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Das listige Handbuch des Großen nutzlosen Wissens
Hanswilhelm Haefs
Das listige Handbuch
des Großen nutzlosen...
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Das listige Handbuch des Großen nutzlosen Wissens
Hanswilhelm Haefs
Das listige Handbuch
des Großen nutzlosen Wissens
zunebst der Geschichte vom Vampir Graf
Dracula
Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Das listige Handbuch des Großen nutzlosen Wissens
Für Herrn Kim – auch so kann man die Welt betrachten
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Statt eines Vorworts
Statt eines Vorworts
Bereits um 1750 war einem ebenso weisen wie prag matischen Engländer deutlich geworden, was von einem Kompilator wie dem dieses Handbuchs zu hal ten sei, der sich einbilde, durchs Herumschleppen von Büchern werde man klug. Und also radierte er sein Konterfei als »Der Bücheresel«. Ganz anders dachte die rhodopygische römische schöne Philosophin, die mich einst in Arezzo im Mu seum vor etruskischen Menschenköpfen aus Bergkri stall und im herrlichsten Campo Santo in Pisa davon zu überzeugen trachtete, daß Faktenwissen nutzlos sei, weil aristokratische Menschen Welt wie Wahrheit aus sich selber schöpften. Nun erwies es sich als unmöglich, dem Spruch vom goldenen Mittelweg zu folgen, weil ich ihn zu finden nicht imstande war. Nach diesem tiefgründigen Ausflug in die Geheim nisse der Kaleidoskopistik bleibt aber immer noch das schwierigere Problem zu lösen, wie denn die ein zelnen Nachrichten aus dem Zettelkasten sinnvoll zu ordnen wären. Dabei ist des klugen Wortes von Chri stine de Pizan zu gedenken: »Auch wenn der Baumeister oder Maurer selbst weder die Steine noch die Materialien herstellt, aus Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Statt eines Vorworts
denen er das Schloß oder Haus erbaut ..., so hat er doch die Materialien zusammengetragen, ihnen ihren je eigenen Platz zugewiesen, gemäß der Absicht, die er zu verwirklichen sucht. Genau so bin ich mit den Stoffen verfahren, aus denen sich meine Abhandlung zusammensetzt; mir genügt es völlig, wenn ich sie so zu verwenden weiß, daß sie der Idee, die ich entwik keln will, dienen und diese verstärken.« Natürlich liegt in dieser unserer Republik nichts näher, als sich derselben Ordnungsprinzipien zu be dienen, denen einst auch die Ahnherren aller Groß handbücher des Abendlandes gefolgt sind, die Mär chenbrüder Jakob und Wilhelm Grimm.
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1. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
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I. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
Das höchst undeutlich zu erkennende Bindestück zwi schen der mutmaßlicher Außenwelt und der ebenso mutmaßlichen Innenwelt, der Mensch, ist so von der Natur zum Streben nach Wissen gezwungen. Stachelrochen entwickelten vor rund 100 Millionen Jahren auf ihrem peitschenförmigen Schwanz gegen die Haie einen bis zu 40 cm langen Giftstachel, den sie bei Gefahr dem Gegner in den Leib schlagen. Im Bergland von Tasmanien haben Botaniker einen kleinen Wald als vermutlich ältesten Organismus, der heute auf Erden lebt, enträtselt: es handelt sich um eine Huon-Kiefer von mindestens 10500 Jahren, die aber auch schon 30000 Jahre alt sein kann. Als 792 Dämonen das Getreide fraßen, brüllte das Getreide aus den leeren Spelzen. In Paris ernähren sich 2 Millionen Ratten von den Abfällen der 2 Millionen Menschen. Algen bauen durch Photosynthese Kohlendioxyd ein und scheiden gleichzeitig Sauerstoff aus. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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1. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
Die Wollemi-Kiefer soll vor 50 Millionen Jahren aus gestorben sein – jetzt entdeckten botanische Forscher eine Araucarie dieser urtümlichen Koniferenart nord östlich von Sidney. Die jüngste Fossilie eines Baumes aus der Familie der Silberbaumgewächse Proteaceae, eines Bedecktsa mers, in Gestalt einer Nuß ist 60 Millionen Jahre alt, nachdem die Art vor 110 Millionen Jahren erstmals aufgetaucht ist. Jetzt wurde im Nordosten von Queensland ein lebendes Exemplar diese Baumart aufgefunden. Die Hasenmaulfledermaus in Costa Rica versteht sich als einzige Fledermaus aufs Fischen, sobald der Fisch den Wasserspiegel durchbrochen hat. Anglerfische sind skurrile Gesellen des Meeres. Man che locken ihre Beutetiere mit leuchtend bunten Fort sätzen über dem Maul an. Die Weibchen erreichen oftmals gewaltige Größen, während die Männchen zu unscheinbaren Zwergen verkümmern. Rund 80% der Weibchen verbringen ihr ganzes Leben (bis zu 30 Jahren) ohne männlichen Partner. Kommt es aber zu einer Begegnung, wird sie innig und dauerhaft: das Männchen klinkt sich als Sexualparasit in den Blut Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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1. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
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kreislauf des Weibchens ein und verschmilzt mit dem fremden Organismus. Warum aber kommt es da nicht zu einer Abstoßung des fremden Gewebes? Die Hohe Tatra ist ein merkwürdiges Gebirge. Matthias Wetter vom Aloysius-Kolleg in Bad Godes berg schuf dieses schöne Dornröschenschloß, das man als geistvolle Darstellung der Probleme betrachten könnte, mit denen sich Etymologen herumzuschlagen haben.
Kamele haben für das Leben in der heißen Wüste die
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1. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
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Technik entwickelt, ihre Körper in den kalten Wü stennächten auskühlen zu lassen, die dafür tagsüber von der Sonne wieder aufgeheizt werden. Ihr Gehirn hingegen ist für solche Temperaturschwankungen zu empfindlich: es wird durch eine wirkungsvolle Klima anlage in den geräumigen Nasenhöhlen mit gut durch bluteten, immer feuchten Schleimhäuten geschützt. Vom Wellensittich heißt es, er habe ursprünglich die Ebenen im Inneren Australiens bewohnt, in großen Scharen lebend, morgens und abends ausfliegend, um sich zu nähren vom Samen der Gräser, die Hitze des Tages im Schatten der Gummibäume verzwitschernd. Das ist falsch. In Wahrheit fand der britische Forscher Gould ebendiese Vögel in Australien schon im Käfig lebend vor. Ja, er beobachtete mitten in der Wildnis Hunderte von Wellensittichen, in kleinen Volieren an Gummibäumen hängend, stets zu zweit. Im Chor be grüßten sie den Reisenden: »Wo warst du denn, mein liebes Mätzchen? Wo warst du?« Heute wollen wir uns vorstellen, wie es wäre, wenn die Elefanten nicht so groß wären, sondern um ein Er hebliches kleiner, sagen wir: wie Schäferhunde. Ja, sprechen nicht viele Gründe dafür, die Schäferhunde überhaupt abzuschaffen und sie durch gleich große Elefanten zu ersetzen? ... Folgendes geschah, einem Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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1. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
telegraphischen Bericht der Magdeburgischen Zei tung zufolge: Die Elefanten stürmten »den Tempel zierbau vor dem Hoftheater, wo sie einige Gebirgler innen zu Boden rissen ... Zahlreiche Beinbrüche sind vorgekommen ... Passanten hieben verzweifelt mit Regenschirmen auf die Elefanten ein und vermehrten dadurch deren Wildheit ... 15 Verwundete ... zahlrei che Schwerverletzte ... Die Aufregung in der Stadt, in der 150000 Fremde sich aufhalten, ist ungeheuer.« ... Wären aber Elefanten kniehoch – wer müßte ihre Panik fürchten? Und wie wunderschön könnte eine sommerliche Parade kleiner Elefanten auf der Leo poldstraße sein! Wie könnten wir sie genießen, von den Stühlen des »Venezia« aus! Nichtstun schmerzt am längsten. Das einzige Atoll auf Erden, das mit Süßwasser ge füllt ist: Clipperto. Eine Hummel brummt langsam vorbei, so unbeholfen, als schleppe sie sich ab mit Einkauftaschen. Bäckerhefe hilft gegen Raubwanzen. Da man im Gelege von Suppenschildkrötenweibchen oftmals Eier von 4 oder mehr Männchen findet, darf Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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1. Von den geheimsten Geheimnissen der Natur
man schließen, daß bei Suppenschildkröten Partner tausch, wo nicht gar Polyandrie üblich ist. Durch Hydroxylasen wird Vitamin D3 in der Leber in 25-Hydroxycholecalciferol und dann in der Niere in 1,25-Dihydroxycholecalciferol umgewandelt. Nach der Zunge sind die Lippen das empfindungs reichste Körperorgan. Die Auflösungsfähigkeit der Lippe im Hinblick auf taktile Reize ist 10 Mal größer als die des Unterarms. Kindermärchen in Sibirien beginnen oft so: »Es war einmal ein Tier das lebte unter der Erde. Wenn es nur einmal das Sonnenlicht, erblickte, dann mußte es ster ben.« Das Tier heißt »Erdtier«, auf jakutisch »Ma mont«. »Krill« stammt aus der norwegischen Fischersprache. Krill ist die Hauptnahrung der Buckelwale. Varroa-Milben vermehren sich in den Brutzellen der Honigbienen. Das Gelege des Breitschwanzkuckucks ist größer als Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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das des Buchfinken.
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2. Von denen Völkern und ihren Eigenarten, Eigenschaften,
II. Von denen Völkern und ihren Eigenarten,
Eigenschaften, Eigenheiten, Riten, Sitten u.ä.
»Zu einem Fehler gehört es, daß er so lange fortdauert, bis er berichtigt, widerrufen und in Ordnung gebracht ist. Darum ist nur der Feh ler ein großes Kulturproblem.« (Andrzej Szczypiorski) »Realität ist immer auch die Phantasie des Anderen«. (Christian Metz)
Eine Gesellschaft, die es zuläßt, daß sprachliche Gro biane die öffentliche Sprache in Obszönitäten verlu dern, weil sie zu feige ist, sie zu zähmen, muß zu nächst auch physische Verrohung dulden, und dann öffentliche Vergewaltigung anderer Menschen durch kleine Minderheiten im Rohheitswahn ansehen. Michelangelos Menschen sind zurückgefallen in den Zustand vor dem Sündenfall, vor den Moment, da die Schlange als erstes Geschöpf die Sprache verwendete und die Differenz von Welt und Wort erfand. Alles Unglück setzt ein, wenn der Mensch von den Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Denkweisen und Handlungsmotiven anderer nichts wissen will, untolerant ist. Jeder kann bemerken, daß in Deutschland die Stor chenpopulation ebenso abnimmt wie die Geburten zahl. Wer nichts als Schande gelten läßt, wird nie be schämt. Die meisten deutschen politischen Reden und Kom mentare sind so ernsthaft, gebildet, skrupulös und verantwortungsbewußt, daß sie besser wirken als jede Schlaftablette. In Tannu Tuwa leben noch Nachfahren der vormals nach der Schlacht von Liegnitz 1241 von den Mongo len verschleppten Schlesiendeutschen, die dort selbst als Jäger und Sammler ihre deutsche Sprache aus der Zeit Walters von der Vogelweide – und damit auch zeitbezogene Elemente ihren »deutschen« Alltagskul tur bis heute bewahrt haben. In der Politik sind Versprechen nur verbindlich für den, der daran glaubt. Der Eintopf ist das Gegenteil von Trennkost. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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2. Von denen Völkern und ihren Eigenarten, Eigenschaften,
Macao heißt Schoner Ort. Witze erzählen gilt unter verfeinerten Menschen als Prostitution der Seele. Tschechisch »teplý« = warm + rund 1 Dutzend Wör ter, die alle etwas mit »Wärme« zu tun haben. Teplice/Teplitz = Siedlung an der warmen Quelle. Protonostratisch »*t(h)ap(h)« = brennen, heiß sein. Anscheinend haben die antiken Völker von der Pyre näenhalbinsel die zweischneidige Klinge übernom men. Die deutsche Revolution von 1989 entsprach nicht den Handbüchern und Wünschen der Intellektuellen. Die negative Freiheit ist Freiheit von äußerem Zwang. Die positive Freiheit ist Freiheit zur Selbstverwirkli chung. Die positivste Freiheit ist die, nicht hungern zu müssen. Aber am volk zweiffel ich nicht. Thomas Müntzer, eyn knecht gottes wider dye gottloßen. Ir mußt dran, Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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dran, es ist zeyt. Für den Liebhaber bedeutet der Singular nicht Resi gnation, sondern Erfüllung. Für den Sammler bedeu tet der Plural Erfüllung, nicht aber Resignation. Daher hat Adorno das Museum als ästhetisches Freu denhaus entlarvt. Ich suche gespannt die literarische Offenbarung, in der ein selektiver Ohrasmus zusammen mit mephiti schen Miasmen solide Apperzeptionsverweigerung gelkabrunscht hat. Schottland ist der größte Sandlieferant von Saudiara bien.
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3. Geschichte, wie sie wirklich war
III. Geschichte, wie sie wirklich war
»Nie bist Du irgendwo nicht in einem Namen, nicht in einer Gegend mit einem Namen, nicht auf einem Berg mit einem Namen, in einem Ort mit einem Namen – stets hältst Du Dich in irgendeinem Wort auf, das sich andere – nie gesehen, längst verges sen – ausgedacht, irgendwann zum erstenmal aufgeschrieben haben. Wir befinden uns immer in Wörtern und nicht nur in Wörtern, auch in der Geschichte.« (Cees Nooteboom)
An der Wurzel der amerikanischen Angst vor den Japanern liegt das Wissen um die wohlbekannten Män gel der eigenen Wirtschaft. Der gütige Weihnachtsmann war im alten Mecklen burg-Vorpommern einst der garstige Ruklaas. Eine alte Bauernregel besagt: »Wenn Silvester hell und klar, ist am nächsten Tag Neujahr.« Auch wer zu dumm ist zu lernen, wird gerne Lehrer. Rudolf II. war ein echter Sammler. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Je linker, desto antisowjetischer. Als erstes hat der Historiker zu sagen, was und wie etwas geschehen ist; als zweites, wie und warum die Zeitgenossen ein Ereignis verstanden haben. Angesichts der Vielzahl von Strata in der Geschichte des unsichtbaren können Millionen von Historisten in der Philosophie des Museums nicht irren. Ossis × Wessis + Nordis × Südis = Deutschis. Den ungeheuren Reichtum, des Libanon stellt seit eh und je seine Bevölkerung dar, ein Gemisch von ver schiedenen Volksgruppen, die innerhalb mehrerer Re ligionsgemeinschaften überleben konnten: Aramäer, Kanaanäer, Phönizier und Marder integrierten sich in die maronitische Gemeinschaft; Griechen, Phönizier, Kanaanäer, Aramäer und Byzantiner sammelten sich innerhalb der Griechisch-Orthodoxen und Melkiti schen Kirche. Assyrochaldäer und Aramäer bildeten die Anhängerschaft der Syrisch-Orthodoxen, SyrischKatholischen, der Alten Apostolischen Kirche des Ostens (Nestorianer) und der Chaldäer. Das armeni sche Volk überlebte seit vorchristlichen Zeiten nach der Christianisierung nur in der Armenisch-Apostoli schen und Armenisch-Katholischen Kirche. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Mehrere ethnische Gruppen wurden auch von mus limischen Bevölkerungsteilen im Libanon aufgenom men: Innerhalb der Sunniten befinden sich Araber und Kurden, arabische und iranische Bevölkerungsele mente bei den Schiiten. Die Drusen setzen sich aus arabischen und iranischen Stämmen zusammen. Die meisten Bevölkerungsgruppen wanderten nach und nach in den Libanon ein. Oft waren es bedrängte Min derheiten wie die Maroniten aus Syrien im 6. und 7. Jahrhundert, die Schiiten im 8. und 9. Jahrhundert, die Drusen im 11. Jahrhundert, die Armenier seit dem 19. Jahrhundert, die Syrisch-Orthodoxen, die Assyrer und Chaldäer nach dem Ersten Weltkrieg. Diesen Reichtum aber auch nur zu erkennen, ge schweige denn in kleinsten Ansätzen nutzbar zu ma chen (für den Libanon selbst, für den Nahen Osten, für die Menschheit), waren alle bisherigen Regierun gen zu dumm.
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Maxl Russe vom Aloysius-Kolleg in Bad Godesberg beschrieb hier den Weg der Geschichtsforscher geist voll und überzeugend als den zwischen »Skylla und Charybdis« (oder, nach alter Schülerweisheit, »Zwi schen Schiller und Rechitis«). Die blutigen Auseinandersetzungen in Irland zwi schen dem irischen katholischen West-Belfast und dem englischen?, britischen?, nordirischen? protestan tischen Ost-Belfast verbergen hinter den undurchsich tigen politischen und durchsichtigen religiösen Zuord nungen die noch lebenden uralten Überreste aus asch grauer Vorzeit: den Kampf der zurückgedrängten Kel ten und den siegreich vorrückenden germanischen An geln. Ihn weiterhin auszufechten boten die politisier ten Religionen den verdeckenden Schleier vor der un verständlich gewordenen Wirklichkeit. Italienische Satiriker der Satirezeitschrift »Il Male« Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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fanden 1980 ein neues Opfer und ließen mit Datum 28. Juli 1980 in 10000 Exemplaren eine falsche Aus gabe der »Prawda« erscheinen, die dann auch in die noch bestehende UdSSR geschmuggelt wurden. Die Satiriker mit ihren russischen Helfern hörten das Tik ken der Zeitbombe und arbeiteten nach dem dadaisti schen Prinzip: »Je unwahrscheinlicher ein Vorfall ist, desto wahrscheinlicher ist er.« Die Piraten-»Prawda« veröffentlichte das folgende Szenario eines System wechsels: Eine Gruppe freiheitsliebender Offiziere verhaltet während der Olympischen Spiele in Moskau die Mit glieder des Obersten Sowjets und bildet eine proviso rische Regierung, deren einziges Ziel die Abhaltung freier Wahlen auf Mehrparteienbasis ist. Als erste tritt die Russische Föderation aus der Union aus, es ent steht ein neuer Staat mit dem Namen »Föderation der Völker Rußlands« (FVR). Auch die anderen ehemali gen Sowjetrepubliken erlangen ihre Unabhängigkeit. Der entmachtete Parteichef und Staatspräsident Breschnew hält sich auf einem Schiff im Schwarzen Meer auf und bittet bei den Roten Khmer um politi sches Asyl, nachdem die französischen und die italie nischen Kommunisten es ablehnten, ihn aufzunehmen. Gleichzeitig teilt die »Prawda« dem Leser mit, er halte die letzte Ausgabe des einstigen Zentralorgans der KPdSU in den Händen. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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In Moskau werden Vorbereitungen zur Einberu fung einer verfassunggebenden Versammlung getrof fen, die unter anderem eine Teilprivatisierung der Pro duktion, wie vom Akademiemitglied Andrej Sacha row befürwortet, zum Gesetz machen soll. In Jekate rinburg, dem ehemaligen Swerdlowsk, wird das Haus wieder aufgebaut, in dessen Keller einst die Zarenfa milie hingerichtet wurde. In Sankt Petersburg, ehe mals Leningrad, findet ein Kulturfestival unter Betei ligung von Exilkünstlern wie Rostropowitsch, Nure jew und Baryschnikow statt. Exilschriftsteller wie Solschenizyn, Maximow und Bukowski kehren zu rück. Der neue Staat garantiert seinen Bürgern vor allem die Reisefreiheit. Die Erledigung der Visa-Anträge nach Westeuropa nimmt nur noch drei Tage in An spruch. Allerdings empfiehlt die Firma »Inturist« allen Autofahrern, vor einer längeren Westreise ihre Wagen m einen einwandfreien technischen Zustand zu bringen, denn im Westen gebe es vorläufig noch kei nen Service für sowjetische Autos. Gleichzeitig keh ren massenhaft sowjetische Juden aus Israel zurück und bereiten damit dem jüdischen Staat großes Kopf zerbrechen – insbesondere wegen der Abwanderung von Fachkräften. Eine solche historische Wende kann selbstver ständlich nicht ohne internationale Folgen bleiben. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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3. Geschichte, wie sie wirklich war
Zunächst werden die Sowjettruppen aus Afghanistan und Osteuropa zurückbeordert. Bundeskanzler Hel mut Schmidt erklärt die Vereinigung der beiden deut schen Staaten, und Franz Josef Strauß beginnt seinen Wahlkampf diesmal in Ost-Berlin. Wegen der beäng stigenden Nachrichten aus Moskau unterbricht der französische KP-Chef Georges Marchais seinen Af ghanistan-Urlaub und plant die Errichtung einer neuen Sowjetunion unter der Ägide Frankreichs, der die sozialistischen Republiken San Marino, Andorra, Liechtenstein und Monaco angehören sollen. Die Zerfallsprodukte des Imperiums gehen höchst unterschiedliche Wege: Während die baltischen Staa ten relativ rasch nach Europa finden, entstehen in Kir gisien und Tadschikistan islamische Staaten, wenn auch gemäßigter als im benachbarten Persien. In Us bekistan sind die islamischen Kräfte mit der weltli chen Nationalen Monarchistischen Partei konfrontiert, und in Kasachstan wird der Versuch unternommen, den Feudalismus mit der Demokratie zu versöhnen. In Moldawien soll ein Referendum über die Unabhän gigkeit beziehungsweise über die Vereinigung mit Rumänien abgehalten werden. Von der unabhängigen Ukraine will sich die Krim-Halbinsel abspalten, die früher zu Rußland gehörte. Am kompliziertesten geht es im Kaukasusgebiet zu. Die Abchasen möchten statt zu Georgien lieber zur Föderation der Völker Ruß Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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lands gehören, und die Armenier befürchten eine tür kische Invasion. Trotz all dieser Verwicklungen stellen sich die Au toren der falschen »Prawda« den Übergang des Rie senreiches zur Demokratie ungemein friedlich, fast idyllisch vor. Sie träumen auch keinesfalls von Rache. Selbst Psychiater, die seinerzeit die Dissidenten in Ir renanstalten geschickt haben, werden nicht verfolgt. Für sie hat man allerdings eine besonders raffinierte Strafe erdacht: Sie müssen Breschnews Werke aus wendig lernen und sie im Moskauer Radiosender »Majak« vortragen, den zu hören die Mitarbeiter des KGB verurteilt werden. Im übrigen verläuft der neue Alltag normal. Im Abendprogramm des Fernsehens wird Bulgakows »Der Meister und Margarita« aus dem Taganka-Theater ausgestrahlt, darauf folgen Nachrichten und die Fernsehserie »Colombo«. Prostitution existiert nicht ohne Kunden: und Kunden wollen, was normal nicht geht. Napoléon sprach nach seinen Siegen bei Jena und Au erstedt in Potsdam am Grab Friedrichs des Großen: »Wenn dieser noch lebte, stünde ich nicht hier.« »Die 6 Wunder des Sozialismus« der jugoslawischen Illustrierten »Osmica« vom 7.XII.1989: Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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3. Geschichte, wie sie wirklich war
1. Es gibt keine Arbeitslosigkeit, aber niemand arbei tet. 2. Keiner arbeitet, aber alle erhalten Lohn. 3. Alle erhalten Lohn, aber mit dem kann man nichts kaufen. 4. Nichts kann man kaufen, aber jeder besitzt alles. 5. Jeder besitzt alles, aber alle sind unzufrieden. 6. Alle sind unzufrieden, aber alle stimmen bei Wah len für das System.
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4. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird
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IV. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird, und
denen Tichtern und ihren Talmatsch, vulgo
Übersetzer oder Verräter genennet
Und der überzeugendste Versuch, Edmund de Vere, 17. Graf von Oxford, für die shakespear'schen Werke verantwortlich zu machen. Erscheint es doch ebenso wahrscheinlich, daß es im 16./17. Jahrhundert einem so hohen Edelmann gelungen sein sollte, sich hinter dem Kleinhändler Shakespeare aus Stratford-on-Avon zu verbergen; wie daß es jenem Kleinbürger möglich gewesen sein soll, jene Dichtung aus dem Geist der gebildeten, Hocharistokratie zu dichten. In den hinterlassenen Papieren meines Vater entdeck te ich eines Tages die folgenden undatierten »Stilblü ten aus Gesuchen an das Wirtschaftsamt«, vermutlich aus der Zeit vor 1950: – In dieser Wohnung kann ich nicht bleiben, da ich dauernd der Sittlichkeit ausgesetzt bin. – Meine Frau erwartet in der feuchten Wohnung ein Kind. Die Ursache ist darauf zurückzuführen, daß mein Hauseigentümer immer die Spritze gegen meine Frau richtet. – Mein Mann braucht für seine Tätigkeit als Musiker unbedingt eine neue Hose. In der alten kann er Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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4. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird
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keine Musik mehr machen. – Frau D. läßt dauernd ihr Wasser mit großem Getöse laufen. Ich bitte, einen Mann zur Abhilfe zu schik ken. TYRNAU in Slowakien wurde früh von ungarischen Händlern am Übergang der Fernhandelsstraßen von Preßburg (Bratislava) nach Sillein (Žilina) entlang der Trnava bzw. von Gran (Esztergom) in Altungarn über Neuhäusel (Nové Zámky) nach Lundenburg (Breclav) und Brünn (Brno) über die Trnava gegründet, indem sie dort regelmäßig am Samstag (ung. Szombat) einen Markt abhielten, zu dem die Bevölkerung aus der ganzen Gegend kam. Daher nannte man ihn einfach »Samstag« im Sinne von Samstagsmarkt: so bereits 1211 Sumbot, doch dürfte der Ort da bereits minde stens 150 Jahre bestanden haben. Die Trnava bekam ihren Namen von slowakisch trni = Dornbusch, also etwa = dornbuschumwachsener Fluß. Die slawischen Slowaken begannen aber bald, den Ort nach diesem Fluß zu nennen: TRNAVA, bereits 1240 Turnaw, Tirnow usw., was sich die nach dem Mongolensturm ins Land geholten vorwiegend baierischen Siedler als TYRNAU zurechtlegten, während der ung. Ortsname amtlich zu NAGYSZOMBAT wurde = Großer Sams tag (nach dem Markttag). Das weitgehend deutsch sprachige Gebiet wurde 1945 – wie so viele andere – Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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4. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird
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durch die verbrecherischen, verfassungs-, gesetz- und völkerrechtswidrigen November-Edikte Benešs »eth nisch gereinigt«, wie man heutzutage völkermörderi sche Vertreibungen gegen jedes Recht und Gesetz zu nennen beliebt. Die langen Jahrhunderte friedlichen Zusammenlebens Deutschsprachiger mit Menschen ungarischer und slowakischer Zunge unter ungari scher, dann habsburgisch-österreichischer, schließlich tschechischer Oberherrschaft haben aber in der Stadt und ihrem Umland unüberhörbare Spuren hinterlas sen. Wer sich auch nur ein paar Tage dort in den Re staurants und Weinstuben, Imbissen und Schnaps schenken herumtreibt, kann mühelos spannende Wör terverzeichnisse zusammenstellen, wie etwa das Fol gende, deren 1. Spalte die hochdeutschen Wörter gibt, deren 2. die »hoch«slowakischen Entsprechungen ent hält, deren 3. die Begriffe in Trnavsky (der tyrnauis chen Mundart) aufführt. Zu bemerken ist, daß »c« ohne das diakritische Zeichen Hacek wie »tz« gespro chen wird, und »š« mit diesem Zeichen wie »sch«. Daß auch das »Hoch«slowakisch voller Fremdwörter steckt, zeigt z.B. »golier« für Kragen: von frz. »col lier«, wohl übers Österreichische eingedrungen. Die Wörterliste (erstellt im September 1994):
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4. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird
DEUTSCH
SLOVENSKY
TRNAVSKY
HOSENTRÄGER VORHANG KARTOFFEL FRÜHSTÜCK SOCKEN NUDELN STUHL BÜGELEISEN ORDNUNG ARMLOCH BAHNHOF KRANKENHAUS PRODUZIEREN SPAZIEREN BÜGELN BRÖSEL SCHUSTER VORHAUS GASTHAUS KÜCHENSCHRANK
TRA'KY ZACLONA ZEMIAKY RANAJKY PONOŽKY HALUŠKY STOLICKA ŽEHLICKA PORIADOK PRIERAMOK STANICA NEMOCNICA PREDVAZAT PRECHA'DZAT ŽEHLIT STRU'HANKA OBUVNÍK PREDSíEN HOSTINEC KUCHYNSKA SKRÍNA VPRAVOVAT RYCHLO PODVA'ZOK ZAPALKY PANVICA HRNIEC SMETAK KOBEREC MASTUPIŠTE MIESTO REZEN VLAK PLIEST POZERAT METER PALACINTA
HOSENTROGLE FIRHANEK KRUMPLE, ERDEPLE1 FRIŠTUK FUSAKLE2 NOKRDLE3 ŠTOKRDLA4 PIGLAJS ORDNUNG ARMLOCH ŠTACIA5 ŠPITAL PRODUCÍROVAT ŠPACíROVAT PIGLUVAT PRÉZLE ŠUSTER FORHAUS ŠENK6 KREDENC7
AUSRICHTEN FRISCH STRUMPFHALTER ZÜNDHÖLZER BRATPFANNE KOCHTOPF BESEN TEPPICH BAHNSTEIG SITZ-PLATZ SCHNITZEL ZUG (BAHN, DURCH-) STRICKEN GUCKEN ZOLLSTOCK EIERKUCHEN
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RICHTOVAT FRIŠKO ŠTRUMPADLA CINTLE PALACíNKÁRNA8 KASTRÓL9 PORTVIŠ10 TEPICH PERON PLAC ŠNICLA CUK ŠTRIKOVAT KUKAT COLŠTOK PALACINKA
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4. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird
REITEN WERKZEUG PUTZEN PUTZEREI MERKEN ANZUG TASCHE SCHIRM KARRUSSEL APOTHEKE SPAZIERGANG DURCH TRÄGER NICHTS GESICHT SCHNAPS FEIERABEND SCHNUR BINDFADEN SEIL (KNIE)STRÜMPFE VORSCHRIFT DECKEL TASCHENTUCH FRISUR LÜFTEN PAKET PACKEN ZURÜCK (GEHEN, FAHREN) TRAGEN ZAHLEN KRAGEN GESICHT STRECKE SCHIENE STANGE (VOLL) STANGE (HOHL) CLIP
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JAZDIT NARADIE CISTIT CISTIARNA POZOROVAT OBLEK KABELA DAŽONIK KOLOTOC LEKAREN PRECHADZKA CEZ NOSIC NIC TVAR PIJATIKA PRACE POVRAZ POVRAZ POVRAZ PODKOLIENKY PREDPIS PODNOS VRECKOVKA UCES VETRAT SACER BALIT CUVAT
RAJTOVAT VERCAJCH PUCUVAT PUCERAJ MERKUVAT ANCUK TAŠKA PARASOL11 RINGELŠPIL APATEKA ŠPACIRKA DURCH TROGAR NIŠT KSICHT ŠNAPS (TRUNEK) FAJRONT ŠNORA ŠPAGAT ŠTRANEG ŠTRIMFLE FORŠRIFT DEKEL ŠNUPTICHEL12 FRISURA LUFTOVAT PAKEL PAKOVAT CURIGAT
NIEST PLATIT GOLIER TVAR TRAT KOLAJ RURE RURE NAUŠNICA
TERIGAT CALOVAT KRAGEL KSICHT ŠTREKA ŠINA ŠTANGLA RURE13 KLIPSNA
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4. Vom Stoff, aus dem gedichtet wird
OHRRING ZOPF SPASS RÄUMEN STECKER VORSCHRIFT
NAUŠNICA VRKOC ZART SPRATAVAT ZÁSTRCKA PREDPIS
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Der ehemalige Franziskaner Johann Eberlin aus Günzburg verübte 1524 die erste reformatorische Me dienkritik, als er feststellte, »wie bedenkenlos sich die Drucker auf die Bücher stürzen, ohne darauf rücksicht zu nehmen, ob eine Sache böse oder gut, geziemend oder ärgererregend sei. Sie nehmen Schandbücher, Buhlbücher, Spottlieder und was ihnen in die Hand kommt und gewinnbringend scheint, zum Druck an – wodurh der Leser Geld geraubt, Sinn und Herz ver wüstet und Zeit vergeudet wird.« Joseíto Fernández komponierte die GuantanameraMelodie um 1928. Den Text unterlegte Manuel Perei ra aus dem Gedichtband »Versos Sencillos« (Einfache Verse), den der cubanische Dichter José Martí als 17jähriger um 1870 schrieb und 1891 in New York veröffentlichte. Das Liebesgedicht an eine Frau aus Guantánamo, aus dessen über 200 Vierzeilern in 46 Kapiteln Pereira die Liedzeilen herausriß, hat er aber offenbar nicht verstanden. Die Unabhängigkeitserklärung eines jeden Künstlers Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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ist die freie Wahl seiner Inspirationsquelle. Das Unbewußte spielt sich auf dem Schauplatz des Unmöglichen ab. Der Reim entsprang im 4. nachchristlichen Jahrhun dert aus dem Schoß der christlichen Kirche und ver trieb allgemach den altgermanischen Stabreim. Luis Buñuel sagte einst: »Gott sei Dank war ich immer Atheist!« »Drost« bedeutet »Truchseß«, beide Wörter gehen auf das mittelalterliche »drohtsate« zurück, was den Vor steher einer Hofverwaltung bezeichnete, der auch über die Tafel Auffsicht führen sollte; aus dem Hofverwal ter wurde der Droste, aus dem Tafelaufseher der Truchseß. Grömmers Behauptung, Admiral von Schneider habe nie die Planken eines Kriegsschiffes betreten, ist die reinste Infamie. Die um 1820 entstandene Weise »Heilig Ohmd« wurde als bekanntestes Weihnachtslied des Erzgebir ges 1844 mit 33 Strophen aufgezeichnet.
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Man kann Berlin auch als Weltbühne in der mongoli schen Steppe ansehen. Das Unheimliche hat keine materielle Substanz. Es ist nicht transzendent. Hinter ihm verbirgt sich nichts. Das macht es unheimlich. 1148 setzte der normannische Kleriker Grisandus sei ner Mutter Anna in Sizilien den einzigen bisher be kannten Grabstein mit 4sprachiger Inschrift: Latein, Griechisch, Hebräisch, Arabisch. Die kurzen Texte auf Latein und auf Griechisch vermeiden jede Verbin dung zwischen christlichem Königtum und christli cher Kirche; der Text auf Hebräisch hebt hervor, daß der Machtbereich des Königs Roger II. von Sizilien sich von Italien bis Afrika erstrecke; die arabische In schrift lobt ihn im Stile der Märchen aus 1000 und 1 Nacht. Roger waren 1098 die geistliche wie die welt liche Würde übertragen worden: ein einmaliger Vor gang im christlichen Abendland. Er sollte ein Binde glied sein zwischen allen Volksstämmen Siziliens. In diesem Sinne wird in den nichtchristlichen Texten je weils auch die Mutter Mariens, die hl. Anna, genannt. Antonio Gramsci begriff als erster, daß Triviallitera tur und Folklore, Groschenblätter und volkstümliche Demagogie die Mentalität der Massen oft tiefer prä Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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gen als materielle Lebensbedingungen, und daher be gann er, im Kulturellen eine eigenständige Kraft zu erspüren, weil besonders sie es war, die im Mezzo giorno verhindert hatte, daß die Kommunistische Par tei dort Fuß fassen konnte.
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Fußnoten 1 von Grundbirne, Erdapfel 2 von Fußsack 3 vom baierisch-österreichischen Nockerl 4 von etwas wie Stocksitz 5 vom älteren Station 6 von der älteren Schänke 7 von der älteren Kredenz (im Sinne von Büffet) 8 eigentlich Pfannkuchenpfanne 9 von Kasserolle 10 von Borstenwisch 11 von frz.-öster. Parasol = Sonnenschirm 12 von Schnupftüchlein 13 von Rohr
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V. Von Personen und Persönlichkeiten
1895 schlich in einer finsteren Nebelnacht ein Unbe kannter sich in den Londoner Friedhof Highgate ein, schlug an einer heute noch zu besichtigenden dreiek kigen Gruft die Oberlichter ein (durch die man hinein schauen kann), stieg hinab, öffnete den Sarg und stieß der Leiche einen hölzernen Pfahl durch die Brust. Ein solcher hölzerner Pfahl (rumänisch teapa, ausgespro chen ze-apa) durchs Herz tötet nämlich Vampire, die – ebenso begreiflich – auch durch Knoblauchkrän ze abgeschreckt werden. Mario Praz behauptet übrigens in »Liebe, Tod und Teufel« über »Die schwarze Romantik«, die Ursprün ge der Gothic Novel seien in Schauernovellen zu fin den, die schlesische Pfarrersfrauen in Almanachen ihrer Zeit und Gegend veröffentlichten. Ich bin einszweiunddreißig. Für eine Fichte nicht ge rade Gardemaß, aber für einen Weihnachtsbaum durchaus noch eine handelsübliche Größe. Allerdings leichte Haltungsschäden und etwas mager. Jedoch eine entfernte Bekannte von mir, die war regelrecht verwachsen und ist trotzdem als schmückendes Ele ment eines Fernbahnsteigs groß rausgekommen. Ich hatte also Hoffnungen und sang bereits seit Wochen Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Abend für Abend das alte Lied »Vorfreude, schönste Freude«. Eines Morgens kamen zwei mürrische Männer mit einer noch mürrischeren Axt. »Sauwetter« sagte der eine. »Und lauter Krepelzeug« knurrte der andere. »Die Stückzahl muß rauskommen« antwortete der erste. Ich bekam einen ungeheuren Schlag vors Schienbein, und ging zu Boden. Der Hänger, auf dem ich zu mir kam, mußte von einer LPG sein. Dem Ge ruch nach. Mir wars Wurscht. Ich träumte von einer gemütlichen Stube, von Pfefferkuchenduft und sang leicht erregt das alte Lied: »O Tannenbaum!« Der Weihnachtsbaumverkauf fand an einer ver dammt zugigen Straßenecke statt. Den Verkäufer hatte man aus der nichtarbeitenden Bevölkerung ab geworben. Wahrscheinlich mit Gewalt. Aber manch mal war er auch freundlich. Nämlich dann, wenn er nicht rausgeben konnte. Für mich kamen harte Tage. Ich wurde gezerrt, ge staucht, getreten, weggeworfen, wieder hochgerissen, gebogen, gedreht, und zweimal sogar angespuckt. Mehrmals nadelte ich vor Angst und Scham unter mich. Aber nachts, wenn alles ruhig war, faßte ich wieder Mut und sang das Lied »O du fröhliche ...«. Der mich nahm, hatte eine Betriebsweihnachtsfeier hinter sich und den Empfang zu Hause vor sich. Des halb fackelte er nicht lange, zahlte doppelt, und trei Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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delte mit mir von dannen. »Jedes Jahr dasselbe« sagte seine Frau. Mehr Zeit war nicht, denn aus den Nachbarhäusern tönte schon Gesang. Dann erstrahlte ich im Licht der Kerzen und im matten Glanz mehrfach gebrauchter Kugeln. Die Kinder und die Oma wurden hereingelassen. Die alte Dame sang zitternd »Stille Nacht«. Alle drei Stro phen. 1794 erschien in Hannover in den »vertrauten Briefen über die jetzige abenteuerliche Lesesucht und über den Einfluß derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks« Sorge um das geistige Wohl und Wehe der Leserschaft. Umberto Eco sucht die vollkommene Sprache jenseits der Geschichte. 1783 richteten die Quäker eine Petition an das briti sche Parlament, den Sklavenhandel zu verbieten. 1833 wurde ihr nachgegeben und der Sklavenhandel völlig verboten. Philosoph ist man, wenn man tot ist. In Alt-Gromyki und Neu-Gromyki hießen rund 550 Familien Gromyko. Deshalb nannte man sich bei den Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Beinamen, um sich unterscheiden zu können. So hießen Urgroßvater, Großvater, Vater und Enkel Bur makow, doch wurde der Enkel unter seinem Standes amtsnamen Andrej Gromyko bekannter. »Ich habe mich oft dafür geschämt, Europäer zu sein. Für mich war Europa verantwortlich für die Verskla vung von Millionen Afrikanern, das Abschlachten von ebenso vielen Indianern, die Dezimierung der au stralischen Aborigines und so vieler anderer Völker, kurzum: für Genozid und Ethnozid, für Ausbeutung und Unterdrückung, für Kolonialismus und Imperia lismus. Und Europa bedeutete auch Hexen- und Ju denverfolgung, Inquisition und Religionskriege und einen wahnsinnigen Nationalismus, der in zwei Welt kriegen beinahe zu unserem Selbstmord geführt hat. Vor allem aber haben mich an Europa das beschä mende Auseinanderklaffen von hochstehenden Werten und Idealen einerseits und seinen gewalttätigen und unterdrückerischen Praktiken andererseits verzweifeln lassen.« Ton Lemaire, in Nijmegen 1989. Der Briefträger Ferdinand Cheval (1836–1924) er baute sich von 1879 bis 1912 in Hauterives in der Dauphinée seinen »Palast der Natur« an 10000 Ar beitstagen in 93000 Arbeitsstunden und 33 Jahren Mühsal aus aufgesammelten Steinen von seinen tägli Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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chen 32 km Postgang mit 3500 Säcken Kalk und Ze ment für 5000 Francs (der damaligen Währung). Das Bauvolumen umfaßt etwa 1000 cbm: die Ost- und die Westfassade sind je 26 m lang, die Nordfassade 14 m, die Südfassade 12 m; die Höhe wechselt zwischen 8 und 10 m; zwischen Ost- und Westfassade erstreckt sich 20 m lang und 2 m breit eine Galerie, deren beide Enden sich in Labyrinthe öffnen; die Westfront bietet eine arabische Moschee, einen indischen Tempel, ein mit Seemuscheln gänzlich verziertes Schweizer Cha let, die Maison Carrée von Algier, eine mittelalterli che Burg. Das Palais Ideal wurde 1982/1993 für über 6,5 Millionen Francs (der heutigen Währung) restau riert, nachdem André Malraux es 1969 unter Den kmalschutz gestellt hatte. Die Gemeinde Hauterives erwarb 1985 von den Erben des Briefträgers das Pa lais für 7,5 Millionen Francs, das jährlich von rund 150000 Besuchern bewundert wird. Den Anstoß gab ihm der Fund einer Molasse, die ihn zu Träumen von Grotten, Türmen, Palästen anreg te, die weder Wohn- noch Nutzräume für seine Chi märe brauchten, sondern nur Terrassen, Treppen, Bel vedere, Galerieen. Er fand tausende von phantasti schen Gebilden: kieselharte Muscheln, Fossilien, von anderen Gestirnen herabgefallene Aerolithe (Kugeln schwer wie Metall), Steine mit glatter Haut rosarot oder milchweiß. Er erlernte das Bäckerhandwerk, eine Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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plastische Kunst, deren Spuren sich in seinem Bau werk bis heute zeigen. Kühn entworfene freie Bögen voll luftiger Grazie aus Schlacken, Girlanden und Friese aus Muscheln, Rosetten aus Fossilien, Blumen sträuße aus Austerschalen. Ab 1899 wird die Arbeit zunehmend skulptiert, der Kalk manchmal sogar mit dem Löffel modelliert. Trügerische Schlangen und der rätselhafte Kavalier auf einer Krake werden zuende gebracht. Das Genie Cheval kennt wie die Natur keine gerade Linie, seine Elemente weisen sehr orga nische und fleischige Formen auf; die Phalli und Brü ste sind ganz entpersonalisiert und erreichen die kos mischen Dimensionen der indischen Tempelarchitek tur. Zahlreiche Sprichwörter und Redewendungen werden im Zement zum Orakel. Zedern, Bären, Ele phanten, Hirten aus dem Baskenland, Kaskaden, Juli us Caesar, Vercingetorix, Archimedes, Giganten wie von der Osterinsel stehen beieinander. Die gesammel ten Steinhaufen fuhr Cheval abends und nachts mit der Schubkarre bis zu 10 km weit auf seine Baustelle ab. Julius Caesar war aufgewachsen in einer Standesge sellschaft, deren Standesherren und seine Standesge nossen in der politischen Rede Lakonie und Trocken heit schätzten, weshalb der römische Patrizier seine Patriziersprache zu höchster Härte und Klarheit ent Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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wickelte und zum Nachweis seines Machtanspruchs einsetzte. Seit der römische Kaiser Theodosius gegen Ende des 4. Jahrhunderts sein Reich in ein östliches und ein westliches teilte, geht durch das, was man kurze Zeit »Jugoslawien« nannte, obwohl noch viel mehr SüdSlawen auf dem Balkan leben, eine Kulturgrenze, an der entlang 1054 auch die Große Kirchenspaltung er folgte; und daran zuzzeln noch heute Miloševic und seine kleinsten Epigonen. Im Tirolischen treffen vielerlei Brauchtraditionen auf einander. Auf die Langobarden geht der »Wallapauz« zurück: ein Schreckgeist, dem der Gedanke an den auf dem Schlachtfeld Erschlagenen zugrundeliegt; er züchtigt nach Laune und stibitzt alles Greifbare. Aus dem althochdeutschen »pauz« ist sprachlich der neu hochdeutsche »Butz« geworden: ein Seelenmann, der nach dem Tode als Gespenst umgeht. Aus dem Lan gobardischen (oder Fränkischen?) stammt die »masca«: die Masche, das Netz; in ein Netz wurde der Verstorbene eingehüllt; daher rührt die Vorstel lung vom Toten, den nur ein Netz daran hindert, als Widergänger Unheil zu wirken. Später entstand dar aus das Wort »die Maske«. Am bekanntesten sind »Hexenmasken«, worin althochdeutsch »hagazussa« Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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steckt: die Liederliche Weibsperson, die im Wilden Heer mitzieht und also »gespenstischer, höhnender Natur« ist (»hagu«), und wie der Teufel selbst als dä monisches Wesen auftritt. Sprachlich steht die Hexe damit neben dem althochdeutschen »haguno«, mittel hochdeutsch »hagene«, dem grimmen Helden der Nieblungendichtung, dem germanischen Volksglau ben entsprechend ein Nibulung, ein »Nebelsohn«, ein Synonym für Gespenst. Die »Schemen« der Alpen sind ebenfalls Schotten- und Seelenwesen; im Ober inntal findet das Schemenlaufen statt mit Masken aus dem Holz der Zirbe, die in den Familien vererbt wer den; die Schemen tanzen, machen Luftsprünge, schwärzen der Menschen Gesicht, verspritzen Was ser; es wird das Treiben des Seelenmannes dargestellt, der im Auftrag der Ahnen straft, um Segen heischt, Segen spendet: der Schemenlauf ist also ein Sühnefest für die Toten, bei dem den Lebenden in Schlägen und Rügen Buße auferlegt wird, die durch Gaben die Gei ster gnädig stimmen und von den Versöhnten Segen empfangen – um so reicheres Glück in allen Dingen. Die Masken gehören aber auch zu den »Perchten«, leuchtenden weiblichen Seelenwesen; Frau Perchta führt im Wilden Heer die Schar der Kinderseelen an. Masken werden überwiegend aus Linde, Zirbe, Erle, Esche, gelegentlich auch aus Eiche und Buche gefer tigt; in den Alpen vor allem aus der seltenen Zirbe. In Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Tirols Bergen hat sich auch die Sitte erhalten, daß Vermummte als Klausen (= Nikoläuse) oder Huttier auf die Heische gehen: dem Bräutigam auf dem Hoch zeitszug die Braut abzujagen trachten. Ihr Treiben zu beschreiben, den Klaus oder Klaus als Träger zu nächst des heidnisch-germanischen Maskenkults, der dann verchristlicht wurde, indem der Krampus (= Kinderschreck-Nikolaus) oder Bartl den guttätigen Bischof Nikolaus von Myra zu begleiten hatten und die Bösen bestraften, während der Bischof die Guten belohnte, brauchte man ein eigenes Buch. Ichaboe ist ein höllischer Ort. 1514 schrieb Mutianus Rufus, als die Wahl Albrechts von Brandenburg zum Kurfürsten von Mainz anstand: der Jüngling sei kaum der Schule entwachsen und schon in 1 Jahr 3 mal Bischof geworden. Diese Äm terkumulation finanzierte Albrecht durch einen schwungvoll betriebenen Ablaßhandel. Die dubiosen Praktiken seines Ablaßhändlers, des Predigers Tetzel, der Ablässe sogar für Verstorbene verscherbelte, löste 1517 die Reformation aus. 1518 war Albrecht bereits Erzbischof von Magdeburg und von Mainz, Admini strator von Halberstadt und römischer Kardinal. Er. führte einen umfangreichen Briefwechsel mit Luther, entschloß sich aber 1525, zögerlich gegen die Refor Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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mation vorzugehen. Sein Wahlspruch: »Herr, ich liebe die Zierde Deines Hauses«. Franz von Assisi stellt das ethische Feigenblatt des Kirchenchristentums dar und ist eine absolut einmali ge Erscheinung. 1406 verfügte König Wenzel durch seinen Privilegi en-Brief die Ehrlichkeit der Bader und Barbiere – die wegen Ausschweifungen in den öffentlichen Badstu ben, wegen Seuchen und Vorurteilen gegen das Haa reschneiden in Verruf geraten waren –, konnte sie aber dennoch nicht recht ernst nehmen: er verpaßte ihnen wegen ihrer Zungenfertigkeit den Papagei als Wappentier. Jutta Ditfurth schrieb über ihren Traum von einer neuen Apo = außerparlamentarischen Opposition: die solle im Wesentlichen »breitradikalbasisdemo kratökologsozialistfeministantifaschistinternationali stisch« sein. Der Naturbegriff ist gegen jedes fundamentalistische Naturpathos ein Kulturbegriff. 1954 starb in Kreuzweingarten der 1874 geborene Pfarrer Nikola Reinartz, ein bedeutender Heimatfor Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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scher, dem es 1908 gelang, in der Schloßkapelle des englischen Ashridge Park einen Teil der großartigen alten Glasgemälde aus dem Kreuzgang der Abtei Steinfeld wieder aufzufinden, die 1802 aus Angst vor dem drohenden Franzosenunwesen der Revolutions zeit und ihrer Folgen mit vielem anderen Kirchen und Klostergut der Eifel versteigert und verschleudert worden war. Hagen von Tronje, die düstere Hauptgestalt der Nibe lungendichtung, könnte aus dem Tal der Dhron stam men, die bereits Ausonius um 365 als »den sanften Drahonus« beschrieben hat, aus dem das römische Herrscherhaus in Trier Lachse, Forellen und Krebse bezog. Als das römische Reich zerfiel, war es mit dem Wohlleben in Trier und auf den reichen Landgü tern vorbei. 409 schrieb der Kirchenvater Hieronymus an Ageru chias: »Zahllose Völkerschaften, und zwar solche von äußerster Wildheit, haben ganz Gallien in Besitz ge nommen. Alles Land zwischen den Alpen und Pyrenä en, zwischen Ozean und Rhein haben Quaden, Van dalen, Sarmaten, Alanen, Gepiden, Heruler, Sachsen, Burgunden, Alamannen verwüstet ... Mainz, die einst hochberühmte Stadt, ist erobert und zerstört und in der Kirche viele Tausende von Menschen niederge Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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metzelt! Worms ist durch lange Belagerung vernich tet. Speyer und Straßburg sind Teile Germaniens ge worden.« Nach der Hunnenschlacht auf den Katalaunischen Feldern 415 hatten die Nibelungen ihren geschichtli chen Auftritt als Burgunder und nahm die Verwilde rung der Sitten ständig zu. Der Priester Salvianus be richtete aus dem zerstörten Trier, das 3mal hinterein ander verwüstet worden war. »Ich sah Trierer, von Haus aus adlig, von hohem Rang, die, obgleich ausgeplündert und beraubt, den noch an ihrem Vermögen weniger Schaden litten als an ihren Sitten. Waren sie auch noch so sehr beraubt, etwas Vermögen war ihnen noch immer geblieben, nichts dagegen von Zucht. Traurig ist es zu berichten, was wir gesehen: ehrbare Greise, Christen gaben sich, während die Vernichtung der Stadt bereits unmittelbar bevorstand, der Schlemmerei und Ausschweifung hin. Überall lagen, wie ich selbst gesehen und ertragen, entblößte Leichen beiderlei Geschlechts, zerrissen, von Vögeln und Hunden zerfleischt. Was erfolgte hierauf, was erfolgte nach all dem? Einige Vornehme, die den Untergang überlebt hatten, verlangten als beste Hilfsmittel für die zerstörte Stadt vom Kaiser Spiele!« Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Den Drahonus nannte man bis ins 19. Jh. die Tron, und aus Tronek an der Kleinen Tron wurde das heuti ge Dhronecken. Es ist durchaus möglich, daß die heu tige Burg Dhronecken nach und nach auf den Funda menten jenes Wehrbauernhofs erwuchs, den die Ahnen Hagens anlegten: vielleicht aus keltischem Landadel, was den Haß des Tronjers auf die fränki schen Eroberer und Neuherrscher erklären könnte. Und das »Hagen von Tronje« aus einem »Hagen aus dem Tal der Kleinen Tron« entstanden ist. Elisabeth Carlotta Helena Eulalia Bunterberg nannte sich lieber Lale Andersen (Lale aus Eulalia, Andersen nach einer Verwandten). Als Hermann Schlösser zum Thema »Literaturkon zepte: Kontinuitäten und Brüche« aus seiner weiträu migen Ignoranz heraus Urteile wie das folgende ab sonderte: »Als sich der Lyriker Paul Celan 1970 das Leben nahm, galt er schon als veralteter Autor. Ein neuer, unmittelbarer Ton war in die Lyrik eingezogen, der jedem etwas sagen wollte. Aus Celans Lyrik kommt dagegen kein Autor seinem Leser vertraulich entgegen.«, qualifizierte Martin Lüdke das als »Mit Spatzen auf Turmuhren schießen« und zitierte zur Abrundung seines Urteils das von Walter Benjamin Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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für solche Anlässe erfundene »chinesische Sprich wort«: »Jeder darf seine eigene Meinung haben, aber manche verdient Prügel.« Nach Alexander Kerzen hat die Geschichte kein Li bretto. Dirk Baecker stellte in »Nichttriviale Transformati on« folgenden höchst treffenden Systemvergleich an: »Jede noch so tentative Formulierung möglicher Eigenwerte sozialistischer und kapitalistischer Re produktion setzt sich in der gegenwärtigen Situation dem Verdacht der Einseitigkeit aus. Kaum behauptet man, eine sozialistische Eigentümlichkeit entdeckt zu haben, wird nachgewiesen, daß sie ebenso als ka pitalistische behauptet werden könnte: Beobachtun gen, vor Ort konfrontieren mit Milieus, die man nur deswegen für typisch hält, weil man ihre Entspre chungen auf der anderen Seite noch nicht kennenge lernt hat oder nicht für signifikant hält. Überzeugender als durch diese Entsprechungen könnte die These von der einen Gesellschaft gar nicht nachge wiesen werden.«
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VI. Massen ungeordnet
»Scientia sine qua mortalium vita non regitur liberaliter.« (Ohne Wissen können die Sterb lichen ihr Leben nicht frei gestalten.) (Friedrich II.) »Ich besinge die Frauen, die Ritter, die Waf fen und Liebschaften, die Höflichkeit, die kühnen Taten.« (Ariost)
Das private Kuddelmuddel als Resultat einer Aufein anderfolge verschiedener Herzensbindungen wird zum Zeichen der Zeitenwende. In Frankreich leben sozusagen authochthon Basken, Bretonen, Elsässer, Flamen, Okzitaner, Katalanen, Korsen und Franzosen, sowie – als Spätankömmlinge und erste Neusiedler – Normannen. Die großen Sünden werden in den Köpfen begangen. Radikal sein heißt: die Erde untersuchen, aus der die Wurzel der Sache entsprang.
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Statt eines Nachworts
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Statt eines Nachworts
Das Burg-Hotel Dracula
Wie der Ire Abraham »Bram« Stoker zu Dracula kam (Sein eindringlichstes Bild hat wohl Blaise Cendrars 1954 in einem Text gezeichnet, der 1955 als Hörspiel gesendet und 1959 bei Denoël in Paris in »Films sans images« veröffentlicht worden ist; deutsch 1965 bei Karl Rauch in Düsseldorf »Hörspiele«). 1888 war in London übrigens auch Emily Gerards Reisebeschreibung »The Land Beyond the Forest« er schienen, das ausführlich auf den Vampirglauben die ser Gegenden eingeht und vor allem siebenbürgische Sagen referiert. 1888 erschien gleichfalls von Walker »Untrodden Paths in Roumania«. Beide Arbeiten dürfte Bram Sto ker ebenfalls gekannt haben; und sie dürften wohl wie die großen Gothic Novels ebenfalls den Humus einge gangen sein, aus dem dann Graf Dracula entsproß.
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Statt eines Nachworts
Was aus Vlad III. Draculea
den Grafen Dracula werden ließ
Sigismund von Luxemburg, König von Ungarn (seit
1387), deutscher (seit 1410) und böhmischer König
(seit 1436) sowie Kaiser (seit 1433)
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Das Wappen des Drachenordens
Vlad III. speist unter Gepfählten
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Statt eines Nachworts
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Gedanken darüber, ob einiges auf eine krankhafte se xuelle Abnormität des Fürsten hinweist, oder ob man ihn als impotent anzusehen hat, sind wenig förderlich: denn solche Überlegungen unterschlagen seine Bri sanz und deponieren ihn in der Gerümpelecke des Ab artigen. Er hat das Pfählen sicherlich einigermaßen übertrieben (was ihn zum leichten Gegenstand sieben bürgisch-sächsischer Greuelpropaganda in Gestalt der »leyenda negra« vom Pfähler machte), und die Zahl seiner Opfer insgesamt dürfte ihm wohl einen beson deren Platz auf der Rekordliste einbringen: wenn man die »normalen« Opfer kriegerischer Auseinanderset zungen außer Acht läßt und beispielsweise Prinz Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Eugen als Helden preist, obwohl dessen »Gesamt strecke« die von Vlad Tepes weit übertroffen haben dürfte. Ist Vlad III. also doch nicht zu Recht als »Pfähler« berüchtigt?
Von wissenschaftlichen Werken über den
Vampirismus
Wie Michel de Ghelderode feststellt: »Sie sind alt wie die Welt, diese Geschichten von Vampiren, die sich auf einen legen und einem das Blut aussaugen! Man glaubt natürlich nicht mehr daran. Ich auch nicht. Trotzdem werde ich von nun an sorgfältig die Fenster und die Türen verschließen und Papier auf die Schei ben kleben.« (Sortilèges. Liège, 1947). Wer sich in das Hotel am Borgo-Paß zurückzieht, sollte ebenso verfahren, ehe er sich in die Literatur stürzt, die sich seit dem Brief des Phlegon, dem Ver walter der vom König der Makedonen Philipp erober ten Stadt Amphipolis, über »Die Braut von Amphipo lis« entwickelt hat bis hin zu Bram Stokers »Dracu la«. Noch passender wäre natürlich an diesem Ort ein intensives Studium der Sekundärliteratur zu dem Thema »Vampir und Vampirismus«, als deren erstes bekanntes Werk man Martin Luthers »Tischreden« Nr. 6823 ansprechen könnte, mit Sicherheit aber Jean Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Bodin: De la Demonomanie des Sorciers. Paris 1587 (deutsch von Johann Fischart: Vom Außgelassenen Wütigen Teuffelsheer. Straßburg 1591; den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit unterstreicht die lateinische Übersetzung: De Magorum Daemonomania. Frank furt/Main 1603). Insgesamt dürften bis heute rund 3000 Titel zum Thema erschienen sein, davon nach Bodin u.a.
Wie der Blut transfundierende Desmodus rotundus zum Blut saufenden »Vampir« gemacht wurde
Die Mythologen über den
Vampirglauben in der Welt
Gegen Ende: des 12. J.s tauchen in England erste Be lege für vampirisches Wiedergängertum auf, etwa im Kapitel 27 der »Distinctiones« von Gualterus Map in der Geschichte eines Walisers aus Hereford. In Deutschland begegnen um 1337 zahlreiche Fälle von wiederkehrenden Toten, die den Lebenden Schrecken einjagen, indem sie sie bei Namen nennen: woraufhin die Genannten binnen 8 Tagen zu sterben haben. In Schlesien war lange Zeit der Glaube an Nachzehrer lebendig, deren Kauen und Schmatzen als Tote in Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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ihren Gräbern man hören konnte; das alteste Zeugnis aus Schlesien stammt von 1517 und gerichtet vom Massensterben zu Gross Mochbar. 1605 plagte laut Frankensteiner Chronik ein Unge tüm in Neustadt die Leute und soll sogar einen Mann umgebracht haben, der Zadelmüller hieß. Im 18. und 19. Jh. sind zahlreiche solcher Fälle belegt, und noch Ende des 19. J.s fanden in Preußen mehrere »Vampir prozesse« gegen Menschen statt, die aus Furcht vor Vampiren Gräber öffneten und Leichen pfählten. Und 1913 meldete eine Zeitungsnotiz aus Sensburg, daß zur Steuerung der Sterblichkeit in einer Familie, die in kurzer Zeit 9 Mitglieder verloren hatte, eine Leiche enthauptet wurde, der so ihr vampirhaftes Treiben un möglich gemacht werden sollte. Wie man sieht ist der Vampirglaube keineswegs auf die Balkanländer beschränkt (gewesen?), wo man dafür kein Kauen und Schmatzen der Toten in ihren Gräbern hörte. Große Berühmtheit errangen die Vam pirberichte aus Ungarn und vor allem Serbien, wo die berühmtesten Fälle die des Peter Plogosovitz 1725 in Kisolova und des Arnod Paole 1732 in Medvegia wurden. Beide Männer hielt man aufgrund zahlreicher Aussagen wohlbeleumundeter Zeugen für Urheber von Vampirplagen. Des Vampirismus »Überführte« wurden gepfählt und verbrannt. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Wer einmal von einem Vampir heimgesucht wurde, wird ebenfalls ein Vampir, wenn es nicht gelingt, vor dem Tod des Opfers den Vampir selbst unschädlich zu machen. Völker und Sturm schreiben 1968 aus drücklich: »Vampire werden vorzugsweise Verbre cher, unehelich Geborene und Leute, die sich zu ihren Lebzeiten mit Hexerei oder Zauberei abgegeben haben. Ferner Christen, die sich zum Islam bekehren ließen, Priester mit Todsünden, Exkommunizerte und Menschen, die keine Sterbesakramente empfangen haben. All denjenigen, die gegen Gebote der Kirche verstoßen haben, droht also in jedem Fall der Vampir stand.« Und weiter: »Der Glaube, daß der verstorbene Liebhaber die hinterbliebene Gattin schwängern kann, wurde im Mittelalter vielen jungen Mädchen zum Verhängnis: Unverheiratete schwangere Frauen wur den beschuldigt, mit dem Teufel ein Stelldichein ge habt zu haben, und man führte sie als Hexen zum Scheiterhaufen. Der 1719 erschienene ›Europäische Niemand‹, in dem die Ereignisse der Zeit in lockerer Gesprächsform abgehandelt sind, nimmt zu dem Pro blem des geschlechtlichen Verkehrs mit Toten am Beispiel des Falls des Michael Casparek Stellung, der als Gespenst und Wiedergänger von sich reden mach te und unter den Lebenden beträchtlichen Schaden an gerichtet haben soll: Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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›Des Casparek fleischliche Vermischungen erin nern mich an dasjenige was mir der Professor Phy sices vormahls auf einer gewissen Universität von denen Succubis und incubis vorschwatzete. Es könten nemlich die bösen Geister in menschlicher Gestallt so wohl die Stelle derer Mannes- als auch derer WeibesPersonen vertreten und mit den Hexen oder Unholden, wie auch mit ändern Menschen solchergestallt fleisch lich Unzucht treiben, daß diese davon schwanger wür den, indem die bösen Geister das semen humanum, welches jemanden entweder per pollutionera noctur nam, oder auf andere Weise entgienge, alsobald wenn es noch warm und spiritos wäre, auffiengen und selbi ges in die Vasa genitalia derjenigen Menschen bräch ten, mit welchen sie Unzucht trieben; dergestallt daß ein wahrhaffter Foetus hieraus generiret werden könte. Nun ist die Sache zwar sinnreich genug ausge sonnen, indem es in Physicis & Pneumaticis an der gleichen Einfallen niemahls fehlet; jedoch würde es, meines Erachtens, an dem Beweisthum sehr fehlen. Mit dem Essen und Trinken des Casparek könte es eine Verblendung seyn, und wenn er hiernechst so grosse Gewalt hätte, die Häuser einzuäschern, so müste man Gottes sonderbare Gerichte hieraus erken nen, daß er dem Satan in diesen letzten Zeiten so viel Freyheit lasse.‹ –« Krafft-Ebing stellte in seiner »Psychopathia Sexua Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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lis« fest: »Coitus venerem suam non stimulavit, nisi quam futuabat ita pungere potuit ut sanguis flueret.« Der Marquis de Sade zeigt in seinem Roman »Justine« diesen Zusammenhang von Wollust und Grau samkeit mit dem Drang, Blut zu vergießen und Blut zu sehen, am Beispiel des Marquis Gernande, der sei ner Geliebten mit dem Messer Wunden beibringt, um sexuellen Blutrausch zu erleben. In der Sexualpatho logie nennt man solche Art des Blutfetischismus auch »lebender Vampir«. Blut übt danach auf lebende Vampire eine »partielle Attraktion« aus, welche ab norme Veranlagung man Hämatophilie nennt. Das übrigens ist keine Berufskrankheit unter Scharfrich tern gewesen, unter denen sich nur wenige ausgespro chene Blutgenießer nachweisen lassen. Schließlich stellen Völker und Sturm fest: »Die Nekrophilie in ihren verschiedenen Erscheinungsfor men zeigt die enge Verbindung der Vorstellungen von Liebe und Tod. Hier schließt sich ein Kreis tiefer my thologischer Zusammenhänge, religiöser Riten und perverser Verbrechen. In vielen volkstümlichen Er zählungen ist dieses enge Beieinander von Liebe und Tod gegenwärtig. Bei den Eskimos ist eine Erzählung überliefert, in der eine Frau ihren Liebhaber durch die Vagina verschlingt, dann Wasser trinkt und schließ lich das Skelett ausspuckt. Von hier ist es nicht weit zu der Gestalt der Lady Clairwil in de Sades ›Nou Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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velle Justine‹ die das Herz ihres Liebhabers in die Vagina einführt. Dabei küßt sie den Mund der Leiche. Nekrophilie darf«, so beenden sie dieses Kapitel, »nicht mit dem Vampirismus verwechselt werden, doch die Ähnlichkeit beider Erscheinungen ist auffäl lig. Roland Villeneuve bezeichnet in ›Loup-Garous et Vampires‹ die Nekrophilie entsprechend als ›vampi risme retourné.‹ –«
Was Philosophen über Vampire zu sagen haben Nun ist es so, daß man einerseits auf Kephalonia noch heute den Bannspruch kennt »Skórda kai palukia stà mátia su!« (Knoblauch und Pfähle in Deine Augen!). Andererseits sagte aber bereits der Doktor Martin Lu ther in der 6823. seiner Tischreden, von der berichtet wird: »Es schrieb ein Pfarrherr M. Georgen Rörer gen Wittenberg, wie ein Weib auf einem Dorf gestorben wäre, und nun, weil sie begraben, fresse sie sich selbst im Grabe, darum wären schier alle Menschen im selben Dorf gestorben. Und bat, er wolle D. Mar tin fragen, was er dazu riethe. Der sprach: ›Das ist des Teufels Betrügerei und Bosheit; wenn sie es nicht gläubeten, so schadete es ihnen nicht, und hieltens gewiß für nichts anderes, denn für des Teufels Ge Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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spennst. Aber weil sie so abergläubisch wären, so stürben sie nur immerdar je mehr dahin. Und wenn man solchs wüßte, sollt man die Leute nicht so fre ventlich ins Grab werfen, sondern sagen: Da friß, Teufel, da hast du Gesalzens! Du betreugest uns nicht!‹ –« 1679 schrieb in Leipzig Philippus Rohr in seiner »Dissertatio Historico-Philosophica de Masticatione Mortuorum«: »Objectum seu materiam, qvâ vescuntur sepulcra les comedones, geminam animadvertere licet. Ita est, jam enim deglutiunt amicula feralia ori vicina, uti ca daver anni 1345. qvo de Harsdorff. l.c. als man sie ausgegraben / hat sie den Schleier / damit Ihr das Haupt ist verbunden gewesen / halb hinein gessen ge habt / welcher ihr blutig aus dem Halse gezogen wor den. Id de cadavere, qvod Ultimo loco nos supra Cap. I. th. 7. memoravimus: Der Hencker zog ihm aus dem Maul einen langen grossen Schleier / welchen er sei nem Weibe von dem Haupte hinweg gefressen hatte. ...« 1721 veröffentlichte Rzaczynski in seiner »Naturge schichte des Königreichs Polen« u.a. den Abschnitt »Der polnische Upier: Ich habe vielmals von glaubwürdigen Augenzeu Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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gen gehört, daß man Menschenleichen gefunden hat, die nicht allein lange Zeit unverwest, mit beweglichen Gliedern und rot geblieben waren, sondern überdies auch Mund, Zunge und Augen bewegten, die Leichen tücher, in die sie gehüllt waren, verschlangen und sogar Teile ihres Körpers frassen. Bisweilen ist auch die Kunde davon gekommen, daß eine derartige Lei che aus dem Grabe aufstand, über Kreuzwege und Häuser wandelte, sich bald dem, bald jenem zeigte, auch manche anfiel, um sie zu erwürgen. Wenn es eine Mannesleiche ist, dann heisst dieses Wesen Upier, wenn es eine Frauenleiche ist, Upierzyca, d.h. gleichsam ein gefiederter, mit Federn versehener, leichter zur Bewegung geschickter Körper.« 1732 erschien in Nürnberg »Visum et Repertum – über die so genannten Vampirs, Oder Blut-Aussau ger, so zu Medvegia in Servien, an der Türckischen Granitz, den 7. Januarii 1732 geschehen«, worin 3 Feldscherer und 2 Offiziere als Untersuchungsaus schuß »eines allhiesigen Hochlöblichen Ober-Com mando« insgesamt 13 Fälle von Vampirismus, ausge hend von der Tatsache, »daß vor ungefehr 5 Jahren ein hiesiger Heyduck, Nahmens Arnod Paole sich durch einen Fall von einem Heuwagen den Hals ge brochen; dieser hatte bey seiner Lebens-Zeit sich öf ters verlauten lassen, daß er bei Gossowa in dem Tür Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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ckischen Servien von einem Vampir geplagt worden sey, dahero er von der Erde des Vampirs Grab geges sen, und sich mit dessen Blut geschmieret habe, um von der erlittenen Plage entlediget zu werden.«, unter sucht und berichtet haben. »allerunterthänigst-treugehorsamste Zur Königl. So cietät der Wissenschafften verordnete Vice-Präsident, Doctores und Mit-Glieder« erstatteten zu »Berlin, den 11. Mart. 1732« das folgende »Gutachten der König lichen Preußischen Societät derer Wissenschafften von denen Vampyren oder Blut-Aussaugern« dem »Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König, All ergnädigster König und Herr, Ew. Königl. Maj. ist es allergnädigst gefällig ge wesen, durch den Vice-Präsidenten, Graffen von Stein, das in Original hierbey kommende Protocoll, die so genannten Vampyrs oder Blut-Aussauger zu Medwedia in Servien betreffend, uns communiciren zu lassen, mit allergnädigsten Befehl, hierüber an Dieselbe unser unvorgreiffliches allerunterthänigstes Gutachten zu erstatten ... Es lasset sich auch aus der Ausgrabung und denen an dieses Paole Cörper befun denen Blute, Nägeln an Händen und Füssen, auch bey Durchschlagung des Pfahls durchs Hertz angemerck ten Geröchzer oder Laute, auff die Vampyrschafft kein bündiger Schluß machen, massen denn die er Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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stem Phänomena ihre natürlichen Ursachen haben, das Geröchzer und der Laut aber wegen der in der Ca vität des Hertzens annoch befindlichen ausgebroche nen Lufft geschehen seyn kan .... Ebenermassen hat das Wachstum der Nägel und Haare, so denen Vam pyrs als eine besondere Eigenschafft beygeleget wird, in so weit seine natürliche Ursachen, daß ... nichts mi raculeuses dabey verhanden seyn werde .... Letzlich ist insonderheyt hierbey anzumercken, daß die bißhe rige Blame der Vampyrschafft nur auf lauter arme Leute gebracht, und man ohne vorgängiger umständli chen, wenigstens aber uns nicht communicirten Unter such- und Erörterung die Todten in den Gräbern ge schimpfft und als Maleficanten tractirt worden. Bey welcher der Sachen Bewandtniß denn wir davon hal ten, daß man ... noch zur Zeit nicht glauben kan, daß der gleichen Aussaugung von den todten Cörpern ge schehe, auch selbige ihre Qualität durch die Aussau gung oder den Gebrauch ihres Bluts-, und der Erde von den Gräbern, worinnen sie liegen, nicht fort pflantzen können, noch weniger aber, daß man sich der darwider adhibirten Mittel der Exequirung dieser Todten mit Effect gebrauchen könne ...« 1733 kam in Wolffenbüttel von Johann Christoph Harenberg das Werk »Vernünftige und christliche Ge dancken über die Vampirs oder Bluthsaugende Tod Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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ten, so unter den Türcken und auf den Gräntzen des Servien-Landes den lebenden Menschen und Viehe das Bluth aussaugen sollen, begleitet mit allerley theologischen, philosophischen und historischen aus dem Reiche der Geister hergeholten Anmerckungen und entworfen von Johann Christoph Harenberg, Rect. der Stifts-Schule zu Gandersheim« heraus, worin er in 45 Paragraphen von »§ 1. Der gemeine Wahn von dem Schmack-Fressen und Bluht-Aussau gung der Verstorbenen« bis »§ 45. Conclusio galea ta« das gesamte Wissen der Zeit, ihren Aberglauben und ihre Erklärungen zusammenstellt, einschließlich des »§ 17. Uhrsprung und Ungereimtheit des AstralGeistes oder Chaldäischen Welt-Geistes, welchen neulich V.C. Tuchtfeld wieder auf die Schaubühne, samt dem Arimanio, gestellet hat.« 1734 legte in Leipzig Michael Ranft seinen »Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Grä bern« vor, worin er über die »Geistliche Fama« festhält: »In diesem 8. Theile haben sie unter ändern die Hungarischen Vampyrs vor sich gekriegt und ihnen nach ihrer Phantasie den Planeten gestellt. Sie leiten sie aus der Astralwelt her und setzen hierbey die prin cipia des Verfassers der Gespräche im Reiche der Geister zum Grunde. Wir haben nicht Ursache, uns Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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mit diesen Geistern in ein Gefechte einlassen, wen ihnen Hr. M. Zopf in der vorgedachten Diss. schon sattsam die Spitze gewiesen hat.« Dieser J.H. Zopf aber hatte 1733 in seiner in Duis burg erschienenen »Diss. de Vampyris Serviensibus« festgestellt, wie Ranft sagt: »Der Teuffel ist die würckende Ursache derer Vam pyren, wie der Herr Verfasser § 18 und 37 behauptet. E. ist er allmächtig also folgt es aus der hypothesi; Die Materie hat ein Leben und würckende Krafft. E. ist sie allmächtig, ewig, unendlich, vernünfftig und geistlich.« 1736 erschien in Berlin im I. Band von Tharsanders »Schauplatz vieler ungereymter Meinungen und Er zehlungen« die Nachricht »Die aufhockenden Toten von Hozeploz: In Schlesien, und zwar in einem Dorfe Hozeploz genannt, sollen die Menschen nach dem Tode sehr oft zu den ihrigen zurückkommen, mit ihnen essen und trinken, ja gar mit ihren hinterlassenen Weibern sich fleischlich vermischen. Wenn reisende Leute zu der Zeit, da sie aus den Gräbern herauskommen, durch das Dorf passieren, lauffen sie ihnen nach und hucken ihnen auf ihre Rücken.«
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(Hier ist zu Fluß und Ort deutsch Hotzenplotz, tsche chisch Osoblaha, polnisch Osobloga anzumerken, daß der Name die Wiedergabe des boiotischer Flußna mens Asop-ós darstellt = Sumpf-Fluß, woraus Asopia ga = Moor-Land, als poetische Umschreibung von Boiotien. Und Asopia ga ergibt lautgerecht slawisch Osob-la-ha = Osoblaha = Osobloga = Hotzenplotz). 1754 erschien in Braunschweig bereits die 2. Auflage des Buches von Johann Friederich Weitenkampf »Ge danken über wichtige Wahrheiten aus der Vernunft und Religion«, der sozusagen abschließend folgende »Meinung über die serbischen Vampyrs« vorträgt: »Was bleibt übrig und welches ist das vernünftig ste? Wir werden natürliche Ursachen annehmen müs sen, um die Sache ins Licht zu setzen. Ich behaupte eine Meinung, welche mir am vernünftigsten und na türlichsten scheinet. Ich behaupte nämlich, daß in dem Dorf eine gewisse Art von einer ansteckenden Krankheit gewesen, welche den scheinbaren Tod die ser Personen zuwege gebracht hat. Jedermann wird mir zugeben 1) daß in keinem Lande mehr ansteckende Krankheiten und Seuchen graßie ren, als in der Türkey. Servien aber liegt an den Tür kischen Grenzen. 2) Arnod Paole hat von der vergifte ten Erde des Grabes eines Vampyrs gegessen, ja sich Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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sogar mit seinem Blut beschmieret. Hier hat sich also die Seuche angesponnen ... 3) Darauf haben die Leute von den Schaafen gegessen, welche mit eben dieser Seuche behaftet gewesen, und das Gras auf den Grä bern der Vampyrs gefressen, das von den Ausdün stungen und subtilhauchenden Gift inficiert gewe sen. ... Sie haben sich ferner mit dem Blut der Vam pyrs bestrichen. ... 6) Man hat die Körper der Vam pyrs verbrannt, wodurch die Ausdünstungen verhin dert, folglich die Seuche vertrieben worden. Das Feuer hat die Kraft vergiftete Dünste aufzulösen, zu trennen, zu verzehren, und dem Uebel ein Ende zu machen.« Spätestens 1770 begann mit Aufzeichnungen von Voltaire, 1791 mit solchen von Carl von Knoblauch zu Hatzbach, 1820 mit Charles Nodiers Überlegun gen »Vampirismus und romantsiche Gattung«, 1840 mit Josef von Görres »Über Vampyre und Vampyri sirte« ein Zeitalter, in dem der Vampirglaube völlig verwandelt wurde einerseits in Spott und Ironie und tiefere Bedeutung, andererseits aber in ein herrliches Sujet der literarischen Zunft, den Lesern angenehmes Schaudern über die Schultern zu jagen. Am schönsten geschieht das durch die entsetzlichste aller Vampirgeschichten, die der Vetter von Leo Tol Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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stoi, der Graf Alexej Konstantinowitsch Tolstoi (1817–1875), in seiner »Familie der Wurdalaken« aus slawischem, vor allem: serbischem, Volksglauben niederschrieb (und die Bruno Goetz ins Deutsche ad äquat übersetzte) zuletzt in: Unheimliche Geschich ten, Manesse, Zürich 1956).
Die Dichter und die Vampire Völker und Sturm schreiben: »Der Typ des ›gotischen Romans‹ ist der gleichen bürgerlichen Herkunft wie der des empfindsamen oder pädagogischen. Eigentlich gesprochen als ein Bannwort gegen scheinbar dreimal Begrabenes, gegen ›Gotisches‹, d.h. gegen Schreck nisse, die man als mittelalterlich, katholisch empfand, lebte er schon in seinen Anfängen bei Horace Walpo les ›The Castle of Otranto‹ (1764) von der Faszinati on seines Gegenstandes ... Potocki hat mit der ›Handschrift von Saragossa‹ die Rationalität noch einmal in die äußerste Prüfung geführt. Das System der natürlichen, Ordnung ging durch eine Feuer- und Wasserprobe der Halluzinati on, der vampirischen Erotik, der Ausschweifung des Geistes, der sich alle Wahrnehmung und alle Erkennt nis in ein Phantasma auflöst. Am Ende sind die Un holde der Nacht wieder gebannt, der Geist ist wieder Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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bei sich, aber auf die hellen Gewißheiten der Enzyklo pädisten sind tiefe Schatten gefallen.« Zu Beginn des Buches heißt es: »Las gitanas de Sierra Morena gie ren carne de hombres« – die Zigeunerinnen der Sierra Morena gierten nach Menschenfleisch. Byrons Arzt William Polidori ist mit seiner Geschich te für die Nachtgesellschaft in der Villa Diodati nicht weit gekommen. Da bemächtigte er sich des Fragmen tes von Byron und veröffentlichte es 1819 als Novelle unter dem Autorennamen Byron. Der wiederum di stanzierte sich vom »Vampyr« deutlich in einem Schreiben, in dem es heißt: »Ich habe nebenbei eine persönliche Abneigung gegen ›Vampire‹, und die Kenntnis, die ich von ihnen habe, könnte mich auf keinen Fall verleiten, ihre Geheimnisse zu enthüllen.« Doch wurde die Novelle rasch zu einem großen Er folg, denn in ihr erschien ein ebenso wirkungsvoller wie simpler Held, der schön und grausam und von ge heimem Unheil gezeichnet ist. Vielleicht darf man in diesem Lord Ruthven ein plakatives Porträt von Byron sehen, den Polidori in dieser Gestalt weiter über die Erde vagieren lassen wird, aber eben als Vampir: während also der gotische Roman immer noch ein »gutes« Ende nimmt, nämlich die Bestäti gung der gesellschaftlichen Ordnung herbeiführt, hat diese Novelle als revolutionäres Unterhaltungsstück Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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erstmals kein seliges Ende. Das hatte selbst in »The Monk« von Matthew Gre gory Lewis noch der Satan herbeigeführt, indem er als strafende Instanz den verruchten Mönch auf das ein drucksvollste in den Abgrund stürzte und dann von der Natur ins Nichts spülen ließ: »... die Wellen ge wannen den Ort, wo Ambrosio lag, und schleppten seinen Leichnam mit sich in den Ozean.« Während es für den Mönch also ein Ende mit Schrecken nahm, er öffnete Lord Ruthven eine neue Generation Gezeich neter, für die der Schrecken kein Ende mehr nahm, für die keine Gnade mehr ist in allen Himmeln und nicht mehr Strafe genug in allen Höllen. In Paris wurde dann durch Charles Nodier der Vampir zur modischen Figur; die Zahl der Vampir dramen und -vaudevilles wuchs ins Unübersehbare; und die Vampire verschonten auch das Musiktheater nicht. Am berühmtesten wurde Marschners Oper »Der Vampyr«, die 1828 in Leipzig uraufgeführt wurde. Auch Lautréamonts schrecklicher schwarzer Engel Maldoror, der im 1. Gesang den Beinamen Vampir trägt und dem nichts so gut schmeckt wie das hoch warme Blut eines Kindes, kennt die Melancholie des Gezeichneten, den unersättlichen Durst nach Unend lichkeit. Die Ahnenreihe dieses Panegyrikers kristalle ner Grausamkeit ist deutlich erkennbar. Und als einer Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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der letzten Nachfahren Melmoth' trägt Apollinaires »Juif Latin« als Fibel Calmets »Les Vampires de la Hongrie« in der Tasche. Das Pseudonym »Sebastian Melmoth« aber, das sich Oscar Wilde selbst nahm, beurteilt Hugo von Hofmannsthal: »Dieser Name war die Maske, mit der Oscar Wilde sein vom Zuchthaus zerstörtes und von den Anzeichen des nahen Todes er starrtes Gesicht bedeckte, um noch einige Jahre im Dunkel dahinzuleben.« Während also Gautier und Swinburne die sinnlichsten Ausformungen dieses Motivs erdachten, entdeckte Iwan Turgenjew in seiner Novelle »Gespenster« die spirituellste. Doch wurde die Frau, die den Geliebten ins Grab nachholt, die Liebesvereinigung im Tod, der Tod selbst als deren einzige Form, der nekrophile Or gasmus, »das Grab als das einzige Ehebett« (so Les lie A. Fiedler) zum Gemeinplatz einer auf paradoxe Weise realistischen Literatur. Vielleicht aber auch an der überragenden Gestalt sei nes Gegenspielers van Helsing, der – als Übervater allwissend und tyrannisch – besorgt sich lange nur in dunklen Andeutungen und raunenden Weissagungen ergeht, ehe er gegen Ende des Romans einen wortrei chen »wissenschaftlichen« Vortrag über die Vampire, ihre Beschaffenheit, Herkunft und Fähigkeiten, und Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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wie man sie zu bekämpfen hat, hält. »Hier erhebt sich«, wie Völker und Sturm 1968 schreiben, »ein viel gegenwärtigeres Ungeheuer als der jahrhundertealte walachische Graf: das Leitbild des überlegenen, alles durchschauenden Führers, der Verschwiegenheit und Gehorsam fordert, damit er nicht durch die Zweifel der Aufgeklärten behindert wird ...« Wer sich nun also hinter den papierverklebten Schei ben auf Schloß Dracula am Borgo-Paß lieber in die li terarischen Werke vertiefte, zu denen die Berichte über den Vampirismus Anlaß gaben, nun wird man als die wichtigsten romanhaften Erzählungen wohl empfehlen dürfen – Nikolai Gogol: Der Wij (dt. von Alexander Elias berg, Stuttgart 1961) – Ch.R. Maturin: Melmoth the Wanderer. Lincoln 1961 – Guy de Maupassant: Der Horla (dt. von Hanswil helm Haefs, in: Hexen, Teufel und Dämonen. Haff mans Verlag, Zürich 1990) – William Polidori: The Vampyre, a tale. London 1819 – Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa (aus Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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dem Französischen von Louise Eisler-Fischer, dem Polnischen von Maryla Reifenberg, hg. und kom mentiert von Roger Caillois, Insel-Verlag, Frank furt/Main 1961, bzw.: Die Abenteuer in der Sierra Morena oder Die Handschrift von Saragossa (aus dem Französischen und mit Anmerkungen versehen von Werner Creutziger, aus dem Polnischen von Kurt Harrer, Gesamtrekonstruktion des Textes von Leszek Kukulski. Haffmans Verlag AG, Zürich 1984) – Bram Stoker: Dracula. New York 1897 dito: Dracula's Guest. London 1914 – Tolstoi, Graf Alexej K.: Der Vampir (dt. von Ar thur Luther, München 1922) dito: Die Familie des Vampirs (dt. von Eva Luther, München 1923; auch als »Die Familie des Wurdalak« übersetzt) – Iwan Turgenjew: Gespenster (in: Gesammelte Werke, Bd. 5, dt. von Johannes von Günther, Ber lin 1952)
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Die Filme über Graf Dracula
1930 trat in »Dracula« von Tod Browning zum ersten Mal Bela Lugosi als Titelheld auf 1932 drehte Carl Theodor Dreyer nach »Carmilla« von Sheridan Le Fanu »Vampyr« 1943 schuf Robert Siodmak nach einer Erzählung von Curt Siodmak »Son of Dracula« 1954 entstand in der Türkei »Drakula Istambulda« (Dracula in Istanbul) 1958 trat in »Horror of Dracula« (deutsch: Dracula) zum ersten Mal Christopher Lee mit Peter Cushing auf, womit die englische Firma Hammer-Films eine ganze erfolgreiche Reihe eröffnete und Christopher Lee seine große Karriere begann 1967 schließlich schuf Roman Polanski mit »The Fearless Vampire Killers« (deutsch: Tanz der Vampi re) die großartigste Parodie auf das Thema »Dracula und die Vampire« überhaupt.
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Hanswilhelm Haefs
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Und nun lautet die Frage:
was ist »nutzloses Wissen«?
Wenn z.B. ein junger Sinologe (= Erforscher chinesi scher Sprachbilder von sinischen Weltvorstellungen) 1959 auf Taiwan in Taipei mit dem 10bändigen Chiu Man-chou Tang = CMCT = Mongolisch- und Man dschu-sprachige Aktensammlung in Facsimile zusam menstößt, dann kann es geschehen, daß in ihm Wis senschaft erwacht. Nun ist Wissenschaft nicht etwa ein Gebirge an Wissen, auf dessen Gipfel der Wissen schaftler stolz steht und auf das niedere Volk gütig (oder verachtungsvoll) herabschaut. Es ist vielmehr jene kindliche unstillbare Neubegier, die ihn von einem Warum? zum anderen fragen läßt und ihn so zu Antworten geleitet, die ihm zusammen mit den Fragen Wissen schafft. Oder genauer: die ihn nach und nach an der Rheini schen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn ein In stitut für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasi ens aufbauen läßt, das heute weltweit führend ist – oder leider (besser gesagt) war. Denn dank massiver Einsparungen im nordrheinwestfälischen Hochschul wesen und durch Neid und Eifersucht behinderter un gelöster Berufungsprobleme muß das weltberühmte Institut mitsamt seinem letzten Direktor Prof. Dr. Mi Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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chael Weiers in Rente bzw. ins Nichts gehen. 1964 hat die Kulturbürokratie NRWs das Seminar an der Bonner Universität gegründet; der 1. Direktor Prof. Heissig baute es zu einem Institut für buddhistisch-la maistische Mongolistik aus, der 2. Direktor Prof. Sa gaster ließ es zu einem Seminar für lamaistische eso terische Tibetologie verkommen; erst der 3. Direktor Prof. Weiers machte aus ihm – wie gesagt – das welt weit führende Institut für Zentralasiatistik. Jetzt aber gibt es weder das Institut mehr, noch die Mandschuristik weiterhin im Fächerspektrum deut scher Universitäten. Von so belanglosen Nebener scheinungen wie Tungusologie oder Sprachkontakten zwischen dem Tungusischen und dem Giljakischen, oder gar systematischer linguistischer Erforschung des Mongolischen ganz zu schweigen. Mandschuristik dient der Erforschung von Sprache und Literatur, Geschichte und Kultur der südtungusi schen Mandschu (wie sich die »Aisin-Nation« seit 1635 offiziell nennt, ehe sie zur Dynastie der Oing als Träger des »Mandats des Himmels« über China wurde, als die sie bis 1911 herrschte). Ihre Sprache und Schrift waren bis zuletzt in Beijing als Amts- und Hofsprache in Gebrauch, obwohl sich die einfacheren Mandschu längst ins Chinesische eingebettet hatten. Zwar bedeutete das weitgehend den Sprachtod des Mandschurischen, machte das Mandschu zugleich Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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aber zur wichtigsten Quellensprache für die Geschich te Ost-Zentralasiens vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Unter dem törichten Han-ideologischen Zwang, den der brutale Massenmörder Mao Zedong ausübte, gin gen Sprache wie Kultur der Mandschu unter. Doch ab etwa 1970 brachte ihnen die Volksrepublik China neu erwachendes Interesse entgegen. Mandschu durfte wieder gesprochen werden, Volksschulen mit Man dschu-Lehrern entstanden. Und als das Bonner Zen tralasiatische Institut aufblühte und sich höchst er folgreich mit dem Mandschu der Qing-Kaiser und ihrer Beamten beschäftigte, entsandten chinesische Universitäten nach und nach ihre promoviertet Dokto ren des Chinesischen nach Bonn, um sich dort auch in Schrift und Sprache der Mandschu-Vorgänger ausbil den zu lassen. Diese Entwicklungen gipfelten für die Wissen schaft 2000 mit der ersten »International Conference on Manchu-Tungus Studies«, die über 100 Teilneh mer aus Deutschland und Italien, Ungarn und Ruß land, der VR China und Japan, und sogar den USA in Bonn versammelte. Denn sie alle hielten es mit Karl Popper: »Wissenschaft ist nicht Besitz von Wissen, sondern Suche nach der Wahrheit«, und Jorge Luis Borges: »Geschichte ist organsierte Kausalität«, und Manfred Hanisch: »Geschichtswissenschaft dient oft dazu, das Bestehende zu rechtfertigen.« Vor allem Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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aber mit Ivana Winklerová: »Eine jegliche Wahrheit hängt von ihrer Definition ab.« Ihnen allen ist die textphilosophische Erschließung mandschurischer Texte als Grundlagen- und Brücken wissenschaft zum eigentlichen Kern der Mandschuri stik geworden. Als übergroßer Teil der Aktenfaszikel in Mandschurisch seit dem frühen 17. Jahrhundert (von denen dank der Zufälligkeiten der geschichtli chen Abläufe und den Eigenarten der »chinesischen« Hofhistoriographie bis heute mindestens anderthalb Millionen überlebt haben dürften, stellen sie einen (noch) weitgehend ungehobenen Schatz des Wissens über Anfang und Vorgeschichte wie Frühzeit der Qing dar. Wer also »die Wahrheit« über die wichtig sten Teile der ostzentralasiatischen Geschichte seit dem 17. Jahrhundert erfahren will, der muß sich dem Studium des Mandschurischen widmen, solange die unsägliche Dummheit nordrhein-westfälischer Kultur bürokraten ihnen diese Möglichkeit in Bonn noch läßt. Eine Dummheit, die in rebus manjuricis völlig die große wissenschaftliche Bedeutung dieser Zentralasia tistik übersieht, die immerhin inzwischen bereits die Forschung zu diesen Fragen in einen guten Anfang gebracht hat. Eine Dummheit, die völlig übersieht, daß gerade diese Forschung »wesentlich« wird und durch ihr Gewühle in der »Steinzeit« gerade der Mo Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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derne unendlich viel zu geben hat, da die aufzudek kenden »steinzeitlichen Verhältnisse« eben die Mo derne in den Autonomen Gebieten der Volksrepublik China eben heute ganz wesentlich beeinflussen. Doch eine solche Forschung mit so hoher Anerkennung in der Welt will Nordrhein-Westfalen offenbar über haupt nicht, das sich wohl lieber einer esoterisch aus gerichteten buddhistischen Lama-Tibetologie ver schreibt. Es soll also keine Mandschu-Tungusologie, keine zentralasiatische Turkologie, keine planprofessorisch vertretene Mongolistik mehr in Deutschland geben. Die Zentralasienwissenschaft, wie sie sich in den letz ten 10 Jahren in Bonn so blühend und fruchtbar ent wickelt hat, soll es nicht mehr geben, denn sie ist auch den orthodoxen »Kapazitäten« zuwider, die sich für Mandschu und Turkologie nicht interessieren, und denen eine der modernen Entwicklung der Welt höchst nützliche Zentralasienwissenschaft unwesent lich erscheint. Stattdessen scheinen sie jener »großen Zeit« nach zuweinen, die 1933 ausbrach, als die Demokratie Weimars zusammenbrach. Mit der Rückstrukturie rung der Fächer scheint ihnen zu gelingen, das Rad endlich zurückzudrehen. Über dieses leidige Problem hat übrigens Rüdiger Sünner ein höchst lesbares und ausgezeichnet belegtes Buch geschrieben: Schwarze Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Sonne – Entfesselung und Missbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik (Herder Verlag, Freiburg 1999). Welch reiche Wissensbestände aber in den Man dschu-Texten, die untersucht zu werden nötig sind (aber von der nordrhein-westfälischen Universitätstor heit untersagt wird), verborgen sind, mag die nachfol gende kleine Liste von Forschungsarbeiten von Mi chael Weiers belegen, der übrigens bereits 1986 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, das schöne und ungemein reichhaltige Buch »Die Mongolen. Beiträge zu ihrer Geschichte und Kultur« herausgebracht hat. Weiers, Michael: Mongolische Reisebegleitschreiben aus Tschagatai. In: Zentralasiatische Studien (ZAS) 1/1967, S. 7–54 – Bericht über Sammeltätigkeit in Taiwan (man dschurische Originalakten). In: ZAS 6/1972, S. 585–601 – Das Verhältnis des Ligdan Khan zu seinen Völker schaften. In: Serta Tibeto-Mongolica, Festschrift Heissig 1973, S. 365–379 – Zwei mandschurische und mongolische Schreiben des Sure Han aus dem Jahre 1635. In: ZAS 9/1975, S. 447–477 – Ein Schreiben südmongolischer Stammesfürsten an Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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den Mandschuherrscher Sure Han aus dem Jahre 1636. In: Tractata Altaica, Festschrift D. Sinor, 1976, S. 755–766 – Die Kuang-Ning Affäre, Beginn des Zerwürfnisses zwischen den mongolischen Tsakhar und den Mandschuren. In: ZAS 13/1979, S. 73–91 – Mandschu-mongolische Strafgesetze aus dem Jahre 1631 und deren Stellung in der Gesetzgebung der Mongolen. In: ZAS 13/1979, S. 137–190 – Die Verträge zwischen Rußland und China 1689–1881. Facsimile der 1889 in Sankt Peters burg erschienenen Sammlung mit den Vertragstex ten in russischer, lateinischer und französischer sowie in chinesischer, mandschurischer und mon golischer Sprache. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Weiers, Bonn 1979 – Specimina mandschurischer Archivalien aus der K'ang-Hsi-Zeit (5 Schriftstücke aus dem Briefver kehr des Kaisers mit dem Bannermarschall Anjuhu zu Fengtina = Mukden über Handels- und Wirt schaftsfragen im Zusammenhang mit schweren Erdbeben: 1. der Kaiser fordert Berichte über Erz mutungen im Bannergebiet an am 22.X.1679, 2. der Immediatbericht über den Mutungsbefund vom 22.X.1679, 3. die kaiserliche Kabinettsorder über weiteres Vorgehen vom 12.XII.1679, 4. Kabinetts order über die Vorbereitung einer großen Jagd nach Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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der Befriedung Yunnans vom 16.I.1682, 5. zusätz liche Order vom 10.III.1682 über den Termin der Jagd). In: ZAS 14/1980, S. 7–40. Gesetzliche Regelungen für den Außenhandel und für Auswärtige Beziehungen der Mongolen unter Kangxi zwischen 1664 und 1680. In: ZAS 15/1981, S. 27–52 Der russisch-chinesische Vertrag von Burinsk vom Jahre 1727 (zur mandschurischen und der mongoli schen Textfassung des Sbornik). In: Asiatische Forschungen, Band 80, Florilegia Manjurica in me moriam Walter Fuchs, 1982, S. 186–204 Aus der Poesie der Mogholen. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricum, Band XXXVI (1–3, S. 563–574, Budapest 1982/83) Zu den mongolischen und mandschurischen Akten und Schriftstücken des 17. bis 20. Jh.s (1. ein Schriftwechsel zwischen Mandschuren und Khort sin-Mongolen über ihren Bündnisvertrag vom 29.VI.1626, 2. eine Rechtsbelehrung des Man dschuherrschers Abahai an die Dörben KeükedMongolen vom 13.II.1631, 3. eine GlückwunschThroneingabe mongolischer Adliger an Kaiser Kang-hsi aus dem Jahre 1722 als Beleg für seine damalige Beliebtheit und als Paradigma des Bau schemas solcher Eingaben, 4. drei Texte von 1778 zur rechtlichen Regelung eines Finanzunterschleifs
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in der niedrigen Beamtenschaft, 5. eine von 1652 datierte Liste der Pflichtabgaben der höchsten Lamas – Dalai, Pantschen, Kutukhtu –, aus der ihre hierarchische Rangfolge und ihr politisches Gewicht deutlich wird, 6. ein Reisebegleitschreiben vom 1.VI.1907 für 2 Russen durch die Mongolei als Beispiel technolektisch organisierten Amtsmon golisch). In: Archiv für Zentralasiatische Ge schichtsforschung, Heft 3/1983, S. 71–120 – Der Mandschu-Khortsin Bund von 1626. In: Socie tas Uralo-Altaica. Band 18, Festschrift Heissig, 1983, S. 412–435 – Münzaufschriften auf Münzen mongolischer IlKhane aus dem Iran (Teil I in: The Canada-Mon golia Review/La Revue Canada-Mongolie, Vol. 4, Nr. 1, S. 41–62, University of Saskatchewan 1978; Teil II in: Ural-Altaische Jahrbücher, NF Band 4, S. 171–186, Verlag Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1984; Teil III in: dito Band 5, S. 168–186, 1985) – Bemerkungen zum mongolischen nomen buschin/ bischin und seiner diasystematischen Differenzie rung. In: ZAS 18/1985, S. 68–89 – Zur Stellung und Bedeutung des Schriftmongoli schen in der ersten Hälfte des 17. Jh. In: ZAS 19/1986, S. 38–67 – Die Mandschu-mongolischen Strafgesetze vom 16. November 1632. In: ZAS 19/1986, S. 88–126 Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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– Die Vertragstexte des Mandschu-Khalkha Bundes von 1619/20. In: Aetas Manjurica, tomus 1/1987, S. 119–165 – Bemerkungen zu mongolischen Ortsnamen. In: Ural-Altaische Jahrbücher, NF Band 7, S. 233–240, Wiesbaden 1987 – Der erste Schriftwechsel zwischen Khalkha und Mandschuren und seine Überlieferung. In: ZAS 20/1987, S. 107–139 – Zum Verhältnis des Ch'ing-Staats zur lamaistischen Kirche in der frühen Yung-Cheng Zeit. In: ZAS 21/1988/89, S. 115–131 – Bemerkungen zu einigen sprachlichen Eigenheiten des Südostmongolischen im 17. Jahrhundert. In: Gedanke und Wirkung – Festschrift zum 90. Ge burtstag von Nikolaus Poppe, Harrassowitz, Wies baden 1989, S. 366–372 – Mongolenpolitik der Mandschuren und Mandschu politik der Mongolen zu Beginn der dreissiger Jahre des 17. Jahrhunderts. In: ZAS 22/1989–91, S. 256–275. (Originaltexte + Transliteration + Übersetzung + Kommentar). Da heißt es etwa: »Dem Tüsiyetü Khan haben wir das Schreiben ge schickt.« (Nämlich: »Worte des Secen Khan«). »Zur Zeit solltet ihr den Tsakharherrscher nicht fürchten!« Oder ein anderes Schreiben beginnt so: »Die Khane der Urad-Völkerschaft des Nordens: Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Taikhu, Kümü Khung Baghatur, Coghtu Böke Noyan, Tuba Erke Taij`´i, Khabu Neici Noyan, Tümen Darkhan Taij´`i, Mujai Dural Noyan, Tui Khatan Baghatur; für diese ein Schreiben mit den Worten des Khans.« – Mandschurische Dokumente zu einer neu eingeführ ten Kanzleipraxis der frühesten Yung-cheng-Zeit. In: Aetas Manjurica, Tomus 2, bei Otto Harrasso witz, Wiesbaden 1991, S. 254–270. (Originaltexte + Übersetzung + Kommentar). Es handelt sich um Fragen hinsichtlich des Edikts des »Yung-cheng Kaisers« von 1723, wonach alle Throneingaben, die bisher vom jeweiligen Kaiser an die Absender zurückgeschickt wurden, ebenso aus der Zeit des »K'ang-hsi Kaisers« wie aus der Regierungszeit Xung-chen an den Thron zu retournieren waren. – Nurhacis Verlautbarungen über die Staatsführung aus dem Jahre 1622 und ihre Überlieferung. In: Aetas Manjurica, Tomus 3, O.H., Wiesbaden 1992, S. 432–479. (Originaltext + Transliteration + Varianten + Übersetzung + Kommentar + Ein bettung in die historischen Gegebenheiten der Ver lautbarungsentstehung). 1583 hatte Nurhaci begon nen, für den Erfolg seiner Dschusen im östlichen Zentralasien zu wirken; 1616 gründete er offiziell die aisin guru (= Aisin-Nation), zugleich aber auch die neue Wehrordnung der Dschusen (die sich erst Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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später »Mandschuren« nannten). – Argun aller Alten Herren, Cingiz aller Könige, und die nächtliche Reise des Propheten. In: Acta Orien talia Academiae Scientiarum Hung. Tomus XLVI (1), 16–79 (1992/93); Akadémiai Kiadó, Budapest (S. 61–79). Mongolische Tradition und muslimi sche Inkulturation in der Dichtung der Mongolen von Afghanistan. Wann die Moghol für ihre Mischsprache aus dem Mongolischen und dem Per sisch-Tadschikischen das Schriftmogholi zu ver wenden begonnen haben, ist unbekannt. Nach dem Vorbild der persischen Literatur aber haben auch sie ein vorwiegend poetisches Schrifttum entwik kelt. Und hier feiert ein Bitt- und Loblied den IlChan Argun und den Großchan Tschinggis-Chan. – Das Schriftmogoli der Mongolen von Afghanistan – ein Abriß. In: ZAS 23/1992–93, S. 60–66. Dieser erste Abriß soll die Lücke zu schließen helfen, die durch das Fehlen jeglicher systematischer Untersu chung des Schriftmogoli entstand. Beeinflußt wurde das urspr. Mongolisch durch die Schreibung in arabischen Buchstaben, die arabische und die persisch-tadschikische Sprache und Kultur. – Die historische Dimension des Jade-Siegels zur Zeit des Mandchuherrschers Hongtaiji. In: ZAS 24/1994, S. 119–145. (Originaltext + Übersetzung mit kommentierenden Anmerkungen). Aus dem Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Text geht hervor, daß der Chan der Chalcha-Mon golen auf den Anspruch verzichtet hatte, die JadeGroßherrschaft des Ligdan Chan zu bewahren, und anerkannte, daß Herrschaft wie Entscheidungsge walt nunmehr in den Händen des Mandschu-Herr scher Hongtaiji lägen. – Materialien zur Vorgeschichte der Qing-Dynastie – Einleitung. In: dito, hg. von Giovanni Stary, bei Harrassowitz, Wiesbaden, 1996; S. 1–10. 1616 hatte Nurhaci den Aisin-Staat aisin gurun (= Gol dene Nation = Staat) gegründet, der sich 1636 in Qing umbenannte. Seinen ersten Herrscher Nurhaci nannte man Sure kundulen han (= weiser und zu re spektierender Herrscher), wobei kundulen ein Eh rentitel der mongolischen Khortsin-Nation ist. Nach Nurhacis Tod 1626 trat von 1626 bis 1636 sein 8. Sohn Hongtaiji die Herrschaft an; unter ihm gelangte 1635 die Bezeichnung manju offiziell zur Einführung. Bis heute ist die Geschichte des AisinStaates ebensowenig geschrieben, wie die seiner Vorgänger. Allerdings gibt es Originalakten, etwa das 1786 in Auftrag gegebene Werk DGFDN, für die Jahre 1607–1632 und 1636 die ab 1775 zu sammengestellte Aktensammlung TFSHD, für die Jahre 1632–1660 die ebenfalls mandschurische Aktensammlung GSYD. Ihrem Inhalt nach völlig unbekannt sind ca. 3000 mongolisch-sprachige Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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Schriftstücke im den Ersten Historischen Archiven Chinas zu Beijing (= Peking). Und seit 1969 ist in Taipei das CMCT erschienen, eine 10bändige Sammlung von 5377 mandschu- und monglisch sprachigen Texten im Facsimile-Druck. Wenn man diese Originale mit ihren späteren »amtli chen« Fassungen vergleicht, ergibt sich, daß diese Fassungen die Originalnotizen entweder ganz auslas sen oder nach der jeweiligen Regierungsintention bis zur Unkenntlichkeit verändern; auf dem Rechtsgebiet läßt sich oftmals nicht erkennen, warum jemand über haupt bestraft wurde, dessen Bestrafung in aller Aus führlichkeit geschildert wird; weibliche Personen wer den als Männer uminterpretiert usw.; insgesamt sind die Ereignisse des 17. Jh.s bisher nur in den gröbsten Zügen bekannt. Die gängige Meinung, sei im Allge meinen ausreichend unterrichtet, ist also völlig falsch – sowohl im Westen wie auch in China selbst. Und damit ist auch das Bild der Tungusen – als Dschürtschen und Jin, als Dschusen und Mandschu und Qing – im vergangenen Jahrtausend im östlichen Eurasien (sowie ihr bedeutendes Nachwirken bis ins heutige China) völlig unbekannt. Hinzu kommt dann auch noch das Beziehungsgeflecht zu Korea, über das im DGFDN immerhin noch 22 eigene Kapitel zu be richten wußten. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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– Zum Mandschu-Kharatsin Bund des Jahres 1628 – Der altan tobci Text. In: ZAS 26/1996 (S-84–121). (Originaltext + Transliteration + Übersetzung + Kommentar) Den Kharatsin wird in diesem Vertrag von 1628 aufgetragen, weder mit den Ming-Chine sen noch mit den Tsakhar-Mongolen (die beide mit den Mandschu verfeindet waren) ohne vorherige Absprache mit den Mandschu Kontakt aufzuneh men oder zu pflegen. – Herkunft und Einigung der mongolischen Stämme: Türken und Mongolen. In: Die Mongolen in Asien und Europa; hg. von Stephan Conermann und Jan Kusber, Peter Lang-Verlag, Berlin 1997. Hier wird als erstes Ergebnis eines Blickes auf die Herkunft und die Einigung der mongolischen Stämme die Frage ansatzweise beantwortet, wie sich aus Tür ken und Tungusen und Mongolen ebendas »Reich der Meng-Leute«, der »Weißen« bildete, das Erste Mongolische Reich. Und entschieden darauf hinge wiesen, daß, Tschinggis-Chan aber auch alles im mongolischen Leben neu geordnet und gedeutet hat. Diese ganze Vorgeschichte, die seiner Zeit vor auflag, ist für das Verständnis der Mongolen wie ihres Tschinggis-Chan ebenso unverzichtbar, wie die Zeit des Julius Caesar für das Verständnis der späteren Italiener und Franzosen, Rumänen und Spanier, und Rätoromanen usw. Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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– Die unruhigen Grenzen des Aisin-Staates Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre des 17. Jahrhun derts. In: Gimm/Stary/Weier: Beiträge zur Ge schichte, Sprache und Kultur der Mandschuren und Sibe; Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1998 (S. 194–249). (Textbeispiele der Originale in Mongo lisch bzw. Mandschu bzw. Chinesisch) Die aus dem Material gewonnenen Notizen über die unruhi ge Grenze 1626–1633 machen ungemein deutlich, wie wichtig gründliche Untersuchungen zur Quelle nauffassung der Vorlagen der urspr. Kopiare wären; inzwischen könnte man diese Materialien als dangse = Quellen bezeichnen. Sobald diese Un tersuchungen vorliegen werden, wird man histo risch-kritisch die zeitgleichen mongolischen wie chinesischen Quellen zu erforschen haben: um dann den Stand zu erreichen, von dem aus man erstmals die für den Beginn der Qing-Dynastie Chinas so wichtige Aisin-Zeit auf wissenschaftlich nachvoll ziehbar gesicherter Grundlage darzustellen vermag. – Zur Registratur der mandschurischen Holztäfelchen über Ajiges Invasion der Ming im Jahre 1636. In: Gimm/Stary/Weiers: Beiträge zur Geschichte, Sprache und Kultur der Mandschuren und Sibe; Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1998 (S. 251–313) Facsimiles der Holztäfelchen, Überset Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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zung ausgewählter Stücke, Kommentierung. Die Kommentierung macht deutlich, daß bei einer Um wandlung der Holztäfelchen in einen normalen Text keinerlei verfälschende Eingriffe festzustellen sind. Daß vielmehr der Verfasser der Um-Schrei bung geradezu redaktionelle Aufgaben löste, indem er die Formulierungen eleganter, die oft geradezu telegraphisch »unverständlichen« Passagen ins Verständliche ausweitete usw. – Temüdschin der Schwurbrüchige. In: ZAS 28/1998, S. 31–44. Die Erörterung der entsprechenden Stelle aus der »Geheimen Geschichte der Mongolen« ver deutlicht überaus überzeugend, was alles man in einem mongolischen Text über die historische Wirklichkeit zu erfahren vermag, wenn man nur all die Finessen versteht, die der anonyme Autor sich erlaubt hat: etwa den Einsatz eines den damaligen Mongolen völlig unbekannten türkischen Lehnwor tes, das hier ein einziges Mal in der damaligen Zeit verwendet wird, um eine ganz bestimmte Handlung und Haltung zu begründen und zu beschreiben. – Die Eingliederung der Kharatsin 1635. In: ZAS 29/1999, S. 37–81 (Originaltext Mandschu – Übersetzung ausgewählter Stücke – Kommentar) Diese Materialien lassen erkennen, welche wirt schaftliche Bedeutung gerade die Kharatsin hatten. Und wie unfroh die spätere Mandschu-Kaiser dar Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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über waren, hätte doch das Wissen um diese Be deutung ihren Ruf als souverän agierende Personen heftig verletzen können. – Ein Blockdrucktext betreffend die orthographische Präzisierung der Buchstaben ohne Punkte und Kreise durch Dahai. In: ZAS 29/1999 S. 87–96. Traditionell gilt Dahai als der Mann, der 1632 die »Schrift ohne Punkte und Kreise« zu der Schrift ge macht hat, die »man mit Punkten und Kreisen ver sehen hat«, und zwar zur Erleichterung von Proble men, die auftraten als die Mandschuren von den Mongolen die uighurisch-mongolische Schrift übernahmen. Der Blockdrucktext läßt nun aber er kennen, daß Dahai lediglich den Auftrag hatte, »Personennamen und Territorialnamen« in einer unmißverständlichen Schreibart darzustellen. Diese Richtigstellung des Vorgangs läßt aber Dahai auch weiterhin als große Persönlichkeit in der Entwick lung der mandschurischen Schrift auftreten. – Die politische Dimension des Jadesiegels zur Zeit des Mandschuherrschers Hongtaiji. In: ZAS 30/2000; S. 103–124. (Facsimile des Originaltex tes in Mandschu + Übersetzung von entsprechen den Auszügen + Kommentierung) Die Erfindung des Hongtaiji der Siegelgeschichte bzw. einer »Ge schichte mit dem Jadesiegel« als Zeichen eines Ein heitsstaates dürfte bei der Mehrheit der Aisin-Be Digitale Bibliothek Sonderband: Das digitale Handbuch des nutzlosen Wissens
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völkerung die Eingliederung der Tsakhar legiti miert und so auch seine Herrschaft gefestigt haben. – Zum Textmaterial der Aisin-Zeit und seiner Quelle nauffassung. In: ZAS 30/2000; S. 126–141. Hier wird deutlich, wie sehr die unterschiedlichen Quel lenauffassungen mancher Mandschu-Autoren in den langsam immer häufiger der Wissenschaft zu gänglich werdenden Originalakten deren genaue Übersetzung bzw. Interpretation beeinflussen kön nen. All dieses Wissen, ein unendlicher Reichtum auch für Nordrhein-Westfalen, durch die Universitätsbürokra tie abzuschaffen, bzw. dessen weitere Vertiefung ge radezu zu unterbinden, das macht »Wissen nutzlos«.
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