn dann »hat man sich ein Bild gemacht« und diese »Einbildung« ist präsent. Mit solch einem Schweigegebot wird aber weder ein Konflikt bewältigt noch Konfliktlösungskompetenz erlernt. Meine Großmutter mütterlicherseits erzählte oft, wie ihr von ihrer Mutter der Mund mit Seife ausgewaschen wurde, wenn sie irgendetwas ansprach, was diese nicht hören wollte. Auch ein Vers drückt Ähnliches aus: »Wer Zähne putzt, braucht nicht zu beichten. Wer beichtet, der stinkt aus dem Mund.« Solch eine leibwirksame Inszenierung einer Machtdemonstration verhindert, dass Probleme offen ausgesprochen, gemeinsam besprochen und Lösungen abgesprochen werden – und wenn die Lösung nur darin besteht, dass man sich einig ist, dass einem derzeit keine Lösung einfällt. Die Angst, durch Aussprechen des Namens oder durch Abbildung den »Dämon« herbeizurufen, datiert aus – historischen wie biographischen – »Urzeiten« animistischen Denkens. Freud erklärte diese »höchst merkwürdige Naturund Weltauffassung« primitiver Völker damit, dass diese die Verursachung von Naturvorgängen Geistern und Dämonen zuschreiben, Tiere und Pflanzen, aber auch 95
unbelebte Dinge durch sie belebt halten. Selbst menschliche Einzelwesen »enthalten« nach diesem Glauben »Seelen, welche ihren Wohnsitz verlassen und in andere Menschen einwandern können«. Hand in Hand mit diesem »animistischen System« gehen Anweisungen, »wie man verfahren müsse, um der Menschen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu werden«, nämlich mit Zauberei und Magie. Das Prinzip dahinter nennt Freud die »Allmacht der Gedanken« – eine Bezeichnung, die er von einem an Zwangsvorstellungen leidenden Mann übernommen hatte und von der er schreibt: »Alle Zwangskranken sind in solcher Weise, meist gegen ihre bessere Einsicht, abergläubisch.« Aber auch ohne Zwangsneurose tauchen oft bei »Normalen« vorübergehend Zwangsgedanken auf. Sie können nämlich auch Struktur für mehr Halt in einer Welt ohne Sicherheit liefern; viele Menschen pflegen derartige Wunschrituale oder Abwehrzauber – gut zu beobachten bei Kindern, die sich beispielsweise mit dem Tritt auf jeden dritten Pflasterstein gute Schulnoten erarbeiten wollen. So genannte animistische Denkweisen begleiten auch frühe Phasen unser aller Entwicklung. Wenn ein knapp Dreijähriger klagt: »Der Tisch hat mich gebissen!« wissen Beobachter meist, dass das Kind diese Erfahrung seinem spärlichen Wortschatz entsprechend eben nur so in Sprache symbolisieren kann. Sie »bessern« dann meist die »Fehlformulierung« aus. Und manchmal wird genau dadurch eine heranreifende Schriftstellerseele in ihrem Wachstum gestoppt.
Dämon Vaterfigur? In Familien ist die gefürchtete Person oft diejenige, die die meiste Macht besitzt. Das ist traditionell die wirtschaftlich stärkste Person – die, von der man finanziell oder 96
versorgungsmäßig abhängig ist, diejenige, die vererben kann, diejenige, die womöglich alles zu »richten« (im Doppelsinn des Wortes) vermag. Ihr will man keinesfalls missfallen und deshalb soll sie auch keinesfalls »auf den Plan gerufen« werden. Als phantasierte Heil oder Unheil bringende Gestalt bekommt sie auf diese Weise aber Dämonsqualität. Allein ihre Existenz auf dem »Power Spot« lässt die Macht derer auf anderen Standorten schrumpfen. Je näher man ihr kommt, desto deutlicher werden Machtunterschiede, deshalb wird man versuchen, zwecks Teilhabe an ihrer Macht mit ihr zu verschmelzen. Der psychische Abwehrmechanismus der »Identifikation mit dem Aggressor«, der beispielsweise bei Missbrauchsopfern oder Geiseln beobachtbar ist, die ihren Missbraucher/Geiselnehmer decken, schonen oder verteidigen, entspricht dieser »Überlebenstechnik«. »Die Identifikation mit der Macht als dem Mittel, das einen erlöst, bindet einen an das Prinzip der Unterdrücker«, schreibt Arno Gruen in Der Verrat am Selbst. Je wichtiger es für eine Familie ist, erfolgreich – »intakt« – zu sein, desto mehr unterwirft sie sich diesen Bewertungskriterien und den – realen wie phantasierten Bewertern. Gruen nennt dies Stärke durch Identifizierung mit der unterdrückenden Autorität finden und formuliert: »Ausweg weisen uns die Versager, jene also, die wir als Schizophrene, Leistungsunfähige, widerspenstige Kinder und Jugendliche an den Rand drängen. Ihre Verzweiflung gilt der Lüge einer Liebe, mit der wir unsere eigene Selbstachtung zu erlangen suchen; eine Selbstachtung, die nicht dem Lebendigen in uns gilt, sondern der Bestätigung unserer Macht und Wichtigkeit.« Genau dieses Versagen ist es aber, das tabuisiert wird weil die Worte fehlen, sich gegen Abwertung 97
abzugrenzen. Denn als Grenzziehung fällt den meisten wiederum nur die generelle Schweigemauer ein oder das Totschweigen – der Ausschluss – des Sündenbocks. Versagen bedeutet ja auch, eine geforderte Antwort zu verweigern. »Mauern« als Abgrenzung führt aber in die Erstarrung und nimmt den Beziehungen und damit der ganzen Familie Lebendigkeit.
Gefahr Haltlosigkeit Wer seine Macht um jeden Preis erhalten will, wird achten, alle Fäden in seiner Hand zu halten. Halt und die zugehörige Haltung werden damit zum Tabu: Niemand darf sich diesem »Heiligtum« nähern, sonst folgt Unheil. Herstellung und Erhaltung der Distanz vom Erhabenen zum Gemeinen folgt traditionellen Hof- und Kirchenritualen: Man darf nicht »zu nahe treten«, hat den Mund zu halten, bis die »Obrigkeit« Sprecherlaubnis erteilt, muss an sich halten, damit keine unvorhergesehene Bewegung als Attacke missdeutet und aggressiv beantwortet werden könnte … und wenn dann eine ganze Familie derart Haltung demonstriert, sprechen Beobachter noch immer von Wohlerzogenheit und Frieden statt von Hemmung und Totenruhe. Damit kein Missverständnis aufkommt: Auch scheinbar lebhaft mit ihren Kindern spielende Eltern können in diesem Sinn scheintot sein, wenn sie sich unabänderlich in der Rolle der stets gleichmäßig lieben, immer bereiten – und daher nicht kritisierbaren – Spendereltern einrichten und nie auch nur ansatzweise müde, genervt, depressiv, untreu, korrupt etc. sein dürfen. Denn diese Blockade lebendiger Kommunikations98
prozesse kann auch als Abwehr bzw. Selbstschutz vor dem kleinen Schritt von der Macht zur Gewalt gedeutet werden. Denn die spontane – unbedachte – Reaktion auf unangenehme Konfrontationen ist immer die energetische Aufladung für Kampf oder, wenn man den Gegner übermächtig einschätzt, Flucht. Tatsächlich wird ja in vielen Familien impulsiv zugeschlagen, wenn jemand »frech« oder »vorlaut« ist – nämlich kritisch nachfragt. Wenn man als Mächtigerer nicht antworten will – wenn man Verantwortung nicht übernehmen will. Wie sollen Kinder, aber ebenso auch alle anderen Familienangehörigen, jedoch dann den permanenten Lernprozess bewältigen, Frustration oder lang dauernde Spannung zwischen Hoffnung und Befürchtung auszuhalten? Viele der späteren Abwehrhaltungen entstammen frühesten Kindheitstagen. Denn all die Konfliktvermeidungssätze bzw. Nichtsätze sind zum Teil abgeschaut, weil Bezugspersonen sie vorgesagt und/oder vorgelebt haben, zum Teil sind sie aber sogar direkt aufgetragen worden: »Darüber spricht man nicht!«
»Allverelterung« Der Anspruch, nicht reden zu müssen, entspricht dem noch unentwickelten Stammhirndenken des ersten Lebensjahres. Nicht reden zu wollen ist daher wieder ein Versuch, sich die Privilegien des Babys zurückzuholen und andere Familienangehörige zu »vereitern«. Die verdeckte Botschaft lautet: »Ich bin schwach, du musst mich schonen – sei mir ein beschützender Elternteil!« Dass mit dem Ausagieren von Schwäche viel Macht ausgeübt werden kann, wissen alle, die erkannt haben, wie viel Aggression hinter ihren Schuldgefühlen liegt, wenn 99
sie spüren, dass sie doch sollten … nämlich die Wünsche und Forderungen der angeblich Schwächeren erfüllen. Anderen Schuldgefühle machen gehört zu den bewährtesten Strategien der familiären Machtausübung; sie eignen sich hervorragend, um jede Nachfrage nach tabuisierten Schwachpunkten im Keim zu ersticken. Patricia Love und Jo Robinson zählen die Schutzbehauptungen, mit denen Eltern ihre Schwächen – ihre Machtlosigkeit gegenüber ihren »Dämonen« – verleugnen, als »Familienmythologie« auf: »Eine Ansammlung von Lügen, Ausflüchten, Verzerrungen und Halbwahrheiten, die alle dem Zweck dienen, eine unangenehme Wahrheit zu verbergen. Auf diese Weise kann man weiterexistieren, ohne ständig an die schmerzlichen Aspekte des Lebens erinnert zu werden.« Als typische Beispiele solcher Mythenbildungen zählen sie auf: »Papa ist kein Alkoholiker – er trinkt nur, um sich zu entspannen«, »Mama und Papa hassen sich nicht. Es liegt nur an uns Kindern, dass es so viel Ärger gibt«, »Meine Eltern haben kein Lieblingskind. Sie haben alle ihre Kinder gleich lieb« oder »Meine Mutter ist nicht böse auf mich. Sie kann nur ihre Liebe nicht zeigen« und so fort. Die einzige zum Ziel führende Strategie, Unterlegenheitsgefühlen oder Größenphantasien zu entkommen, ist, sie »erwachsen« – nicht ängstlich klein, nicht auftrumpfend überspielend, also im ErwachsenenIch – anzunehmen. Die beiden »unreifen« Positionen werden sehr einprägsam zu Ende des Filmklassikers Der Hexer von Oz vorgeführt: Da kommt die Heldin Dorothy, gespielt von Judy Garland, nach langer Irrfahrt endlich in das Schloss des geheimnisvollen Hexers und sieht sich einem stimmgewaltigen Riesenkopf inmitten vielfarbiger Rauchschwaden gegenüber, der sie zuerst einmal mit einer 100
Strafpredigt niederdonnert. Während sie immer niedergedrückter wird, zupft ihr Hündchen einen Vorhang beiseite und man sieht dahinter ein Männlein, das an einem Schaltbrett die Mimik des – ihm selbst nachgebildeten – Gigantenkopfes bedient sowie in den Lautsprecher deklamiert. Der Hexer ist enttarnt. Das verschleierte Bild der Wahrheit ist enthüllt – und keine Katastrophe passiert, ganz im Gegenteil: Jetzt erst kann die Heldin als Erwachsene zu einem anderen Erwachsenen sprechen.
Spielregeln der patriarchalen Familie Dürfen wir alle aber auch wirklich erwachsen werden? Werden wir alle auch wirklich bei dieser Entwicklung gefördert? Im Prozess des Erwachsenwerdens brauchen wir alle vorerst Halt bei anderen. Halt im Doppelsinn: als Unterstützung, aber auch als Grenzsignal. Beides fehlt oft ebenso wie die Sprachmuster, um diesen Halt zu bitten. Weshalb? Wer könnte Interesse haben, dass Einzelne wie Familien isoliert bleiben von jeglicher Unterstützung? Albine und Klaus, beide Anfang fünfzig, sie Chefsekretärin einer Forschungsinstitution, er Steuerberater, wohnen mit ihren halbwüchsigen Söhnen in einem Zwillingshaus: in dem einen die vierköpfige Familie, im anderen die verwitwete Mutter des Mannes. Die Verbindungstür zwischen den beiden Häusern muss immer unversperrt bleiben – für den Notfall. So ist es ausgemacht; es könnte ¡a der Achtzigjährigen etwas zustoßen und dies könnte schnelles Eingreifen nötig machen. Tatsächlich findet Albine die Schwiegermutter zu allen möglichen und 101
unmöglichen Tag- oder Nachtzeiten kochend in ihrer Küche, badend in ihrem Badezimmer oder auch kontrollierend im ehelichen Schlafzimmer. Alle Proteste sind sinnlos, Muttermacht siegt über eheliche Zweisamkeit oder familiäre Viereinigkeit: »Ich werde doch noch zu meinem Sohn kommen dürfen!« Albine resignier, Klaus verbringt immer mehr Zeit in der Kanzlei. Die Kinder flüchten zu Freunden. »Ist ja keiner da!«, argumentiert die Schwiegermutter, »dann kann ich ja kommen!« Ein ungarisches Sprichwort sagt zwar: »Die im Bett hat Recht« – aber bei Konflikten zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter sind die Ehepartner fast immer lieber brave Söhne als – Männer. Im traditionellen Modell der patriarchal gelenkten Familie bildet die Aufrechterhaltung der Hierarchie der Generationenfolge einen wesentlichen Wert. Nachfolgende Generationen sollen immer im Kindstatus bleiben. Erwachsenwerden unerwünscht. Verstärkt durch eine umfangreiche Mutterliebe – Propaganda in Dichtwerken, Filmen und Muttertagsliedern. Selbst so ironische Produktionen wie der österreichische Weihnachtsfilm Single Bells (Franz Xaver Schwarzenberger 1997) zeigen nur die komischtragische Kapitulation des Ehepaares vor der Weihnachtsheimsuchung durch seine nörgelnde und ihre chaotische Mutter, nicht aber, wie man sich sprachlich gegen Zwangsumarmungen wehrt. »Wir müssen ja auf dich aufpassen«, sagen die Eltern der dreißigjährigen Wirtschaftsakademikerin Marianne, er pensionierter Firmenchef, sie seit Gedenken Hausfrau.
102
»Du hast ja noch immer keinen Ehemann!« Und sie versuchen, Marianne ihren karriereträchtigen Verantwortungsposten in der fernen Großstadt auszureden: »Du siehst ja, du hältst den Stress nicht aus!«, sagen sie, als Marianne an einer Virusinfektion erkrankt. Sie solle lieber einen Durchschnittsjob mit Durchschnittsarbeitszeit wählen, »weil kein Mann es sich bieten lässt, wenn die Frau erst spätabends heim kommt!« Und dieser Job solle möglichst vor den Toren des elterlichen Alterswohnsitzes sein: »Du kümmerst dich viel zu wenig um deine Familie!« Und überhaupt habe Marianne »Berührungsängste«, üben sich die Eltern in Psychodiagnostik – sie will sich nämlich nicht andauernd umarmen und abküssen lassen. Die elterlichen Pathologisierungsversuche führen Marianne in Psychotherapie: Voll Vertrauen, dass Eltern immer alles und noch dazu besser wissen, will sie ihre »Angstneurose« behandeln lassen. Ich »verordne« zuallererst die Lektüre des Buches Körper Strategien von Nancy M. Henley – eine alternative Sichtweise zum patriarchal-konservativen Blickwinkel, Töchter hätten dem Zugriff verfügbar zu sein, erstens dem der Eltern, später dem des Ehemannes. Für ihren Bruder gelten diese »Vorschriften« natürlich nicht, wohl aber für dessen Ehefrau … In der patriarchal organisierten Familie werden immer der nachfolgenden Generation die Spielregeln als selbstverständlich vorgegeben, die vor allem dem Machterhalt des »Übervaters« – es kann auch eine männlich identifizierte »Übermutter« sein – dienen. Dazu zählen: Die Regel der Rollenkomplementarität. Außenaktivitäten und zweckbezogene Tätigkeiten wie Geldverdienen 103
werden der Männerrolle zugeordnet, Innenaktivitäten und gefühlsbezogene Aufgaben wie Beziehungsarbeit der weiblichen Geschlechtsrolle. Der Aktivitätsradius der Frau wird durch Appelle an die »natürliche Bestimmung der Frau« begrenzt und leicht kontrollierbar, aber auch durch ihr mangelndes Erwerbseinkommen. Dass sie gleichzeitig in ihren Entfaltungsmöglichkeiten begrenzt wird, ist mitkalkulierter Zugewinn. Gegenseitige Abhängigkeit, wobei der Mann autonomer ist als die Frau. Dabei erhebt sich die tabuisierte Frage der Verantwortlichkeit: Welche Antwort folgt auf die Frage, wofür welche Energie verwendet wird? In Das Unbehagen in der Kultur formulierte Sigmund Freud, allerdings aus seiner Zeitsicht geschlechlechtsspezifisch: »Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muss er seine Aufgaben durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem Sexualleben: Das beständige Zusammensein mit Männern, seine Abhängigkeit von den Beziehungen zu ihnen entfremden ihn sogar seinen Aufgaben als Ehemann und Vater.« Damit werden die Frauen für Nähe verpflichtet – die »Mutter« soll ja immer verfügbar sein –, Männern wird die Distanz zugeteilt. Zusätzlich werden die Frauen pathologisiert: Sucht sie ebenfalls Distanz, weicht sie vom traditionellen Frauenrollenbild ab, sucht sie Nähe, heißt es, sie klammere, sei überbesorgt. Auf diese Weise werden aber Fürsorgetätigkeiten grundsätzlich entwertet. Stellen Frauen daraufhin ihre Fürsorglichkeit ein, folgen Entzugserscheinungen samt Randale. Demgegenüber sehen egalitäre Familienorganisationsformen Rollensymmetrie vor: Beide Geschlechter übernehmen zweckbezogene wie auch gefühlsbezogene 104
Aufgaben und sprechen jeweils ab, wer was wann ausführt. Das Ziel dieser Organisationsform ist Übereinstimmung, nicht Überstimmung – nicht eine oder einer soll mundtot gemacht, sondern es soll eine gemeinsame Stimme gefunden werden; das erfordert Beziehungsarbeit für alle Beteiligten und damit wieder Zeit füreinander, bringt aber mehr Information, mehr Demokratie, daher mehr Selbstbindung und Nähe.
Machtverteilung macht machtlos Das Tabu der Machtlosigkeit ignoriert, dass Familienangehörige situativ nie die gleiche Macht haben, die gleiche Verantwortung tragen und nicht die gleiche Wahlfreiheit sowie Fähigkeit haben, aus einer Familienhölle auszubrechen. Nicht einmal das Stammelternpaar im Zeugungsakt. Dennoch wird suggeriert, alle hätten die gleiche Verantwortlichkeit. Der Transaktionsanalytiker Claude Steiner formuliert in seinem Buch Macht ohne Ausbeutung die »Drei Mythen der Macht«; sie verhindern Veränderungen und insbesondere Entwicklung von Selbstsicherheit und damit persönlicher Macht: o
o
Alle Menschen haben die gleiche Macht. Oder im Familienjargon: »Ich verstehe nicht, wieso man uns nicht … lässt! Wir sind doch um nichts schlechter als …« Dadurch wird ein familiäres Größenselbst aufrechterhalten und dabei verschwiegen, welche Ereignisse möglicherweise behindern und Überwindungsstrategien erfordern, die man gemeinsam planen und durchführen könnte. Der Mensch ist grundsätzlich machtlos. Oder im 105
o
o
Familienjargon: »Das hat noch keiner von uns geschafft!« oder »Schau dir nur deinen Vater/deine Mutter an! Der/die wollte auch immer … und was hat er/sie erreicht?« Damit wird der Familienfluch »Du sollst keinen Erfolg haben!« perpetuiert und eine kritische Auseinandersetzung mit Tabubereichen wie persönlichen Schwachstellen, inadäquatem Verhalten oder innerfamilialen Gegenstrategien verhindert. Der Mensch ist so mächtig, wie er wirklich will. Oder im Familienjargon: »Schau dir den Nachbarn/deine Mitschüler an! Was die alles schaffen! Du müsstest dich nur mehr anstrengen! Dann könntest du das alles auch!« Mit dieser Strategie werden Neid und Konkurrenzgefühle geschürt, hingegen wird weder nachgefragt noch Anleitung vermittelt, welche Anstrengung möglich bzw. Erfolg versprechend sein könnte. Und schon gar nicht wird individuelles Abschätzen im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung gelehrt. Je nach Elternerfahrung werden diese Machtmythen schon dem Kleinkind »eingepflanzt«. Sie lenken aber davon ab, die wirklichen Machtverhältnisse samt den zugehörigen Strategien des Machterhalts zu beobachten, zu bewerten und gegebenenfalls zu hintertreiben: Wird nämlich konsequent das Ziel einer halbwegs ausgewogenen Machtverteilung verfolgt, kommen Machtungleichgewichte zum Verschwinden.
Vera, Tochter einer dominanten Lehrerin und selbst Lehrkraft in einer berufsbildenden Schule, verschweigt ihrem Lebensgefährten, dem Architekten Dieter, immer wieder unangenehme Anrufe seiner »Kunden«. Sie hat Angst vor seinen Zornausbrüchen (und überhaupt 106
Panikattacken). Dieter, von einer ehemaligen Sekretärin zu einer unbewussten Samenspende und damit einem nunmehr neunjährigen Sohn »verführt«, hält nichts so schlecht aus, wie hinters Licht geführt zu werden. Vera glaubt, sie habe keine Möglichkeit, Dieters Wut zu verhindern. Dieter glaubt, Vera sei eine notorische Lügnerin, und er habe keine andere Möglichkeit als Gewalt, ihr die Wahrheit »herauszulocken«. In der Paartherapie überwindet Vera ihre Angst: Sie kann Dieter glaubhaft vermitteln, dass sie Angst vor ihm hat – und gleichzeitig davor, dass ihre Mutter ihre Wut an ihr und an Dieter auslassen könnte, wenn sie merkt, dass Vera Angst vor Dieter hat und Dieter seine Wut gegen Vera richtet. Dieter reagiert mit Erschütterung: Auf die Idee, dass Vera Angst vor ihm als Person haben könnte, wäre er nie gekommen, er hatte die Angstsignale als Anzeichen des schlechten Gewissens einer Frau, die nicht nur ihn, sondern auch ihre Mutter belügt, gewertet. Wenn Ohnmachtsgefühle wie Angst (»Ich fühle mich klein«) oder Wut (»Ich will mich wieder groß fühlen«) mitgeteilt werden können in der Gewissheit, dass sie respektvoll als Information angenommen und nicht als Start eines Machtspiels verstanden werden, in dem das geheime Ziel darin besteht, den anderen zu manipulieren, braucht man keine Energie mehr darauf verwenden, die Anknüpfungspunkte möglicher Vermutungen, Unterstellungen, Diskriminierungen, ja sogar Verdächtigungen zu verbergen. Man braucht auch die Tabubereiche nicht mehr ängstlich zu hüten und muss sich weder nach innen noch nach außen kunstvoll abgrenzen – weil man ja jederzeit Grenzen ziehen darf, wenn einem etwas zu nahe kommt. Und man muss Grenzen auch nicht ignorant überrennen, weil man ja sagen darf, wenn man 107
jemand näher kommen will. Dann kann man getrost auf all die Strategien des Machterhalts verzichten, die da lauten: o
o
o
o
Es soll niemand nahe kommen – sonst könnte man Hilflosigkeit erkennen; daher werden Distanzsignale gesendet; es soll niemand ansprechen – es könnte einen sprachlos machen; daher wird das Reden verächtlich gemacht; es soll niemand angreifen – er könnte Weichheit und Schwäche spüren statt Härte und Stärke; daher werden Berührungen abgewehrt; es sollen alle glauben, man sei unerreichbar in seiner Perfektion.
108
DAS TABU DER LEBENDIGKEIT
A
lles was lebt, bewegt sich. Vibriert. Wechselt seine Zustandsformen, dehnt sich aus, wächst, zieht sich wieder zusammen, macht sich klein, und irgendwann geht es ein und zwar im Doppelsinn des Wortes: Einerseits folgt keine Expansionsbewegung mehr außer der Streckung in der Totenstarre, andererseits folgt die Auflösung der materiellen Existenzform im Eingehen in ein größeres Ganzes – Beerdigung, Verbrennung, Verwesung. Und für die geistig-seelische Existenz nehmen die meisten Menschen einen gleichen Vorgang an. Die Beweglichkeit der Lebendigkeit zeigt sich nicht nur im Stoffwechselgeschehen des Körpers mit Einatmen, Ausatmen, Muskelanspannung, Muskelentspannung, Nahrungsaufnahme, Nahrungsrestabgabe, in Herz- oder Hirnstrommustern. Es gibt auch einen psychischen Stoffwechsel mit Nähe und Distanzbedürfnissen, mit Aufmachen und Zumachen. Im Klischeebild der heilen Familie herrschen Nähe und Offenheit: Man steht Schulter an Schulter, gibt einander Beistand und Halt; Augen, Ohren und Herzen sind offen, die Äußerungen des anderen aufzunehmen und eigene nicht zurückzuhalten … In dieser Vision fehlen aggressive und sexuelle Färbungen: Nähe bedeutet auch, dass man einander berührt - angreift im Doppelsinn des Wortes – und sich womöglich aneinander zu reiben beginnt. Wenn man dann nicht rechtzeitig wieder auf Distanz geht, lädt man sich immer weiter auf, bis die folgende Spannung so weit steigt, dass sich Explosionen anbahnen. Sie zerstören dann endgültig die Beglückungserwartungen zumindest der 109
Familienangehörigen, die sich im Familienkreis nur Geborgenheit, Sicherheit und Frieden erhoffen. Es gibt aber auch andere, die von klein auf gelernt haben, mit brutalen Machtkämpfen, Attacken, Drohungen und Gewalt umzugehen. Solange wir nicht begonnen haben, uns vor Emotionen zu schützen, indem wir »zu« machen, löst Nähe intensive Gefühle aus. Wenn der Säugling in den Armen seiner Mutter spürt, dass er in bewundernde Liebe – »Wie schön, dass es dich gibt!« – eingehüllt ist, so erreichen ihn spezifische Glückshormone und er wird »aufmachen« und diese geistige Kraft-Nahrung ebenso einsaugen wie die materielle – sofern sie ihm nicht »zu nahe« kommt und er sich verschlungen fühlt. Solche unbewussten Aufnahmeoder Abwehrbewegungen finden von den ersten Lebenstagen an statt, und leider setzen Fehlreaktionen der Erwachsenen oft bereits damit ein, dass sie nicht ertragen können, wenn ein Baby nicht so reagiert, wie es nach ihrem geistigen Drehbuch sollte. Ich habe über zehn Jahre im »Verein Jugendzentren der Stadt Wien« ein Projekt geleitet, das vor allem der Zielgruppe junger Eltern Information und Beistand bieten sollte, mit der Situation »Ein Gehalt weniger, ein Fresser mehr« ohne Entzweiung, Schuldzuweisungen oder Gewalt fertig zu werden. Stattdessen sollten sie lernen, konstruktive und vor allem auch kollektive Problemlösungen zu erarbeiten. Dieses international beachtete und gelobte Modell »Club Bassena« (Bassena heißt die Gangwasserleitung, die in den Zinshäusern der Jahrhundertwände für die Hausbewohner Umschlagplatz von Informationen und Hilfeleistungen war) bot mir interessante Gelegenheiten teilnehmender Beobachtung für alle möglichen Kommunikationsformen von Familien: von der Mutter, die ihrem Kleinkind mit dem Satz auf die 110
Finger haut: »Wie oft soll ich dir sagen, du sollst nicht hauen!« zu Mobbingszenarien unter Kindern, vom trockenen Alkoholiker, der »eine Runde Kaffee« schmeißt, bis zu den vielen Lügen, mit denen depressive Antriebslosigkeit und in der Folge Vernachlässigung – oder deren Selbstheilungsversuche durch Kaufsucht – familiär verborgen wurden.
Beglückungsterror In diesen Studien kam ich immer mehr zu der Überzeugung, dass schon kleinste Kinder genau spüren, ob sich ein Erwachsener aus eigener Bedürftigkeit annähert, weil er oder sie Zuwendung vom Kind bekommen oder sich selbst »nur« als Kinderfreundin darstellen will, oder ob er oder sie wirkliches Interesse an der Person des Kindes hat. Versucht jemand, sie emotional zu missbrauchen, reagieren sie entsprechend unwirsch. Der Psychoanalytiker Matthias Hirsch unterscheidet folgende Bereiche des emotionalen Missbrauchs von Schwächeren: »1. Narzisstische Bedürfnisse der Eltern, die dazu führen, dass die Kinder die Fähigkeiten und Begabungen entwickeln müssen, die die Eltern für sich selbst nicht verwirklichen konnten. Das Kind als Partnerersatz. Kindesmisshandlung. Sexueller Missbrauch in der Familie. ›Terrorismus des Leidens‹, das heißt Erzeugen von Schuldgefühlen beim Kind durch chronische Krankheit der Eltern.«
111
Ich sehe emotionalen Missbrauch häufig als »Beglückungsterrorismus«: wenn Erwachsene ihre depressive Leere dadurch zu füllen versuchen, dass sie sich Streicheleinheiten vom Kind holen, indem sie ihm solche aufdrängen. Ähnliche Verhaltensweisen kann man auch bei Männern und Frauen beobachten, wenn sie, ohne die andere Person als Person wahrzunehmen, unter dem Vorwand, sie wollten der anderen Person ja nur »Liebe schenken«, über Berührung Energie von der Partnerperson »abzapfen«. Streicheln, umarmen, halten als rudimentäre Simulation des Kraft spendenden ganzheitlichen Geschlechtsverkehrs findet man ebenso im Umgang mit Haustieren – darauf basiert ja auch die »Therapie mit Tieren«. Zwei meiner Studentinnen im Lehrgang für Sexualpädagogik und Sexualberatung an der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin sind solche »Therapeutinnen«. Die eine hat im Rahmen ihrer Diplomarbeit als Psychologin ihre Tätigkeit mit Tieren in geriatrischen Pflegeheimen dokumentiert; sie konnte beobachten, dass die alten Menschen im zärtlichen Hautkontakt zu den »geschulten« Gasttieren in einer Weise »aufblühten«, die durchaus den Reaktionen von Menschen in Liebesbeziehungen vergleichbar sind, wenn sie der Glanz im Auge des oder der Liebenden trifft. Nicht nur Kleinkinder reagieren unbewusst auf die Geisteswie Körperhaltung ihrer »Gesprächspartnerinnen« – auch die erwachsene Person signalisiert ihre Betroffenheit, und das meist spontan und unbewusst. Seien es die »Lichtabstrahlungen« des Kindes, sein Anblick, seine Schallwellen, seine Atem- oder Verdauungsgeräusche, seine Duftwellen oder was auch immer von ihm als energetische Frequenz ausgeht, seine Bezugsperson nimmt sie über ihre Sinnesorgane auf und reagiert darauf, je nachdem, ob ihr diese 112
Lebensäußerungen angenehm oder unangenehm »nahe« gehen, mit Aufmachen oder Verschließen. Zumachen und chronische Verschlossenheit sind also nicht nur Reaktionen auf die jeweils Anderen, sondern sie haben auch Signalcharakter. Sie sind körpersprachliche oder rein energetische Botschaften, wie nah oder fern die andere Person gewünscht wird. Mit zunehmendem Sprachschatz könnte dies auch in Sprache kommuniziert werden – »Bitte komm mir nicht so nah!« oder »Ich hätte dich gerne näher bei mir – bitte komm!« oder »Darf ich zu dir kommen?« Wir sprechen aber nicht, weil wir die Sätze der aktiven Raumgestaltung nicht im Repertoire haben. Dafür haben wir die Verbote und Gebote im Erinnerungsohr, mit denen uns aufgetragen wurde: »Bleib, wo du bist!«, »Komm ja nicht her!« oder »Da kommst her!«
Ganzheitliche Gesundheit Nach der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Gesundheit nicht bloßes Freisein von Krankheit und Behinderung, sondern vollkommenes körperliches, seelisches, soziales und spirituelles Wohlergehen. Bewegungsfreiheit gehört da unbedingt dazu, ist sie doch Voraussetzung für Entfaltung und Wachstum: Man braucht Raum, wohin man sich entwickeln kann. Freiraum eben. Man braucht aber auch die erforderliche aggressive Kraft, in den Freiraum hineinzuwachsen – ihn in Besitz zu nehmen. Genau diese Wachstumskraft wird aber behindert – von den anderen, die ihren Freiraum durch Verkleinerung bedroht wähnen, aber auch durch uns selbst. Wir definieren die wachstumskonforme 113
Grenzüberschreitung als Grenzverletzung und fürchten die Folgen des Tabubruchs. Voraussetzung für soziales Wohlergehen ist friedliches Zusammenwirken; friedlich heißt für mich nicht Friedensschluss nach siegreicher Beendigung eines Kampfes, sondern partnerschaftliches Aushandeln der für beide passenden Lösung. Im Wort »aushandeln« steckt der Begriff »handeln« und daher auch »Hand« drinnen: einerseits aktives Tun, andererseits das, was Händler tun, wenn sie versuchen, Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen, und schließlich all das, was man mit Händen tun kann: geben und nehmen und auch gestalten. Aushandeln ist aber nicht gleich Händel (= Streit) beginnen – sonst hieße das Wort ja »aushandeln«. Wenn wir aber all das, was wir mit Händen tun können, unter dem Blickwinkel der Polarität von friedlich und kämpferisch betrachten, merken wir, dass es von der Geschwindigkeit, von der Rhythmik der Bewegung abhängt, wie wir eine Handlung empfinden. Immer wenn so schnell gehandelt wird, dass kein Stopp, keine Gegenhandlung möglich ist, erleben wir Gewalt – außer wir sind sie schon so gewohnt, dass sie uns nicht mehr auffällt. Dann werden wir Gewalthandlungen als Notwendigkeit verteidigen oder mit allerlei klugen Begründungen rechtfertigen. In der Sprache der Psychoanalyse benennen wir eine derartige Argumentation als Abwehrform der Rationalisierung: Die darunter verborgenen eigenen Ängste oder Aggressionen werden damit an der Bewusstwerdung gehindert und man kann sich emotionslos – ohne gefährdende Gefühlsregung – sicher vorkommen. Aus ganzheitsmedizinischer Sicht sind wir Menschen eine untrennbare, gleichzeitig körperlich empfindende, seelisch und spirituell fühlende und geistig denkende 114
Körper-Seele-Geist-Einheit. Erinnern wir uns: G.G. Jung war es, der diese vier Funktionen des Bewusstseins deutlich gemacht hat. Üblicherweise dominiert beim westlichen Menschen die Hauptfunktion Denken die beiden Hilfsfunktionen Körperempfindung und Intuition und steht somit in krasser Opposition zur »minderwertigen« Funktion Fühlen. Ein klassisches Machtungleichgewicht! Von gleichmäßiger Verfügbarkeit dieser Bewusstseinsbereiche, von Balance kann da keine Rede sein, höchstens von einem schief fixierten Gleichgewichtszustand. Und welche Kraft nötig ist, um solch einen schrägen Zustand still zu halten, ist wohl leicht vorstellbar. Wenn also Sigmund Freud formuliert hat: »Wo Es war, soll Ich werden«, so könnte man im Sinne der Herstellung von Ganzheit auch sagen – wo nur empfunden und gefühlt wird, sollte auch das Vernunftdenken dazutreten. Oder umgekehrt: Wo nur gedacht wird, fehlt die Ergänzung durch das Gefühl, durch die Intuition und durch die Wahrnehmung der Körperempfindungen.
Zivilisation Es wird als eine der wichtigsten Aufgaben der Institution Familie angesehen, die kleinen Wilden, nämlich die Kinder, oder die, die wieder zu Kindern geworden sind, die Alten, zu zähmen – zu befrieden, was nicht unbedingt heißt zu befriedigen. Also werden Kleinkinder bereits »zivilisiert«: Das geschieht, indem man ihnen die freie Körperbewegung, aber ebenso die freien Gefühlsregungen ausredet und späterhin auch die Intuition, die »Phantasie«. Was aber macht uns so sicher, dass all das, was Kinder in der so genannten animistischen Phase ihres 115
Heranwachsens sehen, hören oder spüren, »nur« ausgedacht ist – und nicht vielleicht ein Mehr an Wahrnehmung, zu dem nur der »wissenschaftliche« und gesellschaftlich anerkannte sprachliche Ausdruck fehlt? Vor einigen Jahren erschütterte die Ermordung eines Jungen durch den »Lebensgefährten« seiner Mutter ganz Österreich: Der wegen Sexualdelikten inhaftierte Mann hatte die Frau brieflich kennen gelernt und sich während seiner »Freigänge« bei ihr einquartiert. Der Sohn hatte vom ersten Kontakt an Angst vor dem Mann und äußerte wiederholt die Befürchtung, er könnte ihm »etwas antun«; dies wurde aber als »Eifersucht« abgetan. Mit »Was redest du da! Der tut dir doch nichts!« und »So etwas sagt man nicht!« seien die Bedenken des Jungen immer weggewischt worden, wussten die Nachbarn zu berichten, als es zu spät war: Wie die Kripo rekonstruierte, hatte der Junge, vorzeitig aus der Schule heimgekehrt, den Mann in Frauenkleidern überrascht. Das war sein Todesurteil. Seine Vorahnungen hatten sich bewahrheitet. Kinder und Narren sagen die Wahrheit, weiß der Volksmund, und oft ist es die einzige Form, die Wahrheit unzensiert sagen zu dürfen, dass man das Stigma des Narrentums auf sich nimmt – denn es wird als »erwachsen«, »klug«, »höflich«, kurz »zivilisiert« benannt und anempfohlen, die Wahrheit schweigend zurückzuhalten, wenn dadurch Machthaber enttarnt und zu Gewalttaten provoziert werden könnten. Je mehr aber jemand zurückhält, desto mehr leidet seine Reaktionsfähigkeit: Er erstarrt. Kinder sind noch beweglich: Nicht nur, dass sie so weich und biegsam sind, dass sie ihre Körperenden leicht 116
zusammenlegen können – beispielsweise die Zehen in den Mund stecken oder mit dem Kopf die Füße berühren –, sie haben auch noch einen Rundumblick, reagieren daher auf viel mehr als wir denaturierte Erwachsene und damit auch auf all das, was wir gerne dem Tabubereich überantworten: unberührbar, unansprechbar, womöglich auch noch unsichtbar. Damit Kinder nicht an Tabus rühren, bekommen sie von klein auf Stillhalteappelle. Früher wurden sie sogar in Steckkissen eingebunden, damit sie sich nur ja nicht rühren konnten und nicht womöglich mit ihren kleinen Händen an den Tabubereich der Genitalien gelangten. Später dürfen sie nicht in der Wohnung herumtrappeln, haben stillzusitzen und den Mund zu halten. Sonst könnte es ja Konflikte mit den Vermietern geben … »Ich habe eine endogene Depression«, verkündet Manfred gleich beim ersten Besuch in meiner Praxis. Vier Psychiater hätten ihm bisher nicht helfen können, bringt er noch heraus, dann verstummt er. "Zwei Frauen haben den erfolgreichen Kaufmann bereits verlassen – keine halte seine immer wiederkehrenden »grundlosen« Selbstmordgedanken aus, bricht es nach langer Schweigepause aus ihm heraus. Wann er denn dieses Gefühl der Unerträglichkeit des Lebens erstmals erinnern könne, taste ich mich behutsam an den Tabubereich heran. Als Volksschüler habe er immer mit einem 1,5 in langen Brett, durch die Ärmel seiner Jacke gesteckt umhergehen müssen, fällt ihm plötzlich ein, damit er nicht Nägel beißen oder in der Nase bohren könne – und das wäre furchtbar gewesen in der kleinen Stadt, wo jeder jeden kannte … Und aller Widerstand und alles Bitten hätten nichts genutzt, die Mutter habe ihn nur böse angesehen und geschwiegen, und der Vater hätte sowieso nichts zu 117
sprechen gehabt. Die bereits erwähnten »Geradehalter« von Schreber senior standen wohl Pate bei diesem brutalen Versuch, das Kind Manfred an der Abreaktion vermutlich wohlbegründeter innerseelischer Spannungen zu hindern. Weniger brutale Experimente, Kinder zum Stillhalten zu bringen, greifen immer noch auf »Fixierungen« zurück: Auch das Festbinden eines Kindes im Sportkinderwagen kann eine »Fesselung« sein. So verständlich das Bedürfnis der Begleitperson auch sein mag, das Kind am „Heraussteigen“ zu hindern – wenn das Kind starkt genug ist, herauszusteigen, ist es an der Zeit, dass es selbst gehen darf. Ein etwa vierzigjähriger Mann, von Beruf Sozialarbeiter, kam einmal in die 1. Wiener Sexualberatungsstelle; seine Gewohnheit, zu Prostituierten zu gehen, hatte seine Ersparnisse aufgebraucht. Aber nur dort glaubte er zu bekommen, was ihm wahre Lust spendete: gefesselt und angepinkelt zu werden. Auf der Suche nach dem Ursprung dieses Bedürfnisses gelangen wir zu folgender »Urszene«: Er ist etwa zwei jähre alt und sitzt, fast nackt und angeschnallt, im Sportkinderwagen im Garten; die Sonne brennt auf ihn herab. Plötzlich stürzt seine Großmutter aus dem Haus, besprenkelt ihn mit der Gießkanne, bindet ihn los und schließt ihn in die Arme: »Du Armer, haben sie dich vergessen! Nun komm, die Oma ist ja bei dir! Die Oma hat dich lieb!« Als er die Verknüpfung zu seiner Sexuallust erkannte, wurde ihm vieles klar – auch seine Sprachlosigkeit. Im Gespräch mit seiner Ehefrau, der er berichtete, dass er darauf gekommen sei, dass er gerne »bespritzt« und »festgehalten« werden wolle, fand 118
er danach unzählige Variationen in und außerhalb von Dusche und Badewanne, seine Phantasien weniger extrem – und weniger ehegefährdend – als bisher zu verwirklichen. Jede Körpererfahrung, die mit starken Gefühlen verbunden ist, prägt Verhalten: Entweder warnt die »innere Stimme« vor möglichen Wiederholungen und behindert Beweglichkeit, oder Wiederholungen werden gleichsam als autosuggestive Bestätigung gesucht, die dahinter sehr wohl verborgene Angst ertragen zu können. In beiden Fällen bleibt man vergangenheitsfixiert; Persönlichkeitswachstum findet in diesem Bereich kaum statt. Nicht nur Kinder – alle Menschen brauchen Raum, in den hinein sie sich entfalten können. Vielleicht sollten all die Familien- und Kommunalpolitikerinnen intensiver überdenken, welche Freiräume Kinder wie Erwachsene brauchen, um nicht eingeschränkte, starre Roboter zu werden, die ab und an »explodieren«, und dementsprechend Bewegungsraum schaffen bzw. nicht zerstören lassen!
Nur Überlebenstechnik? Nach der »Bedürfnispyramide« von Abraham Maslow ist bei der Dringlichkeit der Bedürfnisbefriedigung eine Rangordnung feststellbar: Menschen wenden sich immer erst nach der Befriedigung eines grundsätzlicheren Bedürfnisses dem nächstfolgenden zu. Die Basis dieser Grundbedürfnisse bilden die physiologischen Bedürfnisse nach Nahrung, Behausung, Schlaf. Auch sexuelle Befriedigung wird dazugezählt, aber 119
da wage ich Zweifel anzumelden: Rattenversuche, nach denen die Tierchen vor eifriger Betätigung des Fußhebels, der ihnen sexuelle Stimulation bescherte, vergaßen, den für die Futterportionierung zu betätigen, beweisen die Hochrangigkeit sexueller Aktivität ebenso wenig wie die freudschen Überlegungen zum »Unbehagen in der Kultur«, wonach die Menschheit zur Sublimierung »dressiert« würde und auch werden müsse, da es sonst keinerlei Kulturleistungen gäbe. Hier gehen wohl Männer von ihren hormongesteuerten Wunschbildern aus: Mit Änderung des Hormonstatus einerseits – der übrigens ernährungsabhängig ist, wie Erfahrungen magersüchtiger und anderer unterernährter Menschen beweisen – sowie mit Reduzierung sexueller Überstimulation durch männliche Bezugspersonen andererseits verändert sich die sexuelle Appetenz und möglicherweise korrespondiert beides miteinander. Diese Überlegung leite ich aus Therapieerfahrungen mit Männern ab, deren Sexualverhalten sich grundlegend änderte, nachdem sie sich mit sexuellen Übergriffen auseinander gesetzt hatten, die sie in Kindheit und Jugend verletzend erlebt hatten, und nachdem sie ihr »Opfersein« abwehrend »ins Gegenteil verkehrt« hatten. Grob vereinfacht, sieht Maslow soziale Bedürfnisse nächstrangig; erst wenn Menschen hinreichend Schutz und Geborgenheit erhalten hätten, würden Sicherheitsbedürfnisse, Wünsche nach Ordnung, Struktur, Grenzen und damit auch Gesetzen dominant. Und erst nach deren Befriedigung tauchten Ich-Bedürfnisse wie die nach Zugehörigkeit und Liebe auf, dann die nach sozialem Ansehen und Geltung, und zuletzt widmete sich der Mensch seiner Selbstverwirklichung, nach Wissen und Verstehen und Ästhetik. In der Metapher dieser »Pyramide« ist das Fortschreiten, 120
der Aufstieg mit enthalten. Wenn also Selbstverwirklichung beispielsweise aus ideologischen Gründen unterbunden werden soll, muss verhindert werden, dass die vorgelagerten Bedürfnisse hinreichend gesättigt sind. Logischerweise müssen Menschen, die an ihrem »Fortkommen« gehindert werden sollen, verunsichert werden, damit sie auf der Stufe der Sicherheitsbedürfnisse verweilen. Verweilen – auch eine Form des Stillstandes. Obwohl Familie als Ganzheit sich ebenso permanent leibseelisch und geistig weiterentwickeln müsste wie jeder andere Organismus, um nicht frühzeitig abzusterben, scheuen viele diese Form von Bewegung: Als ganzheitliches Stoffwechselgeschehen bedeutet sie nämlich Veränderung des Zustandes und Loslassen von Überholtem, Unpassendem und vor allem Schädigendem. Wenn aber Bewegung und damit Veränderung beginnt, beginnt gleichzeitig eine noch unbekannte Zukunft ins Bewusstsein zu treten. Wenn man Bewegung, Veränderung vermeidet, kann man hingegen wähnen, der gegenwärtige Zustand würde nie vergehen – würde nie Vergangenheit.
Angstmechanismen Wer mit Familien arbeitet, in denen Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt, geübt wird, kennt die angstvolle Erstarrung des Stillhaltens und Schweigens – eine Überlebenstechnik. In dem Augenblick der Traumatisierung reißt der Lebensfilm ab: Augenblicke der Dissoziation – des mentalen Heraustretens aus der Gegenwart von Zeit und Raum, oft auch aus der Körperempfindung und der Wahrnehmung – bewirken, 121
dass nach der wieder erfolgten Assoziation – was heißt, der Lebensfilm knüpft an den Augenblick vor dem Trauma wieder an – Lebenszeit fehlt. Ich habe in meiner klinischen Arbeit auch vielfach feststellen können, dass traumatisierte Menschen oft im »verkehrten« Atemrhythmus atmen – also beispielsweise bei Kniebeugen einatmend in die Hocke gehen und ausatmend sich wieder aufrichten. Auch beim Schwimmen ist die Atmung oft verkehrt, und Patienten, die zur Beseitigung von sexuellen Erregungsstörungen Atemübungen machen sollen, haben damit oftmals große Mühe. »Leben ist allzeit ein plastischer Vorgang der Anpassung«, formuliert Attila Lusthoff in seinem Büchlein über energetische Zusammenhänge von Körper – Geist – Seele und erklärt, wie die Zellkörperchen quasi als Kraftwerke der Zelle diese Energie liefern: Sie spalten im Zitronensäurezyklus mit Hilfe von Sauerstoff Traubenzucker und decken so einerseits den Energiebedarf der arbeitenden Zelle (mit ihrem »Gehirn« Zellkern) und bauen andererseits Energiespeicher auf. Der Gesamtzellstoffwechsel wird hormonell beeinflusst und zwar sowohl durch situative Erfahrungen als auch rationale Bewältigung – also durch Erfahrungen ebenso wie durch Gedanken. Lusthoff bringt dieses Geschehen knapp auf den Punkt: »Da in allen Zellen der Chromosomensatz einheitlich ist, so greift die zentralnervös (hormonell) abgegebene Information in den Gesamtzellverband und modifiziert die Gesamtkörperfunktion entsprechend der weitergeleiteten Information. Mit anderen Worten: Der Gesamtzellverband erhält Informationen, reagiert darauf und kann sie sogar speichern. Die Informationen, die das Bewusstsein vom Körper erhält, bewirkt eine Veränderung der Geistesverfassung und -Haltung.« Jeder wahrgenommene 122
Reiz löst eine körperliche oder seelische Reaktion aus – und wenn es nur eine minimale Kontraktion eines Winzigmuskels ist –, aber nicht jede wird bewusst wahrgenommen. Leider werden oft nicht einmal chronisch gewordene Muskel ver Spannungen – »Fehlhaltungen« – bewusst wahrgenommen; erst wenn einen der »Hexenschuss« lahmlegt, erkennen manche Menschen Zusammenhänge mit stetig gewachsenen psychischen Belastungen. Viele regredieren dann auf frühkindliche – oder mittelalterliche – animistische Denkmuster und suchen schnell eine »Hexe«, der man die »Schuld« am eigenen (Körper-)Schaden zuschieben kann. Susanne, Topjournalistin und mit den Großen der Welt auf Du und Du, bricht zehn Tage vor Redaktionsschluss der Weihnachtsdoppelnummer zusammen: gerade noch kein Bandscheibenvorfall. Dank einer guten Betäubungsspritze kann sie sich mittags in die Redaktion schleppen, um die vorgefertigten Storys abzuliefern – zu groß ist die Angst vor dem allwütenden Herausgeber und Chefredakteur, zu groß auch die Disziplin gegenüber den Kollegen. Stunden später liegt sie schon im Spital, wird wieder hochgedopt, lässt sich heimbringen; kaum ist die Eingangstüre aufgesperrt, hört sie schon ihren Boss auf dem Anrufbeantworter, wo sie denn sei, es wäre eine Sensationsstory ausgebrochen … Susanne verzweifelt – sie kann beim besten Willen nicht vom Krankenlager hoch. Dennoch wagt sie es nicht, ihre Lage zu erklären. Schuldbewusst sucht sie (»die Hexe«) bei sich, wodurch sie ihre Gesundheit gefährdet haben könnte. Dass ihr Chef (»der Hexer«) einen Führungsstil praktiziert, der sie – und den nächsten Tag auch die zwei Ressortkollegen – gesundheitlich schädigt, wagt sie kaum zu denken. Als vaterlos aufgewachsene Kriegswaise fehlen ihr die Worte, 123
sich gegenüber abzugrenzen.
einer
wutschnaubenden
Vaterfigur
»Der primäre Reiz zur Ernährung eines Gelenkknorpels ist die Bewegung im Bewegungsausschlag, den die Anatomie des Gelenkes vorgibt«, erklärt Lusthoff. Überbelastung und Schmerzen sowie Un-, aber auch Überbeweglichkeit stören den Stoffwechselhaushalt von Sehnen, Knorpelund Muskelgewebe; durch den Belastungsdruck einer Fehlhaltung wird das an das Knorpeleiweiß gebundene Gewebswasser weggedrückt, es kommt zu einer »Raumforderung«, daraus folgt eine Höhenminderung der Bandscheibe, darauf die Gefügelockerung des Bewegungssegments, darauf weitere muskuläre Verspannungen bis hin zu langfristigen Wirbelgelenksarthrosen und so weiter … es entsteht ein Muskelblock und damit Immobilität. Die statische Korrektur der belasteten Bereiche kann diese Immobilität jedoch neuroreflektorisch beheben. »Die Wirbelsäule stellt sozusagen den verlängerten Arm des zentralen Nervensystems dar«, schreibt Lusthoff. »Die zentralnervöse Kommunikation spiegelt sich, auf welcher Rückenmarksebene auch immer, in der Haltung wieder.« Und die verändert sich zumeist mit zunehmendem Alter – weil wir durch vorgeschriebene Haltungen unserer natürlichen – kompensatorischen – Beweglichkeit beraubt werden.
Zurück-Haltung Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist es noch ganz biegsam. Sogar die Fontanellen kann man noch zusammenschieben. 124
Ihm fehlt Struktur – Halt. Daher muss man ihm ja auch bis in den dritten Monat hinein den Nacken stützen, weil es den schweren Kopf noch nicht allein halten kann. Mit zunehmendem Alter werden wir dann immer unbeweglicher – sofern wir nichts dagegen tun. Ähnlich pflanzen wir einem Bäumchen zu Beginn seiner Existenz noch einen Stab als Halt gegen Wind und Wetter daneben; wenn sich auch zu Beginn seine Äste noch für Bugholzarbeiten eignen, mit zunehmendem Alter trocknet es aus, bis der Baum zuletzt zwar umfangreicher, dafür aber nicht mehr so saftig und oft bis zur Dürre gealtert ist. Menschen werden nicht nur aufgrund von ernährungsbedingtem Übergewicht unbeweglich, sondern vor allem mangels Bewegung. Körperlich wie auch geistig: Zu Gelenkversteifungen treten auch Halsstarrigkeit und Starrsinn, und zuletzt belehrt uns die Totenstarre, dass in einem Menschen kein Leben mehr wohnt. Wenn wir im Rechtsstatus des Kindes sind, wird von uns verlangt, dass wir uns anpassen – dass wir flexibel sind. Aber nicht zu flexibel – wir sollen ja auch berechenbar und verlässlich sein. Wenn wir großjährig geworden sind, sollen wir dann plötzlich die Charakterfestigkeit besitzen, »allen Wirrnissen des Lebens zu trotzen« - wir sollen standhaft bleiben gegen all die unmoralischen Angebote, die im Privat- wie Berufsleben auf uns zukommen, dennoch mobil sein, um der Arbeit nachzuziehen (im Doppelsinn des Wortes: nicht nur räumlich, sondern auch psychosozial). Wir sollen offen auf andere zugehen und viel von diesen erfahren, gleichzeitig aber nichts von uns hergeben. Außer wir sind weiblich, dann sollen wir uns anpassen wie brave Kinder, empfangsbereit offen als begehrende Liebhaberinnen, und viel von uns hergeben als spendende Liebesdienerinnen – aber nur für den »Herrn 125
und Meister«! Allen anderen gegenüber sollen wir wieder »zu« sein. Die vierzigjährige Christa wurde vom Unfallspital ins psychiatrische Krankenhaus verlegt: Sie war in voller Fahrt gegen eine Betonwand geprallt. Auf Befragen hatte sie berichtet, plötzlich wäre ihr Jesus erschienen und habe ihr den Weg gewiesen: »Komm zu mir – hier findest du Ruhe!« Der Weg führte geradewegs auf die Feuermauer zu. Suizidal wäre sie nicht, betont sie – aber ein bisschen Arbeitspause täte ihr schon gut. Neben der Versorgung ihrer fünfköpfigen Familie mache sie nämlich noch die Buchhaltung des Familienbetriebes und unterstütze auch sonst ihren Mann bei der Kundenbetreuung, Mitarbeiterbetreuung, Schwiegerelternbetreuung … und überhaupt müsse sie derzeit das Firmenjubiläum vorbereiten, da kämen alle Lieferanten und Kunden zu einem Festessen … Pause? Eine solche käme doch überhaupt nicht in Frage! Ihr Mann hätte vielleicht sogar Verständnis, ihm habe der Arzt auch schon einen Kuraufenthalt angeraten, aber die Schwiegereltern, die ebenfalls auf dem Betriebsgelände wohnten, würden unaufhörlich kritisieren. Der Schwiegervater halte dem Sohn ohnedies tagtäglich vor, was er mehr und besser machen müsste, und die Schwiegermutter spotte, was ihr denn zuviel Arbeit wäre – sie hätte das alles auch gemacht und nie gejammert. Dabei war der Betrieb dazumals ein Viertel der heutigen Auftragslage und Belegschaft! Aber mit den Schwiegereltern zu reden habe gar keinen Sinn – die wollten nur hören, wie gut sie selber seien und dass alles ihr Verdienst sei, wenn etwas gut laufe. Schwierigkeiten darf es nicht geben - und müde zu sein bedeute, anderen, die dann einspringen müssten, Schwierigkeiten machen. 126
Mit Doppelbotschaften werden wir schon von klein auf indoktriniert: auf, zu, auf, zu – entspannen, anspannen. An und für sich der Rhythmus der Lebendigkeit – aber die Wechselappelle folgen zu rasch aufeinander, stehen daher immer wieder im Widerspruch, werden nicht sinnhaft klargelegt und schon gar nicht im Dialog durchdiskutiert. Irgendwann machen wir endgültig zu: Wir orientieren uns am Leitbild des einsamen – unverstandenen? - Helden, wie er oder sie in Film und Fernsehen, natürlich erfolgreich, auf Egotrip ist. Dieses Vorbild wird uns aber auch von durchaus wohlmeinenden Familienangehörigen anempfohlen, die ja »nur unser Bestes wollen«. Wer diesem medialen Idealsystem nacheifert – denn real zeigen sich kaum Heldenvorbilder –, hält sich an das Motto »Kopf hoch – Brust heraus – Bauch hinein«. Mit dieser typischen Heldenpose betont man die willkürlichen, muskulären, leistungsund kontrollorientierten Funktionen unter Vernachlässigung der zyklischen, vegetativen, emotionalen. Dafür sind die jeweiligen Partner zuständig. Für die Männer die Frauen, für die Frauen die Kinder. »Der Charakter besteht in einer chronischen Veränderung des Ichs, die man als Verhärtung beschreiben möchte«, schrieb Wilhelm Reich 1933 erstmals. »Sie ist die eigentliche Grundlage für das Chronischwerden der für die Persönlichkeit charakteristischen Reaktionsweise. Ihr Sinn ist der des Schutzes des Ichs vor äußeren und inneren Gefahren. Als chronische Schutzformation verdient sie die Bezeichnung ›Panzerung‹. Sie bedeutet klarerweise eine Einschränkung der psychischen Beweglichkeit der Gesamtperson.« Zur seelischen Beweglichkeit gehört unabdingbar der Gefühlsausdruck: Wenn Emotionen nicht von selbst 127
fließen können, dann gehören sie ausgedrückt. Egal, ob symbolhaft oder konkret, ob in Schrift, Malerei oder einer anderen bildnerischen Kunstform, durch Tanz, Gesang oder in der präzisesten Form: durch Sprache. Schweigen wird als Charakterstärke belobigt. Wer spricht, wird als neugierig, schwatzhaft, unzuverlässig etikettiert und gilt vorausblickend bereits als potentieller Verräter. Wer hingegen »den Mund hält«, erfreut sich hohen Ansehens, denn es wird vermutet, dass hinter der Verschlossenheit Gedankentiefe und Geheimnisträgern ruhen. Dass es aber oft Mangel an Gedanken, Gefühlen, Intuitionen, ja sogar Körperwahrnehmung ist, kommt üblicherweise nicht in Verdacht: Es entspricht nicht den wohlvertrauten Klischees der Abenteuerromane oder filme. Ein Held rast höchstens vor Wut: »Ein Mann sieht rot«. Frauen dürfen nur rosarot sehen. Alle anderen Grundgefühle – Angst, Trauer, Sehnsucht, Freude – sind üblicherweise tabuisiert und nur in ganz bestimmten Auslösesituationen erlaubt. Axel sucht mich auf, nachdem er Selbstmord versucht bat. Fürsorglich hatte er die Rollos herabgelassen, damit die Kinder in der Wohnung vis-à-vis ihn nicht von der Decke hängen sähen. Dann aber war der Haken ausgerissen, an dem er sich aufknüpfen wollte. Da habe er es sich noch einmal überlegt … Der Auslöser für seine Verzweiflungstat: Seine Freundin wolle nichts mehr von ihm wissen, nachdem ihm »die Hand ausgerutscht« sei. Wie es dazu gekommen sei, will ich wissen. Er habe den ganzen Samstag seinem Vater beim Hausbau geholfen, erzählt er, und der habe ununterbrochen an ihm herumgenörgelt, und dann sei er heimgekommen und seine Freundin habe stolz berichtet, sie habe aufgeräumt, und er habe gefragt, ob sie auch den Boden aufgewaschen habe, 128
und sie habe »Nein« gesagt, und da habe er gesagt, das müsse sie auch noch tun, sonst sei nicht aufgeräumt, und ein Wort habe das andere ergeben. Schließlich habe er ihr befohlen, und sie habe gesagt: »Du befiehlst mir gar nichts!« und da sei er ausgerastet. Plötzlich fällt ihm auf, dass er sich genauso benommen habe, wie sein Vater den ganzen Tag ihm gegenüber, und die Schamesröte steigt in sein Gesicht. Er habe gar nicht mitbekommen, dass er sich in eine Rage hineingesteigert habe, gesteht er kleinlaut. Aber ein anderes Modell habe er eigentlich nicht … Sein Entschuldigungsversuch wird von seiner Freundin nicht angenommen. Axel ist aber inzwischen »zu sich gekommen«: Er übernimmt die Verantwortung für die Folgen seines Fehlverhaltens und übt Abgrenzung gegenüber dem väterlichen Vorbild. Dabei steigt bisher unbekannte Trauer hoch – Trauer darüber, dass sein Vater nicht so ist, wie er ihn sich wünscht, aber auch über all die verpassten Gelegenheiten, wo er selbst nicht so war, wie er eigentlich sein will. »Schon früh im Leben erfahren wir, dass es von Vorteil ist, dieses Gefühl nicht zu zeigen«, beklagt der »Trauerspezialist« Jorgos Canacakis die generell mangelnde Trauerbereitschaft. »Ja wir werden daraufhin programmiert, ein möglichst trauerloses Dasein zu führen. Wir bewältigen diese Aufgabe mit vielen zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir schlucken Tabletten, wir üben Entspannung durch moderne Vergessensstrategien, wir lassen unser Gesicht versteinern, unsere Organe wegoperieren, verfallen in ständige Geschäftigkeit und Einkaufsorgien. Wir betäuben unsere Sinne, schwächen unsere Erinnerungsfähigkeit durch Drogen, vernebeln unser Gehirn mit Rauchen oder wischen unsere Nüchternheit durch Alkohol weg. Als letzte Methode, uns 129
die Trauer nicht anmerken zu lassen, verwenden wir das ›Schauspielern‹, falls wir nicht lieber unsere Trauer im Jogging durch die Poren ›wegtränen‹ lassen.« Ich ergänze: Oder wir agieren Beziehungsrituale und nennen das dann Liebe, Sex oder Familienleben. Trauer, so mahnt Canacakis, findet immer einen Ausdruck, auch wenn wir sie daran hindern. Diese Aussage gilt für alle Gefühle. Es kommt dann eben zu einer falschen Symbolisierung und wir tragen gleichsam eine Maske – das echte Gefühl bleibt im Körper zurück und wirkt dort zerstörerisch. Weinen, Lippenzittern oder Würgen, wenn ein Seufzen, Klagen oder Schreien aus der Tiefe des Brustkorbs aufsteigt, zurückzuhalten bedarf ziemlicher Muskelanspannung. Diese Haltung kann chronisch werden. »Nach Ablauf dieser Kontraktionssalve bleibt die Muskelfaser für einen Moment unerregbar. Wir nennen dies die absolute Refraktärzeit, in der die Faser innerlich erneut einen verkürzungsmöglichen Zustand aufbaut«, zeigt Attila Lusthoff. Es gibt aber auch eine relative Refraktärzeit, nämlich: »Wir können die Muskelfaser über den Rahmen ihrer physiologischen Möglichkeiten hinaus überlasten. Was dabei anfällt, ist überschüssige Milchsäure, die in den Mitochondrien (Zellkörperchen, Anm. d.Verf.) nicht mehr abgebaut werden kann.« Sie koaguliert – verklumpt – und führt zu einer Funktionseinschränkung im gegenständlichen Bereich. Beispielsweise im Gesicht: Was etwa als »depressive Maske« diagnostiziert wird, spürt die betroffene Person als »bamstige« – verdickte, angeschwollene – Gewebsfläche. Sie fühlt sich »wie tot«, erlebt die Beweglichkeit ihrer Gesichtsmuskulatur herabgesetzt und mag sich oft deswegen selber nicht: Sie hat »ihr Gesicht verloren«. Oft steigen auch Erinnerungen an Sätze aus Kindheit und 130
Schulzeit auf – »Wie schaust du denn drein?!«, »Mach nicht so ein Gesicht!« – und an die Ablehnung der nächststehenden Menschen, von denen eigentlich Erklärung und Hilfe zu erwarten gewesen wären.
Seelenvergiftung Dieser Spannungsstatus bindet Gift- und Schlackstoffe im Gewebe und schafft Übersäuerung, was ebenso Stress bewirkt, wie umgekehrt auch Stress zu Verspannungen führt. Die Kettenreaktionen im Körper sind mannigfaltig: Ein anschauliches Beispiel dafür findet sich wieder bei Lusthoff: »… geht mit der Verspannung der SchulterNacken-Partie eine ungünstige Haltung einher. Der Brustkorb ist nicht entfaltet und das Zwerchfell nicht in den Atemvorgang ausreichend einbezogen: Die Atmung ist verhalten. Dass dies weiterhin Auswirkungen auf Verdauungsfunktionen und Sonnengeflecht haben mag, liegt von daher nahe. Das bedeutet, dass Körperausdruck und vegetative Funktionen eng miteinander verbunden sind und keines der beiden Systeme vom anderen getrennt werden kann.« Ich habe dieses Beispiel angeführt, weil wir alle den Körperausdruck kennen, mit dem Kinder nach Hause schleichen, wenn sie »etwas angestellt« haben; ich persönlich ersetze diese übliche Formulierung durch die Formulierung, dass »ihnen ein Missgeschick zugestoßen ist«. Denn kaum ein Kind stellt absichtlich etwas an, sondern wir Erwachsenen phantasieren häufig Max-undMoritz-Inszenierungen. Wir könnten die zitierte Körperausdrucksform so entschlüsseln: Es sitzt die Angst im Nacken, es werden die Zähne zusammengebissen (damit nur ja kein Ton herauskommt!), es werden die 131
Ohren steif gehalten. Wer gelernt hat, seine Gefühle nicht herauszulassen, ja vielleicht sogar nicht einmal mehr wahrzunehmen, dem fehlen nicht nur alle Seelenformen, von der Einfühlung bis zum Mitgefühl; dem fehlen auch geistige Formen umfassender Bewusstheit und Teile vollständiger körperlicher Reaktionen – angefangen beim sprachlichem Ausdruck. Die Verfestigung der angespannten Muskulatur zum Körperpanzer vermindert nicht nur Empfindsamkeit, sondern auch die Fähigkeit, sich Anderem, Neuem, Ungewohntem gegenüber offen zu halten, entgegenzukommen und anzuschmiegen. Wer Familie als Bollwerk gegen Außenfeinde versteht, wird Wert darauf legen, dass alle »wie ein Mann« die »Reihen schließen«, und nicht dulden, dass eine/r »aufmacht« und womöglich »fraternisiert« – eine Opposition einnimmt. Sich nicht öffnen behindert Offenheit für neue Verhaltensweisen. Genau die würde man aber brauchen, wenn eine Lebenskrise ein Abweichen von den angestrebten Folgen bzw. »Erfolgen« – die Entwicklung neuer Copingstrategien – erfordert. Im Konflikt zwischen unsicherem Wagnis von Lebendigkeit mit all ihren Risken und der Sicherheit, das gewohnte gepanzerte Leben fortzusetzen, wählen viele die scheinbar wohlfunktionierende, starre Fassade von »heiler Familie«. Würden sie nämlich mit dem zu Beginn immer schwierigen Selbstausdruck anfangen, begännen sie womöglich zu stammeln und zeigten damit bereits, dass sie Kontrolle verlieren; zumindest die sprachliche. Die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über sich wie über die Familienangehörigen zeigt auch, wie wenig man sich oder anderen zutraut, Veränderungen im gemeinsamen Vorgehen zu bewältigen. Das entspräche 132
aber der primären Beistandsfunktion von Familie. Wenn heute in vielen Ländern so oft geklagt wird, dass der Zusammenhalt von Familien generell einem Auflösungsprozess unterliegt und »die Regierung«, egal welche, zu wenig dagegen tue, sehe ich hinter diesem Phänomen des Zerfalls familiärer Strukturen vor allem zwei Ursachen: Einerseits wird durch das Vorgaukeln der Lebenslust von narzisstisch überdimensionierten »Erfolgsmenschen« in den Medien gezielt die Suggestion vermittelt, man könne sich selbst genug sein – ohne dass einen andere stören, man brauchte dazu nur deren Lebensstil samt passender Accessoires. Wenn dann das Accessoire »Familie« die Glückserwartung nicht erfüllt, wird entsprechend den medial vermittelten Konsumgewohnheiten einfach »die Benutzerlizenz« zurückgegeben und nicht die eigene Benutzerkompetenz erweitert. Andererseits besteht großes wirtschaftliches Interesse an vielen Singlehaushalten: Viele Einzelne in Kleinwohnungen mit eigenen Elektrogeräten bringen mehr Umsatz als viele zusammen in einer größeren Behausung, die sich den Gerätepool teilen. Und Singles sind besser verfügbar und verschiebbar in der Arbeitswelt. Langfristige Bindungen stehen dem entgegen. Und die könnten entstehen, wenn miteinander geredet wird – wenn man sich mitteilt. Dadurch entsteht Bewegung, möglicherweise in Richtung Nähe, und damit Gemeinsamkeit, Bezogenheit, Zusammenspiel. Die Strategie, alles unter Kontrolle zu behalten, braucht Menschen, die sich möglichst wenig verändern. Je weniger Bewegungsraum sie daher haben, desto leichter 133
geschieht dies. Der Teufelskreis ist geschlossen. In der Hierarchie der Kontrolleure stehen hinter den sieht- und greifbaren Familienautoritäten die Gesellschafts- und Wirtschaftslenker. Hinter den Tabus in der Familie liegen verdeckt die gleichen Tabus in der Familie Gesellschaft. Wieder lebendig werden bedeutet, die gewohnten Strukturen von starrer Nähe oder Distanz, von Schweigen oder Sprechritualen aufzuweichen und sich wieder ins Wechselspiel der Gegensätze einzulassen. Nur dann kann Wachstum in Bewegung kommen. Wachstum weist immer in eine Ungewisse Zukunft und ist daher immer auch Aufgabe der Sicherheit von gestern. Oder besser: der Illusion von Sicherheit – denn: was ist schon sicher? Voraussetzung dazu ist o der Versuch der Selbstwahrnehmung: Wo ist jetzt mein Standort? Und wie ist jetzt meine Befindlichkeit dort? o das Bemühen, die gewohnten Einstellungsmuster zu erkennen: Von welcher Position aus blicke ich auf die Situation, in der ich mich befinde? Und was will ich damit für die Zukunft erreichen oder vermeiden? o die zugehörigen Erinnerungsbilder aufzuspüren: Von wem habe ich dieses Verhalten vorgelebt oder eingeredet bekommen?
134
DIE LETZTEN TABUS
V
ieles von dem, was jahrhundertelang verschwiegen wurde, wird heute selbstbewusst geoutet im Sinne von: Ich lass mich nicht mehr runtermachen. Da treten dann Missbrauchsopfer ebenso vor die Fernsehkamera wie der »Schwiegersohn der Nation« und »stehen« zu ihrem Opfer- oder Anderssein. Sie stehen aufrecht und aufrichtig, sie kämpfen nicht mehr, das hat die Generation zuvor getan.
Umgang mit Grenzen – am Beispiel Sexualität Sie verteidigen aber auch nicht ihre Grenzen vor unverschämten Blicken; das finde ich bedenklich. Wessen Grenzen in der Kindheit – physisch und insbesondere sexuell – immer wieder überschritten wurden, der muss erst mühselig lernen, seine Körper- und Seelengrenzen wieder wahrzunehmen und zu schützen. Und ebenso muss neu entdeckt werden, wie geistige Invasionsversuche ablaufen: Sie bestehen vor allem darin, dass einem eingeredet wird, es dürfe keine Grenzen geben oder man müsse seine Grenzen immer sofort aufmachen, wenn Autoritätspersonen es wünschen. Im Endeffekt spielt sich ein Machtkampf ab, wer mit seiner Sichtweise und Definitionsmacht erfolgreich »Wirklichkeit« schafft und die Weltsicht der anderen – schwächeren – Person zerstört. Was durch diese Art von Grenzverletzungen kaputt gemacht wird, soll aus der Sicht der Täter auch kaputt gemacht werden: das Erkennen von 135
Grenzverletzungen. Wer aber in seiner sozialen und damit auch sexuellen Identität akzeptiert werden will, muss diese Identität auch öffentlich machen. Aber hat jeder bzw. jede auch die Ichstärke, sich gegen Besserwisser, Ausbeuter und Vermarkter zu behaupten? Darin zeigt sich das Dilemma: Welche Exhibition, welche Konfrontation gehört wohin? Wem gegenüber sollen Grenzen geschlossen und wem gegenüber geöffnet werden? Wenn ich mich vorerst mit Verletzungen der sexuellen Integrität befasse, hat das mehrere Gründe: Sexualität – unser Wahrnehmen und achtungsvolles Wahrgenommenwerden als Mann oder Frau – stellt den innersten Kern unseres Selbst dar; hier sind wir am verletzlichsten. Soziale Identität ist immer auch sexuelle Identität. Wir können nicht »nicht sexuell« sein. Was von uns sozial – in Beziehung zu konkreten anderen, beispielsweise Eltern, oder einer Gesamtheit, beispielsweise einer Sippe – erwartet wird, hängt immer auch von üblicherweise unhinterfragten Geschlechtsrollenbildern ab. Der Druck, »normal« zu sein bzw. sich zu verhalten, wird im sexuellen Bereich am unerträglichsten verspürt. Viele Menschen, die mit sexuellen Problemen in Beratung oder Therapie kommen, suchen Hilfe, weil sie nicht mehr ertragen, gegenüber Eltern und Verwandten zu schweigen, sich aber beim Gedanken daran, reden zu sollen, wie benebelt fühlen. So wie Fritz, ein dreißigjähriger Finanzbeamter, den sadistische Phantasien plagen, sodass er davor zurückscheut, sich einer Frau zu nähern. Aber die 136
permanenten Fragen seiner Eltern, wann er sich denn endlich eine Frau suchen und Enkelkinder fabrizieren würde, lösten bei ihm derartige Außenseitergefühle aus, dass er sich gar nicht mehr traue, jemandem nahe zu kommen. Auch das Elternpaar Werner und Barbara wird von tausend Fragen gequält: ob das normal sei, dass ihre Tochter, die wöchentlich in die fünfzig Kilometer entfernte Großstadt pendelt, um sich dort zur Sozialarbeiterin ausbilden zu lassen, immer aufwendiger gekleidet nach Hause komme und allen erzähle, ein »Freund« habe ihr die schenkelhohen Stiefel, den Ledermini, glitzernde Catsuits etc. »geschenkt«. Selbst als Werner, Gemeinderat einer stark rechtsorientierten Partei, seine Tochter auf dem Straßenstrich Kundschaft anwerben sieht, findet er keine Worte. Die Eltern von Klaus wiederum wagen nicht, mit ihrem Sohn darüber zu reden, dass er mit einer Prostituierten zusammenlebt, sich von ihr aushalten lässt und sein Studium vernachlässigt. Weil – das gibt es doch nicht, oder? Umgekehrt versucht Sandra, Tochter fleißiger Besitzer eines Tante-Emma-Ladens, vergebens, mit ihren Eltern darüber zu reden, dass Uwe, ein attraktiver Kellner, den sie mit siebzehn geheiratet hat und mit dem sie nach Düsseldorf gezogen ist, sie auf den Strich anschaffen schickt. »Was fällt dir ein, den Uwe so zu verleumden!«, stoppen ihre Eltern jeglichen Versuch, sich Beistand zu holen. »Du hast ja eine blühende Phantasie! Du kannst schon ein bisschen nett sein zu den Gästen! Und wenn er dich schlägt, wird er schon einen Grund haben!« Sandra muss ins Bild vom Normalbürgertum passen, was stört, darf nicht ausgesprochen werden. Oder Ulrich: Der Bürodiener einer Großbank trägt 137
nicht nur Damenunterwäsche unter dem Anzug, er fotografiert sich auch heimlich in Latex und Leder vor dem Spiegel, experimentiert regelmäßig mit Prostituierten weiblichen wie männlichen Geschlechts und – schläft mit seiner Schwiegermutter. Obwohl er alles Mögliche riskiert, um seine Ehefrau, eine »strenge Mutter«, zu schockieren, schaut diese weg, schweigt und tut so, als wäre in ihrem Eheleben alles »normal«. Meine Erfahrung aus mehr als dreißig Jahren Beratung und Therapie, Coaching und Unterricht ist: Je größer das Vertrauen wird, desto sicherer kommen Probleme in Zusammenhang mit Sexualität zur Sprache; Partnerwahl, Fortpflanzungspflichten und -Verweigerung, Abtreibungen, sexuelle Verstümmelungen nahe stehender Personen und vor allem Treuegebote sind Themen, über die in weiten Kreisen der Bevölkerung noch immer nicht gesprochen werden darf obwohl hier das größte Interesse besteht. Ludwig, Besitzer einer Teppichfabrik an der tschechischen Grenze, holt mich als Coach, als ihm komplizierte Verhandlungen mit Umweltbehörden ins Haus stehen, denn er befürchtet hohe finanzielle Belastungen durch Umweltschutzauflagen. Bald bricht aber das eigentliche Tabuthema aus ihm heraus: Er habe mit seiner Büroleiterin ein Verhältnis, alle in der Firma wüssten es, auch seine fast erwachsenen Kinder, und seine Frau ahne es sicher auch; er möchte diese Krisenbeziehung gerne beenden, denn eigentlich sei sie schon aus, seitdem die Freundin Druck macht, geheiratet zu werden und Kinder zu bekommen. Er habe aber kein Interesse, mit fünfzig »noch einmal über Legosteine im Vorzimmer zu stolpern«. 138
Jetzt befürchte er, dass sich die Freundin in erpresserischer Absicht an seine Frau wenden könne. Eine Idee, wie seine Frau reagieren könnte, habe er nicht – nur Angstgefühle. Auch bei Konstanze geht es vordergründig um Rechtsfragen. Als über dreißig Jahre jüngere zweite Frau des Großbauern Alois hat sie fast täglich Streit, weil sie wirtschaftliche Entscheidungen mitgestalten will; außerdem hält ihr Mann ihr vor, sie sei auf seine Kinder eifersüchtig. Er hat zwei verheiratete Töchter aus erster Ehe, die etwa gleich alt sind wie Konstanze, um die er sich aber wenig kümmert, und Patrick, den neunjährigen Sohn aus einer Zufallsbekanntschaft. Konstanze bezweifelt, dass Patrick wirklich von Alois gezeugt wurde – zu sehr gleicht er dem jahrelangen Lebensgefährten von Patricks Mutter. Außerdem ist Alois so gut wie impotent. Konstanze beklagt, dass Alois hohe Summen an Patrick überweise, für sie und ihre neugeborene Tochter Luzie, geschweige denn das halbwüchsige Geschwisterpaar, das sie in die Ehe mitbrachte, aber kaum einen Pfennig hergeben will. Konstanze ist enttäuscht, dass Alois Luzie – den neuerlichen »Beweis« seiner Zeugungsfähigkeit – nicht ebenso vergöttert wie Patrick. Vor allem finanziell. Gleichzeitig will sie gar nicht, dass Alois sich allzu viel mit Luzie beschäftigt: Er könnte vielleicht die große Ähnlichkeit mit dem jungen Nachbarbauern merken … Impotenz, finanzstrategische Zeugung von Kindern – beides sind Tabuthemen, die nur verklausuliert angedeutet werden, wenn Alois und Konstanze ihre täglichen Streitereien ausfechten, wer wem nicht alles gegeben hat und nichts zurückbekommt. Auch Lore, nach eigenen Worten »feministische Gynäkologin«, überlegt im Freundinnenkreis, ob sie sich nicht selbst ihr Intrauterinpessar herausnehmen sollte – 139
dann könnte sie Peter, ihrem verheirateten Geliebten und Arztkollegen, sagen, sie wäre trotz »der Spirale« schwanger geworden – und er ließe sich dann vielleicht doch scheiden … Über Sexuelles zu sprechen fällt deswegen besonders schwer, weil es keine stubenreine »Alltagssprache der Sexualität« gibt. Es gibt nur Bürokratendeutsch, Medizinerlatein, Babytalk oder Romanzenschwulst oder mehr oder weniger sexistische Fäkalausdrücke. Der siebzehnjährige Sepp wird von seinem Vater Josef in die Sexualberatungsstelle gebracht: Der viel jünger aussehende Bursche hat sich autoerotisch mit einem Elektroquirl den Darm verletzt. Im Spital wurde dem Vater aufgetragen, die überfällige Sexualaufklärung nachzuholen – aber, sagt Josef, er bringe kein Wort heraus. Kein Wort heraus bringt auch Matthias: Der attraktive Werbefachmann und Filmproduzent schafft es weder, sich der Avancen karrierelüsterner Models zu erwehren, noch mit seiner Frau abzusprechen, wie sie beide mit Problemen wie unerwünschten Anrufen, Liebesbriefen oder zweideutigen Postkarten umgehen sollten. Als Hiltrud eines Abends von einer Jungschauspielerin, die sie flüchtig kennt, angerufen wird, bekommt sie die Bestätigung einer dumpfen Ahnung: Gudrun präsentiert sich ihr als langjährige Geliebte von Matthias, mit dem sie auch ein Kind habe. Matthias hatte Hiltrud gegenüber immer abgestritten, dass ihm Gudrun mehr sei als »die Freundin eines Freundes«. Hiltrud wirft ihm nun vor, dass er ihr nicht gleich die Wahrheit gesagt habe, als er ihr beiläufig erzählte, Gudrun wäre schwanger, und sie 140
trocken gemeint hatte: »Hoffentlich nicht von dir!« »Das habe ich mir da auch gedacht!«, gibt er jetzt zu. Später erfährt Hiltrud noch von einer zeitgleichen zweiten Freundin, die auch ein uneheliches Kind von Matthias habe. Und wieder zeigt sich Matthias sprachlos: Es sei ihm ohnedies so unangenehm gewesen, alle seine Freunde hätten alles gewusst und ihn bewundert, was für ein flotter Kerl er sei, während er nur Angst gehabt habe – denn er habe immer Angst gehabt, dass Hiltrud etwas erfahren könne, und er habe nicht gewusst, was er tun oder sagen solle, vor allem nicht den beiden Frauen. Er habe sich immer nur bemüht, sich die Frauen vom Leibe zu halten, aber er wollte doch auch niemand weh tun … Als Hiltrud sich Jahre später ernsthaft verliebt, ringt sie um eine Form, Matthias über die Krisensituation zu informieren. Über Sexuelles zu sprechen fällt aber auch deshalb so schwer, weil man dabei leicht sexuell erregt wird – und die meisten Menschen befürchten und schämen sich im Vorhinein, dass andere das merken könnten. Im Familienverband bedeutet dies: die Inzestschranke könnte tangiert werden. Und damit wissen wenige, mit Anstand, das heißt Abstand, umzugehen. Leo, Altbauer auf einem Berghof, wird bei all seinen drei Schwiegertöchtern zudringlich. Waltraud, international erfolgreiche Wirtschaftsjournalistin, ist die erste, die sich zu wehren wagt, als er nachts in ihre Schlafkammer eindringt: Sie nimmt seine Attacken nicht als »Irrtum« eines Schlaftrunkenen, sondern spricht mit ihrem Mann und den Frauen seiner Brüder. Als alle beschließen, die wiederholten Übergriffe familienöffentlich zu machen, werden sie als Störenfriede beschimpft, die einen 141
verdienstvollen Patriarchen schlecht machen wollen. Sexuell ausgebeutet oder sexuell »abweichend« orientiert – der Blick unter den Rock oder in die Hose scheint nur im Fernsehen nicht mehr tabu, und was sexuelle Treue betrifft, spielen sich ohnedies Medien wie Medienpublikum als Beichtväter und Absolutionsspender auf. Sex sells. Mit unser aller sexueller Neugier lässt sich prächtig verdienen. Denn da gibt es kein Tabu der Entidealisierung zu bewahren: Wie man wirklich zur idealbeglückenden Sexualbeziehung kommt, soll ja gar nicht vorgemacht (im Sinne von demonstriert) werden, sondern höchstens »vorgemacht« (im Sinne von vorgetäuscht), denn nur so ist der Verkauf gewährleistet: von Informationssendungen, Informationskolumnen, Informationsbüchern, Informanten, Informantenbefragungsaktionen ebenso wie von Dienstleistungen der nothelfenden Experten der oberen Körperhälfte – das sind die, die darüber reden und schreiben – und denen der unteren – das sind die, die es tun: die mehr oder weniger seriösen Sexhelper. Nur wer noch immer unter sozialen – und da insbesondere sexuellen – Mangelerscheinungen leidet, wird noch immer in den Medien, statt in den Augen einer »greifbaren« Person, versuchen, diese Leere zu beheben. Echte sexuelle Befriedigung – was aus der Sicht der Körperpsychotherapie hieße, Sättigung für zwei bis drei Tage (ausgenommen, man(n) ist sehr jung beziehungsweise ein Paar ist sehr verliebt) – ließe ja die Nachfrage sinken. Vor allem die Nachfrage nach Papier und Zelluloid. Denn dann wird die Begegnung mit der »anziehenden« Person wichtiger als ein nicht auf eine Person bezogenes »How to do«-Repertoire für Zukunftsangelegenheiten, die vielleicht nie eintreten. Das Tabu der Realitätssicht trifft bei Menschen, die als 142
Kinder sexuell ausgebeutet wurden, oder bei homosexuell liebenden Menschen auch nicht mehr zu: Zu groß ist die Zahl derer, die sich gegen die Selbsterhöhung der Moralisierer wehren, die sich organisieren und damit ihre selbst erlebte Realität gegen die Phantasierealität der Unbetroffenen stellen. Und die in ihren Peer Groups gelernt haben, zu reden: über sich, miteinander, mit anderen. Auch mit Gegnern. Sie haben ihren Selbstausdruck, ihre Sprache wieder oder überhaupt gefunden. Und möglicherweise ernten sie vor allem deshalb noch Kritik von Fundamentalisten: weil sie selbstbewusst sind und daher auch kritisch gegenüber »tradierten Werten«. Dennoch gibt es bei aller Enttabuisierung der sexuellen Ausbeutung oder gar Folter von Kindern noch einen Tabubereich: den Schutz der Täter durch die Mütter. Im Konfliktfeld zwischen Angst vor dem oder Hingabe an den tabubrechenden Gewalttäter, eigenen biographischen Traumatisierungen und dem – leider gar nicht oft vorhandenen – Bemühen, Kinder vor sexuellen Übergriffen zu bewahren, erstarren viele Mütter in depressiver Untätigkeit, von der Nichtwahrnehmung angefangen. Lisa, selbst Psychotherapeutin, kann erst zwei Jahre nach der Scheidung die Information ihrer ältesten Tochter annehmen, dass sie jahrelang vom Vater sexuell misshandelt wurde. »Wieso hast du nicht gemerkt, wie ich dir immer Zeichen gegeben habe?«, wirft ihr die Zwanzigjährige vor. »Ich habe es wirklich nicht gemerkt«, schluchzt die Mutter in der Supervision, »und dabei gab es einmal einen Skandal mit einem Nachbarsmädchen im Urlaub, aber da habe ich ihn noch verteidigt. Ich war mir so sicher – mein Mann doch nicht!« Als der Vater in zweiter Ehe Stieftöchter bekommt, suchen Lisa und ihre 143
beiden Töchter verzweifelt nach einer Problemlösung, ob bzw. wie sie diese warnen oder beschützen könnten. Die Sprachlosigkeit holt sie wieder ein. Das Tabu der Machtlosigkeit trifft bei diesen beiden, so lange diskriminierten Menschengruppen – den als Kindern sexuell misshandelten und homosexuell liebenden Menschen – allerdings nur dann nicht mehr zu, wenn sie ihre höchstpersönliche Erfahrung aggressiv verteidigen: Viele haben nämlich in ihrer Selbsterfahrungsarbeit erkannt, dass all die Einschüchterungs- und Verfolgungshandlungen der Vergangenheit vor allem dazu dienten, Macht über sie auszuüben, nicht nur, damit die Menschenrechtsverletzer ungeahndet weiterleben können, sondern damit sie ihnen »verfügbar« bleiben: als Lustmädchen oder -knaben wie als Sündenböcke. Wenn die »Opfer« ihre Hilflosigkeitserfahrungen bewusst ansprechen, so holen sie sich ihre Macht zurück, lösen sich aus der verordneten Erstarrung und bringen Bewegung und damit auch neue Beziehungsangebote und -möglichkeiten in die Familie und in die Gesellschaft. Sie verlassen den Zustand der selbst schützenden »Kleinheit« und werden »groß« – sie wachsen. Wenn hingegen vermeintlich »Große« wie Fachleute der psychsosozialen oder exekutierenden Berufe auf dem Schauplatz erscheinen, versuchen Täter von vornherein, sie immer wieder mit der gleichen Methodik zum Schweigen zu bringen: Sie unterstellen o
o
mangelnde Qualifikation oder Legitimation, Kunstfehler, Fraternisierung mit Klientinnen, womöglich aufgrund persönlicher Bezüge: getarnte Selbsthilfe als 144
o o
o
gleichfalls und daher befangener Betroffene/r, Kritikunverträglichkeit und folglich Rachebedürfnisse, Profilierungssucht, Publicitygeilheit, finanzielle Interessen: sich einen Arbeitsplatz sichern zu wollen oder gar simple Geldgier. Eventuell wird sogar Korruption behauptet, und wenn all dies nicht reicht, wird angedroht, die gefährlichen Gegnerinnen mundtot zu machen: neurotisches Agieren oder Geisteskrankheit.
Uschi, hoch qualifizierte Psychologin und Psychotherapeutin, erstattet Anzeige wegen des Verdachtes von Kindesmisshandlung. Nachdem der beschuldigte Vater sie mit Brüllaktionen weder dazu bringen kann, ihren Verdacht zurückzunehmen noch die Nerven zu verlieren und einen Kommunikationsfehler zu begehen, der ihm einen Angriffspunkt für juristisches Vorgehen lieferte, wendet er sich mit einer Anzeige an die lizenzvergebenden Gremien im zuständigen Ministerium: Uschi wäre nicht qualifiziert, hätte inkorrekt gearbeitet, wäre eine Gefahr für die Menschheit. Die nächsten Wochen ist Uschi für ihre eigentliche Berufstätigkeit blockiert: Sie muss terminierte Stellungnahmen verfassen, komplette Therapieverläufe adäquat dokumentieren, Gedächtnisprotokolle verfassen und viele Supervisionsstunden konsumieren, um sich nicht doch noch von ihrer Sicht der Dinge abbringen zu lassen.
Schweigemauern statt klarer Grenzen? Nun könnte man meinen, es gäbe in unserer pluralistischen Gesellschaft ohnedies keine Tabus mehr, 145
man könne ja über alles reden. Kann man aber nicht. Es gibt Bereiche, über die wird in einer Weise Stillschweigen gewahrt, die zwar auf Schutz – der eigenen wie einer anderen Person, der Familie, des »lieben Friedens willen« etc. – abzielt, tatsächlich aber Schaden verursacht: Gemeinsames Kriterium ist, dass sich jemand – manchmal unbewusst, manchmal aus Tradition, oft aber auch im Wohlgefühl des Rechthabens – zulasten einer anderen Person physisch, psychisch bzw. beides zusammen, sexuell oder auch finanziell bereichert. Die Folge ist immer – und für alle Beteiligten – ein Verlust an Wahrnehmungsmöglichkeit und Handlungsfähigkeit: o
o
o
o
o
Man kennt sich nicht aus, daher wuchern Phantasien, Legenden, Vorurteile, Unterstellungen. Man verliert die Realitätssicht oder kann sie überhaupt nicht entwickeln. Man »spürt«, dass da etwas ist, was einem nicht gesagt wird. Auf Befragen wird einem »der Mund verboten« oder man bekommt sogar einen Fluch – einen »schlechten Namen« –, womöglich noch eine psychiatrische Laiendiagnose: »Du spinnst ja!« Damit wird man zum Stillhalten – des Mundes, des Körpers, der Seele und des Geistes – verdammt und das schädigt den leibseelischen und geistigen Stoffwechsel. Es entsteht das Gefühl von »unsichtbaren Gegnern«. Das bedeutet permanenten Stress – man muss ja stets auf der Hut vor dem »Unsagbaren« sein. Es entstehen Vermutungen, man wäre selbst Teil des Problems: man selbst wäre »schuld« – denn sonst könnte man es einem doch sagen, oder? Man hat keine Möglichkeit, »eigene« Positionen 146
o
einzunehmen oder Entscheidungen zu treffen, und fühlt sich nach der Erkenntnis der fehlenden Informationen nicht ernst genommen, missachtet und ausgetrickst. Das schädigt das Selbstwertgefühl. Man ist unvorbereitet dem Schock ausgesetzt, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kommt – denn selten herrscht »nur« ein Gefühl der Erleichterung vor.
Ich habe in meiner mehr als dreißigjährigen Praxis selten die Geisteshaltung »Jetzt erfahre ich es …« oder »Das also ist es gewesen …« bei meinen Klientinnen erfahren: Anstatt sich selbst in der Vertrauenswürdigkeit der eigenen Intuition bestätigt zu fühlen – und damit einen Teil verlorener Ganzheit zurückzugewinnen –, verharren viele Menschen im Protest gegen Vergangenes. Zu stark verlangen die jahrelang erlittenen Empfindungen erlebter Missachtung – »Man hat mir nicht zugetraut, dass ich die Krise durchstehe!« – nach ausgleichender Beachtung. Dadurch besteht aber die Gefahr, sich selbst nur mehr in der Opferrolle als achtungs- und beachtenswert zu erleben und daher diese Position zu verewigen. Es wird einem meist auch die Möglichkeit genommen, souverän zu reagieren, beispielsweise großzügig, gütig, liebevoll. Dazu brauchte man nämlich Zeit und Raum, Großhirnverhaltensweisen. Stattdessen wird man in Stammhirnreaktionen – wütend oder ängstlich – hineinverlockt, verliert dadurch Selbstachtung und beginnt selbst wieder zu schweigen … Ich hatte in den letzten Jahren mehrfach Gelegenheit, in ländlichen wie in städtischen Gebieten Vorträge und Seminare unter dem Titel »Darüber spricht man nicht … Tabus in der Familie« zu halten. Ich habe die Themen, die dabei als »das Unaussprechliche« bezeichnet wurden, 147
gesammelt. Sie tauchen auch immer wieder in den Briefen auf, die ich aufgrund meiner Rundfunksendung »Du & Ich. Ein Ratgeber für das Leben zu zweit« erhalte. Immer wieder münden die Klagen in dem Aufschrei: »Ich würde ja gerne darüber reden, aber ich weiß nicht wie!« In Vorträgen kann ich ein wenig helfen, die Grundstrukturen aufzuzeigen, wie solch eine An- und Aussprache lauten könnte. In Seminaren geht es natürlich leichter - in kleineren Gruppen besteht größere Nähe und daher auch Intimität und wir haben mehr Zeit zur Verfügung. Da etliche der Briefschreiberinnen aber auch Einzelberatung suchen, gewinne ich gute Überprüfungsmöglichkeiten, was konkret für einen solchen Austausch hilfreich und was eher hinderlich ist.
Tabu ist die Berührung Grenze heißt: dort ist etwas zu Ende und etwas anderes beginnt. Unsere Haut beispielsweise begrenzt uns materiell - körperlich; wenn wir eine offene Wunde haben, ist diese oberflächliche Grenze verletzt und eine andere, tiefere Grenze tritt zu Tage. Wenn jemand hingegen physischen Druck auf unseren Körper ausübt, merken wir den Versuch, uns wegzuschieben – die Grenze zwischen unseren Körpern zugunsten der anderen Person zu verändern. Und hochsensible Menschen spüren die energetische Grenzverletzung meist schon, sobald die Absicht gedacht ist – lange, bevor die tatsächliche Druckausübung passiert. So wie »Revierverhalten« oft sehr rasch verdeutlicht, wer dominiert, zeigt auch die Sprachdynamik, wer bei anderen keine eigene Sichtweise, kein Eigenleben duldet.
148
Trude, eine vierzigjährige Grundschullehrerin, findet eines Tages ihren mit zahllosen Flicken verunzierten Kinderpyjama in einer Truhe auf dem Dachboden. Erinnerungen überfluten sie: an ihre Mutter, die immer sagte: »Das sieht man doch nicht!«, als sie als einzige Schülerin keinen blauen Rock bekam, wie es als Schuluniform Pflicht war, sondern einen grünkarierten. Und dass sie immer auf des (katholischen) Pfarrers Schoß sitzen musste und Mutter sagte: »Stell dich nicht so an! Da spürst du doch nichts!« Und als sie sich später als Jugendliche beklagte, Hochwürden würde immer zudringlicher und stichle, sie solle doch seine Pfarrersköchin werden, sagte Mutter: »Da hast du dich sicher verhört!« Auch als Greisin hört Trudes Mutter nicht auf, ihrer Tochter unentwegt die Wahrnehmung abzusprechen: »Das hast du sicher nicht gesehen!«, »Na, was du alles hörst!« und »Was du dir schon wieder einbildest!« Trude wird immer unsicherer, traut sich überhaupt nichts mehr zu – denn auch die Männer, mit denen sie intime Beziehungen eingeht, stellen sich nach kurzer ïeit als praktizierende Sadisten, promiskuitive Sexsüchtige oder randalierende Suchtkranke heraus. Alternative zu Mutters Weltsicht gab es ja keine – Trudes Vater war kriegsblind; er sagte immer: »Ich kann es nicht sehen – frag die Mutter!« Je »angesehener« die Person ist, die »die Landkarte zeichnet«, desto schwieriger fällt es, sich gegen die zuerkannte Übermacht zu wehren. Die
sechzehnjährige
Marisa 149
liegt
auf
der
Kinderneuropsychiatrischen Abteilung mit der Diagnose schizoaffektive Psychose. Sie sei von ihrem Therapeuten vergewaltigt worden, lautet ihre Angabe; Spuren konnten keine gesichert werden – denn erst vier Wochen nach dem rekonstruierten Termin fiel Marisas Mutter auf, dass mit der ältesten Tochter von vieren irgendetwas nicht zu stimmen scheine. Überhaupt fällt ihr wenig auf – beispielsweise, dass der Therapeut, der Marisas Anschuldigungen »im Gespräch von Kollege zu Kollege« zur Diagnose passend als Phantasiegebilde deutet, fast täglich zuviel trinkt und dann sehr »anlassig« wird. Sigrun wiederum, dritte Ehefrau eines Arztes, geht zu einer Psychiaterin, um sich bestätigen zu lassen, dass sie nicht an Verfolgungswahn leide; sie befürchtet, dass ihr tyrannischer Ehemann sie vergiften könnte. Seine erste Ehefrau war unter seltsamen Umständen verstorben, und die zweite hatte ihr anvertraut, dass sie in der Zeit vor der Scheidung eigenartige Asthma- und Herzanfälle hatte. Ähnliches beobachtet Sigrun bei sich auch. Ihr Mann besteht darauf, zum Arztbesuch mitzukommen, und beschwatzt dort die »Kollegin« mit Berichten, die die Paranoia seiner Frau untermauern. Damit unterbindet er jeden Kontakt zwischen den beiden – Sigrun kommt überhaupt nicht zu Wort. Je schneller eine Grenzüberschreitung – oder eine isolierende Ein- oder Abgrenzung – passiert, desto weniger nehmen wir sie als solche wahr: Durch die Dynamik der Geschwindigkeit kommen wir meist erst zu Bewusstsein, wenn wir vor vollendeten Tatsachen stehen. Wohlbekannte Erkenntnisse wie »Die besten Antworten fallen einem immer erst hinterher ein« oder »Nachher ist man immer klüger« besagen eigentlich nichts anderes, als dass wir mehr Zeit gebraucht hätten, um unsere Gedanken 150
oder Handlungen zu gestalten. Als Martin nach längerem Auslandsaufenthalt seinen Vater Joseph »auf der Alm« besucht, findet er den Achtzigjährigen in Lektüre versunken: Die Geheimwaffen des Dritten Reichs. Joseph vertraut noch immer auf den Endsieg. Irgendwann wird sich die Herrenrasse durchsetzen – die Bolschewiken sind ohnedies schon entmachtet, die Jugend – »unsere Hoffnung« – kämpft ja auch wieder gegen die Untermenschen. Joseph wird von der Außenwelt abgeschirmt. Seine Naziparolen sollen nicht nach außen dringen. Aber auch in der Familie herrscht seit Jahrzehnten betretenes Schweigen, wenn der ehemalige Hochschulprofessor zu dozieren beginnt: Intellektuell voll auf geistiger Höhe, argumentiert er messerscharf gegen Demokratie, Menschenrechte und friedliche Koexistenz. Dass Martin mit einer Jüdin verheiratet ist, darf Joseph ebenso wenig erfahren wie dessen Mitarbeit in einem »linken« Institut für Konfliktforschung. Josephs Frau und Kinder sehen sich ihm rhetorisch unterlegen; dass es genügen würde, ihm eine Grenze zu setzen – »Wir finden deine Ansichten nicht richtig« oder: »Deine Ansichten machen uns Angst«, ohne sich in Endlosdebatten klein machen zu lassen, haben sie noch nicht bedacht. Wann immer er loslegt, erstarren sie in Hilflosigkeit: sie wissen, dass sie in solchen Augenblicken keine Nähe zu ihm wollen, sie wissen aber nicht, wie sie ihm das sagen könnten. Dass er sich über eine derartige Abgrenzung nicht freuen wird, ist klar – ein allfälliger Anspruch, »ohne ihn verletzen zu wollen«, ist daher unrealistisch; er wird sehr wahrscheinlich entweder »aufdrehen« oder beleidigt reagieren. 151
So wie wir durch körperliche Berührungen – Übergriffe – überrascht werden, wenn sie nicht so langsam vor sich gehen, dass wir sie synchron kontrollieren können, kann auch ein Wort oder ein Satz Überraschung bedeuten. Dann sind wir sprachlos – was nichts anderes signalisiert als den Stammhirnbefehl »Tot stellen!«. Da aber nach entsprechender Zeitverzögerung unser Großhirndenken einsetzen und diese Entscheidung verwerfen wird – denn wer sich tot stellt, gibt Wahrnehmungs-, Kontroll- und Handlungsmöglichkeiten auf –, werden wir nach Strategien suchen, uns vor derartigen Überraschungen zu schützen. Bei diesen Schutzstrategien kann man wieder zwei Extremformen und dazwischen eine Bandbreite der Methoden beobachten: Einerseits zeigen sich – »vorbeugende« – allgemeine Sprechverbote wie »Kinder soll man sehen, aber nicht hören«, »Man redet nur, wenn man gefragt wird« oder »Mulier tacet in ecclesia« (Die Frau schweige in der Versammlung bzw. Kirche), andererseits - »nachtragend« Einschüchterungsreaktionen von beleidigtem Schweigen bis zu lang andauernder Kommunikationsverweigerung. Als Zwischenlösung gibt es noch den viel zitierten Tritt gegen das Schienbein unter dem Tisch. Auf diese Weise wird einseitig auf der Zeitlinie Distanz hergestellt, wenn etwas zu schnell und/oder zu nah geht und Emotionen – Gefühlsbewegungen – auslöst. Meine Beobachtungen zeigten mir immer wieder: Es sind nicht, wie leicht vermutbar, Kleinheitsgefühle – Angst oder Scham oder die darunter verborgen liegenden Gegenbestrebungen Aggression oder Überheblichkeit –, die das Sprechen blockieren. Diese Gefühle können zwar durchaus in der tiefenpsychologischen Arbeit auftauchen 152
wie immer, wenn man sich zu den alten Schichten der Persönlichkeitsentwicklung vorarbeitet. Meist haben sie aber nur Signalcharakter: »Achtung, du hast noch nicht die perfekte Ausdrucksform!« Es sind die fehlenden Modelle, wie man ohne Angst und Scheu, ohne Wut und Hass seine leibseelischen und geistigen Grenzen und damit seine Gesundheit und Menschenwürde vor Beeinträchtigungen schützen kann. Diese Modelle fehlen uns, o weil sie kaum eine unserer Erziehungspersonen zur Verfügung hatte und praktizierte, o weil sie auch in Spielfilmen nicht vorgeführt werden, o weil daher wenige Menschen wissen, dass es sie gibt, o weil sie Zeit und Denkarbeit beanspruchen und daher anstrengen, o weil man bei »echter Kommunikation« nicht mit sofortigem Erfolg rechnen kann und daher oft nach dem ersten Versuch aufgibt, o weil die für Pseudokommunikation überreich vorhandenen Gebote und Verbote von Eltern und anderen »nahe stehenden« Personen so eintrainiert und auch verinnerlicht sind, dass sie sich blitzartig als Problemlösung anbieten, o und weil man meist realistisch einschätzen kann, welche »Sanktionen« folgen, wenn man sich trotzdem »den Mund verbrennt«, und es anstrengend ist, seine Grenzen immer wieder verteidigen zu müssen. Bei Goethe sagt Faust: »Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? 153
Die wenigen, die was davon erkannt, Die töricht g’nug ihr volles Herz nicht wahrten, Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.« Familie ist hoffentlich nicht gleich Pöbel. Pöbel ist anonyme Masse in sicherer Zuschauerdistanz, die in der Sicherheit der Einheit des Denkens, Fühlens und Schreiens leicht die Hemmungen individueller Verantwortlichkeit fallen lässt. Dennoch herrscht in vielen Familien ein Kommunikationsstil des Anpöbelns – der Stänkerei, des Witzeins, der verbalen Misshandlung. Er wird meist noch als »Neckerei« – »Was sich liebt, das neckt sich« – und »Wohltat« – »Ich meine es doch nur gut mit dir!« – verharmlost und verteidigt.
Tabu ist Verantwortung Sprechen ist eine besondere Art, seine Atemluft mit Hilfe von Kehlkopf, Stimmbändern, Zähnen, Lippen und Zunge zu identifizierbaren Lauten zu formen. Etwas ansprechen besteht auch darin, nicht nur den mehr oder weniger fehlgeformten Inhalt der Botschaft, sondern auch den Atem in einer bestimmten, der Gefühlslage entsprechenden Form der anderen Person entgegenzusenden: sanft oder scharf, hauchend oder zischend, leise oder laut. Je näher wir räumlich zu der Ansprechperson stehen, desto intensiver wird der von uns erzeugte Schall ankommen (dies gilt auch für Gespräche am Telefon). Was wie bei uns ankommt, entschlüsseln wir nach unserem eigenen Wörterbuch. Und das erwerben wir von unseren Bezugspersonen der frühen Kindheit und sonstigen Lehrmeisterinnen. 154
Ob wir wagen, unsere Botschaft »authentisch« – in wahrhaftiger Übereinstimmung von Denken, Fühlen und Ausdruck – »hinüberzubringen«, hängt davon ab, ob wir überhaupt ein Vorbild an Wahrhaftigkeit besitzen. Wenn diese Möglichkeit in unserem Repertoire geistiger Handlungsentwürfe überhaupt nicht vorkommt, stellt sich die Frage gar nicht, ob wir wagen, unsere Botschaft stimmlich wie sprachinhaltlich so auszudrücken, dass sie die andere Person körperlich und seelisch berühren und auch rühren soll. Und erst wenn wir im Besitz dieses Modells sind, können wir beginnen nachzudenken, welche Reaktionen wir bei anderen auslösen und ob wir die Verantwortung dafür übernehmen wollen. Mit »Stör nicht den Familienfrieden!« wird Britta seit ihrer Kinderzeit zum Schweigen verdammt, zuerst, als sie ihrer Mutter anvertrauen wollte, dass erst der Vater, dann die beiden Brüder sie sexuell misshandelten. Da ihre Jungfräulichkeit unangetastet war – das war aber auch die einzige respektierte Körperstelle gewesen –, konstatierte die Mutter nur lakonisch: »Was willst du denn – es ist ja ohnedies nichts passiert!« Dann, als die Alkohol und Gewaltexzesse des Vaters immer unerträglicher wurden: »Wehe, du sagst jemand was! Er ist der Vater! Da kann man nichts machen!« Brittas Mutter schiebt alle Verantwortlichkeit auf den Vater, ordnet sich selbst als Befehlsempfängerin unter und fordert dieses Verhalten auch von allen anderen ein. Wen wundert es noch, dass anstelle solcher Wahrheitsmodelle zahlreiche Maskierungsmodelle in Befehls- oder Suggestivform existieren. Ich denke dabei an Appelle wie »Reiß dich zusammen!«, »Lass dich nicht gehen!« oder Suggestionen wie »Das ist ganz unwichtig!« 155
und wie all die Sätze lauten, mit denen die Botschaft transportiert wird: Belästige mich nicht mit deiner Befindlichkeit! Solche Sätze werden üblicherweise auch in scharfem Ton, mit ärgerlichem Gesicht und abwehrender Körpersprache formuliert – sozusagen als energetisches Zurückstoßen. Ein „ichstarker“ und routinierter erwachsener Mensch wird in einer solchen Situation automatisch mental ausweichen oder sich anderweitig distanzieren. Er wird die Dosis Beziehungsgift hoffentlich nicht wie ein Schwamm aufsaugen, sondern sprachlich oder gedanklich entsorgen – »ausdrücken«. Menschen, die sich für andere verantwortlich fühlen, die nicht schädigen wollen oder zumindest korrekt handeln, werden ihr Verhalten sofort korrigieren, wenn ihnen mitgeteilt wird, dass sie eine Grenze überschritten und verletzt haben. »Echte« Gewalttäter erkennt man daran, dass sie das nicht tun: Ganz im Gegenteil, sie schieben die Verantwortung auf andere, und wenn sich jemand gegen sie zur Wehr setzt, wird diese Person noch einmal und oft über lange Zeit hinaus weiter und weiter und immer wieder attackiert. Häufig kommen ältere Paare in die Beratung, weil er – mit abnehmender Sexualkraft – phantasiert, seine Frau hätte einen Liebhaber. Immer wieder zeigen sich bei dieser Form von Sexualparanoia dieselben »Techniken«: Die Männer nehmen ihre Frauen heimlich auf Tonband auf, um sie zu überführen, hören das Telefon ab oder verstecken sich in der Wohnung, um ihre Frauen zu ertappen. Fritz beispielsweise, pensionierter Geschäftsmann und von seiner Frau »auf Distanz gehalten«, hält seiner sechzigjährigen Christa vor, sie sänge in der Badewanne »Ich hab gefickt heut Nacht«, und quält sie, sie solle ihren Geliebten offenbaren. Was 156
Christa allerdings wiederum nicht offenbarte: Sie gehört einer »Psychosekte« an, und gesungen hat sie »Gottes Liebe dehnt sich aus«. Ihr »Geliebter« ist Jesus – und die Treffen, zu denen sie geht, sind Gottesdienste. Als Christa in der Paarberatung diesen »Intimbereich« ihres Lebens aufdeckt und Fritz bittet, ihre Spiritualität zu respektieren, legt Fritz nur nach: Wie könne sie nur einem anderen »Herrn« dienen – zuerst müsse sie doch ihre eheliche Pflicht erfüllen, das stehe bereits in der Bibel, dann erst werde er ihr erlauben, andere Leute zu treffen! Das ist der Grund, weshalb »echte« Gewalttäter so häufig geschont werden – weil sie immer anderen die Verantwortung zuschieben, so verwirrend wirken, und weil die anderen, die verwirrten Menschen, dann ihr logisches Denken nicht mehr zur Verfügung haben.
Tabu ist auch, jemanden im Stich zu lassen Terry S. Trepper und Mary Jo Barrett haben bei Familien, in denen es zu sexueller Gewalt kam, vier Hauptarten des Leugnens festgestellt: das Leugnen der Tatsachen, das Leugnen des Wissens darüber, das Leugnen der Verantwortung und das Leugnen der Auswirkungen. Ich beobachte diese Abwehrmechanismen bei allen Tabuthemen – nicht nur bei sexuellen. Trepper und Barrett bezeichnen als Ziel therapeutischer Bemühungen, das Leugnen abzustellen und alle Familienmitglieder dazu zu bringen, die Realität des Übergriffs zu akzeptieren. Sie weisen aber auch darauf hin, dass es angebracht wäre, Leugnen »anfangs« als notwendigen Verteidigungsmechanismus zu verstehen und ihn als 157
solchen respektvoll zu behandeln. Aus einem juristisch gefärbten Blickwinkel mag dieses Vierfachleugnen als Verteidigungsmechanismus wirken. Gesetzesbrecher dürfen nach kontinentalem Rechtsverständnis ja auch lügen auf Teufel komm raus, pardon, »alles ihrer Verteidigung Dienliche vorbringen« – egal, ob es der Tatsachenüberprüfung standhält oder nicht. Und ihre nächsten Verwandten dürfen sich der Zeugenaussage enthalten – damit sie nicht in unzumutbare Gewissenskonflikte kommen, zu wem sie halten sollen: zum Täter oder zur Wahrheit. Meine klinische Erfahrung lässt mich einen anderen Blickpunkt aufzeigen: Wenn Täter oder Familienangehörige die Tatsachen, das Wissen, die Verantwortung und die Auswirkungen zugeben würden, würden sie o aus der Gemeinschaft mit dem Kollektivideal heile Familie herausfallen, o Selbstachtung verlieren und möglicherweise von Gefühlen überflutet werden, die ihr individuelles wie familiäres Selbstkonzept zusammenbrechen lassen, o sich Anklägern wie auch Helfern gegenüber machtlos fühlen und o neue schutzdienliche Grenzen innerhalb der Familie ziehen müssen. Sie sind aber in einer Krisensituation, und in solchen rückt man üblicherweise enger zusammen und verstärkt die Grenzen nach außen. Der Täter sowie die Restfamilie befinden sich deshalb in einem ethischen Dilemma: Welches ist das höherwertige Verhalten – den eigenen bzw. den Erwartungen der Gesellschaft nach Diskriminierung von Gewalt zu entsprechen oder den eigenen bzw. den Erwartungen der 158
Gesellschaft nach Loyalität und Familienzusammenhalt? Einerseits soll man niemand, der verfolgt wird, im Stich lassen, andererseits soll man ihn »verraten«. Ja aber doch nicht, wenn er zu Recht verfolgt wird, werden jetzt die einen sagen. Das ist doch nicht zumutbar, wenn man jemanden liebt, werden andere kontern. Ein Dilemma eben. Oder doch nicht? Ein Beispiel: In der österreichischen Tageszeitung »täglich Alles« vom 15./16.8.1998 heißt es über den Tagesverlauf eines siebenundzwanzigjährigen Mannes, der in den Abendstunden des 13. August seinen Vater und einen Gendarmeriebeamten erschossen, dessen Kollegen und seine Mutter schwer verletzt hatte: »Bis zum Abend trinkt er nach eigenen Angaben zehn Bier und mehrere G’spritzte. Angeheitert (Siegfried S. verträgt viel Alkohol) und noch immer wütend kehrt der Exsoldat nach Hause zurück. Um 19.40 peitschen Schüsse durch den Garten …« So wie in Familien die Symptome und Auswirkungen der Alkoholkrankheit tabuisiert werden, werden sie es auch in der Gesellschaft: Die Verwendung der Worte »angeheitert« und »verträgt viel Alkohol« verharmlost die Vergiftungserscheinungen dauerintoxinierter Menschen. Dem zitierten Siegfried S. war schon längst die Waffenbesitzkarte abgenommen worden, ebenso der Führerschein. Aber seine Mutter hatte das ansehnliche Waffenarsenal des als »Waffennarren« bekannten und gefürchteten Sohnes auf sich anmelden lassen. War sie von ihm dazu genötigt worden? Wollte sie den »Familienfrieden« retten? Oder die sicherlich nicht unbeträchtliche Finanzinvestition? Aber welche realistische Chance hätte eine Mutter, Hilfe in dieser Situation zu bekommen, selbst wenn sie Bescheid wüsste über die Auswirkungen der 159
Alkoholkrankheit, wenn sie die Zukunftsfolgen realistisch sähe und sich vom Sohn distanzieren und auf andere zubewegen könnte? Familienangehörige, die versuchen, aus dem Labyrinth von Tabuisierungen auszubrechen, und bei Fachleuten Aufklärung über unverständliches Verhalten suchen, werden in ihrem Bemühen, neuen Zugang zu finden, im Gegensatz zu dem »identifizierten Patienten« sehr wohl im Stich gelassen. Denn leider sind auch viele Ärzte alkoholkrank. So betont Argeo Bärmayr in seiner Studie über Selbstmorde von Ärztinnen in Oberbayern, dass gerade Mediziner zu erhöhtem Suchtverhalten zu neigen scheinen: Präparatabhängigkeit, Alkoholismus und besonders Medikamentensucht »konnte bei 48% der Ärzte und 41% der Ärztinnen festgestellt werden«. Als ein Hauptthema in meinen Kommunikationstrainings für Ärztinnen taucht immer wieder die Hilf- und Sprachlosigkeit gegenüber Angehörigen auf, die Beistand gegen Gewalttäter suchen. Erst wenn ich nachfrage, ob vielleicht Alkoholkrankheit diagnostizierbar wäre, gestehen die Ärzte, dass sie diesen Aspekt unterbewertet hätten. Dabei hätten sie im Gegensatz zur Exekutive, die immer abwarten muss, dass »etwas passiert«, um handeln zu dürfen, die Möglichkeit, im Vorhinein Selbst- und Fremdgefährlichkeit zu bestätigen. Dem Dilemma, wem beizustehen wäre, steht also auch der Familienarzt gegenüber und andere Angehörige von Helferberufen, die sich nicht a priori zur Parteilichkeit für eine bestimmte Klientel bekennen. Von Ärzten wird erwartet, dass sie parteilich für Kranke handeln. Und gewalttätiges und verantwortungsloses Verhalten kommt eben auch als Symptom und Folge von Seelen- oder Geisteskrankheiten vor oder auch bei anderen Zuständen, in denen Menschen nicht in der Lage sind, ihr eigenes 160
Verhalten zu reflektieren und dieser Einsicht gemäß zu handeln. Ärzte sollen aber auch präventiv wirken und über gesundheitsförderndes Verhalten aufklären. Das Zusammenleben mit einem alkoholkranken Menschen bedeutet nicht nur Dauerstress, sondern verkürzt das eigene Leben. So warnt die auf Suchtprophylaxe spezialisierte Diplompädagogin Ursula Lambrou: »Die Lebenserwartung von Mitbetroffenen, die co-abhängig sind und weiter mit einem ›nassen‹ Alkoholiker leben, ist geringer als die der Trinkenden selbst!« In Alkohol produzierenden Ländern werden Alkoholkranke so umfassend in Schutz genommen, dass es vielen, die unter deren Gewalttätigkeit leiden, aussichtslos erscheint zu protestieren. Die geheimen Verführer sind ja auch allgegenwärtig: In amerikanischen »Seifenopern« schenkt sich der und zunehmend die von der Arbeit Heimkommende zuerst einmal einen Drink ein, bei uns nimmt zumindest er den Umweg über die Kneipe und in jedem erfolgreichen Restaurant versucht erfolgreiches Bedienungspersonal, einem zuerst einen hochprozentigen Aperitif einzureden. Demgegenüber steht meine Erfahrung aus Coachings mit erfolgreichen Managerinnen: Wer wirklich erfolgreich ist, verzichtet auf Drogen. In den »laufenden Bildern« gibt es diese VorBilder aber kaum! Wenn man jemand Nahestehenden im Stich lässt, ist dieser verlassen. Handelt es sich dabei um eine Person, der man aber beistehen müsste, weil sie nicht erwachsen, gebildet, gesund und zurechnungsfähig genug ist, für sich selbst zu sorgen, müsste jede wahrnehmende Person Beistand leisten. Aber das will kaum jemand. So habe ich immer wieder erlebt, wie Ehefrauen von ihren Schwiegermüttern unter Druck gesetzt wurden, gewalttätige Ehemänner nicht zu verlassen, einerseits, weil 161
die Schwiegermütter sonst mit ihrem eigenen Ausharren in unerträglichen Situationen konfrontiert gewesen wären, andererseits aber, weil sonst die realistische Gefahr bestanden hätte, dass »Bubi« wieder zu Hause einzieht! Die dreißigjährige Dagmar, in zweiter Ehe mit dem gleichaltrigen Hartmut, einem wein- und bierseligen Speditionsangestellten, verheiratet, wird von ihrer übergewichtig-phlegmatischen Schwiegermutter finanziell über die Maßen verwöhnt, »weil wir ja so froh sind, dass der Hartmut dich gefunden hat!« Das stimmt schon – denn vorher gab es alle zwei bis drei Tage Verdruss, wenn Hartmut spätnachts, meist in Begleitung professioneller Begleiterinnen, in der Elternwohnung weiterfeiern wollte. Dagmar traut sich nicht, die Scheidung einzureichen – die Schwiegermutter ist ja so lieb, tröstet sie immer, wenn sie wieder ein blaues Auge hat, und überhaupt könne sie doch nicht etwas tun, was die ganze »Ordnung« ändern würde. Ähnlich geht es Heino: Bei ihm ist es die Schwiegermutter, die sich an Kindes Stelle eingenistet hat. Schon als seine Frau Erika die Tochter Iris zur Welt brachte, zog die frisch gebackene Oma in die neue Wohnung ein: »Ja fein, jetzt habt ihr ein Kinderzimmer – jetzt kann ich bei euch wohnen!« Mehrfacher Wohnungswechsel half zwar, der mitziehwütigen Oma zu entkommen, doch mit zunehmendem Alter und abnehmendem Wohlbefinden wurde der tägliche Kriseneinsatz, die Oma ins Spital zu bringen, immer mühseliger. Ein Pflegeplatz kommt nicht in Frage, Erika ist nicht bereit, Mutters Vorhaltungen zu ertragen und schon gar nicht die Verantwortung für eine deutliche Abgrenzung. Es war schon Arbeit genug, die Mutter aus dem Ehebett zu vertreiben. Schließlich resignieren Erika und Heino und nehmen die Oma zu sich; Iris hat das schon längst getan: Sie findet alles zum Kotzen und tut das 162
auch. Ihre Essbrechsucht widersteht allen Therapiebemühungen; erst als sie beginnt, ihre eigene Familie aufzubauen – ohne Rücksicht auf Oma –, geht es ihr besser. Leider wird durch diese Strategie – An- und Aussprechen von Problemlösungsmöglichkeiten durch Jammern, Vorwürfe oder Drohungen wie beispielsweise: »Wie kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren …« im Keim zu ersticken – jeder Ansatz kommunikativer und kooperativer Problemlösung verhindert. Genau das wäre aber die Stärke des Systems Familie. Und so siegt immer wieder der Haustyrann, männlich oder weiblich.
Tabus sind Grenzziehungen Kinder oder Menschen, denen von klein auf Selbstbehauptung oder auch nur eine eigene Meinung verboten wurde, werden auf stimmliche Energieattacken hin unbewusst zurückschrecken und sich fragen, was sie falsch gemacht haben. Wahrscheinlich nichts. Sie machen allerdings in diesem Augenblick die Lernerfahrung: So darf ich nicht mehr handeln – oder noch ärger – so darf ich nicht mehr sein. Sie erfahren nicht: o was die andere Person konkret geärgert hat, o welches Verhalten die andere Person lieber hätte und o dass dies die individuelle Reaktion dieser Person ist und daher keine allgemeine Gültigkeit hat. Echte Berührung und Begegnung wird so vermieden. Denn wenn zugelassen würde, dass man einander wirklich und ganz – körperlich zumindest durch die ausgetauschte 163
Atemluft, seelisch durch die andere wie die eigene »Energieabsstrahlung« (z.B. Neurotransmitterausschüttung, Gehirnstrommuster) und geistig durch den »Informationsgehalt« der Botschaft – spürt, käme man einander nahe, sehr nahe, intim nahe, und bekäme wahrscheinlich sexuelle Gefühle. Denn um Intimität auszuhalten, ohne sich gegenseitig gleich einzuverleiben, braucht man auch das Wissen, wie man das macht, und Übung. Dann müsste man, wenn man nicht miteinander verheiratet ist, Grenzen aushandeln, um das Inzesttabu nicht zu verletzen. Und selbst wenn man miteinander verheiratet ist, braucht man deutliche Grenzmarken, damit jeweils die andere Person weiß, ob sie im Intimbereich willkommen ist oder Abstand wahren soll. Grenzziehungen aber sind tabu, sowohl körperlich, seelisch als auch geistig. Es gibt aber auch andere Gefühle, von denen man sich nicht gerne anstecken lassen will: Trauer und Wut. Günther ist siebzehn und sein Vater macht sich Sorgen, kann aber mit seinem Sohn nicht darüber reden: Günthers Mutter hat sich umgebracht, und der hoch begabte, in der Schule aber ziemlich isolierte Günther legt immer mehr Ähnlichkeiten im Verhalten mit ihr an den Tag … damals als sie stundenlang allein durch die Wälder am Stadtrand marschierte und oft erst gegen Mitternacht erschöpft nach Hause kam (übrigens eine durchaus zielführende Strategie gegen beginnende Depressionen). Der Gedanke an Todeswünsche ist für Günthers Vater unerträglich – er müsste sonst um die verlorene Frau weinen. Manfreds Frau hat auch einen Selbstmordversuch unternommen und wurde von den Ärzten reanimiert. Jetzt liegt sie im Koma – und täglich fährt Manfred hundertfünfzig Kilometer in die 164
Großstadt und tut, was der Anästhesist dem einfachen Arbeiter sagt: Er sitzt neben dem Körper und den Maschinen und weiß nicht, was er sagen soll. Er wird immer stiller und stummer, und niemand fragt ihn, wie es ihm gehe mit seinen Schuldgefühlen und seinen Aggressionen, und die Krankenschwestern werden auch immer gereizter – denn sie wissen, dass in der Universitätsklinik primär »geforscht« wird und Manfreds Frau vor allem deshalb künstlich am Leben gehalten wird, weil die Arzte gerne ein »Wunder« an basaler Stimulation erleben möchten. Manfred spürt, dass kein Wunder mehr geschehen wird, und er spürt, dass nicht nur die Ärzteschaft, sondern die ganze Familie, ja der ganze Wohnort, von ihm erwartet, dass ein Wunder geschehen sollte. Am liebsten würde er alles hinwerfen und einfach nur schreien – aber darüber spricht man nicht. »Das muss man halt durchstehen.« Familie ist auch Berührungsgemeinschaft. Familienangehörige dürfen einander viel näher stehen oder treten als Fremde. In den Klassikern der Körpersprache wie beispielsweise bei Julius Fast wird dann auch von der »intimen Distanz« zwischen Liebenden oder Eltern und Kleinkindern gesprochen im Gegensatz zu der »persönlichen« von sechzig bis neunzig Zentimetern, je nach individuellem Sicherheitsbedürfnis, der »sozialen« von eineinhalb bis zwei Metern, beispielsweise im Berufsalltag, und der »öffentlichen«. Diese fällt vor allem bei Lehrern, Pfarrern, Politikern auf – Menschen mit besonderen Autoritätsansprüchen, die, wie ich meine, eben deshalb auch ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben. Dass Mangel an körperlicher Nähe Kinder ebenso massiv in ihrer Entwicklung beeinträchtig wie das Gegenteil, körperlich mit Gewalttaten zu nahe zu treten, 165
ist heute zwar dank medialer Aufklärung hinlänglich bekannt. Zärtlichkeit körperlich mitzuteilen und nicht Knuddelmissbrauch an Kindern als Puppenersatz zu betreiben oder Kinder als Stimulans einzusetzen, um sich selbst als stärker und mächtiger zu erleben, ist jedoch noch lange nicht Alltagswissen. Körperliche Nähe und körperliche Verfügbarkeit werden leider vielfach mit Liebe gleichgesetzt. Mit sexueller Paarliebe genauso wie mit »asexueller« Familienliebe. Dabei sind sie bestenfalls Ausdruck von augenblicklichen Stimmungen, schlechtestenfalls von masochistischer Dauerunterwerfung. Kleinstkinder setzen ihre Grenzen noch deutlich durch Geschrei und Abwehrbewegungen. Sie drehen den Kopf weg, stoßen und schlagen. Sie werden dann meist schlimm genannt und mit Drohungen und anderen Einschüchterungstaktiken zum Gehorsam gezwungen. Die Botschaft im Klartext lautet: Du darfst mir keine Grenzen setzen, du darfst deine Grenzen nicht gegen mich verteidigen. Sexuelle wie auch triviale Übergriffe in Familien wurzeln einerseits im Tabu, Gewalt als Gewalt empfinden und benennen zu dürfen, andererseits im Tabu, sexuelle oder aggressive Gefühle als sexuelle Gefühle oder Ärger, Zorn oder Wut empfinden und benennen zu dürfen. Gefühle haben ist aber eines, Gefühle in Phantasien anzuheizen etwas anderes, und Gefühle in Verhalten umzusetzen etwas Drittes! Dass man leicht sexuelle Gefühle bekommt, wenn man einander nahe ist oder sich Nähe wünscht, vital und nicht erschöpft, unausgelastet und nicht mit Wichtigerem oder Passenderem beschäftigt, sinnlich ansprechbar und nicht abgestumpft ist, kennt jedermann aus Zeiten, in denen er oder sie sich faul beim Sonnenbad räkelt. Dass man sich 166
selbst dann, wenn das Objekt der Begierde in passendem Alter und Sozialstatus zurückflirtet, gar nicht so leicht tut, seine Gefühle in Sprache umzusetzen, und das in einem Zeitrhythmus, der weder überrumpelt noch alles verpassen lässt, diese Erfahrung hat sicher jeder schon einmal gemacht. Dass in Familien Abgrenzungsgefühle selten geduldet werden, selbst wenn man noch nichts gesagt oder getan hat, ist leider auch noch immer gang und gäbe. Denn dieselben Menschen, die sich über Intuition- »den sechsten Sinn« – lustig machen, reagieren selbst extrem sensibel, meist aggressiv abwehrend, wenn sie spüren, was ein anderer denkt, nämlich etwas, was ihnen nicht passt, oder naturwissenschaftlicher formuliert: wenn sie mit ihrem elektrischen Hautwiderstand auf die Veränderungen des elektrischen Hautwiderstands der anderen Person reagieren. Üblicherweise folgen dann Verbalattacken wie »Schau nicht so doof!« oder »Was ist?« bzw. sicherheitshalber gleich »Schnauze!« Denn es soll die andere Person ja daran gehindert werden, durch ihre Gefühle – die »realistische Bewertung von Dingen und Sensationen« (Max Wertheimer) – zu Handlungen bestimmt zu werden, mit denen sie sich von den anderen abgrenzen würde. Deshalb wird ja auch versucht, das Denken, die geistige Dimension, zu kontrollieren. Besonders auffallend ist dies dort, wo sich Jugendliche einer Subkultur zuwenden. Statt mit ihnen voller Interesse darüber zu reden, was sie daran so fasziniert, wird versucht, diesen »Gang an die Grenze« zu verhindern. Und wenn Kontrolle nicht möglich ist, weil die abweichend denkende Person beispielsweise der eigene Vater oder Großvater ist, der seinen Glauben an den Endsieg pflegt, wird das Schweigetabu praktiziert. 167
Tabu ist das Reden Hinter der Sehnsucht nach wortloser Einigkeit steht als Schatten sprachlose Einsamkeit. Während man durch Verzicht aufs Reden den Wahn pflegen kann, es wäre ohnedies alles in Ordnung, entsteht mit dem ersten Wort die Gefahr, etwas falsch zu machen, nämlich etwas Falsches zu sagen und die andere Person damit zu ärgern und von sich wegzutreiben. Oder es entsteht die Befürchtung, dass die andere Person frühzeitig merkt, dass man sie weghaben will, und nun eine Strategie des Festhaltens beginnt. Es sind die ganz trivialen Ordnungsaufgaben, die nicht angesprochen werden: Sie sind selten schon so dramatisch aufgebläht, dass sie ein Rededuell rechtfertigen würden, aber auch nicht so frei von Gefühlsauslösern, dass man sie ohne vermittelnden Diplomaten bereinigen könnte. Aber genau dieser hilfreiche Dolmetscher wird nicht herbeigerufen. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass die klassischen Helferberufe als Autoritätsberufe konzipiert sind und man daher einen Besserwisser erwartet, der einen wegen vermuteter Fehlhandlungen kritisiert, beschämt, demütigt: Anwälte kosten außerdem viel Geld, und das will man sparen, Pfarrer haben nicht mehr die Geltung wie früher und oftmals auch nicht das mediatorische Fachwissen, und Angehörige psychosozialer Dienste aufzusuchen – was in Institutionen immer auch kostenlos und anonym möglich ist – wird als Eingeständnis von Scheitern, als individuelles Versagen und Schande empfunden. Also bleibt man im Kreis der Familie und bleibt stumm.
168
TABUBRÜCHE: VERSUCH ODER VERSUCHUNG?
S
chweigemauern sind es, die die tabuisierten Bezirke und die betroffenen Personen umgeben. Damit sollen die tabuisierten Themenbereiche der Wahrnehmung entzogen werden: Sie sollen nicht gesehen, gehört und auch nicht gefühlt werden. Darüber reden »gehört sich nicht« - und wer auf diesen Moralappell horcht und gehorcht, darf in der Gemeinschaft bleiben. Wer aber gegen das Schweigegebot verstößt, wird selbst unberührbar, also auch tabu – er oder sie wird zur Unperson: Entweder wird die Person nicht mehr angesehen (im Doppelsinn des Wortes), nicht mehr angehört und vor allem wird ihr Mitgefühl verweigert. Oder sie wird als jemand gesehen, verstanden und interpretiert, der oder die sie nicht ist: »Es ist alles in Ordnung.« Und je weniger die so von ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung und damit auch ihrem Selbstgefühl als wahrnehmender Mensch entfremdete Person Gelegenheit zur Korrektur hat – je weniger sie irgendwo zu Wort kommen kann, je weniger sie bei irgendwem Gehör finden kann, je weniger Chancen sie erhält, sich »An-Sehen« zu erarbeiten, desto mehr wird sie durch den einseitig ausgeübten Druck »verkrüppeln«: Sie wird entweder dieses Fremdbild psychisch als Selbstbild übernehmen und damit ihre Entwicklung zu ihrer besonderen Individualität behindern (lassen) oder/und deutlich psychosomatisch erkranken. Ich erinnere mich an eine etwa fünfzigjährige Klientin, die seit langem unter unerklärlichen Angstzuständen litt, die 169
immer dann auftraten, wenn sie verreisen musste, oft aber auch nur beim längerfristigen Verlassen der Wohnung. Beispielsweise wenn sie zur Arbeit musste; sie war Versicherungsvertreterin. In der Anamnese fand ich heraus, dass sie als einziges Kind einer Kriegerwitwe immer zu einem Nachbarehepaar geschickt wurde, wenn ihre Mutter arbeiten ging. Der Mann pflegte ihre Hand in seine Hosentasche zu stecken und sie aufzufordern, sich ein »Zuckerl« zu holen. Der Taschenbeutel war aber zerrissen, und so spürte sie klebriges, zuckendes Fleisch … Wenn sie sich wehrte, wurde sie ausgelacht: »Geh, du Tschapperl!« Die zugehörige Gattin des Nachbarn wendete ihre Aufmerksamkeit in solchen Situationen immer hektisch dem Abwasch zu. Als sie sich bei ihrer Mutter beklagte, sie wolle nicht mehr dorthin, schimpfte die sie heftig aus: »Was fällt dir ein, so über den netten Herrn zu sprechen! So was will ich nie wieder hören! Du musst wieder hingehen – was soll ich denn mit dir machen, ich muss doch Geld verdienen!« »Was fällt dir ein!«, »Darüber spricht man nicht!«, »Du spinnst ja!«, »Das bildest du dir nur ein!« oder ähnlich lauten all die Sätze, mit denen schüchterne Versuche der Annäherung an ein Tabu abgewehrt werden. Sie verstärken die ohnedies latent vorhandene »Schweigespirale«. So bezeichnet Elisabeth Noelle-Neumann das Phänomen, das Redefreudigkeit abnimmt, wenn Menschen unsicher werden, ob sie durch Äußerungen in eine Außenseiterposition fallen könnten. Sie schreibt: »Die Furcht vor Isolation erscheint als die treibende Kraft, die den Prozess der Schweigespirale in Gang setzt. Mit den Wölfen heulen ist der glücklichere Zustand, aber wenn man das nicht über sich bringt, weil man offenbar 170
allgemein verbreitete Überzeugungen nicht zu teilen vermag, so kann man doch noch immer schweigen, als zweitbeste Möglichkeit, gut gelitten zu bleiben.« Nun könnte man einwenden, die Demoskopin Noelle-Neumann untersuche ja den Forschungsgegenstand »öffentliche Meinung«, und wenn sie darauf hinweise: »In einer öffentlichen Situation, auch in einer ›kleinen Öffentlichkeit sind Männer mehr als Frauen disponiert, bei einem kontroversen Thema mitzureden, Jüngere mehr als Ältere, Angehörige gehobener Sozialschichten mehr als solche aus einfacheren Schichten‹, dann hätte dies nichts mit herrschenden Spielregeln in Familien zu tun. Ich meine aber, dass ebenso in der relativ kleinen Öffentlichkeit des Kommunikationsraums Familie dieselben Mechanismen stattfinden: Wenn Kontroversen auftreten, hängt die Verteilung von Rede- und Schweigerollen davon ab, wer den Ton angibt und wer mundtot gemacht wird. Üblicherweise gibt in einer patriarchal organisierten Familie der Vater den Ton an und falls kein Vater vorhanden ist, der nächstälteste Mann, eventuell auch eine dominante Frau. Kinder und Jugendliche versuchen das zwar ebenso – sie ahmen das mächtigste Vorbild nach –, werden im Konfliktfall aber als vorlaut oder frech bezeichnet und zum Schweigen verdammt. »Kinder soll man sehen, aber nicht hören.« Ähnlich geht es oft den nicht mehr im Erwerbsleben stehenden Angehörigen der Elterngeneration. Denn es ist primär noch immer die ökonomische Macht, von der es abhängt, wie viel Respekt jemand bekommt – und damit auch die Sozialschicht; denn in unserer auch sozial mobilen Gesellschaft gibt es heutzutage vielfach deutliche Brüche in der Schichtzugehörigkeit der Familienangehörigen unterschiedlicher Generationen, aber auch bei Geschwistern und sonstigen 171
»Familienzuwächsen«. »Seine soziale Natur veranlasst den Menschen, die Absonderung zu fürchten, unter anderen Menschen geachtet und beliebt sein zu wollen. Wahrscheinlich werden wir erkennen müssen, dass diese Anlagen erheblich zum Gelingen menschlichen Gemeinschaftslebens beitragen. Aber der Konflikt ist unverkennbar. Bewusst, rational, loben wir unabhängiges Denken, Mündigkeit, eine unerschütterliche Festigkeit im selbst erarbeiteten Urteil«, begründet Noelle-Neumann die Isolationsfurcht. Vermutlich dachte sie dabei nur an Erwachsene.
Klein und hilfsbedürftig Kinder – bis vierzehn Jahre – denken nicht in dem Sinn bewusst und rational, wie wir es vom Idealmenschen – meist zu Unrecht – erwarten. Denn gerade in Konfliktsituationen regredieren wir auf frühere Entwicklungsstufen. Um diese Rückfälle nicht zu erleben, brauchen wir schon ein Spezialtraining, eine Dressur. Wer kennt nicht die Gefühle von Kleinheit und Hilflosigkeit, wenn man krank ist? Wenn man sich nur ins Bettchen und eine liebe Mammi dazu wünscht, die einen umhegt? Aber auch wenn man »etwas verbrochen hat«, tauchen diese Gefühle auf, oder wenn einem etwas »angetan« wurde – denn oft fehlen sogar die Worte, um zu präzisieren, welches Gefühl konkret uns »wurmt«. Und genau diese Sprachlosigkeit ist es, die darauf hinweist, dass wir ins »Kindheits-ich« abgestürzt sind, als unser Erfahrungs- und damit auch Wortschatz noch gering war. Oder wir sind sogar in eine noch frühere Zeit zurückgegangen, wo wir noch über gar keine Sprache 172
verfügten. Als kleine Kinder sind wir ja tatsächlich von unseren Pflegepersonen abhängig. Im Gegensatz zu den meisten anderen »Säugern« kommen wir nicht in einem Zustand weitgehender Perfektion zur Welt. Bis wir grob gesprochen den Zustand alleiniger Überlebensfähigkeit – unsere gesellschaftliche Organisation bleibt dabei vorerst unberücksichtigt – erreichen, vergehen fast zwei Jahre. Ich denke also, dass unsere Isolationsfurcht aus realen Einsamkeitsgefühlen der Säuglingszeit stammt. Bedürfnisse nach Achtung und Beliebtheit entwickeln wir üblicherweise erst im Alter von vier bis sechs Jahren, in der phallischen Phase – der „Herzeigephase“ – und in der ödipalen Zeitspanne der psychosexuellen Entwicklung – der Rivalitätsphase. Und wie stark diese Bedürfnisse aufgebaut werden, hängt wieder von der analogen Bedürftigkeit und dem demonstrierten Er- und Beziehungsverhalten unserer Bezugspersonen ab. Selbstbezogenes Protzen ist ebenso ein verzweifelter Hilferuf nach Zuwendung wie auffälliger Rückzug in die – diesmal selbst gewählte – Isolation. Außer diesem physischen und psychischen Klein- und Bedürftigsein gibt es auch ein soziales. In der von Sigmund Freud angedachten und vor allem von Erik H. Erikson weitergeführten Theorie der psychosexuellen Entwicklung folgt auf die drei – nach meiner Sichtweise vier – Reifephasen die Latenzzeit, in der die psychosexuelle Entwicklung angeblich ruht, um sich auf den Sturm der Hormonausschüttungen in der Adoleszenz vorzubereiten. Ich meine vielmehr, dass in dieser Entwicklungsperiode, die etwa mit dem Besuch der Grundschule zusammenfällt, die eigene Position in Gruppen, soziale und auch sexuelle Attraktivität und damit Rangordnung geprägt werden. 173
So wie in den vorhergehenden Phasen – der oralen, analen und ödipalen, dieser vorgelagert nach meiner Sicht die phallische – die Gefahr besteht, sich auf die jeweils bestimmenden Gefühle und Verhaltensformen zu fixieren, droht auch in der so genannten Latenz diese Gefahr: Durch zu großen Druck der Erziehungspersonen wird das Kind in der »Kleinheit« – Folgsamkeit, Zurückhaltung, Unwissenheit – »festgehalten«, die den Eltern angenehm ist oder ein Beweis dafür, dass sie »erfolgreiche Eltern« sind. Nicht das Kind selbst erlangt Macht – zum Beispiel über seinen Körper oder über verschiedene Herausforderungen –, sondern die Eltern behalten, beweisen oder demonstrieren ihre. Ebenso kann es geschehen, dass das Kind in der Latenz Macht in der Gruppe lässt, anstatt seine eigene Position zu erkennen und sich bewusst zu entscheiden, ob es daran etwas ändern will oder nicht. Der Reifeschritt liegt darin, die Angst vor »den vielen« zu verlieren. Dazu wird das Kind wohl eine stützende Begleitung brauchen und hoffentlich auch suchen – wenn es nicht schon alles Vertrauen auf mögliche Unterstützung verloren hat. Die Geisteshaltung, sich in Gruppen chronisch klein zu fühlen, wird in der Latenzzeit gefestigt. Als Selbstheilungsversuche bleiben dann nur: o o o
Resignation mit oder ohne, sozialen Rückzug, unkritische Identifikation mit der Masse oder sonstige Versuche einer Überkompensation.
174
Ambivalenz des Tabubruchs »Das kontroverse Element, Voraussetzung für ein Isolationspotential, tritt erst beim Verstoß in Erscheinung, wenn fest gewordene öffentliche Meinung, wenn Tradition und Sitte verletzt werden«, stellt Noelle-Neumann fest. Ich möchte präzisieren: Was im ersten Augenschein, der sogleich der Vergangenheit anheim fällt, als Verstoß gilt, kann im nächstfolgenden Augenblick – der noch in der Zukunft liegt und erst Gegenwart werden muss – bereits als Anstoß zur Erneuerung oder Verbesserung verstanden werden. Freud hatte primär im Blickwinkel, dass der Tabubrecher selbst tabu – unrein – wird. Er könnte aber auch rein – heilig – werden. Und vielleicht sollte gerade dies verhindert werden: Zu viele Heilige bedeuten ja auch Konkurrenz für das Heiligkeitsmonopol. Im Augenblick des Tabubruchs – dem Zeitpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft – ist noch nicht entschieden, wer verabschiedet, also abgeschieden wird: der Tabubrecher oder das Tabu.
Ersatzfamilie Psychotalkshow Die reale Familie ist zumeist überfordert, wenn sie sich oder andere mit ihren »Schandflecken« konfrontiert sieht. Voll gespeichert mit den Geboten und Verboten der immer noch existierenden Vergangenheitsmoral, ohne Vorbild für eine neue, bessere Zukunftsethik, hin und her gerissen zwischen Machtansprüchen, immer alles zu wissen und zu können, und Ohnmachtsgefühlen, fehlen den meisten Familienmitgliedern selbst die kommunikativen Modelle, diesen Zustand des Unwissens mitzuteilen. Das ist aber die geringste Voraussetzung, damit sich andere Menschen 175
auskennen – und möglicherweise entgegenkommen können, wenn sie erkennen, dass hier Hilfe benötigt wird. Dort, wo eigentlich Aussprache und Beistand beheimatet sein sollten – in der Familie –, herrscht Sprachlosigkeit. In solchen Fällen gibt es heute die Ersatzfamilie Talkradio und Talkshow.
Medien: Lohengrin oder Parzival? So wie in der Lohengrin-Sage Elsa von Brabant, der Hexerei angeklagt und von niemandem verteidigt, aus der Gemeinschaft herauszufallen droht, aber plötzlich der unbekannte Schwanenritter, nämlich Lohengrin, aus der Ferne auftaucht und für sie – erfolgreich – streitet, taucht heute in festgelegter Regelmäßigkeit der Talkmaster oder die Talkmasterin aus der Ferne der Television und zeigt, wie er oder sie stellvertretend für die Tabubrecher das Wort ergreift. Sie sind hegender Vater- und Mutterersatz für die Vernachlässigten und Unverstandenen, Helfer in der Not für die Fehlenden und Strauchelnden, Informant, Korrektiv und – Schöpfer neuer Wirklichkeiten. Dadurch, dass sie das. Geheime und möglicherweise Triviale ins Öffentliche und Besondere verwandeln, zeigen sie: o
o o
was wir hier zeigen und bereden, gibt es – es ist normal, aber doch wieder nicht so normal, dass es keinen Informationswert hat, es ist also wichtig; für wen, wird nicht gefragt, dafür wird gefragt, wie es den »Gästen« geht – quasi eine Umkehr der Parzival-Frage.
176
Dem legendären Gralskönig Parzival war nämlich als Jüngling zuerst von seiner ängstlichen Mutter Gehorsam verordnet worden, »wenn dich ein grauer weiser Mann Zucht will lehren«, und später von solch einem – Gurnemanz – gelehrt: »Vor allem sollt Ihr nicht viel fragen. Doch wohlbedächtig Antwort sagen …« Als der »tumbe Tor« nach allerlei Ungeschicklichkeiten in die Gralsburg gelangt, scheut er sich wider sein Gefühl, den siech darnieder liegenden König Amfortas nach seiner Verwundung zu fragen. Er dachte: ›Der getreue Mann Gurnernanz befahl mir an / Vieles Fragen zu vermeiden / Drum will ich höflich mich bescheiden / Und warten, bis man ungefragt / Von diesem Haus mir alles sagt, …‹ Für diese Fehlhandlung wird er mit Schimpf aus der Burg gejagt. Aber: er bekommt eine zweite Chance: Nach einer neuerlichen Irrfahrt gelangt er wieder an den Ort seines Fehlers – wo ihm etwas gefehlt hat, wo er etwas verfehlt hat – und kann sein »Fehlen« korrigieren und damit Amfortas Heilung ermöglichen. In Richard Wagners Bühnenspiel singen es Knabenstimmen aus der Kuppel der Gralsburg: »Durch Mitleid wissend, / Der reine Tor: / Harre sein, / Den ich erkor.« Immer wieder erlebe ich, dass Mütter die Frage scheuen, wo der Sohn oder die Tochter hingehe, obwohl ihnen ihre Ahnung sagt, dass Gefahr droht und ihre Kinder etwas beabsichtigen, wogegen sie einschreiten müssten. Sie tun es vor allem deshalb nicht, weil sie befürchten, ohnedies keine Antwort oder keine wahre Antwort zu bekommen. Dass diese meist zu Recht erwartete Reaktion mit der Grammatik der Fragestellung zusammenhängen könnte, kommt ihnen erst dann in den Sinn, wenn sie gequält nach eingetretener Katastrophe fragen: »Was habe ich denn falsch gemacht, dass er/sie mir nichts anvertraut hat?« 177
Die Antwort lautet: Sie haben ihr persönliches Interesse nicht gezeigt. Nur zu fragen: »Wo gehst du hin?« oder zu warnen: »Dort gehst du mir nicht hin!« ist zu wenig Bezug; Beziehung beginnt damit, sich selbst zu zeigen: »Ich möchte gerne wissen, wo du hingehst, weil ich befürchte, dass …« oder »… weil ich mir nämlich Sorgen mache, dass … passieren könnte. Hast du daran gedacht? Hast du keine Angst? Wieso hast du keine Angst?« Diese Fragen zeigen wirkliches Interesse am anderen: Zeige mir, wie du bist, was du denkst, was du fühlst, damit ich dich verstehen kann. Die Parzivalfrage – »Durch Mitleid wissend, der reine Tor« – zeigt also immer Betroffensein von der Befindlichkeit eines anderen Menschen und zielt auf mehr Information aus dem Innenleben anderer.
Das auffordernde Du Nun unterstelle ich den Rundfunkund Fernsehmoderatorinnen keineswegs Mitleid und schon gar nicht Torheit. Beides wäre unprofessionell. Ganz im Gegenteil, zur Professionalität gehört, die Mechanismen der seelischen Befreiung, der Katharsis, zu kennen: aus sich herausgehen zu dürfen, zu können, braucht ein aufforderndes Du. Selbst die besten Schauspieler brauchen einen Regisseur, der sie anspornt, und wenn sie selbst Regie führen, brauchen sie ihr Team, das diese Funktion übernimmt. Sich selbst hingegen dieser »Coach« zu sein erfordert Vorgehen nach erlernter Struktur – das innige Gebet zu Gott als immer anrufbarem Du, Meditationstechniken, Selbstanalyse – und Zeit. Denn Tief-Gang in die eigene Seelenniederungen oder Aufstieg 178
zum Höheren Selbst sind nicht schnell zu beschreiten. Die Parzivalfrage befreit aus der Isolation: - Endlich kümmert sich jemand um mich, sogar öffentlich, sodass alle, die sich nicht kümmern, sehen bzw. hören können, dass sich da jemand um mich kümmert! Und sogar jemand Prominenter! Allein das rührt schon – und die endlich erlaubte Herzöffnung rührt noch einmal, wenn man dann endlich aussprechen darf (im Doppelsinn des Wortes), und das live, sodass einem nicht am Schneidetisch das »Wort abgeschnitten« werden kann, sondern höchstens ein Kameraschwenk das »Gesicht wahren« lässt. Zusätzlich bieten die Talkmaster endlich das fehlende Modell: Auch wenn noch so sehr über die Qualität ihrer Einfühlsamkeit und Echtheit gestritten wird, sie zeigen zumindest einen Weg, wie man über schwierige Themen sprechen kann – sodass nichts passiert. Zumindest bis man nach Hause kommt – und zu den Nachbarn. Talkmaster gestalten aber auch »Öffentliche Meinung«: In ihrem persönlichen Kommunikationsverhalten vermitteln sie mit Mimik, Gestik, Körperbewegungen und Wortwahl, wie sie das, worüber gesprochen wird, und die »Problemträger« bewerten. Und sie können damit auch die Reaktionen des Publikums im Saal steuern. Im Talkradio gibt es dafür Jingles, die auf Knopfdruck Lachen, Buhoder Ojeh-Rufe aussenden. Dass die meisten Zuschauer zu Hause vor den Apparaten ähnlich reagieren, ist anzunehmen, denn Talkshows zielen auf Gefühlsreaktionen, und intensive Gefühle sind ansteckend. Da »problembeladene« Talkgäste meist gefühlsecht reagieren – deswegen sucht man ja »Menschen wie du und ich« und nicht hoch trainierte Profis, die sich selbst oder ihre Produkte vermarkten –, lösen sie auch Mitgefühl aus. 179
Dadurch, dass Talkmaster aber zusätzlich vermitteln, dass es »Wert« hat, das Problem öffentlich zu bearbeiten, zwingen sie auch andere, sich mit dem Problem auseinander zu setzen: Dass Fernsehkritiker oder Journalistenkollegen sich mit Fernseh-, seltener Radiosendungen auseinander setzen, ist anzunehmen; aber oft reagiert auch die bezügliche Beamtenschaft, manchmal sogar die Spitze der Verwaltung, ein Minister oder eine Ministerin, oder andere Fachleute, gleichsam als „ÜberLohengrin“, die Segnungen verstärkend. In Opposition setzt sich selten jemand, denn wer außer einem unverbesserlichen Querkopf will sich’s schon mit den Herren oder Damen der Öffentlichen Meinung verscherzen?
Die andere Wirklichkeit Dann gibt es noch eine andere Wirklichkeit, die Talkmaster »schaffen«: Quoten und Einnahmen. Aber auch Missbrauch von Menschen zur »Produktion« einer Scheinwirklichkeit. Dadurch unterscheiden sie sich jedoch wenig von den Schweigemeistern in der Familie. Wer in einer Runde den Vorsitz übernimmt, »das Sagen hat« – und damit auch das Schweigen –, kann sich damit den Überblick sichern und durchschaut aus dieser Position die räumlichen Beziehungen der Personen zueinander und zu sich selbst. Ähnlich geht ein Maler vor, der Perspektive – Blickrichtung – berücksichtigt, so vergleicht der Heidelberger Familientherapeut Helm Stierlin die Arbeit der dynamischen Familienforschung: »Er ist sich des Standpunktes bewusst, der seine Schau bestimmt, und malt in einer Weise, die das Geschaute kontextgerecht vermittelt.« 180
Stierlin sagt vom Maler, »indem er eine Perspektive anlegt, strukturiert er sein Sehfeld aktiv und scheint den Gegenständen sogar Gewalt anzutun (er malt etwa ein entfernteres Haus kleiner, als es sich auf den ersten Blick darstellt). Die nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß er die Gegenstände angemessener wiedergibt, als er es durch eine nicht-perspektivische Darstellung vermöchte – weil er deren Relationen zum Schauenden und zu anderen Gegenständen berücksichtigt.« Stierlin will damit deutlich machen, wie sehr der jeweilige Standpunkt entscheidet, wie die Sicht – des außen stehenden Beobachters wie des Konfliktträgers selbst – ausfällt. Davon hängen auch die Technik und die Werkzeuge ab, »mittels derer wir Konflikte zu erfassen und darzustellen suchen«. Er bezieht sich damit vor allem auf die Sprache und formuliert: »Diese Sprache ist einem Teleskop vergleichbar, dessen Positionen und Einstellungen sich ändern lassen. Es bringt jeweils verschiedene Aspekte und Ebenen der Realität (oder dessen, was wir für Realität halten) ins Blickfeld, während es andere ausblendet oder unscharf am Rande verschwinden lässt.« Im Fernsehen sind es der Regisseur und der Kameramann, die bestimmen, was die Zuschauer vor den Bildschirmen zu sehen bekommen. Sie bestimmen Nähe und Distanz, Kameraschwenks hin zur Sensation und weg von der »Panne«; sie gestalten die Realität dessen, was ins Blickfeld darf. Im Hörfunk hingegen »spielen« Moderatorinnen meist eigenhändig auf einer »Orgel« des »Verlautens« – „Lautermachens“ – oder Stummschaltens, können Lachsalven auslösen oder Töne der Bekümmernis oder welche Gefühlsauslöser immer sie sich als Jingle bestellen zu Gehör bringen.
181
Wo lassen wir fühlen? In Talkshows wird üblicherweise Gefühl ein- und Vernunft ausgeblendet. Fürs Gefühl sind die »Betroffenen« zuständig, für die Vernunft die »Experten«. Und die kommen nur bruchstückhaft zu Wort. Kein Wunder – Vernunft hat kaum Unterhaltungswert. Damit wiederholt sich, was auch zu Hause in den Familien abläuft: Es fehlen Überblick über die augenblickliche Problemlage, Wissen über Bewältigungsmöglichkeiten und das Modell, wie man solch eine Problemlösung gemeinsam gestaltet. Experten werden routinemäßig nur aufgefordert, folgende Fragen zu beantworten: o o o
Wie kommt es zu »so etwas«? Warum geht es dem Studiogast so, wie es ihm geht? Was kann man dagegen tun: Bitte geben Sie einen Tipp!
Um »Welt« zu erschließen, muss man »Gefühle, Eindrücke, Wahrnehmungen, innere Zustände, Motivationen, Bedürfnisse, vegetative Überströme usw. ›zum Sprechen bringen‹«, erinnert Stierlin. »Zum Sprechen bringen« bedeutet aber, dass wir, die Beobachtenden, diese Gefühle »miterleben« können. Das ist ein wesentlicher Unterschied gegenüber »zur Sprache bringen« – denn das umfasst nur, dass etwas angesprochen wird, dass über etwas gesprochen wird. Im Slang österreichischer Psychotherapeutinnen heißt das »ein G’schichterl erzählen«. Stierlin meint also den »authentischen«, den echten, unverfälschten Gefühlsausdruck in Sprache, in der Emotion – 182
Gefühlsbewegung – wahrnehmbar und nicht zurückgehalten wird. »Dadurch können wir wahrhaben und mitteilen, was uns schmerzt, bedrückt, bewegt. Wir vermögen Konflikte – in uns selbst oder anderen – zu lokalisieren.« Wird die innere »Bewegung« verborgen, scheint der Mensch bewegungslos, starr, »betoniert«, und andere haben eine geringere Chance, ihn zu verstehen.
Betonierte Menschen Wieder ein Rückgriff auf die Ausdrucksstärke österreichischen Dialekts: »Betonieren« hat darin mehrfache Bedeutung: »Jemand eine betonieren« heißt soviel wie »jemandem eine kräftige Ohrfeige verabreichen«. »Jemand betonieren« hingegen bedeutet, dass man jemanden zum Erstarren gebracht hat – beispielsweise einen Rivalen mit einer so beispiellosen Leistung, dass dieser nur mehr weinend das Weite suchen kann. Ich denke wieder an eine Klientin, Greta, die sich selbst als Masochistin bezeichnete. Die bildschöne Endzwanzigerin war Expertin für Filme. Da konnte sie »mitfühlen«, da konnte sie »Gefühle spüren« – eine Fähigkeit, die ihr im Alltagsleben außerhalb der verdunkelten Säle abging. Greta hatte sich, so lange sie denken konnte, vor ihrem grenzverletzenden Vater dadurch geschützt, dass sie sich steif machte. Obwohl sich der Vater, ein Polizist, anderen gegenüber stets streng, insbesondere gegenüber den Familienmitgliedern, an die Gesetze hielt, hatte er doch eine unaussprechliche Art, anderen »ins Revier zu treten«. So stand er beispielsweise immer wieder in der Tür, wenn Greta aus dem Zimmer gehen wollte. Die körperliche 183
Berührung, die sie keinesfalls wollte, war dadurch unvermeidlich. Im Beruf war sein Dazwischentreten womöglich seine besondere Qualifikation. In der Familie hatte die deutlich sexuell gefärbte Grenzüberschreitung bei seiner Tochter zur Folge, dass ihr jegliche körperliche wie seelische Beweglichkeit verloren gegangen war. Sie war wie einbetoniert. Als sie sich – nach einem Jahr Psychotherapie wieder arbeitsfähig geworden – als Assistentin bei einem Unternehmer bewarb, nutzte dieser ihre noch immer mangelnde Fähigkeit zur Grenzverteidigung, sie zu vergewaltigen. Aus seiner Sicht hieß ihre Bewegungslosigkeit Zustimmung, aus ihrer Abwehr. Ein Jahr erfolgreiche Therapie in einer Viertelstunde zunichte gemacht! Und dennoch ein Neubeginn: Greta erkannte dadurch die bislang verneinte Notwendigkeit, etwas für ihren starren Körper zu tun, und begann ihre schlaffen Muskeln zu trainieren – vielleicht eine nützliche Regression: wie ein kleines Kind zuerst ganz bewusst zu lernen, Körperkraft zu erproben und dann erst den Mund statt Fäuste sprechen zu lassen. Auch durch Beton hindurch können Pflanzen wachsen, ebenso können Menschen Schweigemauern durchbrechen. Aber welch eine Anstrengung bedeutet dies! Wer psychotherapeutische Arbeit kennt, kennt wohl auch die Mühsal, den notwendigen Gegendruck aufzubringen. Möglicherweise ist es der Erwartungsdruck, den Redakteurinnen und Moderatorinnen auf Talkshowgäste ausüben, der vielen hilft, sich aus schweigender Erstarrung aufzurichten. Ist diese Aufrichtung – dieser Versuch zur Aufrichtigkeit – nun aber den Versuch wert oder nicht doch eine Versuchung, bei der nur andere gewinnen, nie man selbst? 184
Missbrauch der Gäste Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen, lautet der Titel eines Buches von Jirina Prekop. Dieser Satz passt oft auch auf die »Laien« in Talkshows. Erwarten sich die einen eine Wegweisung durch die Dynamik der Sendung, durch den Talkmaster, die Experten oder das Publikum, warten andere nur mehr auf das »weg!«. Denn die Dynamik des Sendeablaufs behindert Laien, die durch die Geschwindigkeit – oder die Eloquenz des Talkmasters – »überfahren« werden, an ihrer Selbstäußerung. Es geschieht etwas »mit ihnen«, nicht »durch sie«. Ich weiß selbst von vielen Menschen »wie du und ich«, die sich in Talkshows begaben, dass sie durch ihr Comingout im TV eine Reaktion erzwingen wollten. Und sie erhofften eine Wendung – selbstverständlich zum Besseren. Mit einem Bumerangeffekt rechnet kaum jemand. Als beispielsweise Anfang 1997 der Ehemann der erst kurz zuvor gepriesenen österreichischen Frauenministerin der sexuellen Belästigung einer Bürokollegin beschuldigt war, brachte ihm sein Rechtfertigungsauftritt bei der beliebtesten österreichischen Quotenqueen Kritik von allen Seiten: nicht nur wegen dieses Outings, sondern auch deshalb, weil man ihm unterstellte, mit der neuen Publizität seiner Gattin nicht zurechtzukommen. Er hatte sich zu weit vom Geschlechtsrollenbild »Der Kavalier genießt und schweigt« entfernt. Diese Ambivalenz – ich nenne sie den »Glücksspieleffekt des Medienauftritts« – scheint bei Prominenten zu oft bewusst kalkuliert: Denn sie – oder ihre PR-Berater - wissen genau, dass die »Medienkultur« stärker ist als die »Realkultur«. Ich zitiere aus dem Buch von Noëlle-Neumann: »Medienkultur: das ist die Auswahl 185
von Welt, wie sie die Medien bieten, und soweit die Welt außer Reichweite, außer Sicht eines Menschen liegt, ist es meist die einzige Ansicht von Welt, die er besitzt.« Leider fehlen repräsentative Untersuchungen, wie sich die Personen, die ihr Problem in einer Talkshow eingebracht haben, in unterschiedlichen Zeitspannen nach ihrem Auftritt fühlen. Ich kann daher nur mit aller Vorsicht, um nicht generell etwas zu unterstellen, auf meine persönlichen Wahrnehmungen zurückgreifen: Manche »Gäste« fühlen sich »danach« wie Kinder der Verwandtschaft vorgeführt. Sie spüren, dass ihr Gefühlsausdruck für die Person, die mit ihnen spricht, nicht wichtig ist – so wie dies oft auch bei Eltern ist! –, sondern nur für das Publikum vor den Fernsehapparaten daheim. Viele fühlen sich (Zitate): »beglotzt«, »bloßgestellt«, »wie am Pranger«. Nicht nur vom Saalpublikum – besonders, wenn jemand Bekannter darunter ist –, sondern die Tage danach auf der Straße. Es gibt allerdings auch solche, die sich narzisstisch aufgewertet fühlen. Ich halte sie für eine Minderheit. Und zumindest die, die ich kenne, unterscheiden sich in diesen Größengefühlen kaum von den notorischen Leserbriefschreibern – »Ich steh’ schon wieder in der Zeitung!« –, die auf diese Weise ein durchaus vorhandenes Potential kreativer Gedanken mitteilen wollen, leider aber immer wieder abgewehrt oder verlacht werden und aus diesen narzisstischen Verletzungen heraus Kompensation suchen. Hinter der Fassade des Stolzes verbergen sich nur zu oft alte Wunden von Demütigungen. Der Selbstheilungsversuch über die Showbühne wird nicht gelingen. Er kann die Narben vielleicht kurzfristig kosmetisch abdecken – Heilung erfolgt erst, wenn die ursprüngliche Verletzung freigelegt, gereinigt und an der 186
Luft getrocknet wird. In der Sprache von Sigmund Freud heißt das: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Dennoch hat Voyeurismus nicht nur eine Negativfunktion. Wenn wir etwa an den Satz der Nobelpreisträgerin Mutter Teresa denken, »Die schlimmste Krankheit ist nicht die Lepra oder die Tuberkulose, sondern das Gefühl, von niemand angesehen zu werden, ungeliebt zu sein, verlassen von jedermann«, können wir erahnen, dass es für manche Menschen besser erscheint, sich der Gefahr der Bloßstellung auszusetzen, als in ihrer Isolation zu verharren. Gäste werden aber auch für die Abwehr des Publikums missbraucht: Die Zuschauer im Studio wie die zu Hause an den Bildschirmen können sich nämlich im Pharisäertum suhlen: »Nicht wir haben das Problem – der andere hat es!« Zusehen bedeutet Distanz – was zu nahe ist, sehen wir genauso wenig wie alles, was zu weit entfernt ist. Wie nahe muss einem also etwas gehen, damit es einem nahe geht? Wie treffend muss eine Formulierung sein, damit sie einen betrifft? Damit die »Distanz der Unbetroffenen« (die Formulierung stammt von der Schweizer Journalistin Cornelia Kazis) verkleinert wird? Wieder taucht Ambivalenz auf: Die »betonierten« Menschen brauchen genau diese Distanz, um überhaupt die Spur eines Gefühls zuzulassen – denn sie sind eigentlich so sehr Betroffene, dass sie diese Erkenntnis nicht ertragen könnten. Es braucht viel Stärke, sich seine eigenen Schwachpunkte anzusehen! Und es sind auch diese scheinbar Unbetroffenen – die, die ihre Betroffenheit abwehren –, die insgeheim ängstlich in der Schweigespirale verharren und warten, wie die anderen reagieren, damit sie sich dann von deren Erregung 187
anstecken lassen können. Sie holen sich so ein Pseudogefühl – einen »Kick« –, so wie ein Suchtkranker eine Substanz oder einen prozessualen Ablauf braucht, um dieses ersehnte und oft zugleich auch gefürchtete Erlebnis zu erlangen. Der Kreislauf des Missbrauchs schließt sich oft an dieser Stelle: Wer die nährende Kraft der Zuwendung von Menschen, die einem nahe stehen, nicht kennt und auch nicht erwarten darf, bietet sich oft der »anderen« Zuwendung, der der Neugierigen, an – erhält Energie in Form der voyeuristischen Erregung, wird dadurch zwar für deren Zwecke missbraucht, spielt aber gleichzeitig in diesem Missbrauchsspiel auch eine aktive Rolle. Scheinbar ein symmetrischer Austausch, ein »erwachsener« Kontrakt. Tatsächlich aber ein klassisches Machtungleichgewicht zulasten des Gastes.
Missbrauch des Publikums Und dann gibt es noch den Missbrauch des Publikums. - Wenn etwa einer, der als Vorbild der Jugend für sportliche Lebensweise promotet wird wie der Skiflugweltmeister Andreas Goldberger, der nachweislich betrunken Auto fährt und von dem immer wieder Lüstlingsfotos vor oder zwischen den Beinen von mehr oder weniger entkleideten Tänzerinnen abgedruckt werden, dann noch den Konsum von Kokain vom Bildschirm herab als Dummen-Jungen-Streich verharmlosen will, ist es das Publikum, das sich missbraucht fühlt. - Nicht missbraucht fühlt sich das Publikum hingegen, wenn ein »Familienmitglied« alle Sympathien auf seiner/ihrer Seite hat – Hauptsache, es fällt leicht, schnell 188
und unreflektiert »Recht zu geben«. Das ist beispielsweise immer dann der Fall, wenn jemand sich der »Trauerarbeit« entzieht und stattdessen »agiert«. Von Trauerarbeit sprechen Psychotherapeuten, wenn schockierende Erlebnisse zu verarbeiten sind: Das sind oft Todesfälle, aber auch verschiedenste Gewalterlebnisse, eine missglückte Operation oder die Konfrontation mit einer lebensbedrohenden Erkrankung. Es kann aber auch eine plötzliche Kündigung sein, ein unvorhergesehenes Verlassenwerden – alles, wonach »man nicht mehr so ist wie zuvor«. Trauerarbeit geschieht in Phasen: Nach der ersten, der Lähmung, folgt meist heftige Aktivität, als könnte man das Schicksal umkehren. Dann erstarrt man meist wieder, ist depressiv, traut sich nichts mehr zu – bis die »Rachephase« folgt, in der Schuld bei anderen gesucht wird. Danach sollte der »Neubeginn« eintreten: Das Erlebte wird als Teil der Biographie in das Selbstbild integriert, die Krise ist bewältigt. Viele Menschen richten sich aber auf Dauer in der depressiven Phase ein – suchen also die Energie für den Neuanfang nicht in sich selbst, sondern bei anderen, die sie anjammern. Und wieder andere bekommen so viel Unterstützung in der Rachephase, dass sie diese unaufhörlich »ausagieren« – zahlreiche und durchaus kluge und berechtigte Aktivitäten setzen, die aber letztendlich verhindern, sich mit dem »Verlust« – eines Menschen, der körperlichen Integrität etc. – abfinden zu müssen. Aus psychotherapeutischer Sicht ist es daher problematisch, wenn Seite an Seite mit den Hinterbliebenen Rachegefühle gegenüber den 189
Gewalttätern entstehen – ob das nun der Junge ist, der seine Lehrerin erschossen hat, ein Scheckbetrüger oder ein ungetreuer Ehepartner. Daraus lernt niemand, wie man in solchen Situationen mit den Menschen, die einem Schaden zufügen, »vernünftig« umgehen kann. Man übt nur, was man ohnedies beherrscht: das Stammhirnrepertoire der »blinden« Wut. Bei Menschen, die traumatische Erfahrungen machen mussten, entscheiden sich leider viele Journalistinnen nicht dafür, sie in medialer Ruhe ihre Trauerarbeit machen zu lassen, sondern dafür, mit einer besonderen Reportage oder einem besonderen Interview Profil zu gewinnen; Quoten oder Auflagenzahlen verführen zu Letzterem. Dass dies so bleibt, dafür sorgen viele Chefredakteure mit »Nachdruck«. Aber auch politische Parteien versuchen nachdrücklich, solche Betroffene für ihre Medienwirksamkeit einzusetzen. In Österreich veranstaltete beispielsweise die Freiheitliche Partei in weiten Teilen des Bundesgebietes Podiumsdiskussionen, in denen sich eine, als Unmündige sexuell ausgebeutete, Tirolerin undifferenziert und vehement für »Lebenslang für Kinder schändet« ausspricht. Eine Richterin hingegen, die bei einem Schussattentat im Gerichtssaal schwer verletzt wurde, wird bei ihren agitatorischen Bemühungen um ein Waffenverbot für Privathaushalte wiederum von der Sozialdemokratischen Partei als Paraderednerin eingesetzt. Nun werden meist auch Expertinnen eingeladen, die bei derartigen Diskussionen die Sicht der Wissenschaft einbringen sollen. Damit haben sie die Möglichkeit, Gewaltphänomene nüchtern zu analysieren. Ich konnte aber immer wieder beobachten, dass sie gegenüber »deklarierten« Opfern, die mit ihrer persönlichen Betroffenheit die Sympathien des Publikums zu den 190
Problemlösungen hinlenken, die sie – und die hinter ihnen stehenden Veranstalter – propagieren, auf ungeliebtem Terrain stehen: Eigentlich will niemand wissen, wie es zu einem derartigen sozialen Fehlverhalten kommt oder wie man selbst eigenverantwortlich vorbeugen könnte, sondern man will Rache geübt sehen und das womöglich spektakulär.
Missbrauch der Expertinnen Missbrauch findet aber auch an »Expertinnen im Studio« statt. Nicht nur, dass sie oft reine Alibifunktion haben – damit die Produktionsleitung sagen kann, man habe ohnedies auch für Aufklärung gesorgt und damit einen guten Zweck erfüllt. Es gibt noch andere »Familiengeheimnisse« in der Familie Psychotalkshow. Expertinnen werden zur Kuppelei verführt. Je billiger eine Talkshow produziert werden soll, desto weniger werden Agenturen mit dem Auftreiben passender »Betroffener« beauftragt. Um Seriosität bemühte Produktionen erkennt man daran, dass sie mit Themenangabe inserieren. So stellen sie zumindest einen Ansatz von »informed consent« her. Die Bezeichnung »informed consent« wird in der Forschung rund um sexuelle Ausbeutung von Kindern benützt, um die Voraussetzung zu bezeichnen, dass sexuelle Beziehungen nur dann gewaltfrei angesehen werden, wenn alle Beteiligten denselben Wissensstand besitzen; bei Kindern ist dies nie der Fall – denn kein angeblicher »Kinderfreund« sagt dem Kind: »Stimmst du zu, dass ich jetzt etwas mit dir mache, was dir möglicherweise überhaupt nicht gefällt, dir wehtut, dich verletzt und noch jahrelang nachwirkt?« 191
Es gibt aber auch Redaktionen, die von Expertinnen erwarten, dass sie ihre Klientinnen »mitbringen« – dass sie sie der Show quasi »zuführen«. Als ich an der Universität Salzburg »Psychotherapeutische Kommunikation« für angehende Publizistinnen las und so ziemlich alle Medienprodukte mit dem Etikett »Psycho–« kritisch unter die Lupe nahm, installierte der ORF seine ersten Psychotalkshows. Das war im März 1995. In einem Interview für das Nachrichtenmagazin profil berichtete ich über diese Lehrtätigkeit, und auch über meine eigenen Erfahrungen mit TV-Anfragen, ob ich nicht »Betroffene« wüsste – ich dürfte dann auch in die Sendung kommen. Meine Aussage, dass ich in einer Woche von drei verschiedenen Redaktionen zu meinem Spezialforschungsgebiet – sexuelle Gewalt – kontaktiert worden war, hatte ich auch in meiner Vorlesung thematisiert. Nach Erscheinen des Artikels wurde ich sofort zur Chefredakteurin einer dieser täglichen Sendungen, in der ich einmal monatlich als Expertin auftrat, zitiert: was mir denn einfalle, so das eigene Nest zu beschmutzen. Mit ähnlichen Argumenten werden Kinder, die sich einem Misshandlungsversuch widersetzen, eingeschüchtert, keinem etwas von diesen Vorkommnissen zu erzählen: »Wenn du etwas sagst, wird sich deine Mutter zu Tode kränken – und das willst du doch nicht?« Häufig wird auch versucht, Expertinnen mundtot zu machen. Wieder ein eigenes Erlebnis: Zwei Jahre nach dem ersten Rüffel wurde in der gleichen Zeitschrift aus einer meiner wissenschaftlichen Publikationen methodische Kritik an einem Medienstar der oben erwähnten Sendung, an der ich gelegentlich bescheiden mitwirkte, zitiert. Diesmal wurde mir gar nicht mehr die 192
Möglichkeit einer Aufklärung geboten – die Chefredaktion verzichtete auf meine weitere Mitarbeit. Für mich persönlich kein Problem – wenn ich Öffentlichkeit will, habe ich sie von meinem Beruf aus, vor allem als Universitätslehrerin. Dennoch will ich den Konflikt, der sich für Expertinnen ergeben kann, benennen: den Mund halten, um im Medium auftreten zu »dürfen« – oder der berufsspezifischen Ethik verpflichtet bleiben und nicht schweigen. Aus der Familienarbeit kenne ich Parallelen: Aus der Verwandtschaft wird Druck gemacht, sich alles gefallen zu lassen, ohne zu protestieren. Ein Beispiel: Britta versucht zu verhindern, dass ihre alkoholabhängige Schwägerin die ganze Familie tyrannisiert. Als diese wieder einmal ihre Geschwister und ihre Eltern samt Partnern und Kindern zu einer gemeinsamen Urlaubsreise einteilen will, wer mit wem in welchem Auto fährt, wer mit wem das Zimmer teilt, wer wie viel zu bezahlen hat – nämlich alle mehr als sie –, wagt Britta nach fünfzehn Jahren den ersten Widerstand: sie fände es nicht richtig, dass andere quasi »vergewaltigt« würden. Sofort kommt der nächste Gewaltakt: »Gut, dann darfst du nicht mehr mitfahren!« Expertinnen werden aber auch als Schutzschild missbraucht. Dazu wieder ein Beispiel aus meinem Erfahrungsschatz: Auf Wunsch einer meiner Klientinnen, einer Aktivistin der Kinderschutzbewegung, hatte ich sie in eine Talkshow begleitet, in der sie als Opfer Zeugnis ablegen wollte. Sie bat mich um meinen psychischen Beistand, da sie dieses Outing als wichtigen Teil ihrer Angstbewältigung ansah. In dieser Sendung traten noch zwei »Betroffene« auf, die nicht meine Klientinnen waren, obwohl ich deren Fälle flüchtig kannte. Da es sich um eine 193
Aufzeichnung handelte, bat mich der Chefredakteur, weil er wusste, dass ich von meinem Ursprungsberuf Juristin bin, Veto einzulegen, wenn eine der »Betroffenen« etwas sagen sollte, was Schadenersatzansprüche für die Produktionsfirma nach sich ziehen könne. Das war auch bei einer der für mich fremden Frauen der Fall. Ich wies darauf hin, worauf die junge Frau einen Wutanfall bekam und von ihrer ebenfalls anwesenden Therapeutin beruhigt werden musste. Nach der Ausstrahlung wunderte ich mich, wieso ich mit Protesten der Familienangehörigen bombardiert wurde. Die Aufklärung erarbeitete ich mir erst viel später: Der Chefredakteur hatte bei jedem Angriff auf mich verwiesen – ich wäre »Konsulentin« dieser Sendung. Das stimmte überhaupt nicht. Ich hatte weder diese Aufgabe noch einen diesbezüglichen Vertrag, geschweige denn eine Entlohnung. Jahre später wurde mir sogar vertraulich mitgeteilt, ein Spitzenbeamter blockiere mich, weil ich als »Konsulentin« dieser Sendung nicht verhindert hätte, dass sein Amt kritisiert würde. Expertinnen müssen also auch damit rechnen, dass ihnen ohne ihr Wissen Verantwortlichkeiten zugesprochen werden, die sie nicht haben – wieder eine Parallele zum klassischen Verteidigungsverhalten von Sexualstraftätern vor Gericht.
Innen – Außen »Um die Welt zu erschließen und Konflikte zu lokalisieren, müssen wir weiter sprachlich differenzieren und Unterschiede artikulieren«, fordert Helm Stierlin. Diese Differenzierung präzisiert er in Unterschiede wie die zwischen o innen und außen, 194
o o o
Phantasie und Realität (bzw. dem, was wichtige Andere für Realität halten), meinem Erleben, meinen Bedürfnissen und meinen Ideen einerseits und anderem Erleben, anderen Bedürfnissen und anderen Ideen andererseits.
Die Erschließung und die Lokalisierung von Konflikten misslängen, wenn wir zu wenig differenzierten und abgrenzten. »Dann nivelliert sich unsere Welt, wird konturlos, und Konflikte bleiben verborgen, im Untergrund.« Ist nun aber die Welt, die ein Talkmaster erschließen will – die Welt, die er sieht –, die gleiche wie die des jeweiligen »Gastes«? Sie kann es nicht sein. Selbst wenn sich der Talkmaster bemühen würde, wird sie es wohl nie vollständig sein – denn der Talkmaster muss vor allem Neugier verkörpern, deswegen nämlich, um die »Melodie der Neugier« auf die Zuschauer zu übertragen. Er muss das Flair von Spannung oder pseudointellektuellem Interesse »über den Schirm bringen«. Damit muss er oder sie aber notgedrungen außerhalb der Welt der Problemträger stehen. Diese professionell-journalistische Neugier birgt die Gefahr in sich, dass der Talkmaster zum Verführer wird: Er oder sie verleitet in diesem Fall seinen Gast dazu, o o o
als braves Kind Auskunft zu geben (»Wenn man dich fragt, musst du höflich Antwort geben!«), als kokettes Kind Aufmerksamkeit zu genießen (»Ich bin im Fernsehen!«), sich einreden zu lassen, das alles mache »Spaß« und 195
o
o
o
o
sei daher moralisch einwandfrei (»Du brauchst keine Bedenken haben – wenn ich dir sage, das ist o.k., dann ist es o.k.!«), oder in eine Rechtfertigungsposition zu gleiten (»Endlich kann ich sagen, wie es wirklich ist! So glaubt mir doch!«), sich im Versuch der Selbstkontrolle zu blockieren (»Lass dich nicht ausfragen! Denk immer daran: Was werden die Leute sagen!«) oder Selbstkontrolle – »die Nerven« – zu verlieren, dazu zähle ich auch, in eine Art »Showrausch« zu verfallen (analog dem »Blutrausch«), im besten Fall noch als Mit-Spieler Show zu machen, oder sich einfach für Geld zu prostituieren – denn wir vergessen nur zu gerne: Für viele Menschen ist der »Spesenersatz« bereits ein Traumeinkommen.
Machtspiele Ausfragen gehört ebenso zu den klassischen Beratungsund Gesprächsführungsfehlern wie auch’ o o o o o o o
Tipps erteilen (»Da machen Sie am besten …«), Drängen (»Nun sagen Sie schon …«), Moralisieren (»Aber das kann man doch nicht machen!«), Dogmatisieren (»Das ist doch eindeutig …«), Diagnostizieren (»Ja, das kennen wir, das kommt von …«), Interpretieren (»Was Sie da sagen, bedeutet …«), Generalisieren (»Alle …«, »Immer …«), 196
o o o o o o o
Identifizieren (»Ah, das kenne ich auch von mir selbst …«), Partei ergreifen (»Sie haben ja ganz Recht …«), Hinwegtrösten (»Machen Sie sich nichts draus, das wird schon wieder!«), Dramatisieren (»Das ist ja entsetzlich!«), Bemitleiden (»Oh, das tut mir aber Leid …«), nur rein inhaltlich, das heißt problembezogen Reagieren (»Warum haben Sie so gehandelt?«), und Suggerieren (»Wenn Sie das tun, dann wird …«, »Sie haben doch sicher …«).
Gewiefte Talkmaster überspielen den Gefahrenbereich, zu investigativ zu fragen, indem sie sich »cool« geben, vielleicht sogar indem sie zarte Prisen von Desinteresse in ihre Körpersprache, ihren Blick oder Tonfall einfließen lassen. Draufgängerinnen bedrängen ihre Studiogäste eher und ernten dann meist auch gequälte Höflichkeit. Die grandiose Leistung des österreichischen Pseudotalkmasters Hermes Phettberg besteht hingegen darin, dass seine als Persiflage zu Gottschalks »Late Night Show« gedachte »Nette Leit Show« nicht zu einer Karikatur verkam, sondern zu einer echten Demaskierung von Sprachlosigkeit wie auch Lüge führte. Meines Wissens war ich sein einziger Gast – »Gästin« –, der sein Spiel nicht mitspielte, sondern gegendemaskierte: Was verletzend ist, muss als verletzend angesprochen werden. Nur so kann man Einhalt gebieten. Ich nenne das »Exorzismustechnik«. Perfekte Talkmaster schaffen es hingegen, so intim wie ein wirklich guter Freund, eine wirklich gute Freundin von gleich zu gleich zu kommunizieren, ohne gekünsteltes, 197
aber mit echtem Interesse, ohne gespielte Empathie, dafür mit authentischer Offenheit, sich auch seelisch berühren zu lassen, und vor allem mit deutlich erkennbarer Achtung vor dem Visavis.
Der Archetyp der Unschuld Nehmen wir nun aber an, ein Meister, eine Meisterin einer Psychotalkshow wäre weder der Todsünde Gier, Geiz oder Stolz anheim gefallen, sondern ruhte in sich; er oder sie könnte Heilung – der Problemträger wie auch des Publikums – nur auf die Art bewerkstelligen, wie es in vielen Märchen und Legenden von den Vertreterinnen des Archetyps der Unschuld vorgeführt wird: indem man, ohne sich beirren zu lassen – auch wenn links und rechts die Monster ihre Zähne fletschen –, schnurstracks auf die Tür zugeht, hinter der der »bewachte« Schatz liegt. Allerdings bezweifle ich, dass jemand von den derzeitigen Medienhäuptlingen einen Moderatorenjob anvertraut bekäme, der oder die frei ist von den Todsünden des trägen Verzichts auf Selbstbehauptung, der zornigen Aggressivität, der schamlosen Unkeuschheit oder der neidvollen Rivalität. Und wenn doch, so befürchte ich weiter, würde der Quotendruck so viel Stress bedeuten, dass sich der- oder diejenige so verkrampft und verhärtet oder so auf Lockerheit trimmt, dass die Echtheit bald verloren geht. So, wie auch in den Familien der Leistungsdruck, eine erfolgreiche Familie sein zu müssen, so stresst, dass die Liebe dabei verloren geht. »Dort, wo die Angst ist, geht es lang!« sprach sich einer meiner liebsten Klienten immer wieder Mut zu. Das gilt für uns alle – für Eltern wie für Elternersatzfiguren, seien 198
es nun Psychotherapeuten oder Talkmaster. Aber direkt in die »Höhle des Löwen«, in das »Schattenreich« oder wie der Tabubezirk auch immer heißen mag vorzustoßen, heißt nicht, einseitig brutal die »Sache auf den Punkt zu bringen«. Es heißt vielmehr, »aus Mitleid wissend« die Parzivalfrage zu wagen. Sollten es wirklich nur Kinder und Narren sein, die die Wahrheit sagen? Oder wollen wir es nicht vielleicht doch wagen, zu »werden wie die Kinder«, ohne Angst zu haben, einen Narren aus uns zu machen?
199
ENTTABUISIERUNG
F
amilienglück erzielt man nicht dadurch, dass man andere bedrängt: »Sei so, wie ich dich haben will!«, oder dass man anderen einredet: »Es ist alles so, wie ihr es haben wollt« – nämlich konfliktfrei und ohne die Notwendigkeit, jemandem beizustehen. Jede und jeder von uns ist, wie sie oder er augenblicklich ist: immer an einer Schwelle, immer vor einer Entscheidung, wie sie oder er weiter vorgehen will. Auch auf weiteres »Vorgehen« zu verzichten ist ein Vorgehen. Nur wird dadurch keine Grenze überschritten – außer vielleicht die bisherige Grenze der Belastbarkeit. Aussprechen, was einen belastet, oder ansprechen, wenn einen jemand belästigt, entlastet. Zumindest fürs Erste. Denn oft folgt die befürchtete Reaktion: Man wird nicht ernst genommen, gedemütigt, bedroht, beschimpft. Es wird sozusagen massiv abgeblockt – das Tabu verteidigt. Klar und unmissverständlich ausgesprochen würde die Botschaft lauten: »Ich möchte dir eine Grenze setzen – bitte geh nicht weiter, du löst bei mir Angst – Scham, Wut oder was auch immer – aus!« Dann wäre dieses Signal des Zumachens in einer Sprachform mitgeteilt, die respektabel wäre – vorausgesetzt, der Empfänger der Botschaft ist selbst kein Gewalttäter, sondern offen, Selbstäußerungen anzunehmen. Und genau darum geht es: um Selbstäußerung, was heißt, im eigenen Revier zu bleiben und das Revier des anderen nicht zu verletzen. Selbstunsichere Menschen verstehen Selbstäußerung häufig als Selbstentäußerung – zu viel von sich herzugeben –, was nur bedeutet, sie fühlen sich durch die Mitteilung ihrer Gedanken, Gefühle, 200
Empfindungen oder Phantasien »entleert«. Manche werden jetzt vielleicht widersprechen und meinen, es ginge doch vielmehr um das Gefühl, bloßgestellt zu sein – ohne Schutzpanzer –, und das mache so verletzlich.
Schutzhüllen Demgegenüber sage ich: Schutzhüllen sind sinnvoll, wenn es darum geht, physische Umweltbedrohungen abzuhalten. Im Urwald sollten Europäer nicht barfuss gehen, denn sie kennen die Gefahren nicht, die am Boden lauern; ebenso lohnt in Grippezeiten durchaus ein Mundschutz; wenn man in ein brennendes Haus hineingeht, sind Schutzanzüge sinnvoll; und beim Polizeigroßeinsatz mögen Schutzschilder berechtigt sein. Im Kontakt mit anderen Menschen haben sich aber viele auch einen Schutzpanzer zugelegt und der besteht o körperlich als »Muskelpanzer«, o seelisch als Mangel an Mitgefühl bis zur absoluten Fühllosigkeit und o geistig im Festhalten an Vorurteilen: Man will gar keine zusätzlichen oder gar neuen Informationen. Muskelan- und -verspannung zählt zur »Stammhirnreaktion« des Sich-Totstellens: Der Blick wird nach innen gekehrt – Energie von der Außenwelt abgezogen –, die Zähne zusammengebissen, damit nur ja kein Laut entweichen kann, die Schultern werden hoch- und der Kopf eingezogen, die Luft wird angehalten – es wäre ja auch gefährlich, wenn einen hörbare Atemzüge verraten 201
könnten - und das Zwerchfell stillgehalten: Oft folgt auch die Verkrampfung der Bauchdecke, der Hintern wird eingezogen und die Schenkel werden steif gehalten, damit nur ja nicht der Fluchtreflex übermächtig werden kann, denn bei Flucht droht die Gefahr, hinterrücks getroffen zu werden. Wir sprechen oft vom »verschlagenen Blick«: Er ist vor allem durch ein chronisches Zusammenziehen der Lider gekennzeichnet, was zu einer Verkleinerung des sichtbaren Augapfels führt. Im Gegensatz zu »hasserfüllten« Augen fehlt aber dieser besondere Gefühlsausdruck. Wenn man Kinderaugen betrachtet, fällt der Unterschied zwischen dem offen-vertrauensvollen Blick und dem zurückgenommenen Misstrauensblick in all seinen Variationen auf – wenn man sich die Mühe macht, darauf zu achten. Die meisten Menschen machen sich die Mühe nicht – nicht einmal die nächsten Familienangehörigen. Dazu müssten sie nämlich »aufmachen« – sich betreffen lassen. Statt aber »gehörig« – nämlich bereit, hinzuhören - zu reagieren, entschließen sich vor allem gestresste Eltern zu einer Präventivattacke: »Was ist denn schon wieder los? Hast du was angestellt?« und nicht: »Ist dir etwas Unangenehmes zugestoßen?« Obwohl Familie als Leitbegriff für intimes Zusammenleben hoch emotionalisiert ist, ist sie eher der Ort, an dem Gefühle aberzogen werden. »Reiß dich zusammen!«, »Steh nicht so blöd herum!«, »Lass mich in Ruhe!«, »Halt deinen Mund!« und »Sei nicht so eine Heulsuse!« sind nur einige der Standardsätze des alltäglichen Familienumgangs, mit denen Kommunikation und Näher kommen behindert werden. Besonders die Gesichtszüge des anderen als dumm oder hässlich zu bezeichnen, wenn sich darin ein unwillkommener Ausdruck abbildet, führt zur Blockade der augenblicklich 202
aktivierten Gesichtsmuskulatur und führt oft dazu, dass »die Ohren steif gehalten« werden und damit der Gefühlsfluss abgewürgt wird.
Dressurakte Meist genügt ein starrer Blick, um den anderen zum Schweigen zu bringen. Wenn der nicht reicht, folgt der Fußtritt unter dem Tisch. Immer wieder erfahre ich von diesen Demütigungen, die ein Ehepartner dem anderen – Kindern sowieso – in Gesellschaft zufügt, wenn er den Redefluss des oder der anderen zum Stillstand bringen will. Dabei gäbe es auch hierfür achtungsvolle Sätze wie »Ich finde es nicht richtig, das jetzt und hier zur Sprache zu bringen! Bitte besprich das erst mit mir allein!«. Es fehlt aber wieder das Modell. Noch gravierender sind die Dressurakte, mit denen Kindern, aber auch Erwachsenen die Wahrnehmung von Gefühlen ausgeredet wird: »Mammi, was hast du denn? Warum weinst du?« – »Ich weine doch nicht, ich habe nur etwas ins Auge bekommen!«, und das nach einer durchstrittenen Nacht, wobei anzunehmen ist, dass das Kind nicht nur die Spannung in der Atmosphäre – die Gewitterstimmung – spürt, sondern auch Ohrenzeuge der Paar- oder Familienkrise geworden ist. Je weniger „ichstark“ die Person ist, der immer wieder ihre Gefühle ausgeredet werden, desto mehr wird sie an die Kompetenz der »Mächtigen« glauben – statt an die eigene. Das Zauberwort in diesem Fall hieße: »Es ist mir unangenehm, dass du mich auf meine Tränen ansprichst. Ich habe derzeit Kummer und will nicht darüber reden!« Die dritte Steigerungsstufe ist die Indoktrination: Etwas wird als »Wahrheit« benannt und fixiert – es darf daran 203
nicht mehr gerüttelt werden. Dass sich Sichtweisen ebenso wie Personen ändern können, wird nicht mehr wahrgenommen. Da bekommt ein Familienangehöriger eine Etikettierung und die bleibt ihm, auch wenn er oder sie sich noch so bemüht, zu zeigen, dass es sich um eine Interpretation handelt, die mehr über die Denkweise der Benenner aussagt als über die Benannten. Und dann wird diese »Übersetzung« immer wieder wiederholt, damit nur ja keine Änderung eintritt, man müsste ja sonst zugeben, dass man sich entweder geirrt hat oder dass man ganz bewusst versucht hat, jemanden in Misskredit zu bringen. Frieda, fast zwanzig Jahr e jüngere zweite Ehefrau eines Toppjournalisten und leidenschaftliche Mutter von vier Jungmachos, begeht einen Fehltritt: Auf einer Bergtour in der Tatra, bei der sie für eine Fernsehserie auf Motivsuche war, lässt sich die promovierte Völkerkundler in in einer regnerischen Sturmnacht vom beigeordneten Kameramann erst kameradschaftlich, dann immer mehr »wärmen«, bis sie sozusagen »in Flammen steht« … Einmal. Nie wieder. Leider liest ihr Ehemann wie gewohnt ihre Tagebuchaufzeichnungen, bevor sie sie »auf Drehbuch« überarbeitet. Es folgt sein schmerzvoller Aufschrei: »Du Luder! Du Schlampe!«, auf den sie sogleich schuldbewusst herbeigestürzt kommt, um zu beschwichtigen und zurechtzurücken. Vergebens. Er lässt es nicht bei dieser Fehlhandlung bewenden – der Name bleibt ihr und wird immer wieder wiederholt, noch lange, nachdem die Serie schon gesendet und vergessen wurde. Er wiederholt ihn vor den fassungslosen Söhnen, die nichts Luderhaftes an ihrer unternehmungslustigen Kumpelmutter entdecken können, wiederholt ihn auch vor der restlichen Verwandtschaft, die heimlich zu forschen beginnt, was die Schwester, Nichte, Tante angestellt haben 204
könnte, sogar in der Kollegenschaft. Wie es ihr eigentlich ergangen ist, was sie gefühlt hat und jetzt fühlt, interessiert ihn genauso wenig, wie er bereit ist, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen und offen zu legen. Er macht zu und lässt nur mehr Schimpfworte heraus. Er »verschiebt« seine Aggressionen »nach oben«. Mit dem »unten« – dort, wo ihn Konkurrenzängste quälen – braucht er sich dann nicht zu befassen. Die glaubt er durch Beweise seiner Manneskraft beseitigen zu können. Erst als »tote Hose« Dauerzustand ist, dämmert ihm, dass er etwas falsch machen dürfte: Er gibt sich nicht die Zeit, seine Verletzung wahr und anzunehmen und – auszudrücken. Je mehr man zurückhält – physisch, psychisch, aber auch geistig –, desto voller fühlt man sich. Völlegefühle können angenehm sein oder unangenehm. Aber damit man Überfülle als unstimmig erkennt, braucht man ein sicheres Gefühl für den Idealzustand – die Mitte zwischen Volle und Leere. So wie es gesundheitsfördernd ist zu fasten, wenn man sich überessen hat, oder in unserer reizüberfluteten Konsumwelt auch regelmäßig geistig für Ruhe, Stille und Leere sorgen sollte, so ist auf der Familien und Partnerebene Beziehungsfasten sehr zu empfehlen. Viele Menschen haben aber eingetrichtert bekommen, dass Nähebeziehungen auch bedeuten, immer und überall ganz nah zu sein. Nur das Ansinnen nach ein bisschen Freiraum oder Freizeit – ein Schritt der Distanzierung, kein Seitensprung – kann dann schon einen Tabubruch bedeuten. Ich erinnere mich dabei an einen Seminarteilnehmer, der aktuell sein Scheidungsverfahren durchzustehen hatte. Auf meine Frage, was konkret der Scheidungsgrund wäre, wand er sich eine Weile und sagte 205
dann treuherzig: »Wissen Sie, meine Frau ist so eine: Da gehst her, und da bleibst!«
Nähe? Die Selbstwahrnehmung satter Unbeweglichkeit wird oft als Idealzustand von Liebe interpretiert. Dabei ist es Abhängigkeit, nicht einmal so sehr von den Personen, mit deren Nähe diese Gefühle autosuggestiv verbunden werden, sondern von der leibseelischen und geistigen Fixierung an eben diesen Gefühlszustand. Bei der geringsten Unterschreitung dieses Zustands folgen unmittelbar Entzugserscheinungen. Aus psychotherapeutischer Sicht wäre da die Auseinandersetzung mit den darunter liegenden Ängsten vor Verlassenwerden, Nicht-Attraktivsein und Isolation fällig. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist es aber gar nicht nötig, nach frühkindlichen Traumen oder gestörten Beziehungsmustern zu suchen: Menschen haben auch ein Recht darauf, nicht absolut perfekt sein zu müssen, und sie haben das Recht, Wünsche zu haben und diese zu äußern. Die anderen haben ebenso das Recht, Wünsche nicht erfüllen zu müssen. Es genügt, Wünsche als Wünsche zu erkennen und nicht als Anspruch auf Verwirklichung. In ihrem Buch Die Flucht vor der Nähe unterscheidet die amerikanische Suchtexpertin Anne Wilson Schaef Sexsucht, Romanzensucht und Beziehungssucht. Hinsichtlich Letzterer schreibt sie: »Bei nahezu allen Verhaltensmodellen, die uns zum Aufbau einer Beziehung zur Verfügung stehen, handelt es sich um Modelle von Suchtbeziehungen.« Für sie ist klar, dass ein von Beziehungen abhängiger Mensch in einer dysfunktionalen 206
Familie groß geworden ist, und meint auch, dass solche dysfunktionalen Familien die Norm unserer Gesellschaft sind. Wenn man dysfunktional mit »hat nicht die Funktion erfüllt, die erwartet wurde« übersetzt, stimme ich ihr zu. Sie listet allerdings konkret auf: feindselige, Furcht einflößende, gewalttätige, aber auch schlicht langweilige, perfekte Familien, solche, die Eindruck schinden wollen, und solche, die ihre Kinder nicht auf die reale Welt vorbereiten, sondern zu Prinzen und Prinzessinnen erziehen, was wohl heißen soll: mit der Aussicht, ewig von Bediensteten umgeben zu sein, die einem alle Widrigkeiten aus dem Weg räumen. Möglicherweise haben Familien früher so zusammengehalten, dass sie Widrigkeiten Paroli bieten konnten. Ich bezweifle es, wenn ich an den Terror von Fürsten, Grundherren, Parteien oder Armeen und armeeähnlichen Organisationen denke oder an die Familienspaltungen aufgrund von Begeisterung für oder Widerstand gegen faschistische Regimes. Heute genügt oft der Streit um das abendliche Fernsehprogramm, dass nicht mehr miteinander geredet, sondern stumm ins eigene Zimmer zum eigenen Fernsehapparat gegangen wird. Bei der heutigen Technisierung von Haushalt und Umwelt sind Eltern bereits mit der gesetzlich geforderten Beaufsichtigung von Kleinkindern überfordert; die Sicherung der Existenzgrundlage verlangt überwiegend den Arbeitseinsatz aller Erwerbsfähigen – und wenn jemand aus dem Erwerbsleben herausfällt, bedeutet das in einer Zeit, in der der Wert eines Menschen primär an seiner Konsumkraft gemessen wird, solch eine Verletzung des Selbstwertgefühls, dass Kompensationsversuche fast notgedrungen scheitern müssen. Die Schere zwischen heiler Fernsehfamilienwelt und Wirklichkeit geht immer 207
weiter auseinander …
Grammatik der Verständigung Welche »Funktion« kann man also heute noch von Familien erwarten – außer der, Sprache zu vermitteln? Beispielsweise die Bereicherung mit einem »Sprachschatz«. Darunter verstehe ich aber nicht die übliche Interpretation dieses Wortes, nämlich viele, womöglich fremd- oder fachsprachliche, Dominanz sichernde und daher eher kommunikationsverhindernde Worte zu wissen. Im Gegenteil, es geht mir um Verzicht auf Dominanz - also um eine »Grammatik der Verständigung«: um einen Satzbau und allenfalls Präzisierungen, die dazu beitragen, dass einen die andere Person überhaupt verstehen kann; bei jeder Aussage darauf zu achten, welche Missverständnisse ausgelöst werden könnten, braucht ziemlich viel Verstand – und auch die Bereitschaft, überhaupt verstanden werden zu wollen. Und selbstverständlich die eigene Bereitschaft, die andere Person ebenso zu verstehen. Daran mangelt es aber kräftig und das keineswegs nur in den unteren Sozialschichten: In unserer heutigen Piktogrammgesellschaft ist man oft erst »in«, wenn man mediengerechte »Sager« von sich gibt. Die originelle Formulierung zählt dann mehr, unbesehen der Verunglimpfungen oder gar Verletzungen, die sie bei Gesprächspartnern – oder Personen, die inhaltlich angesprochen werden - auslöst, als das Bemühen, die eigenen Überlegungen und Ziele klar zu machen. Der Adressat der Aussage ist dabei oft gar nicht der Gesprächspartner – und noch weniger die Gesprächspartnerin, die oft nur als Stichwortbringerin für den narzisstischen Monolog gebraucht wird –, sondern ein 208
anwesendes oder, wie bei Auftritten in audiovisuellen Medien, phantasiertes Publikum. Eine weitere Funktion der Familie besteht darin, einen »familiären Ton« und, so meine ich, partnerschaftlichen – unterstützenden – Gesprächsstil zu gestalten: Auf diese Weise werden nicht nur Rahmenbedingungen für Vertrauen geschaffen, sondern auch Modelle, wie man solche herstellt. Für die erste Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts mag es noch gereicht haben, starre Regeln autoritären Krisenmanagements, wie Schweigegebote, Isolieren oder Wegsperren, zu praktizieren – oder Krisen überhaupt zu verbieten, egal, wie die Betroffenen damit fertig würden; selbst eine Problemlösung durch Suizid war vielen mit dieser Geisteshaltung willkommener als die Konfrontation mit einem/r Problemträgerin. Ich erinnere nur an den »Gang ins Wasser«, den viele unfreiwillig schwanger gewordene Frauen und Mädchen als einzigen Ausweg »aus der Schande« sahen. In der Mediengesellschaft der Millenniumswende ist Schweigen, Verschweigen obsolet: Wegschauen bzw. weghören wird unmöglich, wenn einem tagtäglich das eigene Betroffensein optisch und/oder akustisch vorgeführt wird. Und wo man nicht mehr damit rechnen kann, dass andere die altgewohnte Geheimhaltung einund sich damit zurückhalten. Gespräch bedeutet immer ein ansprechendes, zuhörendes Du und damit eine andere – mag sein, in die gleiche, mag sein, in die gegenüberliegende Blickrichtung schauende – Sichtweise.
209
Der Konflikt ist der Vater aller Dinge So übersetze ich den heraklitschen Satz »Polemos pater panton«: Polemos heißt für mich nicht von vornherein Krieg – der ist nur eine Form von Konfliktaustragung. Konflikte sind im Zusammenleben unvermeidbar. Wenn wir so nahe kommen, dass wir einander berühren körperlich wie seelisch –, zeigt sich, ob wir uns aneinander »reiben«, uns aneinander »schmiegen«, uns anpassen oder wieder auseinander streben. Ob das dann jeweils angenehm oder unangenehm, spannungsgeladen oder öde ist, möge jede und jeder für sich bewerten, immer wieder neu, und sich dieser Entscheidung gemäß verhalten; gerade wenn man viel und lange Zeit miteinander verbringt, besteht Gefahr, dass seinerzeitige Entscheidungen, die längst revidiert gehörten, der Bequemlichkeit halber aufrechterhalten werden. Es ist weniger anstrengend, auf Entwicklung zu verzichten, als sich aufzurichten, aufrecht zu stehen, sich zu exponieren, eventuell gar zu gefährden. Ein Beispiel, wie schwer es ist, sich räumlich – physisch nahe zu sein, aber zeitlich – gedanklich – »noch« in Distanz bleiben zu dürfen, bietet Helfried. Als der Fünfzigjährige seinen Job als Technischer Direktor einer Baufirma verlor, gelang es ihm, dies ein halbes Jahr vor seiner Ehefrau zu verbergen. Um sich Stressgespräche und vor allem Kritik und Besserwisserei zu ersparen, gesteht er später in der Paartherapie, jeden Tag ging er zur gewohnten Zeit außer Haus; er musste ohnedies viele Informationen einholen, Studienkontakte erneuern. Erst als die schlechte Jahreszeit unleugbare Spuren auf seiner 210
Kleidung hinterließ, konnte er seine Tarnung nicht mehr aufrechterhalten. Jetzt gab er an, sich selbständig gemacht zu haben, und verschwand den ganzen Tag im Arbeitszimmer und hinter seinen Computern. Käthe, seit wenigen Jahren erst seine Frau, lauerte in diesen Situationen vor seiner Tür, trat unter allen möglichen und unmöglichen Vorwänden ein, fand aber keinen Zugang zu dem schweigsamen Eigenbrötler. Schließlich »fand« Helfried wieder einen festen Arbeitsplatz – in fünfhundert Kilometer Entfernung. Er wurde nicht einmal Wochenendpendler – zu anstrengend und ein zu großer Zeitverlust. »Ich brauche einfach Zeit zum Nachdenken«, konnte er später sein Verhalten »erklären«, »aber sie will immer was von mir.« Für Käthe war er der »Muffel«, der »Stummerl«. So bezeichnete sie ihn auch vor allen Bekannten. »Kannst nit reden?«, fuhr sie ihn an, wenn er erst zu überlegen begann, ob er etwas sagen wolle. »Ich will mir alles erst in Ruhe überlegen dürfen, bevor ich damit herauskomme!«, verteidigte sich Helfried ärgerlich. Käthe darauf: »Wenn ich warte, bis du dir was überlegt hast, bin ich gestorben!« Oft liegt es daran, dass einfach nicht die individuell erforderliche Zeit zur Gedanken- und Sprachformung genommen oder gegeben bzw. respektiert wird und damit auch die – bewusste – Entscheidung, noch nicht zu sprechen. Bei kleinen Kindern kann man oft gut beobachten, wie ihr Stottern verschwindet, wenn man als Zuhörerin einfach die Geduld aufbringt, ihnen zu demonstrieren, dass man bereit ist, sich die Zeit zu nehmen, ihnen zuzuhören. Im Berufsleben zählt Verweigerung des respektvollen Zuhörens zu beliebten Mobbingstrategien: Damit bringt man andere leicht zur 211
Verzweiflung und kann sie dadurch elegant »hinausekeln«. So kann man auch Konflikte lösen – indem man jemanden »in die Flucht schlägt« und den Krieg siegreich beendet. »Schon wieder bin ich Sieger!« Stammhirnniveau. Was bleibt, ist der »Name«, mit dem »auf die Schnelle« verbal attackiert wurde – »Aber ich habe das doch angesprochen!« –, echter Austausch von Gedanken, Gefühlen, Empfindungen und Phantasien wird aber vermieden. Die Aufgabe der Familie sehe ich primär darin, die Entwicklung des Kindes vom Stammhirnniveau hin zum Großhirndenken fördernd zu begleiten: Innenleben zur Sprache bringen. Dazu gehört auch die Information, dass wir uns innerlich oft im Konflikt befinden zwischen dem, was sich als bereits im Sprachrepertoire vorhandene Ausdrucksform aufdrängt, und den »Ideen«, die hinter diesen gewohnten »Sprachbildern« stehen. Die Bezugspersonen der ersten beiden Lebensjahre haben ein Sprachmonopol, die Benennungen weiterzugeben, die ihnen gefallen. Dessen sollten sie sich bewusst sein, wenn sie »Namen geben«. Auch wenn sie sich durch diese Form von Dogmatismus interpersonelle Konflikte ersparen mögen, sollten sie auf diese »Gehirnwäsche« verzichten. Es ist wichtiger, Konflikte erkennen, ansprechen, aber auch aushaken zu lernen! Es gibt nicht nur eine Bezeichnung – und selbst wenn, kann man immer noch eine neue erfinden … Kleine Kinder tun das ja auch. Beispielsweise »erfinden« fast alle Kinder das Wort »zerscherben« – und werden dann grob zurechtgewiesen, »das heißt nicht zerscherben, das heißt zerbrechen!« Obwohl zerscherben für Glas viel besser passen würde, bleiben wir Sklaven unseres Grundschuldrills und geben ihn unbedacht weiter. So werden die Kreativität, die Selbstbehauptung und die 212
Kritikfähigkeit unserer Kinder nicht gefördert. Ebenso korrigieren wir Angehörige anderer Generationen, wenn sie an lieb gewordenen Sicht- und Sprachweisen festhalten oder auch Schwierigkeiten mit neuen Erkenntnissen haben, weil sie zu ihrer Zeit auf eben eine andere »Wahrheit« hin dressiert wurden. Ganz deutlich wird dies beispielsweise, wenn es um das Geschlechtsrollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter »oder« Berufsfrau geht. Da wird gerne die »Rabenmutter« zitiert, die sich nicht um ihre Kinder »kümmert« – und nicht respektiert, dass heute »Berufs- und Mutterfrauen« ihre Kinder in ihrem Aufwachsen anders »begleiten«. Oder es wird Paaren, die Ehekrisen zu bewältigen haben, vorgehalten, sie würden es nicht »schaffen«, »harmonisch« – was gleichzusetzen ist mit »nur keine Wellen!« - zusammenzuleben. Dass Fehlen von Frequenzen fehlende Lebendigkeit und damit Erstarren und Absterben einer Beziehung bedeutet, wird gar nicht bedacht. Wir kämpfen um das Vorrecht der Namensgebung – was beweist, wie machtvoll dieses Instrument ist. »Aber ich kann doch mein Kind nicht verwirren, indem ich ihm alle möglichen Definitionen vorlege!« wird wohl mancher protestieren. Sicherlich ist ein Vorschulkind mit zu vielen Alternativen überfordert; es hat genug Chaos zu bewältigen, wenn es alles, was es sieht, hört, riecht, schmeckt und spürt, in sein Weltbild so einordnen soll, dass es damit mehr Sicherheit und Schutz vor Gefahr erwirbt. Das Kind braucht Halt und Struktur. Im Sinne von basaler Stimulation genügt es aber, Raum zu geben – was gleichzeitig voraussetzt, sich bewusst zu sein –, dass man alle Phänomene auch anders betrachten, interpretieren und benennen kann. Dann strahlt man nicht Dogmatismus aus, sondern Bemühen um Klärung und Erklärung. 213
1. Schritt: Mediation Wenn man Familie als Summe von Menschen versteht, die einander nahe stehen und daher keine Feinde sein wollen, sondern Beistand, dann ist zur Erreichung dieses Zieles nötig, dass sie o o o o
nicht glauben, dass Nähe automatisch denselben Blickwinkel bedeutet, nicht glauben, dass unterschiedliche Sichtweisen gleich Krieg bedeuten müssen, nicht glauben, dass wenn einer sich in einem Krieg befindet, alle anderen mit im Krieg sein müssen, und nicht glauben, dass man Krieg vermeidet, indem man schweigt.
Eine mögliche Technik zur Kriegsvermeidung ist Diplomatie. Oder wie der modernere Name – weniger personenzentriert, sondern mehr prozessorientiert – lautet, Mediation – auf Deutsch: Vermittlung. Ein »in der Mitte« stehender Dritter sondiert die Sichtweisen, kundschaftet aus, was wer will, wo die Grenzen des Zumutbaren liegen und wo die Offenheit für Entgegenkommen, und versucht dann, Kommunikation herzustellen, indem er daran arbeitet, die Gegensätzlichkeiten in eine friedliche Mitte zu bringen. Grit, erfolgreiche Fachärztin und Hochschullehrer in sowie Mutter von vier Kindern unter zehn Jahren, will sich von ihrem zweiten Mann scheiden lassen: ’William, ein britischer Schriftsteller, will das nicht – würde sich doch seine Welt drastisch ändern. Dass er Grit nicht genug 214
unterstütze, sieht er nicht ein – er mache doch viel mehr als sein Vater! Er gehe gelegentlich mit den Jungen zum Sport und bringe sie bei schlechtem Wetter in die Schule. Und im Übrigen müsse er immer „bereitsitzen“, um auf den Musenkuss zu warten, damit endlich der lang erwartete Bestseller aus seinem Herzen und seinen Händen fließe! Grit wolle sich doch nur scheiden lassen, weil sie einen italienischen Journalisten kennen gelernt habe, der sich besser als Kinderbetreuer eigne … Im Mediationsgespräch stellen sich andere Weigerungsgründe heraus: Er allein könnte die Villa in einem Nobelbezirk der Universitätsstadt nicht erhalten – ausziehen will er aber auch nicht. Außerdem müsste er zumindest die drei von ihm stammenden Kinder alimentieren, was seine Situation als wesentlich einkommensschwächeren Teil des Paares deutlich machen würde. Er könnte dann, spricht Grit das Tabuthema an, nicht mehr »den Sir spielen«. Aus dem Mediationsblickwinkel heraus betrachtet zeigt sich Williams Interesse als primär finanzielles; das traut er sich aber nicht zuzugeben aus Besorgnis, dann als Schmarotzer benannt zu werden. Also gibt er vor, er hinge so sehr an den Kindern – auch an dem aus Grits erster Ehe. Dabei weiß Grit zu berichten, dass sie ohnedies seit jeher Haushälterin und Kindermädchen beschäftige und bezahle, und er natürlich auch hier Verluste an Entlastung bzw. Betreuung seiner Person hinnehmen müsste. Grits Interesse liegt wirklich an einer neuen Ehe mit einem Mann, dem weniger an Bezahlung als an Beziehung liegt; das wollte sie aber bisher nicht zugeben aus Angst, ihre Position im Falle einer Streitscheidung massiv zu verschlechtern. Nachdem Grit und William in zwei Sitzungen aufgeben, voreinander Idealfassaden aufzustellen, ist die Einigung 215
bald gefunden: Grit verzichtet auf Alimente für die gemeinsamen Kinder und »lässt zu«, dass die Haushälterin Mitte der Woche einmal bei William nach dem Rechten sieht. Und sie unterstützt William bei der Wohnungssuche. Beide einigen sich, darauf zu verzichten, die gemeinsamen Jahre und einander »schlecht zu machen«, sondern sich eher darauf zu konzentrieren, wie sie die kommenden jähre mit den veränderten Konstellationen »gut machen« können. Mediatorisch wirksam kann man auch selber sein: Man muss nur eine Art »Supervisionsblickrichtung« – Supervision heißt ja auf Deutsch Überblick – der Blick von oben – einnehmen und die eigene Position informativ berichten anstatt kämpferisch vertreten. Wer sich in einem Labyrinth verlaufen hat, rennt meist nur in Sackgassen. Von oben betrachtet zeigt sich der Ausweg meist klar und deutlich. Meine Klientinnen kennen meinen Signalsatz »Auf die Wolke!« und wissen dann, dass sie sich in einer Situation befinden, in der Überblick notwendig ist; da wir fast alle in innerlichen Gesprächen »probehandeln«, lohnt es sich, sich diese Distanzierungssuggestion anzugewöhnen: Wir haben dadurch nicht nur die Supra-Vision, sondern auch mehr Abstand und wenn beides vereint ist, mehr Souveränität.
2. Schritt: Exorzismus Im Exorzismus ist das Wesentlichste, den Namen zu wissen, denn sonst kann man »den Teufel« nicht wegschicken. Im Märchen vom Rumpelstilzchen wird eine ähnliche Problemlösung erzählt: Wenn man den anderen mit seinem wirklichen Namen anspricht, findet 216
Veränderung statt – es muss ja nicht immer gleich eine solch drastische sein. Wer psychotherapeutische Selbsterfahrung besitzt, weiß, wie befreiend es sich anfühlt, wenn man den Einklang von Empfindung und Ausdruck findet. Da spürt man, wie sich Verspannungen lösen, wie man wieder durchatmen und sich aufrichten kann und wie man wieder zu sich selbst findet: Die Wahrheit der leibseelischen und geistigen Ganzheit ist wiederhergestellt. Was sich wie Sprachmagie anhört, kann aber auch naturwissenschaftlich erklärt werden: Wenn wir nicht auszudrücken wagen, was wir denken / fühlen / empfinden / ahnen, kurz wahrnehmen, befinden wir uns in einem andauernden Alarmzustand von Muskelanspannung; wir leben nicht in entspannter Gegenwart, sondern »eilen« gedanklich in eine bedrohliche Zukunft, in der wir enttarnt werden könnten. Der Körper macht sich daraufhin kampfbereit – und das wiederum bedeutet Ausschüttung von Stresshormonen. Dadurch, dass wir aussprechen, was unsere – innere wie äußere – augenblickliche subjektive Wahrnehmung ist, steigen wir wieder in die Gegenwart des »Hier« und »Jetzt« ein. Gabriela, die attraktive Vierzigjährige und Hausärztin des Jubilars, ist Wochenendgast bei der Feier des 75. Geburtstages ihres Schwiegervaters Jürgen, eines mittleren Industriellen und Lokalpolitikers, auf dessen Landsitz. Die Tischordnung ist so ausgeklügelt, dass die Familienangehörigen beieinander sitzen, die sich kaum kennen. Rechts von ihr sitzt Klaus, Jürgens Bruder, links Heiner, der Ehemann von Jürgens Tochter Elvira, ihr Visavis ist Sven, der Sohn von Klaus. Das Festmahl wird zum Spießruten-»Sitzen«: Klaus umarmt Gabriela bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit, Heiner 217
tappt immer wieder mit seiner Rechten auf Gabrielas Schenkel und Sven übt sich, seine Beine so lang wie möglich auszustrecken, um Gabrielas Füße zu streicheln. Gabriela versucht zuerst auszuweichen, macht sich dann steif – »stellt sich tot« – und verlässt schließlich vorzeitig die Tafel unter dem Vorwand, sie sei es nicht gewohnt, so viel zu speisen. Alle drei Männer interpretieren dies als kokette Aufforderung: Sven eilt Gabriela unmittelbar nach ihrem Aufbruch in den Wintergarten nach und will mit ihr aufs Zimmer, Klaus umarmt sie, sobald er ihrer wieder ansichtig wird, und lädt sie ein, mit ihm das restliche Wochenende auf seiner Jagdhütte zu verbringen, und Heiner steht in der Nacht vor ihrer Zimmertür. Gabriela ist verzweifelt: »Was habe ich falsch gemacht, dass die mich nicht respektieren? Die wissen doch, dass meine Ehe mit Hans-Jürgen glücklich ist!« Gabriela hat »mitgespielt«: Sie hat schweigend geduldet – und die Männer fühlten sich ermutigt. Gabriela wollte kein »Aufsehen«, keinen Konflikt in der Interpretation des Vorgefallenen, und vor allem wollte sie nicht als aggressiv gelten. Wie sie aber bezeichnet wird – und was andere darunter verstehen –, liegt außerhalb ihrer Macht; wenn es den anderen in ihre Taktik passt, kann sie es nicht verhindern, egal, wie sie sich benimmt. Dass Gabriela aber derartige Ängste verspürt, beweist, dass sie tatsächlich aggressive Gefühle hatte. Und das ist verständlich! Aggression hilft nicht nur zu kämpfen, sondern auch, sich zu verteidigen. Und dazu hatte Gabriela Anlass und Berechtigung. Dabei hätte Gabriela gar nicht kämpferisch werden müssen! Gabriela hätte die von ihr als Belästigung – aus Männersicht als Probehandeln – empfundenen Annäherungen nur deutlich – was nicht heißt unfreundlich – stoppen müssen: »Warum umarmst du mich dauernd?« 218
oder »Ich finde es unangenehm, von dir dauernd umarmt zu werden! Außerdem stört es mich beim Essen«, oder aber: »Deine Hand hat gerade meinen Oberschenkel berührt. Das irritiert mich. Bitte pass besser auf!« bzw. »Ich nehme an, dass das dein Fuß ist, der an meinem angekommen ist. Bitte halte Abstand!« Ob die anderen Gäste aufhorchen, weghören, sich in welcher Weise auch immer einschalten … es liegt in deren Verantwortung und kann daher von Gabriela nur beantwortet, nicht aber gesteuert werden. Sagen, was ist – die Wahrheit ausdrücken –, das ist es, was vor allem zwischen Nahestehenden heilsam wäre. Wenn man offen aufeinander zugeht, Augen, Ohren und Herz aufmacht, damit Informationen sowohl heraus- als auch hineinkommen können, wird damit der oberflächliche Alltagskontakt, der sich aus dem bloßen Verwandtsein, aus regelmäßigen »Berichtskonferenzen« oder gemeinsamem Wohnen, Essen oder Streiten ergibt, zur echten Beziehung vertieft. Wie nahe wir uns dann aufeinander beziehen wollen, dürfen wir in dieser Annäherung nach jedem Schritt neu festlegen: Intimität – wenn sich Seele und Seele, Denken und Denken berühren und eventuell auch Körper und Körper – sind dann die kostbaren Augenblicke, in denen wir wirklich verwandt – verwunden – sind und nicht nur Menschen, denen juristisch aufgetragen ist, sich füreinander zu verwenden. Eine Beziehung mit offenem Herzen zu leben führt dazu, dass wir einander nicht nur ganzheitlich wahrnehmen und daher die Gemütslage, oft sogar die Gedanken der anderen Person spüren. Das kann anstecken. Davor fürchten sich viele Menschen. Und auch davor, dass große Nähe auch sexuelle Gefühle auslösen kann. Diese in Aggressionen umzuwandeln ist eine Schutzmethode, die wir nicht nur 219
bei Jugendlichen oder sehr alten Menschen beobachten können, sondern auch bei Angehörigen bestimmter Helferberufe. Sie ist unnötig. Im Sinne von »Sagen, was ist« hilft auch hier die Exorzismustechnik: den Namen sagen. »Ich merke, ich bekomme jetzt sexuelle Phantasien, und daher möchte ich mich jetzt wieder distanzieren …« Denn als Großhirnbenutzer können wir nicht nur die Worte suchen, mit denen wir auch die schwierigsten Thematiken zur Sprache bringen können, sondern wir können auch reflektieren – uns selbst in einer Art geistigem Spiegel betrachten und über unsere Handlungen, ihre Motive und ihre Folgen in der Zukunft nachdenken, Alternativen entwerfen und vor allem: nicht Sklave unserer aggressiven oder sexuellen Stammhirnimpulse sein.
3. Schritt: Abgrenzung Abgrenzen können wir uns nach jedem Schritt der Annäherung, also nach der Kontaktnahme, nach dem Beziehungsaufbau, nach Erreichung von Intimität (und vor Eintreten in die vierte Stufe von Beziehung: der körperlichen Vereinigung mit dem Austausch von Körpersäften, die ganzheitlichen Liebesbeziehungen vorbehalten bleiben sollte). Abgrenzen heißt nichts anderes, als immer wieder neu zu bedenken, wo das gegenwärtige Erleben auf der gedachten Schwingungslinie von aufmachen und zu sein einzuordnen wäre. Abgrenzen als innerseelischer Prozess ist das Wahrnehmen der unterschiedlichen Anteile von Gedanken, Gefühlen, Empfindungen und Phantasien in ihrer Konflikthaftigkeit und Prozesshaftigkeit: Auch wenn man augenblicklich ein dominantes Gefühl spürt – wenn 220
man sich erlaubt, abzuwarten, verändern sich Gefühle, Empfindungen und auch die zugehörigen Gedanken und Phantasien, wenn man sie lässt und sich nicht im Festhalten verkrampft. Abgrenzen heißt aber auch, Menschen, die einem zu nahe treten, eine Grenze zu setzen. Wenn einem jemand zu nahe tritt – ins Revier hineintrampelt oder schleicht – sind wir unvorbereitet mit seiner »Chemie« – seinem bioenergetischen Kraftfeld, seiner aktuellen Neurotransmitterauschüttung – konfrontiert. Egal, ob das physisch, psychisch oder verbal geschieht, es löst meist Chaos in uns aus: Wir fühlen uns verwirrt. Der Biocomputer im Kopf schaltet auf Tilt. Wann immer das Extremgefühl von Chaos auftaucht, heißt die logische Ergänzung: Es fehlt an Struktur. Solche Strukturen waren traditionell Rituale, die helfen sollten, Übergänge von einem Alter, Status, leibseelischen und geistigen Zustand oder Ort in den anderen besser zu bewältigen. Allerdings erhielten diese Rituale außer ihrer Nützlichkeit als Anhaltspunkte gegenüber Orientierungslosigkeit ihre Berechtigung auch aus der Unwissenheit ungebildeter Menschen und der Machtbehauptung Gebildeter. Heute ersetzen wir Rituale entweder durch Verträge oder durch Technik. Das hat vor allem den Grund, dass wir Zeit sparen wollen – oder müssen. Wenn der Feuerwehrhauptmann kommandiert oder bei Herzalarm auf Zuruf gehorcht wird, hat das Sinn – partnerschaftliches Aushandeln ergäbe einen nicht wieder gutzumachenden Zeitverlust. In Situationen ohne Zeitnot wäre solch ein Befehlsgehabe unpassend und unnötig, demütigend und reinste verbale Gewalt. Wenn man verbal attackiert wird, besteht auch meist Zeitnot: Das Revier wird verletzt – wie bringt man den 221
Eindringling wieder hinaus? Verhandeln stellt sich dann oft als Schwäche dar – ein Extremverhalten, aggressive Abwehr – das andere Extremverhalten – fällt als Brutalität auf einen selbst zurück oder bringt die Situation zum Eskalieren. Hier hilft Technik – eine Ritualisierung: Sagen, was ist: die objektiv feststellbare Wahrheit des Augenblicks ansprechen – keine Interpretationen! Keine Vermutungen, Unterstellungen. Die können in der persönlichen Bezugnahme enthalten sein: »Das heißt für mich …«, »Ich unterstelle dir, du denkst, dass …« Dann folgt die Aufforderung, das zu tun oder zu unterlassen, was man will. Gabriela, die Ärztin aus dem vorigen Beispiel, hätte in dieser Struktur sagen können: »Du hast mich jetzt mehrmals hintereinander umarmt. Ich mag das nicht. Bitte unterlasse dies!« Oder: »Du hast mir auf den Schenkel gegriffen. Ich finde das unerhört! Tu das nie wieder!« Ein Bonmot wie »Hast du keinen eigenen Schenkel?« könnte hingegen wieder als Koketterie interpretiert werden und damit zu mehr Verwirrung als Klärung, zu mehr Haschmich-Spielen als zu wirklicher Nähe (ohne sexuelle Färbung) führen. Egal, welches Tabu angesprochen wurde oder werden soll – in dieser Struktur kann – klein portioniert, Schritt für Schritt – jedes Thema zur Sprache kommen.
Schattenintegration Leben
spielt
sich
in
einer 222
Bandbreite
zwischen
Extrempolen ab: Wir leben in einer dualen Welt der Gegensätze - in der Sprache der Physik: von Minuspol und Pluspol; in der Sprache der östlichen Mystik: von Yin und Yang; in der Sprache des Christentums: von Himmel und Hölle, Engeln und Teufeln, Gut und Böse. Die Zweiteilung kann man in fast allen Erscheinungsformen beobachten, beispielsweise an den Organen unseres Körpers. Seelisch erleben wir zwischen Depression und Manie die unterschiedlichsten Abstufungen von schlechten Stimmungen der Antriebsschwäche, des „Niedergedrücktseins“, und Hochgefühlen von aggressiver und sexueller Erregung bis zu psychotischen Zuständen. Tabus in Familien dienen der Verleugnung und damit Abspaltung von Extremsituationen. Die »goldene Mitte«, das Tao, das Gleichgewicht der Kräfte soll erreicht werden, indem das jeweils Unerwünschte verschwiegen – sprachlich gelöscht – wird. Die Hoffnung, die dahinter steht, ist, dass dann nur mehr das Erwünschte vorhanden wäre. Das ist Stammhirnlogik, Vogel-Strauß-Politik. So wie kleine Kinder ihren Kopf im Gewand ihrer Schutzperson verstecken, bevor sie – in der phallischen Phase - hoffentlich gelernt haben, sich selbst als Person wahrzunehmen und wertzuschätzen. In der Analytischen Psychologie von G.G. Jung ist eines der Ziele jeder Individuation, seinen »Schatten« – das sind die abgewehrten, unerwünschten Persönlichkeitsanteile – zu »integrieren«: Diese Metapher will damit aufzeigen, dass wir unsere Kehrseite nur über die Rückmeldung einer beobachtenden Person kennen lernen, denn selbst wenn wir in den Spiegel sehen, erblicken wir unsere Rückseite nicht total; dazu brauchen wir – wiederum ein Hinweis auf die Dualität – zwei Spiegel. Ich benütze in meiner therapeutischen Arbeit gerne die Analogie zur Lichtquelle: Je weiter wir vom Licht – der Erleuchtung – entfernt sind, 223
desto länger ist der Schatten, den wir werfen; wenn wir direkt unter der Lichtquelle stehen – erleuchtet sind –, werfen wir keinen Schatten mehr, sondern können ihn uns nur unter unseren Fußsohlen denken – wir haben ihn integriert. Familien können heil werden, wenn sie ihre Schattenanteile integrieren. Das können sie tun, indem sie o eine Grenze setzen – zumachen – gegenüber irrealen Idealisierungen und stattdessen Familie als das nehmen, was sie ist – das bedeutet: mit allen Verbesserungsmöglichkeiten. o Grenzen aufmachen für eine realistische Sicht: Es gibt nichts Positives ohne etwas Negatives, es gibt nichts Negatives ohne etwas Positives – es ist immer eine Frage der Sichtweise und der Namensgebung. o Grenzen setzen – zumachen – gegenüber Macht-missbrauch: Wenn jemand Probleme hat oder macht, hilft Moralisieren, Demütigen oder Strafen nicht weiter. Statt sich am Leid anderer zu stabilisieren, braucht es Informationen und Unterstützung für Korrekturen. o Grenzen aufmachen für Lebendigkeit: nicht einseitig die Hauptfunktion Denken strapazieren, sondern durch das so missachtete Fühlen ergänzen: Das braucht Zeit, daher Geschwindigkeit durch Geduld verlangsamen und auch das schnelle Wort durch Zuhören balancieren. Nur wer sich selbst »erklären« darf, wer dazu seinen höchstpersönlichen Selbstausdruck wagt, hat die Chance, von einem anderen wirklich verstanden zu werden.
224
Ausblick Nachdem Sie nun viel darüber erfahren haben, welche Tabus es gibt, wie es zu Tabus kommt und warum es sie gibt, ist es vielleicht spannend einmal nachzudenken, welche Tabus es in Ihrer Familie gibt. Schreiben Sie daher einmal das Tabu (oder die Tabus?) Ihrer Familie auf. Überlegen Sie schriftlich, was Sie Ihrer Mutter Ihrem Vater Geschwistern Ehepartnern Kindern gegenüber nicht erwähnt wissen möchten. Wobei haben Sie das Gefühl »Das kann/darf ich auf gar keinen Fall sagen«? o
Schreiben Sie jeweils auf, was das Schlimmste wäre, was eintreten könnte, wenn Sie das »Redetabu« brechen würden?
o
Was würde sich bei Ihnen ändern? Was bei den anderen?
o
Was vermuten Sie, würden die anderen tun/denken/fühlen/empfinden/phantasieren?
o
Was müssten die anderen tun, damit Sie dennoch über den Tabubereich sprechen könnten?
o
Wie könnte der Zaubersatz lauten, mit dem Sie die anderen bitten, ebendies zu tun?
225
LITERATUR Bärmayr, A./Feuerlein, W.: Über den Selbstmord von 119 Ärzten, Ärztinnen, Zahnärzten und Zahnärztinnen in Oberbayern von 1963-1978, Crisis, Nr. 5/1984, zitiert in: Schönberger, Alwin, Patient Arzt. Der kranke Stand, Ueberreuter,Wien 1995 Betz, Felicitas: Heilbringer im Märchen. Einübung in schauendes Denken. Kösel, München 1989 Bowlby, John: Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen, Klett-Cotta, Stuttgart 1982 Bretschneider, Rudolf: Generationenkonflikte und Politik. In: Badelt, Christoph (Hrsg.): Beziehungen zwischen Generationen. Schriftenreihe des Österreichischen Instituts für Familienforschung Nr. 4/1997 Brinek, Getrude: Erziehung des Staunens. Zur pädagogischen Bedeutung eines emotiven Phänomens. Wiener Universitätsverlag 1991 Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Tränen. Trauern, klagen, leben können. Kreuz Verlag, Stuttgart, 14. Auflage 1998 Carter-Scott, Chérie: Negaholiker: Der Hang zum Negativen. Wege aus der Selbstblockade. Campus, Frankfurt/M. 1990 Chasseguet-Smirgel, Janine: Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Klett-Cotta, Stuttgart, 2. Auflage 1992 Cremerius, Johannes: Die psychoanalytische Behandlung der Reichen und der Mächtigen. In: Vom 226
Handwerk des Psychoanalytikers. Das Werkzeug der psychoanalytischen Technik. Band 2. FrommannHolzboog, Stuttgart, 2. rev. Auflage 1990 Denzler, Georg: Die verbotene Lust. Piper, München 1988 Eliacheff, Caroline: Das Kind, das eine Katze sein ivollte. Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern. Kunstmann, München 1994 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Band 2. Suhrkamp, Frankfurt/M. TB 1976/1989 Elias, Nobert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990 Erikson, Erik H.: Der vollständige Lebenszyklus. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1988/1992 Erni, Margrit: Grenzen erfahren. Econ, Düsseldorf 1989 Evans, Patricia: Worte, die wie Schläge sind. Verbale Misshandlung in Beziehungen. Rowohlt, Reinbek 1995 Fast, Julius: Körper spräche. Rowohlt, Reinbek 1979 Possum, Merle A./Mason, Marilyn J.: Aber keiner darf’s erfahren. Scham und Selbstwertgefühl in Familien. Kösel, München 1992 Frederich, Bernd: Zuflucht in der Krankheit suchen. Heyne, München 1988 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. GW IX. S. Fischer, Frankfurt/M. 1944/1978 Ders.: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. S. Fischer, Frankfurt/M. 1994 Gruen, Arno: Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau, dtv, München 1992 Haensch, Dieter: Repressive Familienpolitik. Rowohlt, Reinbek 1969 227
Hirsch, Matthias: Realer Inzest. Springer-Verlag, Berlin 1987/1990 Hoffmann, Nicolas: Wenn Zwänge das Leben einengen. Zwangsgedenken und Zwangshandlungen. PAL, Mannheim, 5. Auflage 1996 Honig, Michael-Sebastian: Verhäuslichte Gewalt. Sozialer Konflikt, wissenschaftliche Konstrukte, Alltagswissen, Handlungssituation. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992 Imber-Black, Evan: Geheimnisse und Tabus in Familie und Familientherapie. Lambertus, Freiburg 1995 Jacobi, Jolande: Die Psychologie von G.G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Fischer, Frankfurt/M. 1977/1982 Jellouschek, Hans: »Warum hast Du mir das angetan?« Untreue als Chance. Piper, München, 3. Auflage 1997 Laing, Ronald D.: Die Politik der Familie. Rowohlt, Reinbek 1979 Lambrou, Ursula: Helfen oder aufgeben? Ein Ratgeber für Angehörige von Alkoholikern. Rowohlt, Reinbek 1996 Laun, Andreas: Liebe & Partnerschaft aus der Sicht der katholischen Kirche. Franz-Sales-Verlag, Eichstätt 1996 Love, Patricia/Robinson, Jo: Wenn Kinder unter Liebe leiden. Hoffmann und Campe, Hamburg 1991 Lusthoff, Attila: Körper – Geist – Seele. Energetische Wechselwirkung. Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin 1997 Maslow, Abraham H.: Motivation und Persönlichkeit. Rowohlt, Rembek 1981 Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980 Miller, Alice: Du sollst nicht merken. Variationen über 228
das Paradies-Thema. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1981 Mitterauer, Michael/Sieder, Reinhard: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. C.H. Beck, München 1977 Moser, Tilmann: Dabei war ich doch sein liebstes Kind. Eine Psychotherapie mit der Tochter eines SS-Mannes. Kösel, München 1997 Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Ullstein, Berlin 1996 Nuber, Ursula: Die Egoismus-Falle. Warum Selbstverwirklichung so oft einsam macht. Kreuz Verlag, Zürich, 4. Auflage 1996 Ferner, Rotraud A.: Die Tao-Frau. Der weibliche Weg zur Karriere. C.H. Beck, München 1997 Madonna UND Hure. Jagdstrategien für Amazonen, ankh Verlag 1997 Management macht impotent. Abschied vom Mythos »Macher«. Orell Füssli, Zürich 1997 Traum oder Trauma. Gedanken zu Partnerschaft und Familie. aaptos, Wien 1998 Scham macht krank. Sexualpädagogik – Sexualberatung – Sexualtherapie, aaptos, Wien 1997 Schuld & Unschuld. Täter und Opfer sexueller Mißhandlung. aaptos, Wien 1994 Ungeduld des Leibes. Die Zeitrhythmen der Liebe. Orac, Wien 1994 Rasehorn, Helga/Rasehorn, Eckard: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Vincentz, Hannover Verlag 1991 Rauchfleisch, Udo: Allgegenwart von Gewalt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2. Auflage 1996 Rauchfleisch, Udo (Hrsg.): Homosexuelle Männer in 229
Kirche und Gesellschaft. Patmos, Düsseldorf 1993 Reich, Wilhelm: Charakteranalyse. Fischer, Frankfurt/M. 1973/1981 Richelshagen, Kordula (Hrsg.): Sucht, Macht und Gewalt. Reflexionen über tabuisierte Themen. Lambertus, Freiburg 1994 Richter, Rudolf: Kulturelle Transfers zwischen den Generationen. In: Badelt, Christoph (Hrsg.): Beziehungen zwischen Generationen. Schriftenreihe des Österreichischen Instituts für Familienforschung Nr. 4/1997 Schaef, Anne Wilson: Die Flucht vor der Nähe. Warum Liebe, die süchtig macht, keine Liebe ist. dtv, München 1992 Schatzman, Morton: Die Angst vor dem Vater. Rowohlt, Reinbek 1984 Schmidbauer Wolfgang: Alles oder nichts. Über die Destruktivität von Idealen. Rowohlt, Reinbek 1987/1992 Schmidt, Peter F.: Personale Begegnung. Der personzentrierte Ansatz in Psychotherapie, Beratung, Gruppenarbeit und Seelsorge. Echter, Würzburg, 2. Auflage 1995 Schönberger, Alwin: Patient Arzt. Der kranke Stand. Ueberreuter, Wien 1995 Steiner, Claude, M.: Macht ohne Ausbeutung. Zur Ökologie zwischenmenschlicher Beziehungen. Junfermann, Paderborn, 4. Auflage 1998 Stierlin, Helm: Delegation und Familie. Beiträge zum Heidelberger Familiendynamischen Konzept. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992 Tidl, Georg: Die Frau im Nationalsozialismus. Europa Verlag, Wien 1984 230
Trepper, Terry S./Barrett, Mary Jo: Inzest und Therapie. Ein (system)therapeutisches Handbuch, verlag modernes lernen, Dortmund 1991 Walters, Marianne/Carter, Betty/Papp, Peggy u.a.: Unsichtbare Schlingen. Die Bedeutung der Geschlechterrolle in der Familientherapie. Klett-Cotta, Stuttgart, 3. Auflage 1995 Wertheimer, Max: Produktives Denken. Zitiert In: Brinek, Getrude: Erziehung des Staunens, ïur pädagogischen Bedeutung eines emotiven Phänomens. Wiener Universitätsverlag, Wien 1991 Wolfram, von Eschenbach: Parzival. Auswahl nach Wilhelm Hertz. Reclam, Stuttgart 1950/1996
231