Andreas Dörner · Ludgera Vogt Das Geflecht aktiver Bürger
Andreas Dörner Ludgera Vogt
Das Geflecht aktiver Bürger ,K...
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Andreas Dörner · Ludgera Vogt Das Geflecht aktiver Bürger
Andreas Dörner Ludgera Vogt
Das Geflecht aktiver Bürger ,Kohlen’ – eine Stadtstudie zur Zivilgesellschaft im Ruhrgebiet
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
. . 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15758-0
Inhalt
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Inhalt
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Einleitung
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Grundlagen und Stand der Forschung
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2.1 Die öffentliche Diskussion 2.2 Der Theoriediskurs 2.2.1 Die republikanische Tradition 2.2.2 Die liberale Tradition 2.2.3 Alexis de Tocqueville und die Theorie der Bürgergesellschaft 2.2.4 Zivilgesellschaft und Gegenöffentlichkeit 2.3 Die Dritte-Sektor-Forschung 2.4 Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement 2.5 Politische Kulturforschung und Sozialkapital 2.5.1 Sozialkapital als Ressource der Gemeinschaft 2.5.2 Sozialkapital und politische Tradition 2.5.3 Begriffliche Differenzierungen 2.5.4 Kritische Diskussion 2.6 Kapital und soziale Ungleichheit 2.7 Individualisierung, reflexive Modernisierung und Bürgergesellschaft 2.8 Fazit: Defizite der Forschung
14 16 18 21 23 31 32 37 41 43 44 47 50 54
3
Ziele und Fragestellung der Studie
63
4
Methoden und Vorgehen
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4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
72 79 85 87 91
Eine Stadt-Studie Die Auswahl der Kontexte Datenerhebung Feldzugang und Sample Auswertung und Interpretation
7
58 61
6 5
6
Inhalt Ergebnisse
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5.1 Die Gemeinde 5.2 Die Kommune als Bürgergesellschaft 5.2.1 Ein kollektives Erweckungserlebnis: Widerstand gegen die ‚Obrigkeit’ 5.2.2 Das Spektrum der Aktivitäten 5.3 Die Motive des Engagements 5.3.1 Christliche Nächstenliebe 5.3.2 Republikanismus 5.3.3 Lokalpatriotismus und wohlverstandenes Eigeninteresse 5.3.4 Materialismus 5.3.5 Kulturelles Kapital: Bildung und Qualifikationsgewinne 5.3.6 Soziales Kapital: Soziale Kontakte und Geselligkeit 5.3.7 Symbolisches Kapital: Anerkennung und Prominenz 5.3.8 Spaß und Selbstverwirklichung: Die Passung zwischen Akteuren und Institutionen 5.4 Karrieremuster: Wege zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit 5.5 Posttraditionale Vergemeinschaftung 5.6 Die Voraussetzungshaftigkeit des Engagements 5.7 Service Learning: Bildung und Bürgergesellschaft 5.8 Das Geflecht aktiver Bürger: Die Kooperationskultur in Kohlen 5.8.1 Vertrauen und ‚bridging capital’ 5.8.2 Institutionalisierte Kooperation: Ermöglichungskultur 5.8.3 Bürgergesellschaft und Staat 5.8.4 Probleme der Kooperationskultur
92 97
147 154 162 173 182 182 186 189 192
Zusammenfassung und Perspektiven
200
Literatur
97 103 112 112 117 120 125 128 133 137 143
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1 Einleitung
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1 Einleitung
Die Jahrtausendwende markierte den bisherigen Höhepunkt der öffentlichen Diskussion über Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft und neue Entwicklungsmöglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements in Deutschland. Die Thematik war aus zwei Gründen genau zu diesem Zeitpunkt von der Politik entdeckt worden. Zum einen wurden die Grenzen der Finanzierbarkeit staatlicher Gestaltung in einer Gesellschaft erkennbar, die lernen musste, trotz florierender Wirtschaft mit einem erheblichen Sockel von Dauerarbeitslosen zu leben. Zum anderen suchte man Mittel und Wege, der weit um sich greifenden Politikverdrossenheit in der Bevölkerung entgegenzusteuern, die mögliche Gefahren politischer Desintegration am Horizont aufscheinen ließ. Die Zauberformel „Bürgergesellschaft“ bzw. „Zivilgesellschaft“ ließ Abhilfe in beiden Richtungen erhoffen: Wenn die Bürger selbstgesteuert Dinge etwa auf dem sozialpolitischen Feld in Angriff nehmen, dann ersetzen sie dabei potentiell einen Teil des teuren staatlichen Handelns und sind gleichzeitig noch politisch aktiv und somit besser integriert im Gemeinwesen. Daher wurde 1999 auf gemeinsamen Antrag aller Fraktionen hin eine Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ eingesetzt, um Strategien zur Förderung freiwilliger bzw. ehrenamtlicher Arbeit zu eruieren1. Und nur ein Jahr später trat der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem Papier über die „zivile Bürgergesellschaft“ an die Öffentlichkeit, in dem er eine Rückkehr des Politischen beschwor und diese verband mit der Verabschiedung des alten sozialdemokratischen Glaubens, „mehr Staat“ verbürge automatisch eine bessere Politik. „In Wirklichkeit führt ein immer größerer ‚Verantwortungs-Imperialismus’ des Staates gegenüber der Gesellschaft geradewegs zur Abschaffung des Politischen“ (Schröder 2000: 202). Diese und weitere politische Aktionen machten das Thema auf der öffentlichen Agenda nahezu allgegenwärtig. Viele Forschungsunternehmungen wurden durch diese Welle der öffentlichen Aufmerksamkeit ohne Zweifel angestoßen und gefördert. 1
In dieser Kommission arbeiteten 11 Bundestagsabgeordnete sowie 11 Experten mit, die wiederum aus parteipolitischen Gesichtspunkten von den Fraktionen benannt worden waren. Der Expertendiskurs blieb also bis in die verabschiedeten Empfehlungen hinein stets gerahmt durch die Funktionslogik etablierter, professionalisierter Politik.
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1 Einleitung
Große Zahlen wurden teils stolz, teils skeptisch präsentiert. Neue Formen des Ehrenamts wurden entdeckt oder proklamiert. Chancen und Grenzen des oft diffus bleibenden Projekts Zivilgesellschaft wurden erörtert. Bei all dem geriet die ganz profane, unspektakuläre Praxis des Engagements vor Ort zunehmend aus dem Blick. Und es scheint erst jetzt, nachdem der rhetorische Rauch der großen Debatten sich etwas verzogen hat, wieder besser möglich, die Alltagsrealität des bürgerschaftlichen Engagements und seiner institutionellen Rahmungen nüchtern zu betrachten. Das Projekt, dessen Ergebnisse in diesem Bändchen berichtet werden sollen, hat sich zum Ziel gesetzt, genau diesen nüchternen Blick auf die profane Alltagsrealität von Bürgergesellschaft jenseits der großen Proklamationen und Sonntagsreden zu richten. Dabei sollten neben den Möglichkeiten und Grenzen neuer Formen bürgerschaftlichen Engagements die alten Formen nicht vergessen werden. Und es sollte sichtbar gemacht werden, wie neue Formen der Bürgergesellschaft doch in stärkerem Maße auf gewachsenen Traditionen der politischen Kultur in Deutschland basieren, als dies die Aufbruchstimmung auf dem Weg in ein neues zivilgesellschaftliches Zeitalter glauben machen wollte. Um die ganz normale Alltagspraxis des bürgerschaftlichen Engagements erfassen zu können, wurde eine Stadtstudie zu einer Mittelstadt am Rande des Ruhrgebiets durchgeführt. Der Grundgedanke der Studie bestand darin, nicht nur einzelne Akteure oder Kontexte der Bürgergesellschaft betrachten zu können, sondern das dichte Interaktionsgeflecht zwischen diesen Akteuren und Kontexten offenzulegen. Das nämlich, so die Annahme, ist ganz entscheidend dafür, ob Bürgergesellschaft in der Kommune langfristig erfolgreich praktiziert werden kann. Selbstverständlich kann und will eine solche Gemeindestudie keine repräsentativen Forschungsergebnisse produzieren. Ihre Zielsetzung ist stattdessen eine explorative: Sie will Phänomene und Zusammenhänge entdecken, die wichtig sind für das Funktionieren von Bürgergesellschaft vor Ort. Diese können dann wiederum später in weitergehender Forschung systematisierend und vergleichend untersucht werden. Gegenstand des Forschungsprojekts war das konkrete Funktionieren von Zivilgesellschaft unter den von Individualisierung und reflexiver Modernisierung gesetzten Bedingungen. Um die Determinanten freiwilligen Engagements von Bürgern und damit förderliche wie hemmende Faktoren von Bürgergesellschaft zu erhellen, analysiert die explorative und interpretative Studie das kommunale Geflecht aus Organisationen, Gruppen und einzelnen Akteuren, das die Freiwilligenszene prägt. Im Zentrum der empirisch auf 74 (meist mehrstündigen) leitfadengestützten Interviews und einer Dokumentenanalyse vor allem der Presseöffentlichkeit basierenden Untersuchung stehen: eine Freiwilligenagentur, eine
1 Einleitung
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Bürgerstiftung sowie der örtliche Caritasverband, somit zwei Organisationen der „neuen“ und eine Institution der „alten“ Bürgergesellschaft in Deutschland. Anhand dieser Einrichtungen thematisiert das Projekt die Motive, Nutzenkalküle und Karrieremuster der Akteure ebenso wie die Bedeutung von Vergemeinschaftung, Geselligkeit, sozialer Schließung und Elitenbildung. Schließlich werden die individuellen Voraussetzungen erfolgreicher Akteure und die Wege zur „Passung“ zwischen gewandelten individuellen Dispositionen und organisatorischen Strukturen analysiert. Die Stadt-Studie weist Bürgergesellschaft auf der Ebene der Kommune als plurales Phänomen aus, in dem sich traditionelle Tätigkeiten des Ehrenamtes neben neuen Formen freiwilligen Engagements finden und teilweise verbinden. Die Motivlagen der freiwillig Engagierten zeigen eine Mischung aus Gemeinsinn und Eigennutz: In individuell spezifischen Kombinationen verbinden sich hier altruistische, religiös fundierte bzw. „republikanische“ Motive mit Lokalpatriotismus und nutzenorientierten Motiven wie dem Interesse an Lern- und Qualifikationsgewinnen, sozialen Kontakten und Geselligkeit, der Wahrung von Status (bei Übergängen in Ruhestand oder Arbeitslosigkeit), sozialer Anerkennung und Prominenz sowie an Spaß. Mischungen sind auch kennzeichnend für das akteursspezifische Verhältnis zwischen beruflichen und freiwilligen Tätigkeiten, die zum Teil gleichzeitig und zum Teil im Wechsel ausgeübt werden. Neben die derzeit zurücktretenden Formen traditionaler Vergemeinschaftung vor allem im Kontext des untersuchten christlichen Caritas-Milieus treten zunehmend neue Gemeinschaftsformen, die nicht dauerhaft vorgegeben, sondern individuell wählbar, zeitlich begrenzt und prinzipiell jederzeit zu verlassen sind. Es zeigt sich, dass bei aller Unverbindlichkeit gezielte Ritualisierungen von Geselligkeit diese posttraditionalen Gemeinschaften stabilisieren können. Als Preis für eine hohe projektorientierte Handlungseffizienz weist die Bürgerstiftung jedoch eine Partizipationsasymmetrie darin auf, dass neben Bildungsund Sozialkapital auch ökonomisches Kapital vorhanden sein und investiert werden muss, um in den exklusiven Kreis der Stifter zu gelangen. Als Gegenmodell erweist sich eine andere, im Untersuchungszeitraum im Umfeld der Caritas gegründete Stiftung, die mit einer sozial wesentlich breiteren und offeneren Rekrutierungsstrategie die für die meisten Formen der „neuen“ Bürgergesellschaft kennzeichnenden Partizipationsasymmetrien vermeidet. Im Blick auf die Kooperation von Personen und Institutionen macht das Forschungsprojekt deutlich, dass die Größe der untersuchten Mittelstadt mit ca. 66.000 Einwohnern eine günstige Grundlage für flexible Vernetzungen und damit die Bildung sowie institutionelle Förderung von Vertrauen bereitstellt. Die auf die Ressource dieses Vertrauens gestützte politische Kooperationskultur stellt sich als entscheidender Faktor bei der Ermöglichung von Bürgergesell-
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1 Einleitung
schaft heraus. Das für die Vernetzung der verschiedenen Foren und Milieus der Bürgergesellschaft notwendige „bridging capital“ bilden nicht nur Brückenfiguren zwischen sozialen Szenen, sondern auch bürgergesellschaftliche „Multiplayer“ sowie mehrfach engagierte Ehegemeinschaften und Partnerschaften, die Verbindungen zwischen ansonsten einander fremden Kontexten herstellen. Der Gang der Argumentation verläuft wie folgt: Zu Beginn wird der bisherige Stand der Forschung zum Thema Bürgergesellschaft und Ehrenamtlichkeit referiert (Kap. 2). Damit wird zugleich eine theoretische Perspektivierung und eine gesellschaftliche Kontextualisierung der Diskussion geleistet. Der Theoriediskurs vom klassischen Republikanismus bis zu aktuellen Reflexionen über die drei Säulen der Freiheit und die Möglichkeiten deliberativer Politik sollen das begriffliche Instrumentarium liefern, um zivilgesellschaftliche Praxis mit der notwendigen Distanz reflektieren zu können. Die Befunde aus der Forschung zum Dritten Sektor und zum Ehrenamt betten den konkreten Gegenstandsbereich der Gemeindestudie ein und lassen erkennbar werden, wo wirklich Forschungsbedarf besteht. Die Betrachtung der Forschung über politische Kultur und Sozialkapital schließlich eröffnen eine wichtige Dimension der Analyse, die deutlich macht, das Bürgergesellschaft nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine kulturelle Ebene hat, die für das Funktionieren dieses Gebildes ausgesprochen wichtig ist. Die abschließend bilanzierten Defizite der Forschung leiten über zu Kap. 3, in dem die zentrale Fragestellung der Studie vorgestellt und die konkreten Ziele dargelegt werden. Kap. 4 informiert über die verwendeten Methoden und bietet dabei zunächst eine ausführliche Reflexion über die Chancen und Risiken von Gemeindestudien. Es wird begründet, warum genau diese Gemeinde ausgewählt wurde und nach welchen Kriterien die Selektion der Partner für die teilstandardisierten Interviews erfolgte. Schließlich werden die Erhebungs- und Auswertungsverfahren vorgestellt und begründet. Im empirischen Teil der Studie wird zunächst die Gemeinde vorgestellt (Kap. 5.1). Die historischen, sozialen, politischen, auch städtebaulichen Eigenheiten der Mittelstadt sind wichtig, um die konkrete Ausprägung von Bürgergesellschaft nachvollziehen zu können. Vor diesem Hintergrund kann dann in Kap. 5.2 das Tableau des bürgerschaftlichen Engagements in Kohlen2 entfaltet werden. Hier wird erkennbar, wie vielfältig das Spektrum der Aktivitäten ist, wie „alte“ und „neue“ Bürgergesellschaft nebeneinander existieren und wie die Kommune auf der untersten Politikebene staatlich verfasster Gemeinwesen nach wie vor einen zentralen Akteur im zivilgesellschaftlichen Geflecht definiert. Sie 2
Der Name der Stadt wurde hier aus Gründen der Anonymisierung geändert. Entsprechend sind auch alle Namen der konkreten Akteure in der Publikation anonymisiert und durch gebräuchliche deutsche Namen ersetzt worden.
1 Einleitung
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tritt hier auf als „aktivierender Staat“, der vieles anstoßen, mitunter jedoch auch blockieren kann. Kap. 5.3 thematisiert ausführlich die Motive der Engagierten. Diese Motive sind theoriegeleitet eingebettet in ein Spannungsfeld zwischen Gemeinnutz und Eigennutz, wie es durch die Theorietradition zwischen Republikanismus und Liberalismus konstituiert wurde. Der Einblick in die verschiedenen Motive, deren Spektrum von der religiös motivierten Caritas bis zum Spaß reicht, macht deutlich, dass die Kombination von Gemeinnutz und Eigennutz, zwischen Altruismus und Egoismus längst ein fest etabliertes Phänomen der bürgergesellschaftlichen Alltagswelt darstellt. Wenn alle Akteure, gleich wie die konkrete Motivation aussieht, immer auch nutzenorientiert handeln, dann wird plausibel, warum sich auch im zivilgesellschaftlichen Bereich heute typische Karrieremuster identifizieren lassen (Kap. 5.4). Deren wichtigstes Charakteristikum besteht in der ständigen Grenzüberschreitung zwischen dem Dritten Sektor und den Sektoren Markt und Staat, zwischen Erwerbsarbeit und freiwilliger Arbeit. Kap. 5.5 eröffnet dann den Blick auf posttraditionale, d.h. begrenztere, durchlässigere und loser gekoppelte Formen von Gemeinschaft, die zumindest in großen Teilen die traditionellen Formen verdrängt haben. Auch hier lässt sich jedoch noch eine Koexistenz alter und neuer Formen von Gemeinschaft erkennen, mit denen die Akteure dann, nicht zuletzt alters- und generationenbedingt, unterschiedlich umgehen. Die Formen posttraditionaler Vergemeinschaftung sind in jedem Fall ein wichtiger Bestandteil der sich abzeichnenden „neuen Bürgergesellschaft“ in Deutschland. Die Voraussetzungshaftigkeit der Bürgergesellschaft, die über lange Zeit in der Forschung übersehen worden war, wird in Kap. 5.6 genauer beleuchtet. Geld, Bildung und Beziehungen sind erforderlich, wenn Menschen aktiv werden wollen. Bürgergesellschaft wird hier als ein Gebilde erkennbar, das durch Strukturen sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist und daher noch immer erhebliche Partizipationsasymmetrien aufweist. Beispiele aus dem Projekt machen jedoch auch deutlich, dass die „Klassenschranken“ der Bürgergesellschaft nicht unüberwindlich sind und zumal da durchlässig gemacht werden können, wo gezielte Hilfestellungen geleistet werden. Kap. 5.7 verbindet schließlich die Ungleichheitsthematik mit der Nutzenperspektive von Zivilgesellschaft als Bildungsinstitution der modernen Gesellschaft. Unter dem Etikett des „Service Learning“ werden, importiert aus den angelsächsischen Ländern, Möglichkeiten einer gezielten Symbiose zwischen Bildungssystem und bürgerschaftlichem Engagement sichtbar. Service Learning meint Formen der Integration freiwilliger Hilfetätigkeiten in das schulische bzw. universitäre Curriculum. Es kann langfristig nicht nur zur Erhöhung der Engagementbereitschaft in der Bevölkerung beitragen und schulische Lernprozesse
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intensivieren, sondern es kann partiell auch der Ungleichheit in der Bürgergesellschaft entgegensteuern. Die Zivilgesellschaft als Geflecht aktiver Bürger schließlich wird in Kap. 5.8 herausgearbeitet. Die hier entfalteten Befunde zeigen deutlich, dass eine über lange Zeit gewachsene politische Kultur der Kooperation zu einem wichtigen Träger bürgerschaftlichen Engagements werden kann. Kooperationskultur fungiert als Ermöglichungskultur von Interaktionen auch über scheinbar fest etablierte Milieu- und Organisationsgrenzen hinweg. Was gerade in der politikwissenschaftlichen Diskussion häufig als unbewegliche und reformfeindliche Struktur gekennzeichnet und als politischer „Filz“ gegeißelt wurde, wird hier als zukunftsfähige Ausprägung von kooperativer Demokratie bzw. Konkordanzdemokratie beschreibbar. Dabei wird nicht übersehen, dass es durchaus blockierende Potentiale dieser Kooperationskultur gibt, wie nicht zuletzt das Beispiel der in Kohlen gescheiterten Freiwilligenagentur anschaulich zeigt. Abschließend werden die Befunde noch einmal zusammengefasst und eingeordnet. Ein Ausblick versucht zum einen, weitergehende Forschungsperspektiven aufzuzeigen und zum anderen mögliche sozialpolitische Folgen aus der empirischen Studie zu ziehen. Hingewiesen sei darauf, dass einige Teile der Theoriediskussion sowie Aspekte der Studie, die sich schwerpunktmäßig mit der Kohlener Bürgerstiftung befasst haben, schon in dem Buch „Das Kapital der Bürger“ von Ludgera Vogt (2005) behandelt worden sind. Den Autoren bleibt zum Schuss, Dank zu sagen: zunächst einmal der Deutschen Forschungsgemeinschaft und den beteiligten Akteuren, die es ermöglichten, dass das Projekt in den Jahren 2003 bis 2005 gefördert wurde. Weiterhin bedanken wir uns bei Ronald Hitzler, der das Projekt verantwortet und mit seinen konstruktiv-kritischen Kommentaren dafür gesorgt hat, dass ein tragfähiges Konzept entwickelt wurde; bei Arne Niederbacher, der viele reibungslose Abläufe logistischer und finanztechnischer Art sichergestellt hat; und bei Wolfgang Bergem, der in der Abschlussphase des Projekts wirkungsvoll mitarbeitete. Als Kooperationspartner für unser Projekt haben dankenswerterweise die Herren Professoren Ulrich Beck, Axel Honneth, Herfried Münkler und Thomas Rauschenbach fungiert. Für wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts sagen wir schließlich einen herzlichen Dank an Karin Brech, Miriam Finke, Valerie Hortolani, Editha Mohr, Stephanie Schumacher, Monika Weiß und, last not least, Brigitte Sprieß. Widmen möchten wir dieses Buch drei uns sehr nahe stehenden Menschen: Zum einen Horst Vogt, stellvertretend für die vielen Aktivposten der „alten“ und „neuen“ Bürgergesellschaft; er hat auf vielfältige Weise das Zustandekommen dieser Studie hilfreich gefördert. Zum anderen unseren beiden Kindern Noah und Sinaida, die geduldig all jene Zeitengpässe und Probleme in Kauf genommen
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haben, die durch zwei wissenschaftlich aktive Eltern produziert werden. Sie haben sich ihre Fröhlichkeit bewahren und uns dabei auch in arbeitsreichen Zeiten immer wieder aufheitern können.
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
2 Grundlagen und Stand der Forschung
2.1 Die öffentliche Diskussion Bürgergesellschaft ist als Begriff seit den 90er Jahren in der öffentlichen Debatte präsent. In den „Ritualen der Wohlfahrtsstaats-Debatte” (Heinze 1998: 172), die sich in Deutschland regelmäßig zwischen den neoliberalen Marktbefürwortern und den (im weiteren Sinne) sozialdemokratischen Staatsbefürwortern medial inszeniert entfalten, wird immer häufiger der Begriff der Bürgergesellschaft verwendet. Das soll so etwas wie einen „dritten Weg“ markieren. Schaut man sich jedoch die Beiträge insbesondere der politischen Akteure etwas genauer an, so wird deutlich, dass hier häufig unter neuen Begriffen alte Konflikte ausgefochten werden. Man bewegt sich einerseits zwischen Konzepten, die Bürgergesellschaft im Sinne vieler Kommunitaristen eher staatsnah oder zumindest staatsgefördert verorten, und solchen andererseits, die eine möglichst große Staatsferne als Erfolgsgaranten sehen3. Da es in Deutschland – im Unterschied etwa zur angelsächsischen Welt – an breiteren zivilgesellschaftlichen Traditionen weitgehend fehlt, kann es nicht verwundern, dass die neuen Etiketten hier teilweise einfach mit alten Inhalten, teilweise auch mit Beliebigkeit gefüllt werden (vgl. Dettling 1998: 23). Mit der im Jahre 1999 beschlossenen Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestags hat die politische Debatte eine andere Dimension gewonnen. Hier wurde erstmals versucht, die einschlägigen Ergebnisse der (meist standardisierten) sozialwissenschaftlichen Forschung zu den Problemen und Potentialen des bürgerschaftlichen Engagements zu sichten und in politische Handlungsempfehlungen einmünden zu las3
Siehe dazu etwa die Publikationen von Kurt Biedenkopf (1997), Roland Koch (1998) und Alois Glück (2001) aus Sicht der Union, Heide Simonis (1997), Gerhard Schröder (2000) sowie die Beiträge in Eichel/Hofmann (1999) und Alemann/Heinze/Wehrhöfer (1999) aus Sicht der SPD. Die grüne Position ist dargestellt in Opielka (1997), und bei der FDP vermag es ohnehin nicht zu verwundern, wenn ein (liberales) Modell von Bürgergesellschaft propagiert wird. Mit Ralf Dahrendorf (1993, 1999) hat man zudem einen an angelsächsischen Verhältnissen geschulten theoretischen Vordenker für eine dezidiert staatsferne Bürgergesellschaft in den eigenen Reihen. Zur Analyse der politischen Debatten siehe Braun (2001) und Mielke (2001). Die reformpolitische Diskussion seit dem programmatischen Text über die „zivile Bürgergesellschaft“ des damals amtierenden Bundeskanzlers Gerhard Schröder zeichnet Klein (2005) nach.
2.1 Die öffentliche Diskussion
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sen4. Im Resultat kristallisierte sich als Position heraus, dass man politisch die eingetretenen Pfade der Förderung traditioneller Ehrenamtlichkeit im Rahmen der etablierten Verbände tendenziell verlassen und auch neue Formen des Engagements erschließen möchte5. Insbesondere werden neue institutionelle Designs eingefordert, wobei u.a. Freiwilligenagenturen ein großer Stellenwert zugemessen wird. Genau dieser Aspekt der Funktionsweise von Bürgergesellschaft in neuen institutionellen Settings bildete auch einen Schwerpunkt des durchgeführten Forschungsprojekts. Auch wenn der Zenit der politischen Diskussion über Bürgergesellschaft nach dem Abschluss der Enquete-Beratungen und im Zuge einiger ökonomischer Krisenerscheinungen überschritten scheint, weil sich sozialpolitisch andere Schwerpunkte aufdrängten, zeigt sich doch eine gewisse Nachhaltigkeit des Themas. Sie liegt darin, dass es von politischer Seite immer wieder aufgegriffen und auch mitunter in konkrete Maßnahmen – etwa Steuerermäßigungen für bürgerschaftlich Engagierte – oder Förderprogramme übergeleitet wird. In einer wechselseitigen Beeinflussung von öffentlich-politischer Diskussion und wissenschaftlicher Themenkonjunktur hat sich das Begriffspaar Zivilgesellschaft / Bürgergesellschaft mittlerweile zu einer Art Dachformel entwickelt, unter der vieles von dem abgehandelt wird, was früher im Zusammenhang mit dem Dritten Sektor, Ehrenamtlichkeit und Freiwilligenarbeit abgehandelt wurde6. Der Vorteil dieser Entwicklung liegt darin, dass nun Dinge stärker im Zusammenhang gesehen werden, die früher getrennt betrachtet wurden. Das gilt beispielsweise für das Verhältnis von subjektiven (z.B. Handlungsmotive) und „objektiven“ (z.B. institutionellen) Aspekten des Ehrenamts oder für das Verhältnis von Staat und gesellschaftlicher Selbststeuerung. Zudem bietet der theoretische Diskurs zur Bürger- bzw. Zivilgesellschaft die Möglichkeit, eine integ4
Zu den konsultierten Forschungsergebnissen siehe die neun von der Kommission herausgegebenen Bände, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte beleuchten: vom Engagement von Unternehmen über rechtliche Rahmenbedingungen bis zum Engagement in Kommunen (vgl. Schriftenreihe 20022003). 5 Siehe dazu die Ausführungen von Thomas Olk (2001) und den Abschlussbericht der EnqueteKommission aus dem Jahre 2002 (Enquete-Bericht 2002). 6 Aus der fast unüberschaubar zahlreich gewordenen, üblicherweise in Sammelbänden zusammengetragenen oder in Zeitschriften veröffentlichten Literatur sei hier nur eine gleichsam typisch erschienende Auswahl erwähnt: Ammon/Hartmeier (2001), Kocka u.a. (2001), Roos-Schumacher (2001), Dahrendorf (2001), Heinze (2002), Kreibich (2002), Möller (2002), Opielka (2002), Nullmeier (2002), Rauschenbach (2002), Lohmann (2003), Olk (2003), Birkhözer u.a. (2005), Zimmer/Hallmann (2005), Inthorn (2005), Strachwitz (2005), Kotze/Toit (2005), Schade (2005), Strasser/Stricker (2005), Zimmer (2005), Heinze (2006) und Schröter (2007); einen Überblick zu einer Auswahl neuerer soziologischer Literatur zur Debatte über Zivilgesellschaft gibt Bode (2006); zur Begriffskarriere der Wörter Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft siehe Fischer (2005) und Adloff (2005).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
rierende Reflexionsperspektive zur Beschreibung, Erklärung und Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen zu erarbeiten. Diese hängen mit Fragen von Ehrenamtlichkeit und Drittem Sektor zusammen, reichen jedoch weit über diesen Fokus hinaus und sind erst im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang angemessen einzuordnen und zu bewerten. Zu den folgenden Abschnitten ist vorab noch anzumerken, dass der Schwerpunkt auf Forschungen liegt, die sich mit den deutschen Verhältnissen und deren Kontextualisierung im internationalen Vergleich beschäftigen, denn die Rahmenbedingungen von Bürgergesellschaft in Deutschland unterscheiden sich – nicht zuletzt durch eine starke etatistische Prägung – erheblich von denen in den meisten anderen westlichen Gesellschaften.
2.2 Der Theoriediskurs Die starke Konjunktur der (inhaltlich sehr unterschiedlich bestimmten) Konzepte von Bürgergesellschaft bzw. Zivilgesellschaft im wissenschaftlichen, vor allem im sozialphilosophischen Diskurs, verdankt sich vornehmlich zwei Quellen7. Zum einen begann man in den 1980er Jahren in osteuropäischen Gesellschaften, die dem Einflussbereich der Sowjetunion unterlagen, in der „Zivilgesellschaft“ einen Gegenentwurf zum Konzept der totalen Kontrolle von Gesellschaft durch einen monolithisch strukturierten Staat zu sehen8. Dabei berief man sich einerseits auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci und sein Konzept der „societa civile“, andererseits auf Vorbilder aus dem angelsächsischen Raum9. Die andere wichtige Quelle liegt in der amerikanischen Diskussion über Individuum und Gemeinschaft, die sich als „Kommunitarismus-Debatte“ vor allem in den 1980er Jahren entfaltet hat und später auch in Europa hohe Wellen schlug. Sie diente nicht zuletzt auch als Anregung für gesellschafts- und sozialpolitische Projekte etwa bei der britischen Labour Party und bei der deutschen Sozialdemokratie10. Man stellte die gemeinschaftlichen Wurzeln personaler Identität und 7
Zur Entwicklung des historisch weit zurückreichenden Theoriediskurses über Zivilgesellschaft siehe ausführlich Vogt (2005: 59ff) und Adloff (2005). 8 Der Transformationsprozess in Ost- und Mitteleuropa dient auch dem britischen Sozialanthropologen Ernest Gellner (1995) als Bezugspunkt für einen normativ dimensionierten Entwurf von Zivilgesellschaft als eine im westlichen Denken verwurzelte Form demokratisch-pluralistisch organisierten Zusammenlebens. Zur Diskussion über Zivilgesellschaft im ost-westlichen Vergleich siehe die Beiträge bei Lohmann (2003). 9 Siehe dazu die ausführliche Analyse bei Klein (2001: 19ff) sowie Dahrendorf (1993), Wendt (1996), Kneer (1997), T. Evers (1999) und Kocka (2002). 10 Siehe dazu etwa das „Kommunitaristische Manifest“ in Deutschland, an dem federführend nicht zuletzt der SPD-Vordenker Thomas Meyer beteiligt war (Meyer u.a. 1997). Auch das berühmte
2.2 Der Theoriediskurs
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die philosophisch zu begründende Notwendigkeit für den Menschen heraus, sich an den öffentlichen Angelegenheiten der Gemeinschaft zu beteiligen. Nur so könne er in den Genuss einer im umfassenden Sinne geglückten Existenz kommen11. Entscheidend ist: Bürgerschaftliches Engagement und folglich auch die Schaffung einer entsprechenden sozialen Infrastruktur erschien in dieser Debatte nicht so sehr als eine Frage sozialpolitischer Weichenstellungen, sondern als eine Dimension erfüllter menschlicher Existenz schlechthin12. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Amitai Etzioni, einer der Hauptprotagonisten des weltweiten Kommunitarismus-Diskurses, eine deutliche Unterscheidung trifft zwischen den Begriffen „Zivilgesellschaft“ auf der einen Seite und dem kommunitarischen Projekt der „guten Gesellschaft“ auf der anderen. Die Zivilgesellschaft als genuin liberales Konzept definiert sich demnach zum einen durch die Zivilität der Diskurse und zum anderen durch das institutionelle Merkmal freiwilliger Vereinigungen, die ein gewisses Gegengewicht zum Staat bilden. Die „gute Gesellschaft“ im kommunitarischen Sinne geht jedoch darüber hinaus. Sie definiert sich durch die materiale Moralität im Hinblick auf die Gemeinschaft, also auf den normativen Inhalt der Dinge, die durch freiwillige Assoziationen gefördert werden (Etzioni 2005:39). Die gute Gesellschaft baut also auf der Zivilgesellschaft auf und ist gleichzeitig voraussetzungsvoller, weil sie nicht nur den guten Bürger, sondern den guten Menschen erfordert. Dieser Aspekt der moralischen Voraussetzungshaftigkeit von Bürgergesellschaft macht wiederum auf die in der aktuellen Diskussion meist völlig verdeckte Verbindung von Engagement und Religiosität aufmerksam. Zwar ist in der empirisch vorfindbaren Praxis des Engagements unübersehbar, dass es auch heutzutage noch häufig religiös gebundene Menschen sind, die sich freiwillig engagieren. In der Theoriediskussion wird dieser Zusammenhang vor dem Hin„Schröder-Blair-Papier“ von 1999 mit der Rede vom „Dritten Weg“ zeigt deutliche Rückbezüge auf Gedankengut der amerikanischen Kommunitarier (siehe dazu auch Jun 2000 und Vorländer 2001). 11 Zur amerikanischen Debatte vgl. die Beiträge in Honneth (1993); zur Entwicklung des kommunitaristischen Denkens nicht zuletzt in seinen soziologischen und politisch-kulturellen Dimensionen vgl. Zahlmann (1992), Reese-Schäfer (1994, 1997), Forst (1994) und Chatzimarkakis/Hinte (1997). Die wichtigsten Positionen der Kommunitarier finden sich bei Taylor (1988, 1995), MacIntyre (1995) und Etzioni (1997). Die sozialphilosophische Auseinandersetzung verknüpfte sich später mit einer zeitdiagnostischen Diskussion über den Zustand des amerikanischen Gemeinwesens im Zeitalter des entfesselten ökonomischen Neoliberalismus und fortschreitender sozialer Individualisierung (Bellah u.a. 1985, 1991). 12 Zu den konkreten (sozial-)politischen Folgerungen aus einer kommunitarisch begründeten Position vgl. Roth (1995), Hilpert (1996), Keupp (1997), Budäus/Grüning (1997), Wagner (1998), Kersting (1998), Reese-Schäfer (1998 und 1999) und aktuell Meier (2001). Der groß angelegte Projektverbund Bürgerschaftliches Engagement / Seniorengenossenschaften beim Sozialministerium des Landes Baden-Württemberg ist ebenfalls maßgeblich durch amerikanische Kommunitaristen angeregt worden; vgl. dazu Hummel (1995, 2001).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
tergrund von Säkularisierungsbefunden für die modernen Gesellschaften jedoch ausgeblendet. Der historische Blick dagegen zeigt, dass es durchaus einen konzeptuellen Zusammenhang von Religion und Zivilgesellschaft gibt und ein rein säkulares Verständnis von Zivilgesellschaft zu kurz greift (vgl. Borutta 2005)13. Die vorliegende Studie macht im empirischen Teil deutlich, wie eng die Verbindung von Religion und freiwilligem Engagement in der heutigen bürgergesellschaftlichen Praxis noch ist. Bürgergesellschaftliche Zentralfiguren schlagen mühelos die Brücke von religiöser, z.T. kirchlicher Bindung einerseits zu einem säkular verstandenen Republikanismus andererseits (siehe Kap. 5.3.1).
2.2.1 Die republikanische Tradition Die kommunitarischen und republikanischen Positionen konnten an einer bestimmten ideengeschichtlichen Tradition anknüpfen. Diese machte teils aus anthropologischen, teils aus demokratietheoretischen Überlegungen heraus den aktiven, an den „res publica“ partizipierenden Bürger zum Mittelpunkt normativer Gesellschafts- und Politiktheorie. Im Kern dieser Tradition steht die Vorstellung, dass erst der tugendhafte und am Gemeinwohl orientierte, aktiv engagierte Bürger eine soziale und politische Ordnung funktionsfähig macht und stabil auf Dauer stellen kann14. Deutlich wird die spezifische Kontur dieser Tradition, wenn man auf einen ihrer frühneuzeitlichen Hauptvertreter blickt, auf Niccolo Machiavelli. Der Autor, der heute den meisten nur noch als Urheber des Traktats über den „Principe“ bekannt ist, hatte herausgearbeitet, dass ein stabiler Staat neben der harten Hand des Fürsten auch den aktiven, pflichtbewussten und engagementbereiten Bürger braucht. Im Zentrum steht dabei der Begriff der Virtu. Er trägt charakteristischerweise zwei Komponenten, die zugleich die beiden Eckpfeiler des Machiavellischen Denkens markieren15:
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Der Zusammenhang von Religiosität und Zivilgesellschaft stellt sich natürlich in einer von Migrationsprozessen geprägten, „globalisierten“ Welt mit transnationalen Vernetzungen ohnehin ganz anders dar, denn auch fundamentalistische Bewegungen können zum – wie auch immer problematischen – Bestandteil von Zivilgesellschaft werden; vgl. dazu Arani (2005). 14 Siehe hierzu vor allem die Arbeiten von Herfried Münkler (1991, 1992) zum klassischen Tugendideal und Münkler (1994, 1997, 2000, 2002) zu Tugend und Gemeinsinn als unerlässliche Ressource der Bürgergesellschaft; einen umfassenden ideengeschichtlichen Überblick zum republikanischen Tugend-Diskurs gibt Schmitz (2001). 15 Zum Republikanismus und zum Tugendkonzept bei Machiavelli siehe grundlegend Münkler (1984, 1994) sowie Skinner (1988: 83ff).
2.2 Der Theoriediskurs 1.
2.
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Virtu als bürgerlich-politische Tugend; hier handelt es sich um eine Disposition des Volkes, um die politische Kultur, die eine republikanische Ordnung auf Dauer zu stellen vermag und bei deren Erosion zugleich auch der Verfall des Gemeinwesens droht. Die Virtu der Vielen ist somit Garant republikanischer Freiheit, und die Republik ist wiederum die einzige politische Ordnung, in der sich Freiheit und Gemeinwohl dauerhaft realisieren lassen16. Virtu als politische Energie und Handlungsfähigkeit politischer Führer; diese Dimension wird vor allem im „Principe“ behandelt. Immer wieder, so Machiavelli, kommt es in der Politik zu Konstellationen, wo der erfolgreiche politische Akteur ohne Rücksicht auf Moral und Ehrlichkeit handeln muss, um die Stabilität der gesamten Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. Allerdings ist diese Amoralität kein Grundprinzip des Herrscherhandelns. Normalerweise soll der Führer durch sein Tun auch ein Vorbild sein, das den Bürgern hinsichtlich ihrer Tugendhaftigkeit zur Orientierung dienen kann.
Entscheidend ist nun, dass für ein Gelingen der republikanischen Ordnung beides, die Handlungsfähigkeit der Führer und die Tugendhaftigkeit der Bürger, zusammenspielen müssen. Machiavelli sah dies in der römischen Republik vorbildhaft verwirklicht. Die „Arbeitsteilung“ zwischen beiden Instanzen des politischen Geschehens sieht so aus: Die starken Führerpersönlichkeiten sind vor allem in Gründungs- oder Neugründungsphasen wichtig, während die Bürgertugend gleichsam den Normalmodus der Republik absichert. So heißt es bei Machiavelli: „Wenn ferner es auch ein einzelner Mann vermag, eine Verfassung zu geben, so ist doch diese nicht von langer Dauer, wenn ihre Erhaltung auf den Schultern eines einzelnen Mannes ruht; wohl aber wenn viele dafür Sorge tragen. So wie nämlich viele nicht geeignet sind, ein Staatswesen zu ordnen, weil sie bei ihrer Meinungsverschiedenheit das Beste desselben nicht erkennen, ebenso wenig vereinigen sie sich dazu, es wieder zu verlieren, wenn sie es einmal erkannt haben“ (Machiavelli 1990: 151f).
In heutige Begriffe übersetzt, lässt sich die Erkenntnis wie folgt formulieren: Republik (Bürgergesellschaft) kann nur dann dauerhaft funktionieren, wenn die Klugheit der politischen Eliten in eine politische Kultur eingebettet ist, die tugendhaftes Verhalten der Bürger erwartbar macht. 16
Diese Dimension Machiavellis als Theoretiker der Republik findet sich vor allem in den „Discorsi“ („Erörterungen über die erste Dekade des Titus Livius“) und in der Florentinischen Geschichte; siehe dazu Machiavelli (1990).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
Was aber ist dabei genauer mit dem Begriff der Tugendhaftigkeit gemeint? Im Kern stellt dieser Tugendbegriff, wie später derjenige Montesquieus, auf die Bereitschaft ab, dem Gemeinwohl gegenüber dem privaten Eigennutz des Individuums einen Vorrang einzuräumen. Machiavelli verweist in seinen „Discorsi“ zur römischen Geschichte auf jenes berühmte Beispiel des Brutus, das noch in den Zeiten der Französischen Revolution als Ikone republikanischer Tugend propagiert wurde17. Junius Brutus hatte Rom von der Tyrannei des letzten seiner Könige befreit. Da aber die eigenen Söhne zu den Nutznießern der Gewaltherrschaft gehört hatten, schlossen sie sich bald einer Verschwörung gegen die republikanische Ordnung an. Brutus brachte daraufhin die eigenen Söhne vor Gericht und wohnte sogar ihrer Hinrichtung bei. Dies, so Machiavelli, sei ein zwar seltenes, aber höchst durchschlagendes Beispiel dafür, wie eine Republik auch in Zeiten größter Gefahr stabilisiert werden könne: private Interessen müssen hinter dem Gemeinwohl zurückstehen. Nun vermag diese Härte, die an den Machiavelli des „Principe“ erinnert, heutigen Überlegungen zur Bürgergesellschaft kaum zur Anregung dienen. Und dennoch ist der Grundgedanke im Sinne republikanischer Tugendhaftigkeit durchaus noch relevant: Nur wenn Eliten wie Bürger bereit sind, Opfer zu bringen und den Eigennutz konsequent hinter das Gemeinwohl zu stellen, kann in dieser Sichtweise Bürgergesellschaft funktionieren. Solche Opfer bestehen heutzutage eher aus Zeit, Energie, Arbeit oder auch Geld, aber die Logik ist im Prinzip die gleiche. Noch genauer lässt sich der Bezug zur heutigen Bürgergesellschaft formulieren, wenn man die Opferbereitschaft als Bereitschaft zur Partizipation übersetzt. Diese Bereitschaft setzt voraus, dass man nicht nur äußerlich die entsprechende Zeit und den notwendigen Aufwand für eine solche Beteiligung in politischen oder sozialen Kontexten aufbringen kann, sondern dass man auch innerlich entsprechend zur Partizipation disponiert ist. Herfried Münkler (1997: 157) spricht hier von der „habituellen Kompetenz“ der Bürger, um auf diese Voraussetzung einer im weiteren Sinne republikanischen Ordnung aufmerksam zu machen. Dieser Traditionsstrang reicht insgesamt von Aristoteles über den neuzeitlichen Republikanismus eines Machiavelli und Rousseau bis hin zu Hannah Arendts „Vita activa“ (1960) und Benjamin Barbers Konzept einer „strong democracy“ (1984)18. Auch die breite Diskussion über direkte Demokratie in Deutsch17
Man denke hier nur an Jacques-Louis Davids monumentales Gemälde „Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne“ (1789), das eine wichtige Rolle in der Symbolpolitik der Revolutionäre gespielt hat. 18 Zur Ideengeschichte und zur aktuellen Bedeutung republikanischer Denkweisen vgl. umfassend Sandel (1995) und Pettit (1997).
2.2 Der Theoriediskurs
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land19 schließt in vielen Teilen an diesen Diskurs an, der wie die Kommunitaristen den Bürger als gemeinschaftlich und aktiv politisch dimensioniert begreift. In der politikwissenschaftlichen Literatur hat sich dann wiederum eine größere Debatte über bürgergesellschaftliche Potentiale in der Kommunalpolitik und vor allem über den möglichen Zusammenhang von Bürgergesellschaft und staatlich konstruierter „Bürgerkommune“ entfaltet20.
2.2.2 Die liberale Tradition Der Diskurs über Bürgergesellschaft und Civil Society speist sich aber nicht nur aus der republikanischen, sondern auch aus einer liberalen Tradition. Diese betont den Gedanken des sich gegen den Staat abgrenzenden und auf eigene Autonomie pochenden Bürgers. Sie reicht von John Locke über John Stuart Mill bis zu Ralf Dahrendorf, der mit seinen aktuellen Appellen zu einer Loslösung des freien Assoziationswesens aus der Umklammerung durch Staat und bürokratisierte Großverbände in der sozialpolitischen Diskussion in Deutschland intervenierte21. Der Soziologe, der früher für die FDP aktiv Politik gemacht hat und noch heute zu ihren kritischen intellektuellen Begleitern gehört, bezieht sich in seinen Ausführungen explizit auf Locke, Burke und Madison, um die Pointe einer liberalen Lesart von civil society zu verdeutlichen22. Bürgergesellschaft wird hier als die „dritte Säule der Freiheit“ in modernen Gesellschaften verstanden. Die erste Säule ist der demokratische Rechtsstaat. Er vermittelt seinen Mitgliedern über den Bürgerstatus bestimmte Anrechte, die es ihnen ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die zweite Säule ist der Markt. Er vermittelt den Bürgern ein Angebot, das sich in Form des markt19
Vgl. Klein/Schmalz-Bruns (1997) sowie, mit stärker praktisch-anwendungsbezogenem Akzent, Bühler (1997) und Heußner/Jung (1999). 20 Siehe dazu aus der Sicht der Praxis den Bericht der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (1999) zu der „Chance für Kommunen“ im Rahmen eines allgemeinen Aufschwungs der Bürgergesellschaft; zum Zusammenhang von Bürgergesellschaft und neuer kommunaler Politik vgl. Heinelt (1997), Banner (1999), Paust (2000), Bogumil/Holtkamp (2001), Dettling (2001), Glück/Margel (2002), Haus (2002). Diese Perspektive auf den kommunalen Kontext hat vor allem Michael Haus vertieft, indem er u.a. auf den „städtischen Raum“ als Raum von sozialer Ungleichheit und Exklusion hinweist, was soziales Kapital und zivilgesellschaftliche Ressourcen gefährdet (Haus 2005); konkrete Überlegungen zur Förderung von Bürgerengagement als Bestandteil von lokaler Politik finden sich in Holtkamp u.a. (2006). Eine erste empirische Bilanz zu „bürgerorientierten Kommunen“ in Deutschland bieten Pröhl u.a. (2002). 21 Die liberale Position wird in der Dritte-Sektor-Forschung vor allem von Rupert Graf Strachwitz vertreten (vgl. Strachwitz 1998). 22 Zu Dahrendorfs Konzept siehe ausführlich Dahrendorf (1992: 67ff, 1993 und 1999). Dieses liberale Konzept entspricht ziemlich genau jenem Bild, das Etzioni (2005) als Gegenbild zur kommunitarisch definierten „guten Gesellschaft“ entwirft.
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produzierten Wohlstands darbietet. Soziale Konflikte in der Moderne sind dann nichts anderes als die Auseinandersetzung der Menschen um Anrechte und Angebote und somit ein Kampf um die Realisierung von Lebenschancen (Dahrendorf 1992). Das Ziel der „dritten Säule“ Bürgergesellschaft liegt entsprechend darin, die Lebenschancen der Bürger zu steigern, indem die allen gemeinsamen Anrechte ausgeweitet und die verfügbaren Angebote gesteigert werden (Dahrendorf 1999: 91). Wie aber ist Bürgergesellschaft vor diesem Hintergrund zu definieren? Dahrendorf macht folgenden Vorschlag: „Die Bürgergesellschaft, so will ich das in Anknüpfung an das Denken des 17. und 18. Jahrhunderts hier verstehen, ist die Gesellschaft, in der eine Vielfalt autonomer Institutionen und Organisationen aufrechterhalten wird durch den Bürgersinn ihrer mit Rechten ausgestatteten Mitglieder, die daher Bürger im weitesten und tiefsten Sinne sind“ (Dahrendorf 1993: 75). In dieser Definition finden sich zwei Elemente, die schon die Stoßrichtung des liberalen Ansatzes verdeutlichen: Es handelt sich erstens um eine Pluralität von Größen, die Bürgergesellschaft ausmachen, und es handelt sich zweitens um autonome Gebilde. Diese Autonomie bezieht sich vor allem auf die Unabhängigkeit vom Staat. Bürgergesellschaft, so Dahrendorf, kann sich nur da angemessen entfalten, wo eine hinreichende Abgrenzung gegenüber dem Staat und seinem administrativen Apparat vorhanden ist. Pluralität als Merkmal verweist auf die Notwendigkeit der Vermeidung von Konzentrationsprozessen, die das Spiel einer Vielzahl von Interessen und Bestrebungen aus dem Gleichgewicht bringen. Im Anschluss an Mancur Olson macht Dahrendorf deutlich, dass „die Organisationen der Bürgergesellschaft eine Tendenz haben, sich erstens kartellartig zusammenzuschließen und zweitens als Kartell eine besonders enge Beziehung zum Staat zu suchen“ (Dahrendorf 1993: 81). Kartellismus und Korporatismus jedoch drohen die Freiheit der Bürgergesellschaft zu zerstören. Die liberale Bürgergesellschaft muss also demzufolge auf Pluralität und Autonomie bestehen, wenn sie ihre Funktionsfähigkeit bewahren will. Gerade der in Deutschland etablierte konservativ-korporatistische Typ des Wohlfahrtsstaats (EspingAndersen 1990) stellt somit eine gewisse Gefahr für die zivilgesellschaftliche Autonomie dar. Das dritte Merkmal, das in Dahrendorfs Modell immer wieder betont wird, ist die Zivilität. Damit sind vor allem Dispositionen auf Seiten der Bürger gemeint, die sich mit den Begriffen Bürgersinn, Toleranz, Gewaltfreiheit und Teilnahme umschreiben lassen. Bürgersinn ist vor allem deshalb nötig, weil Bürgergesellschaft im Kern auf Freiwilligkeit beruht. Hier zeigt sich eine wichtige Differenz zum Republikanismus. Während dort der Bürger zur Mitarbeit an der Politik und zum Dienst in der Gemeinschaft verpflichtet ist, zählt es zu den kon-
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stitutiven Bedingungen der liberalen Vorstellung von civil society, dass die Bürger aus freien Stücken handeln. Sie dürfen stets auch „nein“ sagen und sich gegenüber den Zumutungen des öffentlichen Engagements in ihre private Welt zurückziehen. Als genuinen Bereich solcher freiwilliger Tätigkeit bestimmt Dahrendorf schließlich den Dritten Sektor, weil hier eben jene Freiwilligkeit herrscht, die weder in der Sphäre des Staates noch in der des Marktes gelten kann: Hier wird man tätig „ohne dass es einem vom Staat befohlen wird und ohne dass man damit Geld verdienen muss“ (Dahrendorf 1999: 102). Die letzte Formulierung lässt sich, ohne dass dies von Dahrendorf weiterverfolgt wird, auch so interpretieren, dass die freiwillige Tätigkeit voraussetzungsvoll ist. Nur derjenige nämlich, der genug Zeit bzw. genug Geld hat, um von ökonomischer Tätigkeit freigestellt zu sein, nur derjenige kann zum Träger der Aktivitäten im Dritten Sektor werden. Diese bei Dahrendorf nicht explizit berücksichtigte Restriktion wird im Folgenden unter dem Aspekt der sozialen Ungleichheit, der möglichen Schließungsprozesse und der Elitenbildung in der Bürgergesellschaft noch ausführlich beleuchtet werden.
2.2.3 Alexis de Tocqueville und die Theorie der Bürgergesellschaft Der erste umfassende Ansatz zu einer Theorie der Bürgergesellschaft stellt in vieler Hinsicht eine Synthese aus liberalem und republikanischem Denken dar. Alexis de Tocqueville (1835/40) studierte auf seinen Amerika-Reisen vor allem das politische und soziale Leben in den Gemeinden. Er betrachtete die politische Kultur des Bürgerengagements als ein wichtiges Korrektiv zur repräsentativen Demokratie und einer im modernen Großflächenstaat notwendigerweise immer stärker werdenden Staatsinstitution23. Tocquevilles Ansatz soll an dieser Stelle etwas ausführlicher vorgestellt werden, weil er viele Aspekte der aktuellen Diskussion schon damals sehr plastisch beschrieben und die grundsätzlichen Probleme einer modernen Bürgergesellschaft auf den Punkt gebracht hat. Zudem verweist er sehr hellsichtig auf die Bedeutsamkeit der politischen Kultur und somit auf eine Größe, die sich auch im Verlauf des hier dargestellten empirischen Projektes als höchst relevant herausgestellt hat. Die Auseinandersetzung mit Tocqueville hat schließlich auch der neueren kommunitarischen Diskussion wichtige Impulse gegeben, wie vor allem Robert N. Bellahs Studie zu den „Habits of the Heart“ der Gegenwartsamerikaner zeigt (Bellah u.a. 1985). 23
Der Bezug zu Tocqueville wurde in der neueren Diskussion vor allem von Bellah u.a. (1985) hergestellt. Zur Aktualität der Tocquevilleschen Analysen für zivilgesellschaftliche Perspektiven vgl. Hereth (2001) und Dörner (2003: 588f.).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
Wenn es so etwas wie den Klassiker des Diskurses über Bürgergesellschaft gibt, dann ist das ohne Zweifel der französische Adelige Alexis de Tocqueville mit seiner Studie über die amerikanische Demokratie, die 1835 und 1840 in zwei Büchern veröffentlicht wurde. Tocqueville war als französischer Regierungsbeamter 1831 zu einer Reise in die Vereinigten Staaten aufgebrochen, um die dortige Reform des Gefängniswesens zu studieren. Er war sofort fasziniert von einer politischen Ordnung, in der Demokratie empirisch funktionierte. Die französische Heimat des Juristen hatte gerade einige radikale Systemwechsel hinter sich: von der Monarchie zur Demokratie, von der Terrorherrschaft der Jakobiner zum „Konsulat“ und schließlich zum Kaiserreich Napoleon I., von der konstitutionellen Monarchie der Restaurationszeit zur Julirevolution und dem „Bürgerkönigstum“ des Louis Philippe. Vor allem nach dem radikalen Experiment der Französischen Revolution, in der man gleichsam versucht hatte, Rousseaus Demokratiefiktion mit Gewalt zu installieren, musste der unaufgeregte Modus, in dem das amerikanische System nun schon seit einigen Jahrzehnten funktionierte, geradezu wie ein Wunder erscheinen. Tocqueville zählte keineswegs zu den naiven Bewunderern demokratischer Freiheiten, und er arbeitete in seinem Amerika-Buch immer wieder die Schwachstellen und Gefahren der Volkssouveränität heraus. Aber er sah auch, dass die amerikanischen Erfahrungen mit der Umsetzung des demokratischen Gedankens in einem modernen Großflächenstaat durchaus wegweisende Bedeutung für die Zukunft auch der europäischen politischen Welt hatten. Demokratie war in den USA nicht länger eine konstruierte hypothetische Größe, sondern eine konkrete Lebensform geworden24. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Rousseauschen Entwurfs einer radikalen Volkssouveränität und dessen folgenreicher Umsetzung in den Jahren des jakobineschen Terrors war Tocqueville äußerst sensibel für die Gefahren, die mit dem Demokratieprinzip für die Freiheit der Bürger heraufziehen konnten. Das entscheidende Problem sah er in der „Tyrannei der Mehrheit“ (Tocqueville 1985: 145ff). Einerseits ist das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsmodus in einer modernen Großgesellschaft unverzichtbar. Andererseits jedoch geraten Minderheiten in Gefahr, dauerhaft unterdrückt zu werden. Es bedarf sorgfältig konstruierter institutioneller Einrichtungen, um totalitäre Auswüchse des Demokratieprinzips zu vermeiden25. Dazu zählen in Amerika die Dezentralisierung der Macht, der 24
Zu Tocquevilles Theorie vgl. grundlegend die klassische Studie von Lerner (1969); Einführungen zur Gedankenwelt Tocquevilles vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands bieten Herb/Hidalgo (2005) und Brogan (2007). 25 Diese sind umso ernster zu nehmen, als die „absolute Gewalt“ des Machthabers in der demokratischen Gesellschaft nicht mehr durch traditionale Schranken wie Stände und entsprechende Sitten und Ehrbegriffe gepuffert werden kann.
2.2 Der Theoriediskurs
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Föderalismus, die „checks und balances“ eines ausgeklügelten Systems der Gewaltenteilung und nicht zuletzt die starke Justiz, die auch aufgrund ihres konservativ-aristokratischen Charakters ein bedeutendes Gegengewicht zur entfesselten Souveränität der Mehrheit darstellt (Tocqueville 1985: 90ff). Die tyrannische Gefahr der Mehrheitsherrschaft besteht aber vor allem auf einer anderen Ebene als der von Entscheidungsverfahren. Ist die Gleichheit der Lebensverhältnisse eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein demokratisches System sich dauerhaft stabilisieren kann, so zeigt sich in Amerika gleichzeitig auch eine große Tendenz zur Nivellierung, zur Gleichförmigkeit der Lebensweisen, Meinungen und Ideologien, die einen gewaltigen Konformitätsdruck ausübt. Es herrscht ein „Höflingsgeist“ nicht gegenüber einem Fürsten, sondern gegenüber der Mehrheit, wie sie sich in der wahrnehmbaren öffentlichen Meinung manifestiert. Die Mehrheit „lebt in andauernder Selbstbewunderung“, und wer abweicht, wird ausgegrenzt (Tocqueville 1985: 150ff). Gegen solche sozialen Nivellierungsprozesse helfen keine institutionellen Sicherungen, und so vermag es kaum zu wundern, dass Tocqueville in den Schlusskapiteln seines zweiten Buches düstere Prognosen für die Zukunft von Individualität und Freiheit in der Massengesellschaft stellt26. Für den vorliegenden Zusammenhang ist aber entscheidend, dass Tocqueville in bürgergesellschaftlichen Strukturen einen ganz wichtigen Garant demokratischer Freiheit erblickt. In der konkreten Auseinandersetzung mit der Realität amerikanischer Politik, vor allem der Politik „vor Ort“ in den Gemeinden, arbeitet der französische Beobachter einige Grundprinzipien und Voraussetzungen heraus. Sie sind auch für heutige Überlegungen zur Machbarkeit von Bürgergesellschaft von hoher Relevanz. Die Erfahrbarkeit sinnvollen und wirksamen Handelns wird Tocqueville zufolge vor allem durch die Autonomie der Gemeinden sichergestellt. Die gesamte Analyse der amerikanischen Politik setzt hier bei der Untersuchung der Gemeinden an. Bürgergesellschaft ist in diesem Sinne Demokratie „vor Ort“. Der ent-
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Hier ist auch die berühmte Formulierung zum Schicksal der Ehre in der modernen Demokratie lokalisiert. Die Ehre, so Tocqueville, wurde durch Unähnlichkeit und Ungleichheit unter den Menschen geschaffen; „je geringer diese Verschiedenheiten werden, desto schwächer wird die Ehre, und mit ihnen würde sie ganz verschwinden“ (Tocqueville 1985: 282). Dieser prognostische Bereich der Untersuchung, der eine völlige Nivellierung in allen Lebensbereichen unterstellt, gehört ohne Zweifel zu den schwächeren Teilen der Untersuchung. Nicht nur die amerikanische Kultur des expressiven Individualismus, die sich gegenwärtig bester Vitalität erfreut, spricht deutlich dagegen, sondern auch die Individualisierung bzw. Pluralisierung der Milieus und Lebensstile, wie wir sie zurzeit in fast allen modernen Gesellschaften beobachten können. Die Fehlprognose trifft auch für die Ehre selbst zu, die in der Gegenwartsgesellschaft noch viel präsenter ist, als es Tocquevilles Prognose glauben machen will; vgl. Vogt (1997).
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scheidende Vorteil liegt darin, dass in der Gemeinde politisches Handeln tatsächlich für jeden Bürger konkret erfahrbar wird: „Die Gemeindeinstitutionen sind für die Freiheit, was die Volksschulen für die Wissenschaften sind; sie machen sie dem Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem friedlichen Gebrauch und gewöhnen es daran. Ohne Gemeindeinstitutionen kann sich ein Volk eine freie Regierung geben, aber den Geist der Freiheit besitzt es nicht“ (Tocqueville 1985: 52).
In neuerer Begrifflichkeit könnte man hier von einer politischen Habitualisierung sprechen, die der Bürger durch seine Mitarbeit in der Kommune durchläuft. Er begreift, dass es Sinn macht, sich vor Ort zu engagieren, weil man damit die eigenen Lebensverhältnisse mitgestalten kann. Man fühlt sich nicht als passives Objekt, als Verwaltungsklient, sondern als Urheber dessen, was den Rahmen der eigenen Privatexistenz darstellt27. Voraussetzung einer solchen Erfahrung ist, das kehrt Tocqueville vor allem gegen den kontinentaleuropäischen Zentralismus heraus, eine weitgehende Autonomie der Gemeinden. Je mehr Kompetenzen bei den Gemeinden verbleiben, umso eher werden die Bürger bereit sein, sich zu engagieren. Und wo den Gemeinden die Unabhängigkeit beschnitten wird, „kann es immer nur Verwaltete, nie aber Bürger geben“ (Tocqueville 1985: 59). Daher ist die Autonomie der Gemeinden, die schon in der englischen Kolonialzeit gewachsen war, die beste Gewähr für eine aktive Bürgerschaft. Die Rolle des Staates beschränkt sich auf den Hintergrund, er führt – ganz anders als etwa in Frankreich oder Deutschland – ein „unauffälliges und stilles Dasein“. Damit ist eine wichtige Voraussetzung bürgergesellschaftlicher Freiheit erfüllt, wie sie oben schon im Anschluss an Dahrendorfs liberale Theorie angeführt wurde. Tocqueville geht in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Zusammenhang dezentraler Zugänglichkeit politischen Handelns ein. Bei starken Zentralregierungen ist zwar das Ausmaß an Macht und Ruhm, das die „Amtstätigkeit“ ihren Trägern verleihen kann, relativ groß. Die Zahl der Bürger aber, die in den Genuss solcher einflussreichen und angesehenen Positionen kommen können, ist sehr klein. Wenn jedoch das bei den meisten Menschen vorhandene „Begehren nach Ansehen, der Drang realer Interessen und der Hang nach Macht und Betrieb“ in vielen Gemeinden jeweils vor Ort bedient werden kann, dann wird gleichsam die Erfahrbarkeit des Politischen mit all ihren psycho-sozialen Vorteilen für die Individuen demokratisiert. Die Bürger sind aktiv, weil sie die
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Zum lokalen Bezug und zur lokalpatriotischen Motivation des politischen Engagements in der Gemeinde vgl. jetzt auch die Studie von Schubert (2002).
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eigene Umwelt im Sinne ihrer Interessen gestalten und sich dabei noch als „mächtig“ und angesehen erfahren können. Aus der Erfahrung kontinentaleuropäischer Verwaltungspraxis heraus weist Tocqueville mit allem Nachdruck auf eine Schwachstelle hin, die sich gerade in der gegenwärtigen deutschen Diskussion um Bürgergesellschaft und Bürgerkommune lebhaft nachvollziehen lässt. Unter dem Druck der knappen Kassen entdecken viele Kommunalverwaltungen plötzlich den aktiven Bürger, ohne jedoch wirklich von eigener Entscheidungskompetenz viel abgeben zu wollen. Diesen durchschaubaren Versuchen, eigene Regierungsverantwortung im Sinne des responsible government nicht wahrnehmen, sondern auf die Schulter der Bürger verteilen zu wollen, setzt Tocqueville eine klare Absage entgegen – es wird nicht funktionieren: „Es kommt dann bisweilen vor, dass die zentralisierte Verwaltung in ihrer Not die Bürger zu Hilfe ruft; doch sie erklärt ihnen: ihr handelt wie ich will, soviel ich will und genau in dem Sinne, den ich will. Ihr befasst euch mit dem Einzelnen, ohne nach der Führung des Ganzen zu streben; ihr arbeitet im Dunkeln, und ihr werdet mein Werk später an den Früchten beurteilen. Unter solchen Bedingungen lässt sich die Mitarbeit menschlichen Wollens nicht erlangen. Es braucht für sein Streben Freiheit, für seine Taten Verantwortung. Der Mensch ist so geartet, dass er lieber keinen Finger rührt als in Abhängigkeit einem Ziel zuzuschreiten, das er nicht kennt“ (Tocqueville 1985: 70).
Neben den weitgehend autonomen Gemeinden sind die freiwilligen Zusammenschlüsse, ist das Vereins- und Verbändewesen eine ganz wichtige Stütze der Bürgergesellschaft. Die freien Assoziationen bilden den Kern der Infrastruktur, innerhalb derer sich bürgergesellschaftliches Engagement entfaltet28. Sie tragen einen Modus dezentraler Steuerung und pluraler Interessenartikulation, der für die Bearbeitung komplexer gesellschaftlicher Probleme weitaus besser geeignet erscheint als eine zentrale Regierungsinstanz. Die amerikanische Bevölkerung ist in ihrer Bereitschaft, ja geradezu in ihrer Manie, sich für bestimmte Ziele zu Vereinigungen zusammenzuschließen, für Tocqueville durchaus vorbildlich: „Amerikaner jeden Alters, jeden Ranges, jeder Geistesrichtung schließen sich fortwährend zusammen. (...) Überall, wo man in Frankreich die Regierung oder in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden“ (Tocqueville 1985: 248).
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Dieser Aspekt ist später vor allem in den Pluralismustheorien, etwa bei Harold Laski und Arthur F. Bentley, aufgegriffen worden. In neuerer Zeit ist das Assoziationswesen zum Mittelpunkt des Ansatzes von „assoziativer Demokratie“ geworden; vgl. dazu ausführlich Schuppert (1997).
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Bürgergesellschaft ist dabei nicht nur wirksam im Sinne der Durchsetzung bestimmter politischer Inhalte, sondern sie fungiert gleichzeitig auch als eine Sozialisationsinstanz für alle Beteiligten. In den Vereinigungen wirken die Menschen gegenseitig aufeinander, und dieser Interaktionsprozess vermittelt dem einzelnen Akteur die Erfahrung, Teil eines gemeinsamen Handlungszusammenhangs zu sein und als solcher Erfolg zu verspüren. In etatistischen Gesellschaften dagegen erfährt der einzelne sich nur als Objekt eines zentral gesteuerten Regierungshandelns. Er ist folglich viel weniger in der Lage, eigenständig sein Leben und seinen gesellschaftlichen Kontext zu gestalten (Tocqueville 1985: 251). Die Betätigungsfelder und Zwecke der Zusammenschlüsse sind dabei ausgesprochen vielfältig. Das Spektrum reicht von politischen Projekten im engeren Sinne über Fragen der Gesundheit, der Kultur und der Bildung bis zu reinem Freizeitvergnügen. Demokratie und freiwillige Assoziationen, so das Fazit Tocquevilles, sind so eng verknüpft, dass die Lehre von den Vereinigungen als eine „Grundwissenschaft“ erscheint, von deren Weiterentwicklung der gesamte Wert der Erkenntnis über die Funktionsweise von modernen Demokratien abhängt. Die große Frage, die Tocqueville vor allem vor dem Hintergrund der problematischen französischen Erfahrungen immer wieder umtreibt, ist die nach den Ursachen für die Überlebensfähigkeit einer demokratischen Ordnung in den Vereinigten Staaten. Warum gelingt hier in einem ganz unspektakulären Modus, was in Frankreich wahre Blutbäder produziert hat, um schließlich doch nur in Kaiserreich und wiedererrichteter Monarchie zu enden? Tocqueville diskutiert zunächst zwei in der bisherigen Diskussion häufig erörterte Variablen: die physischen Gegebenheiten (vom Klima bis zu den Bodenschätzen) und die Gesetze. Beide Variablen werden mit Hilfe vergleichender Betrachtungen als nicht ausreichende Erklärungsgründe erwiesen, so dass der Autor schließlich eine dritte, bislang zu wenig beachtete Größe ins Spiel bringt: die „Sitten“ (Tocqueville 1985: 183ff). Nicht die objektiven Rahmenbedingungen und auch nicht die rechtlich institutionalisierten Normen sind demnach entscheidend für die Überlebensfähigkeit einer Demokratie, sondern die (politisch-) kulturelle Dimension. Was versteht Tocqueville nun genau unter „Sitten“? Die Antwort enthält mehrere Komponenten: es sind die Vorstellungen und Meinungen der Menschen sowie die „Gesamtheit der Ideen, aus denen die geistigen Gewohnheiten sich bilden“. Über diese kognitive Ebene hinaus zählen aber auch die „Gewohnheiten des Herzens“29 dazu, d.h. die in einer Gesellschaft üblichen und als „normal“ akzeptierten Weisen des Fühlens und des miteinander Umgehens. Tocqueville spricht hier also das gesamte Spektrum dessen an, was in der neueren Forschung 29
Eben diese Formulierung greifen Bellah u.a. (1985) im Titel ihrer Studie über die Kultur des gegenwärtigen Nordamerika auf.
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als „politische Kultur“ bezeichnet wird: habitualisierte, über lange Zeiträume tradierte Formen des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens und Handelns30. Erst wenn man diese Ebene kultureller Dispositionen in die Betrachtung einbezieht, kann man verstehen, warum Bürgergesellschaft in den USA trotz aller systemischen Schwächen und trotz aller Unzulänglichkeiten, die auch hier mit konkreten menschlichen Akteuren verknüpft sind, funktioniert. Entscheidend ist eine langfristige Erfahrung der Menschen mit Strukturen der Selbstorganisation, der Interessenartikulation und des Aushandelns vor Ort, die sich im Rahmen der englischen Kolonialherrschaft mit einer weitgehenden Autonomie der Gemeinden vor Ort entfalten konnte. So wurden bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit, deren Dauerhaftigkeit aber gleichwohl jeweils davon abhängt, ob der vorhandene institutionelle Erfahrungsraum auch mit den tradierten Deutungsmustern übereinstimmt. Nur wenn der konkrete Akteur seine Erwartungen in der eigenen Praxis auch stimmig bedienen kann, wird die Tradition auf Dauer gestellt. Letztlich ist es also jeweils ein Zusammenspiel aus kulturellen Dispositionen und strukturellen Handlungsoptionen, die der bürgergesellschaftlichen Ordnung ihre Stabilität verleiht. Übertragen auf die aktuelle Diskussion bedeutet dies, dass die Erfolgsaussichten bürgergesellschaftlicher Arrangements umso höher sind, je mehr entsprechende Traditionen von Partizipation und Selbstorganisation in der Gesellschaft vorhanden sind. Schon im Zusammenhang mit der Autonomie der Gemeinden als notwendiger Voraussetzung für Engagement und Partizipation hatte Tocqueville darauf hingewiesen, dass die amerikanischen Bürger keineswegs einfältige Akteure sind, die sich durch wohlfeile Appelle zur Aktivität bringen lassen. Nur dann, wenn sie tatsächlich eine Wirkung ihrer Mitarbeit in der Kommune beobachten können, sehen sie in der Teilnahme am politischen Prozess auch einen Sinn. Dieser letztlich durchaus kalkulierende Zugang wird von Tocqueville in einem eigenen Kapitel des zweiten Buches systematisch erörtert. Die „Lehre vom wohlverstandenen Interesse“, die in der amerikanischen Öffentlichkeit wie in den alltagsweltlichen Dispositionen der Amerikaner geradezu omnipräsent ist, definiert das tugendhafte Handeln nicht als einen Selbstzweck im Sinne der Philosophie Immanuel Kants. Stattdessen wird Tugend geschätzt, weil sie aus der Sicht 30
Ein solches Konzept von „politischer Kultur“ geht natürlich sehr viel weiter als die in der quantitativen Umfrageforschung erhobenen „Einstellungen“, die eher auf der Oberfläche der politischen Kultur einer Gesellschaft angesiedelt sind und raschem Wandel unterliegen können. Zu dem Tocqueville entsprechenden Konzept von politischer Kultur vgl. Rohe (1987, 1990, 1992) und Dörner (1996, 2000, 2003). In vieler Hinsicht entspricht ein solcher analytischer Zugang dem, was in der Geschichtsforschung mit dem Begriff der „Mentalitäten“ bezeichnet wird; vgl. dazu Sellin (1987).
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der jeweiligen Akteure nützlich erscheint: „In den Vereinigten Staaten sagt man fast nie, die Tugend sei schön. Man behauptet, sie sei nützlich, und man beweist es täglich“ (Tocqueville 1985: 254). Die Amerikaner verfolgen demnach einen „aufgeklärten Egoismus“, der davon überzeugt ist, dass man immer wieder auch einen Teil der eigenen Interessen aufopfern muss, um den gesamten Rahmen, von dem man ja schließlich auch profitiert, zu erhalten. Tocqueville schließt sich dieser amerikanischen Sichtweise an. Er stellt die Annahme als weltfremd dar, in der modernen Welt sei menschliches Handeln dauerhaft auf altruistische Motive zu gründen. Und es gelte auch nicht, im Sinne klassischer Ethiken den „tugendhaften Menschen“ an sich zu suchen. Das wohlverstandene Eigeninteresse führe immerhin zu „einer Menge geordneter, gemäßigter, gesetzter, vorausschauender und beherrschter Bürger“ – mehr sei aber auch realistisch gar nicht zu erwarten. Nun ist ein nutzenorientierter Blick auf den Tugenddiskurs keineswegs ein amerikanisches Privileg, und Tocqueville weist selbst auf Montaigne hin, der den „rechten Weg“ als den letztlich auch nützlichen Weg gekennzeichnet hat. Und in der Tat finden sich in der Philosophiegeschichte eine ganze Reihe von Ansätzen, die den vermeintlichen Gegensatz von Tugendhaftigkeit und kalkulierten Eigeninteressen hinterfragen. Man denke hier nur an Autoren wie La Rochefoucault, der den propagierten Altruismus der Tugendwächter als geschickte Tarnung des Egoismus decouvrierte; an Mandeville, der die Tugend als Selbsttäuschung sah, die man getrost fallen lassen könne, da doch private Laster letztlich zur öffentlichen Wohlfahrt führten, wenn sie nur recht genutzt würden; und schließlich an Helvetius, der das tugendhafte Handeln als eine Folge des Strebens nach Macht, Reichtum und Ansehen sah. Die Kantische Pflichtethik, die „Sittlichkeit ohne den unechten Schmuck des Lohns und der Selbstliebe“ fordert, ist hier offenbar nur eine von vielen denkbaren Varianten31. Der entscheidende Unterschied ist jedoch der, dass die Lehre vom wohlverstandenen Interesse in den USA von einer akademischen Sichtweise zu einem festen Bestandteil der politischen Kultur geworden ist, an dem sich die meisten Bürger orientieren. Folglich müssen amerikanische Moralisten eben nicht an den „besseren“ Menschen appellieren, sondern eigentlich nur an den klügeren. Der soll erkennen, dass die Grundlagen seines eigenen Wohlstands und Wohlbefindens auch daran hängen, ob er sich an der Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung beteiligt. Freilich muss man aus heutiger Sicht ergänzen, dass es kaum das je neu durchdachte Kalkül sein kann, das die Akteure zu den kleinen Opfern einer bürgergesellschaftlichen Kultur bringt. Dann nämlich wäre in massiver Weise auch 31
Zu den verschiedenen Ansätzen der Tugendphilosophie vgl. ausführlich Höffe/Rapp (1998).
2.2 Der Theoriediskurs
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mit Trittbrettfahrern und den damit verbundenen Problemen bei der Produktion öffentlicher Güter zu rechnen, wie sie Olson (1965) ausführlich beschrieben hat. Wichtiger ist, dass es einen Habitus des Engagements als Bestandteil jener „Gewohnheiten des Herzens“ gibt, wie sie Tocqueville im Rahmen der „Sitten“ und somit als Element der politischen Kultur analysiert hat. Nur, wenn es eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit und ein Moment politischer Identität geworden ist, dass man sich auch jenseits unmittelbar erkennbarer Vorteile für das Gemeinwohl und die öffentlichen Angelegenheiten engagiert, nur dann kann eine solche Disposition zur verlässlichen Basis der Demokratie werden.
2.2.4 Zivilgesellschaft und Gegenöffentlichkeit Eine Kombination aus liberalen und republikanischen Elementen hat dann schließlich auch, mit großem Einfluss auf die deutsche Diskussion, Jürgen Habermas in seinem Konzept „deliberativer Politik“ entwickelt (vgl. Habermas 1992, 1992a). Habermas’ in den 1980er Jahren entwickelter Ansatz ist von Cohen und Arato (1992) zu der bislang umfangreichsten (normativen) Konzeption von „Civil Society“ ausgebaut worden. Habermas sieht als Kern der Zivilgesellschaft ein „Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert“ (Habermas 1992: 443f). Hier wird zweierlei deutlich: Zum einen ist die Öffentlichkeitsfunktion der Bürgergesellschaft zentral; es geht nicht um karitative Dienstleistungen oder ein lebendiges Vereinsleben, das letztlich weitgehend in der Privatsphäre verbleibt, sondern um öffentliche politische Diskurse. Zum anderen fungiert Zivilgesellschaft, wenn man das Szenario aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) zugrunde legt, als eine Art Sprachrohr der lebensweltlichen Vernunft, die sich gegen die Zumutungen der Systeme Staat und Wirtschaft behaupten muss. Im öffentlichen Diskurs begegnen sich also politisches System und Lebenswelt, professionell-parlamentarische Politik und kritische Bewegungen. Die Zivilgesellschaft bringt Themen auf die Tagesordnung, die sonst unter den Tisch fallen würden. Sie wirkt an der Definition von Problemlagen mit und macht auf Risiken und Gefahren aufmerksam, die durch die Wahrnehmungsraster des routinierten Politikbetriebs oft herausfallen oder aber interessenbedingt bewusst herausgehalten werden. Und sie präsentiert alternative Lösungen und bereichert so das Spektrum des Sagbaren im politischen Feld, durch das wiederum das Spektrum des Machbaren bestimmt wird. In gewisser Hinsicht ist hier das Bild, das Habermas in seiner Habilitationsschrift zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) zeichnete, korrigiert
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
worden. War dort ein Verfallsszenario von der Blütezeit bürgerlicher Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert bis zu einer kommerzialisierten und politisch instrumentalisierten Öffentlichkeit in der Gegenwartsgesellschaft entworfen worden, so avanciert Zivilgesellschaft später für Habermas zum Hoffnungsträger eines „deliberativen“ Diskurses. Er bringt als Korrektiv der rechtsstaatlich verfassten, etablierten Politik der kapitalistischen Gesellschaft eine nichtkommerzielle und nichtstaatliche Vernunft zum Tragen. Empirisches Korrelat dieser normativen Figur sind die Neuen Sozialen Bewegungen, die in der sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur in den 1980er Jahren als neue Kraft im politischen Feld entdeckt und mitunter enthusiastisch kommentiert wurden. In der neueren Forschung jedoch wird die Rolle der Neuen Sozialen Bewegungen als die einer von mehreren Größen im Geflecht des Dritten Sektors konzeptualisiert32. Dieser ideengeschichtlich dimensionierte, normativ ausgerichtete Diskursstrang hat seine Meriten darin, dass er immer wieder auf die identitätsbildende und sinnstiftende Dimension freiwilligen Engagements verweist und damit auf die öffentliche Diskussion durchaus häufig Einfluss gewinnt33. Er greift dabei jedoch auf Resultate empirischer Forschung nur teilweise und selektiv zurück. Problematisch erscheint vor allem die Einseitigkeit, mit der auf Tugend und Gemeinsinn als Grundlage von Bürgergesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement insistiert wird. Hier vor allem rächt sich, dass die Verknüpfung zur empirischen Forschung allenfalls sehr locker hergestellt wurde. Sonst nämlich hätte man erkennen können, dass sich die Motive und im Zusammenhang damit auch die institutionellen Grundlagen des Engagements in den westlichen Gesellschaften in den letzten 15-20 Jahren nachhaltig verändert haben (siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.7). Traditionelle Tugendappelle und die entsprechenden institutionellen Designs verfehlen die Realität des sozialen Lebens immer deutlicher.
2.3 Die Dritte-Sektor-Forschung In vielen Beiträgen, die den aktuellen Diskurs über die Bürgergesellschaft prägen, erscheint der „Dritte Sektor“ als genuiner Ort bürgergesellschaftlichen En32
Siehe dazu schon Brandt u.a. (1986), Roth/Rucht (1990) und die Forschungsbilanz bei Klein/Legrand/Leif (1999) sowie die fortlaufende Debatte im „Forschungsjournal Neue soziale Bewegungen“. 33 Einen Überblick über weitere Beiträge zu dieser sozialphilosophisch-gesellschaftspolitischen Debatte bieten die Sammelbände von Brumlik/Brunkhorst (1995), Brink/van Rijen (1995) sowie jetzt Meyer/Weil (2002). Für die angelsächsische Diskussion vgl. neben Cohen/Arato (1992) Tester (1992), Hall (1995) und Keane (1998). Mit grundsätzlicher Kritik am normativen Modell aus institutionentheoretischer Sicht vgl. Schissler/Preyer (2000).
2.3 Die Dritte-Sektor-Forschung
33
gagements34. Die Definition dieses Bereichs erfolgt in den meisten Fällen ex negativo, d.h. durch eine Abgrenzung von anderen Sektoren. Denen nämlich lassen sich die Aktivitäten des Dritten Sektors aufgrund ihrer spezifischen Handlungslogik und ihres „funktionalen Dilettantismus“ nicht ohne weiteres zuordnen, obwohl es durchaus eine ganze Reihe von Überschneidungszonen gibt35. Die Abgrenzung wird in der Regel gegenüber den „klassischen“ Sektoren Markt und Staat vorgenommen. Der Dritte Sektor besteht aus Organisationen und informellen Vereinigungen, die sich nicht als gewinnorientierte Akteure auf einem Markt bewegen. Sie treten zwar mitunter als Dienstleister auf, jedoch werden keine privat zu verwertenden Gewinne erarbeitet. Daher spricht man, vor allem in der ökonomisch orientierten Literatur, häufig auch vom „NonprofitSektor“. Gleichzeitig sind die Organisationen keine Bestandteile des Staates bzw. des öffentlichen Sektors – wiewohl es hier oft zu engen Kooperationen und Verflechtungen kommen kann, so dass Teile des Dritten Sektors auch quasiamtliche, jedenfalls ausgesprochen bürokratische Züge annehmen können. Der Dritte Sektor ist vor allem aufgrund seiner wachsenden ökonomischen Bedeutsamkeit und seiner bürgergesellschaftlichen Potentiale verstärkt in die Aufmerksamkeit gerückt worden36. Die wichtigsten Arbeiten zur Struktur des Dritten Sektors und zu wichtigen Veränderungsprozessen dieses Bereichs sind von Annette Zimmer und Eckhard Priller sowie, im internationalen Vergleich, von Helmut Anheier vorgelegt worden37. Interessant für das vorliegende Forschungsvorhaben sind dabei Aussagen über die Spezifik der deutschen Situation (im internationalen Vergleich)38 sowie Aussagen über Tendenzen des Wandels. Die deutschen Besonderheiten treten bei der vergleichenden Betrachtung empirischer Daten zum Dritten Sektor deutlich hervor. Die große Staatsnähe, die enge Verflechtung zwischen administrativem System und Nonprofit-Sektor zeigt sich symptomatisch in der Finanzierungs34
Vgl. dazu ausführlich Anheier u.a. (2000), die aufgrund umfangreicher Daten die „zivilgesellschaftliche Dimension des Dritten Sektors“ zu bestimmen suchen. Siehe dazu vor allem die Überlegungen von Wolfgang Seibel (1992 und 1992a). 36 Im wissenschaftlichen Feld hat die empirische Dritte-Sektor-Forschung vor allem durch das Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project, einen großen internationalen Projektverbund um die Johns-Hopkins-Universität, erheblichen Aufschwung erfahren; vgl. dazu Anheier/Seibel (1990), Anheier u.a. (1997, 2000), Salamon/Anheier (1999) und Anheier (1999 und 2001). 37 Siehe dazu die umfassende Bilanz in Zimmer/Priller (2004). Zu den Arbeiten von Anheier u.a. zur internationalen Third-Sector-Forschung siehe die vorangehende Fußnote sowie Anheier u.a. (2007). Der neuere Stand der Dritte-Sektor-Debatte findet sich in Birkhölzer u.a. (2005). Zur Spezifik der Strukturen des Dritten Sektors im lokalen bzw. kommunalen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Vereinen vgl. die Studie von Bentem (2006). 38 Diese Sonderstellung des etatistischen deutschen Systems kommt in vergleichenden Betrachtungen immer wieder deutlich zur Geltung; siehe neben Anheier u.a. (1997) auch Wuthnow (1992), Lewis (1999) und Priller/Zimmer (2001) sowie Zimmer/Priller (2001). 35
34
2 Grundlagen und Stand der Forschung
struktur. So entstammt in Deutschland mit 64,3 Prozent der mit Abstand größte Teil der Mittel den öffentlichen Finanzen, 32,3 Prozent sind selbsterwirtschaftet, und nur 3,4 Prozent kommen aus Spenden und Sponsoringmaßnahmen39. Der Durchschnitt der im Johns-Hopkins-Projekt erhobenen Länder liegt dagegen bei 42 Prozent staatlicher Finanzierung, 47 Prozent selbsterwirtschafteten Mitteln sowie immerhin 11 Prozent Spenden und Sponsoring. Der Hauptanteil der öffentlichen Finanzierung liegt hierzulande in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung und Forschung sowie im Bereich der Sozialen Dienste. Selbst die Bürger- und Verbraucherinteressen sind in Deutschland mit 58 Prozent überwiegend staatlich finanziert, weil viele Institutionen wie etwa Beratungs- und Informationszentren unter dem Dach der Wohlfahrtsverbände vor Ort kommunale Aufgaben wahrnehmen. Dabei ist immer zu bedenken, dass es neben den institutionalisierten Formen der Finanzierung, wie sie sich vor allem zwischen dem Staat und den großen Wohlfahrtsverbänden herausgebildet haben, ein ganzes Spektrum weiterer Kanäle von staatlicher Subventionierung gibt: Es reicht von der konkreten Projektförderung über Mittlerorganisationen (z.B. Deutsche Forschungsgemeinschaft oder Kulturstiftung der Länder) bis zu ABM-Maßnahmen und indirekte Förderungen über infrastrukturelle Vorleistungen (etwa Sportstätten und Bürgerhäuser), die im Mittelfluss so gar nicht eigens ausgewiesen werden (Anheier 1997: 52ff). Herausragendes Merkmal der deutschen Situation ist dabei ohne Zweifel die enge Verflechtung zwischen dem Staat und den mittlerweile zu Sozialkonzernen herangewachsenen Wohlfahrtsverbänden Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband und Deutsches Rotes Kreuz (sowie, mit quantitativ geringerem Stellenwert, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden). Diese „Verbändewohlfahrt“ (Backhaus-Maul 2000) steht auch im internationalen Vergleich einzigartig da40. Ursprung dieser Sonderstellung ist eine spezifische Auslegung des Subsidiaritätsprinzips. Sie besagt, dass die Bereitstellung sozialer und gesundheitlicher Dienste durch vorhandene Kräfte der Gesellschaft und nicht durch den Staat erfolgen soll (vgl. Sachße 1994 und 1998). Das hat nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer privilegierten Stellung der großen Wohlfahrtsverbände geführt, die qua Gesetz dazu auserkoren wurden, staatlich finanzierte Wohlfahrtsmaßnahmen auszuführen. Diese besondere Regelung hat ein großes Maß an sozialstaatlicher Stabilität produziert. Die Verbände erscheinen staatszentriert und staatstragend, und sie 39
Zu diesen Daten, die deutlich eine deutsche Sonderstellung im internationalen Vergleich dokumentieren, siehe Zimmer/Priller (2001: 136) und Anheier (1997). Zum deutschen Verbändewesen im Wandel siehe Alemann (2000) sowie Zimmer/Weßels (2001). Eine umfangreiche Darstellung der Struktur und Funktion von Wohlfahrtsverbänden in Deutschland gibt Boeßenecker (1995).
40
2.3 Die Dritte-Sektor-Forschung
35
bieten dem politischen System einen großen Teil Legitimationssicherung (Seibel 1992: 460). Daraus folgt jedoch auch, dass die Verbände zu immobilen Großbürokratien mutierten und die erforderliche Flexibilität angesichts veränderter Rahmenbedingungen oft vermissen ließen. So kann es nicht verwundern, dass die Monopolkommission im Jahr 1998 der Bundesregierung nachdrücklich empfohlen hat, der Kartellstruktur der Verbände und der Diskriminierung sowohl von freien Selbsthilfegruppen als auch von privaten Sozialanbietern Einhalt zu gebieten41. Die Forschung reflektiert deutlich die neuen Herausforderungen und die damit verbundenen Umbruchprozesse, in denen sich die großen Sozialverbände befinden42. Auch in der vorliegenden Studie, die ganz bewusst Institutionen der „neuen“ Bürgergesellschaft mit denen des „alten“ ehrenamtlichen Engagements vergleicht, zeichnen sich solche Veränderungsprozesse ab. Die deutsche Verbändewohlfahrt flexibilisiert sich, und sie differenziert sich aus in neue institutionelle Settings. Kartellismus und Korporatismus sind die kritischen Diagnosen, die der deutschen Verbändewohlfahrt immer wieder gestellt werden43. Gleichzeitig blieben freiwillige Organisationen mit alternativen, kritischen und entsprechend unerwünschten Ansätzen über lange Zeit ‘außen vor’. Diese Strukturen, denen Rudolph Bauer „feudalgesellschaftliche Züge“ attestiert (1997: 149), führten dazu, dass diesem Bereich des Dritten Sektors über lange Zeit zivilgesellschaftliche Qualitäten kaum zukamen. In der neueren Diskussion wird daher verstärkt nach Möglichkeiten einer besseren Passung von Sozialstaat und Bürgerengagement gesucht. Das entscheidende Stichwort lautet hier: „aktivierender Staat“44. Der Staat soll sich demnach nicht aus seinen Verflechtungen im Dritten Sektor einfach zurückziehen und das Feld der bürgerschaftlichen Selbststeuerung überlassen, wie es die liberale Position proklamiert. Statt dessen meint das Bild vom „aktivierenden Staat“, dass er als gestaltende Institution erhalten bleiben und ständig Impulse geben soll, damit bürgerschaftliche Potentiale sich überhaupt entfalten können. Eine solche Positi41
Siehe dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.1998, S. 18. Immerhin ist mit der Einführung der Pflegeversicherung auch eine gewisse Liberalisierung des Marktes in Form einer partiellen Öffnung für kommerzielle Anbieter erfolgt. 42 Die Herausforderung der deutschen Verbändewohlfahrt durch veränderte gesellschaftliche Kontexte sowie die möglichen strategischen Handlungsoptionen für diese kollektiven Akteure werden reflektiert bei Backhaus-Maul/Olk (2001), Evers (2001), Grunwald (2001), Ottnad (2001), Wohlfahrt (2003), Steinbacher (2004) und Liebig (2005). 43 Diese Stoßrichtung war ja oben vor allem im Anschluss an die Analysen des liberalen Staatskritikers Ralf Dahrendorf entwickelt worden. 44 Vgl. dazu Evers/Leggewie (1999), Evers (2000), Olk (2001a) sowie Blanke/Schridde (2001). In diesem Zusammenhang wird auch vom „aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ gesprochen; vgl. Dingeldey (2006).
36
2 Grundlagen und Stand der Forschung
on entspricht der kommunitarischen Perspektive insofern, als der Staat in seiner Verantwortung für das Gemeinwohl der Gesellschaften gesehen wird, auch wenn bürgerliche Assoziationen dem Staat konkret vieles von seiner (sozialen) Arbeit abnehmen müssen. Vielerorts wurde im Anschluss an diese Debatte versucht, die Idee des aktivierenden Staats in konkrete Strategien zu überführen45. Jenseits des Verhältnisses von Staat und Drittem Sektor lassen sich aus der aktuellen Forschung jedoch auch Tendenzen des Wandels innerhalb des Sektors entnehmen. Die institutionelle Entwicklung in Deutschland deutet in einigen wichtigen Bereichen darauf hin, dass sich Umbrüche in der Organisationslandschaft vollziehen. Das Engagement verlagert sich immer deutlicher in dezentrale, informelle Organisationsformen46. Sichtbar wird dieser Trend auch anhand der Gründungsdynamik im Bereich von Initiativen und Selbsthilfegruppen: von ca. 25.000 im Jahre 1985 ist die Zahl bis 1995 auf nicht weniger als 60.000 gestiegen (Zimmer/Priller 2001: 140). Weiteres Indiz ist die große Konjunktur neuer Organisationsformen, die früher in der deutschen Nonprofit-Szene keine Rolle gespielt haben, seit einigen Jahren jedoch geradezu Hoffnungsträger einer neuen Bürgergesellschaft geworden sind: Freiwilligenagenturen und Bürgerstiftungen. Beide Institutionen, die beispielsweise in den USA schon seit vielen Jahren erfolgreiche Arbeit leisten, betonen die Momente Flexibilität, Selbstorganisation und Dezentralität als Kernpunkte neuer Formen des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland (vgl. dazu Bertelsmann-Stiftung 2000 und Jakob/Janning 2001). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Dritte-Sektor-Forschung auf spezifische Konstellationen und daraus resultierende Funktionsprobleme von Nonprofit-Organisationen und damit auch von bürgergesellschaftlichen Kontexten in Deutschland aufmerksam macht. Der Schwerpunkt liegt dabei jedoch auf der makrosozialen und makroökonomischen Analyse. Zwar liegt mittlerweile ein erhebliches Schrifttum zu einzelnen Institutionen des Dritten Sektors, etwa zu Verbänden, Vereinen und Stiftungen vor47. Jedoch geht es hier vornehmlich um Gesamtverortungen im sozialen und politischen System. Was außerhalb der Betrachtung bleibt, sind die konkreten Interaktionsprozesse vor Ort, ist die Funk45
Siehe dazu die Beiträge in Behrens u.a. (2005). Vgl. Priller/Zimmer (1999), Zimmer/Priller (2001). Siehe auch Brömme/Strasser (2001), die zugleich auf problematische Aspekte dieser Verlagerung im Hinblick auf die Partizipation und politische Integration schlechter gebildeter Bevölkerungsgruppen hinweisen. 47 Siehe dazu etwa den Überblick bei Strachwitz (1998) und Zimmer/Nährlich (2000). Vergleichsweise gut erforscht ist das Vereinsleben (vgl. Zimmer 1992 und 1996, Best 1993, Agricola 1997) und die Verbändelandschaft in Deutschland (Alemann 1987, Mayntz 1992, Streeck 1994, Rauschenbach u.a. 1995, Boeßenecker 1997); erst allmählich rücken auch Stiftungen verstärkt ins Zentrum des Interesses (vgl. Toepler 1996, Bertelsmann-Stiftung 1998, 1999, 2000; Strachwitz 2000 und 2000a sowie Vogt 2005 als Fallstudie zu einer Bürgerstiftung; siehe aber auch schon Schiller 1969). 46
2.4 Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement
37
tionsweise der Institutionen im Alltagsprozess und sind vor allem auch die durch die Akteure konstruierten Verflechtungen zwischen den Institutionen, die maßgeblich die Vollzugsweisen bürgerschaftlichen Engagements in der Kommune prägen.
2.4 Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement Schon Mitte der 1980er Jahre deutete sich an, dass im Bereich des ehrenamtlichen bzw. freiwilligen/bürgerschaftlichen Engagements48 in Deutschland klare Zeichen für Veränderungsprozesse zu konstatieren waren49. War vor allem das soziale Ehrenamt in den 1960er und 1970er Jahren in den Hintergrund getreten zugunsten professioneller sozialer Dienstleistungen, begann man nun, die Defizite des Professionalisierungs- und Bürokratisierungsschubs zu erkennen und systematisch herauszuarbeiten (Gernert 1988). Man sprach von einer „Professionalisierungsfalle” (Bätz 1994), da empirisch nachgewiesen werden konnte, dass der Einsatz von immer mehr Hauptamtlichen eine Steigerung der Bürokratisierung, des Leistungsdrucks und auch der internen Interessenkonflikte zur Folge hatte. Darüber hinaus standen die Ehrenamtlichen selbst unter einem zunehmenden Qualifikationsdruck, der sich letztendlich auf die Qualität der Tätigkeit kontraproduktiv auswirkte, da die Motivation der freiwillig engagierten Akteure sank (Kondratowitz 1985). Die Überprofessionalisierung und Bürokratisierung des Sozialen hat jenen „funktionalen Dilettantismus” der lebensweltlichen Vernunft kaum noch zur Geltung kommen lassen, der doch gerade eine Qualität des Ehrenamts zu sein scheint (Pankoke 1994). Die Freiwilligen sind demnach gerade deshalb, weil sie nicht in das professionelle Rollengeflecht und die entsprechenden Sichtweisen verstrickt sind, zu wichtigen Interaktions- und Kommunikationsformen fähig. Die Laien werden hier aufgrund ihrer Nicht-Professionalität zu „Experten“ (Müller-Kohlenberg u.a. 1994).
48
Die Veränderungsprozesse im Feld spiegeln sich auch in einer Pluralisierung der Begrifflichkeiten wider, wobei die Bezeichnungen des Engagements teils synonym, teils aber auch mit spezifischen Nuancen vorgenommen werden; so steht Ehrenamt/ehrenamtliches Engagement meist für Tätigkeiten im traditionellen Bereich des Dritten Sektors, freiwilliges Engagement und Freiwilligenarbeit für neuere Formen und Bürgerengagement bzw. bürgerschaftliches Engagement für Tätigkeiten, die in einem weiteren Horizont demokratischer Partizipation und sozialer Integration verortet werden; der Sprachgebrauch ist jedoch keineswegs einheitlich (siehe dazu Heinze/Olk 1999, Rauschenbach 2001 und Braun 2002). Im vorliegenden Text, in dem es um die Funktionsweise von Bürgergesellschaft geht, wird in der Regel von bürgerschaftlichem und freiwilligem Engagement gesprochen. 49 Siehe dazu den ausführlichen Literaturbericht von Thomas Olk (1987).
38
2 Grundlagen und Stand der Forschung
Gleichzeitig formierte sich eine deutliche Kritik an bestimmten Ausbeutungsverhältnissen der ehrenamtlichen Arbeit im Kontext der großen Wohlfahrtsverbände, die vor allem von Seiten einer feministisch orientierten Forschung vorgetragen wurde50. Entscheidend aber für die gesamte Ehrenamtsforschung war die allmählich aufscheinende Erkenntnis, dass immer mehr potentiell oder aktuell ehrenamtlich Tätige mit der institutionellen Situation und mit den Möglichkeiten zur eigenständigen Gestaltung des Arbeitsfeldes unzufrieden wurden. Die „stille Reservearmee” derjenigen, die uneigennützig, unentgeltlich und ohne große Ansprüche an die zu verrichtenden Tätigkeiten in den traditionellen Organisationen ihren freiwilligen Dienst versehen, ist deutlich geschrumpft51. In der einschlägigen Forschung wird von einem Wechsel vom „alten“ zum „neuen“ Ehrenamt gesprochen52. Dieser Wandel macht deutlich: es findet kein genereller Verfall der Bereitschaft von Bürgern zum freiwilligen Engagement statt, sondern ein Umbruch der Motivationen. Ausgangspunkt für die Diagnose eines tiefgreifenden Wandels waren zunächst Befunde aus der internen Forschung der Wohlfahrtsverbände53. Hier nämlich zeichnete sich ab, dass immer mehr Mitarbeiter aus der verbandlichen Form ehrenamtlichen Engagements abwandern in selbstorganisierte, projektorientierte Kontexte54.
50
Siehe zu dieser feministischen Kritik vor allem die Beiträge von Gisela Notz (1987, 1999) und Gertrud M. Backes (1987, 1991). Zu den geschlechtsspezifischen Ungleichheitsrelationen im freiwilligen Engagement vgl. auch Nadai (1996) und Beher/Liebig/Rauschenbach (2000: 185ff). 51 Siehe zu dieser Entwicklung Burkart (1985), Krüger (1993), Heinze/Nägele (1995) und Pöttgens (1995). 52 Zum “neuen Ehrenamt” vgl. u.a. Vogt (1993), Brandenburg (1995), Ferber (1988), Olk (1987), Hummel (1995), Heinze/Keupp (1997), Notz (1998), Dettling (1999), Heinze/Olk (1999), Beher/Liebig/Rauschenbach (2000), Pankoke (2001) und die Beiträge in Enquete-Kommission (2002). Eine Bilanz des Ehrenamts in einer gewandelten institutionellen Landschaft bieten die Beiträge in Nitschke (2005). 53 Zur Herausforderung, die das bürgerschaftliche Engagement neuen Typs für die Verbände darstellt, vgl. jetzt umfassend Otto/Müller/Besenfelder (2000). 54 Die Literatur zum Thema Ehrenamt ist mittlerweile fast unüberschaubar geworden. Soziologisch interessante Analysen zu den Chancen und Problemen traditioneller ehrenamtlicher Arbeit sowie zum Wandel finden sich vor allem bei Kondratowitz (1985), Müller/Rauschenbach (1988), Kromka (1985), Braun/Röhrig (1986); Winkler (1988), Engels (1991), Funk/Winter (1993), Jakob (1993), Pankoke (1994, 2001, 2002), Akademie für politische Bildung (1994), Wessels (1995), Andersen u.a. (1998), Wagner (2000) und Forschungsjournal (2000). Eine nützliche Übersicht zum Thema findet sich bei Roth (1997). Beher/Liebig/Rauschenbach (1998) schließlich haben im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Sekundäranalyse vorliegender empirischer Studien zum Ehrenamt erstellt, was ausgesprochen sinnvoll ist, weil die Studien mit höchst unterschiedlichen Begriffen, Kriterien und Methoden arbeiten. So vermag es nicht zu wundern, wenn in den diversen Studien eine Spannbreite von 17 bis 42 Prozent ehrenamtlich tätiger Personen in der Bevölkerung aufscheint (vgl. dazu
2.4 Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement
39
Zentral aber war ein Wandel bei den Ehrenamtlichen selbst, den Thomas Olk schon Mitte der 80er Jahre wie folgt beschrieb: „An die Stelle der bedingungslosen Hingabe an die soziale Aufgabe unter Verzicht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse und Interessen tritt heute der Wunsch nach einem freiwillig gewählten Engagement, das sich zeitlich den eigenen sonstigen Bedürfnissen und Interessen anpassen lässt und die eigenen Kräfte und Möglichkeiten qualitativ nicht übersteigt” (Olk 1987: 90). Gisela Jakob (1993) hat in einer qualitativen Untersuchung der biografischen Passung von freiwilligem Engagement die Formel „vom Dienst zum Selbstbezug“ geprägt. Das „neue Ehrenamt” in diesem Sinne, aus der Sicht der Freiwilligen definiert, ist durch ein Geben und Nehmen gekennzeichnet55. Die Freiwilligen wissen, dass sie etwas investieren, und sie wünschen für diese Investition einen wie auch immer definierten Gegenwert56. Die „Helferrückwirkung” (MüllerKohlenberg u.a. 1994: 60ff) rückt somit zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ist für die traditionell ehrenamtlich Tätigen, die vor allem in der älteren Generation zu finden sind, eine „Ethisierung” der Tätigkeit mit Vorstellungen von Dienst und Opfer typisch (Kohli u.a. 1993), so ist bei den Jüngeren der eigene Nutzen der Tätigkeit aufgewertet worden. Diese Tendenz bestätigt sich nahezu in allen neueren, mit standardisierten Methoden durchgeführten empirischen Studien: so im Gutachten für die Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen (Heinze/Keupp 1997; vgl. auch Keupp u.a. 2000), in der Sekundäranalyse von Beher/Liebig/Rauschenbach (1998, 2000)57, im umfassenden Freiwilligensurvey im Auftrag des BMFSFJ (Rosenbladt 2000), in den SIGMAStudien im Auftrag des Sozialministeriums Baden-Württemberg58, in den Arbeiten der Speyerer Forschungsgruppe um Helmut Klages (Klages 1998, 1999, 2001, Klages/Gensicke 1999) und schließlich auch in den Analysen im Rahmen des internationalen „Civil Society Index Projektes“ (Reimer 2006: 77ff). Die Auswertung des zweiten großen Freiwilligensurveys in Deutschland zeigt ebenfalls, dass die engagierten Bürger sich etwas von ihrem Engagement erwarten. So werden zentrale Motive zum einen in der Möglichkeit gesehen, die auch Neumann/Hübinger 1999). Zu den methodischen Untiefen vieler standardisierter EhrenamtsStudien siehe die Kritik bei Kistler u.a. (2001). 55 Siehe dazu grundlegend schon die Studie von Nadai (1996). Ein Zusammenhang zur Individualisierungsdiskussion wird hergestellt bei Wirz (2005). 56 Vgl. dazu Engels (1991), Wadsack (1992: 97ff), Funk/Winter (1993), Gaskin u.a. (1996), MüllerKohlenberg u.a. (1994), Reihs (1995) und Jütting (1998). 57 Eine weitere Sekundäranalyse von Rehling u.a. (1999) bestätigt die Tendenz noch einmal eigens für den Bereich der Jugendarbeit. 58 Siehe vor allem die „Geislingen-Studie“ (Ueltzhöffer/Ascheberg 1995), aber auch die Landesstudie Baden-Württemberg (Ueltzhöffer/Ascheberg 1997) und die bundesweite Studie „Lebenswelt und Bürgerschaftliches Engagement“ (Ueltzhöffer 2000).
40
2 Grundlagen und Stand der Forschung
Gesellschaft zumindest im Kleinen mitgestalten zu können. Zum anderen genießt man die Geselligkeiten, die sich bei Anlässen freiwilligen Engagements ergeben (vgl. Gensicke 2006: 14; siehe auch Zimmer/Vilain 2005: 38ff). Der Wandel vom alten Ehrenamt zum neuen bürgerschaftlichen Engagement scheint plausibel verstehbar nur dann, wenn man jene Prozesse berücksichtigt, die in der soziologischen Forschung seit gut 20 Jahren unter dem Etikett des „Wertewandels“ verhandelt werden. Weite Teile der Bevölkerung weisen heute Wertpräferenzen auf, die nicht mehr dem alten Muster der „Pflicht- und Akzeptanzwerte” zuzuordnen sind, sondern dem neuen Muster der „Selbstverwirklichungswerte”59. Darüber hinaus ist der „Spaßfaktor“ als Handlungsmotivation stark angestiegen, während die traditionelle Leistungsideologie verblasst ist (vgl. Meulemann 1996). Das heißt keineswegs, dass „Leistung“ und „Spaß“ unvereinbar wären: stattdessen hat sich die Definition von Leistung verändert. Sie wird, in Bezug auf selbstgestellte Aufgaben, als Selbstverwirklichungschance gesehen (Meulemann 2001: 197). Verkürzt formuliert lässt sich sagen, dass der ‘klassische’ ehrenamtlich Tätige es als Pflicht ansah, sich freiwillig zu engagieren, und dass dieses Verpflichtungsgefühl in starkem Maße mit einer Akzeptanz von zeitlichen und organisatorischen Vorgaben verknüpft war. Dieser Typus von engagierten Menschen war in den traditionellen Organisationen wie Kirche und Wohlfahrtsverband gut aufgehoben. Die „wertgewandelten” Menschen dagegen sind vor allem deshalb zum Engagement bereit, weil sie sich Möglichkeiten der kreativen Selbstverwirklichung, Spaß und Erlebnisqualitäten geselliger Situationen erhoffen. Diese Entwicklung bedeutet – entgegen pessimistischen Deutungen – keine Schwächung des freiwilligen Potentials, sondern geradezu eine Freisetzung60. Allerdings scheint die traditionelle Infrastruktur des Dritten Sektors hierzulande kaum dazu geeignet, dieses wachsende Potential auch sinnvoll zu aktualisieren: Die Akteure bevorzugen vielmehr selbstgestaltete Tätigkeiten „in Verbindung mit der Erwartung einer Aufrechterhaltung zeitlicher Dispositionsfreiheit und der 59
So vor allem die Befunde bei Klages (1984). Mit dem etwas anders gelagerten Konzept des „Postmaterialismus” gelangt in seinen international vergleichenden Studien der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart (zuletzt 1997) zu vergleichbaren empirischen Befunden. 60 Siehe dazu vor allem die neueren Arbeiten von Klages und Mitarbeitern (Klages 1998, 1999 und Klages/Gensicke 1999). Im internationalen Vergleich etwa mit den Befunden, die Inglehart und seine Forschungsgruppe seit den 70er Jahren erarbeitet und im großen World Value Survey stets aktualisiert haben, stellt sich der Wertewandel in Deutschland als eine Normalisierung dar. Das „Verschwinden“ der älteren deutschen Wiederaufbaugeneration mit ihrer Betonung der traditionellen und materialistischen Wertorientierungen hat jetzt einer breiteren Kultur der Selbstentfaltungswerte Raum gegeben; allerdings gibt es hier noch erhebliche Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland (vgl. van Deth 2001). Entsprechend finden sich auch deutliche Unterschiede hinsichtlich des vorfindbaren freiwilligen Engagements, wobei jedoch auch der Zusammenbruch der alten Infrastruktur des Engagements in den neuen Bundesländern zu beachten ist; vgl. Gensicke (2001).
2.5 Politische Kulturforschung und Sozialkapital
41
Vereinbarkeit des Engagements mit anderen Interessen, die man nicht aufgeben möchte“ (Klages 1999: 106). Entsprechende Räume sind jedoch in der konventionellen Organisationslandschaft des Dritten Sektors kaum aufzufinden. Dies führt dazu, dass sich das Engagementpotential in einem „Schlafzustand“ befindet: etwa 50 Prozent der nicht engagierten Personen wären nämlich durchaus zur Aktivität bereit. Diese Diskrepanz zwischen Bereitschaft und tatsächlichem Engagement verweist somit auf einen großen Handlungsbedarf in der Schaffung von adäquaten Rahmenbedingungen freiwilliger Tätigkeit, wenn denn eine Aktivierung der Engagementbrache überhaupt politisch gewollt wird. Nicht eine Moralreform scheint demnach nötig, wie sie von vielen im öffentlichen Diskurs mit einem Verweis auf den vermeintlichen Verfall der Werte gefordert wird, sondern eine Institutionenreform, die den neuen Engagementbereitschaften angemessenen Raum gibt und die „Passung“ zwischen Akteuren und Institutionen verbessert (Klages 2001; vgl. auch Dörner/Vogt 1999, Keupp u.a. 2000: 256ff). Damit rückt der „Strukturwandel“ des Ehrenamts in den Mittelpunkt (vgl. vor allem Beher/Liebig/Rauschenbach 2000). War früher das traditionelle Ehrenamt mit großer Kontinuität und organisatorischer Eingebundenheit in die Infrastruktur der deutschen Verbändewohlfahrt das dominante Muster, so hat in der deutschen Gegenwartsgesellschaft offenbar eine Pluralisierung des Engagements begonnen61. Selbsthilfegruppen, Freiwilligenzentren, Seniorengenossenschaften, Tausch- und Kooperationsprojekte haben an Bedeutung gewonnen. An die Stelle langfristiger Kontinuitäten ist eine Präferenz für das Projektorientierte, Begrenzte und stets Wechselbereite getreten. Die Organistionstreue der Dienstbereiten hat zahlreichen Ein-, Aus- und Wiedereintritten der Freiwilligen in diversen Kontexten Platz gemacht (vgl. Hacket/Mutz 2002). Die Diskontinuitäten entsprechen hier weitgehend jenen Prozessen, die auch in der Erwerbsarbeit feststellbar sind62. Dennoch bleibt insgesamt ein Defizit der organisatorischen Landschaft angesichts von radikal gewandelten Motiv- und Erwartungslagen bei den Freiwilligen zu bilanzieren.
2.5 Politische Kulturforschung und Sozialkapital In der aktuellen Diskussion um Bürgergesellschaft hat der Begriff des „sozialen Kapitals“ eine geradezu atemberaubende Konjunktur erfahren. Dies ist zurückzuführen vor allem auf die Arbeiten des Politologen Robert D. Putnam, die inner61
Vgl. dazu die Beiträge zum neuen „Wohlfahrtspluralismus“ in Evers/Olk (1996). Vgl. Sennett (1998), Beck (1999) und Mutz/Kühnlein (2001); zum mitunter nicht unproblematischen Spannungsverhältnis zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit siehe die Überlegungen bei Kistler/Rauschenbach (2001) und Klenner/Pfahl (2001).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
halb des amerikanischen Political-Culture-Approaches seit Beginn der 90er Jahre entstanden sind63. Das Konzept des Sozialkapitals, das Putnam in Anlehnung an die Handlungstheorie von James S. Coleman (1991) entwickelt hat, zielt darauf ab, den Zusammenhang von freiwilligem Engagement, sozialer Integration und demokratischer politischer Kultur in modernen westlichen Gesellschaften herauszuarbeiten. Das Konzept ist also deshalb in der allgemeinen Debatte um bürgerschaftliches Engagement so dankbar aufgegriffen worden, weil es versprach, dass man hier die Bedeutsamkeit des Engagements über seinen unmittelbaren individuellen und sozialpolitischen Nutzen hinaus dingfest machen könnte64. Konzeptualisierungen von „sozialem Kapital“, die sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen (vgl. Putnam/Gross 2001), sind soziologisch in den 1960er und 1970er Jahren systematisiert worden und haben dann vor allem im Rahmen der Theorie rationalen Handelns und der Netzwerkanalyse eine besondere Popularität erfahren65. Parallel dazu hat Pierre Bourdieu in seiner Theorie des sozialen Raums ein erweitertes Konzept von Kapital entwickelt, das unter „Sozialkapital“ eine Ressource von Akteuren versteht, deren Verteilung maßgeblich an der Konstitution sozialer Ungleichheiten und hierarchischer Verhältnisse in modernen Gesellschaften beteiligt ist (siehe dazu Kap. 2.6). Vor allem Putnams Arbeiten waren einflussreich auf die einschlägige Forschung und haben auch im Instrumentarium der vorliegenden Studie starken Niederschlag gefunden. Seine Konzepte sollen daher hier etwas ausführlicher dargestellt werden66. Putnam geht es in seinen Analysen vor allem um die öffentliche Dimension von Sozialkapital. Er knüpft zwar zunächst vor allem an Colemans Theorie an und verweist dabei auch auf den individuellen bzw. privaten Nutzen, den beispielsweise Netzwerke für die Akteure erbringen können – nicht nur im materiellen Sinne, sondern vor allem hinsichtlich Zufriedenheit und Lebensglück. Oft jedoch hängen individueller und kollektiver Nutzen, der Charakter als privates und öffentliches Gut eng zusammen: „In vielen seiner Erscheinungsformen fällt ein Teil des Nutzens Unbeteiligten zu, während ein weiterer Teil des Nutzens die unmittelbaren Interessen der Person befriedigt, welche die Investition tätigt. Wenn beispielsweise eine Bürgergruppe die 63
Zum Political-Culture-Approach und seiner Bedeutung für die aktuelle sozialwissenschaftliche Debatte vgl. Dörner (2003). 64 Zur Diskussion um das soziale Kapital als Ressource und „sozialer Kitt“ der modernen Gesellschaft vgl. Meier (1996), Immerfall (1996, 1999), Graf u.a. (1999), Kistler/Schäfer-Walkmann (1999), Offe (1999), Offe/Fuchs (2001) und Dörner/Vogt (1999, 2001) sowie die neueren Studien bei Klein u.a. (2004), Braun (2005, 2007), Gehmacher (2006), Gradinger (2006), Lüdicke/Diewald (2007), Franzen/Freitag (2007) und Petermann (2007). 65 Siehe dazu die Ausführungen bei Haug (1997, 2000) sowie Esser (2000: 235ff). 66 Siehe dazu auch Vogt (2005: 145ff) und Dörner (2003: 606ff).
2.5 Politische Kulturforschung und Sozialkapital
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lokalen Kräfte mobilisiert, um einen Spielplatz oder ein Krankenhaus zu bauen, entstehen in der Gruppe selbst zugleich Freundschaften und Geschäftsbeziehungen, die sich als persönlicher Nutzen erweisen können“ (Putnam/Gross 2001: 22).
2.5.1 Sozialkapital als Ressource der Gemeinschaft Der Schwerpunkt von Putnams Interesse aber liegt ohne Zweifel auf dem Sozialkapital als Ressource von Gemeinschaften. Dabei liegt den Arbeiten nicht eine scharfe, exakte Definition des Begriffs zugrunde – meist spricht Putnam von Netzwerken und Zusammenhalt. Vielmehr geht es dem Autor darum, über verschiedene Dimensionen und Variablen die Art und das Ausmaß der integrativen Kräfte in einer Gesellschaft zu messen. In der umfangreichen Studie zur Erosion des Sozialkapitals in Amerika (Putnam 2000) werden so beispielsweise Befunde dargestellt über das Ausmaß der politischen Partizipation, der Mitgliedschaft und Aktivität in Verbänden und Vereinen sowie über die Teilhabe an informellen Zusammenhängen wie Parties und Sportveranstaltungen. Weiterhin wird gemessen das soziale Vertrauen der Bürger, ihre Bereitschaft zum Altruismus und Philanthropie (etwa in Form von Blut- und Geldspenden), das freiwillige Engagement („volunteering“), Ehrlichkeit und Reziprozität (d.h. die Erwartung, dass man für ein korrektes bzw. moralisches Verhalten von den anderen ein ebensolches Verhalten zurückbekommen wird)67. Die empirische Diagnose lautet, dass das Sozialkapital in der Zeit von 1974 bis 1994 in den USA an vielen Stellen geringer geworden, ja teilweise in dramatischem Ausmaß weggebrochen ist. Das „civic engagement” der Bürger, ihre Teilhabe am öffentlichen Leben, aber auch das soziale Vertrauen und sogar die Bereitschaft zu geselligem Freizeitvergnügen ist in den letzten 25 Jahren stark gesunken. Putnam spricht hier zusammenfassend vom „Bowling-AlonePhänomen”, das eine Passivierung und Atomisierung der Gesellschaft anzeige. Es gelingt ihm hier auch nachzuweisen, dass die Größen soziales Vertrauen, Geselligkeitsneigung (beispielsweise in Vereinen) und Bereitschaft zum Engagement systematisch miteinander zusammenhängen. Gesellige Menschen haben auch ein größeres Sozialvertrauen und sind eher bereit, sich sozial oder politisch für die Gemeinschaft zu engagieren. Hier wird deutlich, dass dieser Theorie des sozialen Kapitals wichtige Implikationen für die soziale Integration moderner 67
Offe und Fuchs (2001) beschränken sich bei ihrer Studie über das Sozialkapital in Deutschland auf drei Größen: die Aufmerksamkeit für Dinge des öffentlichen Lebens, die gleichzeitig auch eine Anteilnahme an der Sphäre jenseits des privaten Eigenraums anzeigt; das soziale Vertrauen; und das Engagement in assoziativen Aktivitäten, d.h. die Partizipation an bürgerschaftlichen Bewegungen und Vereinigungen.
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
Gesellschaften zukommen. Wenn das soziale Kapital erodiert, drohen Entwicklungen sozialer Desintegration. Die Befunde Putnams zur Erosion des sozialen Kapitals stimmen in manchen Punkten auch mit anderen Studien überein, die in den USA eine zunehmende Dominanz individualistischer Einstellungen und eine abnehmende Bereitschaft zum gemeinschaftlichen und politischen Engagement diagnostizieren (vgl. etwa Bellah u.a. 1985). Putnam hat nun als eine Hauptursache der amerikanischen Entwicklung das Fernsehen identifiziert, das nicht nur konkret Zeit raube, sondern die Passivität und die Isolation der Menschen besonders begünstige (Putnam 1995: 678). Allerdings muss dabei betont werden, dass diese Analyse methodisch und inhaltlich von anderen Forschern heftig kritisiert wurde68. Vor allem ist problematisch, dass Putnam fast ausschließlich die traditionellen Formen von Gemeinschaftlichkeit und Engagement beachtet. Dadurch fallen neuere, unkonventionelle und flexiblere Formen, die sich vor allem jenseits der großen Organisationen abspielen, weitgehend aus dem Blick. Kurz gesagt: Was Putnam als Verfall diagnostiziert, ist in Wirklichkeit eher als ein Formenwandel einzustufen (vgl. auch Wuthnow 2001 und Skocpol 2001). Entsprechend hat Putnam in neueren Veröffentlichungen das düstere Bild korrigiert und führt nun auch hoffnungsvolle Gegenkräfte an: Die Bereitschaft, sich in informellen Kontexten, etwa in sozialen Bewegungen zu engagieren oder aber auch neue Verknüpfungen durch das Internet einzugehen, steigt deutlich an69. Diese Befunde stimmen mit denen überein, wie sie in Deutschland etwa von Helmut Klages oder Rolf G. Heinze und Heiner Keupp erhoben wurden.
2.5.2 Sozialkapital und politische Tradition Begonnen hat Putnams Interesse am Sozialkapital im Kontext der politischen Kulturforschung. Die entscheidende Frage, die politische Kulturforscher schon seit den Anfängen etwa bei Almond und Verba (1963) beschäftigt, war auch hier die nach den Bedingungsfaktoren für eine stabile und funktionsfähige Demokratie. Putnam (1993) führte zur Beantwortung dieser Frage eine umfangreiche 68
So hat Putnam zwar allgemeine quantitative Angaben zur Fernsehnutzung herangezogen, jedoch nicht näher danach geschaut, welche Typen von Sendungen (z.B. Unterhaltung oder Information) bzw. welche Sender bevorzugt werden und in welcher Art und Weise die Nutzer mit dem Angebot des Fernsehens konkret umgehen (vgl. Norris 1996). Wenn man dies berücksichtigt, ergibt sich ein viel differenzierteres Bild der Realität. Siehe dazu auch die Studie von Arnold und Schneider (2004). 69 Siehe dazu die Beiträge in Putnam/Feldstein (2003); eine vergleichende Perspektive wird entwickelt in Putnam (2002).
2.5 Politische Kulturforschung und Sozialkapital
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Studie über die Funktionsweise und Effektivität demokratischer Selbstverwaltungsinstitutionen in den italienischen Regionen durch. Die schließlich bestätigte Ausgangshypothese der Untersuchung war die, dass Gemeinschaften, die über ein hohes Maß an sozialem Kapital verfügen, auch besser funktionierende Regierungsinstitutionen aufweisen. Die gelungene Konstruktion institutioneller Arrangements ist also nicht allein verantwortlich für den Erfolg. Es muss auch eine passende ‚kulturelle Software‘ bei den Bürgern vorhanden sein, damit die Ziele der Institution erreicht werden können. Das soziale Kapital der Gemeinschaft, das sich auf der Ebene des einzelnen Akteurs als „civic virtue”, als Bürgertugend niederschlägt, ist demnach die notwendige Voraussetzung für den Erfolg und die dauerhafte Stabilität eines demokratischen Systems. Hier zeigt sich, dass Putnams Ansatz der politischen Kulturforschung durchaus bei denselben Größen ansetzt wie die republikanische Theorie der Bürgergesellschaft (siehe oben). Bürgertugend beispielsweise wird jedoch im Sinne einer nutzenorientierten Theorie als „Kapital“ von Kollektiven bilanziert. Und dieser Kollektivnutzen wiederum wird, wie die oben angeführte Zitatpassage deutlich macht, in Beziehung gesetzt zu den individuellen Nutzenkalkülen der Bürger. Putnam versucht empirisch in seiner Italienstudie eine sehr grundsätzliche Frage zu klären, die schon bei den Klassikern der Ideengeschichte immer wieder auf unterschiedliche Weise behandelt wurde und die heute als Konflikt zwischen institutionalistischen und kulturalistischen bzw. kontextualistischen Ansätzen diskutiert wird (vgl. dazu Cusack 1997: 3ff). Die Institutionalisten gehen davon aus, dass man in Fragen der sozialen und politischen Ordnung nur durch klug konstruierte Institutionen erfolgreich sein kann, die keinerlei oder nur wenige Voraussetzungen bei den Bürgern zugrunde legen, da diese letztlich nicht zuverlässig berechenbar sind. Demgegenüber besagt die Position der Kulturalisten, dass ohne bestimmte Dispositionen der Akteure, ohne Bürgertugend und entsprechende Identitätsmuster, keine stabile demokratische Ordnung möglich ist. Wenn die Handlungsoptionen und Rollenangebote, die durch das institutionelle Arrangement angeboten werden, nicht aktiv ausgefüllt werden, laufen sie ins Leere. Putnam argumentiert nun, dass ein in diesem Sinne „tugendhafter” Bürger Anteil nimmt an den öffentlichen Angelegenheiten, sich aktiv beteiligt an freiwilligen Assoziationen, dabei lernt, Vertrauen gegenüber seinen Mitbürgern zu entwickeln und auch Toleranz bei divergierenden Meinungen und Interessen zeigt. Diese Dispositionen der Akteure drücken sich in dichten Netzwerken bürgerschaftlicher Aktivitäten aus und stellen in der Makroperspektive das soziale Kapital der Gesellschaft dar. Dieses Kapital wiederum erhöht die Effektivität der Institutionen, weil es kooperatives Handeln begünstigt.
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
In Italien hatte die Einführung neuer Institutionen quasi-experimentelle Verhältnisse für eine Untersuchung geschaffen. Putnam stellt ein erhebliches Nord-Süd-Gefälle fest: Während die demokratischen Institutionen im Norden sehr gut funktionieren, weist der Süden ein entgegengesetztes Bild auf. Der entscheidende Unterschied liegt in der Bereitschaft der Norditaliener zum bürgerschaftlichen Engagement, die mit einem grundsätzlichen Vertrauen in die demokratischen Institutionen einhergeht. Dieses Engagement zeigt sich auch in Clubs und Kulturorganisationen, während der Süden noch stärker auf hierarchisch strukturierte Organisationen wie Kirche und Mafia orientiert ist. Putnam versucht schließlich plausibel zu machen, dass das soziale Kapital der engagementbereiten Bürger historisch langfristig gewachsen ist, da im Norden schon im Mittelalter kommunale Republiken mit horizontalen Netzwerken und Partizipationsmög-lichkeiten entstanden, während im Süden hierarchische Königreiche mit vertikalen Netzen dominierten. Wie Tocqueville weist Putnam also mit seinen Analysen auf die Relevanz politisch-kultureller Traditionen für das Gelingen oder Misslingen bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge hin. Die verschiedenen Komponenten von sozialem Kapital, das zeigt Putnam in der Italienstudie ebenso wie in den Untersuchungen zur amerikanischen Bürgergesellschaft, stehen in engem Zusammenhang miteinander. Sie verstärken oder schwächen sich, so dass sich in Bezug auf die Entwicklung von sozialem Kapital zwei gegensätzliche Entwicklungen beobachten lassen: Auf der einen Seite steht der „virtuos circle”, der zu einem stetigen Ansteigen von Sozialkapital führt, weil sich die Komponenten gegenseitig fördern. Auf der anderen Seite bewirkt aber auch ein Defizit bei einer Komponente entsprechende Schwächungen der anderen Komponenten, so dass sich ein „vicious circle” mit immer weiter sinkenden Ressourcen an sozialem Kapital entfalten kann. Diese Entwicklung wird noch dadurch verstärkt, dass regelmäßige Inanspruchnahme des Kapitals den Grundstock nicht dezimiert, sondern fördert, und mangelnde Inanspruchnahme langfristig den Verfall des Kapitals begünstigt (Putnam 1993: 170). Der theoretische Ansatz und die Italien-Studie Putnams wurden zunächst einmal als Durchbruch im Rahmen der Versuche gewertet, die kulturalistische Perspektive in den Sozialwissenschaften stark zu machen. Nach Ingleharts Arbeiten zum Wandel von sozialen und politischen Wertorientierungen, die sich explizit auch als Erneuerung der Kulturforschung verstanden und tatsächlich eine „Renaissance” dieser Forschungsperspektive veranlassten, hat vor allem Putnams Studie für Furore und für eine breite Diskussion des kulturalistischen Zugangs gesorgt70. Freilich ist auch umfangreiche Kritik geäußert worden, teilweise 70
Die Formulierung von der „Renaissance” der politischen Kulturforschung findet sich in Inglehart (1988); zu Ingleharts wichtigsten Studien zur Wertewandelsproblematik vgl. Inglehart (1977, 1990,
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mit Bezug auf das theoretische Konzept, teilweise gegen die historische Erklärungsstrategie, teilweise auch mit Blick auf die verwendete Methodik71.
2.5.3 Begriffliche Differenzierungen Auf der Grundlage seiner empirischen Studien hat Putnam eine Reihe von Systematisierungen vorgenommen, die als Orientierungsgrößen bei der Erforschung bürgerschaftlicher Netzwerke hilfreich erscheinen (Putnam 2000: 22ff und Putnam/Gross 2001: 25ff). Auf das eng verflochtene Ineinander von individuellem und kollektivem, privatem und öffentlichem Nutzen ist oben schon hingewiesen worden. Putnam unterscheidet dann weiter zwischen formal organisierten und informellen Arten des Sozialkapitals. Informelle Netze können gleichsam spontan überall entstehen, formale erfordern sehr viel mehr Aufwand (und Know How). Insgesamt kann soziales Kapital eine hohe oder geringe Dichte aufweisen, d.h. mit vielen und intensiven Kontakten oder mit wenigen, sporadischen Kontakten verbunden sein. Nicht immer, so argumentiert Putnam mit Verweis auf die Studien von Granovetter, ist das dichte Kapital nützlicher: „Weak ties“ können beispielsweise bei der Jobsuche hilfreicher sein als enge Verbindungen, weil man damit über seinen unmittelbaren sozialen Nahbereich hinaus Beziehungen nutzbar machen kann. Innenorientiertes Kapital ist zu unterscheiden von außenorientiertem. Hier steht die Frage des „cui bono“ im Mittelpunkt: Finden sich die Akteure primär zur Steigerung des gruppenbezogenen Eigennutzes zusammen, etwa als Interessenverband oder als Konsumentenvereinigung? Oder stehen altruistische, gemeinwohlbezogene Zielgrößen im Mittelpunkt, wie das etwa bei „amnesty international“ oder den „Lions Clubs“ der Fall ist? Meistens, so Putnam, haben wir es mit Mischformen zu tun, weil beide Nutzendimensionen zur Geltung kommen. Als die wichtigste Unterscheidung aber führt Putnam (2000: 22) selber die zwischen „bonding capital“ und „bridging capital“ an. Hier kommt die sozialstrukturelle Dimension mit ins Spiel. Bonding capital ist die Form des Sozialka1997); vgl. im Rahmen der neu entfachten Diskussion über den kulturalistischen Zugang in den Sozialwissenschaften am Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre in den Vereinigten Staaten auch Wilson (1992), Elkins (1993), Weil (1994), Jackman/Miller (1996), Granato u.a. (1996). Zur Bedeutung der Studie Putnams in der fachwissenschaftlichen Diskussion siehe ausführlich Laitin (1995). 71 Es hat vor allem in Italien eine ausführliche kritische Diskussion zur historischen Argumentation Putnams gegeben, die ihm eine zu wenig differenzierte Sicht der Dinge vorwirft und die dichotomische Sicht mit zahlreichen Gegenbeispielen in Frage stellt (vgl. dazu ausführlich Lenci 1997: 25ff). Zur kritischen Diskussion um Putnams Studie und sein Konzept des sozialen Kapitals vgl. Morlino (1995), Goldberg (1996), Levi (1996) und Tarrow (1996).
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pitals, die sich innerhalb von (sozial, ethnisch, ideologisch) homogenen Akteursgruppen herstellt, während das bridging capital Verbindungen bezeichnet, die über die Grenzen homogener Gruppen hinaus reichen. Diese Unterscheidung lässt sich gut mit den Ausführungen Bourdieus über die sozialen Schließungsmechanismen der Kapitalien verbinden (siehe dazu Kap. 2.6). Sozialkapital kann durchaus rigide Ausgrenzungen vornehmen und viele Akteure von den Vorteilen, die das Kapital erbringt, ausschließen. Sozialkapital und Exklusivität kann also durchaus Hand in Hand gehen, wobei die integrative Kraft dann auf die Gruppe selbst beschränkt bleibt. Sozialkapital ist somit nicht per se ein Garant gesellschaftlicher Integration, wenn es an brückenbildendem Kapital fehlt. Starke Segmentierung wirkt durchaus als zentrifugale Kraft, es sei denn, es gibt kulturelle Gemeinsamkeiten und Klammern. Mit der Exklusivität wurde schon angedeutet, dass Sozialkapital nicht nur positive Aspekte hat. So verweist Putnam schon gleich zu Beginn seiner Studien auf die Tatsache, dass dichtes Sozialkapital oft in Verbindung mit destruktiven und inhumanen Kräften steht (Putnam 2000: 21f). Der amerikanische KuKluxKlan gibt dafür ebenso ein Beispiel wie das engmaschige Netzwerk der rechtsradikalen Szene in Deutschland. Aus Sozialkapital kann jederzeit „unsocial capital“ werden (Levi 1996). Die „dunklen Seiten” des Sozialkapitals haben erstmals Portes und Landolt (1996) systematisch ausgearbeitet72. Das erste Negativum ergibt sich tatsächlich unmittelbar als Kehrseite der Integrationsleistung des sozialen Kapitals. Die enge Schließung des Kreises kann nämlich ihre positiven Effekte für die Mitglieder nur erfüllen, weil andere von den Segnungen ausgeschlossen bleiben. Die Inklusion setzt eine Exklusion der anderen voraus. Dieses Problem lässt sich gut an einem Beispiel veranschaulichen, das James Coleman anführt, um die Vorteile der Sozialkapitalbildung zu veranschaulichen. Unter den jüdischen Diamantenhändlern in New York City gilt die Regel, dass man bei Geschäften untereinander bedenkenlos Säckchen mit Edelsteinen aus der Hand gibt, damit der Geschäftspartner sie in Ruhe zu Hause prüfen und bewerten kann. Obwohl es hier mitunter um Summen von mehreren Hunderttausend Dollar geht, erfolgt dieser Austausch allein auf Vertrauensbasis, ohne Formalia und Versicherungen. Insgesamt wird auf die sonst üblichen Verträge und Anwälte verzichtet, wodurch in großem Ausmaß Kosten eingespart werden. Dieses System kann allerdings nur funktionieren, weil die Gemeinschaft durch 72
Lenci (1997: 3) spricht hier auch von der Janusköpfigkeit des sozialen Kapitals und führt aus: „Associationism and migrant networks, lobbies of hidden power and ‚pizza connection‘ are the two sides of the same coin”. Strecker und Nährlich (2005) haben in einer ähnlichen Pointierung gegen eine naiv positive Sichtweise auch die „dunkle Seite“ von Dritte-Sektor-Organisationen herausgearbeitet.
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ethnische Identität, Heiratsverbindungen, gemeinsame Wohnviertel und den Besuch der gleichen Synagogen hochgradig integriert ist. „It is essentially a closed community” (Coleman 1988: 98). Mit der letzten Formulierung aber wird auch deutlich, dass Außenstehenden die Partizipation an diesem System nicht möglich ist. Dies kann mitunter ausgesprochen negative Konsequenzen haben, wenn zum Beispiel ganze Märkte und Geschäftszweige auf diese Weise abgeschlossen sind. Portes und Landolt verweisen auf die Situation des Baugewerbes in New York, das weitgehend von Weißen – Abkömmlingen italienischer, irischer und polnischer Immigranten – beherrscht wird und in dem schwarzen Unternehmern keine Möglichkeit des Einstiegs offen steht. Ähnliche Konstellationen zeigen sich auch im Handel in Miami, der von Exilkubanern kontrolliert wird, oder im industriellen Sektor einiger Ostküstenstädte, in denen die Koreaner das Sagen haben (Portes/Landolt 1996: 19f). Die dicht integrierten, ethnisch definierten Gruppen konstituieren hier berufsständische Schließungsprozesse, durch die zahlreiche potentielle Mitbewerber ausgeschlossen werden. Adam Smith hatte seinerzeit von „conspiracies against the public” gesprochen, und es ist leicht einzusehen, dass dadurch nicht nur Individuen oder ganze Gruppen von der Teilhabe an den entsprechenden Märkten ausgeschlossen werden, sondern dass durch den so eingeschränkten Wettbewerb auch volkswirtschaftlich negative Effekte entstehen können (Portes/Landolt 1996: 20). Den Extremfall von dicht geschlossenen Beziehungsnetzen mit hohen Aufkommen von Sozialkapital stellen ohne Zweifel mafiöse Strukturen dar (vgl. Gambetta 1988, Lenci 1997). Hier sind intensive Vertrauensverhältnisse bei rigiden Exklusionen vorhanden, und den hohen Gewinnen innerhalb des Kollektivs stehen hohe Kosten auf Seiten der restlichen Gesellschaft gegenüber. Adalbert Evers hat allerdings auf folgendes aufmerksam gemacht: Es gibt auch gesellschaftliche Gruppen, die hochgradig integriert sind, also eng geflochtenes Sozialkapital aufweisen, und die dennoch im sozialstrukturellen oder ethnischen Sinne nicht homogen sind. Auch solche Gruppen können eine erhebliche destruktive Kraft aufbringen (Evers 2002: 69). Sieht man sich beispielsweise die Entwicklung populistischer, nationalistischer und rassistischer Bewegungen an, so wird deutlich, dass hier teilweise ein enormes Integrationspotential innerhalb einer Nation entfaltet werden kann, das geradezu mühelos alle sozialstrukturellen Grenzen überschreitet. Gerade die deutsche Gesellschaft bietet mit dem Nationalismus im späten Kaiserreich und mit der nationalsozialistischen Bewegung anschauliche Beispiele für derartige Entwicklungen. Vor allem die einfache, auf Evidenz angelegte ästhetische Insze-
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nierung von integrativen symbolischen Formen vermag hier nicht nur Integrations-, sondern auch Mobilisierungsleistungen zu vollbringen73. Einen weiteren negativen Aspekt aus der Sicht von Individuen stellt der hohe Konformitätsdruck dar, der in geschlossenen Gemeinschaften mit hohem Sozialkapital zu beobachten ist. Hierzu sind ebenfalls empirische Studien über ethnische Gruppen durch-geführt worden, die diesen Druck beschrieben haben. So weist etwa die Struktur von Chinatown in San Francisco rigide Regeln auf, die auch jede ökonomische Innovation zuverlässig unterbinden (Portes/Landolt 1996: 20). Ein ähnlicher Konformitätsdruck, der vor allem auch Fragen von Moral und Lebensstil betrifft, ist aus hochintegrierten dörflichen Gemeinschaften oder Nachbarschaften bekannt. Der Nachteil besteht dabei in einer weitgehenden Verkarstung, d.h. in einer mangelnden Flexibilität der sozialen Strukturen, die ausgesprochen veränderungsresistent sind und gegebenenfalls auf veränderte Außenbedingungen und Herausforderungen nicht adäquat reagieren können. Ein hohes Maß von Sozialkapital kann also mit erheblichen Restriktionen für die Handlungsfreiheit von Individuen verbunden sein. Diese Restriktionen können Akteure sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kollektivs betreffen. Eine Konzeptualisierung von Sozialkapital, die diese negativen Seiten zugunsten der positiven Nutzeneffekte für Individuum und Gemeinschaft ausblendet, greift offenbar zu kurz und muss entsprechend korrigiert werden.
2.5.4 Kritische Diskussion Zunächst einmal lassen sich auf der methodischen Ebene einige Kritikpunkte und offene Fragen formulieren: Erstens: Bei den zahlreichen Versuchen, Sozialkapital empirisch zu operationalisieren und zu messen, haben sich immer wieder Probleme ergeben, die zur Kritik nicht nur an den konkreten Studien, sondern auch am Konzept des Sozialkapitals insgesamt geführt haben. Bei den meisten der bislang vorliegenden empirischen Studien ist insgesamt zu konstatieren, dass sehr heterogene, mitunter auch unklar definierte Konzepte von Sozialkapital zugrunde gelegt werden. Soziales Kapital „scheint als Sammelbegriff für (besonders positiv bewertete) Ursachen und Wirkungen gleichermaßen Verwendung zu finden” (Haug 1997: 31). So zeigen neuere Untersuchungen, dass man auch im Bereich der standardisierten politischen Kulturforschung keinesfalls immer zu eindeutigen und unumstrittenen Befunden gelangt. Gabriel u.a. (2002) weisen in einer sekundäranalytischen Studie auf der Grundlage der Daten des von Ronald Inglehart organisierten 73
Siehe dazu ausführlich die Analyse von Dörner (1996).
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World Value Surveys nach, dass das Sozialkapital – gemessen hier über das Engagement in Freiwilligenorganisationen, interpersonales Vertrauen sowie gemeinschaftsbezogene Werte und Normen – keineswegs generell sinkt. Selbst für die USA, Putnams primären Untersuchungsgegenstand, wird die Verfallsdiagnose weitgehend bestritten. Und hatte Putnam noch den Fernsehkonsum als einen der Hauptübeltäter für den Schwund an sozialen Bindekräften herausgestellt, kommen die deutschen Autoren in ihrer Analyse zum diametral entgegengesetzten Befund, dass nämlich Vielseher mitunter sogar sozial aktiver sind als Fernsehverächter (Gabriel u.a. 2002: 110). Zweitens: Putnam formuliert eine These, die mit Blick auf die bisherige Forschung wirklich überraschen muss: „Sozialkapital widersteht jeder Quantifizierung“ (Putnam/Gross 2001: 28). Diese bemerkenswerte Aussage, platziert in der Einleitung zu seinem Sammelband über Sozialkapital und Gemeinsinn, fordert zumindest zwei kritische Bemerkungen heraus: Zum einen hat der Rückgriff auf das Kapitalkonzept doch seine Pointe gerade darin, dass man die Logik von Investition, Ertrag und Akkumulation bei allen konkreten Problemen, die auch Bourdieu eingestanden hat, grundsätzlich quantifizierbar macht. Die Netzwerkforschung verfeinert stets ihre Methoden der Kapitalmessung, und im Rational Choice-Paradigma finden sich vielfach Formeln, die eine Berechnung von Investition und Ertrag ermöglichen sollen (vgl. etwa Esser 2000: 244f). Putnams Äußerung dagegen scheint zu verdeutlichen, dass der Begriff hier nur noch metaphorischen Charakter hat. Umso erstaunlicher aber erscheint es dann zum anderen, dass die Absage an Quantifizierungsversuche einhergeht mit der Tatsache, dass Putnams gesamte Argumentation auf Daten beruht, die mit standardisierten, d.h. mit Quantifizierung arbeitenden Methoden erhoben und ausgewertet wurden. Erschiene nicht angesichts vorhandener Quantifizierungsprobleme ein interpretativer Zugang zur Funktionsweise sozialen Kapitals dann sinnvoller, wie er etwa von Bellah u.a. (1985) in ihren auf offenen Interviews basierenden zeitdiagnostischen Studien gegangen wurde?74 Freilich lassen sich auf diesem Wege auch keine großflächigen Aussagen über den Schwund des Sozialkapitals in einer 250-MillionenGesellschaft wie den USA formulieren. Man müsste kleinere Brötchen backen, was der Seriosität der Forschung durchaus nicht abträglich wäre. Neben diesen methodischen Fragen ergeben sich aber auch auf konzeptioneller Ebene Kritikpunkte. Diese betreffen zwei Leerstellen in Putnams Argumentation: die der sozialen Ungleichheit und die der Politik. 74
Wobei hier nicht näher auf die methodischen Untiefen bei Bellah u.a. eingegangen werden soll; entscheidend ist, dass interpretative Methoden andere, neue Einblicke insbesondere in die Verflechtung von privatem und öffentlichem Nutzen in der konkreten bürgergesellschaftlichen Interaktion verschaffen können.
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Drittens: Es ist zu konstatieren, dass Putnams Ansatz die Ungleichheitsdimension von sozialem Kapital weitgehend ausblendet. Zwar werden gewisse Probleme mit der Differenzierung von „bonding capital“ und „bridging capital“ angesprochen; wo und wie es jedoch konkret tatsächlich zu brückenbildenden Vernetzungen über die noch immer rigiden sozialstrukturellen Grenzen moderner Gesellschaften kommt, bleibt völlig offen (vgl. dazu auch Braun 2001a: 344). Putnams Aussagen dazu tragen deutlich Züge normativ-utopischer Argumentationen, die deutlich machen, dass der Autor dem kommunitarischen Paradigma sehr viel näher steht, als der Rückgriff auf das „nüchterne“ Kapitalkonzept zunächst glauben macht (vgl. etwa Putnam 2000: 411)75. Die ungleiche Verteilung von Bildung, Ansehen und „guten Beziehungen“ in der sozialen Welt bewirkt auch eine unterschiedliche Verteilung von sozialem Kapital. So weisen die empirischen Analysen von Offe und Fuchs (2001: 442ff) nach, dass Sozialkapital (gemessen in Aufmerksamkeit für öffentliche Angelegenheiten, Vertrauen und Engagement in assoziativen Aktivitäten) mit sozialstrukturellen Variablen deutlich korreliert. So zeigen sich beispielsweise Abhängigkeiten zwischen sozialem Kapital und Einkommen bzw. Arbeitsmarktstatus (Beamte weisen hohes, Arbeitslose dagegen ausgesprochen niedriges Sozialkapital auf) und vor allem zwischen sozialem Kapital und Bildung (Offe/Fuchs 2001: 448). Das aber wiederum verweist auf unterschiedliche Partizipationschancen in der Bürgergesellschaft (siehe unten Kap. 5.6). Die verschiedenen Interessen diverser Bevölkerungsgruppen kommen daher in höchst unterschiedlichem Maße zur Geltung. Asymmetrien, die man in Bezug auf das etablierte politische System schon immer konstatiert hat, sind daher auch in zivilgesellschaftlichen Kontexten zu beobachten, und diese Ungleichheiten verstärken sich in dem Maße, in dem die Teilnahme am politischen Prozess durch fortschreitende Dezentralisierung in diesem Bereich immer voraussetzungsvoller wird – gebunden etwa an Qualifikation und Bildung76. Viertens: Adalbert Evers macht schließlich darauf aufmerksam, dass Putnams fehlende Berücksichtigung der Faktoren Macht und Ungleichheit eng zusammenhängt mit einer weiteren Leerstelle in seinem Konzept: die fehlende
75
So verweist Braun zurecht auf den illusorischen Charakter von Putnams selbstgewähltem Beispiel, der Mannschaftssport biete hervorragende Möglichkeiten für die Bildung von bridging capital; gerade der Sport gehört, wie Bourdieu gezeigt hat, mit seinen distinktiven Potentialen (zumindest im europäischen Bereich) zu den am schärfsten getrennten und trennenden Bereichen der Lebensstile. 76 Vgl. dazu Brömme/Strasser (2001) und Offe/Fuchs (2001) sowie Schlozman u.a. (1999) zu den USA.
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politische Dimension77. Dies muss umso mehr verwundern, als Putnam doch aus der Position eines Politikwissenschaftlers argumentiert. Evers beschreibt die Relevanz der politischen Rahmenbedingungen wie folgt: „Insoweit Ungleichheit auch Möglichkeiten der Vertrauensbildung, Kooperation, Organisation und Artikulation betrifft, unterstreicht sie auch die große Bedeutung staatlicher Politiken und politischer Strategien des ‘empowerment’ für die Bildung, den Zerfall und Prozesse der impliziten Umverteilung von Sozialkapital“ (Evers 2002: 66).
Es geht also um den systematischen Zusammenhang zwischen Sozialkapital und Politik. Die politischen Rahmenbedingungen, so Evers, sind ganz entscheidend dafür, ob, in welchem Ausmaß und mit welcher Verteilung es zur Ausbildung von Sozialkapital kommt: „Die Bürgergesellschaft und das damit korrelierende soziale Kapital werden also von der Politik getragen und geformt. Sie können demzufolge nicht als deren Basis oder Vorläufer angesehen werden“ (Evers 2002: 68). Allerdings könnte Evers hier Gefahr laufen, in eine entgegengesetzte Einseitigkeit zu verfallen. Denn „die Politik“ ist ja ihrerseits keine unabhängige Größe. Sie ist, selbst in ihren verfassungsförmigen Rahmenbedingungen, ihrerseits das Resultat politischer Prozesse und damit auch abhängig davon, welcher Input mit welchen Interessen von welchen Gruppen in das politische System eingespeist wird. Und das wiederum ist in hohem Maße eine Frage der politischen Kultur und der Ausformung einer aktiven Bürgergesellschaft78. Man wird den komplexen Realitäten wohl besser gerecht, wenn man von einem Prozess gegenseitiger Einwirkung ausgeht. Richtig bleibt dabei in jedem Fall, dass Putnams Blick auf Sozialkapital und Bürgergesellschaft zu eng bleibt, wenn er die politischen Rahmenbedingungen ausblendet. Die Frage, in welchem Ausmaß, mit welcher Unterstützung und mit welchen Hindernissen von Seiten der Politik operiert werden muss, ist ganz entscheidend für das Gelingen oder Scheitern bürgergesellschaftlicher Aktivitäten.
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Dieser bislang bei Putnam zu wenig berücksichtigte Zusammenhang von Sozialkapital und politischen Institutionen wird in neuerer Zeit von einigen, institutionalistisch ausgerichteten Arbeiten betont, vgl. u.a. Hall (1999), Newton (1999), Newton/Norris (2000) sowie Rothstein/Stolle (2002). 78 Diese Fragen nach dem „Input“ sind das genuine Interesse von politischer Kulturforschung; dabei geht es eben nicht nur um politische Partizipation im herkömmlichen Sinne, sondern auch um unkonventionelle Beteiligungsformen, soziale Bewegungen, Einfluss auf den öffentlichen Diskurs etc.; dies macht ja gerade Habermas’ Konzept der Zivilgesellschaft deutlich (Habermas 1992).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
2.6 Kapital und soziale Ungleichheit Einige Aspekte, die in der voranstehenden Auseinandersetzung mit Putnam zur Sprache kamen, haben schon darauf hingedeutet, dass mit dem Begriff des Kapitals neben integrativen Funktionen auch differenzierende Funktionen und damit auch Phänomene sozialer Ungleichheit verbunden sind. Diese, vor allem von Pierre Bourdieu in den Blick gerückten und systematisierten Aspekte sind für eine angemessene Perspektive auf Bürgergesellschaft ebenso wichtig wie die bei Putnam entwickelten. Die Dynamik des Kapitals als Motor einer unbändigen ökonomischen Entwicklung, die ihrerseits die sozialen und politischen Verhältnisse im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung radikal verändert, ist schon von den Klassikern der soziologischen und politischen Theorie, von Adam Smith, Karl Marx und Max Weber eindringlich beschrieben worden. Die derzeitigen Debatten über Globalisierung sind in vieler Hinsicht nur eine aktualisierte Fassung jener Auseinandersetzungen. Geld und Maschinen, vor allem aber eine Mentalität der Akkumulation, die den Gewinn nicht verkonsumiert, sondern zu großen Teilen reinvestiert, haben die Welt ständig weiter verändert. Erst relativ spät jedoch, systematisch in den 1960er Jahren, hat man neben den klassischen Formen des Kapitals auch die Faktoren Bildung, Fähigkeiten und Qualifikation in das ökonomische Kalkül einbezogen. Das „Humankapital” erwies sich zunehmend als eine Größe, die den Erfolg einer Unternehmensstrategie und, im größeren Maßstab, den Erfolg einer Volkswirtschaft nachhaltig beeinflusst79. Obwohl man hier durchaus im engeren Bereich der ökonomischen Theorie verblieb, war damit doch der erste Schritt zur Ausweitung des Kapitalkonzepts im Bereich der Sozialtheorie gemacht. Schon im Jahr 1961 wurde in den stadtsoziologischen Untersuchungen von Jane Jacobs (1961) der soziale Zusammenhalt einer funktionierenden Nachbarschaft als das wertvolle und unersetzliche „soziale Kapital” einer Gemeinde angesprochen. Später wurde eine ganze Reihe von Studien zur Nützlichkeit von „Beziehungen”, Vertrauensverhältnissen und Netzwerken erarbeitet80. Die systematische Ausformulierung von soziologischen Theorien des Kapitals erfolgte vor allem in den 1980er und 1990er Jahren.
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Vgl. dazu vor allem die grundlegende Studie des späteren Nobelpreisträgers Gary S. Becker (1964). 80 So wurden beispielsweise empirische Untersuchungen von Sozialkapital als Faktor beim Erwerb eines Arbeitsplatzes bzw. einer bestimmten Karriereposition vorgelegt (vgl. etwa Lin 1982, Marsden/Hurlbert 1988 oder Meyerson 1994). Aber auch der Effekt des sozialen Kapitals als eine Ressource gemeinschaftlicher Beziehungen und solidarischen Handelns ist analysiert worden.
2.6 Kapital und soziale Ungleichheit
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Die entscheidende Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze besteht darin, dass sie einen „Utilitarismus des Alltags” unterstellen. Damit ist gemeint, dass alles soziale Handeln unter der Perspektive seines bewusst oder unbewusst angestrebten Nutzens betrachtet wird. Dieser Nutzen muss keineswegs immer ein materieller Gewinn sein. Auch ideelle, emotionale oder symbolische Gewinne werden als Bestandteile des rationalen Kalküls von Akteuren in die Betrachtung einbezogen. Sozialkapital beispielsweise kann Geld, Jobs oder Karrierechancen eröffnen, aber auch die Unterstützung eines Solidarnetzwerks, emotionalen Rückhalt, soziale Anerkennung oder Prestige „erwirtschaften”. Auch das befriedigende Gefühl, einer moralisch guten Sache erfolgreich gedient zu haben, ist als Nutzen des Kapitaleinsatzes zu betrachten. Individuum und Gemeinschaft können dabei durchaus gemeinsam profitieren. Wenn etwa der einzelne sein Beziehungsnetz für seine eigenen strategischen Ziele einsetzt, kann dadurch gleichzeitig der Zusammenhalt zwischen den Beteiligten gefestigt werden. Dieser Zusammenhalt wiederum kann als Unterstützungsnetzwerk externe Hilfebedarfe etwa in Bezug auf den Staat vermeiden. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat seine nüchterne Analyse der „Ökonomie der Praxisformen” in der modernen Gesellschaft zunächst dadurch entwickelt, dass er in ethnologischen Studien zu nordafrikanischen Berberstämmen deren Handlungslogik und soziale Ordnungsstrukturen offenlegte. Später wurde der verfremdende ethnologische Blick dann auf die eigene Gegenwartsgesellschaft übertragen und systematisiert. Vieles von dem, was in vormodernen Gesellschaften an Konflikten und gegenseitigen Verpflichtungen, an Kampfritualen und Hierarchien vorfindbar ist, lässt sich grundsätzlich auch in der Moderne entdecken81. Allerdings haben wir es in unserer Gegenwartsgesellschaft mit Großgruppen zu tun, deren soziale Praxis auf vielen ausdifferenzierten „Feldern” organisiert ist (Wirtschaft, Recht, Bildung, Kultur etc.) und deren Verhältnis zueinander durch ein erhebliches Ausmaß von sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist. Um die mitunter sehr subtil erscheinenden Formen der Ungleichheit als Ausdruck einer hierarchisch angeordneten Klassengesellschaft sichtbar zu machen, hat Bourdieu den traditionell marxistischen Ansatz aufgegriffen und gleichzeitig drastisch verändert. An die Stelle einer simplen Gegenüberstellung von „Kapitalisten”, die die Herrschaft über die Produktionsmittel haben, und „Lohnabhängigen”, die ihre Arbeitskraft zu für sie ungünstigen Bedingungen verkaufen müssen, ist eine differenzierte Analyse getreten. Zu diesem Zweck erweitert Bourdieu den herkömmlichen ökonomischen Kapitalbegriff um folgende Varianten (vgl. vor allem Bourdieu 1983 und 81
Zu den ethnologischen Studien und ihrer systematischen Bedeutung für die Soziologie der Moderne vgl. Bourdieu (1976).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
1985)82: kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Das kulturelle Kapital besteht zunächst einmal aus Bildung, d.h. Kenntnissen und Fähigkeiten aller Art, die man gewinnbringend einsetzen kann. Die institutionalisierte Form dieses Kapitals sind Abschlüsse und Titel, d.h. es handelt sich hier um eine gesellschaftlich anerkannte und beglaubigte Form von Wissen. Neben dem kulturellen Kapital ist vor allem das soziale Kapital wichtig. Bourdieu definiert es als „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind”. In anderen Worten handelt es sich um „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen” (Bourdieu 1983: 190). Soziales Kapital bildet sich in der Praxis auf der Grundlage von materiellen oder symbolischen Tauschbeziehungen: Ich gebe einer anderen Person etwas (eine Hilfeleistung, etwas Materielles oder eine Information) und erhalte dafür eine Gegenleistung, sei es in Form einer direkten Gegengabe oder, wichtiger, in Form einer Verpflichtung, die ich dann später bei Bedarf abrufen kann (ich habe bei jemandem „etwas gut”). Daraus entwickeln sich ganze Netzwerke von Tausch- und Verpflichtungsbeziehungen, die teilweise auch in Form von Mitgliedschaften institutionalisiert sind: in einer Familie, einem Stamm, einer Partei oder einem Club, einer „Seilschaft” o.ä.83 Entscheidend ist nun, wie die verschiedenen Kapitalien sich zueinander verhalten. So ist es Bourdieu zufolge für den Aufbau eines effektiven Beziehungsnetzes von zentraler Bedeutung, wie viel ökonomisches und kulturelles Kapital ich dort investieren kann: Mitgliedschaften und Gefälligkeiten können Geld kosten, gebildete Plaudereien erfordern entsprechende Kenntnisse. Soziale Gruppen, innerhalb derer sich Beziehungsnetzwerke entfalten, achten in der 82
In späteren Publikationen hat Bourdieu das Spektrum noch erweitert und jeweils feldspezifische Kapitalsorten identifiziert: wissenschaftliches Kapital, politisches Kapital etc. In ihren Grundfunktionen sind diese spezifischen Kapitalsorten jedoch immer auf die Grundsorten rückbeziehbar. 83 In diesem Bereich trifft sich die strukturutilitaristische Perspektive Bourdieus mit James Colemans Ansatz, der aus einer ganz anderen, handlungstheoretischen Tradition kommend, ebenfalls den Nutzencharakter des sozialen Kapitals betont. Kapital wird hier allgemein durch seine „handlungsbegünstigende” Wirkung definiert: Mit der Hilfe dieser Ressource kann ich mein Handlungsziel besser erreichen als ohne sie. Im Unterschied zu physischem Kapital oder auch zum Humankapital stellt aber das soziale Kapital eine Ressource dar, die streng relational zu denken ist. Man „hat” es nicht im gleichen Sinn wie man eine Maschine oder auch ein bestimmtes Wissen hat, sondern es stellt sich her als eine Beziehung zwischen Personen (Coleman 1991: 394). Die wichtigste Form von sozialem Kapital sind Verpflichtungen und Erwartungen (Coleman 1991: 396ff). Verpflichtungen funktionieren wie eine Art Gutschrift, die man bei einem Gegenüber einlösen kann, um eine bestimmte Leistung zu erhalten. Soziales Kapital stellt hier also eine Kreditmasse dar: Je mehr Verpflichtungen sich ein Akteur offen hält, umso größer ist die Kreditmasse, auf die er im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Voraussetzung für das Funktionieren ist allerdings, dass das Vertrauensverhältnis intakt ist und kein Vertrauensmissbrauch vorliegt.
2.6 Kapital und soziale Ungleichheit
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Regel auch sehr genau darauf, dass eine gewisse Homogenität bzw. Exklusivität der Mitglieder gewahrt bleibt. Um also Zugang zu einem exklusiven Club zu erlangen, um das entsprechende Sozialkapital der Beziehungen nutzen zu können, muss man die notwendigen Ressourcen haben: sei es in Form von Geld, Bildung bzw. Bildungstiteln oder auch Prestige. Andersherum kann Sozialkapital jedoch auch einen „Multiplikatoreffekt“ für die anderen Kapitalsorten ausüben. Je mehr Beziehungen ein Akteur also aufweisen kann, umso mehr kann er mit seinem ökonomischen Kapital, mit seiner Bildung, mit seiner Belesenheit erreichen. In gewisser Hinsicht ist freilich das Sozialkapital auch eine unbequeme Kapitalsorte, da sein Funktionieren fortlaufende „Institutionalisierungsarbeit“ erfordert, damit das Beziehungsnetz erhalten und jederzeit abrufbar bleibt. Diese Arbeit kann im konkreten Fall bestehen aus langen Telefonaten, Einladungen zu Partys und Dinners, Ausdenken und Besorgen von originellen Geschenken usw. Alle drei Formen – ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital – finden ihren zeichenhaften, sichtbaren und sozial anerkannten Ausdruck in einer vierten Form: im symbolischen Kapital. Ehre, Prestige, Renommee sind typische Erscheinungsweisen dieser Zeichenebene des Kapitals. Symbolisches Kapital wirkt wie ein Kredit: Man unterstellt dem Träger besondere Eigenschaften oder Fähigkeiten, ohne dass er sie aktuell unter Beweis stellen muss, und bringt ihm entsprechende Gaben dar – man lädt ihn ein, bedenkt ihn mit Aufmerksamkeiten oder öffentlicher Huldigung – und erhofft sich bei Gelegenheit eine Gegengabe, durch die man von den unterstellten Eigenschaften oder Fähigkeiten der entsprechenden Person profitieren kann. Nun ist ein solches Kapitalkonzept nur dann mehr als eine bloße Metapher, wenn man auch die Investitions- und Umwandlungsprozesse präzise beschreiben kann. Alle Kapitalsorten sind ineinander konvertierbar. Ökonomisches Kapital kann zum Erwerb aller anderen Kapitalsorten verwendet werden, es ist dann jedoch „Transformationsarbeit” zu leisten. Konkret heißt das: Um soziales Kapital zu erwerben, muss man sowohl Zeit als auch Geld und Arbeit investieren. Bei all diesen Transformationsprozessen muss immer bedacht werden, dass es auch zu Schwund oder Fehlinvestitionen kommen kann. Wenn ich beispielsweise durch bestimmte kleine Gaben ein Beziehungsnetz aufbauen will, muss ich die Absicht dieser Gabe immer auch ein wenig verschleiern, da eine zu offen sichtbare Tauschlogik für viele Menschen nicht akzeptabel ist oder doch zumindest als unfein gilt. Ich muss, in den Worten Bourdieus, „Euphemisierungsarbeit” leisten, die wahren Absichten verschleiern und somit gleichsam Interesselosigkeit vortäuschen. Wenn ich jedoch zu stark verschleiere, kommt die Botschaft möglicher Weise gar nicht an, d.h. es entsteht bei meinem Gegenüber gar kein Verpflichtungsgefühl und ich warte auf eine Gegengabe vergebens. Ich kann
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
letztlich nie sicher sein, wie jemand auf meine Anstrengungen reagiert. Aber Fehlinvestitionen sind ja auch in der Wirtschaft nicht selten. Dennoch gilt, dass soziales Kapital immer an konkrete soziale Handlungszusammenhänge gebunden und somit weniger abstrakt-anonym steuerbar ist als beispielsweise ein Kauf mit Geld, bei dem ich ohne Abhängigkeit von persönlichen Faktoren, von Sympathie und Antipathie das Ergebnis meiner Investition recht sicher vorhersehen kann. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der Aspekt der sozialen Ungleichheit bei Bourdieu im Mittelpunkt steht. Nur derjenige kann investieren und akkumulieren, der schon über eine bestimmte Kapitalmenge verfügt. Hier gilt die Weisheit des Matthäus-Evangeliums: Wer hat, dem wird gegeben. Soziale Ungleichheit und hierarchische Machtverhältnisse entstehen und verfestigen sich also dadurch, dass die Menschen unterschiedliche Mengen verschiedener Formen von Kapital für ihre jeweiligen Handlungsziele verfügbar haben. Dieser Aspekt der kapitalbedingten sozialen Ungleichheit erweist sich auch für den Zusammenhang der Bürgergesellschaft als höchst relevant, wenn man nach den Voraussetzungen der Teilnahme am zivilgesellschaftlichen Geschehen fragt (siehe Kap. 5.6).
2.7 Individualisierung, reflexive Modernisierung und Bürgergesellschaft Prozesse der Individualisierung sind seit den 1980er Jahren vor allem von Ulrich Beck und seinem intellektuellen Umkreis beschrieben und im Rahmen einer Theorie der reflexiven Modernisierung analysiert worden84. Im Kern lässt sich die Aussage dieses Ansatzes, die zunehmend auch empirische Bestätigung in verschiedenen Handlungsfeldern findet, wie folgt formulieren: Individuelle Akteure werden im Prozess fortschreitender Modernisierung der Gegenwartsgesellschaften zunehmend freigesetzt aus traditionalen Bindungen. Damit sind sie nicht nur verstärkt in die Lage versetzt, sondern auch gezwungen, ihre eigenen Lebensverhältnisse und die sozialen Gegebenheiten, in denen sie sich bewegen, selbst zu gestalten – bei Berücksichtigung noch immer vorhandener ökonomischer bzw. sozialer Restriktionen85. Die Auflösung gesellschaftlicher „Normalitäten“, ob in den Familien, in der kulturellen Praxis oder in der Arbeitswelt, geht also mit erweiterten Optionen, aber auch mit dem Zwang zur Gestaltung einher. Entgegen landläufiger Erwartungen, der Individualisierungsprozess führe zu einer „Gesellschaft der Ichlinge“ (Keupp 2000) und somit auch zu einem Verfall 84
Siehe dazu vor allem Beck (1986, 1987 und 1993) sowie die Beiträge in Beck (1997), Beck/BeckGernsheim (1994) und Beck/Sopp (1997), kritisch Friedrichs (1998). Zur Theorie der reflexiven Modernisierung Beck u.a. (1996) sowie Beck/Bonß (2001) und Beck/Lau (2004). 85 Siehe dazu ausführlich auch Esser (2000).
2.7 Individualisierung, reflexive Modernisierung und Bürgergesellschaft
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der Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement, konnte zunächst schon aus der standardisierten empirischen Forschung das Gegenteil ersehen werden: Individualisierung erscheint hier geradezu als ein Motor der Bereitschaft zum Engagement. Diese Bereitschaft ist mit dem Wunsch verbunden, die Kontexte, in denen man sich engagiert, selbst mitzugestalten, und nicht wie im klassischen „Ehrenamt“ als kleines Rädchen im großen Getriebe pflichtbewusst seinen Dienst zu versehen86. Im Gegensatz zu diesen Dispositionen der Freiwilligen ist jedoch die Umsetzung in der konkreten Praxis, d.h. die Frage, inwieweit die vorhandenen Organisationsstrukturen den Wünschen der Freiwilligen entgegenkommen, nicht systematisch empirisch erforscht. Eine Konkretisierung haben die Individualisierungshypothesen Becks in den Arbeiten von Ronald Hitzler erfahren. Er hat in einer Reihe von Publikationen die Bedingungen sozialen Handelns im Rahmen einer sich beschleunigt modernisierenden Gegenwartsgesellschaft untersucht. Reflexive Modernisierung und fortschreitende Individualisierung verweisen auf einen Wandel von Lebenswelten, ohne dessen Berücksichtigung die aktuelle Herausbildung bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge nicht angemessen verstanden werden kann. In theoretischen Reflexionen in Verbindung mit empirischen Forschungsarbeiten wurde anhand unterschiedlicher Handlungsfelder herausgearbeitet, wie die Akteure der Notwendigkeit zu reflexiver Selbststeuerung begegnen und die entstehenden Freiräume nutzen87. Individualisierung im Sinne der Theorie reflexiver Modernisierung stellt keine „Vereinzelung“ dar. Die Akteure zeigen nach wie vor einen Bedarf nach gemeinschaftlicher Integration. Diese Gemeinschaften haben jedoch einen „posttraditionalen“ Charakter angenommen88. Insbesondere wurde analysiert, wie im Zuge weitergehender Modernisierungsprozesse der Bürger zum aktiven Bürger wird, der die Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse bis hin zur Gewährleistung von „innerer Sicherheit“ selbst in die Hand nimmt – beispielsweise, wenn auch hier durchaus noch staatlich „eingehegt“, im Rahmen der bayerischen „Sicherheitswacht“89. Bürgerschaftliches Engagement bietet in der „anderen Moderne“ einen spezifischen „Möglichkeitsraum“ (Hitzler 2005: 265). Dieser gesamte Prozess, so konnte gezeigt werden, stellt eine weitgehende Politisierung von Gesellschaft dar: nicht im Sinne einer Expansion des etablierten politisch-korporatistischen Systems, sondern als eine Expansion politischer Handlungsräume in der Lebenswelt der 86
Siehe dazu die oben referierte Ehrenamtsberichterstattung sowie die Arbeiten von Klages (1999) und Heinze/Keupp (1997). 87 Vgl. Hitzler (1994, 1994a, 1996, 1999a, 2000a, 2001), Hitzler/Honer (1994), Hitzler/Koenen (1994). 88 Vgl. Hitzler (1998, 1999) sowie Hitzler u.a. (2005, zum Bereich der „Szenen“). 89 Zum Beispiel der Sicherheitswacht siehe Hitzler (1996), Hitzler u.a. (1996) sowie Behring u.a. (1996).
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
Bürger90. Diese Entwicklung bringt entscheidende Weichenstellungen für die Entfaltung bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge in der deutschen Gegenwartsgesellschaft mit sich: der politische Handlungsraum vor Ort wird zugleich offener und unübersichtlicher. Die „Bastelexistenz“ der Individuen schlägt sich vielerorts als ein politisches Sinnbasteln jenseits des tradierten Institutionensystems nieder. Individualisierung und reflexive Moderne sind mit Umbrüchen dessen verbunden, was als „Arbeitsgesellschaft“ oder „Erwerbsgesellschaft“ über lange Zeit die ökonomisch-soziale Normalität der Moderne definiert hat (vgl. Sennett 1998, Beck 1999, Bonß 2000). Aus kontinuierlichen Erwerbsbiografien sind diskontinuierlich-patchworkartige Verläufe geworden (vgl. Mutz u.a. 1995). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Erwerbsarbeit, bürgerschaftlichem Engagement und „Eigenarbeit“ neu91. Wenn Identität und Anerkennung nicht mehr wie früher in hohem Maße durch die Erwerbsarbeit konstituiert werden, welchen Anteil kann dann freiwilliges Engagement daran haben? Und wie müssten Schnittstellen und Übergänge zwischen Erwerbs-, Eigen- und freiwilliger Arbeit beschaffen sein, um den Bedürfnissen der Existenzbastler zu entsprechen? Auch hierzu liegt systematische empirische Forschung noch nicht vor (vgl. Mutz/Kühnlein 2001). Ulrich Beck schließlich hat in einer Reihe von Veröffentlichungen, zuerst in dem Gutachten für die bayerisch-sächsische „Zukunftskommission“ (1997a), sein Konzept einer „Bürgerarbeit“ entwickelt92. Auf der Grundlage seiner theoretischen Reflexionen wie der einschlägigen empirischen Forschung entwickelt er hier politikberatend das Modell einer weitgehend staatlich finanzierten („Bürgergeld“ statt Sozialhilfe), gemeinwohlorientierten freiwilligen Arbeit, die nicht nur Arbeitsmarktprobleme lösen, sondern zugleich auch Demokratiedefizite der modernen Gesellschaft wie individuelle Sinn- und Erfahrungsdefizite der beteiligten Akteure beheben soll (vgl. Beck 1999, 2000). Auch dieses sozialpolitische Modell, auf dessen kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit hier nicht weiter eingegangen werden muss, bedürfte zunächst einmal weiterer empirischer Forschung zur Funktionsweise bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge, um zumindest seriöse hypothetische Aussagen über mögliche Auswirkungen und Probleme zu erlauben. Wenn Beck (1999: 149) beispielsweise konstatiert, Bürgerarbeit biete wichtige Hilfen für einen Wiedereinstieg Arbeitsloser in die Erwerbsarbeit, müsste diese Einschätzung zunächst 90
Vgl. dazu Hitzler (1993, 1994b, 1994c, 1995, 1997, 2000) und Hitzler/Milanes (1998). Siehe dazu schon Heinze/Offe (1990) und jetzt die Arbeiten aus dem Kontext des sogenannten „Münchener Modells“, etwa Mutz (1997, 1998) und Kühnlein (1997, 2000). 92 Diese Gedanken wiederum sind in den weiteren Rahmen einer „Weltbürgergesellschaft“ eingebettet; vgl. Beck (1996 und 1999) und Leggewie (2001). 91
2.8 Fazit: Defizite der Forschung
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einmal durch genauere Analysen empirisch vorfindbarer Karriereverläufe zwischen Arbeitslosigkeit, freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit abgesichert werden.
2.8 Fazit: Defizite der Forschung Aus der kritischen Sichtung einer durchaus umfangreichen Literatur zum Themenkomplex Bürgergesellschaft und bürgerschaftliches/freiwilliges Engagement lassen sich folgende Defizite benennen:
Es fehlen Studien, die erforschen, wie sich bei den Akteuren vor Ort die spezifische Kombination und Gewichtung von Nutzenkalkülen einerseits und einer Sinn- und Identitätsbildung im Sinne des kommunitaristisch definierten „guten Lebens“ andererseits gestaltet. Somit wäre aufzuzeigen, wie Motive von Eigennutz und Gemeinnutz verbunden sind, wo sie ineinander spielen und ggf. sich sogar gegenseitig fördern. Es fehlen Studien zur Passung zwischen den Wünschen, Erwartungen und Handlungsweisen der Akteure auf der einen Seite und der organisatorischen Struktur von Bürgergesellschaft auf der anderen. Das gilt insbesondere für die neu entstehenden Organisationsformen bürgerschaftlichen Engagements wie Freiwilligenagenturen und Bürgerstiftungen – hier bleibt zu klären, ob dabei wirklich eine Infrastruktur entsteht, die im Zeitalter von Individualisierung und Wertewandel Bürgergesellschaft funktionsfähiger macht als dies zu Bedingungen des traditionellen Dritten Sektors der Fall war. Nicht untersucht ist die Frage, ob es bei aller Diskontinuität und Unübersichtlichkeit der Übergänge zwischen Erwerbsarbeit, ggf. Arbeitslosigkeit, freiwilliger Arbeit und Familienarbeit erkennbare Verlaufs- und Karrieremuster gibt. Es fehlt Forschung darüber, wie und wo sich vor Ort konkret die Voraussetzungshaftigkeit von Bürgergesellschaft in Form von erforderlichen Ressourcen der Akteure, spezifischen Selektivitäten der Organisationen sowie daraus resultierenden Ungleichheiten und Asymmetrien äußert. Schließlich fehlen Studien, die erforschen, wie die Akteure und Organisationen der Bürgergesellschaft untereinander vernetzt sind und welche Gruppenbildungs- und Schließungsprozesse bis hin zur Konstitution bürgergesellschaftlicher Eliten beobachtbar sind. Die vorliegende Forschung hat Akteure und Organisationen meist isoliert und dekontextualisiert betrachtet.
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2 Grundlagen und Stand der Forschung
Aus den genannten Defiziten lässt sich das Desiderat einer interpretativen StadtStudie zur Funktionsweise von Bürgergesellschaft vor Ort ableiten93. Im Forschungsvorhaben ist daher eine Kommune untersucht worden, in der nahezu gleichzeitig verschiedene – traditionelle wie innovative, erfolgreiche wie scheiternde – Organisationsformen bürgerschaftlichen Engagements entwickelt worden sind.
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Die einzige bislang vorliegende Stadt-Studie zu bürgerschaftlichem Engagement, die „GeislingenStudie“ (Ueltzhöffer/Ascheberg 1995), vermag mit ihrer standardisierten und letztlich dekontextualierten Befragung genau das Geflecht vor Ort nicht in den Blick zu bekommen und kann daher die genannten Desiderata nicht erfüllen.
3 Ziele und Fragestellung der Studie
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3 Ziele und Fragestellung der Studie
Die öffentliche wie die wissenschaftliche Debatte versucht zu eruieren, welche Potentiale mit der Konstellation „Bürgergesellschaft“ im Hinblick auf die Lösung anstehender gesellschaftlicher Probleme verbunden sind. Die Beantwortung der Frage setzt jedoch voraus, dass die Erfolgsbedingungen bürgergesellschaftlicher Arrangements genau geklärt werden. Vor diesem Hintergrund bestand die zentrale Zielsetzung des Projektvorhabens darin, die Gestalt und Funktionsweise von Bürgergesellschaft im Prozess reflexiver Modernisierung und weitergehender Individualisierung zu erforschen. Das Forschungsdesign einer explorativen Stadt-Studie sollte es ermöglichen, nicht nur individuelle Motivlagen, Handlungsformen und Strategien der Akteure zu erfassen, sondern diese auch in den Zusammenhang eines dichten kommunalen Interaktionsgeflechts und einer im Umbruch befindlichen Institutionenlandschaft zu stellen. Individualisierung als eine – durchaus mit ambivalenten Folgen für die Betroffenen verbundene – Form der Loslösung von traditionalen Bindungen und der sozialen „Entbettung“ (Giddens) kann insgesamt als ein Emanzipationsprozess verstanden werden94. Die Akteure können dabei die sozialen Verhältnisse nicht nur in zunehmendem Maße gestalten, sondern sie müssen dies auch tun. Dies lässt sich im weiteren Sinne als eine „Politisierung“ der Gesellschaft verstehen: Individuen betreiben – durchaus strategisch, machtbezogen und erfolgsorientiert – Interessenpolitik in eigener Sache. Sie heben dabei in vielen Bereichen die Monopolstellung des politisch-korporatistischen Systems (Staat, Parteien, Verbände) auf und nehmen die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse in die eigene Hand95. Die sich daraus ergebende Fragestellung lautete, inwieweit nun diese Konstellation tatsächlich, wie zu vermuten wäre, neue Potentiale für bürgerschaftliches Engagement, d.h. für eine freiwillige, mehr oder weniger gemeinwohlbezogene, auf die Gestaltung der sozialen Welt abzielende Aktivität eröffnet. Kommt es hier zu einer Expansion der Bürgergesellschaft gegenüber dem etablierten politischen System und gegenüber dem Korporatismus der deutschen Organisationsgesellschaft? Gelingt es, neue Handlungsformen und institu94
Zur theoretischen Perspektive und zu empirischen Befunden der Individualisierung vgl. die Beiträge in Beck/Beck-Gernsheim (1994), Beck (1997), Beck/Sopp (1997) und Beck/Bonß (2001). Zur kritischen Diskussion vgl. die Beiträge in Friedrichs (1998). 95 Vgl. Beck (1993), Hitzler (1994b, 1997, 2000).
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3 Ziele und Fragestellung der Studie
tionelle Rahmungen zu (er)finden? Dabei sind auch jene Ambivalenzen zu beachten, die bei einem solchen, gegenüber den traditionell rechtsstaatlich legitimierten Verfahren entgrenzten Geschehen zu erwarten sind, etwa in Form von Radikalitäten, Intoleranzen und Asymmetrien96. Um diese allgemeineren Fragestellungen bearbeiten zu können, wurden konkret folgende Aspekte untersucht: Erstens: Die Handlungsmotive der Akteure: Schon aus der einschlägigen standardisierten Forschung ist erkennbar, dass sich die Motive bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagements in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt haben97. Wie sich diese gewandelte Realität jedoch in der Perspektive der Akteure innerhalb ihrer konkreten biografischen Situation und im sozialen Kontext gestaltet, bleibt in den standardisierten Untersuchungen offen98. Im Projekt sollte diese Perspektive rekonstruiert werden. Zu erwarten war, dass die im Zuge des Individualisierungsprozesses aus vorgegebenen Bindungen „freigesetzten“ Akteure sich in der Regel subjektiv rational verhalten im Sinne ihrer je selbstgesetzten Ziele (Esser 1991, 1999, 2000) 99. Das heißt, sie handeln strategisch und erfolgsorientiert, um nach Maßgabe der eigenen Wertmaßstäbe einen Nutzen zu erzielen. Aus einer Vielzahl von empirischen Befunden heraus stimmen zahlreiche Diagnosen der Gegenwartsgesellschaft dahingehend überein, dass heute die tradierten, unhinterfragt evidenten und mit hoher Verbindlichkeit für die Menschen verbundenen Wert- und Sinnhorizonte erodieren. Wenn sich aber derart die selbstverständlichen Gewissheiten der sozialen Welt auflösen, dann drängt sich den einzelnen Akteuren immer häufiger die Frage auf, was sie für sich als wertvoll oder sinnvoll definieren. An die Stelle der Vorgabe von Orientierungen tritt die Aufgabe, sich selbst eine Orientierung zu konstruieren. In dieser gesellschaftlichen Situation wird die Frage, was man jeweils als gut und nützlich für sich erkennt, zu einem unausweichlichen Moment der individuellen SelbstKonstruktion der Akteure. Den Perspektiven normativ gefärbter Ansätze zur Theorie der Bürgergesellschaft, die primär auf Tugendhaftigkeit, Gemeinsinn und Altruismus der Akteure 96
Zur Problematik dieser Entgrenzung von Bürgergesellschaft vgl. Habermas (1992: 443ff). Siehe dazu schon Olk (1987); Heinze/Keupp (1997), Beher/Liebig/Rauschenbach (1998 und 2000), Klages (1998, 1999), Klages/Gensicke (1999), Heinze/Olk (1999), Rosenbladt (2000) sowie die Beiträge in Kistler/Noll/Priller (1999), Heinze/Olk (2001), Zimmer/Nährlich (2000) und EnqueteKommission (2002). 98 Siehe dazu die auf narrativen Interviews basierende Arbeit von Jakob (1993), die biografische „Passungen“ freiwilligen Engagements herausarbeitet. 99 Auch in den Wirtschaftswissenschaften scheint sich, wie die Nobelpreisvergaben im Jahr 2002 zeigen, ein Wandel vom ‘objektivistischen’ zum ‘subjektivistischen’ Nutzenparadigma anzudeuten; vgl. dazu Heuser (2002). 97
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abstellten, wurde daher eine „utilitaristische“ Perspektive entgegengestellt, die „Nutzen“ jedoch in einem weiteren Sinne und mehrdimensional definiert100. Ökonomische Vorteile zählen ebenso dazu wie Bildungs- und Qualifikationsgewinne, Beziehungen und die Einbettung in soziale Netzwerke ebenso wie soziale Anerkennung und Wertschätzung oder Spaß und Vergnügen. Auch die Erfahrung einer gelungenen Identität und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit entsprechenden Geselligkeitsoptionen ist hier zu subsumieren101. Bei der empirischen Analyse war natürlich zu beachten, dass die von den Interviewten artikulierten Motive neben dem Verweis auf tatsächliche Beweggründe stets auch in einem Darstellungs- und Thematisierungszusammenhang stehen. Die Akteure berichten von ihren Motiven, um sich dadurch sozial und kulturell selbst zu verorten (vgl. Wuthnow 1991: 59f und Nadai 1996: 131). Genau diese Selbstverortungen aber sind für das Funktionieren von Bürgergesellschaft von hoher Relevanz. Zweitens: Bürgergesellschaft und Vergemeinschaftung: Individualisierte Akteure haben, dies ist oben schon angeklungen, auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft. Diese ist aber nicht mehr fraglos gegeben, sondern muss jeweils „gemanagt“, ausgewählt oder sogar neu geschaffen werden. Bürgergesellschaft bietet einen solchen, konstitutiver Weise auf dem Modus der Freiwilligkeit beruhenden Vergemeinschaftungszusammenhang. In der empirischen Forschung zu Ehrenamt und freiwilligem Engagement konnte immer wieder herausgearbeitet werden, dass die traditionalen Pflicht- und Leistungsmotive immer mehr verblassen, besonders in den jüngeren Alterskohorten. Nicht mehr Verpflichtung, sondern Verführung scheint hier der dominante Modus zu sein, durch den Akteure in Kontexte bürgerschaftlichen Engagements hineingezogen werden102. Engagement muss in irgendeinem Sinne attraktiv erscheinen, wenn es im subjektiven „Kosten-Nutzen-Kalkül“ der Menschen eine Rolle spielen soll. Im Projekt wurde daher anhand einiger exemplarischer Kontexte geklärt, ob und in welchem Maße die Formationen gegenwärtiger Bürgergesellschaft in Deutschland Charakteristika posttraditionaler Vergemeinschaftungen (Bauman 1995, 1995a) aufweisen: 100
Den ersten Versuch, eine solche konsequent nutzenbezogene Perspektive zum freiwilligen Engagement empirisch zu entwickeln, stellt die Schweizer Studie von Eva Nadai (1996) dar. Die für viele Akteure typische Kombination von Gemeinsinn und Eigennutz wird explizit herausgearbeitet bei Wuthnow (1991). 101 Die herangezogenen Theorien fungierten somit nicht als generalisierter Erklärungsschlüssel, sondern als orientierende Suchscheinwerfer im Dickicht der Daten, die ggf. auch verworfen werden mussten. Erst im Zusammenhang von theoretischen Annahmen, historisch konkreten (d.h. gegenwartsgesellschaftlichen) Entwicklungen und hinreichend differenzierter Untersuchung des bürgergesellschaftlichen Feldes kann man zu validen Forschungsresultaten gelangen. 102 Siehe dazu auch die empirischen Befunde bei Meulemann (2001), der zeigt, dass Spaßorientierung, Engagementbereitschaft und Kollektivorientierung bei jüngeren Alterskohorten der deutschen Gegenwartsgesellschaft durchaus Hand in Hand gehen.
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3 Ziele und Fragestellung der Studie
Freiwilligkeit, Temporalität, thematische Fokussierung, konstitutive Rolle gemeinsamer Akteursinteressen, expressiv-symbolische Integrationsmechanismen103. Vor allem war zu untersuchen, ob zivilgesellschaftliche Zusammenhänge das „Verführungspotential“ attraktiver Gemeinschaftserfahrungen aufweisen, das Akteure zum Mittun animiert. Drittens: Karrieremuster: Erfolgsorientiertes Handeln im oben beschriebenen Sinne lässt sich Karriereverläufen zuordnen. In der Analyse von Berufsarbeit hat man schon seit langer Zeit solche Karrieremuster und die in den Institutionen gezielt geschaffenen Karriereoptionen als eine wichtige Rahmung des individuellen Handelns beschrieben. Im Projekt sollten nun die für Bürgergesellschaft im Zeitalter weitergehender Modernisierung typischen Karrieremuster erfasst und beschrieben werden104. Die „Bastelexistenz“ der Individuen (Hitzler/Honer 1994, Hitzler 1999), die sich aus ganz unterschiedlichen Versatzstücken des modernen Lebens, aus ganz unterschiedlichen Sinnprovinzen speist, schlägt sich hier als patchworkartige Diskontinuität nieder. Dies gilt umso mehr, als Karrieren im Sinne von Mustern der Zeitorganisation und der biografischen Sequentialisierung in der Gegenwartsgesellschaft durch hochgradige Kontingenz gekennzeichnet sind (Luhmann 1994). Die Karrieren in der Bürgergesellschaft verlaufen dementsprechend nicht nur diskontinuierlich, sondern auch grenzüberschreitend zwischen verschiedenen Bereichen (Staat, Markt, Dritter Sektor, Familie), Institutionen und sozialen Kontexten. Ziel des Projekts war es vor allem, zu erforschen, inwiefern sich typische Verlaufsformen zwischen freiwilliger und Berufsarbeit mit entsprechenden Ein- und Ausstiegssituationen feststellen lassen105. Die zugrunde liegenden Strategien der Akteure und die Verlaufslogiken, die sich im Zusammenspiel zwischen subjektiver Perspektive und objektiven Gegebenheiten herausbilden, sollten genau rekonstruiert werden. Dies ist deshalb relevant, weil von Karriereoptionen, die den Akteuren attraktiv erscheinen, zu einem bestimmten Maß auch die Funktionsfähigkeit von Bürgergesellschaft insgesamt abhängen könnte. Viertens: Die Voraussetzungshaftigkeit von Bürgergesellschaft: Die Perspektive der Individualisierung impliziert nicht das Absehen von der Vorausset103
Keupp (1998 und 2001) spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an eine Begrifflichkeit von Ralf Dahrendorf von „posttraditionalen Ligaturen“, d.h. von sozialen Vernetzungen mit Bindungskraft, die nicht mehr gegeben sind, sondern jeweils im sozialen Prozess der reflexiven Moderne von den Akteuren erst geschaffen werden müssen. Die individualisierten Akteure sind „Baumeister“ ihrer eigenen Bindungen, wie Keupp vor allem mit Bezug auf die neuere empirische Netzwerkforschung betont. 104 Vgl. dazu auch die Analyse bei Nadai (1996), die „Karrieren“ bei der freiwilligen Arbeit in der Schweiz verfolgt. 105 Zum vielfach spannungsreichen Verhältnis von freiwilligem Engagement und Erwerbsarbeit vgl. Kistler/Rauschenbach (2001).
3 Ziele und Fragestellung der Studie
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zungshaftigkeit des Handelns. Die Nutzung von Optionen ist in aller Regel an Ressourcen gebunden: an Bildung und Qualifikation, aber auch an ökonomische Ressourcen, an Beziehungen und den Status des Anerkanntseins in der sozialen Welt (vgl. Vogt 2000)106. Im Projekt sollte diese Voraussetzungshaftigkeit der Bürgergesellschaft konkret auch dahingehend untersucht werden, ob und inwieweit sich dies in Form von Asymmetrien und sozialen Ungleichheiten niederschlägt107. Ein Aspekt solcher Asymmetrien ist, wiederum wichtig für die Funktionsweise bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge, die Herausbildung bzw. Verfestigung von lokalen Eliten mit spezifischen Netzwerken und Schließungsprozessen. Daher war auch die Herausbildung von Eliten, die Logik der beobachtbaren Inklusions- und Exklusionsprozesse sowie der spezifische Status und die Funktion innerhalb der jeweiligen institutionellen Kontexte und im kommunalpolitischen Geflecht insgesamt zu erforschen.108 Es war dabei jeweils auch zu fragen, inwieweit die vorfindbaren Ungleichheiten funktional sind für die organisatorische Effizienz und auch für die Motivation der Akteure, die sich aus dem Zugang zu Elitekreisen je eigene ökonomische, soziale oder symbolische Vorteile erhoffen. Fünftens: Institutionen: Gewandelte Dispositionen bei den Akteuren führen zu veränderten Stellungnahmen gegenüber der vorhanden institutionellen Infrastruktur. Daher ist es für die empirische Erforschung von Bürgergesellschaft und freiwilligem Engagement besonders wichtig, neben den Akteuren auch die Institutionen und den organisatorischen Rahmen, neben dem Motiv- auch den Strukturwandel in den Blick zu nehmen (vgl. Beher/Liebig/ Rauschenbach 2000, Rauschenbach 2001). Außer dem geradezu massenhaften Auszug der Menschen aus 106 Joachim Winkler (1988) hat im Zusammenhang mit einer Untersuchung des Ehrenamts im Sport schon auf den Ressourcencharakter der Ehrenamtlichen für die Organisationen und die damit verbundenen Selektionsprozesse verwiesen: rekrutiert wird, wer etwa aufgrund von Bildung, Beziehungen und Ansehen für die Organisation attraktiv erscheint. 107 Die Thematik der Ungleichheit in der Bürgergesellschaft ist schon relativ früh etwa bei Barber (1984) aufgegriffen worden. Im deutschen Kontext, wo der analytische Zugriff auf Bürgergesellschaft über lange Zeit durch normativ geprägte, mitunter utopisch anmutende Perspektiven geprägt war, hat man das Problem erst relativ spät erkannt (vgl. Brömme/Strasser 2001, Joas 2001). Einen wichtigen Hinweis auf die Entstehung bzw. Fortführung sozialer Ungleichheiten im Kontext posttraditionaler (und damit auch bürgergesellschaftlicher) Zusammenhänge bietet die empirische Netzwerkforschung; siehe dazu vor allem Diewald (1991) und Keupp u.a. (2000: 231ff). 108 Zur Struktur und Funktion von Eliten-Gruppierungen vgl. schon die Arbeiten von Dreitzel (1962) und Jaeggi (1967) sowie Krais (2001), Papcke (2001) und, mit deutlich kritischer Ausrichtung, Lasch (1995); zur Entwicklung der Eliten in der deutschen Gegenwartsgesellschaft vgl. die empirischen Befunde der Mannheimer Eliten-Studie bei Hoffmann-Lange (1992) und der Potsdamer Eliten-Studie bei Bürklin u.a. (1997). Nachdem die Elitenforschung in den 1990er Jahren nach langem Schlaf wieder auflebte, finden sich Bilanzen der Diskussion bei Gabriel u.a. (2006) sowie Münkler u.a. (2006); eine kritische Sicht auf den Gender-Faktor in der Elitenbildung entwickelt schließlich Dackweiler (2007).
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3 Ziele und Fragestellung der Studie
den traditionellen Institutionen der ‚Großgruppengesellschaft’109 rückt daher die Frage nach der Entstehung, Etablierung und nach den Funktionsweisen sowie den Erfolgschancen neuer Institutionalisierungsformen bürgerschaftlichen Engagements in den Blick. Im Projekt wurden daher neben der Caritas als einer traditionellen Organisation zwei neue Formen untersucht, die in der Kommune nahezu im gleichen Zeitraum entstanden sind: eine Freiwilligenagentur und eine Bürgerstiftung. Hier war zum einen zu erforschen, wie diese Institutionen intern funktionieren und welche Akteure sie tragen. Zum anderen wurde geklärt, wie die Institutionen und ihr Personal eingebettet sind in die Kommune, wie die Verflechtungen zu den jeweils anderen Institutionen beschaffen sind und wie nah oder wie fern sie jeweils zum traditionellen politisch-korporativen System stehen. Vor dem Hintergrund vorliegender Forschungsergebnisse zum kommunalen Institutionengeflecht war zu ergründen, ob und in welchem Ausmaß es personelle Überschneidungen gibt und mithin der Elitebildungsprozess in der Bürgergesellschaft einen institutionenübergreifenden Prozess darstellt110. Insgesamt waren aus der Beantwortung dieser Fragestellungen wichtige Aufschlüsse über die Erfolgsbedingungen neuer institutioneller Arrangements in der Bürgergesellschaft zu erwarten. Vor dem Hintergrund der einschlägigen Forschungsliteratur und des dem Forschungsvorhaben zugrunde liegenden theoretischen Rahmens ließen sich einige Vorannahmen formulieren, die bei der empirischen Feldarbeit als erste Orientierungsgrößen dienen konnten: Erstens: In der vorliegenden Forschungsliteratur wird, wie oben dargelegt wurde, zunehmend der Aspekt der Eigeninteressen von freiwillig Engagierten herausgearbeitet. Nicht mehr traditionale Muster der Pflichterfüllung oder rein altruistische Motivationen, sondern (im Sinne subjektiv rationaler Kalküle) der Nutzen, den das Engagement für die Handelnden selber erbringt oder zu erbringen verspricht, scheint immer deutlicher zum Beweggrund für bürgergesellschaftliche Zusammenhänge zu werden. In diesem Sinne war zu erforschen, inwieweit verschiedene Aspekte des in einem weiteren Sinne definierten Eigennutzes beim bürgerschaftlichen Engagement als Handlungsmotivation wirksam sind: der Erwerb von Wissen, Fähigkeiten und Qualifikationen; der Erwerb von geselligen Kontakten und nützlichen Beziehungen; und der Erwerb von sozialer Anerkennung. 109
Vgl. dazu Wiesendahl (1990, 2001), Priller/Zimmer (1999), Gaiser/de Rijke (2001). Zu den lokalen Eliten und ihre Verflechtung im kommunal-politischen Raum siehe schon Siewert (1977 und 1979), Lehmbruch (1979) und Gau (1983) sowie jetzt Zimmer (1996: 67ff, 1999), Naßmacher/Naßmacher (1999: 279ff), Kästner (1999), Neckel (1999), die Beiträge in Wollmann/Roth (1998) und in Pähle und Reiser (2007). Ein Versuch, die Position der Eliten in den Neuen sozialen Bewegungen zu bestimmen, findet sich bei Geiling (1999).
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Neben diesen „kapitalisierbaren“ Nutzenaspekten111 waren aber auch diejenigen Dimensionen zu berücksichtigen, die von den Handelnden als Momente einer geglückten und erfüllten Identität erfahren werden. Dazu zählt vor allem die Erfahrung sinnhaften Handelns, die Erfahrung, dass es in einem bestimmten Zusammenhang „auf einen ankommt“; das Gefühl, die eigene Persönlichkeit zu verwirklichen; und schließlich die Erfahrung von Gemeinschaftszusammenhängen. Es war zu klären, ob und wie die Option auf Inklusion in einen sozialen Zusammenhang, der die Züge einer posttraditionalen Gemeinschaft trägt (Freiwilligkeit, zeitliche Begrenzung, thematische Fokussierung, Gemeinsamkeit der Interessen, symbolisch-expressive Integrationsmechanismen) als Beweggrund des Engagements wirksam ist. Zweitens: Eine weitere relevante Dimension kann in den Strategien und „Karrieremustern“ liegen, die von den Handelnden im Feld verfolgt werden. Hier war zu klären, ob das Handeln der Akteure in der Bürgergesellschaft typischerweise im Rahmen einiger weniger Karrieremuster verläuft. Deren Spezifikum, so die Vermutung aufgrund einschlägiger Analysen (z.B. Sennett 1998, Beck 1999), könnte Merkmal der Grenzüberschreitung sein, d.h. eines Verlaufs, der von beruflicher zu freiwilliger Arbeit, von Familie zu staatlichem Sektor, vom marktlichen zum Dritten Sektor führt und umgekehrt. Die Verläufe waren demnach also nicht glatt und linear, sondern diskontinuierlich und brüchig zu erwarten. Drittens: Bürgergesellschaft scheint in ihrem erfolgreichen Funktionieren voraussetzungsvoll. Damit ist jedoch immer weniger die Voraussetzung einer wie auch immer gearteten Tugendhaftigkeit bzw. des Gemeinsinns in den Blick zu nehmen, wie dies in der Tradition des Diskurses über Bürgergesellschaft und Republikanismus praktiziert wurde (vgl. Münkler 1991, 1992, Klein 2001, Dörner/Vogt 2001). Vielmehr war zu klären, inwieweit der Zugang zu attraktiven Positionen der Bürgergesellschaft von Voraussetzungen wie finanzielle Absicherung, gute Bildung, Beziehungen und Ansehen abhängig ist. Damit kommt die häufig übersehene Ungleichheitsdimension freiwilligen Engagements in den Blick. Viertens: Viele empirische Befunde deuten darauf hin, dass sich in kommunalen Zusammenhängen häufig eng geflochtene Interaktionsnetze zwischen den Akteuren – vor allem zwischen den Angehörigen der lokalen Eliten – herausbilden112. Diese sind eine Voraussetzung für effektive Kooperationsprozesse in der Kommune. Enge Interaktionsnetze stiften Vertrauensrelationen zwischen den beteiligten Personen, und dieses Vertrauen wiederum ist notwendig, um auf eine in geringem Maße formalisierte Weise miteinander umgehen und ohne viele 111
Siehe dazu etwa die Konzeptualisierungen bei Bourdieu (1983, 1985) sowie Coleman (1991) und Esser (2000: 209ff). 112 Zur Vernetzung von Eliten auf der Grundlage ihrer verschiedenen Kapitalien vgl. Windolf (1997).
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Reibungsverluste die jeweiligen Handlungsziele erreichen zu können (zum „Vertrauenskapital“ vgl. Hartmann/Offe 2001 und Putnam 2001). Im Forschungsvorhaben wurde die Aufmerksamkeit daher auf die Frage gerichtet, ob solche Vernetzungen auch in der Bürgergesellschaft wirksam sind. In welchem Ausmaß treten etwa die gleichen Personen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten als Träger des bürgergesellschaftlichen Prozesses in Erscheinung? Das würde zwar auf der einen Seite bedeuten, dass die Reichweite der Bürgergesellschaft auf einen relativ kleinen, exklusiven Personenkreis beschränkt wäre. Auf der anderen Seite würden die verschiedenen Institutionen auf diese Weise miteinander verbunden und Synergieeffekte wären somit wahrscheinlicher. Weiterhin war darauf zu achten, inwieweit sich das Personal der Bürgergesellschaft gegenseitig kennt und anerkennt. Wenn es sich hier um eine kleine Gruppe handelt, die als lokale Elite mit einem relativ hohen Einsatz von Zeit, Energie oder auch Geld den Prozess in Gang hält, dann könnte das eine besondere Attraktion darstellen. Man würde einem einflussreichen und auch für die jeweils eigenen Handlungsziele ausgesprochen nützlichen Beziehungsgeflecht angehören. Dies aber könnte auch die jeweilige Motivation für das Engagement durchaus verstärken. Fünftens: Zu beachten waren schließlich auch die institutionellen und politisch-kulturellen Rahmenbedingungen von Bürgergesellschaft und Drittem Sektor in Deutschland insgesamt und speziell im Ruhrgebiet. Hierzulande existiert eine lange Tradition korporatistischer Arrangements zwischen Staat und gesellschaftlichen Großorganisationen. Diese prägt den Dritten Sektor noch heute nachhaltig – mit allen bekannten Vor- und Nachteilen (vgl. Bauer 1997, Anheier u.a. 1997, Anheier 1999, Dörner 2001). Holtkamp u.a. (2006) sprechen in diesem Zusammenhang nun von der „kooperativen Demokratie“. Vor diesem Hintergrund war zu berücksichtigen, ob bürgerschaftliches Engagement hier zunächst starke Verbindungen zu den vorhandenen, korporatistisch geprägten Institutionen aufweist. Man kann vor diesem Hintergrund vermuten, dass dort, wo es, nicht zuletzt aufgrund von veränderten Dispositionen der Menschen, zu neuen institutionellen Formen wie etwa Freiwilligenagenturen kommt, diese oft gleichwohl in starkem Maße eingeflochten bleiben in die gewachsenen Strukturen. Die enge Verflechtung mit Staat und Großverbänden könnte dabei einerseits einen Stabilitätsfaktor und einen Akzeptanzgaranten vor Ort darstellen. Gleichzeitig aber würde sie ggf. Funktionsprobleme generieren, da die für „freie Assoziationen“ erforderlichen Spielräume fehlen. Zu klären war somit, ob nicht gerade diejenigen Organisationen erfolgreich agieren, die es schaffen, einerseits die vorhandenen Netzwerke der überkommenen Institutionenlandschaft zu nutzen, andererseits jedoch organisatorisch so
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weit abgekoppelt zu sein, dass die Handlungsautonomie nicht wesentlich beeinträchtigt wird.
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4 Methoden und Vorgehen
4 Methoden und Vorgehen
4.1 Eine Stadt-Studie Das Forschungsprojekt sollte die Funktionsweise von Bürgergesellschaft über die Rekonstruktion der vorfindbaren Wahrnehmungsweisen, Handlungsmotive, Interaktionszusammenhänge und institutionellen Rahmungen analysieren. Dies wurde im Rahmen einer Stadt-Studie geleistet. Der Vorteil eines solchen Zugangs liegt darin, dass das Geflecht von Bürgergesellschaft vor Ort in den Blick genommen werden kann. Der Begriff der Stadt-Studie oder, allgemeiner, Gemeindestudie (engl.: community study) wird historisch wie im aktuellen Sprachgebrauch in zwei verschiedenen Bedeutungen mit jeweils unterschiedlichen theoretischen und methodologischen Implikationen verwendet. Arensberg (1967) hat diese Dualität in seinem grundlegenden Beitrag zu Königs „Handbuch der empirischen Sozialforschung“ mit der Formulierung „Die Gemeinde als Objekt und Paradigma“ präzise bezeichnet: a.
b.
Wo Gemeindestudien als Soziologie der Gemeinde betrieben werden, dient Gemeinde als Objekt, als ein meist durch räumliche Grenzen definierter Forschungsgegenstand (Dorf, Stadt, Region etc.), dessen Strukturen, Funktionsweisen und Entwicklungsmöglichkeiten im Mittelpunkt stehen. Gemeindestudien als Paradigma bezeichnen demgegenüber einen methodologischen (in der Regel: interpretativ angelegten) Ansatz zur Erforschung allgemeiner sozialer Phänomene und Probleme im Rahmen des Untersuchungsfeldes „Gemeinde“. Diese umfassen ein Spektrum von sozialer Ungleichheit und Migrationsprozessen über Biografiemuster und Familienformen bis zur Elitenbildung.
In der Geschichte der Soziologie hat es zunächst eine enge Koppelung dieser beiden Forschungsperspektiven gegeben. Vor allem im Kontext der frühen amerikanischen Soziologie haben Gemeindestudien nach Häufigkeit und Relevanz eine ausgesprochen wichtige Rolle gespielt. So entfalteten insbesondere die Studien aus der Chicago School eine erhebliche Wirkung, nicht nur innerhalb des
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Faches, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit113. Sie kreisten immer wieder um die aus Modernisierungsprozessen erwachsenden Probleme im Zusammenleben der Menschen großer Städte. Weitere „Klassiker“ wie die holistisch angelegten „Middletown“-Studien von Lynd und Lynd (1929, 1937), die fünfbändige „Yankee City“-Studie des Ethnologen W. Lloyd Warner114, die auf einen Stadtteil bezogene Erforschung der „Street Corner Society“ von William Foote Whyte (1955) oder schließlich die am Beginn des methodologischen Individualismus stehende Studie zu „Hilltown“ von George Caspar Homans (Homans 1950) haben mit großer Breitenwirkung die Möglichkeiten, aber auch die methodischen und methodologischen Schwierigkeiten des Paradigmas Community Studies in den USA vorgeführt115. Diese Tradition ist im Grunde, bei vielen Umbrüchen und Revisionen, bis in die neuere Forschung hinein in den USA vergleichsweise lebendig116. Auch in der deutschen Nachkriegssoziologie wurden Gemeindestudien zunächst als ein wichtiger Bestandteil der Erforschung des modernen sozialen Lebens angesehen. Auch hier lagen Objekt und Paradigma, Soziologie der Gemeinde und methodologischer Zugang zunächst eng beieinander117. Es wurden eine Reihe von Stadt-Studien durchgeführt, etwa über Darmstadt (Lindemann 1952), Euskirchen (Mayntz 1958), Datteln (Croon/Uttermann 1958), Dortmund (Mackensen u.a. 1959) oder Wertheim (Ellwein/Zimpel 1969, Zoll u.a. 1974, Ellwein/Zoll 1982). Bald aber vollzog sich eine Trennung und im Zuge dessen eine Ausdifferenzierung der Stadt- und Regionalsoziologie als „Bindestrichsoziologie“, die sich vor allem mit Fragen der Stadt- und Regionalentwicklung sowie den verschiedenen Aspekten einer Soziologie der Gemeinde beschäftigt118. 113
Zu denken ist hier etwa an die berühmte Studie „The City“ von Park und Burgess (1925); zur Entwicklung der Gemeindestudien in der Chicago School und ihrer Relevanz für die Entwicklung der Soziologie in Amerika vgl. ausführlich Bell/Newby (1971), Lindner (1990), Neckel (1997) und Brauer (2000). Neckel (1997: 75) bezeichnet die Chicago School als „Geburtsstätte der modernen Stadtsoziologie zwischen 1918 und 1934“. 114 Vgl. Warner/Lunt (1941, 1942), Warner/Srole (1945), Warner/Low (1947), Warner (1959) und die Zusammenfassung der Befunde in Warner (1963). 115 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit den klassischen amerikanischen Studien bei Lyon (1987: 218ff). 116 Siehe dazu Warren (1963) und Vidich u.a. (1964) sowie, für die neuere Entwicklung, Bulmer (1985), Lyon (1987), Abu-Lughod (1991), Day/Murdoch (1993), Crow/Allan (1994) und Sassen (1996); zu „Middletown“ gab es noch zu Beginn der 80er Jahre eine ausführliche Replikationsstudie (Caplow u.a. 1982, 1983). 117 Vgl. etwa König (1956, 1958), Arensberg (1967) und Hahn u.a. (1979) sowie der Rückblick bei Häußermann (1994). 118 Siehe dazu ausführlich Hahn u.a. (1979), Herlyn (1993), Friedrichs (1995), Schäfers/Wewer (1996) und Häußermann (1998). Eine typische Stadtstudie im Sinne der Stadtsoziologie ist die Wolfsburg-Studie von Herlyn und anderen (vgl. Schwonke/Herlyn 1967, Herlyn u.a. 1982, Herlyn/Tessin 2000).
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4 Methoden und Vorgehen
Mit der zunehmenden Verfeinerung der Methoden quantitativer Sozialforschung wurde für viele Soziologen der Zugang zu sozialen Problemen über die Gemeinde obsolet (Häußermann 1994: 236). Auch innerhalb der Stadt- und Regionalsoziologie bekam die quantitative Ausrichtung immer deutlicher eine Vorrangstellung. Erst in den letzten Jahren lässt sich hierzulande eine Revitalisierung von Gemeindestudien im Sinne des methodologischen Paradigmas beobachten. Auch hier ist es wieder die Dimension gesellschaftlicher Modernisierung, die – wie schon in den Arbeiten der Chicago School – im Mittelpunkt steht. Bezugsgröße ist dabei der beschleunigte und unter besonderen Bedingungen erfolgende Modernisierungsprozess der ehemaligen DDR im Rahmen des deutschen Vereinigungsprozesses. Hier scheint der Zugangsweg über „dichte“ Community Studies einen besonders großen Erkenntnisgewinn zu versprechen119. Das vorliegende Forschungsprojekt ist vor dem Hintergrund der hier dargestellten Geschichte der Gemeindestudien eindeutig dem Bereich „Paradigma“ zuzuordnen: Es geht nicht um eine (Stadt-)Soziologie der ausgewählten Gemeinde, sondern um die Erforschung der Funktionsweise von Bürgergesellschaft im Untersuchungsfeld dieser Gemeinde. Hier sollte exemplarisch und explorativ erforscht werden, wie sich freiwilliges Engagement im Geflecht der Bürger und Institutionen konstituiert. Warum aber wurde hier ein „gemeindesoziologischer“ Zugang im Sinne des methodologischen Paradigmas gewählt? Um die besonderen methodologischen Potentiale von Gemeindestudien für allgemeinere soziologische Fragestellungen zu erörtern, bietet sich zunächst ein Rückgriff auf die frühere Gemeindeforschung in Deutschland an. René König hat in dem Versuch, den Begriff „Gemeinde“ jenseits einer bloßen räumlichverwaltungstechnischen Definition inhaltlich zu bestimmen120, auf drei Elemente verwiesen: „Die Gemeinde ist (...) eine mehr oder weniger große lokale und gesellschaftliche Einheit, in der Menschen zusammenwirken, um ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben zu fristen“ (König 1956: 20). Später fasst König (1958) die drei Elemente der Definition mit den Begriffen lokale Einheit, soziale Interaktion und gemeinsame Bindung zusammen. Entsprechend finden sich in der angelsächsischen Literatur „area“, „common ties“ und „interaction“ als gemeinsamer Nenner diverser Definitionen (vgl. dazu Lyon 1987).
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Zur Begründung der relevanten Rolle von Gemeindestudien in der soziologischen Transformationsforschung vgl. jetzt Neckel (2002). Konkrete empirische Gemeindestudien zum Wandel in den neuen Bundesländern bieten, mit unterschiedlichen methodischen Zugangswegen, Lange/Schöber (1993), Vester u.a. (1993, 1995), Herlyn/Bertels (1994), Brauer u.a. (1996), Bachmann/Wurst (1996), Brauer (1998, 1999), Meunier (1999), Neckel (1999) und Schubert (2002). 120 Diese Frage der Definition ist keineswegs trivial; in einem Überblick mit Bezug auf die angelsächsische Forschung verzeichnet schon Hillery (1955) nicht weniger als 91 verschiedene Definitionsversuche von community.
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Jenseits der Lokalität, die pragmatisch – und so auch in unserem Forschungsprojekt – über Verwaltungsgrenzen operationalisiert werden kann121, finden sich in den Komponenten „interaction“ und „common ties“ die entscheidenden Hinweise auf die methodologischen Potentiale von Gemeindestudien: Sie ermöglichen es, Zusammenhänge zu erkennen, die sich in einem bestimmten lokalen Kontext über Interaktionsprozesse und (dauerhaftere) Vernetzungen herausbilden. Gemeindestudien nehmen die Verflechtungen in den Blick, die im Laufe des Zusammenlebens zwischen den Gemeindemitgliedern und den in der Gemeinde vorhandenen Institutionen entstanden sind und immer wieder neu entstehen. Sie zielen auf das Geflecht von Akteuren und Institutionen vor Ort122. Aus diesem Grund war der Zugang über eine Gemeindestudie auch für das vorliegende Forschungsvorhaben sinnvoll, in dem das „Geflecht aktiver Bürger“ untersucht werden sollte. Bürgerschaftliches Engagement entfaltet sich jeweils zu den Bedingungen der lokal vorfindbaren, vielfältigen Zusammenhänge zwischen Akteuren und Institutionen. Solche Geflechte aber sind in der Regel nicht nur verbunden mit Synergien und Kooperationsgewinnen, sondern auch mit spezifischen Selektivitäten: mit Inklusionen und Exklusionen, mit sozialen Ungleichheiten und Machtasymmetrien. Erst unter Berücksichtigung dieser Dimensionen der sozialen Welt, die auch in der Geschichte der Community Studies in Amerika einen prominenten Untersuchungsfokus darstellten (vgl. Bell/Newby 1971: 82ff), kann ein realistisches Bild von der Funktionsweise der Bürgergesellschaft entwickelt werden. Der Zugriff über das Geflecht einer Gemeinde wurde historisch (etwa in den Arbeiten der Chicago School) wie aktuell (etwa in den o.g. Arbeiten zur Transformationsforschung in den neuen Bundesländern) häufig als geeigneter Ansatz zur Erforschung beschleunigten sozialen Wandels im Zuge von Modernisierungsprozessen herangezogen. Somit erscheint es plausibel, auch den Wandel bürgerschaftlichen Engagements im Kontext der Gemeinde exemplarisch und explorativ zu untersuchen. Bei diesen Vorteilen dürfen die methodologischen Probleme von Gemeindestudien natürlich nicht übersehen werden. Es scheint ja zunächst kein Zufall, dass die eigentliche Blütezeit der Community Studies in der amerikanischen Soziologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der britischen und deutschen Soziologie in den 50er und frühen 60er Jahren lag123. So zeigten sich vor 121
Bei bestimmten Fragestellungen kann tatsächlich auch auf das Moment der Lokalität verzichtet werden, wenn es beispielsweise darum geht, Gemeinschaften zu untersuchen, die über elektronische Medien verknüpft sind: etwa virtuelle Gemeinschaften von TV-Fans oder Internet-Nutzern. Zur Entwicklung des Gemeindebegriffs von einer lokalen zu einer diskursiven Größe vgl. Pratt (1991). 122 Siehe dazu vor allem Bulmer (1985) sowie Day und Murdoch (1993: 90), die im Anschluß an Margaret Stacey (1969) von einem „network of institutions“ sprechen, das es zu untersuchen gelte. 123 Siehe dazu Bulmer (1985) und Brauer (2000).
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allem die frühen Gemeindestudien im amerikanischen Kontext mit einem Subjektivismus behaftet, der auf jeden Anspruch intersubjektiver Gültigkeit oder zumindest Plausibilität verzichtete. Mitunter wurde dieser Subjektivismus als Bindung der Untersuchung an die Persönlichkeit des Forschers sogar offensiv und polemisch vorgetragen124. So vermag es auch kaum zu wundern, dass eine (zeitlich nahe platzierte) Replikationsstudie zu einer mexikanischen Gemeinde zu völlig anderen Ergebnissen gelangte als die ursprüngliche Studie125. Es ist klar, dass ein solcher offensiver Subjektivismus in der gegenwärtigen Sozialforschung nicht akzeptabel ist, es sei denn, man verträte eine Erkenntnistheorie „wider den Methodenzwang“ (Feyerabend 1976). Das im Forschungsprojekt gewählte Untersuchungsdesign gewährt demgegenüber einen validen Einblick in die Funktionsweise von Bürgergesellschaft. Dies soll im Folgenden in Auseinandersetzung mit den typischen Schwächen von Community Studies noch einmal begründet werden. Zusammenfassend lassen sich vor dem Hintergrund der einschlägigen Forschungsliteratur fünf besondere Problempunkte benennen, die es bei einer Gemeindestudie zu berücksichtigen gilt126. Erstens: Probleme der Definition und der Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands: Über die Frage, was jeweils unter „Gemeinde/community“ zu verstehen sei und wie diese konkret abzugrenzen wäre, hat es über einen langen Zeitraum hinweg intensive Diskussionen gegeben. Während noch bei König (1956) eine offene, auf das jeweilige Erkenntnisinteresse abgestimmte Vorgehensweise gefordert wurde, hat sich im Rahmen der Stadt- und Regionalsoziologie bald eine pragmatische Abgrenzung über die administrative Grenze der Gemeinde durchgesetzt. Das mag zwar theoretisch im Sinne der Community Studies unbefriedigend erscheinen, zumal hier mögliche soziale oder diskursive Grenzen überdeckt werden könnten. Im Sinne methodischer Klarheit bietet es jedoch Vorteile. Für den Zusammenhang des vorliegenden Forschungsprojekts war eine solche administrative Definition ausreichend. Zum einen bedarf es einer handhabbaren forschungspraktischen Begrenzung, zum anderen lässt sich die Fokussierung auf eine bestimmte politisch-administrative Einheit dadurch rechtfertigen, dass dieser kommunalpolitische Fokus tatsächlich für das Geflecht aktiver Bürger und 124
Typisch dafür sind etwa Vidich u.a. (1964), die betonen, dass eine „intimate connection between the investigator, his method of investigation, his results and his own future intellectual development“ bestehe; und „it appears that the ear and the eye are still important instruments for gathering data and that the brain is not always an insufficient mechanism for analyzing them“ (Vidich u.a. 1964: IX und XI). 125 So die Studien zur mexikanischen Gemeinde Tepoztlan von Redfield und Lewis; vgl. Bell/Newby (1971: 81ff). 126 Siehe dazu Bell/Newby (1971: 17ff), Lyon (1987: 77ff) und Häußermann (1994: 235ff).
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ihrer Institutionen alltagsweltlich relevant ist. Die Bürger beziehen sich in starkem Maße auf die in der Gemeinde vorhandene Verwaltung sowie auf die dort agierenden Politiker, Parteien, Verbände und bürgergesellschaftlichen Gruppierungen. Was sich in den Nachbargemeinden abspielt, ist demgegenüber zunächst einmal nachrangig. Zweitens: Das Problem der Repräsentativität: Schon die frühen Gemeindeforscher wie Lynd und Lynd (1929: 3) waren sich im Klaren darüber, dass es „die typische Gemeinde“ nicht gibt. So wurde konsequenterweise auch die auf methodologische Repräsentativität abzielende Gemeindeforschung im Zuge der Weiterentwicklung des Instrumentariums standardisierter Methoden zugunsten großflächiger Untersuchungen bald eingestellt (Häußermann 1994: 236). Dennoch lassen sich die Vorteile einer dichten interpretativen Erforschung des Geflechts einer Gemeinde zu Geltung bringen, wenn man plausibilisiert, warum die explorativ erforschte Gemeinde in Bezug auf das konkrete Erkenntnisinteresse einen exemplarischen Stellenwert hat. Greift man hier auf die oben gegebene Beschreibung der ausgewählten Stadt zurück, so lässt sich rechtfertigen, warum diese für die Frage nach der Funktionsweise von Bürgergesellschaft als exemplarische Gemeinde fungieren kann. Die vorfindbaren Verhältnisse mit knappen öffentlichen Kassen, hoher Arbeitslosigkeit mit entsprechenden sozialen Folgeproblemen, hohem Ausländeranteil und tendenzieller demografischer Überalterung sind schon jetzt typisch für zahlreiche Gemeinden in Deutschland, und sie werden es voraussichtlich für viele weitere Gemeinden in naher Zukunft werden. Genau diese Verhältnisse sind es aber auch, die vielerorts den Ruf nach einer Stärkung der Bürgergesellschaft laut werden lassen. Ob Bürgergesellschaft unter diesen Bedingungen überhaupt funktionsfähig ist und wo genau mögliche Reibungspunkte und Blockaden vorhanden sind, sind daher Fragen von höchster sozial- und gesellschaftspolitischer Relevanz. Drittens: Das Problem eines fehlenden theoretischen Konzeptes: Im Kontext der heterogenen Tradition der Community Studies lässt sich kaum ein tragendes systematisches Theoriekonzept erkennen. Vielen Studien wurde ein theorieloser Empirismus in Verbindung mit unklaren Begriffen vorgeworfen (vgl. Brauer 2000: 13ff). Die schon oben erwähnte Diskrepanz zweier Gemeindestudien zu ein und demselben mexikanischen Dorf von Redfield und Lewis ist sogar weitgehend darauf zurückzuführen, dass die Forscher hier mit fest gefügten, aber höchst unterschiedlichen theoretischen Instrumentarien an den Untersuchungsgegenstand herangetreten sind (vgl. Bell/Newby: 75ff).
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4 Methoden und Vorgehen
Dieser Nachteil konnte vermieden werden, da die Studie nicht deduktivtheorieprüfend, sondern im Sinne der „grounded theory“127 explorativtheoriebildend angelegt wurde. Theorie und Empirie sind hier engstens miteinander verflochten, die Theoriebildung erfolgte in Auseinandersetzung mit dem Material. Die herangezogenen Theorien fungierten lediglich als ein Suchscheinwerfer, der jederzeit verworfen werden kann, wenn er der vorfindbaren Alltagswelt nicht angemessen ist128. Es ist also als ein spezifischer Vorteil von Gemeindestudien in der Tradition der Chicago School zu erachten, dass diese nicht subsumtionslogisch empirische Daten unter vorab bestehende gesellschaftstheoretische Konzepte sortieren, sondern den sozialen Wandel anschaulich und damit soziologisch rekonstruierbar machen (vgl. Neckel 2002: 5). Viertens: Das methodische Problem der Reliabilität: Nicht zuletzt in Bezug auf die subjektivistische Tradition der Community Studies, wie sie vor allem in den frühen Studien, aber auch noch bei Vidich u.a. (1964) offensiv vertreten wurde, ist häufig Skepsis insbesondere gegenüber den Beobachtungsverfahren geäußert worden. Es gebe, so etwa Häußermann (1994: 235), wenig Gewähr dafür, dass jeweils andere Forscher im gleichen Feld zu ähnlichen Resultaten gelangen würden. Dem ist zum einen zu entgegnen, dass im Bereich der Ethnografie gerade in neuerer Zeit wichtige methodische Klärungen vorgenommen wurden (vgl. etwa Hitzler/Honer 1991, Honer 1993, 1994 und Neckel 1999). Zum anderen aber wurde aus forschungspraktischen Gründen auf das Instrument der (teilnehmenden) Beobachtung weitgehend verzichtet. Vor allem der Zugang zu den wichtigen Führungsgremien und Führungskreisen der lokalen Bürgergesellschaft wäre mit einem vertretbaren Zeitaufwand nicht herstellbar gewesen. Aus diesem Grund wurden teilstandardisierte Interviews und Dokumentenanalysen als Zugang zur Empirie im Feld gewählt129. Gerade auch im Hinblick auf diese Verfahren aber sind mittlerweile eine Reihe von Standards der Qualitätskontrolle entwickelt worden, die das traditionelle Problem des Subjektivismus in den Gemeindestudien zuverlässig vermeiden können (vgl. etwa Flick 1995, 2001). Fünftens: Das Problem der Vermischung von Datenpräsentation und Werthaltungen: Die frühen Gemeindestudien in der amerikanischen Forschung sind 127 Siehe dazu Glaser/Strauss (1967), Glaser (1978) sowie Bulmer (1979), Strauss (1991), Strauss/Corbin (1996) und den kurzen Überblick bei Wiedemann (1991). 128 Strauss zufolge „gibt es keinen Grund, weshalb man die eigene Forschung nicht mit einer schon bestehenden Theorie anfangen sollte – vorausgesetzt, dass auch diese sorgfältig in Daten gegründet ist –, an der dann die Erhebung neuer Daten ausgerichtet wird, um schließlich eine neue (und wahrscheinlich umfassendere) Theorie zu entwickeln. (…) Es ist also völlig legal, von der Theorie eines anderen Wissenschaftlers auszugehen, wenn der Schritt ins Forschungsfeld unmittelbar darauf folgt“ (Strauss 1991: 359). 129 Ausschließlich auf Dokumentenanalysen beruht die Studie von Holtmann (1989).
4.2 Die Auswahl der Kontexte
79
engstens mit einer engagierten Stellungnahme gegen soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verbunden. Die Erforschung sozialer Probleme war oft unmittelbar mit Impulsen zu deren sozialpolitischer Bearbeitung gekoppelt, und viele Arbeiten standen dem Genre der journalistischen Sozialreportage nahe (von den Politikern verächtlich „muckraking“ genannt) (Lindner 1990). Dieses Problem, das in den neueren Community Studies kaum noch vorzufinden ist, stellte sich im vorliegenden Forschungsprojekt gar nicht. Ziel der Studie war eine werturteilsfreie Analyse der Funktionsweise von Bürgergesellschaft in der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Allerdings ließen sich durch die vorgeschlagene Forschung Erkenntnisse gewinnen, die dann in einem weiteren Schritt auch den politikberatenden Diskurs sinnvoll informieren können. Im Sinne der Weberschen Methodologie wird jedoch sauber getrennt zwischen deskriptiver Analyse und normativer Stellungnahme. Die Resultate des Projekts können eine empirische Grundlage für Aussagen nach dem Modus „wenn dann“ geben: Wenn eine bestimmte sozialpolitische Zielsetzung im Zusammenhang mit Bürgergesellschaft gesetzt wurde, dann lassen sich vor dem Hintergrund der Forschung bestimmte Schritte oder Problemlösungsstragien empfehlen. Auf diese Weise soll das Projekt durchaus wertvolle Inputs für die öffentliche politische Debatte über Chancen und Grenzen von Bürgergesellschaft bieten.
4.2 Die Auswahl der Kontexte Es wurden drei Kontexte bürgerschaftlichen Engagements, die in den 90er Jahren in einer Kommune im nördlichen Ruhrgebiet entstanden sind, zunächst jeweils für sich untersucht. Danach galt es, die gegenseitigen Bezüge der verschiedenen Kontexte aufeinander sowie schließlich ihre Einbindung in die vorhandenen Strukturen der in der Stadt-Studie thematisierten Kommune zu erforschen. Im Einzelnen handelt es sich um: Erstens: Eine Freiwilligenagentur, die von der Kommune eingerichtet wurde, um freiwilliges Engagement vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit zu fördern und zu koordinieren130. Freiwilligenagenturen, die im angelsächsischen Raum und in den Niederlanden schon seit längerer Zeit erfolgreich agieren, zählen in Deutschland zu den wichtigsten Formen neuer, flexiblerer Institutionalisierung des Engagements131. Anders als die traditionellen Organisationen 130
Freiwilligenagenturen werden bei Keupp (2003) als zentrale Institutionalisierungsform des bürgerschaftlichen Engagements in den Kommunen der „neuen“ Bürgergesellschaft angesehen. Zu den Freiwilligenagenturen in Deutschland liegt noch wenig seriöse, empirisch gestützte Forschungsliteratur vor; zum Konzept und zu ersten Analysen siehe vor allem Ebert (2003); weiterhin vgl. Schaaf-Derichs (1997, 2000), Fels (1997, 1998 und 1999), Janning u.a. (1998), Jugendring
131
80
4 Methoden und Vorgehen
des Dritten Sektors setzen Freiwilligenagenturen nicht auf feste Mitgliedschaften und eine dauerhafte Mitwirkung der engagierten Bürger. Vielmehr versuchen sie, eine Vermittlungsleistung zwischen temporär begrenzten Angeboten und Nachfragen zu erbringen. Damit sollen vor allem die Ein- und Ausstiegsschwellen für die Freiwilligen deutlich gesenkt werden. Diese nämlich sind kaum noch bereit, sich langfristig verbindlich zur Mitarbeit zu verpflichten. Stattdessen sucht man nach überschaubaren, begrenzten Möglichkeiten der Mitarbeit, die jederzeit beendet werden kann, wenn man sich unwohl fühlt oder wenn sich beispielsweise die Rahmenbedingungen geändert haben. Seit dem Ende der 80er Jahre sind zunächst in einigen Großstädten wie Berlin und München, später auch in kleineren Städten zahlreiche solcher Agenturen entstanden. Sie funktionieren primär wie eine Vermittlungsbörse zwischen Angebot und Nachfrage, um die Interessen der Freiwilligen möglichst optimal mit den Beschäftigungsmöglichkeiten in der jeweiligen Stadt oder Region zu verknüpfen. Über diese bloße Vermittlungstätigkeit hinaus soll jedoch auch ein Rahmen für ausführliche Beratung, Informationsbeschaffung und Weiterbildung etwa im Bereich Fundraising und Management geboten werden, der es auch kleineren Projekten im Dritten Sektor ermöglicht, effektiver ihre Ziele zu erreichen. Die größeren Agenturen wie der „Treffpunkt Hilfsbereitschaft“ in Berlin versuchen ganz bewusst auch einen sozialen Kontext für die Freiwilligen zu schaffen, der ihnen Geselligkeitsoptionen sowie ein regelmäßiges Forum gegenseitiger Unterstützung und Anerkennung bietet. Manche Agenturen können bei ihrer Arbeit auch die neuesten Kommunikationstechnologien nutzen, so dass beispielsweise das Internet zu einem wichtigen Medium der Werbe- und Vermittlungsarbeit geworden ist. Viele deutsche Agenturen sind in der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft „BAGFA“ organisiert, um sich bei der Interessenwahrnehmung wie bei der Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Arbeit gegenseitig zu unterstützen. Der Vorteil der offeneren Struktur, in dem das Engagement mit den jeweiligen Arbeitskontexten nur lose gekoppelt ist, liegt darin, dass sie auch der Tatsache einer gesteigerten räumlichen Mobilität der Bürger Rechnung trägt. Wer neu in eine Stadt kommt, der kann über eine Freiwilligenagentur schnell „einsteigen“ und findet dort auch Geselligkeitspotentiale vor, die ihm den Einstieg in den neuen sozialen Raum erleichtern, ohne dass er oder sie sich schnell langfristig binden müssen.
Dortmund (1998), Stamm (1998), Jürgensen (1999), Münich (1999), Dörner/Vogt (1999, 2001), Beher/Liebig/Rauschenbach (2000: 286ff), Jakob/Janning (2000 und 2001), Ebert/Janning (2002); eine vorläufige Bilanz findet sich bei Jakob (2005). Zur verwandten Institution des „Seniorenbüros“ vgl. Braun u.a. (1997).
4.2 Die Auswahl der Kontexte
81
Vor diesem Hintergrund hat sich das Konzept der Freiwilligenagenturen schnell als ein Erfolgskonzept in der neuen Bürgergesellschaft erwiesen. Auch die Träger der „alten“ Bürgergesellschaft haben es bald übernommen, indem beispielsweise Diakonie und Caritas innerhalb ihrer Strukturen dieses Element als ein bewusst offen gestaltetes Angebot zur Mitarbeit integriert haben132. Der Vorteil für die Verbände lag zudem darin, dass in den Agenturen eine mögliche längerfristige und engere Tätigkeit der Freiwilligen angebahnt und vorbereitet werden konnte. Nun können die bisherigen Erfolge der Agenturen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keine neue Zauberformel bieten, mit der sämtliche Probleme des klassischen sozialstaatlichen Systems behoben werden können. Und es ist auch einsichtig, dass die flexibel-offenen Organisationsformen gerade die dauerhaften, auf verlässliche Regelmäßigkeit angewiesenen Tätigkeiten etwa im Sozial- und Gesundheitswesen nicht in der Weise abdecken können, wie dies die großen Verbände tun. Aber es lässt sich argumentieren, dass hier eine wichtige Ergänzung zum bestehenden System heranwächst, die Lücken auszufüllen vermag und vor allem ein neues, noch nicht ausgenutztes Potential an Aktiven für die Bürgergesellschaft erschließen kann. Zweitens: Die zweite untersuchte Organisation ist eine Bürgerstiftung, die im Jahre 1999 von 39 Bürgern der Stadt mit einem Gründungskapital von 100.000 DM gegründet wurde. Diese Organisation zählt zu den ersten in Deutschland gegründeten Bürgerstiftungen, die in den letzten fünf Jahren geradezu einen Gründungsboom erfahren haben. Waren es früher finanziell mehr oder weniger potente Einzelpersonen, häufig Unternehmerpersönlichkeiten, die stifterisch tätig wurden, so treten mit den Bürgerstiftungen nun auch Gruppen von „normalen“ Bürgern auf, um das Instrument der Stiftung im Sinne bürgerschaftlichen Engagements zu nutzen. Das Stiftungswesen in Deutschland bewegt sich damit in die Richtung einer Dezentralisierung und Demokratisierung133. Bürgerstiftungen wirken der oben beschriebenen Konzentration und dem potentiell kartellistischen Charakter des Stiftungssektors hierzulande entgegen. Neben das Moment der stifterischen Freiheit tritt hier das Moment einer breiteren Partizipation engagierter Bürger134.
132
Siehe dazu jetzt beispielsweise die Bilanz zu „Zehn Jahre Verbund der Freiwilligen-Zentren im Deutschen Caritasverband“ bei Herting u.a. (2007). Eine vergleichende Analyse des Stiftungswesens in westlichen Gesellschaften bieten Anheier und Daly (2007). 134 Siehe dazu Bertelsmann-Stiftung (1999), Kappe (2000), Ripp (2000), Bundesverband Deutscher Stiftungen (2002) und Timmer (2005). Zu Begriff, Struktur und Funktion von Bürgerstiftungen vgl. nun auch Böckel (2005); eine erste Bilanz des Organisationstyps im Kontext des Drittens Sektors in Deutschland bieten die Beiträge in Nährlich u.a. (2005). Zur Rolle von Bürgerstiftungen in der 133
82
4 Methoden und Vorgehen
Vorbild der mittlerweile in ganz Europa aufstrebenden Bürgerstiftungsbewegung135 sind die amerikanischen Community Foundations, die seit 1914 in den Vereinigten Staaten aktiv sind und derzeit etwa 600 Organisationen mit einem Stiftungsvermögen von 25 Milliarden Dollar umfassen. In Deutschland wurde die erste „Bürgerstiftung“ 1996 in Gütersloh ins Leben gerufen, wobei hier mit Reinhard Mohn eine traditionelle Stifterpersönlichkeit mit einem Startkapital von 2 Millionen DM eine Art „Top-down“-Initiative, d.h. eine Initiative „von oben nach unten“ ergriffen hat. Schon ein Jahr später entstand in Hannover dann tatsächlich eine Bürgerstiftung nach dem amerikanischen „Bottom-up“-Vorbild: „von unten nach oben“. 30 Personen haben hier die Stiftung gemeinsam gegründet136. Gegenwärtig sind häufig Mischformen der Genese zu beobachten, wie überhaupt unter dem Etikett „Bürgerstiftung“ eine große Bandbreite von unterschiedlichen Konstellationen firmiert (vgl. Strachwitz 1999). Nachdem im Dezember 1996 die erste deutsche Bürgerstiftung, die „Stadt Stiftung Gütersloh“ gegründet worden war, agieren gut 10 Jahre später in Deutschland bereits 197 Bürger- und Gemeinschaftsstiftungen unterschiedlichster Art137. Zahlreiche Gründungsinitiativen sind tätig, und repräsentative Umfragen zeigten eine durchaus erhebliche Zustimmung in der Bevölkerung: Etwa ein Drittel der Befragten haben die Bereitschaft geäußert, eine bestehende Bürgerstiftung vor Ort zu unterstützen, und immerhin 10 Prozent können sich sogar vorstellen, eine solche (mit) zu gründen (vgl. Walkenhorst 2000: 82). Auch wenn hier üblicherweise vom Bekenntnis bis zur Tat noch ein weiter Weg ist, zeigen diese Zahlen doch eine hohe Akzeptanz der neuen Stiftungsbewegung in der Bevölkerung an. Was kennzeichnet den Organisationstyp Bürgerstiftung? Mit Suzanne L. Feurt lassen sich – vor dem Hintergrund der angelsächsischen Tradition – die Charakteristika wie folgt bestimmen: Es handelt sich um „eine autonome philanthropische Organisation, die in einem bestimmten geographischen Gebiet arbeitet, im Laufe der Zeit zu einem Sammelbecken für finanzielle Zuwendungen von vielen Spendern wird, Förder- und Projektmittel vergibt, gemeinnützige Aktivitäten in der jeweiligen Gemeinde bzw. Region organisiert und sich auf diese Weise mit einer Vielzahl von lokalen Problemen befasst“ (Feurt 1998: 243).
sozialen Arbeit vgl. Maier/Rüttgers (2006); zur Rolle von Stiftungen in der Bürgergesellschaft allgemein siehe Anheier/Appel (2004). 135 In Deutschland wird diese organisatorisch und konzeptionell durch die Bertelsmann-Stiftung massiv unterstützt; vgl. Bertelsmann-Stiftung (1999), (2000) und Walkenhorst (2001). 136 Siehe dazu die Beträge von Pfeiffer (1998, 1999). 137 Eine kleine Bilanz nach 10 Jahren Bürgerstiftungen findet sich bei Walkenhorst (2007).
4.2 Die Auswahl der Kontexte
83
Man kann also Bürgerstiftungen als eine besondere Form des Dienstleisters im Dritten Sektor beschreiben, der eine Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement zur Verfügung stellt. Bürger können ohne den rechtlichen und organisatorischen Aufwand einer eigenen Gründung stifterisch tätig werden und in einem überschaubaren Nahraum beteiligt sein an der Steuerung von Förderprogrammen. Die Stifter werden über Aktivitäten laufend informiert, erhalten nach Möglichkeit einen geselligen Zusammenhang der Begegnung und der gegenseitigen Anerkennung, und die Bürgerstiftung sorgt in der Regel dafür, dass die gemeinwohlfördernden Wirkungen in der lokalen Öffentlichkeit gewürdigt werden. Für Gruppen und Initiativen in der Gemeinde sind die Stiftungen Förderer und Ansprechpartner. Teilweise übernehmen sie sogar Vermittlungsaufgaben nach dem Muster der Freiwilligenagenturen, indem sie engagierte Bürger an entsprechende Kontexte mit Beteiligungsbedarf weiterreichen. Die entscheidende Differenzqualität der Bürgerstiftung gegenüber den traditionellen Organisationen des Stiftungssektors ist in drei Eigenschaften begründet: a.
b.
c.
Inklusivität: Zwar ist das Stiften auch in einer Bürgerstiftung primär ein ökonomischer Akt, der auf das Vorhandensein der entsprechenden Ressourcen bei den Akteuren angewiesen ist. In Hannover beispielsweise musste jeder Stifter zunächst 3.000 DM beibringen und später zum Fortbestand seines Stifterstatus jährlich 1.000 DM einzahlen. Damit sind einkommensschwache Teile der Bevölkerung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, weil sie sich diesen Beitrag nicht leisten können. Dennoch ist diese Schwelle im Vergleich mit herkömmlichen Stiftungen ausgesprochen niedrig. Durchschnittlich verdienende Bürger können ohne Probleme zur „guten Gesellschaft“ der Stifter hinzustoßen, wenn sie es denn wollen. Transparenz: Anders als traditionelle Stiftungen geben Bürgerstiftungen ihren Mitgliedern Einblick in Aktivitäten und Finanzgebaren. Zudem gibt es meist Fachausschüsse und Gremien, die eine interne Beratung und Kontrolle des Vorstands betreiben. Partizipation ist also bei diesem Organisationstyp gegenüber herkömmlichen Stiftungen durchaus möglich. Lokalität: Bürgerstiftungen agieren immer mit Bezug auf die lokalen Probleme der Gemeinde. Anders als bei Großorganisationen ist damit für die Stifter und Spender ein direkt wahrnehmbarer Effekt ihrer Investitionen erkennbar. Gerade diese Lokalität des Engagements stellt für viele Stifter eine große Motivation dar. Schon Tocqueville (1985: 52ff) hatte, wie im Theorieteil dieser Arbeit beschrieben, am Beispiel der Autonomie amerikanischer Kommunen herausgestellt, dass der lokale Bezug mit einer im Nahbereich erfahrbaren Wirksamkeit der eigenen Arbeit eine zentrale Vorausset-
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4 Methoden und Vorgehen zung für nachhaltige Engagementbereitschaft darstellt. Die aus dem amerikanischen Kontext abstammenden Bürgerstiftungen setzen diese Erkenntnis im deutschen Kontext konsequent um.
In der vorliegenden Literatur, die angelsächsische Erfahrungen resümiert und teilweise Handlungsanleitungen für den deutschen Kontext formuliert, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Einbindung der Bürgerstiftung in den kommunalen Zusammenhang eine wichtige Funktionsvoraussetzung darstellt138. Damit sind zum einen „gute Kontakte“ insbesondere der jeweiligen Vorstände gemeint, die der Stiftung Türen öffnen und andere Vorteile verschaffen können. Zum anderen wird auf den Einbezug relevanter Gruppen vor Ort, etwa auch ethnischer Minderheiten, hingewiesen. Und die Literatur empfiehlt schließlich Partnerschaften mit anderen Organisationen: mit Verbänden und Vereinen, mit der Kommune, mit Unternehmen und natürlich auch mit anderen Stiftungen. Vor allem der „Passung“ zwischen Bürgerstiftung und Kommune scheint große Bedeutung zuzukommen. Die konkrete Funktionsweise dieser diversen Verflechtungen wird im Folgenden noch genauer zu analysieren sein. Drittens: Die dritte Organisation, die untersucht wurde, ist eine traditionelle Verbandsorganisation. Sie wurde gewählt, um eine Art Kontrastfolie zur „neuen Bürgergesellschaft“ herzustellen und gleichzeitig zu klären, ob und inwieweit sich die alte ‚Verbändewohlfahrt’ auf die neuen Herausforderungen durch veränderte Kontexte einstellt139. Ausgewählt wurde der örtliche Caritas-Verband, der neben der evangelischen Diakonie und der Arbeiterwohlfahrt traditionell die Hauptstütze der Verbändelandschaft vor Ort darstellt. Der Caritasverband ist beispielsweise noch immer der größte Arbeitgeber im Land NordrheinWestfalen. Nur durch den Einbezug einer solchen Vergleichsgröße kann valides Wissen darüber gewonnen werden, ob, in welchem Maße und in welcher Form die Institutionen des „neuen Ehrenamts“ für die wertgewandelten und individualisierten Akteure eine besondere Attraktivität entfalten können. Die Vermutung lautete, dass sich in den konventionellen Organisationen primär Akteure zur Mitarbeit einfinden, die dem älteren Paradigma der Pflicht- und Akzeptanzwerte zuzurechnen sind, die also aus Bürgertugend, Pflicht, Altruismus und Gemeinsinn tätig werden. In den neuen Organisationen dagegen arbeiten primär Akteure, 138 Siehe etwa Feurt (1998: 264ff), Bertelsmann-Stiftung (1999), Kappe (2000: 277) und Wimmer (2000). 139 Zu den Wohlfahrtsverbänden in Deutschland siehe das Standardwerk von Boeßenecker (1995): zur neueren Diskussion um die Verbände im gewandelten gesellschaftlichen Kontext siehe u.a. Backhaus-Maul/Olk (2001), Evers (2001), Grundwald (2001), Steinbacher (2004), Liebig (2005) und Gabriel (2005); zur Diskussion bei der Caritas vgl. u.a. Haimerl (2006), Kochanek (2006) und Bangert/Roth (2007).
4.3 Datenerhebung
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die ihre Tätigkeit mit Erwartungen von Selbstverwirklichung, Gestaltungsräumen, eigenen Karriereoptionen und Spaß verbinden. Aus diesen Gründen sollte eine im weiteren Sinne karitative Organisation gewählt werden, die gemeinwohlorientierte Ziele verfolgt. Zudem schien es günstig, eine Organisation auszuwählen, die freiwillige Arbeit im sozialen Bereich organisiert, weil sowohl die Freiwilligenagentur als auch die Bürgerstiftung ihren Schwerpunkt im Bereich sozialer Arbeit – genauer formuliert: im Bereich der Jugendhilfe – haben. Es bot sich daher aus Gründen der Vergleichbarkeit an, die konventionelle Organisation so zu wählen, dass sie ebenfalls in diesem Bereich tätig ist. Daher wurde der örtliche Caritas-Verband in die Untersuchung als dritte Organisation einbezogen. Der Caritas-Verband ist ein typischer Vertreter der traditionellen deutschen Verbändewohlfahrt, die auch in der einschlägigen Literatur als Kontrastfolie zur Bürgergesellschaft neuen Typs fungiert (vgl. etwa Backhaus-Maul 2000, Heinze/Olk 1999, 2001). Die lokale Caritas in der untersuchten Gemeinde hatte gerade in der letzten Zeit einige Projekte im Bereich der Jugend- und Kinderarbeit platziert, so dass sich dieser Verband sehr gut in das Untersuchungsdesign einfügte.
4.3 Datenerhebung Es wurde ein teilstandardisiertes Erhebungsinstrument verwendet, das bei sensiblem und geschicktem Einsatz einen Zugang zur Perspektive der Akteure im Feld eröffnet. Gleichzeitig bewahrt es eine Offenheit für den Eigensinn der empirisch vorfindbaren sozialen Welt in der Kommune. Die Datenerhebung konzentrierte sich auf das Verfahren des leitfadengestützten Interviews. Dieses wurde ergänzt durch die Erhebung von im Feld vorfindbaren Dokumenten. Die Teilstandardisierung durch einen Leitfaden, der keine Antwortoptionen vorgibt und hinsichtlich Reihenfolge und Ausführlichkeit der anzusprechenden Themen sehr flexibel gehandhabt werden soll, gewährleistet bei aller erforderlichen Offenheit eine hinreichende Effizienz. Die Interviews mit Akteuren der Bürgergesellschaft vor Ort dienten dazu, die Handlungsmotive, Wert- und Wahrnehmungsmuster der Befragten zu erfassen. Darüber hinaus konnten Interaktionsprozesse im Feld aus der Sicht der Befragten rekonstruiert werden. Das Erhebungsverfahren orientiert sich an der Methode des „problemzentrierten Interviews“ (vgl. Witzel 1982, 1985). Hierbei wird einerseits Wert gelegt auf eine weitgehende Offenheit für die Sprache, Themensetzungen und auch für biografisch dimensionierte Erzählsequenzen der Befragten. Die explorative Relevanz dieser erzählerischen Elemente ist im Zusammenhang mit dem Konzept des „narrativen Interviews“ schon zahlreich be-
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4 Methoden und Vorgehen
legt worden (vgl. Schütze 1976 und 1983, Hermanns 2000, Bohnsack 1999: 106ff sowie Glinka 2001). Da freiwilliges Engagement in hohem Maße abhängig scheint von der jeweiligen biografischen „Passung“ (vgl. Jakob 1993, Kohli u.a. 1993), ist diese Offenheit des Erhebungsinstruments für narrativ-biografische Sequenzen gerade bei der im Forschungsvorhaben zu behandelnden Thematik besonders wichtig. Das teilstandardisierte Interview hält die notwendigen „Spielräume für die Artikulation komplexer Argumentationen und Empfindungen“ von Seiten der Befragten offen (Hopf u.a. 1995: 22). Die relative Nähe zum normalen Alltagsgespräch gewährleistet, dass die Analyse sich durch die Relevanzsetzungen der Akteure im Feld tatsächlich informieren lassen kann, was wiederum zu einer angemesseneren Theoriebildung zur Bürgergesellschaft führt. Andererseits wird das Interview jedoch thematisch fokussiert durch einen Leitfaden, der auf der Grundlage theoretisch begründeter Vorannahmen erstellt wird. Der Leitfaden stellt die notwendige Rückbindung an die forschungsleitende Fragestellung sicher, ermöglicht eine gezielte Sensibilität für relevante Dimensionen bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge und bleibt doch offen für Neues, Unerwartetes und Widersprüchliches (vgl. dazu Witzel 1982: 69ff, Hopf u.a. 1995: 22ff, Hopf 2000, Lamnek 1993: 65ff, Flick 1995: 112ff sowie Kaufmann 1999: 65ff). Bei diesem teilstandardisierten Element wird jedoch jeglicher „Leitfadenbürokratismus“ (Hopf 1978), d.h. jede zu starre Festlegung etwa auf bestimmte Abfolgen und Gewichtungen der Fragen sowie auf standardisierte sprachliche Formulierungen vermieden, da sonst die erforderliche Offenheit und Flexibilität des Erhebungsinstruments beeinträchtigt wäre. Nur durch diesen Verzicht auf weitergehende Standardisierung hat das Forschungsvorhaben die Funktionslogik von Bürgergesellschaft vor Ort offen legen können. Die Interviews wurden bis auf wenige Ausnahmen vollständig auf Tonband aufgezeichnet und anschließend sorgfältig transkribiert. In den Ausnahmefällen, wo die Interviewten mit der Aufnahme nicht einverstanden waren, wurden ausführliche Mitschriften durch die Interviewerin angefertigt. Die Anonymisierung aller Interviewpartner wurde durch eine Maskierung sichergestellt. Insgesamt war die Bereitschaft, sich an einem Interview zu beteiligen, enorm hoch. Den Akteuren war anzumerken, dass sie auf Ihre Aktivitäten und auf das jeweils Erreichte stolz sind und daher in den Gesprächen gern berichteten. Weiterhin wurden relevante demografische Daten der Befragten in einem begleitenden Kurzfragebogen erfasst. Jeder Datensatz wurde abschließend ergänzt um ein Postskript des Interviewers (vgl. Witzel 1982: 91), das die Umstände und etwaige Besonderheiten der Befragungssituation protokollförmig festhält. Als eine zusätzliche Datenquelle wurden Dokumente aus dem Feld herangezogen. Damit standen der Analyse neben den „künstlichen“ Interviewdaten auch
4.4 Feldzugang und Sample
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„natürliche“ Daten aus dem Feld zur Verfügung. Der Zugriff erfolgte primär durch die Presseberichterstattung über bürgerschaftliche Aktivitäten, die in der Kommune im Untersuchungszeitraum stattgefunden haben. Durch die Analyse der Pressedokumente konnte rekonstruiert werden, welche Aktionen und Interaktionsprozesse im öffentlichen Raum der Kommune kommuniziert, problematisiert und diskutiert wurden. Weiterhin konnte einbezogen werden, welche der handelnden Akteure im Forum der Presseöffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren haben. Damit wurde das öffentliche Bild von Bürgergesellschaft, ihrer personalen Träger und Kritiker sowie ihrer Institutionen als ein wichtiges Kontextwissen in die Analyse mit eingebracht.
4.4 Feldzugang und Sample Die Auswahl der im Interview zu befragenden Personen konnte dem Charakter der Studie gemäß nicht an den Kriterien statistischer Repräsentativität orientiert sein. Stattdessen ging es darum, in einem hinreichend sensiblen und flexiblen Auswahlverfahren sicherzustellen, dass Daten erhoben werden, die den Zugang auf die im Feld relevanten Typen eröffnen und somit im Kern das erfassen, was bürgergesellschaftliche Zusammenhänge in der Gegenwartsgesellschaft funktionsfähig macht. Im Sinne eines für den Eigensinn der alltäglichen Lebenswelt offenen Vorgehens trägt die Auswahl der zu befragenden Personen deutlich prozessualen Charakter. Gemäß den Prinzipien des in verschiedenen Projekten von Glaser und Strauss entwickelten und erprobten „theoretical sampling“ wurde die Auswahl jeweils vorgenommen und begründet durch eine ständige Rückkoppelung zwischen Empirie und Theorie, Dateninterpretation und theoretischer Reflexion140. Die Auswahl konnte also nicht vollständig vor dem Beginn des Forschungsprozesses festgelegt werden, sondern hat sich flexibel nach den jeweils erzielten Resultaten des bisherigen Forschens neu justiert. Wichtiges Kriterium bei der Auswahl war die minimale und maximale Kontrastierung, die es ermöglicht, präzise Typenbildungen vorzunehmen (vgl. Schütze 1983, Hildenbrandt 1984: 43ff, Flick 1995: 255f). Ausgehend von einem Fall werden jeweils nach dem Prinzip minimaler bzw. maximaler Distanz zu diesem Fall weitere Fälle ausgewählt. Als entscheidend für den erfolgreichen Feldzugang erwies sich die Hilfe einer persönlich bekannten, bürgerschaftlich engagierten Person, die seit mehreren 140
Zum Auswahlverfahren des theoretical sampling, das in den Forschungsprozess der von Glaser und Strauss (1967) entwickelten Grounded Theory eingebettet ist, vgl. grundlegend Glaser (1978) sowie Bulmer (1979), Strauss (1991) und Strauss/Corbin (1990).
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4 Methoden und Vorgehen
Jahren in zwei der untersuchten Organisationen tätig war und ein umfangreiches Beziehungsnetzwerk innerhalb der Kommune unterhielt. Dadurch wurde Zugang sowohl zu zahlreichen aktiven „Normalbürgern“ in der Stadt als auch zu den lokalen Eliten gewonnen. Ausgehend von diesem Netzwerk konnten dann jeweils durch persönliche Empfehlungen bereits interviewter Personen weitere Interviewpartner erreicht werden. Geführt wurden insgesamt 74 Interviews. Sie teilen sich auf wie folgt:
44 Interviews mit bürgerschaftlich engagierten Personen in den drei Organisationen (je 15 bzw. 14 in den Organisationen Freiwilligenagentur, Bürgerstiftung, Caritas) 8 Interviews mit bürgerschaftlich engagierten Personen in anderen zivilgesellschaftlichen Kontexten; diese Gruppe von Interviews war ursprünglich nicht vorgesehen. Es stellte sich jedoch im Laufe des Forschungsprozesses heraus, dass eine Ausdehnung auf diese Personengruppe sinnvoll war aus zwei Gründen: Erstens ließ sich das Geflecht aktiver Bürger in seiner Komplexität nur dann angemessen rekonstruieren, wenn man auch Engagementkontexte außerhalb der ausgewählten drei Organisationen einbezog. Und zweitens konnte auf diese Weise eine Außenansicht der thematisierten Organisationen durch aktive Bürger gewonnen werden, die den Stellenwert der Bürgergesellschaft im politisch-sozialen Geflecht vor Ort deutlich werden ließ. 3 Interviews mit Bürgern, die gar nicht bürgerschaftlich engagiert sind. Die Zielsetzung dieser Interviews lag dezidiert nicht darin, hier einen validen Vergleich zwischen engagierten und nicht engagierten Bürgern durchzuführen. Ein solches Unterfangen hätte das Design der Studie gesprengt. In der Studie ist eine Konzentration auf den Vergleich zwischen ‘alten’ und ‘neuen’ Engagierten, auf deren unterschiedliche Motive, Verflechtungen und institutionellen Einbettungen erfolgt. Die Interviews mit nicht engagierten Bürgern sollten lediglich dazu dienen, eine Außenperspektive auf die Engagierten und ihre Institutionen zu rekonstruieren. Diese Außenperspektive ist deshalb so wichtig, weil das öffentliche bzw. das in der Bevölkerung verbreitete Bild über die vor Ort operierenden bürgergesellschaftlichen Organisationen bestimmte Rückschlüsse erlaubt: Das „Image“ der Organisationen bestimmt auch über ihre Erfolgsaussichten mit. Rückschlüsse sind einerseits auf die möglicherweise vorhandene spezifische Attraktivität der posttraditionalen Gemeinschaft engagierter Bürger zu ziehen, die weitere Akteure in ein Engagement hineinlocken könnte oder doch zumindest die Akzeptanz innerhalb der Gemeinde erhöht (etwa hinsichtlich von Fragen wie: Erscheinen die Aktiven als in besonderem Maße anerkannt, integriert, zufrieden
4.4 Feldzugang und Sample
89
o.ä.?). Andererseits geraten auch charakteristische Schwellen und abschreckende Außenwirkungen in den Blick, die andere Bürger eher von einem Engagement abhalten könnten (also: Erscheint die Gruppe der Aktiven z.B. als besonders elitär oder ‘eingebildet’, erscheint sie als randständig und außenseiterhaft etc.?). 19 Interviews mit „Experten“, d.h. mit Personen, die das politische, soziale und öffentliche Leben der Kommune maßgeblich mit gestalten (kommunale Eliten) oder die in den Arbeitsfeldern der drei Organisationen professionellhauptamtlich tätig sind und somit eine expertenhafte Einschätzung der Verhältnisse liefern können141.
Die Stichprobenbildung für die Interviews mit den bürgerschaftlich engagierten Personen orientierte sich nicht an Kriterien statistischer Repräsentativität, sondern daran, solche Fälle zu erheben, von denen zu erwarten ist, dass sie typische Problemkonstellationen und Lösungsmuster repräsentieren. Folgende Kriterien wurden zugrunde gelegt: 1.
Alter; in Verbindung mit dem beruflichen Status; um die für freiwilliges Engagement typischen Konstellationen untersuchen zu können, wurde konkret unterschieden zwischen
Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schule bzw. in der Ausbildung Erwachsenen im Alter der Erwerbstätigkeit; hier konnte dann weiter differenziert werden zwischen Personen, die tatsächlich erwerbstätig sind und solchen, die nicht erwerbstätig sind, und älteren Personen, die bereits das Renten- oder Pensionsalter erreicht haben.
2.
141 142
Gender; schon in der früheren Ehrenamtsforschung ist mehrfach auf erhebliche genderbedingte Unterschiede sowohl im Hinblick auf die unterschiedlichen ehrenamtlichen Tätigkeiten von Engagierten als auch hinsichtlich der Motive und Karrieremuster hingewiesen worden142. Die Variable Geschlecht wurde im Sample dann weiter differenziert hinsichtlich des Familienstatus (ledig, verheiratet, geschieden oder verwitwet, mit oder ohne Kinder) und der Familienphase (sind die Kinder klein und betreuungsbedürftig oder sind sie schon selbständig und haben ggf. schon einen eigenen Haushalt?).
Zur Funktion und Anwendung von Experteninterviews siehe Bogner u.a. (2002). Siehe vor allem Backes (1987) und Notz (1987).
90
4 Methoden und Vorgehen
3.
Bildung und Einkommen; diese Variable ist insbesondere in Bezug auf die Voraussetzungshaftigkeit der Bürgergesellschaft relevant, macht sich jedoch auch bei Motiven und Karrieremustern bemerkbar. Ausgeübte freiwillige Tätigkeit; in einer Leitungsposition oder an untergeordneter Stelle.
4.
Konkret setzt sich das Sample der 44 bürgerschaftlich engagierten Personen folgendermaßen zusammen: sieben Personen befinden sich in der Schule bzw. in einer Ausbildungssituation, 24 sind im erwerbstätigen Alter, wovon 17 tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen, und 13 Personen haben bereits das Renten- oder Pensionsalter erreicht. Insgesamt wurden 23 Männer und 21 Frauen interviewt. Sieben Personen hatten einen Hauptschulabschluss, 10 die mittlere Reife und 27 das Abitur oder Fachabitur erreicht. Hinsichtlich des Einkommens (hier wurden teilweise nur sehr grobe Angaben gemacht) sind 13 Personen den gering Verdienenden (unter 1.000 EUR monatlich) zuzuordnen, 17 Personen verfügen über ein mittleres Einkommen (1.000 bis 2.500 EUR), und 14 haben ein hohes Einkommen von über 2.500 EUR monatlich verfügbar. Von allen Befragten üben 29 Personen eine untergeordnete Tätigkeit in ihrem freiwilligen Engagement aus, während 15 Personen in Leitungspositionen tätig sind. Über dieses Set an Interviews mit insgesamt 44 Aktiven in den drei ausgewählten Organisationen hinaus wurden acht Interviews mit Personen aus anderen zivilgesellschaftlichen Kontexten geführt. Diese Personen waren engagiert in Bürgerinitiativen bzw. Initiativkreisen der Kommune, in der Frauenbewegung, in Service-Clubs, in politischen Vereinigungen (Wählerinitiativen, Antifa etc.) und in verschiedenen Netzwerken, die im weiteren Sinne den Neuen Sozialen Bewegungen zugerechnet werden können. Die Experteninterviews wurden mit folgenden Personen geführt: Vier aktive Kommunalpolitiker aus verschiedenen Parteien, ein evangelischer und ein katholischer Pfarrer, der Geschäftsführer des örtlichen Caritasverbandes sowie eine hauptamtliche Sozialarbeiterin des gleichen Verbandes, ein leitender Mitarbeiter eines von drei Wohlfahrtsverbänden getragenen Ausländerprojektes, eine Mitarbeiterin der örtlichen AWO (Arbeiterwohlfahrt), der hauptamtliche Gründungsbeauftragte der Bürgerstiftung sowie der hauptamtliche Geschäftsführer des Jugendhofes dieser Stiftung, die hauptamtliche Leiterin der Freiwilligenagentur, zwei Vertreter der örtlichen Presse, ein lokal prominenter Unternehmer, ein in der linken Szene bekannter Globalkritiker der Kommune, eine Sozialarbeiterin, die als sachkundige Bürgerin im Jugendausschuss der Kommune tätig ist, sowie die Leiterin des Fachbereichs Jugend und Kinder der Stadt.
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4.5 Auswertung und Interpretation Das Auswertungsverfahren in Bezug auf die in den Interviews gewonnenen Daten orientiert sich an dem bei Soeffner und Hitzler (1994) entwickelten dreistufigen Vorgehen. Jeder Auswertungsschritt wurde eigens ausführlich schriftlich protokolliert und reflektiert, damit die Interpretationen jederzeit methodisch kontrolliert und damit auch intersubjektiv nachprüfbar gehalten werden konnten. Auf der ersten Stufe wurde eine Paraphrase und Formalstrukturierung in Hinblick auf die Themenfolge vorgenommen, die der sequentiellen Ordnung des Textes folgt. Dabei wurden diejenigen Textteile, in denen relevante Themen in verdichteter Form behandelt werden, eigens markiert. Hier liegt die Annahme zugrunde, dass diese Textpassagen „dokumentarische Signifikanz“ besitzen und daher plausiblerweise zum Gegenstand einer intensiveren Auswertung gemacht werden können (vgl. Bohnsack 1999). Auf dieser Stufe bewegte sich die Auswertung innerhalb des Textes, es wurden keine Verbindungen und Vergleiche zu anderen Texten hergestellt. Die Analyse verblieb im Relevanzsystem der Befragten. Erst auf der zweiten Stufe wurden die Verbindungen zu anderen Texten hergestellt. Die Auswertung legte Bezüge zu anderen, thematisch ähnlichen Passagen aus anderen Interviewtranskripten offen und stellte Vergleiche an. Im Anschluss an Bohnsack (1999) wurden „Gegenhorizonte“ kontrastiert, um die Spezifik des jeweils vorliegenden Falls besser herausarbeiten zu können. In der Interpretation wurden somit Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich konturierbar. Stufe drei ging dann zur Typisierung der Fälle über. Hier wurden typische Motiv-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster bürgergesellschaftlicher Zusammenhänge erfasst.
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5.1 Die Gemeinde Die Gemeinde Kohlen143 ist eine am nördlichen Rand des Ruhrgebiets gelegene Mittelstadt mit ca. 66.700 Einwohnern144, die sich auf einer Fläche von etwa 37 Quadratkilometern erstreckt. Die Stadt weist einige strukturelle Probleme und Charakteristika auf, die in der deutschen Gegenwartsgesellschaft bereits jetzt für viele Kommunen zutreffen, und die in absehbarer Zukunft für eine noch weit größere Zahl zutreffen dürften. Der kleine Ort Kohlen, urkundlich um 1050 erstmals erwähnt, wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur selbständigen Landgemeinde. Wie in vielen anderen Fällen auch, führte der große Industrialisierungsschub in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem tiefgreifenden Strukturwandel. Aus dem dörflichen Gebilde wurde schnell ein städtisches, was vor allem der Ansiedlung des Steinkohlebergbaus geschuldet war. Ab 1874 wurden mehrere Bergbauschächte eingerichtet, die Bevölkerungszahl stieg deutlich an, und bald wurden gezielt Arbeitskräfte aus dem Osten Deutschlands sowie dem osteuropäischen Ausland (Polen, Tschechen, Slowenen) angeworben, um den Bedarf der Industrie zu decken. Wie viele andere Gemeinden im Ruhrgebiet, so hat auch Kohlen in dieser Zeit intensive Erfahrung mit arbeitsbedingten Migrationsprozessen gesammelt. Die Integration funktionierte erstaunlich gut, und dieser historische Erfahrungshintergrund mag mit dafür verantwortlich sein, dass auch in der heutigen Zeit ein vergleichsweise hoher Migrantenanteil im Ruhrgebiet zu vergleichsweise wenigen Problemen führt. Im Zuge der Industrialisierung hielten die üblichen infrastrukturellen Einrichtungen des städtischen Lebens Einzug, von der öffentlichen Straßenbeleuchtung über eine geregelte Kanalisation bis zur Einführung einer elektrischen Straßen143
Der Name Kohlen dient hier als Maske für die untersuchte Stadt, die eine lange Bergbautradition aufweist. 144 Diese Zahl gilt für den Erhebungszeitraum. Die Tendenz ist langsam, aber stetig sinkend. Die Stadt ist, wie viele andere Gemeinden im Ruhrgebiet, von Abwanderung betroffen, was primär mit der vergleichsweise hohen Arbeitslosigkeit zusammenhängt. Sekundär wirkt sich auch noch immer eine gewisse Stadtflucht aus, in deren Rahmen viele Bürger lieber in ein Eigenheim auf dem Lande ziehen, wo die Grundstückspreise erheblich niedriger sind als im Stadtgebiet.
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bahn im Jahre 1901. Die ohnehin stetig ansteigende Einwohnerzahl wurde im Zuge einer kommunalen Neugliederung in den 1920er Jahren auf ca. 35.000 gesteigert, 1936 wurden die offiziellen Stadtrechte verliehen. Im Jahr 1975 schließlich kam es im Rahmen einer erneuten Neugliederung zu einer weiteren Zunahme von Fläche und Einwohnern, so dass die Stadt ihren heutigen Zuschnitt erhielt. Die historische Verknüpfung der Gemeinde Kohlen mit dem Steinkohlebergbau, der als maßgeblicher Faktor des Aufschwungs fungiert hatte, wurde später wie fast überall im Ruhrgebiet zu einer schweren Hypothek. Aufgrund des weitgehenden Abbaus traditioneller Großindustrie (Montanindustrie), die über viele Jahrzehnte hinweg dominant gewesen war (in den 1990er Jahren durfte man sich noch „größte Bergbaustadt Europas“ nennen), befindet sich die Gemeinde seit einiger Zeit geradezu permanent in finanzieller Notlage. Der Haushalt wies für das Jahr 2002 einen Konsolidierungsbedarf von über sieben Millionen EUR auf. Die originären Fehlbeträge (ohne Berücksichtigung der Fehlbeträge aus den jeweiligen Vorjahren) betrugen für die Jahre 2003 12,3 Mio. EUR, für 2004 13,7 Mio. EUR und für 2005 nicht weniger als 23,9 Mio EUR. Mit solchen Werten erreichte man Verhältnisse, die eine Aufstellung eines genehmigungsfähigen Haushaltssicherungskonzeptes (das Aufzeigen einer Wiederherstellung des Haushaltsausgleichs in den folgenden vier Jahren) nicht mehr zuließen. Die allgemeine Finanzmasse des städtischen Haushaltes hat sich von Jahr zu Jahr verringert, d.h. die Handlungsspielräume für politische und administrative Gestaltung sind immer enger geworden. Die hohen Defizite werden über Kassenkredite finanziert, die derzeit ein Volumen von ca. 110 Mio. EUR erreicht haben145. Das Hauptproblem besteht für die Kommune in einer Finanzierungsschere: Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer werden immer geringer (im Jahr 2005 nahm man beispielsweise 3,5 Mio. EUR weniger ein als im Vorjahr), während die Ausgaben durch hohe Arbeitslosigkeit (ca. 12 Prozent) und eine entsprechend gravierende Zahl von Sozialhilfe- bzw. Hartz-IV-Empfängern immer stärker ansteigen. Die politischen Verhältnisse in der Kommune sind denen vieler anderer im Ruhrgebiet ähnlich, weisen jedoch einige Besonderheiten auf. Typisch für die Region ist zunächst, dass es über viele Jahre hinweg einen sozialdemokratischen Bürgermeister gegeben hat. Dies ist wahlsoziologisch wenig verwunderlich. Das Elektorat wies über lange Zeit hinweg einen hohen Arbeiteranteil auf. Zudem 145
Mit einer sog. Kassenkreditquote von 57% (beschreibt das Verhältnis der Kassenkredite zu den Bruttoausgaben des Verwaltungshaushaltes) liegt die Kommune unter den 10 meistbelasteten Städten in NRW, auch wenn die Extremverhältnisse einiger anderer Gemeinden mit bis zu 120% damit noch weit entfernt sind.
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war es der SPD im Ruhrgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen, sich über bürgernahe Dienstleistungen, Beratungstätigkeiten, organisierte Geselligkeiten und einen ausgeprägten organisatorischen Vorbau fest in breiten Teilen der Bevölkerung zu verankern – ganz ähnlich jener Strategie, mit der die CSU in Bayern so erfolgreich gewesen ist146. Neben einer starken Sozialdemokratie ist jedoch ein zweites Moment zentral: Ungeachtet vorhandener Mehrheiten hat sich in vielen Ruhrgebietskommunen eine Konkordanz- bzw. Proporzdemokratie entwickelt. Es war immer klar geregelt, dass der CDU als zweitstärkster Kraft vor Ort bestimmte Ämter zustanden. Diese Form der kooperativen Demokratie hat sich auch in Kohlen stabilisiert und ist noch heute nicht nur anhand der Amtsträger, sondern auch beim Abstimmungsverhalten der Ratsmitglieder abzulesen. Die meisten Ratsbeschlüsse werden mit den Stimmen von SPD und Union verabschiedet, oft kommen noch die Stimmen der kommunalen Grünen hinzu. Diese kooperative, konkordanzdemokratische Tradition im Ruhrgebiet allgemein und in Kohlen im Besonderen ist ein wichtiges Hintergrundfaktum, ohne das viele Formen des hier etablierten bürgergesellschaftlichen Geflechts nicht erklärbar wären. Bei den letzten Kommunalwahlen im Jahre 2004 zeigte sich dann allerdings auch eine Besonderheit Kohlens im Vergleich zum sonstigen Ruhrgebiet. Entgegen dem Trend, der nicht nur in zahlreichen Kommunen zum Verlust der SPDMehrheit geführt, sondern 2005 auch einen Regierungswechsel im Land Nordrhein-Westfalen bewirkt hatte, konnte der SPD-Kandidat mit einer absoluten Mehrheit von 51 Prozent schon im ersten Wahlgang das Bürgermeisteramt für sich gewinnen. Dies war umso erstaunlicher, als es nicht der in der vorherigen Legislaturperiode agierende Amtsinhaber mit einem entsprechenden Amtsbonus war, der sich zur Wahl stellte, sondern ein ziemlich unbekannter junger Nachwuchspolitiker (und zudem noch promovierter Soziologe!). Dem war es im Wahlkampf offensichtlich gelungen, die Sympathien der Bevölkerung zu gewinnen und durch sein jugendliches Image eine Aufbruchstimmung zu produzieren, die sonst nur mit der Aussicht auf einen parteipolitischen Wechsel hervorzurufen ist. Die Wechselstimmung in der Bevölkerung wurde gleichsam personalisiert. So gelang es der SPD auch, dem Trend zum Trotz, wieder stärkste Fraktion zu werden und nur einen Sitz im Rat einzubüßen. Den 23 Sitzen der SPD stehen 17 der CDU sowie 3 der UWG und der Grünen gegenüber. Die rechte Protestpartei „Pro Bürger“ erreichte bemerkenswert geringe zwei Sitze, jeweils ein Ratsmandat wird von der FDP und einer linken Liste besetzt. Diese relative Stabilität der politischen Verhältnisse in der Kommune bedeutet eine große Berechenbarkeit der politischen Prozesse, vom Abstimmungsverhalten im Rat bis zu den diversen 146 Zur politischen Organisationsstruktur und politischen Kultur des Ruhrgebiets vgl. grundlegend die Studien von Karl Rohe (1986).
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Kooperationsnetzwerken tief in die Bürgergesellschaft hinein. Darauf wird in Kapitel 5.8 noch genauer einzugehen sein. Das allgemeine „Klima“ in der Stadt ist jedoch in weiten Teilen eher trostlos. Die Kommune muss radikal sparen, und das macht sich auch im Bild der Stadt bemerkbar, etwa durch geschlossene Einrichtungen sowie durch fehlende Sanierungsmaßnahmen an öffentlichen Gebäuden. Mit großem Elan wird immer wieder versucht, Gewerbe neu anzusiedeln, was aber nur selten und in geringem Umfang gelingt. Immerhin wurde vor einigen Jahren ein kleines Einkaufszentrum neu errichtet. Es steht nicht – wie in vielen anderen Fällen – an der Peripherie der Stadt, sondern im Zentrum, was zumindest zu einer geringfügigen Vitalisierung des Innenstadtlebens geführt hat. Die demografische Situation ist, wie schon erwähnt, durch Abwanderung gekennzeichnet, weil viele Familien auf der Suche nach Arbeit in andere Regionen ziehen147. Andere, die sich dabei weniger Chancen ausrechnen oder aus persönlichen Gründen in Kohlen bleiben wollen, bestreiten ihren Unterhalt häufig aus staatlichen Transferleistungen. Der Ausländeranteil ist, nicht zuletzt infolge der früheren Anwerbung von Arbeitskräften durch die Bergwerke, mit etwa 12 Prozent relativ hoch. So finden sich in Kohlen bestimmte Stadtteile, die überwiegend von ausländischen bzw. nicht deutschstämmigen Bürgern bewohnt werden. Diese Formen subkultureller Auskristallisierung führen mitunter zu Spannungen, ohne dass dabei jedoch gravierende ausländerfeindliche Stimmungen wie in vergleichbaren Gemeinden im Osten Deutschlands erkennbar sind. Die insgesamt schlechte Erwerbssituation und die mangelnde Finanzkraft der Einwohner schlägt sich in der kaufmännischen Struktur der Stadt nieder. Viele alteingesessene Fachgeschäfte mussten schließen. Neuansiedlungen finden vor allem durch Kaufhausketten mit Billigangeboten statt, und zahlreiche Ladenlokale stehen leer. Damit sinkt die Attraktivität der Innenstadt für die etwas finanzkräftigere Kundschaft immer weiter. Diese zieht es infolgedessen häufig vor, in der größeren und wirtschaftlich besser gestellten Nachbargemeinde einzukaufen, wo auch gehobenere Fachgeschäfte, Straßencafés und insgesamt eine angenehmere Einkaufsatmosphäre vorzufinden sind. Die City, die in den siebziger Jahren gründlich modernisiert und mit Betonbauten sowie verkehrsberuhigten Zonen gestaltet worden war, bietet vor allem jenseits der Ladenöffnungszeiten ein eher unwirtliches Bild. Lebendige Kneipenkultur sucht man weitgehend vergebens, auch diese hat sich zwischenzeitlich in der Nachbarstadt etabliert. Stattdessen finden sich abends neben wenigen Spaziergängern primär jugendliche Cliquen und teilweise sogar Banden, die 147
So nahm die Bevölkerung im Erhebungszeitraum in fünf Jahren nicht dramatisch, aber doch merkbar ab: von 68.205 im Jahre 1997 auf 66.700 Einwohner im Sommer des Jahres 2002. Damit beträgt die Abwanderung deutlich mehr als zwei Prozent.
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gegenseitig ihre Territorien abstecken: hier Deutsche, da Türken, dort Libanesen usw. Ein erst vor wenigen Jahren im Gebäude eines abgewanderten großen Kaufhauses eingerichtetes Einkaufszentrum in der Innenstadt mit MultiplexKino und Bowlingcenter wirkt oft menschenleer. Das Schlagwort „bowling alone“, das Robert D. Putnam (2000) für die Erosion des Sozialkapitals in der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft geprägt hat, gewinnt hier einen ganz eigenen, anschaulichen Sinn. Das Zentrum weist immer wieder verlassene Ladenlokale auf, und das Kino steht ständig am Rande der Schließung, weil für die überwiegend jugendlichen Besucher das entsprechende Erlebnisumfeld fehlt. Die Relevanz dieser Gesamtsituation für die im Projekt verfolgte Fragestellung besteht vor allem darin, dass mit einer zunehmenden Knappheit öffentlicher Finanzmittel immer mehr Aufgaben gerade im sozialen Bereich an nichtstaatliche Institutionen und somit auch an Organisationen der Bürgergesellschaft übergehen werden. Damit aber stellen die institutionellen wie die akteursbezogenen Voraussetzungen bürgerschaftlichen Engagements eine zentrale Größe bei der Lösung wichtiger gesellschaftlicher Zukunftsaufgaben dar. Gleichzeitig ist die Situation in der Gemeinde Kohlen durch ein weitgehendes Fehlen längerer Traditionen bürgerschaftlichen Engagements im Sinne dezentral-selbstgesteuerter Aktivitäten gekennzeichnet. Engagement und Partizipation sind in weiten Teilen Nordrhein-Westfalens und insbesondere im Ruhrgebiet seit dem 19. Jahrhundert schwerpunktmäßig in den Großorganisationen der industriellen Moderne beheimatet gewesen: in Parteien, Verbänden, Kirchen und großen Unternehmen (vgl. Rohe 1984, Rohe/Dörner 1990, Dörner 2001). Bürgerschaftliche Traditionen, wie sie beispielsweise die USA oder Großbritannien prägen, sind kaum vorhanden. Auch diese Situation mangelnder zivilgesellschaftlicher Traditionen im hier definierten Sinne ist für weite Teile Deutschlands typisch, auch wenn die Muster der korporatistisch geprägten Großgruppengesellschaft nicht überall so stark ausgeprägt sind wie in NRW bzw. im Ruhrgebiet. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass allenfalls in BadenWürttemberg oder in traditionsreichen urbanen Kontexten mit einer historisch starken Bürgerschaft (z.B. Hamburg oder Köln) Verhältnisse vorzufinden sind, die mit denen der angelsächsischen Kulturen ansatzweise vergleichbar wären148. Umso erstaunlicher und interessanter ist es vor diesem Hintergrund, dass nun gleichwohl in einer Stadt wie Kohlen in den letzten Jahren mehrere Kontexte bürgerschaftlichen Engagements entstanden sind. Sie unterscheiden sich deutlich 148 Zur Geschichte von Strukturen und Kulturen bürgerlicher Selbstorganisation vgl. die Ergebnisse der neueren historischen Bürgertumsforschung, insbesondere Kocka (1987, 1988, 1990), Kocka/Frey (1998) und Frevert (1999); zum Bürgertum als Träger der Zivilgesellschaft siehe insbesondere Kocka (2002).
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von der traditionellen „Verbändewohlfahrt“ der Vergangenheit, vom Kartellismus und Korporatismus, wie er den Dritten Sektor in Deutschland über lange Zeit hinweg dominiert hat. Vor allem die seit einigen Jahren erfolgreich agierende Bürgerstiftung (eine der ersten Bürgerstiftungen in Deutschland) stellt in diesem Kontext das herausragende Beispiel für eine neue Kultur dezentralselbstgesteuerter Engagementformen dar. Aus den dortigen Erkenntnissen sind somit wichtige Rückschlüsse auf die Grundbedingungen erfolgreicher bürgerschaftlicher Selbstorganisation (auch unter widrigen äußeren Umständen) zu erwarten.
5.2 Die Kommune als Bürgergesellschaft 5.2.1 Ein kollektives Erweckungserlebnis: Widerstand gegen die ‚Obrigkeit’ Ein Erklärungsfaktor für den vergleichsweise hohen Grad an bürgerschaftlichem Engagement in Kohlen als einer typischen, ökonomisch schwachen Kommune im Ruhrgebiet liegt in der jüngeren Vergangenheit der Stadt und ist für die Partizipationsforschung durchaus von systematischem Interesse. Vor einigen Jahren plante die Landesregierung, in der Stadt eine forensische Klinik zu errichten. Man hatte vorher schon versucht, den Standort in einigen anderen Städten des Landes zu etablieren, war dabei jedoch immer auf starken Widerstand sowohl der jeweiligen lokalen Politik wie auch der Bevölkerung gestoßen. Angesichts dieses sich mehrfach wiederholenden Szenarios hatte man offensichtlich zwei Dinge beherzigt: Zum einen wollte man möglichen Widerstand dadurch minimieren, dass man eine Kommune aussuchte, die in der Vergangenheit nicht gerade durch eine aktive, mobilisierte Bürgerschaft aufgefallen war. Zum anderen wollte man das Vorhaben möglichst lange geheim halten, um den lokalen Eliten wie der breiten Bevölkerung erst gar nicht die Möglichkeit zu bieten, sich zum Widerstand zu formieren. Genau diese Form der Arkanpolitik mit Überraschungseffekt führte jedoch dazu, dass die Empörung vor Ort besonders groß ausfiel. Nur einen Tag nachdem durch eine Indiskretion über das örtliche Lokalradio die Meldung von einer geplanten forensischen Klinik an die Öffentlichkeit geriet, kam es zu ersten Protestkundgebungen und Unterschriftenaktionen. Kommunalpolitiker, Vertreter von Kirchen und Verbänden sowie Bürger zogen sofort an einem Strang, da sie sich übergangen fühlten. Hinzu kam, dass die Verantwortlichen bei der Planung große Fehler machten. Als Standort der forensischen Klinik wählte man ausgerechnet eine Fläche in unmittelbarer Nähe des „Filetstückes“ der Kommune aus. Der Schlosspark von Kohlen mit einem gut restaurierten Barock-Schloss stellt in der architekto-
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nisch ansonsten eher anspruchslos gestalteten Stadt ein besonderes Kleinod dar. Der Park war erst vor wenigen Jahrzehnten für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und mit kommunalen Mitteln aufwändig gestaltet worden. Die Bürger in Kohlen lieben es, ihren Sonntagsspaziergang im Schlosspark zu machen. Junge Paare wählen das Schloss gern als Ort für ihre Hochzeitsfeier aus. Gerade hier, in einem der wenigen Kristallisationspunkte für bürgerliches Selbstbewusstsein in einer ansonsten eher depressiv gestimmten Gemeinde sollte nun eine Klinik für psychisch kranke Straftäter errichtet werden – ein Projekt, das ohnehin bei vielen Bürgern mit starken Ängsten verbunden ist. Noch im gleichen Monat wurde eine Bürgerinitiative gegründet, die im Laufe der Zeit über 2.100 Mitglieder rekrutierte und zahlreiche Aktionen initiierte. Man überreichte dem Ministerpräsidenten des Landes eine Unterschriftenliste und veranstaltete Feste, Sternmärsche, Menschenketten, Mahnwachen und Fackelzüge mit bis zu 20.000 Teilnehmern. Auch Aktionen des zivilen Ungehorsams wie die Sperrung einer Straßenkreuzung wurden durchgeführt. Die Bürgerinitiative war im Kern getragen von einer relativ kleinen Gruppe gut gebildeter und beruflich erfolgreicher Akademiker, darunter Ärzte und Anwälte. Sie agierten vor allem aus einer unmittelbaren Betroffenheit heraus, denn ihre Häuser und Grundstücke in einem der besten Wohngebiete Kohlens lagen in direkter Nachbarschaft zur geplanten Forensik. Diese Gruppe konnte ein erhebliches Quantum an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital in die Auseinandersetzung einbringen, weshalb es nicht nur bei Protestkundgebungen aller Art blieb, sondern auch Klagen geführt und Gegengutachten in Auftrag gegeben wurden. Die Aktionen, die allesamt in engster Absprache der dort so genannten „drei Säulen des Widerstandes“ (Bürgerinitiative, Politik/Verwaltung und Kirche/Krankenhaus) durchgeführt wurden, hatten am Ende Erfolg. Acht Monate nach der Verkündung des Plans musste der verantwortliche Minister öffentlich bekannt geben, dass man von dem Vorhaben der Errichtung einer forensischen Klinik in Kohlen Abstand genommen habe. Max Kemper149, ein katholischer Pfarrer, der seit über 30 Jahren in Kohlen tätig und ein genauer Kenner der Stadt ist, beschreibt den Prozess um den Widerstand gegen die forensische Klinik als einschneidende Kollektiverfahrung der Bürger. Zunächst einmal erscheint die spätere Mobilisierung angesichts einer weitverbreiteten Lethargie in der Stadt hochunwahrscheinlich: „Die Bevölkerung hier, und das kritische Potential, wenn man das mal so etwas plakativ ausdrückt, ist sehr gering; damals war´n wir ja mal, haben sie Ihnen sicher auch gesagt, die größte Bergbaustadt im EU-Bereich, und jetzt machte man die Ze149
Alle Namen der Akteure und der Interviewpartner sind aus Gründen der Anonymisierung verändert worden.
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chen platt und da hatte man so den Eindruck, dass sowieso alles über ´n Markt verloren ist, und die Leute haben andere Sorgen, als dass sie das [die geplante Forensik, A.D., L.V.] noch haben. (…) Das Verblüffende für mich war, ich hatte das auch nicht vermutet, dass das möglich war in dieser Stadt. Das hab ich also wirklich nicht für möglich gehalten; ich bin jetzt einunddreißig Jahre da, ich war Pfarrer der Innenstadt. Wir haben ganz viel versucht, auch so was von Gemeinwesenarbeit, also ganz viel, wirklich auch mit viel Phantasie und vielen Leuten (…) und es war sehr, sehr mühsam. Sehr, sehr mühsam.“ (Herr Kemper)
Wo die Menschen so schwer für gemeinnützige Dinge mobilisierbar sind, da rechnet man nicht damit, dass eine Verwaltungsentscheidung für die Errichtung einer Klinik überhaupt groß zur Kenntnis genommen wird. Noch weniger wahrscheinlich ist es, dass sich tatsächlich politische Aktivitäten entfalten. Interessanterweise lässt sich so etwas wie eine ‚Geburtsstunde des Widerstands’ benennen, in der aus der passiven Bürgerschaft der Kommune Kohlen ein mobilisierter kollektiver Akteur wurde. Herr Kemper berichtet: „Das war so eine Versammlung, und ich hatte erst gedacht, da passiert gar nichts, weil das das normale war in Kohlen, dass da ganz wenig passiert. Es gibt also ganz wenig Leute, die dann bereit sind mitzumachen. Und dann ging das mit einmal so: Dann war ´ne Versammlung, da waren 3000 Leute, und dann hat der damalige Bürgermeister dermaßen vom Leder gezogen, dass mir schon etwas Angst und Bange wurde.“
Die Emotionen schlugen bei dieser Versammlung hoch. Dem Bürgermeister der Gemeinde gelang es offensichtlich mit rhetorischem Geschick, die Menschen aufzustacheln und handlungsbereit zu machen. Die Veranstaltung wurde immer wieder von Tumulten unterbrochen, und Akteure, die es wagten, eine Gegenposition zu beziehen, wurden niedergebuht. Tina Rasska, eine Beteiligte, die sich für eine differenziertere Sicht der Dinge ausgesprochen hatte, berichtet von starken Gefühlen physischer Angst. Sie wurde von den erregten Bürgern beschimpft und sogar angespuckt. Auch Pfarrer Kemper empfand eine „unheimliche Emotionalisierung, und was da geäußert wurde war schon manchmal schlimm“. Die sonst so trägen Bürger von Kohlen schienen nachgerade zu einem Mob mutiert zu sein. Die baldige Gründung der Bürgerinitiative mit einer strukturierten Strategie und einem klaren Kurs auf legale Protestformen bildete hier ohne Zweifel ein wichtiges Instrument zur Kanalisierung und Zivilisierung der aufgeputschten Gefühle. Aus den 3.000 Bürgern bei der Versammlung wurden später Zehntausende, die sich an Demonstrationen beteiligten, Fundraising und Protestfahrten in die Landeshauptstadt organisierten. Die Gemeinde erfuhr so etwas wie ein kollektives Erweckungserlebnis von der Passivität zum politischen Widerstand. In meh-
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reren Interviews wird betont, dass es die Erfahrung der erfolgreichen Bürgerinitiative war, die den Bürgern Kohlens das Gefühl vermittelt hat, dass sich mit bürgerschaftlicher Aktivität Dinge bewegen lassen. Die hier beschriebene Rolle des Stadtoberhaupts weist jedoch auch auf eine ganz wichtige Besonderheit des „Widerstands“ in Kohlen hin. Es handelte sich nicht um eine Frontstellung der Bürger gegen die eigene Stadtspitze vor Ort. Vielmehr war es ein gemeinsamer Widerstand, an dem politische Eliten, Bürgerschaft und Kirchen beteiligt waren. Die In-Group konnte sich gemeinsam gegen einen äußeren „Feind“, nämlich die Landesregierung als ‚Obrigkeit’ richten, die das Projekt der Errichtung einer forensischen Klinik auch gegen Widerstand durchsetzen wollte. Aus dieser Konstellation heraus ergab sich ein besonders starker Integrationseffekt, den der Pfarrer so beschreibt: „Und dadurch ist da so ´n Wir-Gefühl entstanden, und dadurch ist vielleicht hier so ´n Zusammenhalt entstanden. Und der hat sich immer weiter verfestigt, weil eigentlich man immer in eine Ecke gestellt wurde.“
Je mehr die Landesregierung Druck zu entfalten suchte und auch die Medien, etwa der WDR, die empörten Bürger als intolerant und nach rechts tendierend darstellte, desto deutlicher schlossen sich die Bürger zu einer hochgradig integrierten In-Group zusammen. Pfarrer Kemper führt weiter aus: „Und dadurch ist dann auch so ´ne gewisse Trotzreaktion in der Bevölkerung entstanden und ist was passiert, dass 10.000 da auf die Beine kamen, was ich so nicht für möglich gehalten hätte“. Die Konstellation, die sich gegen das Klinikprojekt formiert hat, ist deshalb so wichtig, weil hier gleichzeitig wichtige Pfeiler der Kooperationskultur in Kohlen sichtbar werden, auf denen die Kommune als Bürgergesellschaft steht: 1.
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Die aktiven Bürger. Sie haben sich im Widerstandsprozess in geradezu klassischer Weise als Bürgerinitiative konstituiert. An deren Spitze haben Teile der lokalen Elite fungiert, Akademiker (u.a. eine Rechtsanwältin und ein Arzt), die auch in der Lage waren, öffentlich zu kommunizieren und als Repräsentanten der Bürger aufzutreten. „Unterhalb“ dieser Führungspersonen haben sich Bürger aus nahezu allen sozialstrukturellen Segmenten der Bevölkerung beteiligt, mit Ausnahme der Migranten. Die maßgeblichen politischen Akteure der Gemeinde. Diese Akteure, allen voran der Bürgermeister und der Stadtdirektor, hatten sich durch die Landesregierung übergangen gefühlt, da sie von dem Vorhaben auch erst aus dem lokalen Radio erfahren haben. Mit gutem Instinkt setzte sich das politische Personal sofort an die Spitze des Widerstands und verhinderte damit
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eine Kluft zwischen Bürgern und Politik, die sich spätestens – aber nicht nur da – bei den nächsten Kommunalwahlen deutlich hätte rächen können. All das, was wir im Folgenden noch als Kooperationskultur herausarbeiten werden, wäre unter den Bedingungen einer solchen konfrontativen Konstellation kaum möglich gewesen. Die Kirchen – insbesondere die katholische Kirche vor Ort. Sie ist auch Träger eines Krankenhauses, das in direkter Nachbarschaft der geplanten Forensik steht. Die Kirchenvertreter sahen sich in einem Zwiespalt, da man einerseits auf die christliche Moral verpflichtet war und somit durchaus Fürsprache für Straftäter erheben wollte, die offenbar keine Gemeinde bei sich dulden wollte. Andererseits war man auch auf Seiten der Kirche vor Ort empört von dem undemokratischen und respektlosen Vorgehen der Landesregierung sowie des Landschaftsverbands, der die Trägerschaft für die geplante Klinik innehatte. Dieser Punkt der Empörung und der negative Eindruck vom Planungsverfahren überwiegten letztendlich, so dass die Kirchenvertreter sich zwar um Versachlichung und um eine Begrenzung der Emotionen bemühten, gleichwohl eindeutig auf Seiten der Widerstandskoalition standen.
Diese drei Säulen – Bürgerinitiative, etablierte Politik und Kirche – entfalteten eine gut funktionierende Kooperation: Die Bürgerinitiative mobilisierte die Bürger und sprach ihr Vorgehen mit den politischen Eliten ab; die Kirche brachte ihr Gemeindenetzwerk ein und gab dem Ganzen noch einen akzeptablen moralischen Rahmen; die Politik schließlich gab Geld sowie logistisch-organisatorische Dienstleistungen und duldete auch mal Schulschließungen bei Protestveranstaltungen. Eine kritische, bei einer lokalen Oppositionspartei engagierte Bürgerin beschreibt die Strategie der Politik wie folgt: „Ich denke, das ist dann massiv eben auch gefördert worden, diese Bürgerinitiative dagegen. Zum Beispiel, weil da viele Gelder der Stadt auch rein geflossen sind. Die haben solche Sachen gemacht wie geduldet, dass Schulen keinen Unterricht machten, sondern zu Demonstrationen gefahren sind. Also, die haben das sehr stark mit getragen, diesen Protest gegen die Klinik. (…) Ein hoher Betrag zum Beispiel ist ja geflossen in ein... ich sage mal Gegengutachten, das waren, glaube ich, ungefähr 30.000 DM. Aber dann eben auch in solche Sachen wie Busse zu ordern und zu finanzieren, Besuch von Demonstrationen, und, wie gesagt, diesen ganzen Rahmen zu organisieren. Also, von daher schon auch nicht direkt an die Bürgerinitiative. Das denke ich, hätten sie nicht gewagt. Aber im Grunde zur Sicherstellung des Widerstandes. Und also, insgesamt habe ich eine Größenordnung im Kopf, so 70.000 bis 80.000 DM, die offiziell über den Rat dahin gegangen sind, auch verabschiedet worden sind, ich sage mal, neben dem, was sicherlich noch durch Zuarbeiten der Verwaltung geleistet worden ist“ (Tina Rasska).
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Wie viel Geld hier tatsächlich auch immer in welche Richtung geflossen ist, muss offen bleiben. In jedem Fall bleibt zu konstatieren, dass die links-kritische Bürgerin den Eindruck einer intensiven Kooperation zwischen Politik und Bürgerinitiative äußert. Auf der hier beschriebenen Kooperationskultur zwischen Bürgern, Politik und Kirchen konnten später auch andere bürgerschaftliche Engagementprojekte basieren. Diese Erfahrung, dass kollektives Handeln wichtige Dinge bewirken kann, hat nach Aussage vieler Beobachter und Beteiligter in der Stadt zu einer nachhaltigen Aktivierung geführt. Ganz im Sinne von Tocquevilles Ausführungen über die Kommunalpolitik als „Volksschulen“ der Demokratie150 bewirkte die erfolgreiche Aktivität einen Lernprozess, der auf das Handeln in anderen Feldern übertragen wurde. Seit der einschlägigen Bürgerinitiativforschung der 1970er Jahre gilt die Einsicht, dass Bürger aus Betroffenheiten heraus relativ leicht gegen bestimmte Dinge mobilisiert werden können, kaum aber für etwas. Dabei wurde übersehen, dass – wie im Fall unserer Kommune – ein solches „negatives“ Engagement gegen etwas auch leichter in „positives“ Engagement für etwas transformiert werden kann. Aber Tocquevilles Thesen werden noch an einem anderen Punkt des hier geschilderten Erweckungserlebnisses der Bürger von Kohlen berührt. Tocqueville hatte auf die „Lehre vom wohlverstandenen Interesse“ verwiesen, die in Amerika nahezu jedem Bürger zur Selbstverständlichkeit geworden sei (siehe Kap. 2.2.3). Sie beinhaltet die Verbindbarkeit von Eigeninteresse und Gemeinnutz, die eine wichtige Grundlage für eine aktive Bürgerschaft sei. Im Fall der Protestbewegung in Kohlen zeigt sich dieser Zusammenhang dergestalt, dass es zunächst durchaus auch egoistisch angelegte Motive waren, die zur Gründung der Bürgerinitiative führten. Es waren, wie oben beschrieben, zunächst vor allem Menschen aus einem dem Planungsgrundstück benachbarten Wohngebiet, die sich gegen das Vorhaben wandten. Dieses Viertel wird primär von gut verdienenden, oft akademisch gebildeten Bürgern bewohnt. Diese befürchteten nicht nur eine Minderung ihrer Lebensqualität durch die Forensik, sondern gegebenenfalls auch eine Wertminderung ihrer Grundstücke. Nüchtern konstatiert Pfarrer Kemper: „Bei so breit angelegten Dingen müssen Sie ja immer damit rechnen, dass da nicht immer ganz edle Motive eine Rolle spielen“. Wenn aber hier Menschen „auch durchaus aus egoistischen Gründen“ aktiv wurden, müsse dies nicht bedeuten, dass dadurch die Gemeinwohlnützlichkeit der Aktivitäten notwendig gemindert wurde. 150
„Die Gemeindeinstitutionen sind für die Freiheit, was die Volksschulen für die Wissenschaften sind; sie machen sie dem Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem friedlichen Gebrauch und gewöhnen es daran“ (Tocqueville 1985: 52).
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Dieses egoistisch motivierte Partialinteresse wurde auch von der restlichen Bevölkerung nicht moniert, sondern als legitimer Teil einer gemeinnützigen Aktion betrachtet. Das besondere Engagement der dortigen Bürger erschien als Teil einer gemeinwohlorientierten Bewegung, weil eben nicht nur das Wohnviertel, sondern der gesamte Schlosspark betroffen war. Daher akzeptierte man das Zusammengehen von Eigennutz und Gemeinnutz als eine Grundvoraussetzung des Erfolgs. Die gebildeten und einflussreichen Bürger konnten als legitime Repräsentanten der Gesamtbevölkerung auftreten, weil ihre Sonderinteressen mit der Wahrung des Gemeinwohls einhergingen.
5.2.2 Das Spektrum der Aktivitäten Die explorative Stadt-Studie zur Kommune Kohlen macht den Blick frei auf eine sehr reichhaltige, durchaus heterogene, aus Elementen der „klassischen“ wie der „neuen“ Bürgergesellschaft zusammengesetzten Landschaft des freiwilligen Engagements. Neben den drei Organisationen, die im Mittelpunkt der Untersuchung standen, wurde ein ganzes Spektrum von Organisationen und Akteuren als relevante Größen im Feld erkennbar. Es finden sich die konventionellen Ausprägungen des deutschen Vereinslebens, von den Sportvereinen und den Kaninchen- sowie Taubenzüchtern151 über die Siedlergemeinschaften bis zu den diversen Kulturvereinen. Diese klassische, vor allem im 19. Jahrhundert als selbstbewusste Organisationsform bürgerlicher Lebensformen und Interessen stark gewordene Institution stellt auch heute noch eine zentrale Partizipationsagentur im sozialen Leben deutscher Gemeinden dar 152. In Kohlen arbeiten im Erhebungszeitraum insgesamt nicht weniger als 478 eingetragene Vereine aus allen Gebieten, davon allein 99 Sportvereine. Die Sportvereine haben gerade in Sozialräumen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit an Relevanz zugenommen. Sie sind eine der wichtigsten Institutionen für das Polizieren des öffentlichen Raums geworden153. Jugendliche, die die Schule 151 Die Taubenzucht hat ja gerade im Ruhrgebiet in den Arbeiterschichten eine lange Tradition und wichtige Kulturbedeutung; vgl. dazu Soeffner (1990). 152 So ist der Organisationsgrad der jüngeren Generation auch heute noch im Bereich des Sportvereins sehr hoch, während die Beteiligung dieser Bevölkerungsgruppe in den anderen traditionellen Organisationsformen, etwa in Kirchen und Gewerkschaften, immer geringer wird; vgl. dazu Braun (2004 und 2007), van Bentem (2006) und Petermann (2007); vom ungebrochenen Trend zur VereinsPartizipation in Deutschland zeugen die Daten der seit 2001 veröffentlichten Vereinsstatistik (2001ff.); zum Vereinsleben in Deutschland aus sozialwissenschaftlicher Sicht siehe grundlegend Zimmer (1996). 153 Zum Aspekt des „Polizierens“ in modernen Gesellschaften siehe Reichertz (2007). Er definiert „Polizieren“ wie folgt: „Mit Polizieren (nicht zu verwechseln mit policing) ist also das gesamte staatliche, private, von Verbänden und Bürgerinitiativen getragene Handeln gemeint, das überregio-
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entweder schon beendet oder vorzeitig abgebrochen haben und noch keine Lehrstelle fanden, halten sich oft auf den Straßen auf. Sie langweilen sich und versuchen häufig, sich durch zweifelhafte Unternehmungen etwas „Action“ zu verschaffen. Sie pöbeln beispielsweise Passanten an oder betreiben diverse Formen von Kleinkriminalität. Der Sport schafft hier Ordnung im öffentlichen Raum, indem er die Jugendlichen „von der Straße holt“ und sinnvollen Tätigkeiten zuführt. Er vermag nicht nur die Langeweile zu vertreiben und durch körperliche Betätigung das Aggressionspotential zu kanalisieren, sondern auch den Tag zeitlich zu strukturieren. Für manche Jugendliche bietet er sogar soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Frank Schneider, der für das Bürgermeisteramt kandidierte (und später auch gewählt wurde) berichtet, dass er im Rahmen seiner Wahlkampagne nicht weniger als 100 Vereine in der Kommune aufsuchte und sich dort mit den Bürgern über ihre Anliegen, Interessen und Probleme unterhielt. Diese Vereine repräsentieren gleichsam den Kern des artikulierten Bürgertums in der Gemeinde. Vereinsmitglieder, insbesondere die Aktiven und die Funktionsträger, stellen in der lokalen politischen Welt besonders wichtige Multiplikatoren dar. Wer diese für sein politisches Projekt gewinnt, hat wichtige Schritte auf dem Weg eines erfolgreichen Wahlkampfes getan. Neben den „klassischen“ Vereinen im Bereich Sport, Kultur und Politik beherrschen die traditionellen Wohlfahrtsverbände sowie die Religionsgemeinschaften die Szene, nicht zuletzt auch die islamischen und orthodoxen Religionsgemeinschaften mit ihrem organisatorischen Vorbau. Interessant ist, dass diese Religionsgemeinschaften in Kohlen in einem ständigen, institutionalisierten Dialog, in Form von regelmäßigen Gesprächsrunden miteinander stehen. Ein gewisses Problem stellt dabei die Pluralität der türkischen Gruppierungen dar, deren Integrationsgrad gar nicht immer einfach zu bestimmen ist. So berichtet Bürgermeisterkandidat Schneider davon, dass einerseits eine bestimmte Gruppierung höchst aktiv in Erscheinung tritt, die Mittel für einen großen Moscheebau zusammenträgt und von der weltanschaulichen Ausrichtung her tendenziell fundamentalistisch einzuordnen ist. Auf der anderen Seite sind es genau die Kinder aus dieser Gruppierung, die das beste Deutsch sprechen und in dieser sprachlichen Dimension besser integriert sind als viele andere. Es hat den Anschein, als wenn gerade fundamentalistisch ausgerichtete Gruppen die Sprache als ein wichtiges Element sozialer und politischer Teilhabe wie Interessenartikulation sehr
nal, regional oder lokal auf die Erreichung und Erhaltung von Sicherheit zielt.“ (Reichertz 2007: 27). Wir verstehen den Begriff noch etwas breiter, indem er von dem Aspekt der (inneren) Sicherheit auf die Aufrechterhaltung von öffentlicher Ordnung insgesamt ausgedehnt wird.
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ernst nehmen154. Damit könnten möglicherweise, so zumindest eine Interpretation, paradoxe Effekte der Entfundamentalisierung in Gang gesetzt werden. Ein weiterer wichtiger Faktor von Bürgergesellschaft, der in herkömmlichen Darstellungen oft übersehen wird, sind die Schulen und Kindergärten der Stadt. Die Schulleiter in Kohlen sind oft die Initiatoren bürgerschaftlicher Aktionen. Diese umfassen beispielsweise das Fundraising für gemeinnützige Projekte des Dritten Sektors (z.B. „Sponsorenläufe“ mit Spenden für UNICEF) oder Aktionen wie „Kohlen putzt sich raus“, in der die Kohlener Bürger ehrenamtlich Müll von öffentlichen Flächen beseitigen. Interessant ist schließlich ein Projekt, das sich „offene Ganztagsgrundschule“ nennt. Der Schulleiter hat hier diverse Vereine und Organisationen in das Nachmittagsprogramm der Schule integriert. Für diese Unterstützung bekommen die Vereine gleichsam als Gegengabe wichtige Kontakte geboten, über die sich später Mitglieder und Freiwillige rekrutieren lassen. Auf das besondere Potential, das der Vernetzung von Schule und Bürgergesellschaft in Projekten des sogenannten „Service Learning“ innewohnt, wird in Kapitel 5.7 noch ausführlich eingegangen. Auch die Schulen und Kindergärten in der Stadt stehen in einem ständigen, institutionalisierten Austausch miteinander. In der Bürgergesellschaft von Kohlen gibt es, wie andernorts in der Republik auch, eine links-alternative Szene. Sie agiert als eine Art Gegenöffentlichkeit im Sinne der Habermasschen Theorie von Zivilgesellschaft (siehe Kap. 2.2.4). Diese Gegenöffentlichkeit hat in der Stadt durchaus Tradition. Schon in den 1970er Jahren gab es ein „Bürgerforum“, hervorgegangen zum Teil aus dem von einer Lokalzeitung initiierten „Leserparlament“, dessen Ziel es war, etwas Öffentlichkeit und Transparenz in die oft undurchschaubaren Entscheidungen des Stadtrats zu bringen. Das Bürgerforum regte vor allem Debatten über stadtplanerische Fragen an und unterbreitete Vorschläge. Zwischen Bürgerforum und konkreten Bürgerinitiativen gab es zahlreiche Vernetzungen und Kooperationen. Neben den Bürgerinitiativen brachte schließlich die Gründung der örtlichen Grünen zu Beginn der 1980er Jahre eine wichtige Institutionalisierung gegenöffentlicher Aktivitäten zustande, auch wenn heute der „Realo“-Flügel der Grünen die Kohlener Partei klar kontrolliert und die Verbindungen zur linken Szene deutlich schwächer ausfallen als früher. In der Mitte der 1990er Jahre kam es zur Bildung eines „Kohlener Aktionsbündnisses“, dessen Hauptstoßrichtung in der Arbeit gegen die aufstrebenden rechten und rechtsradikalen Gruppen bestand, die sich anschickten, auch in der Kohlener Kommunalpolitik mitzumischen. An diesem Aktionsbündnis waren neben linken Kleinparteien und den Grünen, einem Antifa-Bündnis und dem 154
Sighard Neckel hat am Beispiel der Interessenpolitik ethnisch definierter Gruppen in den USA den Zusammenhang von Interessenartikulation und Integration aufgezeigt; vgl. Neckel (1995).
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VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) auch Vertreter der Kirchen beteiligt. Öffentliche Aufmerksamkeit konnte man vor allem mit sorgfältig durchgeführten Aktionen der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gemeinde erringen. In Zusammenarbeit mit diversen Schulen und der örtlichen VHS gelang es, das Schicksal von Kohlener Juden oder von Zwangsarbeitern in das öffentliche Bewusstsein zu holen und diesen Prozess auch über Gedenktafeln im Stadtbild präsent zu halten. Die heutige Situation ist, gewachsen auf diesen Erfahrungen, durch eine starke Vernetzung der links-alternativen, gegenöffentlichen Szene gekennzeichnet. Das Personal kennt sich aufgrund früherer Aktionen untereinander gut, und man hat mit dem Netzwerk „Pro Kohlen“ ein gut funktionierendes Forum institutionalisiert, das dem Austausch und der Koordination dient. Nicht zuletzt betreibt man – ganz wichtig für eine gegenöffentliche Wirksamkeit – eine gemeinsame Pressearbeit. Werner Steiner, eine zentrale Figur der Szene, beschreibt „Pro Kohlen“ so: „Es gibt also regelmäßige Treffen von den Leuten, und da wird versucht, eigentlich zu allem auch das Einvernehmen herzustellen. Das heißt also, wenn einer sagt, ‚nee das möchte ich nicht’, dann lassen wir das. Sondern dann wirklich im Einvernehmen von allen... Und ich halte das eigentlich auch für ´ne gute Geschichte, weil man sich nämlich mit den Themen, mit den Sachen, die da kommen, auch auseinandersetzt“.
An diesem Forum beteiligt sind neben den Bürgerinitiativen (z.B. eine Initiative gegen eine große Müllverbrennungsanlage vor Ort) die Ortsgruppen der Umweltverbände BUND und NABU, das Antifa-Bündnis, der örtliche Flüchtlingsrat und ein Friedenskomitee. Über die Gründung einer kommunalpolitischen Liste war es „Pro Kohlen“ 2004 auch gelungen, einen Sitz im Stadtrat zu erringen und dadurch zusätzliche Möglichkeiten der Aufmerksamkeitsgenerierung in der kommunalen Öffentlichkeit zu erreichen. Interessant und in vieler Hinsicht typisch für die Kohlener Verhältnisse ist nun, dass neben den internen Vernetzungen in der linken Szene auch institutionalisierte Kommunikationszusammenhänge existieren, die szene- oder lagerübergreifend funktionieren. Dies gilt für ein Forum, das ebenfalls im Gefolge der Erfahrungen mit der erfolgreichen Bürgerinitiative entstanden ist. Das Forum beschäftigt sich primär mit Fragen der Stadtentwicklung. Hier finden sich neben Pfarrern, Politikern, Verwaltungsvertretern, Vertretern der Wohlfahrtsverbände und der Bürgerstiftung auch linke Aktivisten mit ehemaligen Mitgliedern der Anti-Forensik-Initiative zum Gespräch zusammen. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als es im Kontext der Forensik-Diskussion heftige Auseinandersetzungen zwischen der Initiative und den Sprechern der linken Szene gegeben hatte. Oben war ja schon auf die tumultartige Versammlung eingegangen wor-
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den, auf der Fürsprecher der Klinik bespuckt und bedroht worden waren. Später warf man sich gegenseitig Verantwortungslosigkeit vor und beschimpfte sich: Die einen wurden als autoritäre und intolerante Bürger in die rechte Ecke gestellt, die anderen quasi im Vorgriff für zu erwartende Verbrechen vor Ort beschuldigt. Von diesen Frontlinien ist im neuen Dialogzusammenhang nichts mehr zu spüren. So beschreibt Herr Steiner, eine Zentralfigur der linken Szene, den Dialogzusammenhang ausgesprochen positiv: „Wir haben uns einfach da zusammengesetzt und haben gesagt, ja, lass uns doch mal so was wie einen Bürgerstammtisch machen, wo wir uns dann einfach mal irgendwo treffen und über ganz bestimmte Probleme, die in Kohlen anstehen, mal unterhalten. Und das machen wir also jetzt ja schon zwei Jahre. Und ich muss sagen, das ist ein Kreis, der von den Menschen her sehr angenehm ist. Also, ich hab da immer meinen Spaß, muss ich sagen, also wirklich nette Leute. Und wir haben eigentlich auch ´ne ganze Menge da gemacht, so an Themen aufgearbeitet unter dem Motto: Wenn also junge Leute heute durch Kohlen laufen, was würden die sagen, was fehlt uns hier, ne? Oder, was weiß ich, wie schätzen die zum Beispiel ein, wie die leben, was die Wohnqualität hier angeht? Es sind also wirklich Fragen so querbeet durch Kohlen.“
Es komme, so der Bürger, gar nicht darauf an, dass unmittelbar irgendwelche Ergebnisse erzielt würden, sondern man wolle zunächst einmal eine öffentliche Diskussion über Probleme und Lösungsmöglichkeiten anstoßen. Entscheidend ist der gemeinsame Gesprächszusammenhang, gleichsam die „phatische“ Funktion von Kommunikation (Jakobson 1960), die Tatsache, dass man überhaupt miteinander spricht und dieses Miteinandersprechen auch als angenehm erlebt. Die positive Sicht des Gesprächszusammenhangs aus der linken Perspektive verbindet sich bei diesem Akteur übrigens durchaus mit einem ausgesprochen kritischen Blick auf die florierende ehrenamtliche Szene in Kohlen. Der gleiche Caritas-Vertreter, der im Kohlen-Dialog als kreativer Gesprächspartner hoch geschätzt wird, wird auf der anderen Seite für seine Aktionen im Bereich des Ehrenamts fundamental kritisiert: „Ich muss sagen, eigentlich müsste man Ehrenämter völlig abschaffen. Und zwar ganz einfach vor dem Hintergrund: die Ehrenämter, die decken heute die Lücken, die Risse in unserer Gesellschaft zu, und eigentlich halten gerade diese Risse, die halten eigentlich die Gesellschaft noch zusammen. So dass also nicht deutlich wird, was hier in der Tat eigentlich abläuft. Ich will das mal am Beispiel klarmachen. (…) Das war im Sozialausschuss, Peter Schmidt, Caritas, stellte ein Projekt für KohlenWest vor. In Kohlen-West gibt es heute kein einziges Geschäft mehr, das also die Nahversorgung der Bevölkerung garantieren kann. (…) So, und jetzt überlegt also die Caritas, so was wie ein Taxi, so´n Einkauftaxi zu organisieren, besetzt mit einem Ehrenamtlichen, der die Leute dann, gegen ein geringes Entgelt, der Sprit muss ja
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5 Ergebnisse auch bezahlt werden, und das Fahrzeug unterhalten, der gegen geringes Entgelt die Leute dann eben dahin transportiert, damit die was einkaufen können. Und da fängt also für mich der Wahnsinn des Systems eigentlich an“ (Herr Steiner).
Der „Wahnsinn“ besteht in den Augen des Interviewten darin, dass Ehrenamtliche die Schwächen des Systems ausbügeln und somit das System stabilisieren. Der Blick auf die strukturellen Probleme werde über die ehrenamtlichen Aktivitäten von Bürgern verhindert, die Artikulation von Unzufriedenheit vermieden und somit grundsätzliche Änderungen unmöglich gemacht. Das Ehrenamt, so die Perspektive, verhindert damit sozialen Wandel. Ein gesondertes Segment der linken Szene in Kohlen ist schließlich der feministische Bereich. Die Stadt weist eine besonders ausgeprägte Frauenszene auf, wie die Lokalredakteurin Susanne Simon betont: „Kohlen hat eine enorm starke Frauenszene, das wird also, bei Konferenzen von den Gleichstellungsbeauftragten ist das ganz oft erwähnt worden, dass die neidisch auf Kohlen gucken, was in Kohlen gemacht wird und was möglich ist, auch untereinander“.
So gibt es in Kohlen u.a. ein „Frauenparlament“ und in jedem Jahr die überregional beachteten „Frauenkulturtage“. Befragt nach den Gründen für eine normalerweise in einer Mittelstadt im Ruhrgebiet nicht unbedingt zu erwartende Stärke von feministischen Aktivitäten, verweist die Interviewpartnerin auf gemeinsame Aktivitäten über die Grenzen der Kirchen, Konfessionen und Parteien hinweg: „Hier haben eigentlich die Frauen immer miteinander geredet. Je mehr sie mit anderen Leuten oder mit Menschen anderer Denkrichtung reden, umso eher können sie feststellen, haben sie die Chance festzustellen, dass wir alle nicht so verschieden sind und dass uns oft die gleichen Probleme drücken. Das heißt, irgendwann in den achtziger Jahren haben eben auch die Kohlener CDU-Frauen und die Kohlener SPDFrauen festgestellt, dass sie innerhalb ihrer Parteien durchaus die gleichen Probleme haben (…)“ (Frau Simon).
Ähnlich, wenn auch etwas zeitverzögert, sei das bei den „konfessionellen Frauen“ abgelaufen, und mittlerweile existiere eine lebhafte Kooperation über alle Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg. Auch in Kohlen gibt es jedoch nicht nur „erwünschte“ Formen von bürgerschaftlichem Engagement, sondern auch unangenehme. Diese werden zumindest von dem offiziell akzeptierten, für legitim erachteten Spektrum der lokalen politischen Kultur heftig bekämpft. Evers, Putnam, Habermas und andere haben
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bereits auf derartige „dunkle Seiten“ von sozialem Kapital hingewiesen155. Gemeint sind hier konkret rechtskonservative, ansatzweise rechtsradikale Vereinigungen. Sie wollen mit populistischen, nationalistischen, zum Teil rassistischen Konzepten und einer Vorstellung vom starken, autoritären Staat so gar nicht in das übliche Bild der liberalen Zivilgesellschaft passen. In Kohlen bestand im Erhebungszeitraum eine gewisse Besonderheit darin, dass der Sprecher der rechten Gruppierung „Schill“156, die sich später „Probürger“ nannte, selbst eine Person mit Migrationshintergrund war. Sein politisches Wirken erscheint wie eine Art Überadaption von Normen, die der Akteur seiner Gesellschaft als Normalität unterstellt. Durch eine ebenso offensive wie vehemente Proklamation und Einforderung dieser Normen scheint er die eigene Integration in diese Gesellschaft forcieren zu wollen. Diese politisch unkorrekte Erscheinungsform von Bürgergesellschaft spielte in der Gemeinde nicht nur durch stramm rechtskonservative Ordnungskonzepte eine gewisse Rolle im öffentlichen Leben, sondern auch dadurch, dass dem etablierten Politikbetrieb immer wieder auf die Finger geschaut wurde. Wo es zu Fehlern kam, wo beispielsweise die SPD vier Tage zu früh ihre Plakate im Straßenbild platzierte, da wurde gleich Protest und Klage erhoben, um dadurch beim Wahlbürger Punkte zu sammeln und sich als Gegenkraft gegen den etablierten Politikbetrieb zu inszenieren. Eine wichtige politische Partizipationsform stellen die von der Stadt seit einiger Zeit initiierten „Zukunftswerkstätten“ dar, in denen politische Projekte der Kommune mit interessierten Bürgern diskutiert und beraten werden. Initiator der Zukunftswerkstätten ist die Kommune selbst. Im Jahr 1997 verabschiedete der Rat der Stadt ein Zukunftsprogramm, in dessen Rahmen dann die Werkstätten veranstaltet wurden. Themen waren solche der Stadtentwicklung, des Sports und der Schulen. Neben solchen konkreten Themen, zu deren Erörterung regelmäßig etwa 80 bis 100 Bürger zusammenkommen, hat es auch allgemeinere Diskussionsgegenstände gegeben, deren relative Abstraktheit offenbar die Kohlener Bürger nicht abschreckte. So berichtet der zu Beginn des Erhebungszeitraums amtierende Bürgermeister Karl-Heinz Albrecht euphorisch von einem „Werteforum“: „Das war für mich die spannendste Veranstaltung in letzter Zeit, wo wir Bürgerinnen und Bürger eingeladen haben um über Werte zu diskutieren, zu gucken, wie gehen wir damit um. Da waren hundertachtzig Leute, da mussten wir Stühle ranholen,
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Siehe dazu Kap. 2.5.3 und Kap. 3. Die Gruppe benannte sich nach dem bekannten Richter Ronald Barnabas Schill („Richter Gnadenlos“), der in der Hamburger Politik zeitweise sogar als Amtsträger das Innenressort leitete und zur neuen, charismatischen Leitfigur der bürgerlich-rechten Szene zu avancieren schien, bevor er durch eine Reihe von Affären und Skandalen zum Rücktritt gezwungen wurde.
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5 Ergebnisse und da waren Diskussionen. Jetzt will ich hier nicht überschwänglich werden, aber da bin ich selbst begeistert von der Zukunftswerkstatt“.
Zugleich macht der Bürgermeister jedoch auch klar, dass diese Werkstätten nicht nur wolkige Diskussionen über Werte beinhalten, sondern auch Partizipation der Bürger so ermöglichen, dass tatsächlich Einflussnahme auf städtisches Handeln erfolgen kann: „In den simplen, schlichten kommunalen Aufgaben für Sport haben wir jetzt die dritte Zukunftswerkstatt Sport gemacht. Und die Erste, da ging ´s darum, einfach mal zusammen zu kommen um zu gucken. Jetzt analysieren wir mal, was haben wir eigentlich, und welche Zielsetzungen, wo wollen wir hin? Daraus ist ein Planwerk entstanden, ein Sportentwicklungsplan. Dann haben wir eine zweite Veranstaltung gemacht, da haben wir die Vereine informiert, da haben wir geguckt, was erwartet ihr denn von uns, wo können wir euch helfen, ohne dass man gleich viel Geld investieren muss? So, und dann haben wir ´ne Dritte gemacht. In der Dritten ging es schon um ganz konkrete Sachen, was sollen wir jetzt wirklich machen? So. Und jetzt aktuell im letzten Monat hat der Rat der Stadt Kohlen sieben oder acht Sachen ganz konkret entschieden“ (Herr Albrecht).
Im Bereich der Schulen haben die Zukunftswerkstätten sogar zu dauerhaften Vernetzungen geführt: „Da machen wir jetzt, glaub ich, die fünfte Zukunftswerkstatt. Wenn Sie sich mal ansehen, was in Kohlen aus den Zukunftswerkstätten heraus zum Thema Schule entstanden ist: Wir haben eine Schullandschaft, die begreifen wir selber zum Teil gar nicht mehr. Da sagen die Leute von außen, dass so was bei euch möglich ist, ist völlig unvorstellbar. Also, bei uns ist das die Regel, dass die Schulleiter aller Kohlener Schulen sich regelmäßig treffen, und zwar nicht regelmäßig alle paar Jahre, sondern wirklich drei-, viermal im Jahr sich abstimmen“ (Herr Albrecht).
Dieses Konzept der Zukunftswerkstätten, das auch von den Bürgern als hilfreiches Instrument der Beteiligung angesehen wird, ist eingebettet in einen Weg, den die Stadt Kohlen auf dem Weg zur „Bürgerkommune“ beschreiten will. Damit ist nicht mehr nur die „bürgerfreundliche“ oder „bürgerorientierte“ Kommune gemeint, die im Rahmen des „Neuen Steuerungsmodells“ bei vielen Kommunalverwaltungen gepflegt wurde, sondern ein weitergehendes Konzept der Bürgeraktivierung und Bürgerbeteiligung. Die Bürger sollen nicht mehr als Kunden, sondern als Partner der Kommune verstanden werden. Es geht dabei zentral um „die Ermöglichung und Förderung von Bürgerengagement“, wie es in einer Rede des amtierenden Bürgermeisters heißt. Diese Dimension entspricht dem, was in der Forschungsdiskussion unter dem Etikett des „aktivierenden
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Staates“ diskutiert wird (vgl. Kap. 2.3). Dabei räumen die verantwortlichen Politiker durchaus ein, dass diese Perspektive der Bürgerkommune auch eine aus der Not geborene, nämlich der desolaten Finanzsituation der Stadt geschuldete Tugend darstellt. Neben den erwähnten Zukunftswerkstätten zählen zu den Aktivitäten, die in diesem Sinne von der Kommune gefördert oder angestoßen wurden bzw. werden:
eine Freiwilligenagentur (und später, nach dem Erhebungszeitraum, eine Vermittlungsbörse „sozial aktiv“ im Rahmen eines Seniorenbüros) eine Aktion „Kohlen putzt sich raus“, in der Müll von öffentlichen Grünflächen durch Bürger entfernt wird Spielplatzpatenschaften Aktivitäten im Rahmen der lokalen Agenda 21 Der Bürgerpreis der Stadt Kohlen: Mit diesem Preis wird seit dem Jahre 2001 bürgerschaftliches Engagement in fünf Kategorien gewürdigt: Sport, Kultur, Soziales, Umwelt/Umweltschutz und Zivilcourage/Toleranz/Eintreten gegen Rechts. Die Kommune trägt mit dieser in der Bevölkerung hoch angesehenen Auszeichnung der Erkenntnis Rechnung, dass viele engagierte Bürger für ihre Tätigkeiten zwar keine monetäre Entschädigung erwarten, wohl aber eine symbolische Gratifikation in Form von öffentlicher Anerkennung zu schätzen wissen157. Dabei ist es nur zum Teil die direkte Anerkennung in Form des Preises, die zählt. Mindestens ebenso wichtig ist das Gefühl, dass die Menschen im eigenen Umfeld diese Ehrung wahrnehmen158.
Die Kohlener Vereinslandschaft wird trotz der Haushaltslage der Stadt weiterhin massiv finanziell gefördert. Dies geht nur deshalb, weil die Förderung nun nicht mehr durch die Stadt direkt, sondern durch Betriebe wie die Stadtwerke erfolgt, bei denen die Stadt die Mehrheit der Anteile hält. Die Betriebe sind aufgrund ihrer erwirtschafteten Überschüsse zu diesen Leistungen an die Vereine noch fähig. 157
Siehe dazu bereits Vogt (1997: 327ff.); auch die von Deutschen Bundestag eingerichtete EnqueteKommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland“ betont aufgrund der Beratungen und der vorliegenden Gutachten, dass eine „Kultur der Anerkennung“ als sinnvolle Infrastruktur der Engagementförderung zu betrachten sei; vgl. Olk (2001). 158 Ein typisches Beispiel ist die Aussage der interviewten Preisträgerin, gelernten Friseurin und derzeitigen Hauswartin Beate Eckel: „Ich kam dann hier die Straße runter gefahren, große Plakate.... da haben die hier, also so hinter meinem Rücken, so alles Mögliche aufgebaut und... dann haben sie mir Karten geschenkt für die Kastelruther Spatzen und all noch so ´n Lob, also ich war so was von gerührt. Ich hab mitten auf der Wiese gestanden und geheult.“
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Auch die Gründung der Kohlener Bürgerstiftung wird vom damals amtierenden Bürgermeister als eigenes Verdienst reklamiert, wobei man dieser Interpretation sicher mit einer gewissen Vorsicht gegenüberstehen muss. Richtig ist in jedem Fall, dass die Stiftung von der Stadt unterstützt wurde und wird. Wie stark schließlich der bürgerschaftliche Habitus in der Stadt auch jenseits kommunaler Förderung entwickelt ist, zeigt eine ungewöhnliche Initiative einiger Kohlener Bürger. Als das Kinocenter in der City aufgrund von mangelndem geschäftlichen Erfolg schließen wollte, wurde man aktiv. Vor allem mit Hilfe von selbstkonzipierten Filmreihen mit Begleitprogramm, die vergleichsweise großen Zuspruch in der Bevölkerung fanden, konnte man das Management zum Weitermachen bewegen. Nicht nur Staatsversagen, so ließe sich dieser bemerkenswerte Prozess interpretieren, sondern auch Marktversagen wird in Kohlen durch bürgerschaftliches Engagement zumindest teilweise kompensiert.
5.3 Die Motive des Engagements Es gibt einen zentralen Befund hinsichtlich der Motive von freiwillig engagierten Personen. Dieser lautet, dass die typische Konstellation über alle Unterschiede in Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen hinweg ein Mix ist aus altruistischen und egoistischen, gemeinsinnigen und nutzenorientierten Motiven. In der Terminologie der Wertwandelsforschung ausgedrückt, handelt es sich um eine Kombination aus Pflicht- und Akzeptanzmotiven einerseits sowie Selbstverwirklichungsmotiven andererseits159. Dies gilt auch über die Grenzen der verschiedenen Organisationen hinweg, d.h. in der „alten“ wie in der „neuen“ Bürgergesellschaft nahezu gleichermaßen. Kaum ein Akteur inszeniert sich heutzutage als reiner Altruist oder Gemeinsinnträger.
5.3.1 Christliche Nächstenliebe Differenzen werden dann jedoch in der Gewichtung deutlich. Die älteren Aktiven nennen in den Interviews zunächst einmal Verpflichtungszusammenhänge. Thomas Bach, ein protestantischer Pfarrer, der im Kontext der Kirche mehrere Projekte leitet, fasst diese Orientierung auf Pflicht mit der Formulierung „ein gewisses Preußentum“ anschaulich zusammen. Weitergehend lässt sich hier formulieren: ein christlich motiviertes „Preußentum“, eine Kombination, die ja im Übrigen gerade im Zusammenhang mit der protestantischen Kirche in der 159
Siehe dazu vorne Kap. 2.4 sowie die Befunde bei Klages (1999) und Meulemann (2001: 197).
5.3 Die Motive des Engagements
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deutschen Geschichte eine lange, nicht immer unproblematische Tradition vorweisen kann. Wie lässt sich die Dimension der Verpflichtung nun genauer inhaltlich füllen? Vor allem bei den christlich geprägten Aktiven im Kontext des CaritasVerbandes wird immer wieder auf die Norm der „Nächstenliebe“ verwiesen. Schließlich stellt der lateinische Begriff der „Caritas“ auch eine Übersetzung von Nächstenliebe dar. Ein typisches Beispiel für eine solche karitativ-christliche Motivation bietet Brigitte Wagner, eine Aktive, die über ihren Beruf als Krankenschwester in den Kontext der Caritas kam und seit vielen Jahren dort beruflich wie ehrenamtlich aktiv ist. Sie beschreibt, dass schon die frühe Berufswahl bei ihr aus der Norm der Nächstenliebe heraus motiviert war: „Eben in diesen Bereichen war das sicherlich damals auch, als man noch jung war, schon so ein Motiv, überhaupt Krankenschwester zu werden. Das denk ich mal, waren früher häufiger die Motive, das war ja auch ein schlechtbezahlter Beruf, und der hatte ja auch überhaupt kein Ansehen und so weiter. Früher waren die Schwestern, die wurden teilweise auch die ‚Karbolmäuschen’ genannt, die Schwestern waren halt eher, sag ich jetzt mal, die, die man sich vorstellte mit Bettpfannen und Urinflaschen. Ja, also die hatten nicht so ´n besonderes Ansehen. Also das war, sag ich jetzt mal, eigentlich mehr damals auch ein Motiv, Leuten zu helfen. Christliche Nächstenliebe oder so, wobei das sich im Laufe der Jahre jetzt zu einem richtigen, eigentlich auch gut bezahlten Beruf doch entwickelt hat, ne?“ (Frau Wagner)
Diese Norm der Nächstenliebe blieb dann auch später für das ehrenamtliche Engagement leitend. Frau Wagner verweist in diesem Zusammenhang auf einen früheren Caritas-Geschäftsführer in Kohlen, nach dem nun auch eine eigene Stiftung benannt wurde. Dieser habe vorgelebt, was Nächstenliebe sei: „Also Willy Wolff, wenn man überhaupt von Nächstenliebe sprechen will, dann stand der sicherlich unter allen Menschen, die ich kennen gelernt habe, an oberster Stelle.“ Das Motto dieses Vorbilds – „Wenn keiner zuständig ist, dann bin ich zuständig“ – hat sie als eigenen Leitspruch übernommen.
Christliche Motive von Buße und Himmelreich kommen bei einer anderen, älteren Dame zur Geltung. Sie hat schon während ihrer früheren Tätigkeit als Hausfrau und Mutter von drei Kindern ehrenamtlich gearbeitet, etwa KommunionUnterricht für Kinder gegeben oder in kirchlichen Gremien mitgearbeitet. Nun, im Rentenalter engagiert sie sich bei Krankenbesuchsdiensten und in einer Caritas-Gruppe, in der Demenzkranke und deren Angehörige unterstützt werden. Frau Hoffmann beschreibt ihr ‚Kalkül’, das hinter der ehrenamtlichen Arbeit steht, wie folgt:
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5 Ergebnisse „Vielleicht denk ich mir manchmal auch, Pluspunkte zu sammeln. Jeder macht im Leben nicht alles richtig, und dass ich durch diese Tätigkeit vielleicht Lebensfehler irgendwie in anderer Form gut machen kann. Und wenn ich mal anklopf’ ans Himmelstor, dann möchte ich, dass Petrus mich erkennt…“
Das Ehrenamt als Möglichkeit der Buße für eigene Sünden und die damit dann verbundene Hoffnung auf einen Platz im Himmelreich, das sind die Motive, die diese Akteurin – neben anderen – dazu motivieren, die mühselige Arbeit der Demenzbetreuung auf sich zu nehmen. Ein weiteres Beispiel formuliert Regina Becker, die Ehefrau eines höheren Verwaltungsmitarbeiters der Kommune. Sie hatte nach der Heirat und mit den ersten Kindern ihre Berufstätigkeit aufgegeben, da sie – in eigenen Worten – nunmehr auch in einer „Versorgungsehe“ lebte, wie dies viele Frauen früher taten. Frau Becker führt als Begründung für ihr Engagement „christliche Motive“ an, sie handele „aus dem Glauben heraus“. In ihren Ausführungen wird deutlich, wie sich im christlichen Zusammenhang die Erfüllung einer Gewissensnorm als Leitmotiv abbildet. Wenn man Gutes tut, dann fühlt man sich wohl: „Eigentlich deshalb macht es mir Freude, und das brauch ich auch. Sonst ist mir auch nicht gut. Könnte ich gar nicht ohne. Ja, dass ich so das Gefühl hab, ach, hast doch auch mal wieder was bewirkt, so für andere, und das tut mir einfach gut. Tut mir einfach gut. Mach ich richtig gerne“ (Frau Becker).
Eine angenehme, als gelungen erlebte Existenz ist bei diesen Akteuren, die sich selbst in christlichen Verpflichtungszusammenhängen verorten, nur dann zu verwirklichen, wenn man die Norm der Nächstenliebe aktiv erfüllt. Das eigene Wohlbefinden ist von der Normerfüllung abhängig. Man kann diese Form des christlich motivierten Altruismus natürlich auch als eine bestimmte Form nutzenorientierten Handelns interpretieren. Die Förderung des eigenen Wohlbefindens liegt genuin im Interesse der jeweiligen Akteure. Sie fühlen sich besser, wenn sie die Gewissensnorm erfüllen. Dennoch lässt sich eine solche Motivlage sinnvoll von der hedonistischer oder rational kalkulierender Akteure abgrenzen. Die gerade angeführte Frau Becker führt sogar eine Art Konversionserlebnis an, um ihren Verpflichtungszusammenhang genauer zu erläutern: „Also ich war auch mal vor zehn, elf Jahren mal ordentlich krank, und danach hat sich eigentlich so ´n bisschen was gewandelt in meinem Denken. Dass ich dachte, ach du musst doch ´n bisschen mehr so an deine Mitmenschen denken. Und danach ist es eigentlich verstärkt gekommen, das muss ich schon sagen, ja, ja. Also diese Dankbarkeit, die ich danach eigentlich immer noch habe, und dass ich es auch nicht vergesse, dass es mir gut geht.“
5.3 Die Motive des Engagements
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Die erfahrene Krankheit, die Erfahrung, dass das eigene Lebensglück letztlich doch immer prekär bleibt, hat die Frau zu einem verstärkten Engagement geführt, das von der Jugendarbeit bis zur Spendenakquisition für Bedürftige in Rumänien reicht. In diesem Zitat scheint ein Motiv auf, dass von vielen, vor allem älteren Akteuren immer wieder genannt wird: Dankbarkeit. Man lebt ein vergleichsweise gutes Leben, weiß, dass es nicht allen Menschen in der Gesellschaft so geht und wird daher von einem Dankbarkeitsgefühl zu seinen Aktivitäten motiviert. Dabei muss dieses Gefühl der Dankbarkeit nicht auf Gott oder auf einen christlichen Kontext überhaupt bezogen sein. Es kann sich auch auf die Gesellschaft beziehen, die dem Akteur beispielsweise über den zweiten Bildungsweg ein Studium oder Wohlstand und einen interessanten Beruf ermöglicht hat. So führt der Gatte, Peter Becker, aus: „Also, wir wollen ein bisschen was davon zurückgeben. Mir geht ´s beispielsweise so, ich habe so ein schön abgesichertes Leben gehabt, und ich hab viel Gutes von der Gesellschaft erfahren. Und wenn man dann irgendwo im gesetzten Alter von dreiundsechzig ist, wenn man sagt, nun kannst auch ´n bisschen tun, immer da, wo man noch ´n bisschen was zurückgeben kann“ (Herr Becker).
Das Motiv der Dankbarkeit ist ebenfalls altruistisch einzustufen, auch wenn es auf den ersten Blick der nüchternen Logik des Gabentausches folgt: Man hat etwas erhalten und ‚zahlt’ es jetzt zurück. Entscheidend ist, dass ja niemand dazu gezwungen wird, ‚zurückzuzahlen’. Viele Bürger leben in großem Wohlstand, ohne ein solches Verpflichtungsgefühl zu hegen. Es muss also jenseits des rationalen Gefühls eine Norm hinzukommen, die es gebietet, für erfahrene Wohltaten im Gegenzug selbst wohltätig wirken zu sollen. Der christliche Sozialisationskontext in Familie, Schule und organisatorischem Milieu (Kirche, christliche Verbände und Vereine) ist dabei durchaus bedeutsam, denn ältere Aktive beispielsweise in der Arbeiterwohlfahrt führen solche altruistischen Motive deutlich weniger an und fordern viel schneller den für sie bei der Tätigkeit herauskommenden Nutzen ein. Es handelt sich bei diesen Verpflichtungszusammenhängen scheinbar nicht um eine reine Generationenfrage, sondern auch um eine Frage der vermittelten Normen. Dies wird deutlich in den Ausführungen der Pädagogin Monika Braun, die zahlreiche Aktivitäten von Freiwilligen betreut und koordiniert. Sie unterscheidet zwei Gruppen von Freiwilligen, die in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt werden. Die einen entstammen dem christlichen Milieu, die anderen dem traditionellen, materialistisch orientierten Arbeitermilieu: „Also ich glaube erst mal, grundsätzlich gibt´s Unterschiede. Bin ich Christ, und sage einfach, ich mach das aus Nächstenliebe, oder bin ich Nicht-Christ und mach das
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5 Ergebnisse aus irgendwelchen anderen Gründen. Also, da gibt´s Unterschiede. Wir sehen da sehr starke Unterschiede bei unsern beiden Gruppen. (…) Ich sag das hier wirklich unter der Hand, ne? Ja, …also, wir haben ja auch AWO-Frauen. Und das ist ´ne andere Gruppe, muss man wirklich sagen. (…) Die einen wollen viel mehr kriegen dafür. Da gab es dann mal Gutscheine zum Geburtstag, über einen bestimmten Betrag, und auch zu Weihnachten, und das ist schon ganz schlecht. Da, da ist auch so ´ne Erwartungsmentalität: was bekomm ich zurück? Aber jetzt mehr auf der materiellen Ebene, glaub ich. Ja, und wenn´s das nicht mehr gibt, dann hör ich auf“ (Frau Braun).
Die Beobachtungen lassen sich sicher nicht ohne weiteres verallgemeinern. Interessant ist aber schon, dass auch ein weiterer AWO-Mitarbeiter, Herr Schmitz, betont, dass „seine“ Freiwilligen recht schnell die Motivation zur Mitarbeit verlieren, wenn sie sehen, dass andere für derartige Tätigkeiten Geld bekommen. Solche Beobachtungen verweisen auf Differenzen, die mit den Faktoren Alter bzw. Generation allein nicht zu erklären sind. Das bedeutet aber letztlich nicht, dass die christlich motivierten Freiwilligen immer nur altruistische Motivationen berichten würden. So berichtet die eine Dame, dass sie in einer Gruppe zur Betreuung von demenzkranken Personen wichtiges Wissen für die Pflege eigener Angehöriger gewonnen habe. Andere berichten über wertvolle Geselligkeitskontexte, die fast als Familienersatz fungieren, und dritte erhoffen sich eine spätere Zusage in einem Pflegeheim ihrer Wahl bei der Caritas. Und dennoch spielt die Norm der Nächstenliebe in diesen Interviews die Hauptrolle. Der Dienstgedanke, der sich mit den klassischen Pflicht- und Akzeptanzwerten verbindet, kommt in der Beschreibung von Gertrud Schumacher, einer Betreuerin von Ehrenamtlichen, noch einmal deutlich zum Ausdruck. Auch in dieser Beschreibung findet sich ein biografisches Konversionserlebnis wieder, das der Aktive immer wieder erwähnt, wenn er nach seinen Motiven für sein Engagement gefragt wird: „Der Karl war selbständig. Der Karl Höltken musste aktiv den 2.Weltkrieg miterleben. Und der hat gesagt, wenn ich gesund aus dem wieder rauskomme, dann engagiere ich mich für junge Leute. Und das hat er auch immer gemacht. Der hat also Ahnung und hat auch ein gutes Händchen, seine Erfahrung an uns weiterzugeben. Ich habe die Zeit, als ich freiwillig mit ihm gearbeitet habe, sehr genossen. Und wenn die Chemie stimmt zwischen ihm und einem Jugendlichen, dann klappt das auch. Ansonsten ist er einer derjenigen, die meinen: ‚Ehrenamt muss weh tun. Und ich mache das ja, um in den Himmel zu kommen’.“
Die Formulierung „Ehrenamt muss weh tun“ zeigt, dass hier nicht Spaß und Freude gesucht werden, sondern ein Dienst, um eine Schuld abzuarbeiten oder
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einer Pflicht nachzukommen. Der Asketismus, das Leiden gehört zentral zu diesem Dienst dazu. Die Belohnung, darauf weist die interviewte Pädagogin in ihrer lockeren Art hin, liegt in einer anderen Welt, im erhofften Seelenheil, nicht in einem zählbaren Nutzen im Diesseits.
5.3.2 Republikanismus Bei einigen Akteuren stehen im klassischen Sinne gemeinnützige, „republikanische“ Motive in der Tradition von Machiavelli bis Barber im Vordergrund (vgl. Kap. 2.2.1). Für diese Personen gehört es zum Selbstbild, dass sie in bürgergesellschaftlichen Institutionen für andere Menschen, die dazu nicht fähig scheinen, „Sprachrohr“ sind und das Gemeinwohl der Stadt fördern. Sie führen eine öffentliche Existenz in dem Sinne, dass sie an exponierter Stelle agieren und sich in die öffentlichen Angelegenheiten ihrer Stadt einmischen. Diese Personen haben meist früher schon in anderen Kontexten gemeinnützig gearbeitet (Kirchengemeinde, Bürgerinitiative, „Bürgerparlament“, Politik). Das Engagement erscheint als Moment eines republikanischen Identitätsentwurfs, als Moment einer Vita Activa im Sinne Hannah Arendts (1960), wie er vor allem in der traditionellen Theorie von Bürgergesellschaft als tragendes Fundament der politischen Gemeinschaft angesehen wurde. Die Dimension des Republikanismus als Identitätsmuster zählt Bürgertugend und Gemeinsinn zu den konstitutiven Bestandteilen einer gelungenen Existenz. In der Biografie der Aktiven stellt das Engagement daher auch keineswegs einen Bruch, eine Konversion oder einen Neubeginn dar, sondern die Fortschreibung von Mustern, die bereits seit langer Zeit wirksam sind. Das klassische republikanische Muster lässt sich bei Wolfgang König beobachten, einem pensionierten Schuldirektor, der sich schon während seiner aktiven Berufsarbeitsphase immer wieder in Initiativen engagiert hatte und nun, im Ruhestand, noch verstärkt freiwillig aktiv wurde. Er beschreibt seine Beweggründe so: „Und wie gesagt, ich hab mich immer sehr für Politik interessiert und hab also immer wieder festgestellt, dass die Politik doch nicht alles abdeckt. Und da ist wirklich bürgerschaftliches Engagement gefragt, ne? So ohne wird es nicht gehen. Und man kann nicht immer auf die Versäumnisse der Politik schimpfen. Das bringt uns nicht ´n Millimeter weiter. Das tu ich zwar auch, aber es bringt uns überhaupt nicht weiter. Weiter bringt so das, was wir jetzt wirklich tun. Und da denk ich mal, wenn ich irgendein winziges Mosaiksteinchen im großen Gebilde bin, auch wenn davon dann viele, viele zusammenkommen, dann kriegt es Konturen und ebnet sich zu einem Ganzen.“
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Herr König benennt zunächst einmal eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Akteure überhaupt politisch aktiv werden können: das Interesse an der Politik. Diese Form der „Bürgerkompetenz“ (Münkler 1997) muss vorhanden sein, damit überhaupt ein relevanter Bezug zu den Geschehnissen hergestellt werden kann. Ohne politisches Interesse gibt es kein politisches Handeln. Der zweite, entscheidende Schritt vollzieht sich dann, wenn man als Bürger das politische Handeln nicht – bis auf wenige Dinge wie das Wählen von Repräsentanten – delegiert. In der modernen, repräsentativen Demokratie ist das System darauf angelegt, dass die meisten Menschen sich auf die Delegation politischen Handelns beschränken und nur wenige Bürger in die Rolle des Aktivisten schlüpfen. Der Republikanismus dagegen sieht es als konstitutiv an, dass man selber aktiv wird. Und genau dies wird in den Äußerungen von Herrn König deutlich, wenn er sagt, es reiche nicht auf die Politik zu schimpfen, sondern man müsse selbst etwas tun. Interessant ist, dass der Akteur die Rolle, die er „im großen Gebilde“ spiele, hier zunächst sehr gering bemisst. Er spricht von einem „Mosaiksteinchen“, um zu verdeutlichen, dass nur im Zusammenspiel mit vielen anderen Akteuren etwas erreicht werden kann: „wenn viele, viele zusammenkommen“. Diese Perspektivik, die das Bild des „kleinen Rädchens“ variiert, wird in der direkt anschließenden Passage gleich als ein Understatement moduliert. Wolfgang König fügt nämlich hier an, dass er ein ganz so kleines „Mosaiksteinchen“ nun doch nicht ist: „Ich bin übrigens in der Bürgerstiftung, das sollte ich auch vielleicht noch erwähnen, auch in einer Pflicht. Ich bin Stiftungsratsvorsitzender. Und das bringt natürlich auch noch ´n bisschen Arbeit mit. Also Stiftungsratsvorsitzender, das können Sie – der simpelste Vergleich wäre aus der Wirtschaft, das ist der Aufsichtsratsvorsitzende. Der Stiftungsrat ist also das Gremium, was dann im Großen entscheidet, während die Alltagsarbeit natürlich vom Vorstand geleistet wird.“
Hier wird deutlich, dass Wolfgang König in einer Führungsposition tätig ist, und es soll auch deutlich werden, denn zur Veranschaulichung führt er den Vergleich zum Aufsichtsratsvorsitzenden in einem Wirtschaftsunternehmen an. Zwar wird der Modus des Understatements nicht ganz verlassen („’n bisschen Arbeit“), aber klar zur Geltung kommt doch der Stolz, auch gestalten zu können, an einflussreicher Stelle bürgerschaftlich aktiv zu sein. Rhetorisch geschickt versteht es Herr König sogar, die eigene Position über der des Vorstands anzusiedeln, da dieser die „Alltagsarbeit“ verrichte, während der Stiftungsrat für das „Große“ zuständig sei. Es wird hier deutlich, dass der Führungshabitus, den der Akteur sich während seiner aktiven Zeit als Schuldirektor angeeignet hat, nun auch im bürgerschaftlichen Engagement zum Tragen kommt, und dass dies durchaus mit Lust und Stolz praktiziert wird.
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Bei all dem darf ein elementar republikanisches Element nicht übersehen werden, das diese Form des politischen Handelns von reinen Formen der Selbstverwirklichung abgrenzt: das Moment der Pflicht. Wenn Herr König formuliert, er sei „in der Pflicht“, dann ist das auch so gemeint. Man kann sich dieser Pflicht nicht je nach Laune und Gelingen auch entziehen, sondern man muss dort seine Arbeit verrichten, dass diese eben nicht an die Politik delegierbar ist. Die Anteilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, an der res publica, ist in der lokalen Bürgergesellschaft immer auf die Stadt bezogen. Die Stadt erweist sich hier tatsächlich, wie in Tocquevilles Analyse der amerikanischen Demokratie herausgearbeitet wurde, als zentrale Bezugsgröße. Ein typisches Beispiel für diesen lokalen Republikanismus bietet Susanne Simon, die folgendes ausführt: „Wenn ich sage, wir müssen etwas tun für eine Stadt oder für ein Land oder wie auch immer, dann müsste ich für mein Gefühl mich bei der kleinsten Einheit einschalten und einsetzen, und von da aus kann ich dann vielleicht nach oben wirken. Und das heißt, die Leute die in dieser Stadt leben, die müssen sich um diese Stadt kümmern. Das muss Pflicht sein, eigentlich.“
Hier wird deutlich, dass die Kommune als Dreh- und Angelpunkt des Engagements gesehen wird, von dem aus man dann vielleicht auch weiter „nach oben“ Einfluss nehmen kann. Im Zentrum steht dann der klassische republikanische Begriff der „Pflicht“, dessen normativer Gehalt auch in dem Modalverb „müssen“ zum Ausdruck kommt: „die müssen sich um diese Stadt kümmern“, und zwar unabhängig davon, ob sie dazu gerade Lust haben, sich „Spaß“ erhoffen oder irgendeinen anderen Nutzen für sich selbst. Die Pflicht gilt zunächst einmal unbedingt. Interessant ist dabei die gewählte Formulierung mit dem nachgeschobenen „eigentlich“. Sie deutet schon darauf hin, dass die Akteurin um den normativen Charakter ihrer Äußerung weiß, dass ihr klar ist, dass viele real existierende Menschen anders denken. Dieses Auseinanderklaffen von gewünschter Norm und realem Verhalten vieler Menschen wird in einer Erzählung der Akteurin aus ihrem Berufsalltag als Journalistin sehr anschaulich beschrieben. Die Erzählung zeigt, dass es in der Kommune oft mangelt an der Bereitschaft der Menschen, eigenverantwortlich zu handeln und die Lösung von Problemen nicht an übergeordnete Institutionen wie den Staat abzugeben: „Mich hat eine Frau empört angerufen hier in der Redaktion und hat mir gesagt, es ist unglaublich, vor ihrem Haus steht eine Bank und diese Bank wird von Jugendlichen immer benutzt und verdreckt. Weil die sich nämlich nicht da ordentlich drauf setzen, sondern die setzen sich auf die Lehne und stellen ihre Füße auf die Bank
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5 Ergebnisse drauf und versauen die so. Und sie hätte schon mal beim Ordnungsamt angerufen und überall, und kein Mensch käme und würde diese Bank sauber machen, und jetzt sollten wir bitte kommen und das fotografieren und das in die Zeitung setzen. Und dann hab ich mir das angehört und hab geschluckt und war spontan so sauer, sonst hätte ich das einer Leserin der Zeitung so nie gesagt. Ich war aber spontan so sauer, dass ich gesagt habe: Ja und warum gehen sie da nicht hin und machen die Bank sauber? Da war die natürlich völlig knatschig am Telefon, und ich hab dann versucht, in meiner Rolle als Redakteurin, das Gespräch so halbwegs im Einvernehmen wieder auslaufen zu lassen und ihr zu erklären, dass aber vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen wäre, sofort nach Polizei oder wem auch immer und Ordnungsamt zu rufen. Aber das ist was, was mich ungeheuer nervt. Und das hat mich, das hat auch nie aufgehört mich zu nerven, diese Haltung“ (Frau Simon).
Die kritisierte Haltung macht deutlich, worin die Differenzqualität der republikanischen Vorstellung selbstorganisierter Bürgergesellschaften besteht. Wenn es einen Bedarf an öffentlicher Ordnung gibt, dann ruft der engagierte Bürger nicht nach dem Staat oder seinen Ordnungsorganen, sondern er nimmt das „Polizieren“ selbst in die Hand. Oder, bezogen auf das Projekt der Bürgerstiftung in der Kommune: wenn es in der Stadt ein Problem mit hoher Jugendarbeitslosigkeit gibt, dann wartet man nicht, bis staatliche Arbeitsmarktpolitik dieses Problem löst, sondern man baut selbst einen Bauernhof auf, der Schulabbrechern eine Chance bietet, in eine Ausbildung und später in einen Arbeitsplatz zu gelangen. Im Grunde entspricht das Beispiel mit der verschmutzten Bank genau Tocquevilles vergleichender Betrachtung vom alten Europa und von Amerika. Während der klassische Europäer nach der Obrigkeit ruft, organisiert der Amerikaner sich in einem Verein oder Verband und versucht das Problem selbst zu lösen160.
5.3.3 Lokalpatriotismus und wohlverstandenes Eigeninteresse Ein wichtiges Pflichtmotiv ist, wie schon deutlich wurde, dabei der Lokalpatriotismus, die Bindung an die heimatliche Stadt. Die oben geschilderte Bürgerinitia160
Eine Gruppe von hunderttausend Menschen hatte sich in Amerika gemeinsam zum Verzicht auf Alkoholkonsum bekannt und hatte damit eine ungeheure öffentliche Wirkung erfahren. In Frankreich, so Tocqueville, hätten all diese Menschen sich als vereinzelte Privatpersonen an die Regierung gewendet, um vor den Gasthäusern Wachen aufzustellen (Tocqueville 1985: 253). Der dezentralselbstgesteuerte Weg des amerikanischen Gruppenpluralismus dagegen wirkt über sozialen Einfluss innerhalb der Bevölkerung selbst. In mancher Hinsicht lässt sich, um ein aktuelles Beispiel heranzuziehen, die erfolgreiche Anti-Nikotin-Politik in den gegenwärtigen USA ähnlich erklären: Nicht Regierungsverordnungen, sondern eine immer wieder von neuem vorgetragene, beharrliche Öffentlichkeitspolitik von Gruppen und Verbänden hat so weit in die Bevölkerung hineingewirkt, dass die Akzeptanz zumindest für das öffentliche Rauchen immer deutlicher abnahm.
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tive, die gleichsam als Erweckungserlebnis zu einer Aktivierung der Kohlener Bürgerschaft geführt hatte, war ja auch als eine Art Trotzreaktion des Bürgerstolzes zu verstehen. Man hatte das Gefühl, die ‚Obrigkeit’ wolle hier eine vermeintlich passive, wenig gebildete Bürgerschaft überrumpeln, nach dem Motto: Mit denen können wir es machen. Aus dem Gefühl heraus, diesen Angriff erfolgreich abgewehrt zu haben, erwuchs neues Selbstbewusstsein, das sich nun offensiv als Identifikation mit der Stadt artikulierte. Die Lehrerin Erika Meier führt anschaulich vor, wie sich Lokalpatriotismus in Kohlen artikuliert. Sie bezeichnet sich selbst als „Urgestein“: „Ich bin hier geboren, war zum Studium weg und bin sofort wieder hierher zurückgekommen“. Sie bekennt sich offen zu ihrer Gemeinde und kritisiert heftig diejenigen, die an der Stadt immer etwas herumzumäkeln haben. Der konfessionelle, bekenntnishafte Ton prägt weite Teile des Interviews: „Ich bin gerne Kohlenerin, ich lebe gerne in Kohlen, ich fühl mich auch wohl in Kohlen. Ich kann auch nicht hören, nicht gut hören, wenn man sagt, Kohlen ist keine schöne Stadt. Kohlen ist eine, Gott sei Dank, noch lebendige Stadt. Wenn jemand sagt, also in Kohlen ist nix los, dann, dann schwillt mir schon der Kamm. Wenn ich möchte, kann ich in Kohlen jeden Tag was erleben. Ich benutze also zum Beispiel auch sehr gerne die kulturellen Angebote, einfach auch um Flagge zu zeigen“ (Frau Meier).
Diese letzte Formulierung macht klar, worum es geht. Die Frau sagt, sie nutze die kulturellen Angebote, um „Flagge zu zeigen“. Flagge zeigen heißt, sich zu bekennen zur Heimatstadt. Nicht der Kulturgenuss steht hier im Vordergrund, sondern eine Art „demonstrativer Konsum“161 von Kulturgütern, mit dem man den Wert der eigenen Stadt unter Beweis stellt. Immer wieder kritisiert Frau Meier das „Meckern“ anderer Bürger, die nur destruktiv wirkten, anstatt selbst Hand anzulegen, um die Dinge zu verbessern. Auch hier zeigt sich der bürgerschaftliche Habitus darin, dass man nicht auf Hilfe von außen oder von ‚oben’ wartet, sondern Probleme eigenständig löst: „Und ich erlebe das ja auch in Elterngesprächen, wenn man dann schon mal sagt, Leute, wir brauchen dies und jenes, und die Schule hat kein Geld, und der Putz fällt von den Wänden. Dann wird auch in erster Linie gemeckert. Dass man dann sagt, nee, lasst uns doch anpacken. Und damit ich nicht nur sage, lasst es uns anpacken, ich muss mich ja an meinen eigenen Taten messen lassen. Ich kann nicht von andern erwarten und selber nichts tun. Und deshalb mach ich’s“ (Frau Meier).
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Zum demonstrativen Konsum als Muster der sozialen Distinktion vgl. schon die Beobachtungen von Thorstein Veblen (1986: 83f.).
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Die Akteurin führt hier genau das vor, was die Frau aus der Lokalredaktion oben an ihrer Leserin kritisiert hatte. Lokalpatriotismus heißt also konkret: anpacken statt meckern. Interessant ist, dass die Lehrerin deutlich hinweist darauf, dass es auch so etwas wie einen Stadtteilpatriotismus gibt. Sie macht dies deutlich am Beispiel eines Pfarrers, der in ihrem Stadtteil – einem der besser gestellten, bürgerlichen Stadtteile in Kohlen, mit einer „gesunden Mittelschicht, die ´n bisschen denken kann, die ´n bisschen handeln kann“ – eine Aktion der bürgerschaftlichen Aktivierung durchgeführt hatte. Diese hatte sich ganz explizit auf den Stadtteil bezogen: „Da hat er kurzerhand im Gottesdienst jedem, der da war, fünfzig Mark in die Hand gedrückt und hat gesagt: So, und jetzt geht mal los Leute, nach einem Jahr möchte ich gerne das Geld wieder haben, und seht mal zu, dass ihr ´s vermehrt nach diesem Gleichnis mit den Talenten. Es war ein durchschlagender Erfolg. Das hat ´s ja noch nie gegeben. Der hat auch nicht Buch darüber geführt, wem hab ich jetzt fünfzig Mark in die Hand gedrückt. Der eine oder andere Fünfzig-Mark-Schein mag dadurch verloren gegangen sein, aber viel mehr hat natürlich gezählt: die Leute haben sich hingesetzt, die eine Oma hat gestrickt, die Kinder haben gebastelt, der Kirchenchor hat gegrillt und verkauft und was weiß ich nicht alles. Es wurde wirklich ganz viel in Einzelaktionen gemacht“ (Frau Meier).
Eine solche Aktion, die ja auf einem enormen Vertrauensvorschuss basiert, führt innerhalb des Stadtteils zu großer Aufmerksamkeit. Sie nimmt auch einen Wettbewerbscharakter an, da hinterher bilanziert wird, wer das Geld wie stark vermehrt hat. Ein solcher sportiver Aspekt bringt dann auch Spaß und Spannung in einen Zusammenhang, der sonst durch trockenes Fundraising geprägt ist. Erika Meier berichtet darüber hinaus von einer weiteren Aktion: „Die zweite Aktion, die er jetzt gerade abgeschlossen hat, die betraf dann tatsächlich den gesamten Stadtteil. Das hat er hervorragend hingekriegt, da hat er nämlich von dem Umweltfonds, Umweltausschuss des Kirchenkreises, hat er Geld bekommen. Fünfundzwanzigtausend Euro, glaub ich waren´s. Und dann hat er, aber auch wirklich jeden in Blumen [maskierter Name des Stadtteils, die Verf.] bedacht. Parteien, Vereine, katholisch, evangelisch, Schule, Kindergarten, Händler, jeder hat Geld bekommen. Auch wieder, vermehrt eure Talente, war die Überschrift. Und nach einem Jahr, war jetzt vor, vor drei Wochen der Abschlussgottesdienst, jeder musste sein Scherflein zurück bringen. Also wir als Schule haben natürlich auch Geld bekommen, denn wir, die Blumener Grundschule sind die Nutznießer. Der hat nämlich gesagt, was könnte man machen, was ganz Blumen aktiviert, was auch für ganz Blumen wieder Gutes bringt.“
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Ziel solcher Aktionen ist hier erkennbar nicht nur das Spendensammeln. Es geht vielmehr auch darum, Diskussionen anzuregen, die Kreativität der Bürger anzuspornen und insgesamt den Grad der Aktivierung zu steigern. Zugleich wird das Wir-Gefühl im Stadtteil verstärkt, da die Gemeindemitglieder am Ende stolz waren, an einer solchen erfolgreichen Aktion beteiligt zu sein. Über die Presseberichterstattung wurde schließlich auch das Ansehen des Stadtteils in der Gesamtkommune erhöht. Das lokalpatriotische Motiv, das auch als Movens lokalpolitischen Engagements eine große Rolle spielt162, ist vornehmlich bei den älteren Aktiven vorzufinden; für die Jüngeren scheint die Dimension kaum relevant zu sein. Allerdings sollte auch nicht übersehen werden, dass Lokalpatriotismus im Sinne eines wohlverstandenen Eigeninteresses grenzüberschreitend zwischen Gemein- und Eigennutz steht. ‘Etwas für die Gemeinde tun’ verbindet sich häufig mit dem Stolz auf den heimatlichen Kontext, ein Aspekt, der für die Bürger gerade in der von uns untersuchten, ökonomisch darniederliegenden Stadt durchaus wichtig ist. Das ausgeprägte bürgerschaftliche Engagement wird als Chance gesehen, die Kommune trotz der ökonomischen Schwäche, trotz Abwanderung und hohem Anteil von Sozialhilfeempfängern als einen Zusammenhang zu profilieren, auf den man stolz sein kann. Auf diese Weise kann der einzelne Akteur als Angehöriger des Kollektivs assoziativ partizipieren an einem anerkannten Kontext. Man fühlt sich gut, weil man Teil einer bürgerschaftlich aktiven und daher öffentlich anerkannten Kommune ist. Dieser Mechanismus des wohlverstandenen Eigeninteresses funktioniert nicht nur bei der Bezugsgröße Stadt oder Stadtteil, sondern auch in einzelnen Siedlungen. Es gibt in Kohlen das bekannte Beispiel eines großen Wohnblocks im Hochhausstil der siebziger Jahre, der über lange Zeit als städtische Problemzone galt. Irgendwann hat das dort lebende Hausmeisterpaar Beate und Dieter Eckel begonnen, dort in Eigeninitiative zu polizieren und den gesamten Block im Laufe vieler Jahre so zu verändern, dass er jetzt als eine Art Vorzeigeprojekt in der Stadt gilt. Man bewarb sich sogar um den Preis der „schönsten Siedlung“ in Kohlen und errang dabei einen Sonderpreis. Wie sehr bei solchen Projekten das wohlverstandene Eigeninteresse mitspielt, zeigt das Beispiel des Kinderspielplatzes. Den Eckels war es mit viel Mühe und unter Nutzung diverser Kontakte gelungen, einen neuen Spielplatz für den Wohnblock errichtet zu bekommen. Mit dieser Errichtung war aber das Problem noch nicht auf Dauer gelöst, denn der Spielplatz muss auch in Ordnung gehalten werden:
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So die Befunde bei Schubert (2002).
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5 Ergebnisse BE: „Ja, und dann wurde das schön gebaut und es wurde auch ganz toll, und dann haben die Leute gefragt, wie lange soll das jetzt halten, dieser tolle Spielplatz? Also, mussten wir uns was einfallen lassen, und dann…“ DE: „Dann hattest du die Idee mit den Patenschaften.“ BE: „Mit den Patenschaften. Dann habe ich einige Familien gefragt, wer hätte Interesse mit auf den Spielplatz aufzupassen? Und da hatten sich gleich zwölf Familien gemeldet. Und dann haben wir den Spielplatz schön eingeweiht, da wurde ein Fest gemacht. (…) Jede Woche ist ´ne andere Familie dran, und dann Quartalsweise, so dass also immer für drei Monate jeder genau weiß, wann er dran ist. Morgens wird der Spielplatz aufgeschlossen, der ist ja umzäunt mit ´nem Schloss dran, und abends bei Einbruch der Dunkelheit wird´s abgeschlossen, und die Familie die dran ist, guckt dann auch mal grob nach, ob die Spielgeräte in Ordnung sind, ob irgendwo Scherben liegen. Und ansonsten sind alle Spielplatzpaten dafür verantwortlich, ne, und da machen wir so einmal im Monat oder nach Bedarf ´ne große Reinigungsaktion.“ BE: „Ich mein, wir hatten schon alles eigentlich gut vorgearbeitet, so die ganzen Jahre jetzt, ne?“ DE: „Es geht ja um deren Kinder.“ BE: „Und das waren ja die eigenen Kinder, die da spielten und die waren auch alle irgendwie sofort bereit“ (Eheleute Eckel).
Dort, wo die Beteiligten unmittelbar sehen können, dass ihr Tun auch ihnen selbst bzw. ihren Kindern zugute kommt, lassen sie sich sehr schnell für Aktivitäten gewinnen, die auch anderen als ihnen selbst zugute kommen. Das wohlverstandene Eigeninteresse in diesem, Tocquevilleschen Sinne ist eine ganz wichtige Schnittstelle zwischen Gemeinnutz und Eigennutz in der kommunalen Bürgergesellschaft. Ein zentraler Aspekt bei der Betrachtung der altruistischen, gemeinnützigen Motivlagen ist schließlich der, dass auch bei den entschiedendsten Verfechtern von Nächstenliebe oder republikanischer Bürgerpflicht der Altruismus immer gepaart ist mit einem klaren Bewusstsein von den persönlichen Gewinnen, die man dabei erzielen kann. Es war geradezu beobachtbar, dass man den Eindruck einer eindimensional altruistischen Motivation bei den Interviewern unbedingt vermeiden wollte – vielleicht, weil ein solches Image in der gegenwärtigen Sozialwelt unglaubwürdig oder zumindest altfränkisch anmuten würde. Deutlich wird dieser Zusammenhang bei der oben schon angeführten Journalistin Susanne Simon, die ganz ausführlich über Pflichten und die Norm des eigenverantwortlichen Handelns gesprochen hatte. Sie betont später: „Also ich möchte auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ich irgendetwas tue in meinem Leben, was ungeheuer selbstlos ist. Das ist es nämlich alles nicht. Also, das ist auch so eine Stiftungsarbeit nicht. Das ist auch ´ne gemeinnützige Arbeit für mich nicht. Das heißt, das was ich tue, ist immer was, was ich für mich in erster
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Linie tue. Ich tu das ja für mich. Mir macht das Spaß mit anderen Menschen zusammen zu sein und zu arbeiten. Mit denen zu arbeiten, etwas zu tun, was irgendwie sinnvoll, zweckmäßig oder erheiternd oder glücklich machend ist. Und das betrifft ja in erster Linie erst mal mich“ (Frau Simon).
5.3.4 Materialismus Damit ist der Übergang von den gemeinnützigen zu den eigennützigen Motiven markiert. Der materielle Kapitalertrag lässt sich in der Bürgergesellschaft besonders schwer fassen, weil ein direktes Entgelt in aller Regel nicht üblich ist, wenn man einmal von den sogenannten „Aufwandsentschädigungen“ für bestimmte Ehrenämter absieht. Ralf Dahrendorf hatte bürgerschaftliches Engagement genau dadurch definiert, dass man tätig ist, „ohne dass es einem vom Staat befohlen wird und ohne dass man damit Geld verdienen muss“ (Dahrendorf 1999: 102). Diese Abwesenheit einer Bezahlung schließt aber nicht aus, dass man ökonomische Vorteile aus seinem Engagement ziehen kann. Nur ist dies empirisch zum Teil schwer dingfest zu machen, weil es sich hier oft um indirekte Effekte handelt und weil die Akteure über derartigen Nutzen auch eher ungern sprechen, da ihm doch immer noch der Geruch des Illegitimen anhaftet. Allerdings konnten wir in der vorliegenden Studie die Beobachtung machen, dass heutzutage schon offener über konkrete Vorteile kommuniziert wird. Wenn die Akteure über ihre Motivation zum Engagement in der Bürgergesellschaft sprachen, haben sie immer auch auf erwartbare und schon realisierte Gewinne verwiesen. Die Palette reichte von ganz konkreten Vorteilen bis zu abstrakten Dingen, die den „Horizont erweitern“ oder die Selbstverwirklichung fördern. So erzählt auf der einen Seite Joachim Reiter, der als Freiwilliger der Caritas öfters für alte Leute Fahrdienste übernimmt, dass diese sich dann mit kleinen Gaben bedanken und er diese Gaben auch gern annimmt: „Ja, dass sie sich bedanken und dass sie einem dann ein Scheinchen zustecken, sagen wir mal, als Entgelt. Und das nehm´ ich auch an, ja. Ich hab also jetzt von jeder Dame zehn Euro bekommen für diese Woche. Und eine Tafel Schokolade noch dabei, oder auch schon mal ´ne Flasche Wein oder so was“ (Herr Reiter).
Der Begriff des „Entgelts“ verweist darauf, dass die materiellen Gaben hier durchaus als eine zwar nicht marktadäquate, aber doch legitim erwartbare Bezahlung für die freiwillige Leistung angesehen werden. Die Werteinstellung des Akteurs erscheint ganz klassisch „materialistisch“, und er hat auch kein Problem damit, dies offen zu sagen.
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In der gleichen Dimension liegt die Aussage von Inge Krämer, die – ebenfalls im Rahmen der Caritas – demenzkranke Patienten betreut. Hier bezieht sich der erwartbare materielle Gewinn auf die biografische Phase des Rentenalters. Interessanterweise wird im Abschlussbericht der Enquete-Kommission zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements empfohlen, auf der finanziellen Ebene nur die tatsächlichen Aufwendungen abzugelten, aber keine weitergehenden Erträge wie z.B. „Rentenpunkte“ für die Freiwilligen einzuführen, da sonst eine zu große Nähe zur Erwerbsarbeit hergestellt werde (Enquete-Bericht 2002: 6). Dennoch wird im Kontext großer Organisationen immer wieder die Perspektive solcher „Rentenpunkte“ aufgebracht. Daher hatte auch Frau Krämer in der letzten Zeit immer aufgeschrieben, welche ehrenamtlichen Tätigkeiten sie verrichtet hat: „Es hat durch die KFD163 eine Möglichkeit gegeben, und das ist im letzten Jahr sogar noch ganz groß propagiert worden von der Familienministerin, dass man eben aufschreiben soll, wie viel im Ehrenamt geleistet wird, und es soll ja irgendwann bei der Rente mit berechnet werden.“ Dies hat die Dame auch gemacht und zu ihrer Diözese nach Münster gemeldet, auch wenn sie skeptisch bleibt, ob sich dies irgendwann wirklich einmal in der Rentenleistung niederschlagen wird: „Das Geld ist nicht da, ich seh´ das ganz realistisch. Die können alle viel reden, ich kann das ruhig aufschreiben… ich hab´s mal für ein Jahr gemacht, es ist albern…“ (Frau Krämer).
Diese Formulierungen sind interessant insoweit, als sie zum einen verdeutlichen, dass ungeachtet der Skepsis die Tätigkeiten doch aufgelistet und weitergeleitet wurden. Die Erwartung, es könnte vielleicht doch ein materieller Vorteil dabei herausspringen, ist also durchaus da. Gleichzeitig ist die kommunikative Darstellungsfunktion im Interview präsent, wenn Frau Krämer nachschiebt „es ist albern“. Sie entschuldigt sich gleichsam für etwas, was vom Außenbetrachter entweder als naiv oder als illegitim wahrgenommen werden könnte. Zum anderen wird in der gleichen Passage des Interviews darauf verwiesen, dass die Akteurin sich dennoch für später einen konkreten Vorteil erhofft, auch wenn die Rente nicht erhöht werden sollte: „Ich könnte mir vorstellen, dass mir Dinge passieren im zwischenmenschlichen Bereich, weil man sich ja auch kennt. So dass also eine Caritas sagt, wir haben jetzt hier einen Platz frei, und wir wissen, sie haben so viel geleistet, wir kennen sie gut, wir nehmen sie auf. So, ne?“ (Frau Krämer).
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Gemeint ist hier die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands, der mit etwa 620.000 Mitgliedern zurzeit größte Frauenverband und auch der größte katholische Verband Deutschlands.
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Was hier etwas euphemisierend mit „im zwischenmenschlichen Bereich“ bezeichnet wird, zielt letztlich auch auf ganz konkrete Gewinne, nämlich auf einen späteren Pflegeplatz. Frau Krämer erhofft sich, dass sie eher als andere, nicht aktive Menschen eine Chance auf einen Platz im Heim ihrer Wahl haben wird – als Gegengabe für ihre jetzt erbrachten Leistungen für die Caritas. Solche „materialistischen“ Erwartungen sind keineswegs nur auf die ältere Generation beschränkt. Auch die Jüngeren sehen ihre freiwillige Tätigkeit durchaus verknüpft mit Erwartungen von konkreten Vorteilen. Ein typisches Beispiel ist Patrick Fuchs, 22 Jahre alt, der in verschiedenen Kontexten für die Kirchengemeinde und für die Caritas tätig war und ist: „Aber, also wir, wenn wir so in St. Anna sind, man merkt das einfach schon, man hat einfach Vorteile dadurch. Wir haben das Jugendheim, wenn irgendwie was ist, auch von uns privat, kann man das mal auch mit nutzen. Das Material, das einfach da ist, das Equipment jetzt, sei ´s Bierzeltgarnituren, Pavillons und so, was ja für manche einfach schon ´n großer Akt ist. Und wir haben ´ne starke Gemeinschaft. Wenn jetzt irgendwas mal so ist, jetzt zum Beispiel ein Umzug oder so, dass einer auszieht oder so, es sind sofort zwanzig Leute da, die helfen können. Und, ja, was mir persönlich einfach noch wichtig ist, gibt so der Kontakt zu den Kindern. Und wenn man sieht, dass die Spaß daran haben, auch so grade im Ferienlager oder so, ja dann reicht mir das eigentlich schon. So wenn man da irgendwie so´n Lächeln sieht in den Kinderaugen oder so, dann ist das für mich eigentlich schon wieder Motivation genug.“
Das Interview zeigt, wie einerseits die konkreten Vorteile sehr offen benannt werden. Auch das, was hier als „starke Gemeinschaft“ bezeichnet wird, ist nicht primär unter dem Aspekt eines Gemeinschaftsgefühls relevant, sondern unter dem Aspekt konkreter Hilfeleistungen, die man sonst teuer bezahlen müsste. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft, nach Bourdieu (1983) eine Form des sozialen Kapitals, zahlt sich aus in konkreten materiellen Vorteilen. Andererseits werden jedoch auch schnell nichtmaterielle „Gewinne“ wie die Erfahrung von Freude und Dankbarkeit durch die betreuten Kinder erwähnt. Damit kann der Außeneindruck vermieden werden, der Akteur sei von einer zu egoistischen Motivation angetrieben. Dankbar leuchtende Kinderaugen, das ist geradezu ein Topos als gesellschaftlich anerkanntes Motiv ehrenamtlicher Tätigkeit, und deshalb wird dieses Motiv den materiellen Vorteilen zumindest zur Seite gestellt.
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5.3.5 Kulturelles Kapital: Bildung und Qualifikationsgewinne Die freiwillige Tätigkeit ist in aller Regel mit dem Erwerb von kulturellem Kapital verbunden. Die Engagierten lernen etwas bei ihren Tätigkeiten, und sie können derartige Qualifikationsgewinne in der eigenen Alltagswelt nutzen. Dies gilt sowohl für den privaten Bereich als auch für die Berufswelt – letzteres haben ja auch die zahlreichen Unternehmen begriffen, die Mitarbeiter ganz bewusst für eine Zeitspanne freistellen, um Ehrenämter wahrzunehmen. Der Profit des Unternehmens besteht dann darin, dass die Mitarbeiter mit neuen Fähigkeiten in ihre Arbeitstätigkeit wieder zurückkehren. Viele Freiwillige motiviert dieser Zusammenhang zu ihrem Engagement. Der Qualifikationsaspekt ist vor allem für die jüngeren Freiwilligen von großer Bedeutung. Diese Beobachtung machen viele Betreuer, die Projekte leiten, in denen Jugendliche ehrenamtlich tätig sind. Kulturkapital wird dabei nicht nur in der inkorporierten Form relevant, also als Wissen oder Fähigkeit. Auch die objektivierte Form des Kapitals kann in der Biografie von jungen Erwachsenen eine große Rolle spielen, wenn es beispielsweise um einen Studienplatz geht. So berichtet Patrick Fuchs aus eigener Erfahrung: „Also in Bochum und in Münster gucken die natürlich, wenn man alles, wie ich jetzt, alles im katholischen Bereich gemacht hat, mit der Jugendarbeit und so, klar dass sie mich natürlich dann wahrscheinlich lieber nehmen, ist klar. Wenn man so diese Bewerbungsunterlagen sieht, dann steht dann schon ganz klar, erkennt man schon ziemlich schnell, wer viel gemacht hat so im ehrenamtlichen Bereich oder kirchlichen Bereich und, klar ist das förderlich.“
Bianca Krause, eine Abiturientin, hat bei ihrer Suche nach einem Studienplatz ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie hatte sich mehrfach erfolglos bei kirchlichen Fachhochschulen beworben und war bislang noch nicht angenommen worden. Sie berichtet: „Ich hab dann bei meiner Bewerbung geguckt, für die Fachhochschule, warum die mich bisher noch nicht angenommen haben, was ich in diesem Bewerbungsbogen noch nicht erfüllt habe. Und dann war halt da: freiwillige ehrenamtliche Mitarbeit, bei der Diakonie oder ähnlichen. Dann hab ich mich bei der Diakonie gemeldet, kann ich was bei euch ehrenamtlich machen? Und wie gesagt, das läuft jetzt grade an.“
Die Mutter kommentiert diese Strategien von Fachhochschulen und auch von Verbänden, die immer häufiger ehrenamtliche Tätigkeiten als Voraussetzung für den Erwerb einer bezahlten Stelle definieren, folgendermaßen:
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„Und es ist ja schon fast ein Ausnutzen von Notlagen, wenn ich das mal so hammerhart sagen darf. Dass sich junge Leute, die für sich schon klar haben, einer Berufsperspektive entgegenzugehen, denen zu sagen: und du verpflichtest dich jetzt hier freiwillig mitzuarbeiten, und dann gucken wir mal, ob du den festen Job kriegst, ne?“ (Frau Krause).
Neben solchen Tätigkeiten, die man in Form eines Zeugnisses als objektiviertes Kulturkapital direkt in bestimmte Vorteile ummünzen kann, suchen viele Freiwillige auch inkorporiertes Kulturkapital in Form von nützlichen Qualifikationen. Das gilt keineswegs nur für die Leitungstätigkeiten, in denen man lernt, öffentlich aufzutreten, Personal anzuleiten, Verhandlungen zu führen usw. Auch bei untergeordneten Tätigkeiten lernt man Dinge, die man in der eigenen Alltagswelt verwenden kann, beispielsweise Pflegetechniken, die in der Altenbetreuung vermittelt werden und die man dann in der Familie zum Einsatz bringen kann. Dieses Motiv wurde beispielsweise in einer Gruppe der Caritas bei mehreren Damen erwähnt, die Demenzkranke und ihre Angehörigen betreuen. Sie berichteten, dass die Fortbildungskurse sinnvolles Wissen bereitstellen, um mit bestimmten Krankheiten besser umgehen zu können. Und auch bei den älteren Aktiven zeigt sich eine interessante Doppelstruktur. Zum einen ist es das nützliche, anwendbare Wissen, das man als inkorporiertes Kulturkapital erwirbt, beispielsweise das Know How der Pflege von Menschen. Zum anderen aber kommt auch hier dem zertifizierten Wissen, dem objektivierten Kulturkapital ein erheblicher Stellenwert zu: „Ja, da gab ´s ja ´ne spezielle Ausbildung mit einem Praktikum im Altenheim, Referenten, Arzt, Gesprächsführung, das haben wir alles gelernt. Also, da haben wir schon ganz viel Wissen über Demenzkranke bekommen, wie wir damit umgehen, dass wir sie da abholen wo sie stehen. (…) Ja, und dann wurde ich noch mal von der Caritas angeschrieben, hab ich noch mal ´ne Fortbildung mit Zertifikat gemacht, um pflegende Angehörige Demenzkranker zu entlasten“ (Frau Hoffmann).
Entscheidend ist hierbei die Fortbildung „mit Zertifikat“. Dies kann allerdings nicht wie bei den Jüngeren als Kapital bei der Ausbildungs- und Arbeitssuche eingesetzt werden. Diese älteren Damen suchen keinen Einstieg in die Berufsarbeit. Stattdessen erfüllt das objektivierte Kulturkapital eine andere Funktion: Es beglaubigt eine Qualifikation und wird so zum Kristallisationspunkt von Anerkennungsprozessen. Dieser Aspekt ist vor allem bei den Vertretern einer Kriegsgeneration relevant, die aus äußeren Umständen heraus nicht in der Lage war, bestimmte Ausbildungen zu machen. Für diese Menschen stellt die Bürgergesellschaft Möglichkeiten zur Verfügung, solche nicht vorhandenen Chancen in einem anderen Rahmen nachzuholen. Wie wichtig das für die Akteure sein kann,
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zeigt sich in kleinen Details: Frau Hoffmann hat sich ihr bei der Caritas erworbenes Zertifikat in ihrem Wohnzimmer an die Wand gehängt. Es ist damit nicht nur in ihrer eigenen Alltagswelt visuell präsent, sondern kann auch allen Besuchern im Wohnzimmer vorgeführt werden, ohne dass man es jeweils umständlich (und ‚aufdringlich’) heraussuchen muss. Gertrud Schumacher, die in leitender Stellung in der Freiwilligenagentur wirkte, beschreibt den motivierenden Qualifikationsgewinn und seinen Nutzen für die eigene Alltagswelt anschaulich wie folgt: „Ich hab unheimlich viel in meiner Freiwilligen-Zeit gelernt. Also, wenn ich mich daran erinnere, als unsere Emma zum Gymnasium gekommen ist, vor etlichen Jahren, und ich Pflegschaftsvorsitzende geworden bin, wie sehr ich mich aufgeregt habe, Lampenfieber hatte, wenn eine Pflegschaftssitzung war, und man musste eine Sitzung leiten. Das ist mir sehr, sehr schwer gefallen. Aber durch die Tätigkeiten der Freiwilligenagentur, dadurch, dass du eine Sache erzählen darfst, von der du überzeugt bist, hab ich für meinen Ausdruck sehr viel an Sicherheit gewonnen. War dann auch nicht immer sofort beleidigt, wie das früher war, wenn einer gesagt hat: Booh, so’n Scheiß oder so, da wusste ich dann, wie ich dann anzufangen hatte: Erklär mir mal, warum ist das denn so ein Scheiß? Bei manchen hab ich gelernt: Da lässt du das einfach ruhen, das Thema, aber bei manchen hab ich gemerkt: Die haben das gesagt, um mich zu provozieren oder aus der Reserve zu bringen“ (Frau Schumacher).
Die Bürgergesellschaft wird hier also zu einem Ausbildungs- und Übungsfeld, deren Erträge man dann in vielen anderen Kontexten durchaus verwerten kann. Frau Schumacher hat nach eigenen Angaben eine Menge gelernt während ihrer Tätigkeit als Leiterin der Freiwilligenagentur: etwa Konzepte zu entwickeln, mit Amts- und Verbändevertretern zu verhandeln, Fundraising, öffentliches Auftreten, angemessene Präsentation und sprachliches Formulieren sowie der effektive Umgang mit den Vertretern der Presse. Sie selbst bilanziert wörtlich: „Es hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt. (...) Wenn man freiwilliges Engagement unter dem Aspekt Weiterbildung betrachtet, hab ich sehr viel gelernt“. Diese Qualifikationen konnten später durchaus gewinnbringend eingesetzt werden, als sie sich unter anderem an einer Fundraising-Agentur beteiligte und für das Land NRW ein größeres Projekt im Bereich Bahnhofspatenschaften vorbereitete, das später mit gut bezahlten Tagessätzen von um die 600 Euro anlief. Der Erwerb von inkorporiertem Kulturkapital ist insgesamt eine relevante Dimension von freiwilliger Tätigkeit. Man tut etwas, und man lernt etwas dabei. Gertrud Schumacher ist mittlerweile sogar hauptamtlich auf einem von der Stiftung gegründeten Jugendhof tätig und kann dort ihre in früheren Aktivitäten gewonnenen Fähigkeiten direkt umsetzen. Die Weiterqualifikation hat hier tatsächlich zu einem bezahlten Job geführt.
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Dies ist aber keineswegs der einzige „Verwertungszusammenhang“ von Bildungsgewinnen. In der Stiftung, vor allem auf den aktiven Positionen in Gremien oder auf dem Hof, sind in aller Regel gut gebildete Akteure tätig, die schon ein erhebliches Quantum an kulturellem Kapital mit einbringen können. Worum aber geht es dann? Was ist etwa das Motiv bei einer gestandenen Ärztin, die über Jahrzehnte erfolgreich in einem Beruf tätig war, der eine hochqualifizierte akademische Ausbildung zur Voraussetzung hat? Die Stiftungsvorsitzende Angelika Wirtz hat, nachdem sie anfänglich eine halbe Stelle mit ihrem ehrenamtlichen Engagement verbunden hatte, ihren Beruf ganz aufgegeben, um sich der Stiftungsarbeit zuzuwenden. Die Investition ist also hier ganz erheblich, auch wenn man in Rechnung stellen muss, dass diese Frau den größten Teil ihres Berufslebens ohnehin schon hinter sich hatte. Dennoch ist es bemerkenswert, dass hier ein üblicherweise als sehr wichtig empfundenes Feld des Gelderwerbs und der Identitätsbildung freiwillig verlassen wurde. Was also glaubt Frau Wirtz dafür zu bekommen? Sie führt aus: „Ich hab viel gelernt durch viele Außenauftritte, die wir hatten. In Düsseldorf bei Stiftungsversammlungen oder ... bei Auftritten in Gütersloh, die ich dann alleine machte, häufig. Oder, wenn mich andere Stiftungen in Gründung einluden, zu erfahren, was wir hier gemacht haben. Dann engt sich das immer ein, dann wird es immer klarer. Unterwegs hab ich viel gelernt, dann hab ich mir zwei dicke Bücher gekauft... [es handelt sich hier um Handbücher zum Stiftungswesen, A.D. und L.V.] Ich kam mir früher immer so vor wie so ´n, wie ein Falschspieler, weil, was wissen wir eigentlich? Wie dicke tun wir uns? Und das hab ich dann gelernt, das was wir tun auch wichtiger zu nehmen. Denn es ist wichtig, das hab ich auch gelernt. .... Und hab gelernt, das dann entsprechend vorzutragen“ (Frau Wirtz).
Es werden unterschiedliche Qualifikationen angesprochen, die Frau Wirtz im Verlauf ihrer Tätigkeit im Vorstand der Stiftung erworben hat. Zunächst einmal geht es um inkorporiertes Kulturkapital in Form von Wissen. Der Hinweis auf die „dicken Bücher“, die als Medium des Wissenserwerbs fungiert haben, zeigt, dass hier in ganz konventioneller Weise ein Know How erarbeitet wurde, das man für die konkrete eigene Stiftungsarbeit vor Ort gebrauchen kann. Der Erwerb des Kapitals, die Inkorporierung, die im Leseprozess erfolgt ist, zielt also darauf ab, das eigene Handeln in der Leitungsposition der Stiftung erfolgreicher zu gestalten. Dieser Wissenszuwachs über Bücher wurde durch häufige Gespräche mit anderen, auswärtigen Stiftungsakteuren ergänzt: „Dann hab ich im Anschluss an diese Stiftungsgespräche am Montag ein Gespräch gehabt mit dem Geschäftsführer, mit dem Leiter eines Arbeitskreises im Bundesver-
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5 Ergebnisse band Deutscher Stiftungen, den ich kennen gelernt habe auf der Tagung in Gütersloh. Das ... ist dann auch ´n längeres Gespräch, was ganz wichtig ist für uns“ (Frau Wirtz).
Neben diesem Wissenserwerb ist aber eine weitere Sorte von inkorporiertem Kulturkapital zentral, die in der ersten Interviewpassage deutlich dargestellt wurde: Die Fähigkeit, öffentlich aufzutreten, das eigene Projekt (überzeugend) darzustellen, sich überhaupt souverän im öffentlichen Raum zu bewegen. Anders als die Fähigkeit zum Wissenserwerb, die eine akademische Ausbildung mit sich bringt, geht es hier also um eine Qualifikation, die deutlich jenseits des Horizontes liegt, den die Ärztin in ihrer bisherigen Berufstätigkeit erwerben konnte. Als Stiftungsvorsitzende steht sie in der Erwartung, die Stiftung nach außen hin gut zu repräsentieren. Dies vor allem ist der Lernprozess, den die Akteurin für sich als besonders wertvoll erachtet. Offenbar vermittelt das Engagement Zugang zu inkorporiertem Kulturkapital, das auf dem üblichen Weg in Schule und Hochschule eben nicht so einfach erworben werden kann. Schließlich kann dann das erworbene eigene Know How wiederum an andere zivilgesellschaftliche Akteure weitergegeben werden. Es finden sich bei der Kohlener Bürgerstiftung, die als eine der ersten Bürgerstiftungen in der deutschen Organisationslandschaft erfolgreich agiert, mittlerweile häufig Menschen ein, die für den Aufbau einer neuen Bürgerstiftung von den Kohlenern etwas lernen wollen. Sie erwarten Ratschläge und Tipps: „Ich hab am letzten Sonntag zwei Termine gehabt, die also Bürgerstiftung total waren, und die sind dann nicht, wie ich manchmal denke, das wird dann so in etwa ´ne halbe Stunde dauern, sondern am Sonntag der Mittagstermin dauerte zweieinhalb Stunden. Da kamen Leute aus Aachen die ´ne Stiftung gründen wollen und die etwas mehr hören wollen. Und dann ergibt sich aus dem was wir gemacht haben, aus dem was die machen wollen, ergibt sich dann so ´ne Melange und ein weiteres miteinander Reden“ (Frau Wirtz).
Wenn die Akteurin hier früher mitunter das Gefühl hatte, wie ein „Falschspieler“ aufzutreten, der im Grunde gar nichts Seriöses anzubieten hat, dann hat sich dieses Gefühl heute verflüchtigt zugunsten eines souveränen Auftretens, das die Hilfestellung für andere als selbstverständlichen Punkt der eigenen Tätigkeit begreift. Bildung bringt in diesem Fall auch ein hohes Maß an Anerkennung mit sich. Nun kann man aufgrund der biografischen Situation und der anderen Aussagen im Interview begründet annehmen, dass Wissen und Fähigkeiten in diesem Falle nicht zu dem Zwecke einer irgendwie gearteten beruflichen Weiterverwendung erworben wurden. Der berufliche Abschnitt der Biografie ist mit der Aufgabe der ärztlichen Tätigkeit abgeschlossen zugunsten einer zweiten, zivilgesell-
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schaftlichen Karriere. Nicht berufliche Perspektiven sind also die entscheidende Motivation zum zeitaufwändigen Engagement, sondern ein Kulturkapital, das dann wiederum andere Größen wie Anerkennung und Selbstverwirklichung begünstigt.
5.3.6 Soziales Kapital: Soziale Kontakte und Geselligkeit Soziales Kapital im Sinne von nützlichen Beziehungen stellt eine Dimension dar, die zunächst einmal in enger Nachbarschaft zu den oben dargestellten materiellen Gewinnen aus freiwilliger Tätigkeit steht. So fällt auf, dass zum Beispiel die Tochter eines Vorstands der Bürgerstiftung bei einer anderen großen deutschen Stiftung in Lohn und Brot steht. Und für eine andere Stifterin, Gertrud Schumacher, die zunächst viel Zeit investierte, um auf dem Jugend-Hof freiwillig zu arbeiten, ist daraus mittlerweile eine bezahlte Tätigkeit geworden. Der Schatzmeister der Stiftung, der fast jeden Tag auf dem Hof präsent und aktiv war, hatte durch eine Unternehmensstiftung die Finanzierung einer halben hauptamtlichen Stelle eingeworben. Da er im Laufe der Jahre Frau Schumacher als eine sympathische und engagierte Mitstreiterin auf dem Hof schätzen gelernt hatte, schlug er sie prompt für die Besetzung der Stelle vor, und die Sache hat schließlich auch geklappt. In diesem Fall also lässt sich ein ökonomischer Nutzen in Form eines Gehaltes tatsächlich in Euro und Cent nachmessen. Die Netzwerkforschung hat in zahlreichen Studien herausarbeiten können, dass bestimmte Kontakte, vor allem die sogenannten „weak ties“, also die relativ lockeren Verbindungen, bei der Jobsuche überaus nützlich sein können (vgl. Granovetter 1974, Lin 1982 und Meyerson 1994, Hartl u.a. 1998). Diese weak ties nämlich bringen den Akteuren einerseits Informationen über vakante Stellen, die beispielsweise nicht öffentlich ausgeschrieben werden, und sie bringen andererseits als Kontakte gewisse Vorteile bei der Auswahl des Personals: Wenn eine persönliche Empfehlung vorliegt, ist man eher geneigt, jemanden einzustellen, als wenn die Bewerbung aus der völligen Anonymität heraus erfolgt. Diese Vorteile gelten grundsätzlich auch im Bereich des Dritten Sektors, wie der Fall von Frau Schumacher in der Kohlener Bürgerstiftung zeigt. Es ist dabei nicht uninteressant, dass diese gleiche Akteurin bereits vor ihrer Stiftungstätigkeit im Kontext der Freiwilligenagentur ähnliche Erfahrungen gesammelt hat. Auch hier ließen sich nützliche Kontakte zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine bezahlte Tätigkeit im Nonprofit-Sektor konvertieren. Frau Schumacher hatte sich, neben anderen Kandidatinnen, als Leitungskraft für die Freiwilligenagentur beworben. Fast alle Mitglieder des Kuratoriums der Agentur, das auch über die Besetzung der Positionen zu entscheiden hatte, waren Frau
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Schumacher vorher bekannt, viele sogar als Duz-Bekanntschaften oder Freunde. Aus diesem engen Kontaktnetzwerk heraus war es geradezu zwangsläufig, dass sie auch ausgewählt wurde. Die zunächst ehrenamtlich konturierte Stelle wurde dann später – wenn auch nur für kurze Zeit – in eine bezahlte Stelle umgewandelt. Aus dem Ehrenamt wurde ein Hauptamt, aus der Freiwilligenarbeit wurde Berufstätigkeit. Entscheidend bei diesem Prozess war aber wohl, dass Frau Schumacher nicht nur über „weak ties“ verfügte, sondern auch über zumindest ein „strong tie“: Der Ehegatte war seit langer Zeit in der Kommunalpolitik tätig und wirkte intensiv bei der Initiative zur Schaffung einer kommunalen Freiwilligenagentur mit. Später war er Mitglied des Kuratoriums, das als Kontrollorgan fungierte und auch die Personalentscheidungen zu treffen hatte. So war es für Außenbeobachter wenig überraschend, dass es schließlich Frau Schumacher war, die als einzige verbleibende Leitungskraft eine bezahlte Stelle bekam. Derartige Gewinne sind allerdings, das sei hier festgehalten, nicht völlig berechenbar. Der Kapitalerwerb und die Konvertierung sind mit zahlreichen Kontingenzen verbunden, und man wird kaum unterstellen können, dass hier gezielt strategisch gehandelt wurde. Gleichwohl ist aus Studien in der Ehrenamtsforschung bekannt, dass freiwillige Tätigkeiten unter günstigen Konstellationen auch die Möglichkeit zum Wechsel in einen bezahlten Job generieren – alleine durch den Informationsvorsprung, den man gewinnen kann. So versuchen vor allem Frauen ein Ehrenamt nicht nur als Qualifikationschance, sondern auch als Wiedereinstiegsbrücke in eine berufliche Arbeit zu nutzen (vgl. Beher/Liebig/Rauschenbach 2000: 206ff). Wie die Karriere von Frau Schumacher zeigt, ist eine solche Perspektive nicht nur bei Caritas und Diakonie möglich, sondern auch bei kleinen Organisationen der Bürgergesellschaft. Der jetzige Job ist vom Tarif her besser bezahlt als eine Stelle, die sie in ihrem erlernten Beruf als Erzieherin ausfüllen würde. Die Bürgergesellschaft bietet vielfältige Möglichkeiten dazu, Beziehungskapital aufzubauen, das man dann an anderer Stelle für eigennützige Zwecke aktivieren kann. Aus der Soziologie der Parteien weiß man schon seit längerem, dass derartige Mitgliedschaften beispielsweise von Selbständigen dazu genutzt werden, Geschäftsbeziehungen zu akquirieren (vgl. Wiesendahl 1997). Auch in der Bürgergesellschaft kann man gute Kontakte machen, vor allem dann, wenn man selbst an gehobener Stelle, etwa in einer Leitungsposition oder in einem Vorstand tätig ist und so zu den (bürgergesellschaftlichen) Eliten aufsteigt. Dieses Motiv wurde beispielsweise auch bei Jan Schreiner erkennbar, der im mittleren Management eines Getränkekonzerns tätig war. Diese Konstellation ist eher untypisch für freiwillige Tätigkeiten. Es stellte sich dann heraus, dass das Kalkül von Herrn Schreiner tatsächlich darauf abzielt, über eine Leitungstätigkeit in der Freiwilligenagentur ein ganzes Netz von Kontakten aufzubauen. Dieses beab-
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sichtigte er dann später für eigene Zwecke einzusetzen. Er plante, sich mit einer Makler- und Beratertätigkeit selbstständig zu machen und dann das Kontaktnetzwerk für den Aufbau eines eigenen Kundenstamms zu nutzen. Seine kommunikativen Fähigkeiten hoffte er ebenfalls im Rahmen der Agentur so verfeinern zu können, dass sie später bei der Auftragsbeschaffung hilfreich sein würden. Nicht immer werden der Aufbau und die spätere Nutzbarkeit von sozialem Kapital so offen kommuniziert. Das zeigt sich am Beispiel einer Schuldirektorin, die im Vorstand der Bürgerstiftung engagiert ist. Victoria Werner sieht einen Vorteil ihres Engagements darin, dass sie mit interessanten Menschen in Kontakt kommt, die ihr auf der inhaltlichen Ebene ihrer Arbeit hilfreich erscheinen: „Und natürlich auch wenn man mit Menschen in Kontakt kommt, die man vorher nicht gekannt hat, wo man sehr, sehr erstaunt ist, wie gut man mit manchen Leuten zusammenarbeiten, auf einer offenen Ebene sich plötzlich verständigen kann, und Zustimmung auch kriegt oder auch so eine sehr saubere Kritik kriegt.“
Darin zeigt sich zum einen der Spaß an gelingender Kooperation im Bereich der Stiftungsarbeit. Diese kann sich aber darüber hinaus auch als Erprobung einer Verbindung erweisen, die man später für weitere Kooperationen nutzen kann – sowohl im Rahmen des freiwilligen Engagements als auch im Rahmen der Berufstätigkeit. Frau Werner ist als Direktorin einer reformorientierten Hauptschule in Kohlen tätig. Für die Durchführung ihrer Reformprojekte ist sie durchaus darauf angewiesen, innerhalb der Gemeinde mit vielen Akteuren sowohl in Politik und Verwaltung als auch in der Wirtschaft zusammenzuarbeiten. Gut funktionierende Kontakte können dabei, ganz im Sinne von Colemans Definition, ausgesprochen „handlungsbegünstigend“ sein. Hier liegt also nicht im engeren Sinne eine private Nutzung von Beziehungskapital vor, wohl aber die Option auf berufliche Verwendungen, die dann natürlich im weiteren Sinne „karrierefördernd“ sein können, weil die Direktorin mit ihrem Reformprojekt weiterhin erfolgreich agiert. Wohlgemerkt: damit soll diese Nutzung von Ressourcen der Bürgergesellschaft nicht als illegitim gekennzeichnet werden. Es ist hier ein durchaus gemeinwohlfördernder Synergie-Effekt zu beobachten, der sich zwischen zivilgesellschaftlicher und beruflicher Ebene ergeben kann. Einen Hinweis auf eine solche berufliche Verwertung von Kooperationsbeziehungen gibt jedenfalls auch Gisela Trapp, die für die Freiwilligenagentur aktiv war und in der Bürgerstiftung nur deshalb nicht tätig ist, weil sie sich durch das „Eintrittsgeld“ von 1.000 DM an der gleichberechtigten Mitarbeit in der Stiftung gehindert sieht. Sie betont, in der Stiftung seien „die Leute, die Geld
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haben, aber ich glaube, die benutzen das auch beruflich. Da sind so Schuldirektoren drin.“ Es wird hier nicht genauer ausgeführt, wie die „Schuldirektoren“ es „beruflich nutzen“ sollten. Aber Frau Trapp vermutet auf jeden Fall, dass die Kontakte und Netzwerke im Kontext einer bürgergesellschaftlichen Organisation nicht nur den proklamierten gemeinnützigen Zwecken dienen, sondern auch zur Erlangung irgendwelcher beruflicher und damit letztlich auch persönlicher Vorteile. Sozialkapital kann aber auch in einer „weicheren“ Variante in der Bürgergesellschaft eine Rolle spielen. Es geht nicht immer nur um nützliche Kontakte, die später in etwas anderes umgewandelt werden können. In vielen Fällen sind schon die Kontakte selbst das Ziel. Ehrenämter aller Art geben Anlass für Kommunikation und Interaktion, und sie sind häufig mit Gruppenzusammenhängen und Geselligkeiten verknüpft. Wie wichtig das im konkreten Fall sein kann, zeigt die Aussage eines Rentners. Joachim Reiter verweist darauf, dass ältere Leute oft das Problem haben, von Kommunikationszusammenhängen abgeschnitten zu sein, weil sie nicht mehr so viele Aktivitäten entfalten können: „Das ist mit sehr viel Arbeit verbunden und, wenn man älter ist, manchmal unmöglich, denk ich, weil man sich dieser aufwändigen Aufgabe nicht mehr stellt. Und dann, ja, ist man von vielen Informationen abgeschnitten, man ist von Kommunikation, die auch sehr, sehr schön ist, und so weiter, ausgeschlossen. Darum geht’s ja, dass man eben nicht abgeschnitten wird, dass man nicht eben hinten irgendwie herunterrutscht, behaupte ich, so nach und nach. Und von den Menschen selbst so. Und wenn ich jetzt so an die Fahrgeschichte denke, die alten Leute sind ja mitunter auch sehr interessant, auch aufgrund ihres Alters und ihrer ganzen Lebensweise…“
Über die Kontakte, die Herr Reiter als ehrenamtlicher Fahrer im Rahmen von Caritas-Veranstaltungen erreicht, bleibt er kommunikativ integriert. Er erfährt Neuigkeiten aus der Gemeinde und bekommt von den älteren Menschen viele interessante Geschichten und Begebenheiten erzählt, die auch Unterhaltungswert haben. Dieser Aspekt, der vor allem bei älteren und arbeitslosen Personen zur Geltung kommt, verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt, der sich im Bereich der sozialen Kontakte als eine Art Statusbewahrung bezeichnen lässt. Der Übergang vom Status der Erwerbstätigkeit zum Rentner- und Pensionärsdasein bzw. zur Arbeitslosigkeit (insbesondere wenn diese dauerhaft angelegt ist) kann aus der Sicht einiger Akteure mit Hilfe einer freiwilligen Tätigkeit besser bewältigt werden, weil man hier nicht nur wieder in eine regelhafte und als sinnvoll erfahrene Tätigkeit hineinkommt, sondern auch die mit einer Erwerbstätigkeit üblicherweise verbundenen sozialen Kontakte genießen kann. Man hat wieder das Gefühl, gekannt und gebraucht zu werden. Das Engagement verhindert, dass man „in ein
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Loch fällt“ (Frau Meier). Das gilt übrigens nicht nur für regulär berentete Personen, sondern auch für Frührentner wie Diana Scholle, die aufgrund einer Krankheit dauerhaft nicht mehr arbeitsfähig ist und eine Tätigkeit über die Freiwilligenagentur in Kohlen erlangt hat, die ihr hilft, das entstandene soziale Vakuum zu füllen: „Ja, da hab ich Depressionen gekriegt. Aber jetzt geht’s mir wieder blendend. Und jetzt kümmere ich mich auch um diese zwei ältere Damen im Haus, für die gehe ich auch einkaufen, ja, und hör mir dann ihre Probleme an. (…) Als erstes war es für mich reine Hilfe zur Selbsthilfe“ (Frau Scholle).
Die Kontakte, die mit dem ehrenamtlichen Engagement verbunden waren, wirkten für Frau Scholle geradezu wie ein Antidepressivum. Die Hilfe, die sie anderen bietet, wirkt für sie wie „Selbsthilfe“. Auf diesem Weg konnte sie aus einer schweren Krise, die mit der Frühverrentung verbunden war, herauskommen. Einige der in gehobener Position tätigen Akteure betonten, dass ihr Ehrenamt gegenüber der früheren Berufstätigkeit sogar die Möglichkeit biete, zu managen und mitzureden, und das ohne „Druck und Erlasse“, wie sie im Berufsleben üblich sind. Die neuen Freiräume des ehrenamtlichen „Dilettantismus“ (Pankoke 1994) werden also gezielt kombiniert mit der Erfahrung funktionaler und sozialer Integration, wie sie sonst nur durch Berufstätigkeit gegeben ist.
5.3.7 Symbolisches Kapital: Anerkennung und Prominenz Soziale Anerkennung ist in der modernen Gegenwartsgesellschaft in hohem Maße mit dem beruflichen Status verknüpft. Das bürgerschaftliche Engagement bietet nicht nur die Möglichkeit, einen eventuell mit dem Verlust des beruflichen Status verbundenen Anerkennungsverlust zu kompensieren. Stattdessen kann man darüber hinaus das symbolische Kapital einer Anerkennung erwerben, das so durch bloße Berufstätigkeit gar nicht erreichbar wäre: die Anerkennung als engagierte, dadurch als besonders moralisch und integer geltende Persönlichkeit, die bereit ist, „ohne Gegenleistung“ (was de facto aber nur bedeutet: ohne Bezahlung) etwas für das Gemeinwohl zu tun. Diese Form der Anerkanntheit verknüpft sich bei vielen Akteuren mit dem Stolz auf das jeweilige Projekt, an dem man beteiligt ist: „Das ist unser Ding“. Wenn es in den Interviews darum ging, was die Akteure ihrem eigenen Gefühl nach von ihrem Engagement hauptsächlich zu erwarten haben, dann stand die symbolische Dimension der Anerkennung oft im Zentrum. Dies gilt vor allem für diejenigen Akteure, die im Rahmen der Bürgerstiftung tatkräftig das
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sinnlich anschauliche Projekt des Jugend-Bauernhofs mit vorangetrieben haben. So berichtet Kurt Koller: „Ja, die Bürger, die sich in der Nähe des Hofes aufhalten und die zu mir kommen und sagen: Das ist unheimlich toll, was ihr hier gemeinsam leistet, das ist unglaublich, was ihr geleistet habt in dieser kurzen Zeit. (...) Das ist ein Stück Anerkennung, die stattfindet. Und die Bürgerschaft, die da hin kommt und sagt, also, erstaunlicherweise, sie hätten’s nicht für möglich gehalten, dass das geleistet werden könnte.“
Ähnliches führt Christiane Berger aus. Sie war früher als Gartenbauarchitektin berufstätig gewesen und kann nun zumindest einen Teil der Anerkennung, die früher über den Beruf zu erlangen war, aus der Freiwilligenarbeit ziehen: „Einfach die Anerkennung unserer Arbeit, die den Hof also schon seit Jahren kennen und wissen, wie er aussah, und die dann schon staunend vorbeigehen und sagen: Ist ja doch toll, man sieht ja was, und das habt ihr geleistet. Die den Garten bewundern. Ich denke schon, das geht auch so weiter. Irgendwann wird ja mal das Gebäude auch ganz schick sein, und wenn wir dann das Café haben, wird sich das ja dann noch weiter ‘rumsprechen.“
Die Differenzqualität zwischen dem alten, verfallenen und mehrfach abgebrannten Gebäude zu Beginn des Projekts und den dann sichtbaren Fortschritten macht die Aktiven stolz, und sie genießen jedes Lob, das dafür von außen kommt. Man erkennt hier eine hohe Zufriedenheit mit dem, was man selbst geleistet hat und damit, wie diese Leistung von den Außenstehenden gewürdigt wird. Eine solche Zufriedenheit mit den Resultaten der eigenen Arbeit ist ja eine Dimension, die vielen Akteuren sogar innerhalb der Arbeitswelt vorenthalten bleibt. Sei es, dass man nur als kleines Rädchen in einem hochgradig arbeitsteiligen Prozess fungiert und somit ein fertiges Produkt kaum zu Gesicht bekommt bzw. der eigene Anteil nach außen hin kaum noch sichtbar wird; oder sei es, dass man beispielsweise als Verwaltungsangestellter ohnehin ganz abstrakte Dinge ohne einen sinnlichen Anschauungswert „produziert“. Die Zufriedenheit der freiwilligen Hof-Mitarbeiter zeigt, dass in der Bürgergesellschaft solche Defizite kompensiert werden können und in dieser Anerkennungsdimension ein wichtiges Motiv für Engagement liegen kann. Anerkennung und das Gefühl der Anerkanntheit zeigt sich aber auch in anderer Form: als das Gefühl, wichtig zu sein und von den anderen als wichtig wahrgenommen zu werden: „Ich hab einen Terminkalender, der wird von meinem Mann überwacht, weil ich mich ärgere. Ich hasse es, zu sagen, ich muss erst in meinen Terminkalender gucken,
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und das geht nicht mehr, ich muss es jetzt tun, und ich muss es sagen. Und weil ich so einen Abwehrmechanismus da habe – ich find es albern, irgendwo hinzukommen, ‘ich hab meinen Terminkalender leider nicht dabei’. Bescheuert, jeder tut sich wichtig mit seinem Terminkalender, wie gefragt er ist. Aber mein Mann passt mit auf, dass ich keine Termine verpasse“ (Frau Wirtz).
Dieses Gefühl, dass es auf einen ankommt, damit die Dinge laufen, stellt sich im Fall der Stiftungsvorsitzenden als ein wichtiger Motor des Engagements dar. Der erwähnte „Terminkalender“ fungiert hier gleichsam als sichtbares Zeichen für Wichtigkeit: Ein Zeichen, das der Akteurin teilweise noch unvertraut zu sein scheint, wie sie selbst – vielleicht auch ein wenig kokettierend – betont, dessen Unverzichtbarkeit sie aber doch einsieht. Interessant ist dabei, dass der Mann – immerhin auch ein gestandener Orthopäde mit eigener Praxis – als eine Art Sekretär fungiert. Solches „Personal“ ist ebenfalls ein Zeichen von Wichtigkeit, auch wenn Frau Wirtz hier noch ständig Distanzgesten zu diesem Status der Relevanz einbaut. In einer späteren Passage wird die Akzeptanz dieser Form von Anerkennung dann noch deutlicher sichtbar. Frau Wirtz betont zunächst, dass sie vor lauter Stiftungsterminen in diesem Jahr noch keinen richtigen Urlaub gemacht habe, sondern immer nur für ein paar Tage weggefahren sei. Auch dort aber ist das Handy aus Gründen der Erreichbarkeit ständig dabei: „Wir sind tageweise weg, wir sind eine Woche weg, ist vorher abgesprochen, ich bin mit dem Handy unterwegs, ich bin jederzeit erreichbar. Wir waren am Gardasee zum Wandern, waren in einer Schlucht, da kriegte ich ‘nen Anruf aus der Bürgerstiftung. Das war alles nicht lebensnotwendig, aber ich möchte auch erreichbar sein, weil es den, den Ablauf des Betriebes, der Tätigkeiten leichter macht, ne?“ (Frau Wirtz)
Hier kommt nun in aller Deutlichkeit der Status einer Person zum Tragen, ‘auf die es ankommt’. Sichtbares Zeichen dieser Anerkennung als unverzichtbare Person durch die anderen sind solche Anrufe, die sie – sogar während eines Kurzurlaubs am Gardasee – erreichen. Im Anschluss drückt Angelika Wirtz dann schließlich ganz explizit aus, dass es zu ihrer neuen Rolle als Stiftungsvorsitzende konstitutiv dazugehört, sich nicht nur wichtig zu fühlen, sondern objektiv auch wichtig zu sein. Diese Wichtigkeit zeigt sich sinnlich fassbar im Umgang mit anderen wichtigen Personen. Das, so führt die Akteurin aus, sei zwar partiell auch schon in ihrer Berufstätigkeit vorgekommen, aber doch nicht in dem Ausmaß:
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5 Ergebnisse „Bei der Ruhrkohle, da hatte man auch mit Spitzenindustriellen zu tun ... aber es ist jetzt natürlich sehr viel massiver, und ich muss mich auch daran gewöhnen, das hab ich vorhin schon mal gesagt, dass ich, in Anführungsstrichen, wichtig bin.“
Die genannten „Anführungsstriche“ sind nur noch ein letztes, kleines Distanzzeichen zu einem Status der Anerkanntheit, der nun offenbar als Identitätsmerkmal der Akteurin fest etabliert ist. Der Wert der Anerkennung ist in der Bürgergesellschaft jedoch keineswegs nur auf die Inhaber von Leitungspositionen beschränkt. Dies zeigt sich beispielsweise in einem Projekt der Caritas, wo unter dem Motto „Kids und Kohle“ jüngeren Schülern der rationale Umgang mit Geld beigebracht werden soll. In diesem Projekt werden auch ältere und ehemalige Schüler eingesetzt. Projektleiterin Doris Schröder stellt am Beispiel eines Jugendlichen anschaulich dar, warum eine solche Tätigkeit für die Engagierten durchaus mit erheblichem Anerkennungskapital verbunden sein kann: „Ich denk mir auch, so was der Tim so gesagt hat: ‚Ich war da an der Schule, ich wurd´ da unterrichtet, und jetzt steh ich vor der Klasse. Das ist auch noch mal so ´n anderes Feeling, ne? So, jetzt bin ich derjenige, der sagt, wo ´s langgeht. Und ich hab das und das vorbereitet, und ich probier das aus, ne?’ Ist auch mal für so ´n Selbstwertgefühl wichtig, ne?“ (Frau Schröder)
Die Möglichkeit, an die eigene Schule in der Rolle eines Quasi-Lehrers zurückzukehren, stellt für den Jugendlichen eine wichtige Form von Anerkennungsgewinn dar. Er erlebt sich in einer steuernden Rolle, kann kreativ Dinge ausprobieren und ist sich der Aufmerksamkeit seiner früheren Mitschüler sicher. Anerkennung kann sich auch in Form von Dankesgesten von Seiten der Organisation äußern. In diesem Zusammenhang wurde mehrfach die „DankeschönKultur der Caritas“ betont, mit der diese Organisation ihre Freiwilligen dauerhaft motiviert – durch Einladungen, Blumen und andere Formen der symbolischen Gabe. So berichtet Brigitte Meier ganz stolz, dass sie vom Geschäftsführer des Caritas-Verbands einen handschriftlich verfassten Einladungsbrief und ein Abendessen beim Chinesen bekommen habe. Mit diesem Anerkennungsmotiv hängt ein Sachverhalt zusammen, der bei vielen Interviews deutlich wurde: Die persönliche Ansprache ist nach wie vor das zentrale Medium, um Menschen für eine freiwillige Tätigkeit zu gewinnen. Wer sich auf eine Annonce oder einen allgemeinen Aufruf hin meldet, der vermittelt eher den Eindruck, ohnehin nichts Besseres zu tun zu haben. Wer aber persönlich angesprochen wird, dem wird dadurch gezeigt, dass es konkret auf sie oder ihn ankommt, dass genau diese Person gebraucht und als wichtig anerkannt wird. Dies vermittelt Anerkennung und ein hohes Selbstwertgefühl, das die Bereitschaft zum Engagement deutlich steigert. So berichtet Joachim Reiter:
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„Konkret wäre es zu diesem Fahrdienst nicht gekommen, wenn das so ´n allgemeiner anonymer Aufruf der Kirche oder des Caritasverbandes gewesen wäre. Der eigentliche Aufhänger, dass ich´s mache – ich spreche jetzt nur von dieser Fahrangelegenheit – ist einfach die Beziehung hier innerhalb der, unserer Kirche und speziell zu dieser Nachbarin, die mich angesprochen hat.“
Ähnliches bestätigt der Pfarrer einer evangelischen Gemeinde: „Und ich glaube, dass Freiwilligenarbeit schlechterdings nur über menschliche Beziehungen zu rekrutieren ist, grundsätzlich. Und nicht durch Institutionen. Also wenn ich jetzt die Organe einer Kirchengemeinde begucke und sage, ich such jetzt über den Gemeindebrief, fünftausend von der Auflage, für irgendein Projekt Leute, das ist genauso uneffektiv wie Plakate kleben“ (Herr Bach).
Nur, wenn die Menschen das Gefühl vermittelt bekommen, auch wirklich als Person gemeint zu sein, auf die es hier ‚ankommt’, dann sind sie wahrscheinlich bereit, ihre Zeit für ein bestimmtes Projekt zu spenden. Das genaue Gegenteil einer gepflegten Anerkennungs- und DankeschönKultur kommt schließlich in dem Bericht von Gisela Trapp zum Ausdruck, die sich durch die Behandlung durch Offizielle der Stadt geradezu gedemütigt fühlte. Sie berichtet zunächst, der Bürgermeister habe zwar im Anschluss an eine Aktion zu einer Tasse Kaffee eingeladen. Aber die näheren Umstände dieser Einladung waren wenig motivierend: „Ja, und er ist rein gekommen und hat gesagt, ‚Ich sage Euch nur mal Bescheid, ich habe mir für Euch frei genommen. In einer Stunde gehe ich wieder.’ Und dann gab es ein Stückchen Kuchen, `ne Tasse Kaffee. Ja, ein Stückchen Kuchen. Dann ist er gegangen, und danach konnten wir sitzen bleiben und selber bezahlen. Der hat sich noch nicht mal bedankt. Der sagte, ‚Was soll ich viel drum herum reden?! Das macht Euch ja sogar noch Spaß!’“
Diese Umgangsweise wurde von der betroffenen Aktiven als unangemessen, nachlässig und sogar beleidigend erfahren. Vermutlich waren die Äußerungen des Bürgermeisters einfach nur als lässiger Humor gemeint, aber angekommen ist eine Nichtanerkennung. Diese wurde dann durch kontingentierten Kaffee und Kuchen (alles über ein Stück musste selber bezahlt werden) noch unterstrichen. Es wird hier erkennbar, dass es wichtig ist, eine Dank- und Anerkennungskultur zu pflegen, wenn man die Engagierten zu weiteren Projekten motivieren möchte164.
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Siehe dazu auch die Nürtinger Erfahrungen in Langfeld u.a. (2001).
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Da Anerkennung und Aufmerksamkeit in der modernen Öffentlichkeit immer auch knappe Güter sind, kann es in dieser Dimension durchaus auch zu Konkurrenzkämpfen kommen. Das wird abschließend deutlich in der Erzählung von Frau Schumacher, die als Repräsentantin der Freiwilligenagentur auch öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung für ihr Engagement erwartete und dann mitunter das Gefühl hatte, ihr sei von Profis des Dritten Sektors die Show gestohlen worden: „Schwierig war es in so Situationen, da erinnere ich mich an den Kohlener Weihnachtsmarkt, die Idee ist in der Freiwilligenagentur entstanden, und wo wir das geschafft haben, viele Vereine und Verbände zu einem gemeinsamen Programm unter dem Motto „Kohlener tun was für Kohlener, Kohlen kommt zusammen“. Da ist Freiwilligenagentur nicht genügend gewürdigt worden, da habe ich mich auch geärgert. Da hat Peter Schmidt als Geschäftsführer der Caritas eigentlich immer die Lorbeeren eingesteckt. In Würdigungen von Ansprachen des Bürgermeisters, der die Freiwilligenagentur entweder als letztes erwähnt hat oder sogar vergessen hat. In der Presse stand zwar immer drin: Freiwilligenagentur. Aber es ist nicht so explizit genannt worden wie der Geschäftsführer der Caritas“ (Frau Schumacher).
Diese Akteurin spricht sehr offen über die Konkurrenz um symbolisches Kapital, wobei in letzter Konsequenz auch hier nicht das eigene Bedürfnis nach Anerkennung ausgesprochen, sondern die Anerkennung der Agentur in den Vordergrund gerückt wird. Dies ist insoweit dann wieder doch typisch, als die Aktiven den eigenen Anerkennungsbedarf selten offen thematisieren. Im Gegenteil, es gilt meist als illegitimes Bedürfnis und wird da, wo man es anderen Akteuren unterstellt, auch klar kritisiert. Dies zeigt sich beispielsweise im Interview mit Werner Steiner, der seit vielen Jahren im parteipolitischen wie im bürgergesellschaftlichen Kontext engagiert ist und eine Kollegin aus dem gleichen links-alternativen Milieu heftig angeht: „Das kann man so als zweite Generation eigentlich ansehen. Leute, denen es also auch gar nicht mehr so sehr um das Engagement geht, sondern wo da andere Sachen eher ´ne Rolle spielen, so wie Selbstdarstellung oder was weiß ich. Also meine Lieblingsfreundin ist die Gerlinde Schuster, die hat also wirklich nur ´n Interesse sich selbst zu inszenieren... einfach nur erbärmlich die Frau. Also da ist an politischem Engagement aber auch nix mehr da.“
Das Moment der „Selbstdarstellung“ bzw. „Selbstinszenierung“ wird hier als dominant gesehen und kritisiert, während die aus der Sicht von Herrn Steiner eigentlich wichtigen Aspekte der politischen Arbeit in der Stadt ganz klar zu kurz kämen. Es wird an dieser Stelle nicht jede Anerkennung für das Engagement abgelehnt. Es wird aber auch deutlich, dass das Streben nach Anerkennung
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durch Selbstinszenierung da problematisch wird, wo es andere Beweggründe überdeckt bzw. wo (unterstellter Weise) diese anderen Beweggründe politischer Natur gar nicht mehr vorhanden sind. Hilfreich für die Herausbildung eines Anerkennungsgewinns ist in jedem Fall die Berichterstattung in der lokalen Presse. Damit wird eine über das unmittelbare eigene Gesichtsfeld hinausgehende Öffentlichkeit hergestellt. Wer in der Presse erwähnt wird, ist in anderer Form noch einmal stolz auf das Geleistete. Er realisiert damit auch so etwas wie einen Prominenzgewinn und wird von Bekannten auf diese – wenn auch oft nur kurzzeitige – herausgehobene Stellung angesprochen. Bei einigen der in leitender Position tätigen Aktiven hat sich im Laufe der Zeit ein vor dem Engagement nicht vorhandener Status als öffentliche Person herausgebildet, den man durchaus als reizvoll erachtet. Man genießt den Prominenzwert und nimmt bestimmte Nachteile, etwa die größere soziale Kontrolle, die sich mit diesem Status verbindet, billigend in Kauf. Die Konsequenz dieses Prominentenstatus ist, dass man sich deutlich mehr Selbstkontrolle auferlegt. Man lässt sich in der Öffentlichkeit nicht gehen, und man passt genau auf, was man sagt. Dies wird deutlich bei Theo Pohl, der berichtet: „Ich bin vorsichtiger geworden. Ich habe früher grundsätzlich mein Herz auf der Zunge getragen (…) ich habe mir jetzt sogar bis in die Familie hinein teilweise totales Schweigen auferlegt. Es ist schade, dass ich das so sagen muss, aber es ist so.“
Diese „dunkle Seite“ des symbolischen Kapitals von Anerkennung und Prominenz wird von den Akteuren gesehen, aber es ist dennoch überall spürbar, dass diese Anerkennung zu einem als erfolgreich definierten Engagement elementar dazugehört.
5.3.8 Spaß und Selbstverwirklichung: Die Passung zwischen Akteuren und Institutionen Alle, auch die älteren Akteure betonen immer wieder, dass ihnen die Tätigkeit Spaß bereite, und zwar unabhängig davon, ob sie an leitender oder an untergeordneter Stelle aktiv sind. Interpretatorisch offen bleiben muss dabei, ob diese Aussage nicht auch bedingt ist durch so etwas wie einen Spaßimperativ der Gegenwartsgesellschaft, wo derjenige als defizitär oder „dumm“ gilt, der im Leben zu wenig Spaß realisiert. Es werden aber auch häufig konkrete Dinge genannt, die man als spaßbringend erfährt. Und die haben dann oft mit Selbstverwirkli-
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chungsmotiven zu tun, mit dem Spaß an bestimmten Begegnungen und Erfahrungen, die dann auch die eigene Persönlichkeitsentwicklung weiterbringen165. Oben war bereits auf Frau Simon eingegangen worden, die heftig dementierte, sie engagiere sich uneigennützig. Sie hatte ausgeführt: „Ich tu das ja für mich. Mir macht das Spaß mit anderen Menschen zusammen zu sein und zu arbeiten. Mit denen zu arbeiten, etwas zu tun, was irgendwie sinnvoll, zweckmäßig oder erheiternd oder glücklich machend ist. Und das betrifft ja in erster Linie erst mal mich.“
Später wird dieser Erfahrungsraum im bürgerschaftlichen Engagement noch weiter konkretisiert: „Ich lerne tausend interessante Leute kennen, die ich vorher so, wie ich sie vielleicht bisher aus der Stadt kannte, durch meinen Beruf, noch nie erlebt hab, ne? Und, ja, distanzierte und skeptische Banker, die völlig locker sind und auch ohne Schlips irgendwo auftauchen können oder so. Sie lernen halt Leute kennen und Leute, also Menschen, sind eigentlich mein größtes Hobby immer gewesen, und deswegen ist das immer was Gewinnbringendes für mich. Egal wo. (…) Also das heißt, es macht auch schon Spaß einfach, also in so ´ner Runde dann. Also ich will jetzt nicht auf die Spaßgesellschaft raus, ne, Spaß, Spaß, Spaß, nein, das ist es nicht, aber es ist natürlich so, dass sie irgendwann, wenn sie auch nach ´ner heftigen Sitzung sagen, so jetzt ist gut, jetzt haben wir ´n Beschluss gefasst, jetzt ist der Schnitt gemacht, äh, jetzt trinken wir uns noch ´n Bierchen. Und natürlich wird dann was anderes erzählt, natürlich wird es dann auch lustig, oder sie haben überhaupt irgendwie ´n Thema was witziger ist, und sie können sich darüber amüsieren, was der eine oder der andere gemacht oder gerade erzählt hat“ (Frau Simon).
Hier wird das enge Ineinander von Spaß und Selbstverwirklichung deutlich. Die Begegnungen, die mit der freiwilligen Tätigkeit verbunden sind, werden einerseits als „Hobby“ bezeichnet, bei dem man interessante Erfahrungen machen kann. Zum anderen wird klar, dass es beispielsweise im Anschluss an Sitzungen – hier sind Sitzungen des Vorstands der Bürgerstiftung gemeint – zu launigen Abenden beim Bier kommen kann, bei denen man sich unterhält, den neusten Klatsch austauscht und vergnügt zusammensitzt. Solche Selbstverwirklichungsaspekte sind jedoch nicht nur in den Geselligkeiten nach der freiwilligen Arbeit betroffen. Auch die Tätigkeiten selbst sollen und können nach Ansicht der Aktiven interessant sein und Spaß machen. Man möchte dabei keine stupiden, untergeordneten Tätigkeiten verrichten, sondern auch innerhalb des bürgerschaftlichen Kontextes kreativ und eigenverantwortlich 165
Siehe dazu die oben referierte Diskussion über den sozialen Wertewandel; vgl. Kap. 2.4.
5.3 Die Motive des Engagements
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arbeiten. Das gilt für den Abiturienten, der in einem Schuldnerberatungsprojekt der Caritas Schulkindern beibringt, wie man vernünftig mit Geld umgeht. Und es gilt ebenso für den pensionierten Lehrer, der auf dem Jugendhof Computerkurse für Jugendliche anbietet: „Ich habe immer irgend etwas gemacht, was so außerhalb des Dienstes war, weil ich mir immer gesagt habe, man braucht auch Nischen für irgendwelche Dinge, die nicht unter Druck und nicht unter Erlasslage zu subsumieren sind, die Freude machen. (…) Ich hab ´s hier einfach auch mit netten Menschen zu tun. Und das macht Spaß, ich komme gerne hier her. Es gibt natürlich auch sehr egoistische Momente. Ich hab keine Lust sieben Tage in meinem Garten da zu graben. Ich geh gerne rein. Aber ich bin auch froh, wenn ich mal zwei Vormittage nicht rein muss, ne? Ich hab ´n schönen Fahrradweg hier her, sportliche Betätigung, und wenn ich hier ankomme, habe ich mein Frühsport schon hinter mich gebracht. Also das sind durchaus auch kleine egoistische Motive, das macht mir alles eben auch Spaß. Oder jetzt auch hier zu sitzen und sehen, Mensch da hast Du ein kleines Rädchen mitgedreht. So ´n bisschen Management, so ´n bisschen mitreden“ (Herr König).
Wolfgang König beschreibt hier anschaulich, was ihn an der Tätigkeit auf dem Jugendhof der Stiftung so reizt: Sie ist mit „sportlicher Betätigung“ verbunden, die er ansonsten als Pensionär auch betreiben müsste, um gesund zu bleiben. Aber vor allem handelt es sich um eine gestaltende Tätigkeit, die nicht unter den gleichen Zwängen steht wie die frühere Berufsarbeit („Druck“ und „Erlasslage“), und die auch nicht mit der gleichen Verbindlichkeit wahrgenommen werden muss: Man kann auch mal einen Tag wegbleiben und muss eben nicht alles managen, sondern nur ein „bisschen“. In dieser lose gekoppelten Gemengelage stellt sich der „Spaß“ an der Tätigkeit dann fast von selbst ein. Diese Kombination aus nützlicher und sinnvoller Arbeit einerseits, die jedoch andererseits nicht mit der gleichen Verbindlichkeit verbunden ist wie das (frühere) Berufsleben, diese Kombination aus Integration und Freiheit bietet offenbar für Senioren ein attraktives Design, das gern wahrgenommen wird. Ausführungen wie die oben zitierten machen deutlich, dass sich die Klientel freiwilliger Tätigkeit doch erheblich verändert hat. Aus den anspruchslosen, pflichtbewussten und dienstbereiten ‚Soldaten’ des Ehrenamts von früher sind anspruchsvolle Individuen geworden, die von ihrer Tätigkeit neben anderen Erträgen auch Spaß und Selbstverwirklichungschancen erwarten. Dieser Befund wird bestätigt durch die Ausführungen des Caritas-Managers Peter Schmidt, der darauf hinweist, dass auch eine etablierte Großorganisation wie die Caritas ihre Strategien verändern muss, wenn eine funktionierende Passung zwischen Akteuren und Institution hergestellt werden soll. Viel zu lange habe man zunächst immer nach dem Bedarf der Organisation bestimmte Projekte
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entworfen, für die dann Freiwillige gesucht wurden. In der gegenwärtigen Zeit müsse man jedoch zunehmend andersherum verfahren: „Was wir zurzeit jetzt begonnen haben: Wir fragen noch zu wenig, was kann jemand, und entwickeln daraufhin Projekte“. Herr Schmidt macht diese Strategie an einem einfachen Beispiel zur „Problemgruppe“ im sozialen Ehrenamt deutlich – zu den Männern, die in diesem Bereich noch immer stark unterrepräsentiert sind: „Das ist natürlich schon ´ne andere Variante, und wenn Männer sagen: Also, Krankenbettsitzen, Krankenhausbesuchsdienst, das kann ich nicht, da krieg ich einen zuviel. Wenn ich da einen mit Krebs liegen seh, dann krieg ich einen zuviel. Dann sag ich, für was würdest du denn was machen? Sagt er: Also, so Sachen wie Abholen im Auto, das würd´ ich machen. Gut, dann überlegen wir, was können wir denn organisieren, damit wir den mit im System haben?“
Die Organisation versucht also, sich auf den Bedarf und auf die Möglichkeiten der Freiwilligen einzustellen und sich so zu flexibilisieren, dass sie möglichst viele Akteure einbeziehen kann. Die Verschiebung des Blickwinkels vom Organisationsbedarf zum Bedarf der Freiwilligen ist mit einer anderen Definition derselben verknüpft. Sie werden zunehmend als ernst zu nehmende, intelligente und kreative Personen behandelt, denen kommunikativ auf Augenhöhe begegnet werden muss, damit man sie zur Mitarbeit bewegen kann. Hier kann sich dann eine Asymmetrie ergeben, die umgekehrt funktioniert wie die traditionelle Relation im Ehrenamt: Nicht der Ehrenamtliche lernt etwas von der Organisation, damit er an bestimmten Stellen einsetzbar ist, sondern die Organisation lernt von dem Ehrenamtlichen und profitiert erheblich davon. Die klassische Hierarchie zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen muss bei diesem neuen Design zunehmend aufgegeben werden. In den Worten von Peter Schmidt hört sich das dann so an: „Also, das ist ja, was wir bei Kirche und Caritas oft verkehrt gemacht haben. Wir behandeln die Ehrenamtlichen wie Doofe. Das sind Leute, hier bei der Männergruppe, da ist ein ehemaliger Marketingleiter von C&A. Der weiß mehr über Betriebswirtschaft als ich. Das muss ich doch einfach wissen, wenn ich den frag: Sag mal, Ludwig, wie sollen wir das machen? Dann fängt der an zu erzählen, da kann ich echt was davon lernen. Und das Gefühl ihm zu geben, ich lern jetzt von dir, und nicht: Du bist ehrenamtlich, ich bin hauptamtlich, könntest du mir mal so ´n paar Handlangersachen machen; sondern da sind Leute dabei, hör mal, die haben schon mehr Geld in ihrem Leben bewegt als alle Caritasverbände hier im Kreis Kohlen zusammen. Das sind doch keine Doofen.“
5.4 Karrieremuster: Wege zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit
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Diese Interviewpassage macht auch deutlich, dass die Organisation sich im Niveau der angebotenen Tätigkeitsbereiche an die potentiellen Aktiven anpassen muss, wenn sie diese für eine Mitarbeit gewinnen will. Der hochqualifizierte Manager fühlt sich durch eine einfache Dienstleistungstätigkeit nicht angesprochen. Wenn man ihn jedoch als betriebswirtschaftlichen Berater ernst nimmt, ist er auch bereit, seine Kompetenz einzubringen. Ein ähnlicher Befund ergab sich im Kontext der Freiwilligenagentur. Dort hatte eine gut ausgebildete Akademikerin ihre Leitungsfunktion unter anderem auch deshalb aufgegeben, weil sie die notwendigen Gestaltungsfreiräume nicht bekommen hatte (vgl. Kap. 5.8.4).
5.4 Karrieremuster: Wege zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit An einigen Stellen der Gemeindestudie wurde sichtbar, dass die Tätigkeitssequenzen der Freiwilligen in der Bürgergesellschaft durchaus Strukturmuster aufweisen, die sich sinnvoll mit dem Begriff der „Karriere“ verbinden lassen166. Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Karriere“? Auch hier geht es zunächst, vergleichbar der Karriere im Markt- oder Staatssektor, um eine strukturierte Sequenz von Beschäftigungsrollen, durch die sich Akteure während ihres Lebensverlaufs bewegen. Erving Goffman (1973: 127ff) hat zudem darauf hingewiesen, dass damit jeweils unterschiedliche Identitäten und Selbstbilder verbunden sind. Karrieremuster in der Bürgergesellschaft lassen sich nun analytisch in einem ersten Zugriff in drei Varianten differenzieren: a. b. c.
eine interne Verlaufskurve im Bereich des freiwilligen Engagements; ein Verlauf, der sich zwischen freiwilliger und bezahlter Tätigkeit bewegt; und eine Karriere von Erwerbstätigen innerhalb von Nonprofit-Organisationen – letzteres wurde in diesem Projekt nicht weiter verfolgt.
Freiwilliges Engagement wird bekanntlich mit anderen als geldlichen Gratifikationen entlohnt, und der Zugang zu diesen nichtgeldlichen Gratifikationen markiert hier den Auf- und Abstieg im Verlauf einer Karriere. So kann der Weg von einer untergeordneten Position, in der man vergleichsweise monotone Arbeiten verrichtet und wenige Gestaltungsmöglichkeiten hat, zu einer Leitungsposition führen. Ungeachtet aller Versuche, freiwillige Arbeit im Rahmen der Diskussion um „neues Ehrenamt“ und selbstverwirklichungserpichte Bürger neu zu verorten, gibt es nämlich auch in der Bürgergesellschaft an vielen Stellen deutliche Hie166
Siehe dazu auch Vogt (2003).
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rarchien. Gelingt es einem Akteur hier aufzusteigen, kann er Zugang zu Einfluss und Macht, den Einstieg in Beziehungsnetzwerke sowie nicht zuletzt öffentliche Anerkennung erlangen. Die Führungsposition in einer Stiftung oder Bürgerinitiative ist somit zwar rein monetär gesehen uninteressant, ja mitunter sogar ausgesprochen verlustreich. Dieses Manko kann aber durch Zugewinne an Wissen, Beziehungen, Bekanntheit und Ansehen kompensiert werden. Nicht wenige Akteure, so lässt sich aus den Interviews erkennen, sehen in derartigen Gratifikationen einen großen Nutzen für sich und lassen sich durch entsprechende Optionen zu erheblichen zeitlichen und auch finanziellen Investitionen motivieren167. Die Akteure in der fortgeschrittenen Moderne wollen wissen, was sie von ihrem Engagement haben. Nun sind jedoch Karrieren in der Bürgergesellschaft nicht sinnvoll isoliert, das heißt ohne den Bezug zur Berufskarriere der Akteure zu betrachten. Erst in dieser Perspektive nämlich werden die spezifischen Chancen und Barrieren bürgergesellschaftlicher Karrieren sichtbar. Bevor wir auf die Verlaufsmuster genauer eingehen, lässt sich ein Sachverhalt vorab allgemein formulieren: Die neuen Unübersichtlichkeiten, die nach den Befunden der soziologischen Zeitdiagnose von Sennett bis Beck das Erwerbsleben der Gegenwartsgesellschaft kennzeichnen, genauer: die zahlreichen Diskontinuitäten, die heutige Berufsbiografien durchlaufen168, schlagen sich in einem regen Austausch zwischen den Sektoren nieder169. Berufliche und freiwillige Tätigkeiten laufen teils parallel, aber sie wechseln immer häufiger auch einander ab – nicht zuletzt deshalb, weil Phasen der Arbeitslosigkeit auch in einer „Normalbiografie“ immer üblicher werden. Diskontinuitäten und Sektorenwechsel werden auch in den nun zu erläuternden sechs Karrieremustern deutlich, die sich jeweils in Bezug auf die Berufsarbeit benennen lassen als: Einstieg, Wechsel, Ersatz, Nachfolge, Kompetenzsteigerung und Alternative zur Berufsarbeit: Erstens: Einstieg in die Berufsarbeit: Den „klassischen“ Fall bildet eine Karriere, die vom freiwilligen Engagement zur Berufsarbeit führt. Die Akteure versuchen, im Rahmen ihres Ehrenamtes Qualifikationen und Wissen zu erwer167
Zum Zusammenspiel von Nutzenkalkül und freiwilligem Engagement vgl. Nadai (1996) sowie Dörner/Vogt (2001). 168 Siehe dazu, neben Sennett (1998) und Beck (1999), auch Mutz u.a. (1995); zur Nichtlinearität als Charakteristik von Karrieren in der Gegenwartsgesellschaft vgl. aus karrieretheoretischer Sicht den Beitrag von Bergmann Lichtenstein/Mendenhall (2002). 169 Diese Dynamik wird noch dadurch verstärkt, dass immer mehr Organisationen einen „hybriden“ Charakter haben, indem sie Markt- und Staatselemente ebenso in sich vereinen wie Elemente des Dritten Sektors. So kann ein „Sektorenwechsel“ immer häufiger innerhalb einer Organisation, etwa in einer Stiftung, einer Schule oder einer Jugendhilfeinstitution erfolgen; zu den hybriden Organisationsformen vgl. jetzt Evers u.a. (2002).
5.4 Karrieremuster: Wege zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit
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ben, das sie zur Ausfüllung bestimmter Positionen in der Erwerbsarbeit befähigt170. Dazu gehören auch die spezifischen Strukturen, Institutionen und Arbeitsweisen des Dritten Sektors, der ja – vor allem im Bereich der etablierten „Verbändewohlfahrt“ – einen erheblichen Faktor auf dem Arbeitsmarkt darstellt. So ist die Caritas beispielsweise der größte Arbeitgeber im Bundesland Nordrhein-Westfalen171. Dieses Muster trifft zu für Personen, die sich noch vor der Berufsarbeitsphase in der Schule oder in der Ausbildung befinden. Die Interviews zeigen, dass dieser Aspekt nicht nur genannt wird, sondern auch gezielt im Rahmen einer Karrierepolitik eingeplant werden kann. Nicht weniger wichtig sind neben der Qualifikation auch die Kontakte und die damit verbundenen Informationsvorteile, die man gewinnen kann. Persönliche Beziehungen sind für dieses Karrieremuster oft entscheidend – ein Befund, der mit einschlägigen Studien über Sozialkapital und Joberwerb übereinstimmt172. In manchen Organisationen des dritten Sektors stellt sich der Zusammenhang ganz offen und einfach dar. Die angehende Studentin der Sozialpädagogik Bianca Krause formuliert es so: „Da muss man erst ganz lange freiwillig mitarbeiten, um da später ´n Job zu kriegen.“. Und bei der Studienplatzvergabe konfessioneller Fachhochschulen, darauf wurde oben bereits ausführlich eingegangen, stellt das ehrenamtliche Engagement eine notwendige Voraussetzung dafür dar, dass man sich erfolgreich bewerben kann. Das heißt natürlich nicht, dass dieses Ziel auch immer erreicht wird. Die Logik des Einstiegs in die Berufsarbeit (oder in die dafür erforderliche Ausbildung) lässt sich nach dem Muster einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Voraussetzung beschreiben: Wer sich engagiert, verbessert seine Chancen; wer sich nicht engagiert, braucht sich in der Regel erst gar nicht zu bewerben. Zweitens: Wechsel der Berufsarbeit: Ähnlich gelagert ist ein Verlaufsmuster, das im Zeitalter des „flexiblen Menschen“ (Sennett 1998) an Relevanz gegenüber dem ersten Muster zunimmt. Die Akteure steigen zunächst, gewollt oder ungewollt, aus einer Erwerbsarbeit aus, engagieren sich danach in bürgergesellschaftlichen Kontexten, um schließlich auf einem neuen Berufsfeld wieder in die Erwerbstätigkeit einzusteigen. 170 Zu dieser Funktion von ehrenamtlicher Tätigkeit siehe auch Beher/Liebig/Rauschenbach (2000: 226ff). 171 Im Jahr 2000 beschäftigte der Caritas-Verband in NRW nicht weniger als ca. 185.000 Menschen, bei der Diakonie waren es 115.000. Die starke Rolle der Wohlfahrtsverbände im Bereich der sozialen Dienstleistungen ist in diesem Bundesland besonders ausgeprägt; vgl. dazu Alemann/Brandenburg (2000: 178). 172 Zum Nutzen von Beziehungen, insbesondere von sogenannten „weak ties“ für den Joberwerb vgl. die klassische Untersuchung von Mark Granovetter (1974) sowie die Beiträge von Lin (1982) und Meyerson (1994). Den Zusammenhang von Beziehungen und Karriereverlauf hat Bernd Wegener (1987, 1989) empirisch untersucht.
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Im Feld sind wir beispielsweise der ausgebildeten Pädagogin Sonja Bujack begegnet, die eine Angestelltenposition in einer Anwaltskanzlei – auch aufgrund von steigendem Stress – aufgab, sich dann in der Freiwilligenagentur eine Leitungsposition erarbeiten konnte und später versuchte, sich mit einem eigenen Internet-Unternehmen selbständig zu machen. Die vielfach für Deutschland geforderte neue Kultur der Selbständigkeit kann also auch in derartigen Karrieremustern eine Basis finden. Dieser Weg ist freilich insofern voraussetzungsvoll, als man die bürgergesellschaftliche Phase zwischenfinanzieren muss, was in diesem wie in den meisten anderen Fällen durch ein vom Gatten sichergestelltes Familieneinkommen geschehen konnte. In einem anderen Fall schaffte es die gelernte Erzieherin Gertrud Schumacher durch ihr freiwilliges Engagement gleich zweimal in eine leitende Position hineinzugelangen, die ihr sonst aufgrund des fehlenden Studiums sicher verwehrt geblieben wäre. Die Bürgergesellschaft eröffnet hier Wege, die den üblichen Karriereweg im Bereich Markt oder Staat umgehen können. Der Manager Jan Schreiner schließlich bereitete seinen Ausstieg aus einem Angestelltenverhältnis und seinen Einstieg in die Selbständigkeit dadurch vor, dass er in der Bürgergesellschaft aktiv wurde und gezielt eine große Menge von Kontakten zu machen suchte, um diese dann später als Netzwerk und potentiellen Kundenpool zu nutzen. Drittens: Ersatz für Berufsarbeit: Einige Akteure, die sich in der Bürgergesellschaft engagieren, sind dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgestiegen. Im Sample findet sich u.a. eine 35jährige Frührentnerin, die durch die Freiwilligenagentur eine sinnvolle Tätigkeit suchte – und fand, und damit aus einer Depression herausgelangte. Weiterhin findet sich hier der gelernte Fernsehtechniker Werner Steiner. Er studierte nach seiner Ausbildung, schloss das Studium aber nicht ab und finanziert sich seither mit Gelegenheitsarbeiten und staatlicher Unterstützung, während seine Hauptenergie in bürgergesellschaftliche Projekte einfließt. Schließlich berichtete Frau Trapp als Dauerarbeitslose davon, dass sie immer darauf achten muss, dass ihr Engagement nicht zu häufig in der Zeitung steht, da sonst eine Kürzung des Arbeitslosengeldes droht. Dies geschieht dann, wenn die betreffende Person dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Wenn man also zu häufig ehrenamtlich arbeitet, so hatten Mitarbeiter des Arbeitsamtes gesagt, könne der Eindruck einer Nichtverfügbarkeit entstehen und somit Kürzungen vorgenommen werden. Dies ist, nebenbei bemerkt, einer der Punkte, wo die Politik bislang noch immer versäumt hat, dem Strukturwandel von Ehrenamtlichkeit gerecht zu werden. Stattdessen beschränkt man sich meist auf Maßnahmen symbolischer Politik, wie Thomas Rauschenbach (2001: 21) in einem Beitrag treffend bemerkt hat.
5.4 Karrieremuster: Wege zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit
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Die Arbeitslosen sehen in der Freiwilligenarbeit Chancen, in Kompensation zur fehlenden Berufsarbeit Tätigkeitskontexte mit entsprechenden Kontaktmöglichkeiten, Aufmerksamkeitsgewinnen und Anerkennungsprozessen zu erfahren. Ersatz für Berufsarbeit liegt aber auch in jenen nicht wenigen Fällen vor, in denen Frauen zu Beginn der Kinderphase zugunsten der Familienarbeit ihre Berufstätigkeit aufgaben und nun, nachdem die Kinder selbständig geworden sind und den elterlichen Haushalt verlassen haben, in der Bürgergesellschaft neue sinnvolle Tätigkeitsfelder suchen. Viertens: Nachfolge der Berufsarbeit: Bürgerschaftliches Engagement kann eine zweite Karriere im Pensions- oder Rentenstatus nach der Erwerbstätigkeit eröffnen173. Die typischen Fälle sind Senioren, die durch das freiwillige Engagement den Wegfall des Arbeitskontextes auszugleichen versuchen und, wie oben schon angedeutet, den damit verbundenen Statusverlust ausgleichen. Sie vermeiden damit, in ein tiefes „Loch“ zu fallen, wie es Frau Meier formulierte, die aus einem Caritas-Hauptamt nahtlos in diverse Ehrenämter überwechselte. Sie investiert dort nun nahezu genau so viel Zeit, wie sie früher beruflich bedingt aufbrachte, und sie ist dabei auch noch glücklich174. Das gilt beispielsweise auch für den ehemaligen Schuldirektor König, der nun auf dem Hof der Stiftung Computerkurse durchführt und im Management des Hofs tätig ist. So wird das eigene Selbstwertgefühl bewahrt und ein neuer kommunikativer Kontext eröffnet, der mitunter sogar den fehlenden oder wegbrechenden familiären Kontext zumindest partiell ersetzen kann. Einigen hochqualifizierten Senioren gelingt es mitunter, ihre Ressourcen so einzusetzen, dass sie tatsächlich in öffentlich exponierte Positionen gelangen, die sogar ein höheres Maß an Anerkennung generieren, als es die Berufsarbeit vermochte. Ein interessantes Beispiel bietet Kurt Koller, ehemaliger Bürgermeister und Arbeitsdirektor einer Ruhrkohle-Zeche, der zwischenzeitlich in Ostdeutschland zahlreiche Arbeitsplätze abgewickelt hatte und dafür in seiner Heimat heftig kritisiert worden war. Nach der Berentung hat er sich mit großem Elan in eine leitende Stiftungsarbeit begeben. Dadurch erhielt er besondere Anerkennung und gewann den Status einer unumstrittenen, moralisch integeren und weithin anerkannten Persönlichkeit. Dieser Karriere-Ertrag eines Moralitätsgewinns wäre auf anderen Wegen nur schwer erreichbar gewesen. Bürgergesellschaft funktioniert hier wie eine moralische Waschanlage. Der Moralitätsgewinn wurde dann später sogar umgemünzt in einen Wiedereinstieg in die politische Karriere. Seit dem
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Siehe dazu Kohli u.a. (1993). „Ja, also es ist so, man kann nicht von so einem Aufgabenbereich, den man vorher hatte, dann so total zurückfahren, das ist nicht gut. Da fällt man in ein Loch. Man muss sich Aufgaben suchen“ (Frau Meier).
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Herbst 2004 ist Herr Koller als Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Stadtrat tätig. Die Option „Nachfolge der Berufsarbeit“ wird von einigen Akteuren sogar schon während ihrer beruflichen Tätigkeit vorbereitet, indem sie sich in dieser Lebensphase bürgerschaftliche Kontexte erschließen, die sie dann nach dem Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit zu nutzen gedenken175. Fünftens: Kompetenzsteigerung in der Berufsarbeit: Ein wichtiges Verlaufsmuster enthält die Förderung der beruflichen Karriere durch freiwilliges Engagement. Hier vor allem kommt der Status der Bürgergesellschaft als Qualifikationsfeld zum Tragen. Die Akteure verbleiben in der Erwerbsarbeit bzw. verlassen diese nur kurzfristig, um durch ehrenamtliche Tätigkeiten etwa in der Jugendarbeit zusätzliche Fähigkeiten zu erwerben. Der Wert solcher Qualifikationen wird mittlerweile weltweit von immer mehr Unternehmen erkannt, sodass vielerorts schon Managern entsprechende Maßnahmen empfohlen werden. Zahlreiche Modellprojekte eines Austausches zwischen „klassischer“ Wirtschaft und „Drittem Sektor“ etwa in der Schweiz und neuerdings auch in Deutschland deuten darauf hin, dass hier tatsächlich ein erhebliches Potential gesehen wird176. Karrierepolitik wird dabei sowohl von den Individuen als auch von den korporativen Akteuren betrieben, die das bürgerschaftliche Engagement als eine Karrierestation fest einplanen. Sechstens: Alternative zur Berufsarbeit: Das letzte der zu erörternden Verlaufsmuster wirkt zuerst überraschend, offenbart aber bei näherem Hinsehen durchaus Plausibilität. Die berufliche Arbeit wird hier zugunsten eines umfangreichen Engagements in der Bürgergesellschaft aufgegeben, weil man im freiwilligen Engagement andere Möglichkeiten erblickt als im bezahlten Job. In der vorliegenden Studie zeigt sich dieses Verlaufsmuster im Beispiel der Ärztin Angelika Wirtz. Sie war in leitender ehrenamtlicher Stellung einer Nonprofit-Organisation tätig und merkte bald, dass die zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen der freiwilligen Tätigkeit so groß wurden, dass die Berufsarbeit darunter litt. Sie entschied sich, die Erwerbstätigkeit aufzugeben, um sich 175
Dies beschreibt Frau Simon, die sich gezielt jetzt schon ehrenamtliche Kontexte schafft, um später nicht das vermissen zu müssen, was ihr derzeit der berufliche Kontext bietet: „Und ich kann mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen, mein Leben von einem Alter X an von einer sinnstiftenden Beschäftigung abzukoppeln. Das heißt, was mach ich denn dann, wenn ich aus meinem Beruf bin? (…) Und, ich kann mir halt wirklich nicht vorstellen, dass ich irgendwann da sitze und sage, jetzt fahr ich nach Mallorca, und wenn ich von Mallorca zurück bin, dann setzt ich mich in meinen Vorgarten und warte mal, ob mich einer besuchen kommt.“ 176 In der Schweiz wird seit Jahren erfolgreich das Projekt „Seitenwechsel“ betrieben. Vor allem weltweit agierende Unternehmen haben jedoch auch in anderen Ländern zeigen können, dass sich der ehrenamtliche Einsatz von Mitarbeitern sogar im Sinne der direkten Effektivitätssteigerung rechnen kann; vgl. dazu Janning/Bartjes (1999).
5.4 Karrieremuster: Wege zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit
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ganz dem exponierten Ehrenamt zu widmen. In dieser Tätigkeit ist Frau Wirtz nicht nur zu einer örtlichen Berühmtheit geworden, sondern bekam auch Zugang zu Kreisen, die ihr vorher verwehrt blieben, bis hinauf zum nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten. Hier kommt die oben im Zusammenhang mit Goffman angesprochene Dimension von Karrieren ins Spiel, die Identitäten und Selbstbilder betrifft. Die Karriere in der Bürgergesellschaft eröffnete für Frau Wirtz Möglichkeiten, sich selbst als anerkannt und wichtig zu erfahren, die ihr eine immerhin relativ hochkarätige Berufsarbeit als Ärztin nicht bieten konnte. In einigen wenigen Fällen verläuft das freiwillige Engagement ganz parallel zur Berufsarbeit, ohne dass dort ein Wechsel, eine Weiterqualifikation o.ä. angestrebt wäre. Hier dient das Ehrenamt dazu, Defizite in der Berufsarbeit auszugleichen: Defizite an Selbstbestimmung, Sinndefizite oder auch Defizite an (öffentlicher) Anerkennung. So gelingt es Gerlinde Schuster, einer in verschiedenen bürgergesellschaftlichen Kontexten höchst aktiven Steuerberaterin, durch ihre Aktivitäten immer wieder die Aufmerksamkeit der lokalen Presse auf sich zu lenken und so das Leben einer „öffentlichen Person“ in der Kommune zu führen. In diesem Spektrum von Karriereoptionen ist immer wieder deutlich geworden, wie wichtig verschiedene Formen von Ressourcen in Form unterschiedlicher Kapitalien im Prozess der Karrierepolitik sind. Die untersuchten Akteure streben einerseits durch karrierepolitisches Handeln den Erwerb von Kapital an. Das gilt unmittelbar nicht für ökonomisches Kapital, das im Freiwilligenstatus als Gratifikation kaum zur Verfügung steht. Mittelbar aber geht es Akteuren auch um einen Einstieg oder Wiedereinstieg in Erwerbspositionen, die nicht zuletzt mit Entgeltperspektiven verbunden sind. Wichtiger erscheint das Streben nach kulturellem Kapital in Form von Wissen und Fähigkeiten, also der Erwerb von Qualifikationen, die für jegliche Interessenverfolgung im Leben entscheidend sind. Vielen Akteuren geht es schließlich auch um soziales Kapital, um nützliche Beziehungen, und vor allem um das symbolische Kapital von Anerkennung und öffentlicher Wertschätzung177. Bei all dem wird aber auch deutlich, dass Kapitalien andererseits zugleich eine Voraussetzung von erfolgreicher Karrierepolitik darstellen. Ohne geldliche Absicherung, ohne gute Bildung, ohne Beziehungen und ohne Ansehen kommt man in gute Positionen in aller Regel nicht hinein. Auch die karrierepolitische Strategiefähigkeit selbst, die Fähigkeit dazu, eine Karriere zu planen und trotz Widerständen und Hindernissen durchzuziehen, ist als kulturelles Kapital anzusehen. Das Zusammenspiel der Kapitalien als Handlungsziel (man will Qualifi177
Zur Logik des symbolischen Kapitals der Ehre und Anerkennung siehe ausführlich Vogt (1997).
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kationen, Kontakte, Anerkennung bekommen) und als Handlungsressource der Akteure (man braucht schon Kapital, um überhaupt etwas zu erreichen) gilt es also genau in den Blick zu nehmen, wenn man die Funktionsweise von Bürgergesellschaft vor Ort verstehen will. Darauf wird im übernächsten Kapitel noch ausführlicher eingegangen.
5.5 Posttraditionale Vergemeinschaftung Zunächst einmal wurden, insbesondere bei den älteren Aktiven und im Kontext des christlich geprägten Milieus der Caritas, Formen der traditionalen Vergemeinschaftung sichtbar. Man fühlt sich zu Gemeinschaften zugehörig, die nicht gewählt, zeitlich begrenzt und folglich auch nicht nach Belieben wieder zu verlassen sind. Gemeint ist damit zum einen die konfessionell definierte Gemeinschaft mit dem Zentrum der Kirchengemeinde und ihres organisatorischen Vorbaus. Für diejenigen älteren Akteure, die noch unproblematisch in dieses kirchliche Milieu hineinsozialisiert wurden, steht die Bindung an die Gemeinschaft nicht zur Disposition. Kirche und organisatorischer Vorbau bilden ein fest gefügtes, institutionalisiertes Sozialkapital, das aufgrund seiner hohen Bindungs- und Verpflichtungskraft eine erhebliche Ressource für die Rekrutierung von freiwilligen Helfern bildet. Diese Bindungskraft greift aber in der Regel nur noch bei den älteren Bürgern, die der Erosionsprozess traditionaler Bindungen nicht mehr erreicht. Diese ‘verlässlichen Truppen’ des traditionellen Ehrenamts sterben faktisch aus. Im Zusammenhang mit dieser traditionalen Bindungskraft gewinnt auch der oben bereits angesprochene Aspekt der persönlichen Ansprache bei der Rekrutierung von Akteuren eine andere Einfärbung. Wenn man in einem gewachsenen Netzwerk von Bekanntschaften angesprochen wird, fällt es deutlich schwerer, nein zu sagen. In der einschlägigen Literatur wird im Zusammenhang mit sozialer Kontrolle auch von der „dunklen Seite“ des Sozialkapitals gesprochen178. Dies zielt auf den hohen Grad an Verbindlichkeit, der von einem dicht geflochtenen Netz gegenseitiger sozialer Bindung ausgehen kann. Diese soziale Kontrolle macht es einem Akteur fast unmöglich, „nein“ zu sagen, wenn er von angesehenen und einflussreichen Personen des Milieus gezielt für eine freiwillige Tätigkeit angesprochen wird. Die Organisation kann die dunkle Seite des Sozialkapitals strategisch einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Im Grunde ist hier jedoch das Moment der Freiwilligkeit von Bürgergesellschaft schon mit einem soziologischen
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Portes/Landolt (1996), Levi (1996) und Putnam (2000: 21f.).
5.5 Posttraditionale Vergemeinschaftung
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Fragezeichen zu versehen, denn es handelt sich eher um einen sanften Zwang als um eine freie Entscheidung, sich zu beteiligen. Die zweite traditionale Form von Gemeinschaft im Kontext der Bürgergesellschaft, die jedoch weitaus weniger Bindungskraft entfaltet, stiftet der Lokalpatriotismus. Er konstituiert eine verpflichtende Bindung an die heimatliche Gemeinde. Einige ältere Bürger haben in den Interviews eine solche Bindung angesprochen in dem Sinne, dass man seiner Heimatstadt etwas „zurückgeben“ müsse. Auch hier ist also die Bezugsgemeinschaft nicht temporal beschränkt und wählbar, auch hier greift eher das Moment der Verpflichtung. Diese traditionalen Formen der Vergemeinschaftung sind jedoch auch in unserer untersuchten Stadt auf dem Rückzug. Sie sind vorzufinden bei älteren und bei kirchengebundenen Akteuren, aber selbst in dieser Gruppe erodiert das Verpflichtungsgeflecht, und auch hier suchen die Akteure nach weniger bindenden, posttraditionalen Gemeinschaftsformen. Zwei Phänomene sind in diesem Zusammenhang aussagekräftig: Zum einen fungiert der bürgergesellschaftliche Zusammenhang bei einigen Akteuren auch als ein Familienersatz, als ein Kontext, wo man als Person unhinterfragt akzeptiert wird, wo man so etwas wie gegenseitige Fürsorge spürt, miteinander feiert und biografische Stationen miteinander zelebriert. Diese „Ersatzfamilie“ ist nicht vorgegeben, sondern gewählt. Ein typisches Beispiel sind die projektgebundenen Gruppen bei der Caritas. Die langjährige Mitarbeiterin Frau Krämer beschreibt den Gruppenzusammenhang so: „Dieses Gruppentreffen ist sicherlich sehr wichtig, um auch zu sehen, wie ´s den anderen geht. Und wenn bei mir irgendetwas ist, kann ich das ja dann loswerden. Ich würde dann auch unterstützt, wenn irgendetwas wäre, was geändert werden müsste. Und ich lerne auch wieder Menschen kennen. Ganz unterschiedlich. Haben Sie ja gesehen in der Gruppe, ne? Da kann man ja nicht irgendwie sagen, dass die sich bewusst zusammengesucht haben. Nie im Leben. Die sind alle sehr unterschiedlich. Aber man kommt als Gruppe auch wieder zusammen. Das ist auch wieder so etwas, was sehr wertvoll ist.“ Der Gruppenzusammenhang wird hier zwar keinesfalls als Selbstzweck dargestellt. Es geht zunächst einmal darum, zweckorientiert einen Zusammenhang zu haben, bei dem man sich gegenseitig in der Arbeit unterstützen kann. Aber dann ist es doch mehr. Die eher zufällig entstandene, an dem Projekt orientierte Gruppe wird als angenehm empfunden, als „wertvoll“ in sich selbst. Ähnliches drückt eine andere, in derselben Gruppe engagierte Dame aus. Sie genießt es, „von der Gruppe akzeptiert zu werden. Da bin ich wer“ (Frau Hoffmann). Solche Erfahrungen von Geselligkeit und Gruppenkommunikation, das Gefühl, anerkannt zu sein, werden aufgesucht, weil sie eben nicht mehr selbstverständlich gegeben sind, etwa im Kontext der eigenen Familie. Hier wird das „offiziel-
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le“ Verhältnis von Zweck und Mittel nahezu umgekehrt: Wurde zunächst die Gruppe gebildet, um die Mitglieder besser bei ihrer freiwilligen Arbeit zu unterstützen, so wird die Gruppenerfahrung jetzt auch von vielen als etwas Wertvolles an sich angesehen, für dessen Mitgliedschaft man die mitunter mühevolle Arbeit erbringt. Frau Krämer macht in ihren Erzählungen noch auf einen weiteren interessanten Aspekt aufmerksam. Befragt nach den Motiven, aus denen heraus sie ehrenamtlich tätig ist, verweist sie auf den Kontext ihrer Herkunftsfamilie im Münsterland. Dort wurden Erfahrungen gesammelt, die sie gerne in die stark veränderte Gegenwart übertragen möchte: „Aus dem Münsterland komm ich. Und, da kenn ich also noch ´n Familienzusammenhalt, auch wenn der nicht immer so optimal war. Aber es gab immer Menschen die gesagt haben, gut, wir sind da. Und wenn es Nachbarn waren. Das ging gar nicht ohne dem. Viele Dinge konnten ja gar nicht anders ausführt werden. Und das kann ich gut weitergeben. Also ich find das einfach wichtig, auch mit anderen etwas zu tun. Wenn ich eben sehe, diese eine Dame hat keinen Besuch. Der Sohn, in Oberhausen wohnt der. Ja, der kommt alle vierzehn Tage mal zum Wochenende. Dann find ich das einfach schade. Ich hab die Zeit, warum soll ich die nicht besuchen kommen?“
Der früher selbst erfahrene Zusammenhalt eines Familienverbandes, der in der Gegenwartsgesellschaft für viele Menschen so nicht mehr erfahrbar ist, wird aufgrund der fehlenden Gegebenheit gleichsam selbst hergestellt. Die traditionale Gemeinschaft, die fast allerorten erodiert, wird ersetzt durch eine hergestellte, quasi traditionale Gemeinschaft. In dieser Perspektive kann dann auch die Caritas selbst bzw. eine bestimmte Gruppe innerhalb des Verbandes zu einer Art posttraditionalem Familienersatz werden. Zum anderen lässt sich bei Jüngeren auch ein posttraditionaler Umgang mit traditionalen Gemeinschaften beobachten. Kirchengemeinde und Caritas werden hier genutzt wie ein gewählter Bezugskontext. So zieht Patrick Fuchs eine explizite Parallele zwischen seiner Gemeinde und dem Fußball-Fanclub „The Unity“, dem er angehört. „Ich meine, die sind ja auch alle ehrenamtlich irgendwo tätig. Ich mein, da ist natürlich die Begeisterung für diesen Verein dann da, aber da wird ja auch schon sehr viel Zeit irgendwie ehrenamtlich für aufgeopfert. Zum Beispiel so für Choreographien erstellen oder so. Wenn wir da was gebastelt haben, so ´ne große Blockfahne hatten wir zum Beispiel letztes Jahr, da sind dann auch vorher zwei Wochen mit drauf gegangen. Dann haben wir uns jeden zweiten Abend getroffen und die Planen zusammengeklebt und ausgeschnitten. Wieder nach Dortmund gebracht, und so, dann vor-
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her im Stadion gewesen, Stunden vorher. Ich mein, die Zeit, die kann man eh gar nicht messen. Also da geht viel Zeit bei drauf.“
Beide Kontexte bieten viel Spaß, aber auch einen gewissen Grad an Verbindlichkeit. Kirchengemeinde wie Fanclub sind in den Augen von Patrick gewählte Gruppen, die grundsätzlich auch verlassen werden können. Wenn es mit der Zeit eng wird, dann wird mal der eine und mal der andere Kontext zeitlich reduziert. Als besonders schön wird es dann empfunden, wenn beide Kontexte sogar mit einem Synergieeffekt verknüpft werden können: „Und jetzt fahr ich ja auch wieder ins Ferienlager, und auf der Rückfahrt ist an dem Samstag, da wär ´n wir eigentlich erst um zweiundzwanzig Uhr wieder hier, aber da ist ein Pokalspiel, erste Runde in Lübeck. Und wir sind ja in Dänemark und, wir nehmen da immer noch einen Hänger mit und einen Sprinter, dass wir halt da ein bisschen mobil sind; weil der Bus, der uns hin bringt, bleibt ja nicht vor Ort, so dass wir dann da noch ´n Auto haben, wenn wir ins Krankenhaus müssten oder irgendwie was einkaufen müssten und so weiter. Haben wir immer ein Auto mit, und dann ist das so: Dann fahr ich an dem Samstag morgens um sechs Uhr oder sieben Uhr wahrscheinlich mit dem Auto mit einem Freund zurück, der setzt mich dann in Lübeck am Stadion raus und fährt dann weiter nach Kohlen, und dann nachts oder nach dem Spiel fahr ich dann mit meinen Freunden vom Fußball mit ‚The Unity’ zurück in dem Bus“ (Patrick Fuchs).
Die posttraditionalen Gemeinschaften sind also durchaus miteinander kombinierbar. Und wenn es dann doch einmal zu zeitlichen Kollisionen kommt, werden jeweils kurzfristig Prioritäten gesetzt. Der gemeinschaftliche Charakter eines gewählten zivilgesellschaftlichen Kontextes war besonders gut in der Bürgerstiftung beobachtbar. Zunächst einmal bildet auch hier der Arbeitskontext des Jugendhofes ein Forum, auf dem man ohne großen Aufwand gesellige Kontakte knüpfen und neue Menschen kennenlernen kann: „Ich lerne unglaublich viele Leute kennen, was also wirklich ´ne Bereicherung ist. Also das sind ja nicht nur die Helfer, die man jetzt im Laufe der Zeit kennen lernt. Es kommt ja Gott und die Welt mal vorbei und kuckt mal, oder will mal was sehen oder fragt, so dass man also ununterbrochenen Kontakt hat zu anderen Leuten. Das ist vielleicht so das, für mich persönlich das wichtigste, ne? Man ist nicht isoliert. Also, es ist jetzt kein Bekanntenkreis, sondern einfach nur Leute, die man, mit denen man wieder Kontakt hat. Man ist unter Leuten, führt Diskussionen, Gespräche sehr unterschiedlicher Art“ (Frau Berger).
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Hier zeigt sich, dass es gerade die lose gekoppelten Kontakte sind, die von Frau Berger als so wertvoll erfahren werden. Es herrscht nicht die gleiche Verbindlichkeit wie in einem Bekanntenkreis, sondern die lockere Struktur von geselligen Zusammenhängen, aus denen man dann aber natürlich diejenigen Kontakte, die man selber gerne vertiefen würde, jederzeit auswählen kann. Für Christiane Berger ist dieser Aspekt insofern besonders wichtig, als sie vor wenigen Jahren ihren Ehemann durch Tod verloren hat und die Erfahrung der Isoliertheit eine sehr konkrete ist. Das lebendige Hoftreiben bietet dazu einen willkommenen Kontrast. Andere Menschen nutzen für solche Kontaktsuche das Cafe oder die Kneipe. Der Vorteil des Hofs liegt demgegenüber darin, dass man schon eine gewisse positive Vorauswahl der potentiellen Kontakte vorfindet. Man lernt auf dem Hof eher gleichgesinnte und vom Alter sowie sozialstrukturell ähnlich gelagerte Personen kennen. Neben diesen lose gekoppelten Kontakten kristallisieren sich jedoch auch festere Strukturen heraus. So bildeten die Freiwilligen auf dem Hof einen „Club von gleichgesinnten Senioren“ (Aussage einer hauptamtlichen Betreuerin), der sich auch territorial im Alltag auf dem von der Stiftung betriebenen Jugendhofprojekt von den Hauptamtlichen in der Organisation abgrenzte. Dies war vor allem wichtig in einer Phase, wo es zu Spannungen zwischen Freiwilligen und hauptamtlichen Betreuern gekommen war: „Die Geschichte ist dann so, dass die Freiwilligen, das habe ich am Samstag auch gesagt, mit so einer Schrebergartenmentalität das Backhaus akquiriert haben. Dickes Schild drauf: Rauchfreie Zone. Heinz hat geraucht, ich habe geraucht, meine Kollegin Karo hat geraucht, und der Siggi als freiwilliger Mitarbeiter hat auch geraucht. Das war eindeutig ein Machtzeichen setzen. Es ist auch nachvollziehbar. Mit dieser Schrebergartenmentalität meine ich: Ich habe meine eigene Parzelle, und das ist das Backhaus. Und da will ich herrschen, und da will ich Macht haben. Und das ist der Freiwillige in seiner Doppelfunktion, einmal Beschäftigter zu sein und auf der anderen Seite immer den Hof nutzen zu können. Aber als Ort zu nutzen, wo ich mich mit gleich gesinnten Senioren treffen kann“ (Frau Schumacher).
Gemeinschaft hat auch mit Territorialität zu tun, insofern sich die eine Gruppe gegenüber anderen deutlich abgrenzen und so die interne Integrationskraft erhöhen kann. Die Gruppe konstituiert und festigt sich, indem sie sich abgrenzt. Gleichzeitig ging es darum, sich als Gruppe von Freiwilligen gegen eine zu starke Hierarchiebildung durch die hauptamtlichen Beschäftigten auf dem Hof zu verwahren. Dieses Bedürfnis der Gemeinschaft der Freiwilligen kommt auch in einem anderen Zusammenhang deutlich zum Tragen. Man hatte gegenüber der Hofleitung zu bestimmten Abläufen auf dem Hof klare Kritik geäußert. Um einerseits diese
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Kritik in einem entsprechenden Forum aufzufangen und andererseits eine Geselligkeitsplattform anzubieten, wurde schließlich ein Stammtisch für die Freiwilligen veranstaltet: „Nach einem Jahr hat sich unser Chef verstanden, einen Freiwilligenstammtisch zu machen. Der ist dann einmal gelaufen, und da ist dann Kritik an der Hofleitung geübt worden. Nach vier Wochen sollte dann eine zweite Auflage kommen. Da haben die Freiwilligen gesagt, da gehen wir nicht hin. Das was wir vor vier Wochen gesagt haben, liegt genauso brach wie damals. Also gehe ich da nicht mehr hin, ändert ja doch nichts“ (Frau Schumacher).
Dies zeigt die Grenzen der Gemeinschaft. Der Freiwilligenstammtisch, den man auf dem Stiftungshof installieren wollte, scheiterte. Die Akteure merkten, dass die dort geführten Gespräche und Kritiken keine sachlichen Konsequenzen in der Politik der Hofleitung zeitigten. Ein Stammtisch, der angeblich als Partizipationsforum dienen sollte, wurde von den Aktiven als ein nur scheinbares Mitbestimmungsorgan empfunden und daher abgelehnt. Die unverbindliche Geselligkeit hinter der Fassade eines sachorientierten Diskurses führte zu Enttäuschung und Glaubwürdigkeitsverlust. Geselligkeiten werden als Geselligkeiten geschätzt. Hätte man es bei einem geselligen Stammtisch belassen, wäre der durchaus akzeptiert worden. Das wird deutlich, wenn Gertrud Schumacher beschreibt, dass ein gleichzeitig eingeführtes Ritual des gemeinsamen morgendlichen Kaffeetrinkens von allen gern angenommen wurde: „Ich habe damals in der Freiwilligenbetreuung jeden Morgen um zehn Kaffee für die gekocht. Das war ein Ritual, das haben die gebraucht“. Die Gemeinschaftlichkeit der Freiwilligen wurde also von Seiten der Organisation durchaus mit gezielt gesetzten und gepflegten Ritualen auf Dauer gestellt. Ähnlich gut angekommen sind gelegentliche gemeinsame Mittagessen, die von den Hauptamtlichen initiiert wurden. Posttraditionale Gemeinschaftlichkeit kann also im Sinne der Organisationsziele bewusst konstruiert werden, um die Freiwilligen zu ihrem Engagement zu „verführen“179. Die verschiedenen Organisationsformen im Dritten Sektor von der Caritas bis zur Freiwilligenagentur haben das gemeinschaftsstiftende Potential ritueller Geselligkeiten erkannt und versuchen, in verschiedenen Formen und mehr oder weniger systematisch diesem Punkt Rechnung zu tragen. Exemplarisch wird das Potential von Bürgergesellschaft als posttraditionale Gemeinschaft sichtbar in den Ausführungen des ehemaligen Schullehrers und
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Im Sinne des oben angesprochenen Paradigmenwechsels von der Verpflichtung zur Verführung, vgl. Hitzler (1999).
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Pensionärs Wolfgang König auf dem Jugendhof. Er beschreibt das Hofleben zunächst so, dass es dort zugehe „wie auf dem Dorf“: „Es geht, wissen Sie, es geht wirklich hier manchmal zu wie auf ´m, ich muss immer wieder sagen, wie auf ´m Dorf. Dann kommt der Bäckermeister, sagt, hier ich hab ´n neuen Kuchen gebacken, bringt ´ne Kostprobe rauf. Dann kommt einer und sagt, hier mein Computer ist kaputt, können Sie nicht mal eben mit in unser Büro kommen? Oder der Doktor Schultz kam Donnerstag und sagte: Nächste Woche ist hier ´ne Vernissage, können Sie nicht mal eben ´ne Mail rausschicken? Das mach ich dann wieder für den Hof. Und das find ich, das is´ eben das schöne, die Stammbelegschaft da, die sich kennt. Und es geht anders nicht. Diejenigen, die da ausscheren wollten, die sind hier falsch. Denn dafür ist die Aufgabe viel zu schwer“ (Herr König).
Das Dörfliche besteht aus einer Vielzahl von engen Kontakten, von gegenseitiger Hilfe und Gaben, und natürlich von enger gegenseitiger Bekanntschaft. Man pflegt enge Nachbarschaft, feiert und grillt gemeinsam. Es wird aber in dem Zitat auch deutlich, dass die enge, dörfliche Integration auch ihre Schattenseiten hat. Wer „ausschert“, der riskiert eben seinen Ausschluss aus dem Gemeinschaftskontext. Bei all dem betont Herr König dennoch die Differenz zur klassischen traditionalen Gemeinschaft. Denn man könne auf dem Hof „den Rückzug immer offen halten“, damit es nicht zu belastenden Bindungen und Verpflichtungen komme, wie man sie doch aus der eigenen Familie oder dem Berufsleben kenne. Man muss, so der Aktive, „sich jederzeit abmelden können“. Entsprechend geht er mit allen Freiwilligen um, die ihn nach den Arbeitszeiten auf dem Hof fragen: „Mich hat jetzt jemand gefragt – ich hab einen neuen geworben, einen richtig tollen Mann hier für den Garten, ist ´ne echte Bereicherung –, hat er mich dann gefragt: Wann hab ich denn, wie is´ die Arbeitszeit bei ihnen? Ich sag, bei uns ist die immer so wie sie die wünschen. Sie kommen wann sie wollen, sie gehen wann sie wollen. Ja, und wie viel Wochentage muss ich hier dann arbeiten? Ich sag, genauso viel, wie ihre Frau sie gehen lässt, und nicht mehr und nicht weniger. Das geht nicht anders“ (Herr König).
Diese Aussagen werden von Frau Berger, der auf dem Hof tätigen Gartenbauingenieurin, eindeutig mit Verweis auf den hohen Wert der Freiheit, die die Aktiven dort genießen, bestätigt: „Die Stiftungsarbeit hat ja dann den Vorteil, dass ich sehr frei entscheiden kann, wann ich komme, wann ich gehe, wie lange ich arbeite, wie hoch mein Arbeitsein-
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satz ist. Ich bin sehr frei in meinem Umfang der Arbeit, das kann ich selbst bestimmen.“
Herr König, der selbst in einem Dorf im Sauerland aufwuchs, sucht auf dem Hof einerseits ein Äquivalent zur dörflichen Gemeinschaft, ist jedoch andererseits froh darüber, dass die Hofgemeinschaft weniger Verbindlichkeit und soziale Kontrolle ausübt als die traditional gewachsenen Dorfgemeinschaften. Man kann hier immer auch „nein“ sagen180. Wie oben schon angedeutet wurde, kann die eher lose gekoppelte Struktur von Kontakten und Beziehungen in bürgergesellschaftlichen Zusammenhängen auch jederzeit als Ausgangsbasis zu festeren Relationen genutzt werden. Eine solche Perspektive wirft Werner Steiner auf. Er verweist im Zusammenhang mit den Motiven für sein Engagement auf einen für ihn ganz zentral wichtigen Aspekt, die Entstehung von langfristigen Freundschaften: „Bei so ´ner ehrenamtlichen Arbeit entsteht ja eben nicht nur, dass man ´n bestimmtes Thema zusammen beackert, sondern entstehen auch Freundschaften. Und die Freundschaften, auf die kann man sich also auf eigentlich unglaubliche Art und Weise verlassen. Das ist wirklich toll. Kann man nicht anders sagen.“
Das gelte besonders bei den Freundschaften mit Menschen, die auch „in der ersten Linie gestanden haben“. Der „Zusammenhalt“ dort sei besonders groß. Eine solche Beschreibung erinnert stark an jene Verbindungen, wie sie Veteranen aus Kriegskontexten untereinander knüpfen. Das Entscheidende dabei ist die Gemeinsamkeit der Erfahrungen und das Gefühl, gemeinsam für oder gegen etwas gekämpft zu haben. Wichtig ist, dass aus einem bloßen Kooperationszusammenhang im Laufe der Zeit eine Gemeinschaftlichkeit entsteht, die mehr Verbindlichkeit hat als bloße Zufallsbekanntschaften. Und dennoch bleibt die Abgrenzung zur traditionalen Gemeinschaft dadurch bestehen, dass der Kontext freiwillig gewählt wurde und jederzeit verlassen werden kann, wenn es beispielsweise zu Zerwürfnissen oder zu einem Wandel der eigenen Lebensweisen und Interessen kommt.
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Diese Möglichkeit, „nein“ zu sagen, ist insofern konstitutiv für Bürgergesellschaft insgesamt, als hier das Kriterium der Freiwilligkeit als ein Kernmoment der Zivilgesellschaft in Abgrenzung vom Staat, aber auch vom Markt berührt ist; siehe dazu Nassehi (2000).
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5.6 Die Voraussetzungshaftigkeit des Engagements: Bürgergesellschaft und soziale Ungleichheit 5.6 Die Voraussetzungshaftigkeit des Engagements Über lange Zeit hinweg wurde bei der Erforschung von Ehrenamt und Bürgergesellschaft der Aspekt der sozialen Ungleichheit vernachlässigt. Erst seit wenigen Jahren wird diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit zuteil (vgl. Brömme/Strasser 2001, Offe/Fuchs 2001). In diesen Studien wurde herausgearbeitet, dass die neuen Formen der Bürgergesellschaft erhebliche Partizipationsasymmetrien aufweisen. Vor allem der Faktor Bildung ist offenbar wichtig dafür, ob Akteure in Netzwerken und Organisationen der „neuen“ Bürgergesellschaft tätig werden oder nicht. Und da Bildung wiederum sehr eng mit der sozialen Herkunft, etwa dem Einkommen der Herkunftsfamilie korreliert, zeichnete sich hier durchaus das Bild der Bürgergesellschaft als Klassengesellschaft ab. Die Stadtstudie bestätigt zwar zunächst das Bild, das in der neueren Forschung von der Diskrepanz zwischen „alter“ und „neuer“ Bürgergesellschaft gezeichnet wird. In der Caritas als typischer Organisation der „alten“ deutschen Verbändewohlfahrt partizipieren neben den Mittelschichten auch Akteure, die ein geringes Volumen an ökonomischem und kulturellem Kapital aufweisen. Hier finden sich auch Aktive, die lediglich einen Hauptschulabschluss oder gar keinen Schulabschluss vorweisen können und ihren Lebensunterhalt als ungelernte Arbeiter bestreiten bzw. bestritten haben. In den Organisationen der „neuen“ Bürgergesellschaft dagegen bringen die Akteure meist ein höheres Bildungskapital mit. In der Freiwilligenagentur sind Handwerksmeister, Manager, pensionierte Lehrer, Gymnasiasten und Studierende tätig. Die neuen, ungewohnten Formen der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation laden offenbar vor allem Akteure mit erheblichem Bildungskapital zum Mitmachen ein, während man in der Caritas auch als wenig gebildete Person tätig wird, weil hier oft eine milieu- oder familienspezifische Tradition vorhanden ist, die eine gewisse Selbstverständlichkeit der Beteiligung bedingt. Man muss keine Schwellen überwinden und sich auch nicht in neue, unübersichtliche Organisationsformen hineindenken, sondern kann den gewohnten Pfaden des eigenen alltagsweltlichen Kontextes folgen. Verschärft stellt sich das Problem der Voraussetzungshaftigkeit in der Bürgerstiftung dar. Hier ist nicht nur Bildungskapital gefragt, sondern auch ökonomisches Kapital. Bei einer Stiftung spielt der Faktor Geld schon aus strukturellen Gründen eine wichtigere Rolle. Stifter kann man per definitionem nur dann werden, wenn man Geld einbringt. Zwar liegt die Schranke in Kohlen mit 1.000 DM (520 ) noch vergleichsweise niedrig, wenn man etwa bedenkt, dass man in Hannover erst ab der dreifachen Summe dabei ist und diese Einlage dann später noch ergänzen muss, wenn man dabei bleiben will. Aber in einer Stadt, die nach
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den letzten Zechenschließungen durch eine erhebliche Arbeitslosigkeit gezeichnet ist, stellt auch diese Summe für viele eine deutlich wahrnehmbare Schwelle dar. Diese finanzielle Schranke wird sowohl von den Trägern der Stiftung als auch von den außen vor bleibenden Bürgern durchaus als Exklusionsmechanismus wahrgenommen. So berichtet Vorstandsmitglied Frau Werner: „Wir haben sehr viele Leute, die uns inzwischen angesprochen haben, die aber an der Stiftung das finanzielle Problem schockt. Stiftung braucht ja ein Grundkapital, um überhaupt gegründet werden zu können. Und wenn man von 40 Stiftenden ausgeht, muss das mindestens ein Tausender sein, wenn nicht mehr. Es ist dann ein Stiftungskapital von 120 000 Mark zusammengekommen, aber das hat sicher auch eine Menge Menschen in Kohlen davon abgehalten, Stifter zu werden. (...) Das bleibt dann in einer bestimmten Klientel. Das muss man so sagen. Und die Menschen, die also durchaus an der Idee partizipieren möchten und bereit sind, sich engagieren möchten, fühlen sich also so ein Stück als Menschen zweiter Klasse.“
Zu dieser Passage kann die folgende Äußerung einer Langzeitarbeitslosen in Kohlen als direkte Bestätigung aus der Binnenperspektive der Ausgeschlossenen gelesen werden: „Ich darf in die Stiftung ja nicht rein, weil ich nicht die tausend Mark habe.“ Weiterhin führt sie aus, dass ihr zwar der Stifterstatus verweigert werde, eine aktive Mitarbeit als Ehrenamtliche aber nicht. An dieser Rolle sei sie aber aus bestimmten Gründen nicht interessiert: „Ich darf für die Bürgerstiftung wohl arbeiten. Die haben jetzt auch einen Bauernhof gekauft. Also, für die arbeiten, ja. (...) Also, ich bin in Anführungsstrichelchen nicht so blöd, dass ich für irgendeinen den Fußabtreter mache. Ich möchte schon dahinter stehen und gucken, was ist das für eine Organisation, was für ein Verein oder sonst was. Wenn ich nicht dahinter gucken darf, dann arbeite ich für die auch nicht“ (Frau Trapp).
Hier wird in der Wahrnehmung einer ökonomisch schlecht gestellten Frau die Distanz deutlich, die sie selbst zur Stiftung und ihren Akteuren empfindet. Sie findet es verachtenswert, dass ärmere Leute zwar zur Mitarbeit ermuntert, aber nicht als gleichwertige Mitglieder anerkannt werden. Die Interviews zeigen deutlich, dass das „Eintrittsgeld“ für die Stiftung auch einen Teil derjenigen Bürger abschreckt, die durchaus bereit wären, etwa im Rahmen des Jugendhofprojekts der Stiftung ehrenamtlich mitzuarbeiten. Diese Leute, die beispielsweise handwerkliche Fähigkeiten oder manchmal auch schlichtweg Arbeitskraft einbringen könnten, wollen dort nicht, wie es heißt, als „Menschen zweiter Klasse“ gleichsam die Drecksarbeit leisten, während die
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Stifter als offizielle Repräsentanten das symbolische Kapital der Anerkennung dafür ernten können. Die Exklusivität des ökonomischen Kapitals wirkt hier also geradezu wie eine Selbstblockade der Stiftung, die ihre gemeinnützigen Ziele sogar schlechter erreicht als dies ohne die finanzielle Zugangsbarriere möglich wäre. Bei der Bürgerstiftung kommt noch erschwerend hinzu, dass eine gewisse Exklusivität der Stifter schon bei der Gründung geplant und umgesetzt wurde181. Um eine hohe Schlagkräftigkeit der Organisation zu erreichen, hatte man über einen hauptamtlichen Gründungsbeauftragten das Potential in der Stadt systematisch erfasst und einen Kreis von engagierten, gebildeten, einflussreichen und prominenten Personen gezielt für eine Mitarbeit angesprochen. Diejenigen, die man angesprochen hatte, wurden dann im „Schneeballprinzip“ nach weiteren geeigneten Personen gefragt. Der erste Stiftungsvorstand wurde entsprechend gebildet mit einer Ärztin, einem hohen Gewerkschaftsfunktionär und früheren Bürgermeister, der bereits im Landtag war, und einer Schuldirektorin. Im Stiftungsrat, dem „Parlament“ der Organisation, fanden sich darüber hinaus ein Sparkassendirektor, zwei stadtbekannte Pfarrer, der Geschäftsführer eines örtlichen Wohlfahrtsverbandes, der Chefredakteur einer Lokalzeitung sowie die stellvertretende Redaktionsleiterin des Konkurrenzblatts und nicht zuletzt auch einer Vertreterin des ortsansässigen Adels. Durch dieses professionelle, zweistufige Sozial-Casting erreichte man tatsächlich ein hohes Maß an projektorientierter Handlungsfähigkeit. Die Organisation stemmte umfangreiche Vorhaben und etablierte sich vergleichsweise schnell in der kommunalen Öffentlichkeit. Durch die Einbindung lokaler Eliten gelang es schnell, Fördergelder zu mobilisieren und auch überregionale Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu erlangen. Diese Formen der öffentlichen Anerkennung – von Auszeichnungen der Bürgerstiftung mit Förderpreisen bis hin zur Teilnahme am Neujahrsempfang des Bundespräsidenten – spielen bei der Herausbildung einer großen lokalen Akzeptanz vor Ort eine erhebliche Rolle: Die Bürger der Stadt sind in dem Maße stolz auf „ihre Stiftung“, wie diese überregional anerkannt und geehrt wird. Eine wichtige Rolle bei diesem Prozess spielt die Berichterstattung in der lokalen Presse, die nicht zuletzt deshalb überwiegend positiv ausfiel, weil mehrere einflussreiche Lokalredakteure zugleich aktiv in Gremien der Stiftung mitwirkten. Auch dies war ein Effekt des strategischen Castings im Konstruktionsprozess der Bürgerstiftung. Auch solche Personen, die später für die Mitarbeit gewonnen wurden, zeigen in ihren konkreten Tätigkeiten, wie voraussetzungsvoll die Partizipation in 181
Siehe dazu ausführlich Vogt (2005: 175ff).
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solchen Organisationen ist. Der pensionierte Gymnasiallehrer König bringt in seine Arbeit nicht nur ein großes Maß an kulturellem Kapital ein, etwa bei der Formulierung von Briefen und bei der Organisation und Durchführung von Computerkursen. Darüber hinaus hat er seine effektiven Arbeitsgeräte wie einen neuen, leistungsfähigen PC selbst mitgebracht und somit ökonomisches Kapital investiert. Schließlich nutzt (und verbraucht!) er regelmäßig auch sein Sozialkapital in Form von guten Beziehungen zu einflussreichen oder wohlhabenden Menschen in der Stadt, um Stiftungsziele zu realisieren. Ähnlich verhält es sich beim ehemaligen Arbeitsdirektor Koller, dem Journalisten Marzinczik oder dem Arzt Dr. Bischof. Sie alle sind bereit, ihr Know How und ihre guten Beziehungen für die Stiftung zu verbrauchen und den eigenen guten Namen als Teil des Aushängeschildes der Organisation zur Verfügung zu stellen. Der strategisch eingesetzte Selektionsvorgang in der Anfangsphase der Stiftung setzt sich fort in weitergehenden Prozessen der Selbstselektion. Entscheidend dafür ist die Tatsache, dass die Homogenität der Stiftergruppe von den Kohlener Bürgern deutlich wahrgenommen wurde. Dies hat den ursprünglichen Selektionsprozess sowohl positiv als auch negativ verstärkt. Die positive Selbstselektion zeigt sich dadurch, dass diejenigen Bürger, die nach dem Gründungsakt der Stiftung auf die Organisation zugegangen sind oder sich haben anwerben lassen, den Zugang zur relativ exklusiven Gruppe der Stifter als besonders attraktiv wahrgenommen haben. Die Selbstwahrnehmung dieser Akteure war so gelagert, dass man sich zum homogenen Kollektiv „zugehörig“ fühlte. Auf diesem Wege konnte man seine Zugehörigkeit zu den „besseren Kreisen“ durch den Eintritt in die Stiftung sinnlich fassbar in der Stadt manifestieren. So steht jeder Stifter namentlich aufgeführt nicht nur auf dem Briefbogen der Stiftung, sondern auch auf dem Titelblatt der regelmäßigen Mitteilungen, welche die Stiftung herausgibt und verbreitet. Dieser Kooptationsprozess unter sozialstrukturell ähnlich positionierten Bürgern sorgt dafür, dass auch die quantitative Expansion der Organisation von ursprünglich 39 auf jetzt 70 Stifter die Homogenität nicht gestört hat. Noch immer bestimmen gut gebildete und mit vergleichsweise gutem Einkommen ausgestattete Akteure das Bild: Lehrer und Rektoren, Ärzte und leitende Angestellte sowie selbständige Unternehmer. Es dominiert somit das bonding capital im Putnamschen Sinne (Putnam 2000: 22). Diese fortdauernde Homogenität verdankt sich aber genauso der negativen Selbstselektion derjenigen, die außen vor bleiben. Obwohl die Stiftungsleitung seit einiger Zeit gezielt versucht, auch in andere Teile der Bevölkerung, etwa in die Arbeiterschaft oder auch in die Gruppe der ausländischen Mitbürger vorzustoßen, sind dieser Versuche weitgehend erfolglos geblieben. Der Grund liegt darin, dass sich diese Personen im Kreise der Stifter fremd, ja deplaziert fühlen
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würden. Der „einfache Mensch“, so führt Herr Weber aus, sieht „sich vielleicht dann doch ein bisschen so vor einem elitären Kreis“ und „glaubt, da pass’ ich nicht so hin“. So funktional also der Schließungsprozess im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit der Stiftung einerseits sein mag, so ergeben sich zum anderen auch Dysfunktionalitäten. Die Stiftung erscheint, in den Augen der Stiftungsmitglieder wie der Außenstehenden, als eine – durchaus auch im sozialstrukturellen Sinne – exklusive Veranstaltung. Dazu zunächst die Einschätzung zweier Vorstandsmitglieder: „Das ist meiner Meinung nach so... ja, so ein leichter Vorwurf des elitären Touches, des Abgehoben-Seins. (...) Es ist letztendlich nur dieser Klüngel. Das ist von Anfang an schlecht gelaufen, wie gesagt, weil es eben keinen Querschnitt der Bevölkerung gab, und dann eben ein Schneeballsystem mit der Ansprache“ (Frau Werner).
Diese Einnahme der Außenperspektive wird in einem anderen Interview sogar durch eine explizite Selbstthematisierung der Person verbunden, die sich in den Augen der Bevölkerung primär über das institutionalisierte kulturelle Kapital von Titel und Beruf wahrgenommen sieht: „Da laufen sie mit ´nem Titel und diesem Beruf durch die Gegend, das hat häufig so den Anklang von elitär ... und das ist uns auch vorgeworfen worden, da haben wir uns überlegt: Woran liegt das wohl? Es ist nicht ausgesprochen worden, aber ich denke mir, wenn sie sich ankucken, welche Leute drin sind ... Vorstandsvorsitzende, dann zwei Pastöre die immer wieder aus dem, aus der Masse herausragen, weil sie etwas tun, dann die Zeitung, dann die Banken, dann ein Unternehmer, dann sind sie ganz schnell in diesem Geruch, ne?“ (Frau Wirtz)
Ein Stifter, Helmut Schütte, der selbst kein Amt bekleidet, dessen Gattin aber in der Stiftung tätig ist182, beschreibt in klaren Worten die seiner Meinung nach bestehende Außenwirkung der Stiftergruppe. Dabei wird nicht nur die sozialstrukturelle Verortung der Stiftung vorgenommen, sondern auch explizit der exklusive Charakter einer relativ großen Homogenität der Stifter angesprochen. Was nach innen hin vielleicht die Kooperation erleichtert, läuft doch einer größeren Reichweite der Organisation und einer Expansion der Trägerschaft klar zuwider:
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Insofern haben wir hier auch ein Beispiel jenes für die gehobenen Kreise dieser Republik typischen „Gattinnen“-Engagements, allerdings auf das Kohlener Maß geschrumpft; vgl. zu den „Gattinnen“ die Analyse von Böhnisch (1999).
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„Ja, also, es ist aus meiner Sicht nicht der Querschnitt der Bevölkerung. Da ist schon mal der Ausdruck gefallen, das ist so ´ne elitäre Gruppe, Bildungsbürgertum in der Stadt, die hier zusammenkommen, wollen da irgendetwas machen und jetzt weiß ich nicht, ob das die Stiftung fördert oder sagt: na ja, dann lass’ die machen. Ist damit das ganze auch eine Grenze oder Abgrenzung, weil eine Ausgrenzung erfolgt, die ja eigentlich nicht sein soll“ (Herr Schütte).
Der Ausgrenzungscharakter wird an einer späteren Stelle desselben Interviews noch drastischer als „Ghetto“ beschrieben, aus dem es dringend auszubrechen gelte. Herr Schütte nimmt interessanterweise das jährlich stattfindende „Symposium“ der Bürgerstiftung zum Anlass, die Selbstpräsentation der Organisation in der Kohlener Öffentlichkeit zu kritisieren. Die Symposien versuchen jeweils, ein für die Stiftungsarbeit einschlägiges Thema mit Vorträgen und Diskussionen zu behandeln, um einerseits Anregungen für die eigene Arbeit zu erhalten und gleichzeitig die Stiftung im öffentlichen Diskurs der Gemeinde zu präsentieren. Beim letzten Symposium, auf das Herr Schütte Bezug nimmt, ging es um das Thema Jugendarbeitslosigkeit, also den thematischen Fokus, der durch das operative Projekt der Stiftung auf dem Hof direkt bearbeitet wird. Bei diesem Symposium hatten eingeladene Wissenschaftler offenbar eine Diskursebene beschritten, die von breiteren Kreisen der Kohlener Bevölkerung nicht nachvollzogen werden konnte: „Für wen war das gedacht? Wer war Adressat? Wenn Kohlener Bürger den ganzen Saal gefüllt hätten, was hätten die verstanden? (...) Es war ein Trauerspiel was da geboten wurde. Was, was sollten Kohlener Bürger da mitnehmen? Das heißt also, über diesen Weg Bürger zu motivieren ist sicher ganz schwer, aber meine persönliche Meinung ist, dass die Bürgerstiftung aus diesem engeren kleinen Kreis, wenn sie wirklich erfolgreich arbeiten will in dieser Stadt, dass sie breiter werden muss“ (Herr Schütte).
Die Voraussetzungshaftigkeit von Zugehörigkeiten kommt in dieser Einschätzung gut zum Ausdruck. Es ist nicht die ökonomische Einstiegsschwelle des Stifterbetrages, die hier exklusiv wirkt. Was fehlt, ist das kulturelle Kapital der Bildung, das es den Bürgern überhaupt ermöglichen würde, an den Diskursen teilzuhaben, mit denen die Organisation sich in der Öffentlichkeit selbst darstellt. Das aber, so ist die reflektierte Aussage dieses Stifters zu interpretieren, wirkt abschreckend auf diejenigen, die sich in diesem Diskurssegment aufgrund von Bildungsschranken nicht zu Hause fühlen.
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Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass das explizite Ziel der Stiftung, nach 5 Jahren die Zahl von 100 Stiftern zu erreichen, deutlich verfehlt wurde183. Es mangelt der Bürgerstiftung daher, in der Terminologie Robert Putnams (2000: 22), an „bridging capital“ in andere soziale Kreise hinein. Die wohlhabenden, gut gebildeten und mit guten Beziehungen ausgestatteten184 Bürger bleiben hier weitgehend unter sich. Eine neue Organisation wie die Kohlener Bürgerstiftung unterscheidet sich damit sehr deutlich von der Zusammensetzung, die man in den „klassischen“ Organisationen des Dritten Sektors, also in Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden vorfindet. Bei der Caritas und Arbeiterwohlfahrt, in der IG Bergbau und bei der Katholischen Arbeiterbewegung (KAB) ist – zumindest in der älteren Generationen – ein erheblicher Anteil der Arbeiterschaft vertreten. Die Kohlener Bürgerstiftung ist insofern ein symptomatisches Exemplar jener dezentralisierten und postkorporatistischen Bürgergesellschaft, wie sie Brömme und Strasser (2001) in ihren Untersuchungen beschrieben haben: Hier gibt es eine deutliche Asymmetrie der Partizipation, die zu Lasten der sozialstrukturell schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen zu Buche schlägt. Die Stiftung scheint hier tatsächlich im Bourdieuschen Sinne ein Moment von Bürgergesellschaft als Klassengesellschaft zu offenbaren. Die Probleme, die sich mit einem solcherart eingeleiteten sozialen Schließungsprozess der Bürgergesellschaft verbinden, werden besonders gut im Kontrast sichtbar. Es war für die vorliegende Studie ein Glücksfall, dass im Untersuchungszeitraum in der Kommune eine zweite Stiftung gegründet wurde, die in gewisser Hinsicht eine Mischung aus „alter“ und „neuer“ Bürgergesellschaft darstellt. Peter Schmidt, der Geschäftsführer des örtlichen Caritasverbands, initiierte eine Stiftung, die organisatorisch von der Caritas unabhängig ist, jedoch vom Humankapital und der Infrastruktur der kirchennahen Organisation erheblich profitiert hat. Ziel war es zunächst einmal, vor einer eventuellen Zentralisierung des Caritas-Verbandes auf Kreisebene eine Institution zu gründen, die auf Stadtebene agiert und bestimmte Gelder auch auf der Stadtebene auf Dauer binden kann. Die Stiftung, so Peter Schmidt, soll das karitative Handeln in Zeiten zunehmend knapper öffentlicher Kassen unabhängiger machen von Zuschüssen. Man möchte wichtige Projekte in der Stadt weiterführen können, auch wenn sie nicht mehr staatlich (mit-) finanziert werden. Außerdem stellt die Zentralisierung 183 Auch darüber wurde in der Presse berichtet. Zum Jubiläum 2004 wurde gemeldet, dass statt angezielter 100 Stifter nur insgesamt 79 rekrutiert werden konnten (WAZ, 8.6.2004). 184 Auch dieser Punkt des sozialen Kapitals ist nicht unerheblich, weil man in der ersten Runde der Stiftungsgründung auch auf Empfehlungen von Freunden und Bekannten in den Kreis der Stifter hinein gelangte.
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einen Autonomieverlust in dem gleichen Sinne dar, wie ihn Tocqueville angesichts der amerikanischen Gemeinden im 19. Jahrhundert ansprach. Wo den Gemeinden die Unabhängigkeit beschnitten wird, „kann es immer nur Verwaltete, nie aber Bürger geben“ (Tocqueville 1985: 59). Die „alte“ Bürgergesellschaft nutzt mit der Stiftungsgründung also Formen der „neuen“ Bürgergesellschaft, um in einem gewandelten gesellschaftlichen Umfeld weiter erfolgreich operieren zu können. Die Stiftung wurde strategisch nach dem ehemaligen, früh verstorbenen Geschäftsführer der Caritas Willy Wolff benannt, der in der Stadt einen großen Bekanntheitsgrad besitzt als Akteur, der sich vor allem für die Ärmsten und die Außenseiter der Gesellschaft engagiert hat. Eine Caritas-Mitarbeiterin beschreibt den Ruf dieses Namenspatrons wie folgt: „Das war einfach so ´n Charisma. Also Willy Wolff, wenn man überhaupt von Nächstenliebe sprechen will, dann stand der sicherlich von allen Menschen, die ich kennen gelernt habe, an oberster Stelle. Er hat also ganz, ganz viel sich in der Obdachlosenarbeit engagiert. Der hat, sag ich jetzt mal, wenn ´s nicht anders ging, also mit einem Obdachlosen das Zimmer geteilt. Zu sich aufgenommen, sein privates Zimmer hat er mit denen geteilt. Hat mit denen gewohnt. Ja, ja. Und, es ist ja ein Spruch von ihm: Wenn keiner zuständig ist, dann bin ich zuständig Der Willy Wolff hat so vielen Menschen geholfen, einfach durch Gespräche. Und da wurden ganz viele einfach hinverwiesen, ja wenn ihr nicht mehr weiter wisst...“ (Frau Meier).
Man hat also ganz bewusst auf einen Namen zurückgegriffen, der in der Stadt für karitative Werte wie kein anderer bekannt war. Die Willy-Wolff-Stiftung konnte auf diesem Wege assoziativ teilhaben am symbolischen Kapital des Akteurs, der als Samariter der Kommune im öffentlichen Bewusstsein verankert schien. Diese programmatische Benennung in Verbindung mit einer ganz anderen Rekrutierungspolitik, die sich gezielt auch an die geringer Gebildeten und weniger Wohlhabenden wandte, hat zu einer völlig anderen Zusammensetzung geführt. Ein wichtiger Schachzug dabei, auch Gruppen und Vereine als Stifter anzusprechen. Wenn also einzelne Personen mit geringem Einkommen nicht in der Lage sind, den immerhin noch immer erheblichen Stiftungsbeitrag von nunmehr 250 Euro zu entrichten, kann dies ein Verein oder eine Gruppe schon sehr viel eher. Der entscheidende Effekt dieser Neugründung liegt darin, dass die für die meisten Formen der „neuen Bürgergesellschaft“ geltenden Partizipationsasymmetrien deutlich vermieden werden konnten. Durch einen geringeren Stifterbeitrag, vor allem aber durch die gezielte Ansprache einer in Reichweite der Caritas liegenden, sozial gemischten Klientel ist hier ein ganz anderer Querschnitt der
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Bevölkerung vertreten als in der Bürgerstiftung. Selbst finanzschwache Bewohner eines Hochhauskomplexes haben Geld zusammengetragen für eine kollektive Stifterschaft, weil sie es wichtig fanden, Projekte für Bedürftige und sozial Schwache auf diese Weise mit einem kleinen Beitrag zu fördern. So berichtet Herr Eckel, der Hausmeister der oben schon erwähnten Kohlener Hochhaussiedlung davon, wie selbst weitgehend mittellose Migranten, die früher selbst einmal von der Fürsorge des Stiftungspatrons profitiert hatten, nun einen kleinen Beitrag zum Stiftungskapital leisten wollten – und über den Verein der Siedlung auch beitragen konnten: „Die kamen mit ´m Blättchen an und sagten, der Herr Schmidt hat die Idee, der möchte ´ne Stiftung machen. Oh, sag ich, das hört sich gut an. Darf ich mal haben? Dann hab ich mir das so durchgelesen, hab mich so ´n bisschen weiterinformiert, und dann hörte ich, dass also sehr viele libanesische Familien vor zwanzig Jahren von diesem Willy Wolff sehr stark profitiert haben. Und dann hab ich mich hingesetzt. Hab dieses, äh, Beamtendeutsch vier Seiten auf eine Seite umgesetzt, so dass also, ich sag mal, die Libanesen, die nicht unbedingt der deutschen Sprache so mächtig sind, das auch verstehen konnten, und dass die älteren Herrschaften das auch verstehen konnten. Und dann haben wir im Verein gesprochen und alle haben gesagt, das ist ´ne sehr gute Sache. Mach mal. Ja, und dann ham wir von Schwester Agnes ´ne Spendendose gekriegt, jetzt also keine abgeschlossene, war ja keine Spende als solches, nur dass sie also sahen, das ist Caritas. Hab jedem mein Blättchen gegeben und hab bei jedem meine zehn Minuten, viertel Stunde erzählt“ (Herr Eckel).
Hier wird zunächst einmal erkennbar, dass dieses Stiftungsprojekt ganz stark von der Mitarbeit und vom Engagement einzelner Akteure profitierte, die eben nicht der üblicherweise ehrenamtlich engagierten, gut gebildeten Mittelschicht entstammen, sondern einem unteren Bereich der Sozialstruktur. Diese Akteure haben wiederum einen ganz anderen Zugang zu anderen, sozial schwächeren Akteuren. Sie sind in der Lage, diese in einer verständlichen Sprache zu kontaktieren und ihnen klar zu machen, dass dies eben nicht das Projekt der Leute „da oben“ ist, sondern ein Projekt, wo einfache Leute denen helfen, denen es noch schlechter geht. Dadurch aber wird Partizipation und Teilhabe ermöglicht. Herr Eckel berichtet dann vom großen Erfolg dieser Aktion in seiner Siedlung: „Waren alle sofort bereit, haben alle sofort gegeben. Bei den libanesischen Familien hab ich wieder den Herrn Alagir, unsern zweiten Vorsitzenden mitgenommen. Der konnte denen das wesentlich besser auch schon mal auf libanesisch erklären. Wir haben immer gesagt, wir brauchten, jetzt weiß ich gar nicht, zweihundertfünfzig Euro. Wir sind hundertachtundsechzig Familien, wenn jeder einen Euro fünfzig gibt,
5.6 Die Voraussetzungshaftigkeit des Engagements
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dann ham wir die zweihundertfünfzig Euro zusammen. Sag ich, wenn se mehr haben, können se gerne mehr geben. Aber, sag ich, jeder gibt so viel, wie er möchte. Und wenn se nur einen Euro geben, gut, manche haben auch wirklich nur fünfundsiebzig Cent gegeben. Die hatten wirklich nicht mehr, war nicht mehr im Portemonnaie. Oder eine Familie, das weiß ich noch, die hat’s wirklich nicht so. Die wollte mir zehn Euro, glaub ich, geben, ne? Und ich: Lassen se´s sein. Nein, nein, der ist es mir wert. Ich sag: Wissen se was, hab ich acht Euro zurückgegeben, sag ich: zwei Euro, einverstanden. Ach, die waren mir so dankbar. Ja, und dann andere, die haben dann auch zwanzig Euro gegeben, die Libanesen.“
Es ist schon sehr beeindruckend zu sehen, wie hier diejenigen, die in der ‚neuen’ Bürgergesellschaft gerade aufgrund mangelnder Ressourcen oft ausgeschlossen bleiben, sich ausgerechnet auf der ökonomischen Ebene durch Selbstorganisation einen Zugang zur Partizipation verschaffen. Durch diese Strategien gelang es der Stiftung, anders als der Kohlener Bürgerstiftung, sich in der gesamten Bevölkerung zu verankern und den Beteiligten auch das Gefühl zu vermitteln, dass alle Teile Kohlens – selbst die Migranten, die traditionell fast nie einbezogen werden – zu dieser Gemeinschaft der Aktiven und Hilfsbereiten dazugehören. In der sozialstrukturellen Dimension von Bürgergesellschaft macht die explorative Stadtstudie auch einen anderen Punkt deutlich, der mit der üblichen bildungsbedingten Partizipationsasymmetrie zusammenhängt. Die gerade erwähnten Bewohner eines Hochhauskomplexes sind zu einem erheblichen Teil in einem Verein organisiert – kein Sport- oder Kulturverein, sondern ein Verein, der sich die Pflege und soziale Weiterentwicklung des Wohnkomplexes zum Ziel gesetzt hat. Der galt noch vor wenigen Jahren als sozialer Brennpunkt und stellt mittlerweile ein Vorzeigeprojekt dar, das sogar schon erfolgreich an einem Schönheitswettbewerb teilgenommen hat. Initiatoren und maßgebliche Protagonisten dieses Vereins sind die Eheleute Eckel, eine gelernte Friseurin und ein gelernter Verwaltungsangestellter, beide nun als Hausmeister tätig. Diese Akteure haben die Initiative zu dem Verein entwickelt, diesen dann auch gegründet und später die kollektive Mitgliedschaft in der caritasnahen Stiftung vorangetrieben. Entscheidend bei diesem Prozess war zum einen die Bereitschaft der Protagonisten, eine erhebliche Menge an Zeit und Energie zu investieren. Zum anderen war es die Hilfe, die die Einzelpersonen bei dem Prozess der Projektgründung durch ein kooperierendes Netzwerk von Helfern und deren Organisationen erhalten haben: Beteiligt waren daran vor allem ein städtischer Sozialarbeiter, das von Caritas und Diakonischem Werk gemeinsam betriebene „Familienbüro“, eine sozialarbeiterisch tätige katholische Ordensschwester, das „Haus der Kulturen“ (ein bemerkenswertes Kooperationsprojekt von Caritas, AWO und Diakonie; siehe dazu Kap. 5.8) und die örtliche SPD. Der Weg zur Vereinsgründung
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und zur Erlangung der Gemeinnützigkeit zeigt: Es bedarf einer gewissen Hartnäckigkeit und es bedarf eines funktionierenden Hilfenetzwerks, wenn man trotz Widrigkeiten auch in einem Kontext, der solche Initiativen hochunwahrscheinlich erscheinen lässt, erfolgreich agieren will. Ausgangspunkt war zunächst die Idee von Frau Eckel, die heruntergekommene und übel beleumundete Siedlung durch Spielplatzpatenschaften und andere Aktionen wieder angenehm bewohnbar zu machen. Der nächste Schritt war gegeben mit der Absicht, solche Initiativen auf Dauer zu stellen und einen organisatorischen Rahmen zu schaffen: „Und dann hatten wir mal irgendwie beide so ´ne Idee, wir könnten doch eigentlich einen Verein machen. Dass nicht nur die Spielplatzpaten, sondern wo jeder mit rein kann. Da wurden wir noch ordentlich belacht, ich weiß es. Wie ich davon erzählte, dann hieß es: Ja, Frau Eckel sie wissen ja, dass sieben Personen da sein müssen, damit sie überhaupt einen Verein gründen können“ (Frau Eckel).
Es sei auch nicht einfach gewesen, sich das erforderliche Know How anzueignen und in die rechtlichen Aspekte einzuarbeiten. Zunächst, so Herr Eckel, habe er sich über Computer und Google etwa 20 Vereinssatzungen herausgesucht und durchgearbeitet. Als er dabei allein nicht mehr durchblickte, hat er den städtischen Sozialpädagogen vor Ort angesprochen: „Wir haben zum Glück hier unsern Cliquentreff mit unserm DiplomSozialpädagogen. Wer so was gelernt hat, der hat auch wieder ´n bisschen Ahnung, sag ich jetzt mal. Und wir beide haben uns zusammengetan.“
Der Verein wurde gegründet, aber bald gab es Probleme mit dem Finanzamt, weil die dortigen Sachbearbeiter die Gemeinnützigkeit nicht anerkennen wollten: „Und zwar, hatten wir dann gesagt, wir haben im Mai den Verein gegründet und wollten dann im Sommer gleich so zur Eröffnung ein Sommerfest machen. Wir wollen ja keine falschen Wege gehen, also haben wir sofort das Ordnungsamt informiert. Ja, wir gehen später also zum Finanzamt hin und dann heißt es, ihr wollt doch bloß feiern. Ich sag: Was ist los? Ach, da werden se dann nur grillen und Bier saufen wollen. Dann brauchen se keine Gemeinnützigkeit. Ich sag: was ist los? Ja, sagt er, kucken sie mal, ich hab doch vom Ordnungsamt hier schon die Schankerlaubnis vor mir liegen sehen, sie wollen doch feiern. Ja. Dann hab ich dem das versucht so zu erklären, und hin und her, und es sollte ursprünglich ja ein Nachbarschaftsverein sein. Und dann hieß es, eine Nachbarschaft ist keine Gemeinnützigkeit. Wenn, dann muss es für die ganze Stadt sein, für die ganze Kommune und darf nicht jetzt, ich sag mal, mit diesen berühmten Scheuklappen versehen sein, sondern muss offen sein. Und dann hat er, haben wir wieder Glück gehabt, uns so ´n paar Stichpunkte
5.7 Service Learning: Bildung und Bürgergesellschaft
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aufgeschrieben, wie so eine Satzung aussehen könnte in unsrem Sinne. Ja, und dann haben wir das so ein bisschen übernommen. Wir brauchten nicht viel zu verändern, wir haben dann eben nur geschrieben, ist offen für alle und nicht nur Nachbarschaft, ne? Wir haben dann kein Nachbarschaftsfest gemacht, sondern ein Sommerfest. Ja, und dann sagte er: Sehen sie, geht doch, alles klar! Gut, da haben wir ´n halbes Jahr für gebraucht, ne? Im März sind wir angefangen. Und ich glaub die Genehmigung haben wir erst im Oktober gekriegt, ne? Also ´n gutes halbes Jahr haben wir dran gesessen, bis wir die Satzung so stehen hatten“ (Herr Eckel).
Was zunächst mit einer gewissen Leichtigkeit herstellbar schien („wir brauchten nicht viel zu verändern“), das hat dann doch insgesamt nicht weniger als ein halbes Jahr harter Arbeit im Zusammenspiel mit dem Sozialpädagogen in Anspruch genommen. Der Habitus der Hartnäckigkeit, des langen Atems in Zusammenhang mit entsprechenden Unterstützungen von professionellen Helfern hat hier in letzter Konsequenz zum Erfolg geführt. An diesem erfolgreichen Beispiel wird deutlich, dass sozialstrukturell bedingte Partizipationsasymmetrien durchaus mit gezielten Strategien bearbeitet werden können. Im Grunde wird hier implizit (und unbewusst) Benjamin Barbers Konzept des „facilitator“ („Ermöglicher“) umgesetzt, das er in seinem Entwurf einer „Strong Democracy“ entfaltet hat (Barber 1984). Der Ermöglicher hilft weniger gebildeten Personen, ihre Interessen zu artikulieren und in den demokratischen Prozess einzubringen. Er stellt Verfahrenswissen für die teilweise komplizierte Umsetzung von Projektideen zur Verfügung. Genau dies ist im Falle des Wohnblocks geschehen, indem der Helfer geduldig den mühsamen Prozess der Vereinsgründung begleitet hat und später jeweils bei konkreten operativen Projekten beratend und helfend zur Seite stand. So gelang es dem Hausmeisterehepaar, in Eigeninitiative einen der schwierigsten sozialen Brennpunkte in der Stadt nicht nur zu entschärfen, sondern in ein vorbildliches multikulturelles Wohnprojekt umzuwandeln. Eine entscheidende Ressource bei dieser Entwicklung war ohne Zweifel die interindividuelle und interorganisatorische Kooperationskultur, die ein spezifisches Kennzeichen der untersuchten Kommune Kohlen ist. Auf dieses institutionelle Kapital wird im übernächsten Kapitel ausführlich eingegangen.
5.7 Service Learning: Bildung und Bürgergesellschaft In den vorangehenden Abschnitten war mehrfach von Bildung als Element der Bürgergesellschaft die Rede. Bildung ist einerseits eine wichtige Voraussetzung zur Partizipation am bürgergesellschaftlichen Geschehen und damit ein Faktor von Ungleichheit und Partizipationsasymmetrie. Andererseits ist Bildung als
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potentieller Ertrag des Engagements für viele Akteure auch ein wichtiger Motivationsfaktor. Im Folgenden sollen diese Aspekte noch einmal systematisiert und mit einer spezifisch neuen Perspektive verbunden werden: dem sogenannten „Service Learning“. Wenn heute in der öffentlichen Debatte Deutschlands über Bildung reflektiert wird, dann geht es meist um die Aufsehen erregenden Befunde der international vergleichenden PISA-Studie (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2002). Das ausgesprochen schlechte Abschneiden der deutschen Schüler in diesem TestDesign hat zu intensiven Auseinandersetzungen über Lernerfolg und Schulversagen, über soziale Ungleichheit und die Selektionsfunktion der Bildungsinstitutionen, über eine Reform des dreigliedrigen Schulsystems und über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Schule und Familie geführt185. Die Diskussionen dauern noch immer an. Mit dieser Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Schule, d.h. auf den Bereich der institutionalisierten und weitgehend staatlich organisierten Bildungsprozesse, korrespondiert eine ähnliche Fokussierung innerhalb der soziologischen Bildungsforschung. Auch hier stehen die Selektions- und Reproduktionsfunktion des weitgehend staatlich verantworteten Bildungssystems, dessen organisatorische Strukturen und institutionellen Kulturen sowie schließlich die bildungspolitischen Voraussetzungen wie Konsequenzen im Mittelpunkt186. Was bei dieser Fokussierung leicht aus dem Blick gerät ist die Tatsache, dass Bildung auch in vielen anderen Bereichen der sozialen Welt stattfindet. Und diese Bildungsprozesse „jenseits“ von PISA gewinnen angesichts radikal veränderter gesellschaftlicher Umwelten erheblich an Relevanz. Die Spätmoderne mit weitreichenden Prozessen der Individualisierung, Entinstitutionalisierung und Enttraditionalisierung bringt auch in den Berufswelten andere Anforderungen an die Akteure mit sich als diejenigen, auf die im üblichen Schulbetrieb vorbereitet wird (vgl. Brater 1998). Unternehmergeist, Teamfähigkeit und diejenigen Dispositionen, die Grundlage einer neuen „Kultur der Selbständigkeit“ sein können, sind in den Schulen bislang kaum gefördert worden, stellen aber im Zeitalter von diskontinuierlichen Erwerbsbiografien und rapidem Wandel unterliegenden Ökonomien ein wertvolles Kapital dar. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Bildungsthematik mit der Thematik der Bürgergesellschaft intensiver zu verknüpfen, als dies bislang geschehen ist. Die im Folgenden genauer zu entfaltende These lautet, dass Bürger185
Vgl. dazu beispielhaft die Ausführungen bei Smolka (2002) und die dort referierte Literatur. Dies ist beobachtbar in den einschlägigen Einführungen und Überblicken zur Bildungssoziogie, siehe etwa Büchner (1985), Grimm (1987), Sommerkorn (1993), Krais (1994), Lehnhardt (2001) und Löw (2006). 186
5.7 Service Learning: Bildung und Bürgergesellschaft
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gesellschaft nicht nur hochgradig abhängig von gegebenen Bildungsressourcen in der Bevölkerung ist, sondern dass sie selbst zu einer zunehmend wichtigen Bildungsinstitution geworden ist, deren Potentiale noch kaum systematisch untersucht, geschweige denn in der (deutschen) Praxis wirksam genutzt werden. Wenn man bürgergesellschaftliche Zusammenhänge im Hinblick auf Bildungsprozesse und Bildungsressourcen beleuchtet, dann rücken – wie für Kohlen gezeigt wurde – vor allem zwei relevante Sachverhalte in den Blick: 1. 2.
Bildung stellt eine wichtige Voraussetzung der Teilnahme an Bürgergesellschaft dar. Bildung fungiert als eine potentielle Gratifikation und somit als eine Motivation für das Engagement in bürgergesellschaftlichen Kontexten.
Beide Sachverhalte stehen wiederum in einem Zusammenhang miteinander, der für die Beantwortung der Frage nach den Chancen und Grenzen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in der Gegenwartsgesellschaft durchaus bedeutsam erscheint. Der erste Punkt verweist auf die in normativen Entwürfen von Bürgergesellschaft oft überdeckte Problematik der sozialen Ungleichheit. Realistisch betrachtet zeigt sich, dass die Teilnahme an Projekten der Civil Society voraussetzungsvoll ist. Darauf ist oben in Kap. 5.6 schon eingegangen worden. Wer freiwillig tätig werden will, der muss irgendetwas wissen oder können, d.h. Bildungskapital und spezifische Qualifikationen einbringen. Das gilt schon für einfache Tätigkeiten im Rahmen großer Organisationen, die einen spezifischen „Bedarf“ an freiwilligen Helfern haben und deshalb auch gewisse Anforderungen stellen. Hier muss man zwar keine gehobene Bildung oder ausgefeilte Berufsqualifikationen mitbringen, aber ein Mindestmaß an Fähigkeiten und auch an sogenannten Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Zeitdisziplin ist selbst bei anspruchslosen Tätigkeiten erforderlich. Je interessanter und selbstbestimmter wiederum die Tätigkeiten werden, umso mehr müssen Ressourcen an Bildung und Qualifikation vorhanden sein. Dies gilt umso mehr, wenn die Akteure eigenständig und an führender Position in der Bürgergesellschaft agieren. Wer hier etwas bewegen will, der muss sich gut organisieren können, muss wissen, wie man Menschen motiviert und wie die Machtkarte gespielt wird, muss Informationen schnell verarbeiten und sich sprachlich gut ausdrücken können. Im Zusammenhang mit solchen Überlegungen erscheinen dann die vorliegenden empirischen Befunde zur Bildung als zugangsentscheidende Ressource der Bürgergesellschaft völlig plausibel. So zeigt zum einen die schon in Kapitel 2.5.4 erwähnte Untersuchung von Offe und
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Fuchs (2001) über das Sozialkapital187 im gegenwärtigen Deutschland, dass der Bildungsgrad der Akteure eine ganz entscheidende Variable darstellt. Je mehr Bildungskapital die Menschen mitbringen, umso eher sind sie bereit und in der Lage, sich in bürgergesellschaftlichen Kontexten einzubringen (Offe/Fuchs 2001: 448). Zum anderen machen die schon in Kapitel 5.6. erwähnten Untersuchungen von Brömme und Strasser (2001) deutlich, dass der bildungsbedingte Ungleichheitsfaktor im Zuge des Wandels der Bürgergesellschaft noch zunimmt. Die Dritte-Sektor-Forschung kann für die deutsche Gegenwartsgesellschaft zeigen, dass sich derzeit ein Wandel vollzieht von der „klassischen“ Organisationslandschaft mit Gewerkschaften, Kirchen und der typisch deutschen „Verbändewohlfahrt“ (Backhaus-Maul 2000) mit ihren bürokratisch durchstrukturierten Großorganisationen hin zu dezentraleren und pluralisierten Strukturen (vgl. auch Zimmer/Priller 2001). Gerade in diesen kleineren Netzwerken und Organisationen sind jedoch vornehmlich Menschen aktiv, die ein höheres Maß an Bildung mitbringen. Die Träger der „neuen“ Bürgergesellschaft müssen eigenständig sein und viel Know How über organisatorische, vereinsrechtliche und finanztechnische Fragen mitbringen, damit diese Formen der Selbstorganisation funktionieren. Der Abbau der Teilnahme in den Großorganisationen dagegen geht primär zu Lasten der schlechter gebildeten Bevölkerungsteile, die hier früher ihre partizipatorische Heimat hatten und mit dem Auszug aus den traditionellen Strukturen immer weniger an Prozessen des bürgerschaftlichen Engagements teilhaben. Diese Befunde werden ja auch durch die vorliegende Studie anschaulich bestätigt. Die Situation der untersuchten Bürgerstiftung etwa zeigt ganz deutlich, wie sich der partizipatorische Bildungs-Bias in der Personalstruktur und damit auch im öffentlichen Erscheinungsbild einer solchen Organisation niederschlägt. Der Bildungsfaktor sorgt also im Rahmen der Bürgergesellschaft für eine Reproduktion derjenigen Ungleichheitsstrukturen, die zuvor durch die Selektionsfunktion des Bildungssystems geschaffen wurden. Es ist ein die gesamte bildungssoziologische Literatur durchziehender und auch in neuesten Studien bis hin zu PISA nie widerlegter Topos, dass – gerade auch in Deutschland – die etablierten Strukturen der Bildungsinstitutionen zu einer deutlichen Reproduktion sozialer Ungleichheit führen188. Wenn der Zugang zur Bürgergesellschaft von Bildungskapital abhängt, dann ist klar, dass sich auch in der Bürgergesellschaft 187 „Sozialkapital“ wird hier in Anlehnung an die Arbeiten Robert D. Putnams (2000) verwendet und enthält im einzelnen drei messbare Komponenten: Aufmerksamkeit für öffentliche Angelegenheiten, Vertrauen und Engagement in freiwilligen Assoziationen. 188 Siehe dazu die klassische Untersuchungen von Bourdieu/Passeron (1973) und Coleman/Hoffer (1987) sowie neuere Untersuchungen zur deutschen Situation: Köhler (1992), Müller/Haun (1994), Sünker u.a. (1994), Rodax/Rodax (1996), Friebel u.a. (2000) und Baumert u.a. (2002), Engel (2005), Georg (2006) und Ecarius/Wigger (2006).
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dieselben Ungleichheiten wieder finden, die zuvor bildungsorganisatorisch produziert wurden. An dieser Stelle kann nun die oben dargestellte Diskussion über die motivierenden Nutzenerwartungen der Freiwilligen an ihre Tätigkeiten und über das „neue Ehrenamt“ aufgenommen werden (vgl. Kap. 5.3.5). Denn Bildung ist nicht nur eine Voraussetzung der Teilnahme an Bürgergesellschaft, sondern gleichzeitig auch eine erhoffte Gratifikation, die viele Akteure zum freiwilligen Engagement motiviert. Man empfindet es als einen wichtigen Ertrag des eigenen Tuns, wenn man dabei etwas lernt, wichtige Erfahrungen sammelt oder Schlüsselqualifikationen erwirbt, die sich dann später zum Teil auch beruflich nutzen lassen189. Bürgerschaftliches Engagement kann auf diese Weise durchaus zum Sprungbrett für eine Erwerbstätigkeit werden. Aber dies ist keineswegs die einzige Variante der Gratifikation. Auch Akteure, die keinerlei berufliche „Hintergedanken“ mit ihrem Engagement verknüpfen, sehen Bildungsgewinne als sehr wichtig an, weil sie damit Selbstverwirklichungsoptionen realisieren oder besondere Anerkennung im sozialen Umfeld erwerben können. Dabei geht es nicht nur um all jene expliziten Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote, die schon traditionell von größeren Organisationen des Dritten Sektors angeboten werden, um das freiwillige Personal zu schulen, ideologisch zu festigen oder auch zu „belohnen“. Sondern es geht um Bildungsgewinne, die man bei der freiwilligen Tätigkeit selbst erwirbt. Dazu sind oben in Kapitel 5.3.5 bereits mehrere Beispiele aufgeführt worden. Hier erscheint es tatsächlich plausibel, von der Bürgergesellschaft als einer Bildungsinstitution zu sprechen. Wenn also Bildung und Bürgergesellschaft in der gezeigten Weise engstens verflochten sind, dann stellt sich die Frage, ob nicht auch institutionelle Designs denkbar sind, die das hier vorhandene Potential systematisch nutzen lassen und dabei sogar dem starken Ungleichheitsmoment des Bildungsfaktors entgegensteuern können. An dieser Stelle ist das vor allem im US-amerikanischen Kontext etablierte Konzept des Service Learning ins Spiel zu bringen. Service Learning ist der Versuch, bürgerschaftliches bzw. gemeinwohlorientiertes Engagement und institutionalisierte Bildung systematisch zu verknüpfen. Das Konzept wurde explizit erstmals Ende der 1960er Jahre durch William R. Ramsay im Kontext des Southern Regional Education Board entwickelt (Eberly 1997: 20). Im „National and Community Service Act“ von 1990 wird Service Learning definiert als eine Methode „under which students learn and develop through active participation in thoughtfully organized service experiences that meet actual community needs and that are coordinated in collaboration with the school and community“ (zit. nach Waterman 1997). 189 Siehe zu diesem Aspekt der Motivation zum freiwilligen Engagement ausführlich Beher/Liebig/Rauschenbach (2000).
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In den Vereinigten Staaten hat sich in den 1990er Jahren ein regelrechter Boom des Service Learnings entfaltet, der sich nicht nur in Beteiligungszahlen, sondern auch in einer großen Anzahl an Publikationen und evaluierenden Begleitforschungen niedergeschlagen hat190. Erhebungen im Jahr 1998 haben ergeben, dass in den USA nicht weniger als 68 Prozent aller öffentlichen Schulen und 88 Prozent aller privaten Schulen an Programmen des Service Learning oder des Community Service beteiligt waren (vgl. Pritchard 2002: 5). Dabei nimmt der Grad der Beteiligung mit der Höhe des Schulgrades zu: Während im Bereich der öffentlichen Schulen insgesamt 55 Prozent der Grundschulen teilnahmen, waren es im Bereich der High Schools 83 Prozent. Außerhalb der USA sind nur in Großbritannien umfassendere Versuche der Integration des Service Learning in die Curricula beobachtbar (Eberly 1997: 25), während in Deutschland bislang nur einige wenige Pilotprojekte existieren191. Service Learning knüpft an zwei wichtige Traditionen der amerikanischen Kultur an: die Tradition des gemeinschaftsbezogenen Dienstes einerseits, die des erfahrungsbezogenen Lernens andererseits (Waterman 1997). Auf der einen Seite steht die schon oben im Zusammenhang mit der Bürgergesellschaft erwähnte republikanische Tradition, die sich in Amerika vor allem mit dem Namen William Jeffersons verknüpft und die den Gemeinschaftsbezug, der auch zu Lasten individueller Vorteile gehen kann, als zentralen Bestandteil einer geglückten Existenz versteht. Der Philosoph William James hat 1910 den Community Service als ein „moral equivalent of war“ bezeichnet, weil die Jugend hier in friedlicher Weise Verantwortung für die Gemeinschaft lernen könne (James 1910). Diese politische Tradition reicht bis zu den neueren Service-Programmen der Clinton-Administration in den 1990er Jahren. Auf der anderen Seite steht John Deweys Konzept des erfahrungsbezogenen Lernens, das er theoretisch entwickelt und in der Laborschule von Chicago auch praktisch erprobt hat192. Auf der Grundlage seiner pragmatistischen Philosophie hat Dewey argumentiert, dass nur solche Lernprozesse erfolgreich verlaufen, die 190
Siehe dazu Schine (1997), Wade (1997), Waterman (1997), Lisman (1998), Rhoads/Howard (1998), Claus/Ogden (1999), Eyler/Giles (1999), Furco/Billig (2002). In jüngster Zeit wurde das Konzept auch in Deutschland mehr beachtet und diskutiert, vgl. Vogt (2004) sowie die Publikationen von Anne Sliwka (Sliwka/Frank 2004, Slikwa u.a. 2004 sowie Sliwka u.a. 2006). 191 Siehe dazu beispielsweise das von der Freudenberg-Stiftung geförderte Projekt „Verantwortung lernen – Service Learning in Deutschland“; die Freudenberg-Stiftung in Weinheim/Bergstraße hat mittlerweile in Baden-Württemberg ein Netzwerk und Kompetenzzentrum Service Learning aufgebaut, das der Förderung des Konzeptes dient; siehe dazu die Internetplattform www.servicelearning.de; vgl. weiterhin das Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“ der BLK sowie das Berliner Vorhaben „Demokratische Schule - verständnisintensives Lernen und kompetentes verantwortliches Handeln“ und schließlich Anfänge in einigen Bundesländern, etwa in SachsenAnhalt (Engels 2007). 192 Siehe dazu Dewey (1916, 1956) und Bohnsack (1976).
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mit sinnlich-praktischen Erfahrungen verbunden sind. Daher ist auch das Erlernen bürgerschaftlich-demokratischer Einstellungen und Fähigkeiten nur dann möglich, wenn die entsprechenden demokratisch verfassten Gemeinschaften tatsächlich praktisch erfahren werden, z.B. durch demokratische Prozesse und Verfahren in der Schule selbst. Im Service Learning, so die Folgerung der heutigen Pädagogen in den USA, können Gemeinschaftsorientierung und erfahrungsbezogenes Lernen in idealer Weise zusammengebracht werden. Die Schüler und Studenten werden durch „learning by doing“ zu aktiven und verantwortungsvollen Staatsbürgern geformt. Das curricular verankerte Service Learning soll insbesondere vier Funktionen erfüllen (vgl. Waterman 1997: 5ff): 1. 2.
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Eine erfahrungsbezogene und von daher effektivere Organisation von Lernprozessen in praktischen Zusammenhängen der Alltagswelt leisten. Die persönliche Entwicklung der Beteiligten fördern; dies gilt sowohl für die Reflektiertheit im Bereich von Werten und Sinnvorstellungen als auch für die Entwicklung von Selbstwertgefühl und für die Fähigkeit zu Berufsentscheidungen und Karriereplanung. Bürgerschaftliche Werte und Einstellungen vermitteln, vom sozialen Vertrauen über Verantwortungsbereitschaft bis zur Bereitschaft zur sozialen und politischen Partizipation. Die amerikanische Literatur spricht hier von der „civic literacy“, also einer Art bürgerschaftlichem Alphabetismus, der die Akteure dazu befähigt, aktiv ihre Gemeinschaft zu gestalten. Über die konkreten Dienste etwa im sozialen Bereich oder im Umweltschutz das Wohl der Gemeinschaft vor Ort fördern.
Die empirische Begleit- und Evaluationsforschung hat mittlerweile eine Reihe von Wirkungen von Service-Learning-Programmen nachweisen können (vgl. Lisman 1998 und die Beiträge in Furco/Billig 2002). Demnach sind die allgemeinen Lernerfolge von Schülern und Studenten, die am Service Learning teilnehmen, deutlich besser als in den Kontrollgruppen, gleich ob es um Mathematik, Sprachen oder Naturwissenschaften geht. Die Teilnehmer haben ein besser entwickeltes Selbstwertgefühl, sind moralisch reflektierter und weisen ein höheres Maß an sozialem Vertrauen auf – letzteres eine wichtige Voraussetzung für eine integrierte und aktive Bürgergesellschaft, wie Putnam (2000) zeigen konnte. Bürgerschaftliche Werte und Verantwortungsbereitschaft sind besser entwickelt. Interessant ist aber vor allem, dass eine ganze Reihe von Fähigkeiten gefördert werden, die im Berufsleben und beim Joberwerb von höchster Wichtigkeit sind: Fähigkeiten zum Teamwork, Führungsfähigkeiten, die Fähigkeit zum kritischen Denken und allgemein der Grad an Reflektiertheit über eigene Ziele und das
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eigene Tun (Lisman 1998: 32ff). Damit aber zeigt sich ganz deutlich, dass im Sinne eines nicht nur tugend-, sondern auch nutzenorientierten Blicks auf bürgerschaftliches Engagement das Service Learning tatsächlich zugleich egoistische wie altruistische, republikanische wie utilitaristische Motivlagen bedienen kann. Gemeinnutz und Eigennutz spielen hier bestens zusammen. An dieser Stelle soll nun noch einmal auf die Resultate des vorliegenden Projekts eingegangen werden, um an einem der wenigen deutschen Beispiele die Möglichkeiten des Service Learning auch im deutschen Kontext zu veranschaulichen. Die Bürgerstiftung hat in ihrer Tätigkeit als operative (d.h. nicht nur fördernde) Stiftung ein großes Jugendhilfe-Projekt aufgebaut, das mittlerweile auch von einer ganzen Reihe von Organisationen sowie durch staatliche Gelder gefördert wird. Es wurde eine alte, verkommene und durch zwei Brände in ihrer Bausubstanz schwer geschädigte Hofstelle mit großem Grundstück gekauft und durch die tätige Mitarbeit von Freiwilligen, spendenden Formen sowie Schülern und Jugendlichen wieder aufgebaut. Der Aufbauprozess wurde gleichzeitig als Lernprozess für die jungen Aktiven gestaltet, die in Zusammenarbeit mit mehreren Schulen regelmäßig Schulstunden auf dem Hof verbringen, um dort zu bauen, zu pflanzen und zu pflegen. Ziel ist es hier vor allem, lernschwachen Schülern, die schlechte Ausbildungs- und Karrierechancen haben, über die Vermittlung einer gewissen Arbeitsdisziplin und auch der Fähigkeit zur Organisation einfacher Arbeitsabläufe bessere Lebenschancen zu verschaffen. Der Hof soll sich durch Anbau, Lebensmittelproduktion und Gastronomie in Zukunft finanziell selbst tragen und dabei auch Bildungs- und Ausbildungsplätze für junge Menschen bieten. Nach mühsamen Anfängen ist das Projekt mittlerweile sehr erfolgreich, hat eine gute lokale Presse und wird als Modellprojekt für die Tätigkeit von Bürgerstiftungen bundesweit beachtet. Ein kleines Beispiel kann veranschaulichen, wie Service Learning auf diesem Hofprojekt konkret funktioniert. Eine Gruppe von Schülerinnen beschäftigte sich damit, die erforderlichen Bauwagen auf dem Hof zu renovieren. Unter der Anleitung einer pädagogischen Fachkraft, die mit einer halben Stelle (finanziert durch eine große deutsche Unternehmensstiftung) auf dem Hof beschäftigt ist, mussten die Schülerinnen für ihr Projekt diverse Aufgaben lösen. Es beginnt bei handwerklichen Details (welche Farbe wird in welcher Verarbeitung für den Außenanstrich benötigt) mit mathematischen Hürden (welche Fläche muss bearbeitet werden, wie viel Farbe braucht man dafür), betrifft Fragen des Fundraisings (wie findet man potente Sponsoren, wie spricht man sie effektiv an, wie überzeugt man sie vom Projekt) sowie der Buchführung und reicht bis zur erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit in der lokalen Presse, für die man sprachliche und organisatorische Fähigkeiten entwickeln muss. Weiterhin sind ästhetische Entscheidungen zu treffen (welche Farbe passt zu dem umgebenden Gebäude-
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Ensemble, wie können Farben intern kombiniert werden), Fragen der Materialkunde zu klären (welche Farbe hält auf Holz wie lange) und schließlich auch Belange des Umweltschutzes zu berücksichtigen. Die Schülerinnen lernten zudem gepflegt und überzeugend aufzutreten, im Team zu arbeiten, diszipliniert über längere Zeiträume hinweg an einer Sache dranzubleiben und schließlich sich selbst, ihre konkrete Person, als wichtig zu begreifen: „Wir sind diejenigen, auf die es ankommt“. Man machte die Erfahrung, dass jenseits der (in gewisser Hinsicht virtuellen) Realität des Klassenzimmers in der real existierenden Alltagswelt etwas geschafft und bewegt wird und dass dieser Effekt des eigenen Tuns von anderen als „gute Tat“ sogar öffentliche Anerkennung findet. Derartige Erfahrungen wirken sich sehr positiv auf das Selbstwertgefühl der jungen Mädchen aus. Selbstverständlich verlaufen auch solche Projekte nicht ohne Probleme und Reibungen, vieles hängt vom persönlichen Engagement der Akteure ab, das im Fall des Kohlener Modellversuchs außerordentlich hoch ist. Und es ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass sich die amerikanischen Verhältnisse, die in eine langfristig gewachsene Kultur aktiver Bürgerschaft und selbstverständlichen Volunteerings eingebettet sind, so auf Deutschland übertragen lassen. Aber es wird eine institutionelle Schnittstelle erkennbar, an der die Synergiegewinne einer engen Verflechtung von Bürgergesellschaft und Bildung auf Dauer zu stellen wären. Zudem würde eine formale Verankerung im Curriculum aller Schulformen, wie sie im Grundgedanken des Service Learning angelegt ist, die oben beschriebenen sozialen Ungleichheiten beim bürgerschaftlichen Engagement reduzieren. Denn in diesem Fall würden die sonst üblichen Schwellen auf dem Weg zum Engagement abgebaut. Es wäre eben nicht mehr abhängig vom schon vorhandenen Bildungskapital, ob ein Akteur partizipieren kann oder nicht, sondern es würde jeder und jede an das Engagement herangeführt. Damit stünden auch die durchaus (für den Joberwerb) hilfreichen und (für die Selbstverwirklichung) attraktiven Bildungserträge der freiwilligen Arbeit für alle offen. Voraussetzung wäre allerdings, dass Service Learning tatsächlich verpflichtend in allen Schulformen eingeführt wird. Die amerikanischen Daten zeigten, dass vor allem höhere (und selektivere) Schulformen an den Programmen beteiligt sind. Damit sind aber wieder die Kinder der besser gebildeten Kreise bevorzugt. Bei einem flächendeckenden Pflichtprogramm dagegen würden auch diejenigen Schüler an ein ertragreiches Engagement herangeführt, die sonst kaum einen Zugang zu dem in mancher Hinsicht „exklusiven“ Bereich der Bürgergesellschaft finden würden.
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5.8 Das Geflecht aktiver Bürger: Die Kooperationskultur in Kohlen 5.8.1 Vertrauen und ‚bridging capital’ In vielen Interviews ist deutlich geworden, dass die Größe der Mittelstadt Kohlen mit ca. 66.000 Einwohnern gute Voraussetzungen für eine flexible Vernetzung bietet. Die aktiven Menschen kennen sich untereinander bzw. können sich mit vergleichsweise geringem Aufwand kennen lernen, ohne dass doch der soziale Integrationsgrad wie in einem dörflichen Kontext schon wieder zu hoch und damit zu handlungsbeschränkend wäre. Die persönliche Bekanntschaft erwies sich als ganz entscheidende Ressource für die Funktionsfähigkeit von Bürgergesellschaft, weil damit ein kooperationsförderndes Vertrauenskapital zur Verfügung gestellt wird. Langfristige und flexibel reagierende Kooperation ist in hohem Maße abhängig von Vertrauen193. Vertrauen wirkt sich nicht nur auf den personalen Umgang miteinander und auf die entsprechende Kooperationsbereitschaft aus, sondern ermöglicht über die personale Dimension die Kooperation von Institutionen. Dies ist beispielsweise ein entscheidendes Merkmal der Kommunikation zwischen den Vertretern von Großorganisationen vor Ort. Herr Schmidt, der Geschäftsführer des Caritas-Verbands, macht dies am Beispiel der Kooperation zwischen Caritas und Kreisverwaltung deutlich: „Das läuft aber nicht automatisch. Das läuft ja nur dann, wenn die merken, in Kohlen die freuen sich, wenn man denen mal was sagt. Und ich bedank mich dann auch bei denen, wenn ich so was von denen kriege. Die Kollegen von der Kreisverwaltung, wenn wir da ein Projekt machen, und das läuft, und der Kreistag beschließt, das zu finanzieren, dann ruf ich die an und sag: hör mal, schönen Dank, dass das so gut geklappt hat. Weil, es läuft über die menschlichen Beziehungen. Es geht ja nicht nur um Richtlinien, sondern es geht darum, wie jemand im Blick hat, booh, was kann man daraus was machen? Oder die mir dann auch sagen, Mensch so geht das nicht, das müssen wir verändern.“ Der Hinweis auf die „menschlichen Beziehungen“ zeigt, dass es bei dieser Form der Kooperation nicht primär um formale Programme und Richtlinien geht, nach denen die Akteure sich verhalten. Vielmehr geht es um informelle Kommunikation, die nur zwischen sich persönlich kennenden Akteuren mit einer entsprechenden Vertrauensbasis entstehen kann. Nicht der formale Antrag und seine Bearbeitung tragen den Handlungszusammenhang, sondern die Absprachen und Verständigungen im Vorfeld und in der Nachbereitung der „offiziellen“ Interaktionen. 193 Siehe dazu schon Luhmann (1968) sowie die neueren Studien bei Gambetta (1988), Misztal (1996), Sztompka (1999) und Hartmann/Offe (2001).
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Das gleiche Muster wird bestätigt in der Zusammenarbeit von Verbänden und Politik in der Kommune. Ein typisches Beispiel ist der Vorgang der Neubesetzung einer wichtigen Dezernentenstelle in der Kommune. Auch hier zeigt sich, dass im Vorfeld viel informell kommuniziert wird, und dass diese Form der Kommunikation gleichsam die Grenzen zwischen den Organisationen interpenetriert und Verständigungsprozesse ermöglicht, die auf dem offiziellen Wege so nicht machbar wären. So berichtet Michael Schmitz, ein Mitarbeiter eines von mehreren Verbänden getragenen Projekts: „Der geht demnächst in Ruhestand. Aber da ist uns auch signalisiert worden, wir unterhalten uns durchaus auch mit den Verbänden: Wie stellt ihr euch das vor? Wen könntet ihr euch vorstellen? Auch so was ist ungewöhnlich. Also da ist ein Wille da, sag ich mal so, dieses Netz, was in Kohlen da ist an sozialen Leistungen, an sozialen Diensten, einzubinden. Auch durchaus mit ein Stück in die Verantwortung zu nehmen. … Und dadurch entsteht so ´n Gefühl, dass man das gemeinsam macht, dass man durchaus mitreden kann. Dass auf einen gehört wird. Und dann ist auch die Akzeptanz für, sag ich mal, nicht populäre Entscheidungen eher da.“
In diesen Formulierungen wird deutlich, dass die Einbindung in gemeinsame, inoffizielle Kommunikationsnetze mit der Stadt nicht nur Vertrauen schafft, sondern als bewusst gestalteter Integrationsprozess auch die Delegation von Mitverantwortung beinhalten kann. Die Akteure des Dritten Sektors fühlen sich mit ins Boot genommen, fühlen sich als mitgestaltende Akteure ernst genommen und sind dafür auch bereit, bestimmte Entscheidungen mit zu tragen und zu verantworten. Und auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen in dieser Kooperationskultur treten die Verbände durchaus offensiv auf, um diese Form der Gemeinsamkeit und der Einflussnahme zu bewahren: „Ich hab zum Beispiel zum Herrn Huber, der ist jetzt sechzig Jahre alt geworden, der ist bei der Stadtverwaltung für den Fachbereich Bürgerservice verantwortlich, und, ich sag, Herr Huber, wenn sie gehen – also, mit dem arbeite ich jetzt schon seit zwanzig Jahren hier zusammen –, dann hätten wir gerne ihren Nachfolger vorher gewusst, wer das ist. Also, wir haben so unsere Wünsche, wer ihr Nachfolger wird. Das geht natürlich formal nicht, ist völlig klar. Lacht er dann, und sagt ja. Ich sag, wenn da irgend so einer hinkommt, der keine Ahnung hat, das geht nicht, ne? Das kann man hier informell diskutieren, auf Deutsch, wir haben da keinen Einfluss drauf, aber es ist natürlich wichtig, dass man da in der gleichen Offenheit auch diskutieren kann, ne?“ (Herr Schmidt).
Dieses Zitat zeigt, dass den Akteuren die doppelte Ebene der Kommunikation völlig klar ist: Auf der einen Seite wissen sie, dass auf der offiziellen Ebene keine Einflussmöglichkeit besteht; es ist allein Sache der formal zuständigen
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Gremien, die Nachfolge des Beamten zu regeln. Auf der anderen Ebene aber besteht auch kein Zweifel darüber, dass inoffiziell Verständigung und Konsens gesucht wird, um das Netz gegenseitiger Kooperation zu erhalten. Der Aufbau eines kooperationsfördernden Vertrauens findet dabei nicht nur zwischen Vertretern der Kommune und Akteuren der Verbände statt. In der Szene der aktiven Bürger bildeten sich in den vergangenen Jahren zwei wichtige diskursive Knotenpunkte heraus. In diesen konnten engagierte Akteure aus ganz unterschiedlichen Kontexten jenseits ihrer institutionell definierten Rolle zu lockeren und inoffiziellen Gesprächen zusammenkommen. Der eine dieser Gesprächskreise, „Kohlen-Dialog“, versammelt regelmäßig Personen, die in den etablierten Institutionen an einflussreicher Stelle arbeiten oder so etwas wie eine Meinungsführerschaft in der Stadt ausüben. Hier treffen Beamte der Stadtverwaltung, Politiker, Mitglieder von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Pfarrer, Ärzte und Rechtsanwälte zusammen, um über die Zukunft der Stadt zu diskutieren. Thomas Bach, ein bekannter und engagierter Pfarrer einer protestantischen Gemeinde, beschreibt diesen Zusammenhang so: „Das ist eigentlich ein privater Gesprächskreis von sieben, acht Leuten gewesen, die gesagt haben: Was können wir eigentlich noch so für diese Stadt über die Grenzen hinaus tun. Über die Grenzen untereinander. Haben uns ganz viel mit Stadtgeschichte beschäftigt, mit Stadtentwicklung und solchen Geschichten mehr, und haben jetzt so als Projekt vor, und das auch gestartet, dass man den Stadtteil, den wir momentan so am meisten betroffenen vom Strukturwandel sehen, uns zum Schwerpunkt genommen haben. Wir acht Leute haben uns überlegt, wen kennen wir eigentlich in Kohlen Süd, der irgend ´ne Bedeutung hat. Und der an irgend ´ner Schaltstelle sitzt. Der im Sportverein ist, der ´ne Apotheke betreibt, der da Arzt ist, der also irgendwo ´ne öffentliche Figur ist, und diese Menschen haben wir dann einfach zu einem Workshop ins Bürgerhaus eingeladen.“
Die Mitglieder dieser Gruppe „Kohlen-Dialog“, die als eine Art lokale Elite fungieren194, verstehen sich damit selbst nicht als Dauer-Aktivisten, sondern sehen ihre Aufgabe darin, andere Menschen zu aktivieren und so Folgeaktionen anzustoßen: „Mit dem Anspruch eigentlich, dass wir als Kohlen-Dialog-Gruppe da nur das anschieben und dass wir dann die Leute so begeistern und so vernetzen miteinander, dass sie sagen: wir machen was zusammen für unser Stadtteil“ (Herr Bach). Entscheidend ist auch in diesem bürgergesellschaftlichen Kontext der Aspekt, „über die Grenzen untereinander“ hinweg ins Gespräch zu kommen und gemeinsame Perspektiven zu entwickeln. Die übliche Segmentierung von 194
Zur Diskussion um die Funktion der Eliten siehe oben Kap. 3; zur besonderen Struktur lokaler Eliten vgl. Pähle und Reiser (2007).
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Politik und Zivilgesellschaft wird in einer solchen Kooperationskultur bewusst aufgehoben. Da die Akteure nicht in ihrer institutionellen Rolle, sondern als Privatpersonen zusammenkommen, können sie offener und unkonventioneller denken und sprechen. Das wiederum fördert in hohem Maße das gegenseitige Vertrauen. Dieses Vertrauen aber färbt später wieder auf den institutionellen Umgang miteinander ab, so dass auch unwahrscheinliche Kooperationen zustande kommen. Ein zweiter Gesprächskreis „Pro Kohlen“ führt eher die kritischen, politisch links orientierten Stimmen in der Stadt zusammen und bewirkt im linksalternativen Milieu ähnliche Integrationseffekte wie der andere Gesprächskreis in den etablierten lokalen Eliten. Hier vernetzen sich neben den diversen Bürgerinitiativen die Ortsgruppen der Umweltverbände BUND und NABU, das AntifaBündnis, der örtliche Flüchtlingsrat und ein Friedenskomitee. Wichtig ist dabei, dass es eine Brückenfigur gibt, die an beiden Foren beteiligt ist und somit die etablierte und die links-alternative Szene miteinander vernetzt. Ein solches personales „bridging capital“ (Putnam 2000: 22) bewirkt, dass die segmentierte zivilgesellschaftliche Landschaft in Kohlen durchaus auch miteinander im Dialog bleibt und jeweils zu partiellen Kooperationen über alle sonst üblichen Lagergrenzen hinweg zusammenfindet. Ein personengebundenes bridging capital wird schließlich durch zwei weitere Faktoren gebildet. Zum einen finden sich in der Kommune bürgergesellschaftliche „Multiplayer“, die in ganz unterschiedlichen Kontexten tätig sind. Typische Personen sind etwa der Geschäftsführer der Caritas Peter Schmidt, der gleichzeitig in der Bürgerstiftung aktiv ist, einer eigenen, caritasnahen Stiftung vorsteht, im Kuratorium der Freiwilligenagentur tätig war und der den oben erwähnten Verein des Hausmeisterehepaars Eckel im sozialen Brennpunkt bei jeder Gelegenheit unterstützt; oder die Grünen-Politikerin und Kreistagsabgeordnete Gerlinde Schuster, die gleichzeitig mit einer Initiative das kommunale Kino rettet, vielfältige Gruppierungen der örtlichen Frauenbewegung gestaltet und zu beinahe jeder Frage von öffentlichem Belang Leserbriefe lanciert. Solche Personen bilden mit ihren jeweiligen Bekanntschafts- und Freundschaftsnetzen eine wichtige Infrastruktur der Bürgergesellschaft vor Ort. Die zweite Institutionalisierungsform von personengebundenem bridging capital sind Ehen und Partnerschaften. Die von uns interviewten Akteure der Bürgergesellschaft wiesen mehrfach auf die wertvollen Verbindungen hin, die auf diesem Weg geknüpft werden können. Die Zugehörigkeit der Ehepartner zu teils gleichen, teils unterschiedlichen Kontexten stiftet Verbindungslinien zwischen Organisationen, die ansonsten eher wenig miteinander zu tun haben. So fanden sich in Kohlen Ehen zwischen Mitgliedern von Stadtverwaltung und Lions Club, evangelischer Kirche und AWO, Caritas und Jugendamt, Bürgerstif-
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tung und Grünen, Bürgerstiftung und SPD, lokaler Presse und Stadtverwaltung usw. Auch hier schafft die persönliche Beziehung Vertrauen, das im Sinne einer handlungsfördernden Ressource institutionelle Kooperation erleichtert. Die Kommunikation zwischen (Ehe-) Partnern ermöglicht sozusagen ganz kurze ‚Dienstwege’ und vermittelt über die Organisationsgrenzen hinweg auch die Möglichkeit des Perspektivwechsels, die für gegenseitiges Verständnis und für Akzeptanz unerlässlich ist.
5.8.2 Institutionalisierte Kooperation: Ermöglichungskultur Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Kooperationskultur in Kohlen, dann zeigt sich in der Tat ein Geflecht, das als Ermöglichungskultur bezeichnet werden darf. Der Vorstand der Bürgerstiftung kann aufgrund seiner guten Verbindungen das institutionelle Kapital von Stadtverwaltung, Partei, Gewerkschaft und Großunternehmen „anzapfen“. Stadt und örtliche Wohlfahrtsverbände sprechen die Besetzung von einflussreichen Stellen im Vorfeld ab. Die Verbände kooperieren untereinander in einer Weise, die ungewöhnlich ist. Das herausragende Beispiel für eine solche Kooperation über Organisationsgrenzen hinweg ist das „Haus der Kulturen“, eine Einrichtung zur Förderung der Integration von Migranten in der Stadt. Dieses Haus wird gemeinsam von Caritas, Diakonie und AWO getragen und von der Kommune sowie anderen politischen Fördergremien kräftig unterstützt. Was als Experiment begann, gilt mittlerweile im Land als Vorzeigeprojekt. Interessant an diesem Projekt ist zunächst einmal, dass es „von unten“ entwickelt wurde, als eine Initiative aus den Notwendigkeiten der alltäglichen Koordination von Handlungsabläufen und Interventionen heraus. Es gab, so Michael Schmitz, der jetzige Leiter der Einrichtung, schon lange im Vorfeld einen Bedarf der gegenseitigen Kommunikation: „Da hat die AWO und die Caritas Flüchtlingsbetreuung gemacht, und da haben wir uns immer wieder regelmäßig abgestimmt, wer was macht hier in Kohlen, wer welche Unterkünfte betreut, wer welche Personen betreut, um auch nicht gegenseitig ausgespielt zu werden von den Flüchtlingen.“
Aus dieser Erfahrung heraus entschloss man sich, diese Zusammenarbeit zu institutionalisieren: „Wir telefonieren fast jeden Tag, also dann kann man auch irgendwas gleich zusammen machen“. Die Initiative ging also aus der alltäglichen Arbeit hervor, und deshalb wurde das Projekt von den Mitarbeitern ‚an der Front’ entwickelt und dann später erst an die höheren Ebenen herangetragen, wo es zunächst auch deutliche Bedenken gab:
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„Man muss sagen, diese ganze Entwicklung dieser gemeinsamen Konzeption ist auf Mitarbeiterebene passiert, mit dem Okay der Geschäftsführung. Also, das war ja ´n ganz wichtiger, spannender Prozess, als die Mitarbeiter zu ihren Geschäftsführungen gegangen sind und haben gesagt, wir wollen das und das tun. (…) So dass wir also Ende Zweitausend das stehen hatten, haben das der Verwaltung vorgestellt, die sehr positiv überrascht war, dass wir so über bestimmte Grenzen dann auch hinweg denken. Die Politik war einhellig der Meinung, das ist zukunftsweisend. Aber in unseren Verbandsgremien, Richtung Dachverbände, gab ´s sehr viele Bedenken zuerst. Aber die sind ausgeräumt worden wieder durch den Koordinator der AWO. Weil der gleichzeitig Sprecher des Bereiches Migration auf Landesebene der Wohlfahrtsverbände ist. Und da das natürlich dann auf einmal ein Projekt wurde, was Prestige bedeutete, auch für diese Landesarbeitsgemeinschaft. Das ist ein Vorzeigeprojekt geworden, damit gehen auch die Koordinatoren hausieren bei Land und Bund, wenn es um Finanzierungen und so weiter geht, so dass wir da gar nichts mehr zu befürchten hatten. Also letztendlich haben wir ´s von unten nach oben hin transportiert“ (Herr Schmitz).
Die Institutionalisierung der Kooperation erfolgte also zunächst aus pragmatischen Gründen im „bottom up“-Modus und wurde dann von der kommunalen Politik als besondere Chance zur Verbesserung der Arbeit auf einem konkreten Politikfeld angesehen. Bei den Verbänden schließlich gab es zunächst, konform zu den Organisationsgrenzen und zu dem ansonsten auf dem Markt der sozialen Dienstleistungen bestehenden Konkurrenzverhältnis, erhebliche Vorbehalte. Auch dort hat man dann jedoch bald gesehen, dass es sich bei diesem Prozess nicht um eine für Konkurrenzverhältnisse typische Nullsummenlogik handelt, sondern um eine Win-Win-Situation, von der alle Beteiligten profitieren können: Mit einem Prestigeprojekt kann man auch überregional mehr Gelder akquirieren, von der Politik kommt Unterstützung, weil die sich wiederum eine reibungslosere Bearbeitung der in der Stadt durchaus relevanten Migrationsproblematik verspricht, und die konkreten Mitarbeiter vor Ort können die Rahmenbedingungen ihrer ohnehin erforderlichen Kooperation verbessern. Entscheidende Voraussetzung dafür, dass das Projekt überhaupt erst einmal angeschoben werden konnte, war die Tatsache, dass bei den örtlichen Geschäftsführungen kreativ und nicht „trägerabschottend“ gedacht wurde. Und Herr Schmitz weist auf eine weitere wichtige Grundlage hin, die in vielen anderen Kommunen so nicht vorhanden ist. Die Stadtverwaltung sieht sich traditionell ebenfalls nicht primär in einem Konkurrenz- oder Beaufsichtigungsverhältnis zu den Wohlfahrtsverbänden, sondern in einem Kooperationsverhältnis. Daher hatte man auch kein Problem damit, den Zusammenschluss der Träger in diesem Fall nicht als Bedrohung anzusehen, sondern als Chance für eine besonders effektive Zusammenarbeit:
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5 Ergebnisse „Wir haben es unter anderem auch gemacht, um gegenüber der Kommune ein stärkeres Sprachrohr zu sein. Vorher war es so, dass sie sich mit einem Verband auseinandersetzen mussten. Jetzt müssen sie sich automatisch mit dreien auseinandersetzen. Und das hat ´ne andere Gewichtung. Wenn ich jetzt etwa im Ausschuss oder im Gespräch mit einzelnen Fachbereichen bestimmte Forderungen stelle – gar nicht mal finanziell, sondern inhaltlicher Art –, dann können sie sich sicher sein, dass da drei Geschäftsführer hinter stehen. Und das ist etwas anderes. Also wir haben damit letztendlich erreicht, dass wir einen anderen Stellenwert gekriegt haben. Und das ist natürlich nicht von jeder Kommune gewollt. Hier in Kohlen ist es traditionell so, dass wirklich die Zusammenarbeit der Verbände mit der kommunalen Verwaltung sehr gut ist. Man ist transparent, man ist verbindlich und hält sich an Absprachen. Man geht auf Verbände zu von Seiten der Verwaltung, wenn es um bestimmte Dinge geht, um Aufgaben und um Ideen, um Inhalte. Das ist in anderen Kommunen nicht unbedingt so. Also, hier ist es traditionell wirklich ein ganz gutes Miteinander“ (Herr Schmitz).
Diese so empfundene Besonderheit der Kohlener Verhältnisse wird immer wieder in den Interviews erwähnt, egal ob es sich um Leitungsfiguren oder untergeordnete Akteure der Bürgergesellschaft handelt. Und so verwundert es auch nicht, dass sich zwischen dem verbandlich-politischen Projekt „Haus der Kulturen“ und der unabhängigen Kohlener Bürgerstiftung mit ihren Jugendhofprojekt auch bald kooperative Netze etabliert haben. Entscheidend ist letztlich auch hier ein Vertrauensverhältnis, das auf konkreten Erfahrungen fußt: Transparenz, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit im gegenseitigen Umgang miteinander. Vertrauen ist aber nicht nur das entscheidende Band zwischen den Organisationen, sondern auch innerhalb der neuen Einrichtung. Die Grenzen zwischen den Verbänden sind hier zumindest von außen gar nicht mehr sichtbar. Wenn bestimmte Stellen auslaufen, der andere Träger aber gerade noch Gelder zur Verfügung hat, kann auch schon mal ein schneller Wechsel von der AWO zur Caritas oder zur Diakonie erfolgen. In der konkreten Zusammenarbeit herrscht ebenfalls eine allgemeine Vertrauensunterstellung: „Die Computer sind untereinander vernetzt. Ich kann an jeden Computer ran. Weil, wenn wir uns etwas austauschen wollen, wenn ich was brauche, was die andern haben und umgekehrt, kann ich an deren Sachen ran. Und da ist dieses Vertrauen auch da. Bei den Mitarbeitern, aber auch bei den Trägern. Jeder ist natürlich für sich zuständig, was Finanzierung anbelangt. Aber wir überlegen gemeinsam, wenn jemand was weiß von ´ner Finanzierung. Für wen passt das am Besten? Und wer ist am meisten unter Druck zurzeit. Und inhaltlich ist es so, dass wir uns aufgeteilt haben unter den Trägern, wer welches Thema belegt. Damit wir uns da keine Konkurrenz machen, fortbildungsmäßig und erfahrungsmäßig“ (Herr Schmitz).
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Das Projekt „Haus der Kulturen“ ist das herausragende, aber nicht das einzige Beispiel für Kooperation über die üblichen Organisations- und Lagergrenzen hinweg. Ein weiteres Beispiel ist das „Familienbüro“, das von Caritas und Diakonie gemeinsam betrieben wird, sowie diverse Kooperationen im Zusammenhang mit der oben schon mehrfach erwähnten Wohnsiedlung, wo der von dem Hausmeisterehepaar initiierte Verein ebenfalls von ganz unterschiedlichen Organisationen unterstützt wird, vom Lions Club über die SPD bis zu Caritas und Diakonie.
5.8.3 Bürgergesellschaft und Staat Dem Bild einer konsensorientierten Kooperationskultur entspricht auch die beobachtbare kommunalpolitische Praxis. In der laufenden Legislaturperiode des Erhebungszeitraums wurden 93,5 Prozent der Ratsbeschlüsse einstimmig gefasst. In der davor liegenden Legislaturperiode waren es sogar 95 Prozent aller Ratsbeschlüsse. Kohlen erweist sich hier durchaus als ein typischer Fall jener politischen Kultur des Konsenses, wie sie sich in Nordrhein-Westfalen und insbesondere im Ruhrgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren konnte195. Eine Besonderheit dieser erfolgreichen Ermöglichungskultur ist die Tatsache, dass nicht nur Stadtverwaltung und klassische Zivilgesellschaft, sondern auch Verbände und Parteien der kommunalen Politik untereinander spezifisch vernetzt sind: Von der AWO verlaufen enge Kommunikationsdrähte zur örtlichen SPD, von der Caritas zur örtlichen CDU. Wenn also bestimmte Programme politisch vorbereitet werden müssen, dann können die jeweiligen Verbandsvertreter über ihre politischen Kontakte genau dies bewirken. Solche Verbindungslinien verlaufen aber nicht nur zwischen klassischer Verbändelandschaft und etablierter Politik, sondern auch zu den Organisationen der neuen Bürgergesellschaft. Auch diese profitiert massiv von den Kooperationsbeziehungen zu Stadtverwaltung, Politik und Wirtschaft. Das zeigt sich am Beispiel der Kohlener Bürgerstiftung. Sie hat auch in Kleinigkeiten von Hilfestellungen staatlicher Einrichtungen profitiert. So wurden notwendige Baumfällarbeiten auf dem Gelände, wo die Bürgerstiftung ihr HofProjekt durchführt, mit Hilfe des Technischen Hilfswerks durchgeführt, obwohl dieses eigentlich für private Zwecke oder Organisationen gar nicht tätig werden darf: „Also das technische Hilfswerk darf ja nicht einfach auf privaten Flächen irgendwas machen, das geht ja nicht, ´ne? Die sind... Sie können nur im öffentlichen Interesse 195
Siehe dazu Rohe (1984), Alemann/Brandenburg (2000) und Dörner (2001).
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5 Ergebnisse arbeiten. Also, dann wurde das so arrangiert, dass bei uns Gefahr im Verzug war, weil so ´n trockener Baum umfallen kann, und dann hat die Feuerwehr gebeten, dass das technische Hilfswerk einen Einsatz macht“ (Frau Berger).
Das THW hat dann später Einsätze auch als „Übungen“ verbucht, wobei Frau Berger in diesem Zusammenhang immer wieder deutlich macht, dass es letztlich auch hier die verschiedene Institutionen interpenetrierenden persönlichen Beziehungen sind, die den Ausschlag geben für eine Zusage von Hilfeleistungen. Denn die Stiftung hätte nicht einfach offiziell einen Einsatz des THW beantragen können. Da bedarf es schon des Beziehungskapitals und auch der Bereitschaft aller Beteiligten, den offiziellen Dienstweg und die detaillierten Rechtsvorschriften einmal etwas beiseite zu schieben. Entscheidend bleibt, dass die Stiftung auf eigene Kosten ein privates Unternehmen für die Baumfällarbeiten hätte beauftragen müssen, wenn nicht eine staatliche Institution, ausgerüstet mit wertvollem Großgerät und dem „Humankapital“ der Mitarbeiter, hier übungsförmig eingesprungen wäre. Das Jugendhilfeprojekt der Stiftung hat also direkt vom institutionellen Kapital des Staats profitiert. Noch deutlicher aber wird die Funktionalität der Kooperationsbeziehung zwischen Bürgergesellschaft und Staat im Bereich der Finanzierung. Die Bürgerstiftung hat mit ihrem vergleichsweise bescheidenen Kapitalstock von anfänglich etwas über 100.000 DM einen geringen Aktionsradius, da man nur die Zinserträge in Anspruch nehmen darf. Damit aber wäre die Kohlener Bürgerstiftung eigentlich handlungsunfähig geblieben, wenn man nicht – vor allem über die Person des Schatzmeisters – in massiver Weise Drittmittel eingeworben hätte. Als in den Stiftungsgremien die Idee entstand, den verwahrlosten und mehrfach abgebrannten Bauernhof zu kaufen, hatte die Stiftung dafür keineswegs die erforderlichen finanziellen Ressourcen zur Verfügung. Da man jedoch gleichzeitig der festen Überzeugung war, dass gerade ein so anschauliches, für alle Bürger sichtbares Projekt wie dieser Jugendhof die Erfolgsbasis der weiteren Stiftungsarbeit darstellen könnte, suchte man intensiv nach Lösungen. Entscheidend waren auch hier zunächst Außenhilfen: Kredite der Kreissparkasse und einer Stiftung. Der Bankkredit kam unter massiver Hilfe des Sparkassendirektors zustande, der ja klugerweise zu Beginn als Stifter gewonnen worden war. Trotzdem handelte es sich bei diesen Hilfen nur um Übergangsmittel, die das Projekt nicht hätten dauerhaft finanzieren können. Die entscheidende Hilfe nämlich kam vom Staat. In intensiven Gesprächen mit dem nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten, an deren Zustandekommen das Beziehungskapital des früheren SPD-Landtagsabgeordneten wesentlich beteiligt war, konnte
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der „Landesvater“ davon überzeugt werden, dass der Kohlener Bürgerstiftung geholfen werden muss: „Und die Finanzierung dieses Hofes ist uns gelungen über den Ministerpräsidenten Clement so zu organisieren, dass aus der Stiftung der Westdeutschen Landesbank, die auch ein Stiftungsvermögen hat, dieser Hof geschaffen werden konnte. Aber wie wir den Hof gekauft haben, stand das alles vollkommen offen. Und um die Jahreswende 1999/2000 habe ich vier Wochen schlaflose Nächte gehabt“ (Herr Koller).
Der Hof wurde dann im Sommer 2001, also eine ziemlich lange Zeit nach Kauf des Grundstücks, in ein Förderprogramm aufgenommen, sodass tatsächlich in relativ großer Menge Staatsgelder zur Verfügung gestellt werden konnten. Im Rahmen dieser Förderung stellte sich dann bald heraus, dass eine enge Kooperation mit der Kommune unverzichtbar ist, um in den Genuss von Landesfördermitteln zu kommen. Eine direkte finanzielle Förderung durch die Kommune jedoch würde sofort auch Begehrlichkeiten von Seiten anderer Organisationen wecken. Auch in der Bürgergesellschaft gibt es Konkurrenzverhältnisse, auf die eine Kommune sehr genau Rücksicht nehmen muss, wenn es nicht zu Streit, Missgunst und politischen Auseinandersetzungen kommen soll. Das Problem bestand in diesem Fall darin, dass normalerweise eine Förderung durch das Land verfahrenstechnisch nur dann in Frage kommt, wenn die Kommune einen Teil der Kosten beisteuert. Vor dem Hintergrund der Zechenschließungen und immer weniger hereinkommender Gewerbesteuer ist diese aber völlig am Ende ihrer finanziellen Möglichkeiten. Bei der angespannten Haushaltslage war somit ein regulärer Zuschuss für die Bürgerstiftung nicht möglich. Diesem Dilemma konnte man wiederum nur mit einfallsreichen Lösungen entkommen. Stadtverwaltung und Politik fanden Wege, haushaltstechnisch so zu verfahren, dass die ersehnten Landesmittel erreicht werden konnten, ohne den Etat der Kommune zusätzlich zu belasten. Dieses Verfahren war aber nur möglich durch eine enge Kooperation zwischen Stiftung, Land und Kommune. Vor allem zwischen Stadtverwaltung und Stiftung hat sich ein stabiles Kooperationssystem etabliert, das den Stiftungsvorstand administrativ entlastet, weil die für Nichtfachleute ausgesprochen komplizierte Materie der Beantragung von Fördermitteln nun insgesamt von Mitarbeitern der Stadt Kohlen abgedeckt wird. Hierin erblicken die Stiftungsaktiven einen erheblichen Synergie-Effekt. So führt Victoria Werner aus: „Wir kriegen unheimlich Hilfe. Der Bürgermeister hat das also deutlich gesagt, dass er seinen Leuten jederzeit freie Fahrt gibt für die Bürgerstiftung. Das heißt also, dieses ganze Antragswesen für alle möglichen Fördermittel, da blickt ja kein Mensch
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5 Ergebnisse mehr durch, dass das über die Stadt geht, weil da jemand sich auskennt und seine Potentiale zur Verfügung stellt.“
Aber auch über diese konkrete Hilfestellung bei den Anträgen hinaus hat sich zwischen Stiftung und Stadt eine enge Verflechtung herauskristallisiert. Dies berichtet Frau Berger, die bei ihrer Arbeit auf dem Stiftungshof regelmäßig mit Vertretern der Kommune in Kontakt kommt und merkt, dass diese versuchen, der Stiftung zu helfen, wo sie können. „Die gesamte Verwaltung vom Stadtdirektor über den Baurat sind regelmäßige Besucher und überzeugen sich vom Fortschritt des Hofes; können uns keine Gelder zur Verfügung stellen, das ist ja klar, die Stadt hat mehr Schulden als Einnahmen. Aber alles, was an Unterstützung so denkbar ist, wird auch von der Stadt gebracht. Auch das läuft natürlich letztendlich über persönliche Kontakte.“
Hier ist ein institutionelles Kapital jenseits von finanziellen Unterstützungen entstanden, das für die Bürgergesellschaft von großem Wert ist. Die letzte Bemerkung macht aber auch nochmals deutlich, dass die Verflechtung zwischen Organisationen immer angewiesen bleibt auf die konkreten Interaktionsnetzwerke der beteiligten Akteure. Nicht „die Stiftung“ und „die Stadt“ arbeiten letztlich zusammen, sondern Aktivisten der Stiftung und Mitglieder der Stadtverwaltung. Ohne funktionierende persönliche Beziehungen wäre das Kooperationsnetzwerk zum Scheitern verurteilt. Interessant an der Kohlener Konstellation vor Ort ist, dass hier eine Hilfestellung für die Bürgergesellschaft durch die öffentliche Hand zustande kommt, ohne dass Gelder fließen. Der Staat, bzw. hier: die Kommune kann also durchaus „aktivierend“ wirken und damit gemeinwohlfördernde Maßnahmen unterstützen, obwohl die öffentlichen Kassen leer sind. Dies ist ein bemerkenswerter Befund im Kontext der neueren Debatte um den sog. „aktivierenden Staat“ (vgl. Kap. 2.3). Die Unterstützung findet nicht in Form von Transferzahlungen statt, sondern als Bereitstellung von Infrastruktur und vor allem als Bereitstellung von öffentlichem Kulturkapital, das dann durch Beamte der Kommune etwa in den Prozess der Antragstellung von Geldern bei Dritten eingebracht wird.
5.8.4 Probleme der Kooperationskultur Als schwierig erwies sich die Kooperationskultur von Kohlen jedoch im Fall der Konstruktion der Freiwilligenagentur. Dieses Projekt einer Organisation, die als typisch für neue Formen von Zivilgesellschaft gelten kann, wurde von der kommunalen Politik (konkret: von Ratsherren der SPD und der Grünen) initiiert und
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mit städtischen Geldern versorgt. Dies war jedoch nur machbar durch eine institutionelle Konstruktion, die eine vielfältige Beteiligung von Stadt, Politik, Verbänden und Kirchen installierte. Alle relevanten etablierten Kräfte in der Stadt sollten partizipieren, und dies führte zu einem administrativen Konstrukt, das sich langfristig als handlungsunfähig erwies. Es wurde ein umfangreiches Kuratorium eingerichtet, in dem die Vertreter aller relevanten Organisationen die Aufsicht über die Agentur wahrnehmen sollten. Herr Schmidt, der als Vertreter der Caritas Mitglied des Kuratoriums war, fasst seine Eindrücke kurz und knapp zusammen: „Also wir haben uns ja unendlich getroffen dort, allein die Sitzungen, das war ja schon der Hammer. Das kann nicht funktionieren.“ Die Arbeitsweise der Organisation war zu umständlich und zu unflexibel, zu sehr durch administrative Vorgaben und Proporzlogik eingeengt. So wurden der Agentur nach einigen operativen Schwierigkeiten schließlich die Gelder gestrichen, sodass die Arbeit eingestellt werden musste. Die spezifischen Probleme dieser kommunalpolitisch initiierten und finanzierten Freiwilligenagentur im Kontext der eng vernetzen Bürgergesellschaft in Kohlen werden sehr anschaulich dargestellt in den Berichten, die eine Leitungskraft der Agentur auf der Grundlage ihrer Erfahrungen formuliert. Sonja Bujack hatte gerade eine Phase der Berufstätigkeit in einer Großkanzlei der Landeshauptstadt beendet, als sie durch eine Zeitungsannonce auf die geplante Freiwilligenagentur in Kohlen aufmerksam wurde. Sie wohnt selbst nicht in Kohlen, sondern in einer direkt angrenzenden Nachbarstadt, was für den weiteren Verlauf ihrer Tätigkeit nicht ganz unwichtig ist, wie noch zu zeigen sein wird. Die Akteurin, die nach einer kaufmännischen Ausbildung ein Diplomstudium der Pädagogik absolviert hatte, jedoch nicht in ihrem Beruf arbeitete, sah die Agentur als interessante Möglichkeit der Betätigung an und bewarb sich. Gleich bei dem Auswahlverfahren, in dem drei Leitungskräfte für die Agentur rekrutiert werden sollten, zeigten sich jedoch schon erste Schwierigkeiten, die symptomatischen Charakter tragen. Es wurde ein „Assessment-Center“ veranstaltet, bei dem ein vielköpfiges Gremium die Bewerberinnen in verschiedenen Situationen beobachten und begutachten sollte. Frau Bujack, die in der Großkanzlei schon viel Erfahrung mit der Einstellung von Personal sammeln konnte, attestiert diesem Auswahlverfahren einerseits, es sei „professionell“ aufgezogen gewesen. Dennoch sei es andererseits viel zu aufwändig für die Auswahl von Ehrenamtlichen gewesen: „Da haben sie sich auch wirklich Mühe gegeben. Ich meine, ich habe viele Leute eingestellt, aber so ein Brimborium habe ich nie gemacht. (…) Sagen wir mal so, für uns wäre das damals einfach zu viel Aufwand gewesen, so irgendwelche Leute zu suchen.“
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Hier wird die Überdimensionierung der Veranstaltung im Rahmen der Bürgergesellschaft deutlich. Wenn noch nicht einmal eine auf Profitabilität ausgerichtete Großkanzlei auf ein solch aufwändiges und umständliches Verfahren zurückgreifen würde, dann zeigt sich in diesem Punkt schon jener unangemessene Bürokratismus, der auch später das Agieren des Leitungsgremiums dieser Freiwilligenagentur so schwierig machte. Das Vorgehen beim Auswahlverfahren hätte allerdings, so Frau Bujack, durchaus ihre Zustimmung finden können, wenn es tatsächlich in der Rationalität abgelaufen wäre, die es nach außen hin für sich beansprucht hatte. Denn allem Aufwand zum Trotz sei ihr das Verfahren „obskur“ erschienen: „Es war vielleicht deswegen obskur, weil letztendlich... Es wurde ein großes Auswahlverfahren gemacht, aber letztendlich stand halt für manche Leute fest, dass die so oder so genommen werden. Das fand ich sehr, sehr merkwürdig. Das war für mich schon... also es hat sich denn im Nachhinein gezeigt, dass letztendlich die Frau Schumacher ja schon die ganze Zeit dafür gearbeitet hat. Das hat man uns nur nicht gesagt. Und das fand ich merkwürdig. Also, ich denke, dann sollte man es nicht so offen gestalten und sagen: Ja, wir machen jetzt hier so eine Art Assessment-Center oder wie man es auch immer nennen will.“
Es stellte sich nämlich im Nachhinein heraus, dass eine der Bewerberinnen, die in Kohlen wohnt, mit einem relativ einflussreichen Kommunalpolitiker verheiratet ist, der nicht nur eine zentrale Rolle bei der Initiative zur Agentur gespielt hatte, sondern später auch als Mitglied des Kuratoriums fungierte. Und diese Bewerberin war offensichtlich schon im Vorfeld in der Öffentlichkeit als Vertreterin der Kohlener Agentur aufgetreten. Das scheinbar so rationale und transparente Auswahlverfahren erschien daher in den Augen von Frau Bujack als bloßer Schein. Es war durchzogen von der Logik der Kooperationsnetzwerke und Beziehungsgeflechte in Kohlen. Daher benutzt die Akteurin für den Zusammenhang auch den Begriff der „Vetternwirtschaft“, ein Begriff, der ja im Bereich ökonomischer oder administrativer Rationalität darauf abhebt, dass hier jeweils Fremdlogiken – etwa die Bindungskräfte von Verwandtschafts- oder Freundschaftsnetzwerken – steuernd auf das Ganze einwirken. Später präzisiert Frau Bujack, es habe sich bei dem ganzen Verfahren sogar um eine „Stellenbeschaffungsmaßnahme“ für ihre Kollegin gehandelt, was diese einmal auch relativ unbefangen habe durchblicken lassen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass das eng geflochtene Kooperationsnetzwerk in Kohlen im Kontext der Freiwilligenagentur sehr bald auch seine Exklusionsmechanismen gezeigt hat. Frau Bujack stammt, ebenso wie die dritte rekrutierte Leitungskraft der Agentur Julia Breuer, nicht aus Kohlen. Während ihr selbst und ihrer
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ebenfalls auswärtigen Kollegin die meisten Akteure im Kuratorium völlig fremd gewesen seien, habe Frau Schumacher alle beteiligten schon im Vorfeld bestens gekannt: „Also, die Frau Schumacher ist dann halt... die kannte jeden. Jeden! Mit Vornamen und mit den meisten per Du. (…) Diese Beziehungsgeflechtsgeschichte. Also, sagen wir mal so: Es war eigentlich immer so, dass ich mich letztendlich außen vor gefühlt habe. Weil... es war halt auch so. Ich kannte diese Leute nicht, und andere Leute hatten die Informationen, und ich hatte sie nicht, und ich kannte halt auch niemanden… Oft ist es ja unerheblich, ob man die Informationen... man kann sie sich ja selber beschaffen. Ich konnte das nicht, weil ich die Leute nicht gekannt habe. ...und man dann in diesen Sitzungen natürlich denn schon auch häufig so ein bisschen außen vor war“ (Frau Bujack).
Diese Dialektik von In- und Exklusion ist für das Funktionieren von Bürgergesellschaft in der Kommune sehr wichtig. Der Kooperationsvorteil, den die enge Integration innerhalb der Gemeinde bringt, führt gleichzeitig zu einer Schließung nach außen und kann damit dysfunktionale Effekte hervorrufen, die letztendlich beim Scheitern des Agenturprojektes deutlich mitwirkten. Insgesamt kritisiert Frau Bujack heftig, dass die möglichen Freiräume der Agentur durch die Einbettung in das politische Feld in entscheidendem Maße eingeschränkt waren. Eröffnet ansonsten gerade der Dritte Sektor mit seiner Stellung zwischen Markt und Staat Handlungsmöglichkeiten jenseits der ökonomischen und administrativen Zwänge, so können diese stark begrenzt sein, wenn die Nonprofit-Organisation dann doch wieder in eine parteipolitische Proporzlogik eingebunden wird. Frau Bujack führt aus, dass die Agentur im Wesentlichen ein Projekt von roten und grünen Kommunalpolitikern gewesen sei. Diese parteipolitische Einfärbung habe dann aber auch die Rationalität der Diskussionen stark beeinträchtigt, da aus parteitaktischen Überlegungen heraus bestimmte Vorschläge immer abgelehnt wurden: „Und mit der CDU hat es die Frau Schumacher doch eh nicht gehabt. Also, es waren dann auch zum Teil so Dinge, mit denen ich auch nicht umgehen kann. Wenn dann Diskussionen waren, es war völlig egal, inhaltlich war es wurscht, wenn irgendetwas von der CDU kam, also von den Vertretern, dann war das per se nichts, obwohl das zum Teil wirklich gute Ideen waren. Aber es war einfach nicht möglich, zu sagen, also, das fand ich jetzt gar nicht so unspannend oder so, die Idee, sondern das war per se ganz klar Scheiße.“
Kommunalpolitik ist immer auch parteipolitisch moduliert. Somit greift diese Einfärbung geradezu automatisch auf die Handlungsmöglichkeiten der Bürgergesellschaft über, wenn die Stadt als Akteur interveniert. Ähnlich, wenn auch
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schwächer, greift die administrative Logik auf zivilgesellschaftliche Akteure zumindest partiell über, wenn diese staatliche Fördergelder in Anspruch nehmen. Die Übergriffe reichen von der verbindlichen Auflage zur Einhaltung bestimmter Kriterien bei der Stellenbesetzung bis hin dazu, dass nach BAT bezahlt werden muss. Die konkreten Akteure jedenfalls erfahren diese Art von Beschränkung als belastend: „Also, ich denke, was auf jeden Fall sein müsste, ist, dass die Leute, die das aufziehen, freier sind in ihren Entscheidungen. Also, nicht immer so riesige Apparate vor sich herschieben, wo man zu keinen Lösungen kommt, und wo man dann zehnmal überlegen darf: Kann man das jetzt sagen, oder könnte es jetzt sein, dass jetzt nämlich in drei Tagen... wenn man das jetzt so einbringt, dann kriegen wir das Geld nicht. Nein, dann müssen wir jetzt noch einmal ein halbes Jahr warten, weil dann können wir... Also, das sind Sachen, da kommt man nie auf einen grünen Zweig, das fängt dann auch nicht an zu laufen oder so. Also, und es vergrault die Leute. Es vergrault einfach die Leute“ (Frau Bujack)
Das heißt im Klartext: Frau Bujack, eine gut gebildete und hochqualifizierte Freiwillige, hat ihre ehrenamtliche Leitungsposition in der Freiwilligenagentur schließlich aufgegeben aufgrund solcher frustrierender Erfahrungen. Die Akademikerin hat den notwendigen Freiraum vermisst, den man erwarten kann, wenn man freiwillig für etwas arbeitet. Eine bürgergesellschaftliche Organisation, die hochkarätige Kompetenzen bewusst nutzen will, müsste entsprechende Arbeitsbereiche schaffen, die auch Raum lassen zur Entfaltung dieser Kompetenzen. Dies ist hier offensichtlich nicht geschehen. Selbst innerhalb ihrer Leitungsposition war die Akteurin nicht frei von Vorgaben und Fremdsteuerung. Die Äußerung von Sonja Bujack, die aus dem Kontext einer parteipolitisch interpenetrierten Bürgergesellschaft heraus formuliert wurde, erinnert stark an das liberale Credo von Zivilgesellschaft. Es war ja oben im Anschluss an Ralf Dahrendorf ausgeführt worden, dass Zivilgesellschaft im liberalen Sinne sich gerade dadurch definiert, dass ein weiter Abstand zu den Zwängen von Markt und Staat gewahrt wird und dass man der Tradition von Korporatismus und Kartellismus eine klare Absage erteilt. Gerade der Korporatismus scheint jedoch bei der Gründung der Kohlener Freiwilligenagentur deutlich Pate gestanden zu haben. Das zeigt sich ganz deutlich in dem Gremium, das die Politik als Steuerungs- und Kontrollinstrument der Agentur vorgesetzt hatte. Das Kuratorium bestand aus Vertretern der Parteien sowie der Kirchen und der wichtigsten Verbände vor Ort. Dadurch, dass man möglichst alle wichtigen Interessen berücksichtigen wollte, wurde das Gremium sehr groß. Die Größe wiederum brachte Unbeweglichkeit und allbekannte Dis-
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kurs- und Sitzungsrituale mit sich, die politischen Profis keine Probleme bereiten, den Laien jedoch als große Belastung erscheinen. So berichtet Julia Breuer, die zweite Agenturleiterin, die bald ebenfalls ihre Tätigkeit aufgab, von ihren Erfahrungen mit dem Kuratorium: „Und im Endeffekt hatte man so das Gefühl, alle hatten eine verschiedene Vorstellung davon. Also, die von den Parteien, die saßen da eigentlich nur, um sich zu profilieren. Also, so von der Sache her war denen das, glaub ich, scheißegal... Also, man wurde schon so ein bisschen gegängelt. So als Versuchskaninchen hat man sich gefühlt. Das war irgendwie ganz merkwürdig. Weil eben so die Verwaltungsmenschen, die haben sich auch irgendwie aufgeführt, wie man sich das so vorstellt.“
Auch bei Frau Breuer, der zweiten Leiterin der Freiwilligenagentur, handelt es sich um eine Akademikerin, die kurz vor dem Abschluss ihres Studiums stand. Auch sie vermisst die Handlungsfreiräume in ihrer freiwilligen Arbeit. Die Motivation, bestimmte Projekte auch einmal ohne administrativ-politische Zwänge verwirklichen zu können, geht bei einer solchen Einhegung der Tätigkeiten schnell verloren. Selbst Politiker, die ursprünglich diese Kuratoriumslösung stark befürwortet hatten, sehen das Konstrukt mittlerweile skeptisch. Jeder größere Schritt musste letztlich vom vielköpfigen, proporzlogisch besetzten Kuratorium der Agentur geprüft und einstimmig genehmigt werden. Lars Kling, einer der verantwortlichen Kommunalpolitiker, macht deutlich, dass das Konzept eines Kuratoriums mit der Auflage von Konsensbeschlüssen durchaus bewusst gewählt wurde, um alle Kräfte auf dem Weg „mitzunehmen“ und nicht einfach Mehrheitsmeinungen durchzuboxen. Das Prinzip entspricht ja durchaus auch der Kooperationskultur in Kohlen. Gleichzeitig gingen jedoch von dieser Konsenslast auch erhebliche Dysfunktionalitäten aus: „Wir hatten uns von Vornherein ja auch ein Kuratorium auferlegt, um Sachen eigentlich einstimmig zu machen. Das heißt also, so lange Kompromisse zu suchen und Wege und Überzeugungsarbeit zu leisten, dass wir alle den Weg mitgehen könnten. Das war sehr schwierig. Da muss ich auch sagen, in vielen Bereichen hätten einige Dinge schneller laufen können und auch vielleicht präziser laufen können, wenn man mit Mehrheitsprinzipien gearbeitet hätte. (…) Nicht in jeder Sitzung waren alle da. Aber mit 10 Leuten musste man sich hauptsächlich einigen. Und das war zum Teil nicht ganz einfach. Da, muss ich sagen, war das auch schwierig, wenn einige Vertreter dann beim nächsten Mal wieder dabei waren, die Entwicklung der letzten Sitzung nicht mit gekriegt hatten, und man einiges wieder neu durchkauen musste, oder einige bis zum Ende nicht geschnallt hatten, was die da auf den Weg gebracht hatten, und man immer wieder erklären musste und rechtfertigen musste und und und ... Das war also ziemlich lähmend nachher auch“ (Herr Kling).
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Zu diesen lähmenden Effekten hinzu kam, dass die von der Stadt eingerichtete Freiwilligenagentur von Kirchen und freien Trägern primär als Konkurrenz im Wettbewerb um die knappe Ressource „Freiwillige“ wahrgenommen wurde, deren Potential in der Mittelstadt ohnehin als weitgehend ausgeschöpft galt. Der katholische Pfarrer Max Kemper, der in vielen Kontexten aktiv war und ist, beschreibt dieses unter Knappheitsverhältnissen zustande kommende Konkurrenzverhältnis wie folgt: „Es sind also immer die gleichen Leute, die aktiv sind. Ich staunte immer wieder, die sind ja nun wirklich sehr phantasievoll und sehr einsatzbereit. Aber das ist auch das Problem, warum ´ne Freiwilligenagentur nicht klappt. Ich mein, zum Beispiel die Leute, die überhaupt fürs Ehrenamt ansprechbar sind, das sind relativ wenige, die auf der grünen Wiese, die jetzt so vollkommen frei da sind, sich heranziehen lassen für irgendwas oder für irgendeine Aufgabe. Das sind wirkliche Ausnahmen.“
Die meisten Aktiven sind aufgrund bestimmter konfessioneller oder politischer Milieubindungen engagiert, und die lassen sich nach Meinung des Pfarrers nicht beliebig für irgendwelche Projekte rekrutieren. Über dieses Konkurrenzverhältnis und die Diskussion darüber wurde in der lokalen Presse ausführlich berichtet. Wäre die Agentur stattdessen als Kooperationsprojekt von freien Trägern initiiert worden, hätten diese Probleme möglicherweise umgangen werden können. Das Nachfolgeprojekt der Freiwilligenagentur, eine Vermittlungsbörse für Ehrenamtliche im Kontext des städtischen Seniorenbüros, hat daher auch von Beginn an die Kooperation mit den Wohlfahrtsverbänden vor Ort betont. Ein Konkurrenzverhältnis wurde auch im Fall der Bürgerstiftung vermieden. Die Stiftung und ihr Aktionsradius wurden so konstruiert, dass man Mitglieder primär für Geldbeiträge und nicht für Zeitspenden einwarb. Die Projekte platzierte man in Arbeitsbereichen, die durch die klassische Verbändelandschaft nicht abgedeckt waren. Und die für operative Projekte erforderlichen größeren finanziellen Ressourcen bezog man schließlich aus Quellen jenseits des kommunalen Kontextes. Daher war für Konkurrenzneid von Seiten der etablierten Organisationen kein Anlass gegeben. Eine solche kooperative, konsensorientierte Strategie gegenüber dem klassischen liberalen Markt- und Konkurrenzmechanismus kann als typisch für die vorgefundene Kooperationskultur gelten. Nicht Konflikt, sondern Einvernehmen, nicht Angriff, sondern Absprache sind die üblichen Interaktionsmuster in einer solchen Ermöglichungskultur. AWO-Mitarbeiter Michael Schmitz verweist schließlich noch auf einen weiteren möglichen Aspekt der Knappheit der Ressource ‚Freiwillige’, der mit der mentalen bzw. intellektuellen Disposition der Bevölkerung zu tun hat. In der Stadt Kohlen würden viele ehrenamtlich Engagierte ab einer bestimmten Grenze
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nicht mehr zur freiwilligen Arbeit bereit sein, wenn sie den Eindruck hätten, ihr Nutzen stimme nicht mehr: „Wenn man Personen anspricht, etwas freiwillig zu tun, tun sie das vielleicht bis zu einem bestimmten Grad oder ´ne bestimmte Zeit. Aber dann merken sie, dass andere für diese Tätigkeit Geld kriegen. Und in dem Moment, wo Geld knapper wird, oder wo man Abstriche machen muss, von einem sehr hohen Level etwas runter muss, kuckt man natürlich, wie kann man das auffüllen. Und wenn dann jemand sagt, dann tun wir noch was freiwillig, ist das schwierig. Ich glaube, dass die Bevölkerungsstruktur in Kohlen als, ich sag mal, relativ einfach, ohne einem weh zu tun, nicht das Denken hat wie eine Bevölkerungsstruktur die, sag ich mal, etwas gehobene Ansprüche hat. Und auch von der Ausbildung etwas gehobener ist.“
So sei es tatsächlich schwierig, in Kohlen für anspruchsvollere Tätigkeiten qualifizierte Freiwillige zu finden: „Ich sag mal, nehmen wir, als Beispiel, den Aufbau einer neuen Müttergruppe – da kann ich nicht irgendeine Person für nehmen. Da muss ich schon jemand nehmen, der eine bestimmte Ausbildung hat, der bestimmte Vorkenntnisse hat, ´n bestimmtes Personenbild hat, und das freiwillig tun würde und in der Lage ist, das auch umzusetzen. Mit ´ner Begleitung durchaus vom Hauptamt. Und da gibt ´s nicht viele Personen hier in Kohlen. Ich glaube, da gibt ´s woanders mehr Personen von“ (Herr Schmitz). Diese Einschätzung schließt dann wieder an jene Befunde an, die oben in Kap. 5.6 berichtet wurden. Die neue Bürgergesellschaft stellt demnach höhere Anforderungen an die Freiwilligen insbesondere im Bereich der Bildung. Da diese Anforderungen von geringer Gebildeten nicht erfüllt werden können, ergibt sich eine Partizipationsasymmetrie und letztlich die Tendenz einer zunehmenden Exklusion der niedrigen Sozialschichten aus der Bürgergesellschaft.
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Bürgergesellschaft ist in der öffentlichen Debatte wie in politischen Programmen jeglicher Couleur nahezu allgegenwärtig. Dieser hohen gesellschafts- und sozialpolitischen Relevanz steht jedoch ein erhebliches Forschungsdefizit gegenüber: Zwar gibt es eine Vielzahl normativer Entwürfe und eine umfangreiche empirische Forschung zu Teilaspekten wie der Makrostruktur des Dritten Sektors oder den Motiven für freiwilliges Engagement. Was jedoch fehlt, ist eine empirische Untersuchung der konkreten Funktionsweise von Bürgergesellschaft vor Ort unter den Bedingungen von Individualisierung und reflexiver Modernisierung. Ziel des Forschungsvorhabens war es daher, im Rahmen einer interpretativen Stadt-Studie zu einer Kommune im nördlichen Ruhrgebiet das Geflecht aus Organisationen, Gruppen und individuellen Akteuren zu analysieren und dabei fördernde wie hemmende Faktoren von Bürgergesellschaft offenzulegen. Besonderes Augenmerk lag auf den Motiven und Nutzenerwartungen der Akteure (im weiteren Sinne, inklusive Sinn- und Identitätsstiftung), auf Karrieremustern (vor allem im Verlauf zwischen Familien-, Erwerbs- und freiwilliger Arbeit), Vergemeinschaftungsprozessen (inklusive In- und Exklusion) sowie auf der Voraussetzungshaftigkeit des Engagements mit resultierenden Ungleichheiten und Asymmetrien in der Bürgergesellschaft. Schließlich wurde untersucht, was in vielen Beiträgen als vorrangiges Desiderat der Forschung benannt wurde: das Problem der „Passung“ zwischen gewandelten individuellen Dispositionen und organisatorischen Strukturen. Um dies leisten zu können, wurden drei Organisationen des kommunalen Geflechts in den Mittelpunkt gestellt: ein traditioneller Wohlfahrtsverband, eine Freiwilligenagentur und eine Bürgerstiftung. Die nahezu zeitgleiche Arbeit aller drei Organisationen in der Stadt bot einen sehr guten Zugang zum zivilgesellschaftlichen Geflecht vor Ort. Die Kohlener Szenerie des Engagements umfasst daneben zahlreiche Vereine, aber auch Initiativen, links-alternative Netzwerke, diverse Gruppierungen der Frauenbewegung und politische Vereinigungen. Ein Erklärungsfaktor für den vergleichsweise hohen Grad an bürgerschaftlichem Engagement in Kohlen als einer typischen, ökonomisch schwachen Kommune im Ruhrgebiet liegt in der jüngeren Vergangenheit der Stadt. Vor einigen Jahren plante die Landesregierung, in der Stadt eine forensische Klinik zu errichten. Das Vorhaben, das zudem
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in unmittelbarer Nähe eines vielfrequentierten Parks durchgeführt werden sollte, produzierte heftige Empörung und führte zu einer Mobilisierung breiter Bevölkerungsteile. Entgegen allen Voraussagen gelang es der gegründeten Bürgerinitiative tatsächlich, das Vorhaben zu stoppen. Diese Erfahrung, dass kollektives Handeln wichtige Dinge bewegen kann, hat nach Aussagen vieler Beobachter und Beteiligter in der Stadt zu einer nachhaltigen Aktivierung geführt. Das Engagementpotential wird in der Kommune gezielt gefördert durch politische Maßnahmen: Neben Finanzmitteln für die Vereine zeigt sich dies in den regelmäßigen „Zukunftswerkstätten“, in der Tatsache, dass die Freiwilligenagentur mit städtischen Mitteln gefördert wurde, und in der vor einigen Jahren erfolgten Einrichtung eines „Bürgerpreises“ der Stadt. Motive Der zentrale Befund hinsichtlich der Motive von freiwillig engagierten Personen lautet, dass die typische Konstellation über alle Unterschiede in Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen hinweg ein Mix ist aus altruistischen und egoistischen, gemeinsinnigen und nutzenorientierten Motiven. In der Terminologie der Wertwandelsforschung ausgedrückt, handelt es sich um eine Kombination aus Pflicht- und Akzeptanzmotiven einerseits und Selbstverwirklichungsmotiven andererseits. Dies gilt auch über die Grenzen der verschiedenen Organisationen hinweg, d.h. in der „alten“ wie in der „neuen“ Bürgergesellschaft nahezu gleichermaßen. Kaum ein Akteur inszeniert sich heutzutage als reiner Altruist oder Gemeinsinnträger. Differenzen werden dann jedoch in der Gewichtung deutlich. Die älteren Aktiven nennen in den Interviews zunächst einmal Verpflichtungszusammenhänge. So verweisen insbesondere die christlich geprägten Aktiven im Kontext der Caritas auf die Norm der Nächstenliebe und auf das Motiv der Dankbarkeit: Man selbst habe ein angenehmes Leben in Gesundheit und materieller Absicherung führen dürfen, daher wolle man nun „etwas zurückgeben“ und Bedürftigen helfen. Der christliche Sozialisationskontext in Familie, Schule und organisatorischem Milieu (Kirche, christliche Verbände und Vereine) ist dabei durchaus bedeutsam, denn ältere Aktive beispielsweise in der Arbeiterwohlfahrt führen solche altruistischen Motive deutlich weniger an und fordern viel schneller den für sie bei der Tätigkeit herauskommenden Nutzen ein. Bei einigen Akteuren stehen auch im klassischen Sinne gemeinnützige, „republikanische“ Motive im Vordergrund. Sie führen eine öffentliche Existenz in dem Sinne, dass sie an exponierter Stelle agieren und sich in die öffentlichen Angelegenheiten ihrer Stadt einmischen. Diese Personen haben meist früher schon in anderen Kontexten gemeinnützig gearbeitet (Kirchengemeinde, Bürgerinitiative, „Bürgerparlament“, Politik). Das Engagement erscheint als Moment
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eines republikanischen Identitätsentwurfs, als Moment einer Vita Activa im Sinne Hannah Arendts, wie er vor allem in der traditionellen Theorie von Bürgergesellschaft als tragendes Fundament der politischen Gemeinschaft angesehen wurde. Ein wichtiges Pflichtmotiv ist schließlich auch der Lokalpatriotismus, die Bindung an die heimatliche Stadt oder auch an den Stadtteil (bei einigen Akteuren war der Stadtteilpatriotismus stärker ausgeprägt als der Stadtpatriotismus). Dieses Motiv ist vornehmlich bei älteren Aktiven vorzufinden; für die Jüngeren scheint die Dimension kaum relevant zu sein. Allerdings sollte auch nicht übersehen werden, dass Lokalpatriotismus im Sinne eines wohlverstandenen Eigeninteresses gleichsam grenzüberschreitend zwischen Gemein- und Eigennutz steht. ‘Etwas für die Gemeinde tun’ verbindet sich häufig mit dem Stolz auf den heimatlichen Kontext, ein Aspekt, der für die Bürger gerade in der von uns untersuchten, ökonomisch schwachen Stadt wichtig ist. Daneben wurden in den Interviews folgende eigennützige Motive erkennbar: Erstens: Lern- und Qualifikationsgewinne: Die freiwillige Tätigkeit ist in aller Regel mit dem Erwerb von kulturellem Kapital verbunden. Das gilt keineswegs nur für die Leitungstätigkeiten, wo man lernt, öffentlich aufzutreten, Personal anzuleiten, Verhandlungen zu führen usw. Auch bei untergeordneten Tätigkeiten lernt man Dinge, die man in der eigenen Alltagswelt verwenden kann, beispielsweise Pflegetechniken, die in der Altenbetreuung vermittelt werden und die man dann in der eigenen Familie zum Einsatz bringen möchte. Zweitens: Soziale Kontakte und Geselligkeit: Das Spektrum reicht in dieser Dimension, die man auch als eine „weiche“ Form von Sozialkapital ansehen kann, von lockeren Bekanntschaften und regelmäßigen Anlässen des „sich Sehens“ bis zur Entstehung fester Kontakte, die als „Sozialkapital“ später auch beruflich genutzt werden können. Weiterhin berichten Akteure davon, dass sie nicht „aus gesellschaftlichen Zusammenhängen herausfallen“ wollen. Sie möchten integriert bleiben in den alltäglichen Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen der sozialen Welt. Dieser Aspekt, der vor allem bei älteren oder arbeitslosen Personen zur Geltung kommt, verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt: Drittens: Statusbewahrung: Der Übergang vom Status der Erwerbstätigkeit zum Rentner- und Pensionärsdasein bzw. zur Arbeitslosigkeit (insbesondere wenn diese dauerhaft angelegt ist) kann aus der Sicht einiger Akteure mit Hilfe einer freiwilligen Tätigkeit besser bewältigt werden, weil man hier wieder in eine regelhafte und als sinnvoll erfahrene Tätigkeit hineinkommt. Man hat das Gefühl, gebraucht zu werden und dass es „auf einen ankommt“. Das Engagement verhindert, dass man „in ein Loch fällt“. Einige der in gehobener Position tätigen
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Akteure betonten, dass ihr Ehrenamt gegenüber der früheren Berufstätigkeit sogar die Möglichkeit biete, zu managen und mitzureden, ohne jene Zwänge, wie sie im Berufsleben üblich sind. Die neuen Freiräume des ehrenamtlichen „Dilettantismus“ (Pankoke 1994) werden also gezielt kombiniert mit der Erfahrung funktionaler und sozialer Integration, wie sie sonst nur durch Berufstätigkeit gegeben ist. Viertens: Anerkennung und Prominenz: Soziale Anerkennung ist in der modernen Gegenwartsgesellschaft in hohem Maße mit dem beruflichen Status verknüpft. Das bürgerschaftliche Engagement bietet nicht nur die Möglichkeit, den mit dem Verlust des beruflichen Status verbundenen Anerkennungsverlust zu kompensieren. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, ein symbolisches Kapital der Anerkennung zu erwerben, das so durch bloße Berufstätigkeit gar nicht erreichbar wäre: die Anerkennung als engagierte, dadurch als besonders moralisch und integer geltende Persönlichkeit, die bereit ist, „ohne Gegenleistung“ etwas für das Gemeinwohl zu tun. Diese Form der Anerkanntheit verknüpft sich bei vielen Akteuren mit dem Stolz auf das jeweilige Projekt, an dem man beteiligt ist: „Das ist unser Ding“. Mit dem Anerkennungsmotiv hängt ein Sachverhalt zusammen, der bei vielen Interviews deutlich wurde: Die persönliche Ansprache ist nach wie vor das zentrale Medium, um Menschen für eine freiwillige Tätigkeit zu gewinnen. Wer sich auf eine Annonce oder einen allgemeinen Aufruf hin meldet, der vermittelt eher den Eindruck, ohnehin nichts Besseres zu tun zu haben. Wer aber persönlich angesprochen wird, dem wird dadurch gezeigt, dass es konkret auf sie oder ihn ankommt, dass genau diese Person gebraucht wird. Dies vermittelt Anerkennung und ein hohes Selbstwertgefühl, das die Bereitschaft zum Engagement deutlich steigert. Anerkennung kann sich auch in Form von Dankesgesten von Seiten der Organisation äußern. In diesem Zusammenhang wurde mehrfach die „DankeschönKultur der Caritas“ betont, mit der diese Organisation ihre Freiwilligen dauerhaft motiviert – durch Einladungen und andere Formen der symbolischen Gabe. Die Einladungen zu Ausflügen und Weihnachtsfeiern gehen dabei an Ehrenamtliche und Hauptamtliche gleichermaßen. Die Ehrenamtlichen fühlen sich somit zugehörig zur Institution, die auch den Kontext für Gemeinschaftserfahrungen bietet. Fünftens: Spaß: Auch ältere Akteure betonten häufig, dass ihnen die Tätigkeit Spaß bereite, und zwar unabhängig davon, ob sie an leitender oder an untergeordneter Stelle aktiv sind. Interpretatorisch offen bleiben muss dabei, ob diese Aussage nicht auch bedingt ist durch so etwas wie einen Spaßimperativ der Gegenwartsgesellschaft, wo derjenige als defizitär oder „dumm“ gilt, der im Leben zu wenig Spaß realisiert.
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Insgesamt gilt, dass die bürgerschaftlich Engagierten heutzutage keine Hemmungen haben, ihre eigennützigen Motive ganz offen und auch an vorderer Stelle zu benennen. Die Aussage „ich mach eigentlich nichts völlig uneigennützig“ kann hier nochmals als typisch angeführt werden. Man führt auch ganz profane Vorteile, die durch die freiwillige Tätigkeit entstehen, direkt an: Werkzeuge oder Transporter, die man sich mal eben ausleihen kann; Säle, die man für eigene Partys bekommt; persönliche Kontakte, die man beim Umzug als Hilfenetzwerk aktivieren kann; und, bei den jungen Aktiven ganz zentral, der Nutzen für eine spätere berufliche Tätigkeit etwa als Lehrerin oder als Sozialpädagoge. Dieser Nutzen bleibt im Diskurs der Aktiven auch keineswegs abstrakt. Die Akteure wissen ihn zu fassen als Fähigkeiten und Qualifikationen; als Aufbau von Kontakten, die später den Berufseinstieg erleichtern (etwa ein Wissen darüber, wann wo welche Stelle frei wird) oder für eine selbständige Tätigkeit genutzt werden können; als eine Art Kredit, den man bei einer Organisation aufbaut (wer bei der Caritas lange freiwillig arbeitet, erhöht die Chance, später dort angestellt zu werden oder auch einen attraktiven Pflegeheimplatz zu bekommen); und schließlich auch als konkretes Zeugnis über eine Tätigkeit, das man für den Beginn eines Studiums an einer konfessionellen Fachhochschule braucht. Es wurde von mehreren Akteuren auch berichtet, dass einige Organisationen im Dritten Sektor (genannt wurden AWO und DRK) Jugendliche für ehrenamtliche Arbeit gezielt mit dem Anreiz rekrutieren, bei einem späteren Berufseinstieg behilflich zu sein. Wichtig ist, dass die aktiven Bürger zunehmend ihr Engagement auch an bestimmte Ansprüche knüpfen. Dies äußert sich zum einen darin, dass die Tätigkeit in gewissem Maße selbstbestimmt oder zumindest abwechslungsreich sein soll. Zum anderen wird erwartet, dass die freiwillige Arbeit mit den sonstigen Lebensumständen und Alltagsgewohnheiten kompatibel ist, also beispielsweise keine zeitlichen Strukturen setzt, die in anderen Bereichen des eigenen Lebens zu große Einschränkungen hervorrufen würden. Dieses gestiegene Anspruchsniveau gilt nicht nur für die jüngere Generation. Auch die älteren Akteure machen von der Qualität der Arbeit und von der biografisch-alltagsweltlichen Passung ihr Engagement abhängig. Dies wiederum zwingt – wie gezeigt wurde – auch die traditionellen Organisationen des Dritten Sektors, flexibler zu werden. Auch in den traditionellen Organisationen darf man heute nicht mehr zunächst einen Bedarf definieren, um danach die passenden Ehrenamtlichen zu suchen. Stattdessen muss man zunächst klären, welches Potential an Ehrenamtlichen mit welchen Fähigkeiten, Interessen und Wünschen vorhanden ist, um darauf hin konkrete Projekte zu konstruieren. Die Passung zwischen Individuen und Organisationen muss sich also in immer stärkerem Maße zunächst nach den Individuen richten, um einen Gewinn für die Organisa-
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tionen zu ermöglichen. Entsprechend wird heute in den Organisationen vor Ort auch anstelle weniger Großprojekte lieber eine Vielzahl kleinerer Projekte gestaltet, um möglichst vielen Aktiven eine leitende oder zumindest eine mitgestaltende Rolle zu eröffnen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Kombination von Gemeinsinn und Eigennutz, altruistischen und egoistischen Motiven, von Verpflichtung und Verführung die typische Gemengelage in der Bürgergesellschaft vor Ort darstellt. Karrieremuster Berufliche und freiwillige Tätigkeiten laufen teils parallel, aber sie wechseln immer häufiger auch einander ab – nicht zuletzt deshalb, weil Phasen der Arbeitslosigkeit auch in einer „Normalbiografie“ immer üblicher werden. Diskontinuitäten und Sektorenwechsel werden auch in den beobachtbaren sieben Karrieremustern deutlich, die sich jeweils in Bezug auf die Berufsarbeit benennen lassen als: Einstieg in die Berufsarbeit, Wechsel der Berufsarbeit, Ersatz für Berufsarbeit, Nachfolge der Berufsarbeit, Kompetenzsteigerung in der Berufsarbeit und Alternative zur Berufsarbeit. Bei all dem zeichnet sich ab, dass die Grenzen zwischen den Sektoren und damit auch die Grenzen unterschiedlicher biografischer Phasen immer durchlässiger werden. Ulrich Beck hatte im Zusammenhang mit seinem vorgeschlagenen Konzept von „Bürgerarbeit“ darauf hingewiesen, dass die Erleichterung der Übergänge zwischen freiwilliger Arbeit und Erwerbsarbeit ein zentrales arbeitsmarktpolitisches Desiderat darstelle (Beck 1999: 149; vgl. oben Kap. 2.7). Unsere Befunde zeigen zumindest, dass die neuen Formen bürgergesellschaftlichen Engagements tatsächlich schon niederschwelliger im Hinblick auf Ein- und Ausstiege geworden sind. Posttraditionale Vergemeinschaftung Zunächst wurden insbesondere bei den älteren Aktiven und im Kontext des christlich geprägten Milieus der Caritas noch immer wirksame Formen der traditionalen Vergemeinschaftung sichtbar. Diese traditionalen Formen der Vergemeinschaftung sind jedoch auch in unserer untersuchten Stadt auf dem Rückzug. Zum einen lässt sich bei Jüngeren ein posttraditionaler Umgang mit traditionalen Gemeinschaften beobachten. Kirchengemeinde und Caritas werden hier genutzt wie ein gewählter Bezugskontext. Zum anderen fungiert der bürgergesellschaftliche Zusammenhang bei einigen Akteuren auch als ein Ersatz für ein integriertes Dorfleben. Hier wird man als Person unhinterfragt akzeptiert, spürt gegenseitige Fürsorge und feiert gelegentlich auch miteinander. Dennoch kann man sich in dieser gewählten Gemeinschaft „den Rückzug immer offen halten“, damit es
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nicht zu belastenden Bindungen und Verpflichtungen kommt, wie man sie aus der eigenen Familie oder dem dörflichen Zusammenhang kennt. Der gemeinschaftliche Charakter eines gewählten zivilgesellschaftlichen Kontextes war besonders gut in der Bürgerstiftung beobachtbar. Hier bildeten die Freiwilligen vor allem in deutlicher Abgrenzung gegen die Hauptamtlichen Teilgemeinschaften mit „Schrebergartenmentalität“, wie es eine Mitarbeiterin ausdrückte. Die Gemeinschaftlichkeit der Freiwilligen wurde von Seiten der Organisation mit gezielt gesetzten und gepflegten Ritualen auf Dauer gestellt, etwa durch tägliche Kaffeetrinken und gemeinsame Mittagessen. Posttraditionale Gemeinschaftlichkeit kann also im Sinne der Organisationsziele bewusst konstruiert werden, um die Freiwilligen zu ihrem Engagement zu „verführen“ (Hitzler 1999). Die verschiedenen Organisationsformen im Dritten Sektor von der Caritas bis zur Freiwilligenagentur haben das gemeinschaftsstiftende Potential ritueller Geselligkeiten erkannt und versuchen, in verschiedenen Formen und mehr oder weniger systematisch diesem Punkt Rechnung zu tragen. Voraussetzungshaftigkeit Die Stadtstudie bestätigt zunächst das Bild, das in der neueren Forschung von der Diskrepanz zwischen „alter“ und „neuer“ Bürgergesellschaft gezeichnet wird. In der Caritas als typischer Organisation traditionellen Zuschnitts sind neben den Mittelschichten auch Akteure vorzufinden, die ein geringes Volumen an ökonomischem und kulturellem Kapital aufweisen. Hier finden sich auch Aktive, die lediglich einen Hauptschulabschluss oder gar keinen Schulabschluss vorweisen können und ihren Lebensunterhalt als ungelernte Arbeiter bestreiten oder bestritten haben. In den Organisationen der „neuen“ Bürgergesellschaft dagegen bringen die Akteure meist ein höheres Bildungskapital mit. In der Freiwilligenagentur sind auch Gymnasiasten und Studierende, Akademiker und Manager sowie pensionierte Lehrer tätig. Die neuen, ungewohnten Formen der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation laden offenbar vor allem Akteure mit erheblichem Bildungskapital zum Mitmachen ein. In der neugegründeten Kohlener Bürgerstiftung ist von den Aktiven jedoch nicht nur Bildungskapital gefragt, sondern auch ökonomisches Kapital, das man als Stifter aufbringen muss, um mitmachen zu können. Bei denjenigen, die das Geld nicht haben, ist dann auch die Bereitschaft, als Freiwillige mitzumachen, sehr gering. Es kommt noch erschwerend hinzu, dass eine gewisse Exklusivität der Stifter schon bei der Gründung geplant und umgesetzt wurde. Um eine hohe Schlagkräftigkeit der Organisation zu erreichen, hatte man über einen hauptamtlichen Gründungsbeauftragten das Potential in der Stadt systematisch erfasst und einen Kreis von engagierten, gebildeten, einflussreichen und prominenten Perso-
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nen gezielt für eine Mitarbeit angesprochen. In den Leitungsgremien dieser Organisation findet sich daher auch gleichsam ein Querschnitt durch die lokalen Eliten der Stadt wieder. Der operative Erfolg wurde jedoch durch Schwierigkeiten bei der sozialen Expansion der Stiftung begleitet. Die Exklusivität der Stifter wirkte auf diejenigen, die in der ersten Runde außen vor blieben, fremd und abschreckend. Es mangelt der Bürgerstiftung an „bridging capital“ in andere soziale Kreise hinein. Die wohlhabenden, gut gebildeten und mit guten Beziehungen ausgestatteten Bürger bleiben hier weitgehend unter sich. Die Probleme, die sich mit einem solcherart eingeleiteten sozialen Schließungsprozess der Bürgergesellschaft verbinden, werden im Kontrast mit einer anderen, im Erhebungszeitraum in Kohlen gegründeten Stiftung sichtbar. Der Caritas-Geschäftsführer initiierte eine Stiftung, die organisatorisch von der Caritas unabhängig ist, jedoch von der Nähe zur Verbandsorganisation erheblich profitiert hat. Die Stiftung richtet sich gezielt auch an die weniger Wohlhabenden in der Stadt, was zu einer völlig anderen Zusammensetzung geführt hat. Die für die meisten Formen der „neuen Bürgergesellschaft“ geltenden Partizipationsasymmetrien konnten vermieden werden. Durch einen geringeren Stifterbeitrag, die Möglichkeit einer kollektiven Stifterschaft und durch die gezielte Ansprache einer in Reichweite der Caritas liegenden, sozial gemischten Klientel ist hier ein ganz anderer Querschnitt der Bevölkerung vertreten als in der Bürgerstiftung. Selbst finanzschwache Bewohner eines Hochhauskomplexes haben sich beteiligt. Dieser Hochhauskomplex ist noch unter einem anderen Aspekt interessant. Ein Hausmeisterehepaar hat hier, mit der Hilfe von Akteuren und Organisationen im Bereich Kommune und Dritter Sektor, erfolgreich einen Verein organisiert, der den sozialen Brennpunkt innerhalb weniger Jahre zu einem Vorzeigeprojekt Kohlens hat mutieren lassen. Hier haben Akteure mit vergleichsweise wenig Bildungskapital durch „facilitators“ (Barber 1984) den öffentlichen Raum nachhaltig mit gestaltet. Dies zeigt auch, dass sozialstrukturell bedingte Exklusionsmuster in der Bürgergesellschaft durchaus mit gezielten Strategien bearbeitet werden können. Service Learning Eine interessante Perspektive, um die Entfaltung von kulturellem Kapital als Motivationsfaktor und als Ertrag von bürgerschaftlichem Engagement zu unterstützen, bieten Projekte des Service Learning. Die Verengung der Bildungsdiskussion auf den Bereich der institutionalisierten Bildung in Schulen und Hochschulen verdeckt den Blick auf wichtige Bildungsressourcen in anderen gesellschaftlichen Bereichen. So sind Bildungsprozesse und Bürgergesellschaft auf das
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engste verknüpft. Bildungskapital ist zum einen eine zentrale Ressource der Bürgergesellschaft, die als Zugangsvoraussetzung deutliche Exklusionswirkungen zeitigt. Schlechter gebildete Akteure aus unteren sozialen Schichten sind nicht zuletzt aufgrund von fehlendem Bildungskapital häufig von bürgerschaftlichem Engagement ausgeschlossen, und dies gilt in der „neuen“, dezentralpluralisierten Bürgergesellschaft unserer Tage noch sehr viel stärker als in der klassischen deutschen Verbändelandschaft. Zum anderen stellt Bildung jedoch auch eine wichtige Gratifikation für freiwilliges Engagement dar, die für die berufliche Karriereentwicklung, aber auch für die Zwecke von Selbstverwirklichung und Anerkennungserwerb verwendet werden kann. Wer Bürgergesellschaft fördern will, der muss möglichst viele Bildungsoptionen im freiwilligen Engagement bieten. Eine institutionelle Brücke zwischen Bürgergesellschaft und Bildung stellt dabei das in den USA mittlerweile breit etablierte Service Learning dar. Hier werden im Rahmen institutioneller Curricula Möglichkeiten erfahrungsorientierter Lernprozesse geschaffen, die dem einzelnen wie der Gemeinschaft zugute kommen und daher Gemeinnutz und Eigennutz effektiv kombinieren. Dieses Service Learning kann bei sorgfältiger Verankerung an allen oder zumindest an möglichst vielen Schulformen sogar der beschriebenen Reproduktionstendenz der sozialen Ungleichheit im Spannungsfeld zwischen Bildungssystem und Bürgergesellschaft entgegensteuern. In der vorliegenden Studie wurde dieser Zusammenhang anhand der Aktivitäten der Kohlener Bürgerstiftung sichtbar. Hier werden Schulen und freiwilliges Engagement systematisch so verknüpft, um daraus erfahrungsorientierte Lernprozesse jenseits des Klassenzimmers zu ermöglichen. Die Schüler werden gleichzeitig an Formen der freiwilligen Engagements herangeführt. Service Learning ist in den USA und anderen Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden schon seit geraumer Zeit ein umfangreiches bildungspolitisches Projekt, das erhebliche Erfolge vorzuweisen hat. In Deutschland befindet man sich erst noch in den Anfängen. Die Kohlener Beispiele zeigen jedoch, dass es sich lohnen kann, hier weiterzuarbeiten. Kooperationskultur als Ermöglichungskultur Eine entscheidende Ressource bei dieser Entwicklung war ohne Zweifel die interindividuelle und interorganisatorische Kooperationskultur, die ein spezifisches Kennzeichen der untersuchten Kommune ist. Die persönliche Bekanntschaft erweist sich insgesamt als ganz entscheidende Ressource für die Funktionsfähigkeit von Bürgergesellschaft, weil damit ein kooperationsförderndes Vertrauenskapital zur Verfügung gestellt wird. Langfristige und flexibel reagierende Kooperation ist in hohem Maße abhängig von Vertrauen. Vertrauen wirkt
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sich nicht nur auf den personalen Umgang miteinander und auf die entsprechende Kooperationsbereitschaft aus, sondern ermöglicht über die personale Dimension die Kooperation von Institutionen. So bildeten sich in Kohlen zwei wichtige diskursive Knotenpunkte heraus, wo aktive Akteure jenseits ihrer institutionell definierten Rolle zu lockeren und inoffiziellen Gesprächen zusammenkommen. Diese Gesprächskreise wiederum sind Initiatoren zahlreicher Aktivitäten, etwa gezielter Projekte im Bereich der Stadtentwicklung eines Kohlener Problemstadtteils. Auch zwischen diesen Gesprächskreisen – und damit zwischen den unterschiedlichen politisch-sozialen Milieus – gibt es Brückenfiguren, die sonst segmentierte Diskurse zumindest partiell wieder zusammenführen. Ein personengebundenes bridging capital (Putnam 2000: 22; vgl. auch Kap. 2.5.3) wird schließlich durch zwei weitere Faktoren gebildet: durch bürgergesellschaftliche „Multiplayer“, die in ganz unterschiedlichen Kontexten tätig sind, sowie durch Ehen und Partnerschaften. Die Zugehörigkeit der Ehepartner zu teils gleichen, teils unterschiedlichen Kontexten stiftet Verbindungslinien zwischen Organisationen, die ansonsten eher wenig miteinander zu tun haben. Die Kooperationskultur in Kohlen erscheint aufgrund der vielfältigen Vernetzungen als eine ausgesprochene Ermöglichungskultur. Der Vorstand der Bürgerstiftung hat aufgrund seiner guten Verbindungen Zugriff auf das institutionelle Kapital von Stadtverwaltung, Partei, Gewerkschaft und Großunternehmen. Stadt und örtliche Wohlfahrtsverbände sprechen die Besetzung von einflussreichen Stellen im Vorfeld ab. Und die Verbände kooperieren untereinander in einer Weise, die ungewöhnlich ist. Das zeigt sich in Projekten wie dem „Haus der Kulturen“ oder dem „Familienbüro“, wo die Kooperation ansonsten konkurrierender Organisationen zu einem hohen Grad nicht nur an funktionaler Handlungskoordination, sondern auch an organisatorischer Integration vorangeschritten ist. Diesem Bild einer konsensorientierten Kooperationskultur entspricht übrigens auch die beobachtbare kommunalpolitische Praxis, in der fast 95 Prozent aller Ratsbeschlüsse einstimmig gefasst werden. Kohlen erweist sich als ein typischer Fall jener politischen Kultur des Konsenses, wie sie sich im Ruhrgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg recht stabil etablieren konnte. Nahezu alle Organisationen der „alten“ wie der „neuen“ Bürgergesellschaft profitieren von den engmaschigen Kooperationsbeziehungen zwischen Stadtverwaltung, Politik, Drittem Sektor und Wirtschaft. Als kontraproduktiv erwies sich die Kooperationskultur jedoch im Fall der Konstruktion der Freiwilligenagentur. Dieses Projekt einer Organisation, die als typisch für neue Formen von Zivilgesellschaft gelten kann, wurde von der kommunalen Politik initiiert und mit städtischen Geldern versorgt. Dies war jedoch nur machbar durch eine insti-
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tutionelle Konstruktion, die eine vielfältige Beteiligung von Stadt, Politik, Verbänden und Kirchen installierte. Dieses administrative Konstrukt erwies sich langfristig als nicht handlungsfähig. Perspektiven Die Ergebnisse des Projekts zeigen deutlich, dass der „Strukturwandel des Ehrenamts“ (Beher /Liebig / Rauschenbach 2000) das alltägliche Geschehen in der heutigen Bürgergesellschaft vor Ort schon weitgehend prägt. Dieser Strukturwandel ist zweifach greifbar: 1. 2.
Es etablieren sich neue Organisationsformen wie Bürgerstiftungen und Freiwilligenagenturen. Die klassische deutsche Verbändewohlfahrt (Backhaus-Maul 2000) passt sich an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse an, indem sie zumindest teilweise ihre Organisations- und Partizipationsformen reformiert.
Beide Prozesse reagieren auf gewandelte Erwartungen und Bedürfnisse der potentiellen Freiwilligen, die nicht mehr wie früher treu dienende ‘Wohlfahrtssoldaten’ sind, die dort arbeiten, wo man sie hinstellt. Sie wollen zeitlich flexibler, selbstbestimmter und für sich selbst nutzbringender agieren, etwa im Sinne eines zu erwartenden Qualifikationsgewinns oder zumindest im Sinne einer symbolischen Gratifikation in Form von öffentlicher Anerkennung. So konstruiert mittlerweile auch die Caritas in Kohlen ihre Projekte nicht nach einem zuvor festgelegten Bedarf und sucht sich danach die passenden Freiwilligen, sondern sie stellt fest, wer von den rekrutierbaren Freiwilligen was kann bzw. was tun möchte und strickt dann gezielt kleinere, dezentrale Projekte um dieses festgestellte Potential herum196. Und die Verbände greifen neue Formen auf, indem sie beispielsweise Freiwilligenagenturen innerhalb der Verbandsorganisation aufbauen. Diese Strategien erscheinen als notwendige Reaktion der Bürgergesellschaft auf eine sich grundsätzlich wandelnde, individualisierte und posttraditionale Gesellschaft, in der die Akteure durchaus nicht alle gemeinsinnigen Dispositionen verloren haben, diese jedoch in aller Regel verbinden mit dem Blick auf den Nutzen, den ein freiwilliges Engagement für die je eigene Lebenssituation bringt. Die Frage danach, was für die Akteure dabei jeweils herauskommt, wird als legitim und „normal“ betrachtet. Sowohl die Strategien der zivilgesellschaftli196 Zur Diskussion um den Transformationsprozess in den traditionellen Wohlfahrtsverbänden vgl. auch Kulbach (2002) und Steinbacher (2004). Die Caritas in Kohlen verwirklicht in vieler Hinsicht das, was Michael Ebertz noch als projektive Perspektive einer gewandelten Verbändewohlfahrt skizziert: eine Funktion als Netzwerker und Plattformer für die Aktivierung und Verdichtung von diversen Formen des sozialen Kapitals in der Zivilgesellschaft (Ebertz 2001: 126ff.).
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chen Organisationen als auch sozialpolitische Maßnahmen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements müssen diese Erwartungen der Akteure in Rechnung stellen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Die potentiellen Freiwilligen wollen umworben werden, man muss ihnen zeigen, wie Sinnstiftung und Selbstverwirklichung bei den Tätigkeiten in der Bürgergesellschaft verknüpft sind. Dem professionellen Sozialmarketing kommt in dieser Hinsicht des Werbens um Freiwillige in Zukunft eine immer stärkere Bedeutung zu. Verführung und Verpflichtung, Gemeinsinn und Eigennutz sind in dieser Kombination die notwendigen Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit von Bürgergesellschaft in der fortschreitend modernisierten (deutschen) Gegenwartsgesellschaft197. Posttraditionalen Vergemeinschaftungsmustern kommt dabei ein erheblicher Stellenwert zu, nicht nur in „modernen“ Milieus, sondern auch im traditionalen, kirchennahen Bereich. Die Akteure suchen gerne Kontexte auf, in denen sie Gemeinschaftserfahrungen machen können, ohne doch den Verpflichtungsund Zwangscharakter traditional „gegebener“ Gemeinschaften länger in Kauf nehmen zu wollen198. Die Bürgergesellschaft kann sich ein großes Potential an Freiwilligen erschließen, wenn sie diesen posttraditionalen Vergemeinschaftungsbedarf gezielt bedient und entsprechende Kontexte um die freiwillige Tätigkeit herum konstruiert. Das rituelle Kaffeetrinken, der tägliche Treff, zu dem man kommen kann, aber nicht muss, sowie der große „Dankeschönabend“ zu regelmäßigen Gelegenheiten bieten solche Möglichkeiten. Wird dies noch verbunden mit einer „Kultur der Anerkennung“, in der die Engagierten öffentliche Wertschätzung erfahren, lässt sich auch längerfristige Bindung an die zivilgesellschaftlichen Organisationen herstellen. Der „Bürgerpreis“ der Stadt Kohlen ist ein Beispiel für eine Institution der öffentlichen Ehrung von Engagierten. Im Bereich der Verlaufssequenzen, der biografischen Karrieremuster zwischen beruflicher und freiwilliger Arbeit, wurde eine starke Verflechtung erkennbar. Die Grenzen zwischen Bürgergesellschaft (freiwilligem Engagement) und Markt (Berufsarbeit) werden zunehmend durchlässiger, und die Akteure montieren im Rahmen ihrer „bastelexistentiellen“ Konstruktionsarbeit (Hitzler/Honer 1994, Hitzler 1999) Stücke aus beiden Bereichen kreativ zusammen. So verwirklichen sie ihre Vorstellungen von einer gelungenen Existenz mit Sinn, Genuss- und Erfolgsbestandteilen. Diese Befunde könnten sozialpolitisch insofern Berücksichtigung finden, als man die Ein- und Austrittsschwellen zwischen
197 Dies bestätigt nun für Deutschland Perspektiven, die Wuthnow (1991) für die USA und Nadai (1996) für die Schweiz bereits herausgearbeitet hatten. 198 Diese Beobachtung entspricht der zunehmenden Vermarktlichung des religiösen Feldes, vgl. Knoblauch (2000).
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diesen Bereichen bewusst niedrig halten würde, um die Übergänge leichter zu gestalten. Die Partizipationsasymmetrie in der Bürgergesellschaft199 kann, so hat insbesondere der Fall des aktiven Hausmeisterehepaars im sozialen Brennpunkt, aber auch die neugegründete caritasnahe Stiftung gezeigt, durch gezielte Förderung durchaus zumindest partiell behoben werden. Solche Förderkontexte sowohl großer Organisationen des Dritten Sektors als auch der organisierten Politik und des Staates in Form der Kommunen können das Engagement von Bevölkerungsgruppen mit geringem Bildungskapital stärken. Damit würde wiederum auch ein erheblicher Beitrag zur sozialen Integration solcher Teile der Gesellschaft geleistet200. Das, was bei Benjamin Barber noch als Vision einer normativen Demokratietheorie entwickelt wurde, ist teilweise im Bereich der Organisationsentwicklung in den USA schon üblich geworden. Unter dem Stichwort der „Facilitation“ („Ermöglichung“) hat sich ein ganzer Berufszweig mit eigenen Ausbildungsgängen herausgebildet, der beteiligungsorientierte Prozesse der Entwicklung und Veränderung von Organisationen fördert. Diese Förderung wird mittlerweile als Dienstleistung sowohl Kommunen als auch Wirtschaftsunternehmen angeboten. Es handelt sich um Moderationstätigkeiten, die besonderes Augenmerk auf die partizipative Einbindung möglichst vieler Akteure richtet, um das Potential dieser Akteure für den Entwicklungsprozess zu erschließen201. Genau dies erscheint nach den Beobachtungen, die in der vorliegenden Studie gemacht wurden, auch für die Bürgergesellschaft als wichtiges Desiderat formulierbar, um die vorhandenen Partizipationsasymmetrien zu beheben. Was schließlich in der explorativen Fallstudie deutlich wurde, ist die Bedeutung einer funktionierenden Kooperations- und Konsenskultur. Das, was in den Augen des klassischen Liberalismus unter dem Etikett des „Korporatismus und Kartellismus“ als großer Hemmschuh zivilgesellschaftlicher Freiheit verhandelt wird202, das erweist sich konkret vor Ort als notwendige Ermöglichungs199
Brömme/Strasser (2001), Offe/Fuchs (2001). Die neuere Diskussion um den „aktivierenden Staat“ (vgl. Evers 2000, Stecker 2002 und Damkowski/Rösener 2003) sollte daher vor allem in Hinblick auf Möglichkeiten zum Ausgleich von Partizipationsasymmetrien vorangetrieben werden. 201 Siehe dazu beispielsweise die Website der „Kommunikationslotsen“ in Deutschland, die Facilitation und entsprechende Trainingsprogramme anbieten (www.kommunikationslotsen.de). Zum Prinzip der Facilitation im Bereich der Jugendarbeit vgl. Bertelsmann-Stiftung (2004). In eine ähnliche Richtung zielen die sog. „Planungszellen“, die Peter C. Dienel im Bereich der Kommunalpolitik schon seit den 1970er Jahren propagierte (vgl. Dienel 1978 und 2005). Siehe dazu auch Lietzmann (2004). 202 Siehe dazu vor allem die Arbeiten von Lord Dahrendorf (1992: 67ff., 1993 und 1999) und, mit konkreten Analysen zum Dritten Sektor in Deutschland, Bauer (1997). Die Diskussion ist internatio200
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ressource. Es stellt ein institutionelles Kapital dar, ohne das weitaus weniger bewegt werden könnte. Hat die sozialpolitische Diskussion die deutschen, traditionell korporatistisch und konsensdemokratisch geprägten Strukturen häufig als Reformbremse für notwendige Transformationen angesehen (vgl. etwa Heinze 1998), so wären diese Diagnosen vor dem Hintergrund unserer Befunde zumindest zu relativieren. Die engen interindividuellen und interinstitutionellen Kontakte, das „Geflecht“ mit dem dort herausgebildeten Vertrauenskapital ermöglicht gerade auch den Organisationen der „neuen“ Bürgergesellschaft langfristig erfolgreiches Agieren203. Dabei sind, wie gezeigt wurde, durchaus Effekte sozialer Exklusion beobachtbar, und die Handlungsfreiheit der jeweils kooperierenden Akteure und Institutionen ist mitunter eingeschränkt. Solche Effekte sind jedoch angesichts der erheblichen sozialen und politischen Erträge des Engagements möglicherweise akzeptabel. Insgesamt machen diese Befunde darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang von politischer Kultur – insbesondere auch in ihrer historischen Dimension – und Zivilgesellschaft in viel stärkerem Maße berücksichtigt werden muss, als dies bislang geschehen ist204. Diese Prozesse der Herausbildung von Kooperation und sozialem Kapital können weitergehend systematisch gefördert werden. Die in Kohlen aufgefundenen Gesprächskreise und Foren sind der Eigeninitiative der Akteure vor Ort entsprungen. Solche Vernetzungen können aber auch von außen, etwa von der Kommune, vom Land oder von Stiftungen systematisch gefördert werden. Derartige Projekte werden in den USA und seit kürzerer Zeit auch in Deutschland unter dem Etikett des „community organizing“ verhandelt205. Man schafft Bürgerplattformen und Kooperationsnetzwerke zwischen Akteuren, Gruppen und Organisationen, um nachhaltig beispielsweise die Entwicklung in Stadtteilen positiv zu beeinflussen. Solche Formen der Förderung von Bürgergesellschaft
nal eingebettet in die Auseinandersetzung zwischen einem staatsnahen Kommunitarismus und einem staatsfernen Liberalismus; vgl. Blasche/Döring (1998). 203 Insofern ist Bürgergesellschaft tatsächlich in viel stärkerem Maße, als es die neuere Diskussion glauben machen will, auf Formen der „kooperativen Demokratie“ sowohl zwischen Staat und Drittem Sektor als auch zwischen Drittem Sektor und Wirtschaft angewiesen (vgl. Bogumil 2002 und Priller/Zimmer 2003). 204 Die Arbeit von Putnam (1993) hat in dieser Hinsicht im Bereich der empirischen Forschung zur Bürgergesellschaft so gut wie keine Berücksichtigung gefunden, was freilich daran liegen kann, dass Putnam hier sehr große historische Entwicklungsbögen spannt, die im Detail häufig nicht haltbar sind. Was gebraucht wird, sind seriöse Studien zur historischen Genese von zivilgesellschaftlicher politischer Kultur; siehe dazu auch die Bemerkungen von Kocka (2003). 205 Siehe dazu Gittell/Vidal (1998) und Orr (2007) für die amerikanischen Verhältnisse sowie jetzt Penta (2007) für mögliche Anwendungen in Deutschland.
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erscheinen vor dem Hintergrund der in Kohlen erhobenen Befunde höchst sinnvoll. Die aus der explorativen Fallstudie ableitbaren Perspektiven bedürfen selbstverständlich einer weiteren Absicherung insbesondere durch vergleichende Studien. Hier wäre zum einen die Größe der Kommunen zu variieren, es sollten also etwa Großstädte oder dörfliche Kontexte einbezogen werden. Zum anderen wäre der Vergleich durch die Variation des politisch-kulturellen Hintergrundes zu gestalten. So könnten beispielsweise Kommunen aus Regionen untersucht werden, die eher liberale als korporatistisch-etatistische Traditionshintergründe aufweisen, beispielsweise in Baden-Württemberg oder in Norddeutschland. In dieser Richtung erscheint vertiefende Anschlussforschung notwendig und sinnvoll.
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