Michael H. Buchholz und Rüdiger Schäfer
SunQuest Band 4
Hort des Wissens
Fabylon
Das erste große Ziel ist nahe – d...
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Michael H. Buchholz und Rüdiger Schäfer
SunQuest Band 4
Hort des Wissens
Fabylon
Das erste große Ziel ist nahe – das Zentralarchiv, der geheimnisvollste Ort von Less, der keine Türen hat, und in dem die legendären Bibliothekare leben, deren Identität niemand kennt. Shanija Ran will hier erfahren, ob und wo die Urmutter existiert, und ob endlich Aussicht auf Heimkehr besteht. Die Zeit für die Menschheit läuft ab, und auch der Ewige nähert sich unaufhörlich. Der vierte Band des sechsbändigen Zyklus um die DreiSonnen-Welt im Sternbild Schwan. Eine Welt, in der es keine elektronische Technik gibt, aber Psimagie – und tausende Völker der Milchstraße, denn wer hier einmal gestrandet ist, kommt nie mehr weg.
Die Beteiligten Michael H. Buchholz Jahrgang 1957, seit 1992 freiberuflich als Persönlichkeitstrainer und Mentalcoach tätig. Seit 2000 veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher zum Thema Lebenshilfe, ebenso Hörbücher, Mental-CDs, sowie ein Kartenset zum Training der intuitiven Selbstbefragung, 2004 gelang ihm der Einstieg als professioneller Autor in die ATLAN-Heftromanserie, vor kurzem erschien dazu auch ein Taschenbuch. Rüdiger Schäfer Jahrgang 1965, beschäftigte sich schon früh mit der Science Fiction, publizierte zunächst in Fanzines und Magazinen. Inzwischen schreibt er für die ATLAN-Heftroman- und Taschenbuchreihe neben diversen anderen Veröffentlichungen in Anthologien und Kleinverlagen. Robert Straumann 1956 in Basel geboren und dort heute noch mit Familie lebend, steuert unter anderem Illustrationen für PERRY RHODAN und ATLAN bei und hat die Illustrationen zu diesem Band geschaffen.
Siebter Teil Michael H. Buchholz
Weihezeit
Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch, dass das Unwahrscheinliche eintreten kann. Aristoteles, griechischer Philosoph, 384-322 v. Chr.
1. Windreit blickte ihre Zwillingsschwester Windfang an und sah es auf den ersten Blick. Unmöglich, dachte sie. Und dann: Ich war nur ein Dianoctum fort. Es kann nicht sein. Oder … war sie wieder in ein Zeitloch gefallen? Nein, sie hatte an keinem Punkt ihrer Reise die plötzlich einsetzende Kälte bemerkt, die alle bisherigen Zeitlöcher ausgeströmt hatten, in die sie geraten war. Auch die anderen Begleitumstände, die üblicherweise dabei auftraten, waren ihr nicht erinnerlich: die Blauverfärbung aller sonst grünen Dinge, die blauen Blasen, die von irgendwoher kamen, das schmerzhafte Pochen in den Ohren, die Anfälle von Schwindel, wenn die Kälte ebenso plötzlich, wie sie auftrat, wieder verschwand. Bisher war Windreit, Maris sein Dank, erst dreimal das Opfer von Zeitlöchern geworden. Und jedes Mal war sie an der eisigen Luft fast erstickt. Während für sie selbst im Inneren nur wenige Sekunden verstrichen waren, hatte sich die Welt außerhalb des Zeitlochs rasend schnell bewegt. Stunden waren dann vergangen; einmal sogar ein ganzer, langer Tag. Ein Umkehreffekt zur roten Welt. Bevor Windreit es verhindern konnte, beschwor sie mit diesen Erinnerungen ihren schlimmsten Alptraum herauf – eines Tages in ein inverses Zeitloch zu stürzen, in dem die Zeit sich zu einem Schlund verformte. Sich dabei gleichsam in sich selbst verschlang. Sich derart beschleunigte, dass Windreit die Kraft fehlen würde, den Zeitsog von allein wieder zu verlassen. Sie würde darin festhängen wie ein Stiefel im Schlick, den keine Anstrengung mehr aus seiner saugenden Umklammerung zu befreien vermochte. Windreit schüttelte sich und rief sich still zur Ordnung. Es brachte
nichts, sich selbst verrückt zu machen. Obendrein empfand sie Müdigkeit. Sie hätte, nachdem sie das Noctum durchgewandert war, nunmehr im Stehen einschlafen können. Kein Zustand, in dem sie besonders gut denken konnte. Langsam löste sie die Schlaufen des Schultersacks, der rotstaubig von der Reise war. Der Inhalt klirrte leise, aber nicht so satt, wie die junge Frau es sich gewünscht hatte. Zu viele Sicheln, zu viele Halbmonde, zu wenig Sonnen oder gar Opale. Die Beute war dürftig. Ich hätte es besser wissen müssen!, schalt sie sich. Längst befanden sich alle in der Seestadt, um das bedeutende Ereignis nicht zu versäumen. Es war ein Fehler gewesen, so spät die Reise von sechzig K'lomata hin und zurück zur nächsten Karawanserei anzutreten. Windreit hätte sich viel eher aufmachen müssen, um bei den ersten Anreisenden mit dabei zu sein. Bei denen, die mit vollen Taschen kamen und in der Karawanserei ein letztes Mal ausruhten, ehe sie nach Burundun weiter zogen, wo sie alles verschleudern würden, um ihre Lüste und Launen zu befriedigen. So war Windreit nur noch auf diejenigen gestoßen, die mit nichts als der Hoffnung in ihren Taschen in die Seestadt pilgerten, wo sich die Dinge für sie irgendwie zum Besseren wenden sollten. Was aber nie geschah. Narren, allesamt. Für Windreit bedeutete das, sie musste neuerliche Diebeszüge in der Stadt durchführen, wenige Tage vor dem Weiheruf und damit unmittelbar vor dem Höhepunkt des Festes. Dichte Straßen, verstopfte Plätze, keine Fluchtmöglichkeit, immenses Gedränge. Es war jedes Jahr das Gleiche. Fröhliche Weihezeit. Ehe der Ruf an die künftigen Adepten erging, verwandelte sich ganz Burundun in einen Ort, in dem der blanke Irrsinn fröhliche Urstände feierte. Windreit hatte es dem Reisenden aus Pecktmaginkhor am Vorabend in der Karawanserei zu erklären versucht, aber er hatte es nicht glauben wollen.
»Burundun«, sprach der junge Mann und hob dozierend den Zeigefinger, »ist die edelste Stadt der ganzen Welt. Nur hier wird alles Wissen gesammelt, nichts kommt der Bedeutung des Zentralarchivs gleich. Nur hier heißt man alles Fremde willkommen. Darum wird die Stadt gut zu mir sein.« »Klar«, sagte Windreit und hob den Bierhumpen, damit der Fremde ihre rollenden Augen nicht sah. »Aber sicher doch. Zum ersten Mal hier?« Der Mann nickte mit vor Begeisterung blitzenden Augen. Windreit wischte sich den Schaum von der Nase. »Denk ja nicht, du seist allein, Mann. Unterschiedliches Volk strömt schon ein Lunarium vorher in Scharen herbei.« Sie deutete nach draußen, auf die Straße, die von der Karawanserei über den Pass ins Innere des Kraters führte. Die einzige Verbindung mit den fernen Ostlanden. Direkt neben der Karawanserei lag die Gipfelstation der Dampfplattform. Hier endete die gezahnte Schiene, die in gerader Linie den Kraterhang hinab führte, bis zum Steinernen Hafen von Burundun. Mehrere Male am Tag keuchte die große Plattform den Hang entlang und brachte Lasten hinauf oder hinunter. Passagiere wurden mitgenommen, aber die Fahrt war unverhältnismäßig teuer; die meisten verzichteten dankend, obwohl die Plattform alle Windungen der Straße abschnitt und nur etwa die halbe Strecke zurückzulegen hatte. Zugegeben, der Ritt auf der Zahnschiene sparte Zeit; die Fahrt dauerte nur drei Klänge, während die Straße viele Stunden abverlangte. Das – und wunde Füße. Dafür fraß die einfache Fahrt fünfzig Halbmonde Gebühr. Lachhaft. Für zweihundert Halbmonde hätte sich Windreit ein Gemel kaufen können, auf dessen Rücken sie beinahe ebenso bequem den Hang hätte bezwingen können, wann immer und so oft sie wollte. Doch so viel auf einmal hatte sie nie besessen. Obwohl das Noctum begonnen hatte, ließen etliche die Karawanserei links liegen und machten sich trotz des trüben Zwielichts auf den Weg nach unten. Windreit würde ihnen bald folgen. »Burundun«, klärte sie den Reisenden auf, »platzt schon an nor-
malen Tagen aus allen Nähten. In der Weihezeit aber gerät die Seestadt rund um das Zentralarchiv in einen Zustand, der unbeschreiblich ist. Und den niemand irgendwo sonst auf Less finden wird.« »Du übertreibst«, antwortete der Mann mit dem rotgrünen Turban und strich selbstgefällig über seinen dünn ausrasierten Schnurrbart. Er starrte einen Moment zu lang in den Ausschnitt ihres Wamses und leckte sich dann die Lippen. Entweder schmeckte ihm das Bier oder er stand auf grünhäutige Brüste. Humains und Selachen waren sich im aufrechten Gang und vom Körperbau her durchaus ähnlich. Selachen waren allerdings durchwegs mindestens einen Kopf kleiner. Dafür hatten sie eine widerstandsfähigere Haut und eindeutig die schönere Farbe – es gab nun mal keine grünhäutigen Humains. Und Selachen hatten auf ihren Schädeln keine grässlichen Haare wie die Humains, sondern zwölf über den Hinterkopf verteilte Gelkammern, die am Ansatz halb so dick wie eine Faust waren und sich über eine Länge von rund einer Elle kontinuierlich verjüngten. Von Weitem mochten die Auswüchse für Humains wie Haare aussehen, die zu Schlangen geformt und zu grotesken Frisuren aufgetürmt waren; in Wahrheit enthielt das Gel in den an Tentakel erinnernden Kammern lebenswichtige Anreicherungen von Nähr- und Mineralstoffen. Gesunde Selachen erkannte man an den festen und prallen Falli, die von den meisten kunstvoll verflochten getragen wurden; bei Erkrankten hingen die Gelkammern schlaff und faltig herab. Manche Humains bezeichneten die Selachen als Medusen, was immer das auch bedeuten mochte. Und … die Männlichen fühlten sich von grünbrüstigen Selachinnen häufig sexuell angezogen. Das war in Windreits Fall nur von Vorteil, um die Opfer abzulenken und in Gespräche zu verwickeln, bevor sie diese erleichterte. »Im Gegenteil«, setzte sie daher die Unterhaltung fort, »ich untertreibe. Wo willst du zum Beispiel unterkommen? In einer Herberge? Vergiss es, Fremder. Sei froh, wenn du einen Platz in einer Scheune findest. Und weiter: Zwei Halbmonde für einen nur zu zwei Dritteln eingeschenkten Humpen Bier sind dir zu viel? Weil du gewohnt bist, ein Bier schon für zwei Sicheln zu bekommen? Vergiss auch
das. Die Preise für alles und jeden schießen in der Weihezeit in den Himmel. Überhaupt: Hast du ein Schnupftuch dabei? Der Dreck und der sich zu Bergen ansammelnde Abfall stinken ebendahin.« »Sie stinken wohin?« Der Mann blickte, sichtlich abgelenkt, zweifellos auf Wölbungen, aber nicht aufs Himmelgewölbe. »In den Himmel! Mann! Hörst du mir eigentlich zu? Ich sage dir: Abertausende suchen Burundun heim. Fahrendes Volk verstopft die Straßen. Glücksritter hoffen auf ein besseres Morgen. Huren aller Rassen bieten ihre Reize feil und verlieren mit jedem Freier ein weiteres Stück ihrer Seele. Heimatlose Krieger, die ihre Muskeln jedem verkaufen, der rechtzeitig und genug dafür bietet, konkurrieren mit blankem Stahl um die einträchtigsten Aufträge. Mancher kommt als Ehrlicher und verlässt Burundun als gedungener Mörder. Das, oder – als Leiche. Weil ein anderer schneller, besser oder einfach nur skrupelloser war. Gemeiner. Erbarmungsloser.« »Ich bin kein Glücksritter«, antwortete der Fremde. »Sondern?« »Ein Anwärter«, verkündete er stolz. Auch das noch!, dachte Windreit. Laut sagte sie: »Na denn: Prost!« Sie stießen an und leerten die Humpen. Der Turbanträger bestellte beim Wirt zwei neue. Bis jetzt war nicht klar, ob er nur Durst und Lust auf weitere Unterhaltung hatte, oder ob er sie ins Bett kriegen wollte. Der Gedanke ekelte Windreit. Mit einem Humain das Lager teilen? Nie im Leben. All diese Haare – brrr! Dann wollte sie doch lieber den Inhalt seiner Börse teilen. Sie beobachtete genau, wohin er sie steckte, als er das Bier bezahlte. Hinter die Schärpe, die er als Gürtel trug. Dem Klang nach war er leider nur ein Sichelmann. Bei allen kotzenden Warmfröschen! Also war er einer jener, die glaubten, dieses Mal als Erwählte in das Zentralarchiv einziehen zu dürfen. Nervös die einen, in sich ruhend die anderen. Die wenigsten unter den Anwärtern hatten auch nur den Hauch einer Chance. Bei den meisten handelte sich um gefallene Existenzen, um Hoffnungslose, die in dem Irrglauben lebten, etwas Besonderes zu sein. Sie unterschieden sich kaum von den Größenwahnsinnigen, die jeden in ihrer Nähe verächtlich behandel-
ten, bis sie selbst die Herablassung der Bibliothekare erfuhren. Die Anforderungen an die künftigen Adepten waren hoch. Außerhalb des Zentralarchivs wusste niemand, worin sie bestanden. So wartete jeder darauf, dass der Weiheruf an ihn erging, ohne zu wissen, worauf er sich einließ. »Was macht dich so sicher, dass sie gerade dich nehmen?«, fragte Windreit. »Ich bin Tarek al-Gibli bun Faroq ibn Ghaud«, antwortete der Turbanträger, als ob das alles erklärte. Vielleicht tat es das. Windreit versuchte ihn sich im dunkelblauen Mantel der Adepten vorzustellen und musste sich ein Lachen verbeißen. »Humains, ich meine Menschen, werden als Adepten nicht zugelassen«, erinnerte sie. »Das stimmt nicht. Einen haben sie angenommen. Vor zwölf Jahren. Ich will ihm nacheifern.« Windreit würde nie verstehen, was die Leute bewegte, sich und ihr Leben in den Dienst des Zentralarchivs zu stellen. Und noch weniger, was einen Anwärter antreiben mochte, sich als künftiger Adept zu bewerben. Aber jedes Jahr kamen sie wieder, zu Tausenden, obwohl nur etwa Hundert tatsächlich angenommen wurden. »Mancher Anwärter«, sagte sie, »kommt als Außenseiter und verlässt Burunduns Steinernen Hafen plötzlich als strahlender Erwählter, der den Ruf vernimmt, an Bord des Weihenachens geht und zur Insel übersetzen darf. Manch anderer kommt vielleicht über viele tausend K'lomata angereist, wie du, mein Freund, als Ausgezeichneter seines Dorfes, als Ehrenbürger seiner Stadt, als Träger der größten Hoffnung – und wird als unwürdig fortgeschickt. Ehe du dich versiehst, gehst du als Gebrochener. Das – oder du nimmst dir unverzüglich das Leben. Es gibt in Burundun nahe der Passstraße sogar einen eigenen Verscharrplatz für gescheiterte Anwärter, die ihre Selbstentleibung an Ort und Stelle vollziehen, wusstest du das?« Direkt daneben wurde auf einen schnell wachsenden Haufen Burunduns Müll gekippt. Beide Plätze waren das Erste, was man von der Seestadt erblickte, wenn man um die letzte Windung der Straße bog.
Fröhliche Weihezeit. Und zwischen all den Anwärtern tummelten sich die Mitglieder der größten drei Sekten, der Warner, Wiedergänger und Erlöser, deren Gruppenanführer Predigten hielten oder zu Gesängen aufriefen. Dazu feilschten Händler in den Gassen, eilten Wasserträger zwischen den Ständen hindurch, dicht gefolgt von den allgegenwärtigen, in Schammänteln gekleideten Notdurftschleppern, deren stinkende Eimer ständig voll waren. Viehtreiber drückten sich mit blökenden Tieren durch die Massen, die die Marktschreier lautstark verfluchten. Dazwischen lärmten Kinder, warben Tänzerinnen mit wiegenden Hüften um einen Besuch in ihrer Taverne, Musikanten spielten gegen grölende Betrunkene an. Geschäftige Boten wieselten im Auftrag reicher Burunduner hin und her. Manch ein Fremder mochte da aus Erschöpfung innehalten; andere verschwanden hastig in dunklen Winkeln, wenn ein Trupp bewaffneter Archivwachen, befehligt von einem Wahrsprecher, alles zur Seite drängte. Hinter ihnen schlugen die Massen wie die Wellen eines Sees wieder zusammen, und der Lärm setzte sich ungehindert fort. Fröhliche Weihezeit. Die beste Zeit für Taschendiebe? Vielleicht war es früher einmal so gewesen, als es noch keinen menschlichen Adepten gegeben hatte. Als Burunduns Straßen während der Weihezeit noch überschaubar und gangbar gewesen waren. Heutzutage musste ein Taschendieb, um auf einen einigermaßen guten Schnitt und mit heiler Haut davon zu kommen, die Hauptanreisezeit nutzen. Tarek al-Gibli bun Faroq ibn Ghaud hob seinen Humpen und trank ihr wieder zu. Im selben Moment machte sie sich schwer und tauchte ein in die rote Welt, in der alles zäh und lautlos war. Windreit spürte die vertraute Kühle, als sie sich bewegte, zu schnell für die Augen des Humains, zu schnell für die Augen Aller im Schankraum. Ja, es war kühl, aber nicht kalt. Kein Zeitloch, Maris sei Dank. Sie sah dem Tropfen zu, der zäh wie Honig vom Kinn des Turbanträgers herab fiel. So langsam, dass sie herantreten und sich in der winzigen Bierperle hätte spiegeln können, als diese den Hals hinabschwebte.
In aller Seelenruhe griff Windreit hinter die Schärpe und zog die Börse heraus, deren weiches Leder seltsam zäh und hart war in der roten Welt. Keine der Münzen bewegte sich, dazu war Windreit zu schnell, kein leises Klirren verriet sie, kein Rascheln, nichts. In der roten Welt gab es keine Geräusche, alles war wie in Watte gedämpft, dabei hart und unnachgiebig. Sie öffnete die Börse, nahm die Münzen heraus, steckte sie in ihren Schultersack und stopfte den geleerten Beutel mit einiger Mühe zurück hinter die Schärpe des Mannes aus Pecktmaginkhor. Der Tropfen war inzwischen bis zur Höhe seines rechten Knies gefallen. Windreit wünschte ihm mehr Glück bei seiner Anwärterschaft und verließ den Schankraum. Als sie aus der roten Welt auftauchte, befand sie sich schon einen K'lomata von der Karawanserei entfernt.
Ohne dass der Mann mit dem Turban es bemerkte, plitschte ein Biertropfen neben seinen Füßen zu Boden. »He, wo ist sie denn hin?«, fragte er den Wirt erstaunt. Er meinte die Selachen-Frau, die eben noch bei ihm gestanden und ihm ihre verführerischen Jadebrüste gezeigt hatte. Dass ihm seine Barschaft fehlte, bemerkte er erst einen Humpen später. Der Wirt zeigte sich nicht amüsiert. Und Tarek al-Gibli bun Faroq ibn Ghaud fand sich zu seiner fortgesetzten Verwunderung beim Humpenspülen wieder. * Die Netz-Boote der Frühfänger verließen Lakaras Stege immer um Schell, ein Zeitpunkt, der kurz vor der frühen Dämmerung einsetzte. Es war die Stunde, die mit dem dröhnenden Schlagen einer armdicken, schweren Triangel angezeigt wurde; das Zeichen für den Aufbruch der Fischer, um Jagd auf die Sirrhellenschwärme zu machen, die dem Licht des Mondes Meadow folgten. Lakara war Burunduns schwimmende Stadt oder vielmehr ein Stadtteil, der aus der Not des fehlenden Platzes geboren worden
war. Jeder Flecken Land unterhalb des steilen Gipfelkranzes des Kratergebirges war bebaut; das war Burundun, das feste Land. Irgendwann hatten Neuankömmlinge damit begonnen, Behausungen auf und über dem See zu errichten: Pfahlbauten, Flöße, für die Ewigkeit vertäut, Boote, die halb schwammen, halb auf Grund lagen, Fässer, Schuten, Nachen – sie alle bildeten ein schwappendes, schwimmendes, schwankendes Etwas, ein Gebilde, in dem breite und dünne, lange und krumme Stege alles mit allem verbanden, manche bloßes Knüppelwerk waren, manche aus richtigen Brettern gefertigt, manche aus herausgerissenen Türen ehemaliger Schränke oder den angeschwemmten Planken zerschellter Netz-Boote roh zusammengezimmert. Inzwischen war es kurz nach Vierklang, in Burundun zählte man seit altersher die Stunden nach dem Ertönen der Schell. Alle übrigen Klänge wurden nicht mit der Triangel, sondern mit einer riesigen Dampfpfeife verkündet, deren langer Laut wie der Ruf eines Nebelhorns über den See trieb und dessen Echos sich an den Kraterwänden brachen. Beide, die Triangel und die Dampfpfeife, befanden sich am Steinernen Hafen. Flavor und Rubin stiegen hinter dem Kraterrand auf. Arausio würde wenig später folgen. Ein rotgoldener Schein tauchte den See, die Insel und den Turm in unwirkliches Licht. Auf den Stegen herrschte noch Ruhe, nur ein paar müde Frauen schlurften zu den Frühmärkten. Aber schon bald würde Lakara zu lärmendem Leben erwachen. Windreit war fast das gesamte Noctum hindurchgewandert, um im Schutz des trüben Zwielichts unliebsame Begegnungen zu vermeiden. Sicher, nachts zu reisen war einerseits gefährlicher als am Tage, andererseits aber waren bedeutend weniger Leute unterwegs. Und die wenigen, die unterwegs waren … Nun, die Selachin hatte es gelernt, diesen in Windeseile zu entgehen. Immerhin, Windreit hatte unterwegs noch beherzt in einige, wenn auch nur ähnlich schmale Beutel wie den des Pecktmaginkhorers gegriffen. Egal. Auch wenn die Beute dürftig war, so reichte sie doch aus, um in den nächsten Tagen über die Runden zu kommen. Obwohl die Preise in der Seestadt anlässlich der Weihezeit wie jedes Jahr unverschämt
hoch gestiegen waren. Guter Dinge betrat Windreit die Pfahlhütte, die die Schwestern seit dem Tod der Eltern bewohnten. Sie schlug die Lederhäute zur Seite, sodass das frühe, fast waagrechte Licht durch den Türrahmen fiel und jeden Winkel im Inneren erleuchtete. »Windfang?« Windreit rümpfte die Nase, während Windfang hastig versuchte den Nachttopf, in den sie sich eben erbrochen hatte, hinter ihrem Rücken zu verstecken. Eine überflüssige und ohnehin nutzlose Geste. Der scharfe Geruch war unverkennbar. Die allmorgendliche Brise, die von den Kraterhängen herab strömte und den Nachtmief aus Lakaras Hütten trieb, nahm die säuerliche Ausdünstung glücklicherweise mit sich fort. »Das darf doch nicht wahr sein.« Windreit kniete sich auf die fest verwebte Bastmatte, die den Boden der Hütte bildete. »Bei Maris! Sag, dass ich träume.« Ihre Zwillingsschwester schüttelte betrübt den mit schwarzen Gelsträngen bedeckten Kopf. Sie legte die langgliedrigen Hände, die Finger leicht abgespreizt, auf ihren zart gewölbten Bauch – die unbewusst beschützende Geste einer Schwangeren. Die verkümmerten, rosa verfärbten Schwimmhäute an den Fingeransätzen bekräftigten die Vermutung zur Gewissheit – bei allen Selachinnen war dies ein untrügliches Zeichen. Die Verfärbungen dunkelten mit der Schwangerschaft weiter fort und erreichten kurz vor der Niederkunft ein tiefes Purpurrot. Windreit betrachtete die Schwimmhäute kritisch. »In welchem Lunarium bist du? Schon fast bei der Hälfte der Entwicklung, nicht wahr? Wie hast du das so lange versteckt? Ich meine, als ich fortging, warst du, ich meine, es war nichts zu sehen …« Windreit verlor den Faden. »Ich bin in keinem Lunarium.« Windfang spuckte das letzte Wort förmlich aus. Windreit starrte ihre Schwester verständnislos an. »Aber du bist …« »Die Verfärbungen begannen mitten im Noctum«, presste Windfang hervor. Ihre leise Stimme verlor sich im Plätschern der Wellen
unter dem Haus, die gegen die im Ufergrund versenkten Pfähle glucksten. »In welcher Nacht?« »In dieser Nacht. Heute. Es begann beim Auslaufen der Frühfänger«, erklärte Windfang bebend. »Ich bin seit etwas über vier Klängen schwanger. Bist du jetzt zufrieden?« »Wer … wer war es?« »Ich kenne den Mann nicht«, antwortete Windfang kleinlaut. »Er ist ein Spieler. Er gewann hohe Einsätze beim Strikkit. Ich entdeckte ihn, als ich schon auf dem Heimweg war; die Leute auf der Straße redeten über ihn. Ich betrat also den Lustigen Fioren und dachte gleich, sein praller Beutel sei zu schwer für ihn allein. Ich tauchte – doch er erwischte mich.« »Was?« Windfang bewegte ratlos die Schultern. »Er sah mir zu. Ich meine, er beobachtete mich und – plötzlich war er ebenfalls da. Er war so schnell wie wir, will ich sagen. Er ist groß. Und auf schwer zu verstehende Weise mächtig. Er kam zu mir. Im nächsten Moment warf er mich mit irgendeiner Kraft aus der roten Welt. Ich stand da, mitten unter den Spielern, und konnte nicht mehr tauchen. Dafür machte er etwas mit mir.« »Er hat dich vergewaltigt?« »Er machte es mit mir – in der roten Welt. Ob es eine Vergewaltigung war? Ich weiß es nicht.« »Aber es war gegen deinen Willen!« Windfangs halb aufgelöste Falli bewegten sich leicht. »Von einem Augenblick zum anderen bekam ich den intensivsten Höhepunkt meines Lebens«, gestand sie. »Zwischen all den Leuten, die nichts davon mitbekamen. Es ging so schnell. Etwas explodierte in mir. Bumm! Nie zuvor habe ich etwas Vergleichbares erlebt. Ich wollte, er täte es wieder. War es also eine Vergewaltigung? Vor allem, wenn du dir nichts sehnlicher wünscht, als es noch einmal zu erleben? Ich kann nichts anderes sagen. Er muss mich entkleidet und wieder angezogen haben, ehe er die rote Welt verließ. Als ich meinen Schrei ausstieß, war er jedenfalls längst aus dem Spiellokal verschwunden.
Mir tat alles weh. Die Leute haben mich angestarrt, und so habe ich den Lustigen Fioren schnell verlassen. Seitdem färben sich meine Häute, und etwas in meinem Leib wächst und wächst.« Windreit legte ihr die Arme um die Schultern. »Entschuldige.« Bis eben hatte sie gedacht, nur sie und ihre Zwillingsschwester besäßen die Fähigkeit, die rote Welt zu betreten. Aber nach dem, was Windfang widerfahren war … Offenbar gab es mindestens einen weiteren Angehörigen ihres Volkes, der wie sie zu tauchen vermochte. Dass er ein Selache war, setzte Windreit voraus. Wie sonst hätte er ihre Schwester schwängern können? »Kennst du seinen Namen?«, fragte sie leise. »Die Spieler nannten ihn Legetar«, antwortete Windfang. Im nächsten Moment riss sie den Nachttopf an sich und übergab sich ein weiteres Mal. Windreit blickte auf die leuchtenden Flecken an den Schwimmhäuten und legte die Stirn in Falten. Ihr schwante Fürchterliches.
Wer am Ruder ist, reißt selten das Steuer herum. Gerhard Uhlenbruck, deutscher Aphoristiker, geb. 1929
2. Links unter ihnen glitt der Turm des Zentralarchivs vorbei. Er ragte mit seiner Kuppel annähernd fünfhundert Meter in den Himmel hinauf. Das etwa hundert Meter durchmessende Bauwerk war wuchtiger und gewaltiger als alles, was Shanija Ran bisher auf Less gesehen hatte. Der runde, rotleuchtende Turm kam ihr vor wie ein Daumen, den ein im Kratersee ruhender Riese mit Titanenkräften durch die Insel gedrückt hatte, sodass er sie nun gleichsam als Ring am monströsen Finger trug. Und als habe der »Ring« Gravuren und schmückendes Geschmeide, wand sich um das Fundament des Turms eine kaum voneinander zu trennende Vielzahl von Gebäuden, im selben Rot gehalten wie der Turm, durchsetzt von Gängen, Gelassen, Gesimsen und Gesteigen. Verwinkelte Mauern zogen verwirrende Linien, gewölbte, gezackte Kronen hoben sich aus den Schatten, Bögen öffneten sich wie gähnende Gebisse – oder wie Münder, die ob der Sinnlosigkeit, sich in diesem Gewirr zurechtfinden zu wollen, in steinernem Staunen erstarrt waren. Eine noch höhere Außenmauer umschloss das gesamte Areal, ohne Tor darin, ohne Tür, ohne Pforte oder Spalt; übrig blieb allein eine freie Fläche von vielleicht noch einmal hundert Metern Tiefe, die sich rundum zwischen Inselufer und Mauer erstreckte und über die der Wind den Staub zu rötlichen Wirbeln verdrehte. Die von Weitem glatt wirkende Wandung des Turms war bei näherer Betrachtung schrundig und uneben, als wäre das gemahlene rötliche Gestein des Kratergebirges auf dilettantische Weise zur Abdeckung benutzt worden. Stellenweise legte bröckelndes Mauerwerk ein glänzendes Material frei, das an Metall erinnerte. Wenn es Fenster gab, so konnte Shanija keine erkennen; aber es war nicht
auszuschließen, dass das Licht durch Sprünge, Spalten, Schründe oder Schlitze seinen Weg ins Turminnere fand. Ein überaus rätselvolles Gebilde, für menschliche Begriffe durchaus erhaben und eine seltsame kalte Reinheit verströmend. Kein Wunder, dass es von Mythen umrankt war; genau der richtige Sitz für die ebenfalls geheimnisvollen Bibliothekare, die mit Ausnahme der Adepten nie jemand zu Gesicht bekam. Eines strahlte das Zentralarchiv allerdings unmissverständlich aus: unbarmherzige Härte. Scharfe Grate, wohin Shanija auch blickte. Pure Unnachgiebigkeit, in Stein gedrillt. Bereits von hier aus war deutlich zu erkennen, dass nicht jedermann willkommen war. Ein Platz nur für besonders Auserwählte, so wie Mun. Nun brauchte Shanija sich nicht mehr darüber zu wundern, dass Mun sich stets so unbeteiligt und gelassen gab. An diesem Ort gab es nur Strenge und Kälte. Die Pflicht eines Adepten war es, Wissen zu sammeln und dabei emotional unbeteiligt zu bleiben. Kein Adept durfte soziale Bindungen eingehen. Vermutlich wurde das den Schülern jahrelang eingehämmert, bis sie wie ein Teil dieses Turms waren. In seinem Schatten mussten zwangsläufig alle Gefühle verkümmern. Die rote Farbe erschien Shanija nun mehr als Mahnung, denn als weithin sichtbares Wunder. Und trotzdem schien es nie Mangel an Bewerbern zu geben …
Der heisere Schrei des Orgavogels zerriss die Luft über dem See. Im nächsten Moment fauchte die Methanturbine am Heck kurz auf und verstummte. Der Adlerkopf des Fluggefährts senkte sich mit dem Ausbleiben des Schubs leicht nach unten. In die plötzliche Stille, die die ausgefallene Turbine hinterließ, wirkte das Rauschen des Flugwinds bald umso lauter. »Was machst du?« Shanija beugte sich vor. As'mala zog an mehreren Hebeln und schüttelte so heftig den Kopf, dass der Erdfrau etliche der blonde Haarsträhnen, die sich aus den Zöpfen gelöst hatten, ins Gesicht flogen. »Ich mache gar nichts! Das blöde Vieh macht nichts mehr!«
»Wir verlieren an Höhe.« »Und ich gleich die Beherrschung.« As'mala riss jetzt mit beiden Händen an einem Gestänge zu ihrer Linken. Ohne sichtbaren Erfolg. Es sei denn, der Umstand, dass sich der Adlerschnabel des Orgavogels weiter senkte, war Absicht. »Wo willst du landen?«, fragte Shanija so ruhig wie möglich. Zuerst hatte sie vermutet, dass der Gasbehälter leer war und ausgetauscht werden musste, aber die Druckanzeige war in Ordnung. Es musste ein anderes Problem sein. »Die Frage ist nicht wo, sondern wie!« »Wie meinst du das?« As'mala drehte sich ruckartig um. »Ich habe im Augenblick keine Ahnung, wie ich landen soll!« Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. In den dunkelblauen Augen der Freundin erkannte die Soldatin den Funken beginnender Panik. »Gib den Weg frei«, verlangte Shanija. »Sofort.« »Lass nur – ich übernehme das«, sagte Darren und hielt Shanija an der Schulter zurück. Der Orgavogel neigte sich gefährlich nach Backbord. »Negativ!«, widersprach Shanija heftig. Angesichts des offensichtlichen Pilotenproblems drängte reflexartig jener Teil ihrer Persönlichkeit an die Oberfläche, der ihr in den zehn Jahren als Kampfpilotin und Anführerin der WILD RAMS zur zweiten Natur geworden war. Unwillkürlich verfiel sie sogar wieder in ihren militärischen Kommandoton. »Sitzenbleiben! Mach mir Platz, und du, As'mala, gehst nach hinten zu Darren! Sofort!« Sie kletterte nach vorn. Darren respektierte ihre Entschlossenheit. As'mala gab dem Gestänge einen wütenden Stoß und kletterte über die Lehne in die Sitzmulde zu Darren. Shanija ließ sich in den Pilotensitz gleiten. Blitzartig holte sie sich das, was sie während des Fluges beobachtet hatte, ins Gedächtnis. Rechts war ein senkrecht angebrachtes, etwa zwanzig Zentimeter durchmessendes Handrad. Das Höhenruder. Zwei Hebel – für rechts und links. Das Gestänge, an dem As'mala vergeblich gezerrt hatte, sah aus wie der Abwurfhebel ihres
ehemaligen Schleudersitzes. An seinem Ende bemerkte Shanija einen Druckknopf. Die Nase senkte sich weiter. Inzwischen wurden die Gebäude der Stadt unter ihnen rasch größer. Wie hoch waren sie? Vielleicht tausend Meter. Nein. Eher weniger. Shanija sah Fahnen flattern. Kein gutes Zeichen. Sie drehte am Handrad, hob die Nase des Vogels soweit an, dass sie wieder flogen und nicht stürzten. Der Knopf löste die Arretierung; das Gestänge ließ sich nunmehr bewegen. Es gab drei Rasterungen. Die, in der sich der Hebel bis eben befand, eine darunter und eine weitere wiederum darunter. Shanija holte tief Luft und bewegte den Hebel in die nächste Rasterung. Ein rasselndes Geräusch setzte ein. Zu dem Rauschen des Windes kam ein Schwirren. Sie warf einen Blick nach links und grinste – leicht hoben und senkten sich die Flügel. Ihr Flug war bei weitem nicht mehr so schnell wie zuvor, als die Turbine noch lief, aber ein Absturz war zumindest verhindert. Vorerst, dachte Shanija. Eine der drei Sonnen geriet in Shanijas Blickfeld und blendete sie. Das halborganische Flugwesen schrie abermals. Wie zuvor klang es gequält. Das rasselnde Geräusch verstärkte sich, wurde zu einem Röcheln. Plötzlich bewegten sich die metallenen Flügel asynchron. Der Orgavogel kippte über einen Flügel ab, und Shanija konnte ihn im letzten Moment wieder geraderichten. Doch dann senkte sich die Nase zum Sturzflug. Mit knapper Not konnten sich die Gefährten in den Sitzen halten. Shanija gab es auf, nach einer Landemöglichkeit Ausschau zu halten. Mit aller Kraft versuchte sie, den Kurs auf den See auszurichten. Besser eine Wässerung als ein Absturz inmitten der Häuser. Doch der Vogel reagierte nicht. »Etwas behindert ihn, weiter zu fliegen!« schrie sie über das Rasseln, Röcheln und Klappern hinweg. »Ich glaube, du bist dem Turm zu nahe gekommen.« Mun sprach so ruhig, als erlebe er desgleichen jeden Tag. Shanija unterdrückte eine scharfe Bemerkung. »Darf man dem Turm etwa nicht zu nahe kommen?« »So kommt es mir vor. Ich kann es spüren, eine starke Ablehnung.
Wie eine unsichtbare Mauer.« Shanija blieb keine Zeit für eine Antwort. Der im Morgenlicht der drei Sonnen türkis glitzernde See huschte unter ihnen vorbei. Dann kamen Baracken, Stege, schräge Dächer, Masten in Sicht. Shanija glaubte fast, sie berühren zu können, so dicht schossen sie darüber hinweg. Der Vogel wich irgendwie einem steinernen Bogentor aus, rauschte über Baumwipfel, sank immer tiefer über die Straßen. Das Gewimmel dort unten stockte und erstarrte, als immer mehr Wesen stehen blieben, zu ihnen heraufdeuteten und irgendetwas schrien. Sie schrammten knapp über ein rotes, von hellen Säulen getragenes Dach. Eine breite Straße öffnete sich unter ihnen, darauf lag ein rostroter Schienenstrang, der sich schnurgerade durch das Häusermeer zog und im Dunst der Kraterberge verschwand. Dann plötzlich eine Wolke emporspritzender schwarzer Punkte, die sich zu einem Vogelschwarm zusammenfanden, mit Kurs auf sie. Shanija sah armlange Flugwesen mit langen gebogenen Schnäbeln, die ihr biomechanisches Fluggefährt zu Hunderten, wenn nicht Tausenden umschwirrten. Mehrfach wurde der Orgavogel getroffen. Inzwischen flog er so tief, dass er Dächer und Baumkronen streifte. Ein dritter, jämmerlicher Schrei, ein furchtbarer Ruck, etwas riss kreischend – dann sah Shanija den rechten Flügel davon wirbeln. Ein beißender und gleichzeitig vertrauter Geruch drang zu ihr, und es ging endgültig abwärts. »Festhalten!«, war alles, was sie herausbrachte. Dann krachte und schmirgelte es, und die Welt drehte sich um sie. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Shanijas Stirn. Das Flugwesen schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf und rutschte noch ein Stück, ehe es dumpf scheppernd zum Stillstand kam. Das Getöse erstarb, es zischte, knackte und knisterte nur noch leise. Von dem Gefährt war nicht mehr viel übrig. Eine ausgefranste Metallkante hätte Mun beinahe guillotiniert. Benommen kletterten sie aus den Trümmern, umgeben von Rauch und beißendem Gestank. Sie standen auf halber Höhe eines Hügels, der aus undefinierbaren Materialien zusammengesetzt war, zwischen denen an verschiedenen Stellen dünner weißer oder dicker, grauöliger Qualm aufstieg.
Ein Hügel, der nur einer von vielen war. Die schwarzen Vögel flogen zwischen ihnen kreischend auf und nieder. Seiya hielt sich den Ellbogen vors Gesicht. Darren klemmte sich demonstrativ die Nase zu. Mun blickte stumm und reglos zu den Vögeln hinauf. As'mala tupfte mit einem Tuch das Blut von Shanijas Stirn und brachte so etwas wie ein Grinsen zustande. Der von den Kraterwänden herabfallende Wind wehte Shanija einen Pesthauch von Verwesung, Krankheit und Fäulnis entgegen. Das darf nicht wahr sein, dachte Shanija erschüttert, während sie vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die nachgiebigen Trümmer, die Scherben, die stinkenden, fliegenbesetzten Fleisch- und Fellreste und sonstigen Abfalle setzte. Ich bin wieder in einem Müllhaufen gelandet. Die Bilder ihrer ersten Landung und der Kampf mit dem wandelnden Müllberg schossen ihr durch den Sinn, und instinktiv suchte sie nach Anzeichen, ob sich auch dieser Haufen zu bewegen begann. Der jämmerliche, klägliche Schrei, mit dem der Orgavogel hinter ihnen verschied, holte sie in die Gegenwart zurück. Das und die fremde Stimme, die sagte: »Dafür werdet ihr teuer bezahlen!«
Der fette Uriani machte keinen Hehl daraus, dass er von einer krötenähnlichen Spezies abstammte. Mit weiten Sätzen seiner muskulösen Sprungbeine schnellte er sich den Müllberg hinauf und verharrte in einer matschigen Pfütze vor ihnen. Schlamm spritzte nach allen Seiten und bekleckerte ihre ohnehin besudelten Stiefel. »Wollen mal sehen, was wir da haben«, quäkte er unter weitgehender Missachtung vorkommender Konsonanten. Shanija verstand zunächst nur »a'ür wre ir euer bequalen« und »wollen al e'en, wa' wi' a a'en«. Riesige Glupschaugen musterten sie streng über eine flache, missbilligend schnüffelnde Froschnase hinweg; das breite Maul produzierte platzende Blasen beim Sprechen, die als Schleimfäden seitlich aus den Mundwinkeln liefen, ohne dass sich der Uriani daran störte. Überhaupt schien das Krötenwesen nicht nur auf Umgangs-
formen, sondern auch auf Reinlichkeit nicht allzu viel Wert zu legen: es trug als einzige Bekleidung einen schmutzig braunen Lumpen um die ausladende Taille, der ansonsten den größten Teil des grünhäutigen, mit weißen Flecken überzogenen Körper frei ließ. Shanija war sicher, dass es innerhalb der Falten des Stoffes von allerlei Kleinstlebewesen nur so wimmelte. Der Geruch, der von dem Uriani ausging, fügte dem Gestank des Müllplatzes eine bittere Schärfe hinzu. »Erstens«, hob er an, hockte sich mit angezogenen Beinen bequem vor sie hin und zählte an den Knorpelfingern ab. »Unerlaubtes Überfliegen von städtischem Grundbesitz. Ausnahmegenehmigungen hätten mit zweidianoctumentaler Vorlaufzeit gegen Gebühr beantragt werden können, was nachweislich und verdächtigerweise unterblieben ist. Zweitens: willkürliche Gefährdung hier ansässiger Lebensformen, insonderheit und namentlich die für den reibungslosen Betrieb der Halde notwendigen Güselkrähen.« Er deutete auf die schwarz gefiederten Vögel, die aufgeregt das halborganische Wrack umschwärmten. Einige waren schon dabei, einzelne Fleischstücke zwischen den Metallteilen herauszupicken. »Drittens: Unerwünschtes und verbotenes Abladen von genehmigungspflichtigem und gebührenlastigem, nicht klar umrissenem und in keinerlei Eingabe vorangekündigten Schrotts unbekannter Herkunft. Viertens …« Er holte schmatzend Luft und atmete tief aus, was zwei weitere Blasen zum Platzen brachte. »Erhebliche Gefährdung des anwesenden Versackerortpersonals, vertreten namentlich durch mich, Glump Amuri, städtisch bestallter Hochamtsversacker erster Güte.« »Meine Güte«, entfuhr es As'mala. »Nein – erster Güte«, korrigierte Glump Amuri. »Das macht dann, alles zusammen, wartet … na, ich will großzügig sein – andererseits haben wir den Weihezeitaufschlag nicht zu vergessen –, und wenn, nein, falls ich von einer Wahrsprecheranzeige absehe, was an sich fast ein schon nicht mehr kalkulierbares Risiko darstellt … also, alles in allem und weil ihr es seid, müsst ihr nur Zweihundertfünfzig bezahlen.« Glump Amuri sah sie breitmaullächelnd an.
»… ei'un'ed 'ünquig bequalen«, hörte Shanija und gab sich Mühe, den Schwall richtig zu interpretieren. »Zweihundertfünfzig Sicheln?«, fragte As'mala ungläubig nach. »Weine Siqueln.« Keine Sicheln, übersetzte Shanija. Glump Amuri ahmte ein menschliches Kopfschütteln nach, bei dem die Schleimfäden nach allen Seiten flogen. Seiya brachte sich mit angewidertem Gesichtsausdruck einen weiten Schritt in Sicherheit. »Halbmonde?« Der städtisch bestallte Hochamtsversacker erster Güte stieß ein Glucksen aus und schüttelte erneut sein nassglänzendes Haupt. »Du sprichst jetzt nicht von Sonnen, oder?« As'mala starrte ihn inzwischen fassungslos an. »Weine 'onnen. Weine Opuale.« »Was denn? Nicht mal Opale?« As'mala sah ihre Gefährten hilfesuchend an. Angehörige des Volks der Uriani, das wusste inzwischen selbst Shanija aus eigener Erfahrung, waren auf ganz Less als die härtesten unter den hartherzigen Verwaltern und als die herzlosesten unter den unnachgiebigsten Bürokraten verschrien. Und dicht unter der Oberfläche ihrer Bürokratenseele lauerte eine allgegenwärtige Neigung zur Bestechlichkeit wie eine heimlich verklappte Säure in einem Tümpel aus ungeklärten Abwässern. Glump Amuri setzte offenbar alles daran, dem Ruf seines Volkes gerecht zu werden. Er zeigte ein schaumzerstäubendes Nicken. »Zweihundertfünfzig Goldstücke, Humainf'au. Oder ich rufe die Archivwachen. Das ist mein letztes Wort in dieser leidigen Angelegenheit.« Mun, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat einen Schritt vor. Der frühe Morgenwind fing sich in Muns Mantel und ließ ihn flattern. »Falls das so ist, Hochamtsversacker Amuri, dann, fürchte ich, versackst du in echten Schwierigkeiten.« Alle Adepten, so auch Mun, trugen eine einheitliche Tracht, die sie außerhalb des Archivs niemals ablegten: dunkelblaue Kutten, auf denen das Symbol der Gilde der Wissensträger prangte, der schwarzen Möbius-
schleife auf weißem Grund. Die Glupschaugen Glump Amuris weiteten sich vor Schreck, als er erkannte, wer da unversehens mit ihm sprach. Die breite Kinnlade sackte nach unten, die Wulstlippen enthüllten die lange Zunge. Amuri schluckte schwer. Ob er an der Last der ihm entgleitenden zweihundertfünfzig Goldstücke würgte oder an der Schwere der Konsequenzen, die ihm sein Verhalten angesichts eines Wissensträgers einbringen mochten, war nicht erkennbar. »Ehre sei den Adepten!«, brachte er endlich mühsam hervor. »Verzeiht … ich wusste nicht … ich dachte, man hätte … will sagen, niemand hat mich … dass gerade Ihr hier, meine ich …« Er machte eine tiefe Verbeugung. Im Sitzen. Es sah aus, als setzte er zu einem Purzelbaum an. »Dass ich mit deiner vollen Unterstützung rechnen kann, willst du mir das sagen?« »Ja, gewiss.« Glump Amuri vollführte einen Augenaufschlag, in dem sich Hochachtung und Furcht die Waage hielten. »Dann«, sagte Mun mit einem angedeuteten Nicken, in das sich fast der Anflug eines Lächelns stehlen wollte, »wird deine Zuvorkommenheit im Zentralarchiv gewissenhaft vermerkt werden. Wie du weißt, vergessen Adepten niemals etwas.« »Ja, selbstverständlich.« »Die Reste unseres Luftgefährts sind unser Geschenk an dich, als Dank für deine Unterstützung. Das ist dir doch recht, nehme ich an?« »Ja, alles, was Ihr wollt.« »So gehe hin und finde deinen Frieden.« Mun neigte abermals leicht den Kopf; dann ging er gemessenen Schritts an Glump Amuri vorbei den Hügel aus Müll hinab. Shanija zupfte den grinsenden Darren am Ärmel; As'mala warf dem Hochamtsversacker einen bitterbösen Abschiedsblick zu; Seiya ignorierte ihn und schritt würdevoll an ihm vorbei. * Nachdem sie den Müllabladeplatz durch ein unversperrtes Gattertor
verlassen hatten, fanden sie sich auf einer breiten, gepflasterten Straße wieder, die rechts von den Kraterhängen kam und sich linkerhand den nicht weit entfernten ersten Häusern Burunduns hinter der hohen Stadtmauer zuwandte. Die eiserne Schiene, die Shanija beim Anflug kurz bemerkt hatte, entpuppte sich jetzt aus der Nähe als monströse gezahnte Trasse, die sich wie das Skelett eines riesigen Urtiers neben der Straße entlang zog, die rostigen Wirbel halb von braun verfärbtem Gras überwuchert. Schnurgerade lief die Schiene dem fernen Bergkranz entgegen, während die Straße sich in weiten Schleifen von dem Schienenstrang entfernte und in immer steileren Serpentinen die Höhen hinauf schlängelte. »Was ist das?«, fragte Shanija, als sie an einer Stätte vorüberkamen, die sie erst für eine Art Steinbruch hielt oder eine Kuhle, aus der Lehm gewonnen wurde – aufgewühlte Erde neben vergessenen Schaufeln, dann wieder verwitterte, sich neigende Steine, unter denen wilde Kräuter hervor wucherten –, und dazwischen kleine Gruppen vermummter Gestalten aller möglicher Lebensformen, die sich vor dem einen oder anderen Stein versammelt hatten. Nur Menschen sah Shanija keine. »Das ist der plaads de zellf'moord, der Friedhof der Selbstentleibten«, erklärte Mun dumpf. »Manche Adepten-Anwärter ertragen die Schmach der Zurückweisung nicht. Sie werden hier verscharrt, denn ihre Tat ist voll Schande. Wenn Angehörige sie besuchen, verhüllen sie ihr Antlitz, auf dass die Schande sie nicht selbst ereile.« Sie gingen raschen Schritts an dem traurigen Platz vorüber. Burundun empfing sie mit dem ratternden Lärm unzähliger Wagenräder und der gewohnten städtischen Geräuschkulisse aus Rufen, Schreien, Quietschen, Blöken und anderen Lauten, die einander aus verschiedenen Kehlen übertönten. »Zur Seite, du fauler Kuntararsch!« »Er wird dir gleich was scheißen, der Kuntararsch!« Eine Peitsche knallte. Der verunglimpfte Kuntar, ein stämmiges Echsenwesen mit einer hölzernen Trage auf den Schultern, gestiku-
lierte wütend zu einem langohrigen, zwergenwüchsigen Humanoiden hinauf, der auf dem Kutschbock hockte und zwei behäbig wiederkäuende Gemel dazu zu bewegen versuchte, sich durch den immer dichter werdenden Verkehr zu drängen. Der Zwerg verlachte die Drohung und schwang erneut die Peitsche. Der Kuntar schnappte blitzschnell nach dem zischenden Lederriemen und riss den Zwerg samt Peitsche vom Wagen herab. Die Gemel tröteten und trotteten schnell weiter. Der Kuntar und der Zwerg fielen übereinander her und lieferten sich eine wilde Rangelei. Rötlicher Staub wallte auf, als die beiden zwischen die vorbeirollenden Räder gerieten. Niemand achtete auf die Kämpfenden, jeder war mit sich selbst beschäftigt. Emsige Geschäftigkeit bis zur Zufriedenheit strahlten die Handeltreibenden und Reisenden aus, die sich aus dem nahen Stadttor zwängten, vollbepackt mit Säcken und überfüllten Körben die einen, diverse Gerätschaften tragend die anderen. Shanija sah viele Menschen, aber noch mehr Angehörige anderer Lebensformen; bei manchen war nicht ganz klar, wer nun Lasttier und wer Treiber war. Alle waren bis über die Schultern bepackt, beladen oder bis zur Unkenntlichkeit behängt. Anders verhielten sich die Pilger, die nach Burundun hinein wollten. Von den meisten humanoiden Mienen konnte Shanija größtenteils zwar Müdigkeit, aber zugleich gespannte Erwartung ablesen. Allen gemeinsam waren staubbedeckte Gewänder und die fiebrigen, voller Vorfreude glänzenden Augen, sowie ihre wachsende Unruhe, je näher sie dem Stadttor kamen und zusehends aufgeregter den hoch aufragenden, alles überschattenden Turm des Zentralarchivs betrachteten, das große Ziel ihrer Reise. Jede plötzliche Lücke im Gedränge bedeutete eine Gelegenheit, vorbei zu schlüpfen und sich so dem Ziel der Reise um ein paar schnellere Schritte zu nähern, ehe die breite Brust eines Lastträgers oder der schwitzende Arm eines Peitsche schwingenden Viehtreibers den Weg erneut behinderte. Mun ging voran, und seine hohe Gestalt in der dunkelblauen Kutte wirkte wie die Spitze eines Pfluges, der unaufhaltsam die Menge
teilte. Die Gefährten blieben dicht hinter ihm. Wenig später passierten sie das breite und dennoch für die Massen viel zu enge Tor, durch das auch die eiserne Zahnschiene führte, und dann erreichten sie einen quadratischen Platz, von dem aus die Hauptstraße Richtung Archiv weiterführte und zwei schmälere Straßen abgingen. Mun wählte die linke Abzweigung, in der deutlich weniger Verkehr herrschte. Ein Handwerker- und Wohngebiet: Shanija blickte in offene Werkstätten zu ebener Erde und zu schmalen Fenstern hinauf, unter denen Wäsche an dünnen Leinen im Wind baumelte. Winzige Gassen zwängten sich zu beiden Seiten durch das Häusermeer, und Mun führte sie in die dritte dieser engen Gassen, in denen man kaum nebeneinander Platz fand. Über ihnen wuchsen die Hauswände aufeinander zu; manches Obergeschoss war breiter als das darunter befindliche, und etliche Häuser lehnten sich bereits fest vermauert aneinander, sodass sie die Gasse wie Tunnelwände überspannten. Hier herrschten trübes Dämmerlicht und Feuchtigkeit, und abseits des Trubels war niemand sonst zu sehen. »Hört zu«, sagte Mun mit gedämpfter Stimme. »Es gibt ein paar Regeln, die ihr in Burundun beachten solltet. Was immer ihr tut, entfernt euch nicht weit von mir. Nehmt ohne meine Einwilligung keinerlei Angebote an. Geht nicht in dunkle Gassen, außer, ich bin dabei. Bleibt nicht stehen, außer, ihr müsst einen Wahrsprecher vorbei lassen, oder einen Adepten. Haltet eure Hände bereit, am besten an den Waffen. Und wenn euch jemand berührt, tötet ihn!« »Das ist nicht dein Ernst, oder?« Seiya sah sich verstohlen um. »Habe ich jemals gescherzt?« Mun machte eine die ganze Stadt umfassende Geste, streifte dabei versehentlich Shanijas Schulter und ballte anschließend die Faust. Die Hand!, korrigierte sich Shanija automatisch in Gedanken. Wie von selbst sprangen ihr die Worte ihres unbarmherzigen Ausbilders in den Sinn, der ihr vor vielen Jahren einen ellenlangen Vortrag über die exakte Erteilung von Befehlen ins Gesicht gebrüllt hatte. »Denke stets eindeutig! Klar! Präzise! Sonst sprichst du schwammig. Und schickst dadurch deine Soldaten in den sicheren Tod! HABEN SIE
DAS VERSTANDEN, CORPORAL?« Oh ja, sie hatte. Sir, yessir! Wenn Captain Sab »Rino« Cepp einem einen Vortrag hielt, dann verstand man besser. Shanija hatte es sich hinter die Ohren geschrieben. Man kann nur eine Hand ballen. Eine Faust ist eine schon geballte Hand. Auch wenn das Universum und der ganze Rest diese Metapher anders verwendete – in Sab »Rino« Cepps Dunstkreis unterließ man es wohlweislich. Ganz abgesehen davon, dass er in militärischen Belangen recht hatte mit der Aufforderung zur Präzision. »Ganz Burundun«, fuhr Mun leise und umso eindringlicher fort, »wimmelt zum Weihefest vor zwielichtigen Gestalten. Auf jeden Anwärter kommen tausend Betrüger, die sich für eure Habe interessieren. Im schwimmenden Teil, in Lakara, ist es noch weitaus gefährlicher. Meidet diesen Bereich am besten ganz. In jedem Schatten lauert wenigstens eine Hand, die sich an euch bereichern will.« »Bereichern?«, fragte Seiya. »Was haben wir denn schon großartig an Reichtümern zu bieten?« Mun hob leicht die Arme. »Ein alter Burunduner Witz bringt es auf den Punkt: Gib mir dein ganzes Geld, sagt der Räuber. Ich habe keins, sagt das Opfer. Dann gib mir deine Kleider, fordert der Räuber. Ich bin nackt und ein Bettler, antwortet das Opfer. Das, lacht der Räuber, ist besser als nichts. Und er nimmt die Schale des Bettlers, schächtet ihn und geht mit der gefüllten Schale zum Markt der Fleischhauer.« »Und wo ist dabei der Witz?« Darren blickte verständnislos und stemmte seine Fäuste auf den Knauf des Kurzschwertes aus ELIUMKreischerstahl, das er vorn im Gürtel trug. »Und was ist schächten?« Seiya runzelte die Stirn. »Schächten«, antwortete Shanija dumpf, »bedeutet, jemanden ausbluten zu lassen.« Es war die widerlichste Strafe einer Straßengang von Washington-York-State gewesen. Die Opfer der BLOOD FORGE erlebten bei vollem Bewusstsein mit, wie das Leben aus ihnen heraus rann, wie der Puls dabei immer mehr raste, kalter Schweiß aus allen Poren trat, bis die Müdigkeit einsetzte und die Todesangst letztendlich verdrängte, und wie dann die Fingerspitzen sich blau verfärbten, die Kälte in den Extremitäten hochkroch, bis der Herzschlag
endlich aussetzte. »Und Fleischhauer machen aus Blut – Blutwurst. Er hat es ihnen für ein paar Sicheln verkauft, Darren.« As'mala machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste des Geldzählens und rollte über seine Begriffsstutzigkeit die Augen. Darren sah irritiert von einem zum anderen. »Und darüber scherzen sie in Burundun?« »Burundunische Witze sind selten zum Lachen. Eigentlich nur, wenn sie schlecht sind.« Mun ging nicht weiter darauf ein. »Falls ihr euch verirrt, erkundigt euch nach dem Steinernen Hafen und wartet dort; gebt niemals den Namen der Herberge preis, in der wir wohnen. Wir werden uns am Steinernen Hafen wiederfinden. Jetzt kommt. Ich bin müde.« Er strich sich über seinen glatt rasierten Schädel und kniff dabei die Lippen zusammen wie jemand, der aus Versehen einen schmerzenden Zahn berührt. Die beiläufige Bewegung und das Zurückzucken der Hand verrieten Shanija mehr als jedes Wort, wie sehr er inzwischen den sogenannten Ruf ersehnte, jenen Befehl, der ihm die Hinüberfahrt zum Zentralarchiv gestatten würde, damit er dort die Entbürdung erfuhr – einen Vorgang, über den er sich in Schweigen hüllte. Auf irgendeine Weise würde ihm dabei wohl das in ihm gespeicherte Wissen entnommen werden. Und er würde nicht länger einen Zustand erleiden, den er in der vergangenen Nacht während des Fluges mit »mir ist, als ob mir jeden Moment der Schädel platzt« umschrieben hatte. Mun ist nicht nur müde, dachte Shanija, er ist völlig erschöpft. Seiya ging mit Mun voran durch die Gasse, die zwischen schattigen Wänden durch die Häuserflut mäanderte. »Wie lange wird es dauern, bis du ins Zentralarchiv darfst?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht. Noch habe ich den Ruf nicht empfangen.« »Wie geht das vor sich?« »Es ist schwer zu beschreiben. Bist du je morgens erwacht und wusstest irgendwie, dass es wichtig ist, an diesem Tag etwas ganz Bestimmtes zu tun?« »Ja, manchmal.« Seiya blickte zu ihm auf. Sie hatte Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
Sie ist besorgt um ihn, stellte Shanija fest. Seit Mun ihre Geister miteinander verschmolzen hat, verbindet die beiden etwas Besonderes. »Etwa so verhält es sich mit dem Ruf. Von einem Moment zum anderen weiß ich, dass es Zeit ist, an Bord des Weihenachens zu gehen. Aber noch ist es nicht soweit.« Er zeigte nach rechts. »Hier entlang.« Unverhofft traten sie unter Markisen hervor ins grelle Licht. Mun überquerte eine breite Straße, die dieselbe sein könnte, die sie vorhin verlassen hatten, und tauchte an der nächsten Ecke neuerlich in Schatten ein. Eine Vielzahl Gassen später erreichten sie den Steinernen Hafen. * Vor über tausend Jahren, erklärte Mun, sollte es hier einen metallenen Hafen gegeben haben. Heute erinnerte nichts mehr daran, deswegen war er in den Steinernen Hafen umbenannt worden. Hafenmauern, Molen, Treppen, Rampen und Schiffsländen sowie der Hafenplatz selbst und die umliegenden Häuser waren aus dem wie glasiert wirkenden, rot schimmernden Stein der Kraterberge errichtet worden. Ein langer, tiefer, durchdringender Laut ertönte, als die Gefährten um einen Stapel Fässer bogen und den Hafenplatz vor sich liegen sahen. Das sirenenartige Geheul kam von einer steinernen Erhebung, die wie eine Insel in der Mitte des Platzes lag und rundum von Treppenstufen umgeben war. Darauf erhob sich ein kleiner fahnengekrönter Turm mit Fahnenmasten im Kreis um das Fundament. Das Signal wurde viermal wiederholt. Offenbar wurde es im Inneren des Turms erzeugt. »Fünfklang«, murmelte Mun. Wie überall herrschte auch hier reger Betrieb. Fauchend löste sich eine schwer beladene Dampfplattform von der Verladestation und keuchte und ratterte über die gezahnte Schiene, bis sie zwischen den Häusern verschwand. Ein Dampfschiff stieß schwarze Wolken in den Himmel, Segel kleiner Boote knatterten im Wind. Netze, denen ein intensiver Geruch nach Tang und Fisch entstieg, lagen ausgerollt
bereit oder wurden von Fischern ausgebessert, die achtlos darüber hinwegsteigende Passanten derb verfluchten. Teerköche rührten in gewaltigen Bottichen, Bootsschreiner hämmerten um die Wette. Unter ihrer Last quietschende Dreibeinkräne wurden hin- und hergeschwenkt. Preise wurden über Kisten- und Sackstapel hinweg geschrien und je nach Höhe verlacht oder akzeptiert. Die schwarzen Vögel kreisten kreischend über den Dächern. Bettler am Wegerand baten mal kläglich, mal vorwurfsvoll oder gar mürrisch um Almosen. Mun lotste die Gefährten quer über den Platz bis zu einem nahe an der Kaimauer stehenden Haus; darin befand sich eine Herberge namens Aan roodsten. Der kuntarische Wirt begrüßte Mun wie einen alten Freund, zeigte sich aber zugleich geschäftstüchtig. »Fünf Betten, auf unbestimmte Zeit? Nur zum Weihezeitpreis. Und selbst das wird schwierig – wir sind bis unter die Dachkante belegt.« »Wohl eher zum Freundschaftspreis, Kemnor«, warf Darren ein und trat nach vorn. »Um der alten und der zukünftigen Zeiten wegen.« Shanija wunderte sich nicht, dass der weit gereiste Abenteurer den Wirt ebenfalls kannte. »Vor allem aber«, ergänzte Mun, »weil dein Haus noch Lunarien nach meiner Abreise zum Bersten voll sein und dir schwindelerregende Umsätze bescheren wird, wenn bekannt wird, dass ich hier genächtigt habe.« Kemnor kratzte sich nachdenklich im schwieligen Nacken und schien zu rechnen. Die imaginären Sicheln und Halbmonde in seinem Hirn klimperten selbst für Außenstehende deutlich hörbar und türmten sich wahrscheinlich zu Sonnenstapeln auf. Schließlich nickte er und ahmte ein menschliches Grinsen nach. Kurzerhand setzte er eine Reisegruppe aus Thel-Ryon vor die Tür. Diese wollten das natürlich nicht so einfach hinnehmen; nach einigen Minuten Gezeter, Drohungen und Flüche zogen die Thel-Ryoner, denen trotzdem nichts anderes übrig blieb, erbost von dannen. Darren drehte den Kopf zur Wand und betrachtete hingebungsvoll ein dort hängendes Bild, als die Thel-Ryoner mit Sack und Pack
schimpfend die Treppe herunter polterten. Kemnor zeigte den Gefährten ihr Quartier, das sich als größerer Raum mit Tisch und Stühlen und mit in die Wand eingelassenen Alkoven entpuppte, deren Flügeltüren verschließbar waren. Der Tisch war noch mit den Resten der Mahlzeit der Händler bedeckt, und der Wirt beeilte sich, alles abtragen und die Betten neu herrichten zu lassen. Während der Reinigung inspizierten die Frauen die Schränke und das angrenzende Bad. Es gab fließendes Wasser und sogar eine Duschvorrichtung, was As'mala ein süffisantes Grinsen, Seiya einen Entzückensschrei und Shanija ein Seufzen entlockte. Das Zimmer schien einigermaßen sauber, die Schränke frei von grobem Ungeziefer, zumindest gab es keine Ratten und Schlangen, bissiges Moos oder im Holz nistende Spuckpilze, und unter der Balkendecke hingen nur drei oder vier größere Spinnennetze. Etliche Gulmen hatten sich darin verfangen, und ein paar grünlich schimmernde Mugvligs, blutdürstige Insekten, deren Larven zu Myriaden im nahen See heranwuchsen, eine der vielen burundunischen Plagen. »Wartet hier«, sagte Mun, nachdem sie die Betten in den Wandnischen verteilt und ihre Waffen und sonstiges Gepäck auf die frischen Decken geworfen hatten. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Etwas … stimmt nicht in der Stadt.« »Das kannst du laut sagen.« Darren wanderte suchend im Raum umher. Schließlich nahm er ein zusammengefaltetes Stück Pergament vom Tisch, das die Händler aus seiner Heimatstadt in der Eile wohl vergessen hatten. Er faltete es ein weiteres Mal und erschlug damit eine Mugvlig am Fenster, die träge über das Buntglas krabbelte. »Was meinst du?«, fragte As'mala. »Ich kann meine telekinetische Kraft nicht einsetzen«, murmelte Darren. »Das ist der Einfluss des Zentralarchivs«, erklärte Mun. »Die Bibliothekare haben besonders ausgebildete, psimagische Wächter in ihren Reihen, die das Archiv rundum absichern. Schon seit Jahrhunderten hat deswegen kein Unbefugter mehr versucht, sich Zutritt zu
verschaffen. Diese Wächter blockieren mit ihren Kräften zum Teil auch die Psimagie im Gebiet der Seestadt. Der Effekt ist abhängig von der Konstellation der drei Sonnen. Besucher erliegen der Beeinflussung schnell, Einwohner hingegen entwickeln mit der Zeit gewisse Abwehrmechanismen. Deshalb patrouillieren auch Archivwächter durch die Stadt, um unerwünschte psimagische Strömungen aufzufangen.« »Und das macht dir Sorgen?« »Nein. Es sind in diesem Jahr eindeutig zu viele Fremde in der Stadt. Diesmal ist der Rummel noch größer als sonst. Dafür muss es einen Grund geben. Ich werde mich erkundigen. Wartet hier, ich bin bald zurück.« »Ich begleite dich«, sagte Seiya und erhob sich. Mun sah sie einen Moment an und nickte dann. Als die beiden draußen waren, grinste As'mala plötzlich. »Da bahnt sich etwas an.« Shanija stimmte zu. »Ich hoffe nur, dass sie das beide nicht ins Unglück stürzt«, murmelte sie. Darren schwieg mit nachdenklichem Gesicht. * Mun und Seiya brachten eine Menge Nachrichten mit, als sie zurückkehrten. Die Prinzessin sah außerdem wieder ausgehfähig aus; sie trug eine eng sitzende, dreiviertel lange Hose, weiche Halbschuhe, ein Oberteil mit tiefem Ausschnitt, das zudem ihren zierlichen Bauchnabel frei ließ, und eine auf Taille geschnittene Jacke aus Lederseide. Ihre langen schwarzen Haare waren gewaschen und noch nass kunstvoll hochgesteckt worden, und ihr gebrochener kleiner Finger neu bandagiert. Seiya wirkte fröhlich und lebensfroh wie schon lange nicht mehr. Sie war vielleicht ein wenig zu dünn, was von der Gefangenschaft in ELIUM herrührte, aber das unterstrich ihr ätherisches Wesen nur noch mehr. Sie wackelte leicht mit dem verletzten Finger. »Ein Heiler mit besonderer Gabe für Knochen«, verkündete sie. »Der Bruch ist bald verheilt und tut schon gar nicht
mehr weh.« »Das freut mich«, lächelte As'mala und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ebenso wie Shanija und Darren hatte auch sie sich inzwischen geduscht und wieder in Form gebracht. »Aber wovon hast du das alles bezahlt?« »Die Leute drängen es Mun förmlich auf«, antwortete die Prinzessin. »Er ist hier etwas ganz Besonderes. Kein Wunder – der einzige menschliche Adept.« Shanija betrachtete sie prüfend. »Keine Nachwirkungen von ELIUM mehr?« Seiya schüttelte den Kopf, aber kurzzeitig fiel ein Schatten über ihr junges Gesicht. »Ich weiß, dass dort mehr passiert ist, als ihr mir erzählt. Manchmal … drängt in mir etwas nach oben. Mun hat vorhin mit mir darüber gesprochen, und es ist sicher vorteilhaft, wenn ich alles tief in mir begraben lasse.« »Ganz gewiss«, brummte Darren. »Manches ruft man sich besser nie wieder in Erinnerung.« Shanija sagte dazu nichts. »Setzen wir uns zur Besprechung an den Tisch«, sprach Mun in die eintretende verlegene Stille, und die anderen kamen eilig der Aufforderung nach. »Die Stimmung in der Stadt ist dreigeteilt«, begann der Adept. Doch er wurde unterbrochen. Kemnor kam nach kurzem Klopfen herein und fragte nach ihren Wünschen. »Von allem etwas!«, rief Seiya. »Ich will endlich wieder eine anständige Mahlzeit!« Shanija konnte ihr innerlich nur beipflichten; die letzte Mahlzeit lag lange zurück und hatte aus seltsamen Pilzen bestanden. Sie alle konnten etwas vertragen. Der kuntarische Wirt versprach mit einer tiefen Verbeugung, sich vordringlich darum zu kümmern und schloss geräuschvoll die Tür. Sie hörten ihn die Treppe hinunter poltern und mindestens fünf oder sechs Namen rufen. »Wieso dreigeteilt?«, wollte As'mala wissen. »Hoffnung, Freude und Furcht beherrschen die Straßen.« Mun
strich sich über den kahlen Kopf. Es gab ein kratzendes Geräusch; die tägliche Kopfrasur für heute stand noch aus. Sein Gesicht sah müde und abgespannt aus, er wirkte gleichermaßen erschöpft und voller Ungeduld, die Last des in ihm gespeicherten Wissens endlich in Kürze abgeben zu können. »Freude«, fuhr er fort, »teilen all jene, die einzig und allein wegen der Weihezeitfeierlichkeiten in die Seestadt gekommen sind. Das schließt Diebesgesindel und Betrüger ebenso ein wie die fahrenden Händler, die Wirte und die meisten übrigen Gewerbetreibenden, die ohne Zweifel zur Zeit das Geschäft des Jahres machen.« Wie aufs Stichwort klopfte Kemnor erneut an, brachte ein blütenweißes Tischtuch, Geschirr und Besteck und deckte. Sogar einen frischen Strauß Blumen stellte er in einer Vase auf den Tisch. »Für die Damen«, erklärte er und entblößte ein doppelreihiges Raubtiergebiss. Es sah aus wie das Lächeln jenes Krokodils, das den Hersteller einer Handtaschenkollektion bei sich zu Gast hatte. In Kemnors rechtem Auge stand eine farblose Träne, eine Drüsenreaktion, das wusste Shanija inzwischen, die bei allen Kuntar ein Zeichen innerer Aufgewühltheit war. »Kann das weg?« Er wedelte fragend mit dem von den Thel-Ryonern vergessenen Pergament. »Das wird noch gebraucht«, sagte Darren und legte es neben sich. Die Dampfpfeife tutete sechsmal hintereinander. »Bin gleich zurück«, versprach Kemnor, schoss wieder auf den Flur hinaus und rumpelte wie zuvor die Treppe hinab. Dabei rief er Worte in einer knackenden, eindeutig konsonantenlastigen Sprache, wahrscheinlich ein Kuntar-Dialekt. »Hoffnung«, setzte Mun fort, »haben all jene, die als Adepten-Anwärter an den See gekommen sind. Ihre Familien begleiten sie, manchmal sind es sogar organisierte Vereine, die zur Unterstützung ihres Kandidaten mitgekommen sind. Sie veranstalten einen sinnlosen Wahlkampf in den Straßen, als ob dies das Urteil der Bibliothekare in irgendeiner Weise beeinflussen könnte. Zu ihnen gesellen sich jene, die gekommen sind, um dem Aufbruch ihres neu gekürten Adepten beizuwohnen, die alle demnächst aus dem Zentralarchiv zur ersten Reise entlassen werden. Viele werden ihre Angehörigen
lange Zeit nicht wiedersehen.« Die Tür flog auf, und Kemnor schleppte Krüge und mehrere beinahe überschwappende Karaffen herein. »Da bin ich wieder«, verkündete er überflüssigerweise, »mit einer Auswahl an burundunischen Säften. Die Früchte stammen aus den Zuchtgärten der Herbergsgilde und sind einfach köstlich. Alles frisch zubereitet, gesäftelt, geseiert und gesiebt, wenn's beliebt.« Schon war er wieder fort, und sie hörten das übliche Zeremoniell aus Stampfen und Rufen. Sie verteilten die Krüge, schenkten ein und tranken alle gierig. Nach dem letzten Schluck faden Wassers eine Wohltat. Shanija fühlte sich schlagartig wie neugeboren. Ob es an ihrem Durst lag oder nicht, der Saft schmeckte himmlisch. »Und Furcht?«, fragte sie dann ungeduldig. »Die betrifft ein Gerücht«, antwortete Seiya achselzuckend, während sie sich und Mun nachgoss. »Seit Jahrhunderten munkelt man wohl, dass eine bestimmte Ankunft bevorstehe, und das soll jetzt der Fall sein.« »Geschenkt«, winkte Shanija ab. »Nicht schon wieder Dur, der Ewige. Wer zieht diesmal im Hintergrund die Fäden? Die Warner? Oder zur Abwechslung mal die Erlöser?« Sie seufzte und füllte ihren Krug ebenfalls neu. »Natürlich sind alle drei Sekten hier vertreten«, bestätigte Mun, »und du tust weiterhin gut daran, ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber die Ankunft, um die es derzeit hier in Burundun geht, ist mitnichten diejenige von Dur, dem Ewigen oder sogar Gott, dem universellen Schöpfer.« Diesmal schlug die Tür bis an die Wand. »Entschuldigt, ihr musstet ewig auf mich warten, nicht wahr? Dafür bringe ich euch die Re … äh, das Beste, das Küche und Keller hergeben.« Kemnor bugsierte ein mächtiges Tablett vor sich her: mit Körben voll Brot und Backwaren, Schalen, Näpfe und Platten mit Früchten, Honig und Braten, Soßenschüsseln, Tellern mit Rührei und Speck, Kannen mit dampfend heißem Konnack samt passenden Tassen; und dergleichen mehr. Kemnor schwankte unter der Last, aber er schaffte es glücklich damit bis zum Tisch. An der Schuppenhaut sei-
ner schwieligen Stirn hing der Staub von verwischtem Mehl, durchsetzt mit dem braunen Pulver der zerriebenen Konnacknüsse. Der kaffeeähnliche Duft des belebenden Getränks erfüllte rasch das Zimmer. Dazu kam das an Zimt erinnernde Aroma der frischgebackenen Pfannkuchen, die Shanija auf einer weiteren Platte erblickte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Es gab sogar Marmelade für die Pfannkuchen! Am liebsten hätte sie alles, was geboten wurde, auf einmal gegessen. Sie sah an den leuchtenden Gesichtern der Gefährten, einschließlich Mun, dass es ihnen ebenso erging. Nach all den Strapazen war es wie eine Orgie. Wer weiß, wann sie das nächste Mal wieder so satt und zufrieden werden würden … »Wohl bekomm's«, wünschte Kemnor heiser. »Und was die Naschereien betrifft – kostet auf jeden Fall von den Backwaren dort.« Er zeigte auf den größten Korb von allen. Er sah sich verschwörerisch um und flüsterte hinter vorgehaltener Pranke: »Diese Köstlichkeiten stammen allesamt aus der höchsteigenen Backstube des berühmten Dubiknarnasandrakar. Sein Naschwerk ist das edelste der ganzen Stadt. Ihr werdet einen unglaublichen Gaumenschmaus erleben: Es sind Offenbarungen, gewebt aus feinsten Zutaten, süß wie die Liebe, raffiniert wie die Verlockungen einer Konkubine, dabei so zart wie der Schmelz des ersten Schnees, der auf die Kraterzedern fällt.« Seine Zähne glitzerten noch breiter in seinem Echsengesicht, und wenn er vorhin einem weinenden Krokodil geglichen hatte, dann erinnerte er jetzt eher an einen unglücklichen Kaiman, der gezwungenermaßen mit ansehen musste, wie eine Horde fremder Flachlandreptilien die eigentlich ihm zustehende Beute unter sich verteilte. »Das stammt wirklich von Onkel Dubik?«, fragte Mun fast flüsternd. Sein plötzlich gequälter Gesichtsausdruck stand im tiefen Gegensatz zu den Wohlgerüchen, die dem besagten Korb mit den Plätzchen, Törtchen und Hörnchen entstiegen. »Es sind sogar einige Mairee-Pralinen dabei – sie liegen ganz unten, sozusagen als Krönung aller Genüsse. Mögen sie euch köstlicher munden als alle Verlockungen sämtlicher Paradiese, die Dur je geschlossen hat.« Kemnor schluckte schwer, verbeugte sich und zog
die Tür leise hinter sich zu. Kein Rufen und kein Poltern diesmal, als er sich über die knarzende Treppe entfernte. »Wenn nicht Dur, wer dann?«, setzte Darren die unterbrochene Unterhaltung fort. Er legte sich eine daumendicke Scheibe Schinken und jede Menge Beilagen auf den Teller. »Es hängt mit dem Archiv zusammen.« Seiya, die ihren Teller bereits gefüllt hatte, schielte in den Korb, zog mit spitzen Fingern eine der Mairee-Pralinen hervor und steckte sich das dunkel glasierte und mit einer echten Blüte geschmückte Ding verzückt in den Mund. »Dem Gerücht nach erwarten die Bibliothekare einen sogenannten Roten Adepten, der eine gewaltige Bedrohung für das Archiv darstellt.« »Es ist kein Gerücht«, sagte Mun ernst. Er teilte eine Frucht in vier perfekt geschnittene Viertel, starrte auf seinen mit wenigen Speisen bedeckten Teller und nickte dann, wobei ein verstecktes Lächeln um seine Lippen tanzte. Eine Weile aß er schweigend, ebenso wie die anderen. Nachdem die Hälfte der Platten geleert war, setzte er nahtlos wieder an: »Vier dieser besonders begabten Wesen suchten in der Vergangenheit bereits das Zentralarchiv heim. Sie konnten abgewehrt werden. Kein jetzt Lebender kann sich noch an den Vierten erinnern – und doch gilt es im Zentralarchiv als sicher, dass jeder Nachfolgende gefährlicher war als sein Vorgänger. Nur etwa alle zwanzigtausend Jahre folgt auf einen Roten Adepten der nächste. In diesen langen Abständen wird einer geboren, der mächtig genug ist, dass die Bibliothekare ihn fürchten müssen. Der jetzt erwartete Fünfte, so munkelt man in diesen Tagen selbst in den Straßen ehrfurchtsvoll, soll die höchste zerstörerische Kraft besitzen.« Der Adept sah die Gefährten der Reihe nach an. Für einen Moment war nur das Surren einiger Mugvligs, das Klappern der Bestecke und emsiges Kauen zu hören. Shanija schenkte sich die dritte Tasse Konnack ein, der nicht ganz an frisch gebrühten Kaffee heranreichte, ihr aber in diesem Moment weitaus besser dünkte als alles, was jemals aus den Automaten der Flotte in viel zu dünne und viel zu heiße Pappbecher geflossen war. Mun deutete zum Fenster. »Der Rote Adept wird bereits in der
Stadt vermutet. Natürlich ist er kein wirklicher Adept, das ist nur eine Bezeichnung. Er befindet sich unter den Anwärtern.« »Können die Bibliothekare ihn nicht identifizieren?« »Niemand kennt seinen Namen«, beantwortete Mun Shanijas Frage. »Das meine ich nicht. Können sie ihn nicht bei der Auswahl psimagisch als gefährlich erkennen?« Der Adept hielt ihrem Blick stand. »Wenn es diese Möglichkeit gäbe, bestünde dann Anlass zur Furcht?« Er schüttelte den Kopf. »Er wird sogar zu denen gehören, die den Bibliothekaren als besonders geeignet erscheinen und ins Zentralarchiv einziehen. Unerkannt und unentdeckt. Soviel ist gewiss. Ebenso wie eine andere Tatsache.« Er zerkaute langsam eine Frucht. Darren fingerte an dem Pergament herum, faltete es auf, faltete es zu. Entfaltete es wieder und las, was darauf geschrieben stand. Shanija wartete; doch Mun schwieg. Sie blickte ihn fragend an, nickte ihm am Ende auffordernd zu. »Ja? Spann uns doch nicht so auf die Folter!« »Er wird definitiv kein Mensch sein«, antwortete er bedächtig. »Was macht dich so sicher?«, brummte Darren. Mun stützte die Ellbogen auf, legte die Hände an die Schläfen und rieb sie in Kreisen. Er stöhnte leise. »Mun«, stieß Seiya hervor. »Alles in Ordnung?« Ihre Hand berührte beinahe seinen Arm, zuckte dann jedoch scheu zurück. Shanija und As'mala wechselten einen kurzen Blick. As'mala schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Nach dem Essen sollst du ruhn oder schlimme Dinge tun. Ich gehe spazieren; vielleicht macht mich das wieder wach. Kommt jemand mit?« »Ich habe ohnehin etwas in der Stadt zu erledigen«, murmelte Darren geistesabwesend, faltete das Pergament zusammen und steckte es ein. »Ich gehe durch den Hafen«, sagte Shanija. »Ruh dich aus, Mun. Seiya, bleibst du bei ihm?« Die Prinzessin nickte. Shanija war es nur zu recht, die junge Frau in Sicherheit zu wissen.
»Apropos, hat unser reicher Kaufmannssohn ein wenig Kleingeld?« As'mala streckte Darren auffordernd die offene Hand entgegen. Der Abenteurer aus Thel-Ryon seufzte und verteilte eine Handvoll Münzen an die beiden Frauen. Shanija steckte das Geld zu den drei Kristallsplittern, die Pong im Labyrinth von Mandiranei gesammelt hatte, neben den kleinen Lederbeutel in ihrer Brusttasche. »Alter Knauser«, nörgelte die Diebin aus Zata. »Das reicht gerade mal …« »… um dich ein gutes Dutzend Mal zu betrinken und dir ebenso oft den Wanst vollzuschlagen«, versetzte Darren. »Was hast du vor? Burunduns Stiefelmarkt leerkaufen?« »Die haben hier einen Stiefelmarkt?« Damit war As'mala draußen und die Treppe hinunter. »Rechnet nicht so schnell wieder mit mir!«, rief sie zum Abschied und war fort. Shanija und Darren verließen die Herberge gemeinsam. »Ich nehme an, du willst nicht, dass ich dich begleite?«, fragte sie auf der Straße. Er strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. »Es wäre mir lieber«, sagte er aufrichtig. »Keine große Sache, aber etwas, das ich überprüfen muss.« »Hängt sie mit deinem Vater zusammen?« »Ja.« Shanija nickte. Sie wusste, dass Darren noch nicht soweit war, seine Vergangenheit, vor allem seine Familie mit ihr zu teilen. Ihr würde es vermutlich ähnlich gehen, wäre ihre Familie hier auf Less. Sie lächelte und küsste ihn auf den Mund. »Nach dem Siebenklang wieder hier?« »Findest du dich zurecht?« »Ich bin im Getto einer Megalopolis mit über vierzig Millionen Einwohnern aufgewachsen.« Er lachte. »Tut mir leid. Ich unterschätze dich immer wieder. Das könnte für mich gefährlich werden.« Shanija zwinkerte ihm zu, dann trennten sie sich.
An einem Ort, an dem Informationen derart akribisch gesammelt wurden, gab es auch immer jemanden, der mit Informationen handelte. Dieser Jemand sollte zu finden sein. Vielleicht war Shanijas Vorhaben überflüssig. Vielleicht stieß Mun im Zentralarchiv ja tatsächlich auf den Namen und den Aufenthaltsort der Urmutter, jener legendären letzten Überlebenden des Explorer-Raumschiffs Sunquest, die immer noch leben sollte. Was aber, wenn er dort keine Hinweise fand? Sie wollte nichts unversucht lassen. Die Urmutter verfügte angeblich über umfassendes Wissen darüber, wie man von Less mit einem Schiff starten konnte. Wie man das geheimnisvolle Feld, das jede Technik oberhalb der Dampfmaschine zum Zusammenbruch brachte, überwinden konnte. Es hieß, die Urmutter besäße den Schlüssel zu einem erfolgreichen Start, könne aber selbst nicht starten. Was immer das auch heißen mochte. Falls es irgendwo in Burundun jemanden gab, der mehr über die Urmutter oder die grundlegenden Zusammenhänge wusste, wollte Shanija ihn finden. Und sein Wissen erwerben. Ganz gleich, zu welchem Preis. Der Lärm, das Gedränge und das surreale Licht der drei unterschiedlich gefärbten Sonnen nahm sie auf wie ein Meer, in das sie hineinsprang. Shanija war fast am Hauptplatz des Steinernen Hafens angelangt, als sie einen Stoß in den Rücken erhielt.
Vergib Deinen Feinden, aber vergiss niemals ihre Namen. (John F. Kennedy, 35. Präsident der USA, 1917-1963)
3. Windreit fuhr von ihrem Lager hoch, als die Dampfpfeife ertönte. Benommen zählte sie die tiefen, langen Laute mit. Halb und halb mischten sie sich mit den letzten Wendungen ihres verworrenen Traums. »Sechsklang«, murmelte sie und gähnte. Zu wenig Schlaf für eine durchwanderte Nacht, zu viel für eine Diebin, die schlechte Geschäfte gemacht hatte. In einem der beiden anderen Räume des Pfahlbaus hantierte Windfang leise mit irgendwelchen Gerätschaften. Schwacher Rauchgeruch machte sich breit und fing sich unter dem Mattendach. Entweder bereitete ihre Zwillingsschwester eine Mahlzeit zu, oder sie wollte waschen. Das Feuerholz ging allmählich zur Neige, was bedeutete, dass sie schwere Körbe fast einen K'lomata weit über die Stege würden schleppen müssen. Dabei fiel Windreit Windfangs unerklärliche Schwangerschaft ein. Auch darum würde sie sich kümmern müssen. Sie erhob sich, schlug die Lederhäute der hinteren Türöffnung zur Seite und trat in helles Sonnenlicht hinaus. Die Zeit der Frühmärkte war längst vorüber; die Fischerboote dümpelten verlassen an ihren Anlegern vor den Pfahlbauten, den schwimmenden Hütten und den anderen rohen Behausungen, von denen keine der anderen glich und für die es keinen Namen gab. Die Mittagshitze war wenige Klänge entfernt, und es war jetzt schon spürbar warm geworden in Lakara. Die unverkennbaren Geräusche der Schwimmenden Stadt drangen von allen Seiten auf Windreit ein und vertrieben die Reste des Schlafs aus ihren umnebelten Sinnen. Kleine Kinder greinten irgendwo, Größere planschten von einem Steg mit Gejohle ins Wasser.
Zu dieser Tageszeit spielte sich das Leben hauptsächlich in Burundun ab, auf festem Boden und in der vermeintlichen Sicherheit der belebten Straßen. Auch auf Lakaras schwankenden Stegen waren jetzt nicht nur Heranwachsende, Müßiggänger, Alte, Schwache und Kranke zu finden; doch es war alles sehr viel geruhsamer. Da gab es die dicken, tratschfreudigen urianischen Frauen und die Handwerker: Netzknüpfer, Weber, Mattenflechter, dazu fliegende Händler, Garköche und wandernde Wundheiler, die alle irgendwie über Bohlen und Planken, über Stegleitern und Fallreeps, über Bogenbrücken und Pontons ihren Weg suchten oder vor den Hütten sitzend ihrem sie kaum ernährenden Tagwerk nachgingen. Vor dem Mittag wagten sich auch einmal vereinzelte, verstohlen um sich blickende Burunduner oder Fremde über die Stege, um scheu nach einer Lumini zu fragen. Es gab dem Gerücht nach einige der »Begabten Frauen« in Lakara, wenn auch niemand von der burundunischen Stadtverwaltung ihre Existenz jemals öffentlich zugegeben hätte. Die Angaben über ihre Anzahl schwankte stärker als ein pendelndes Tau im Sturm. Windreit hatte von weniger als einer Handvoll bis hin zu über Hundert gehört. Begegnet war sie einer Lumini noch nie – die Frauen lebten im Verborgenen, und das nicht ohne Grund. In Lakara sollte sich diese ziemlich neue Gilde angesiedelt haben, deren Angehörige seltsamerweise ausschließlich weibliche Humains waren. Warum sie sich als Lumini bezeichneten, mochte allein Maris wissen. Windreit wusste nur, sie verkauften ihre Dienste an jeden, der genug zahlte. Dieses Geschäft wurde heimlich abgewickelt, denn die Wahrsprecher waren hinter den Lumini her wie die Maden hinter dem Speck. Die Lumini lebten gefährlich; meistens sollten sie bereits nach einem Kunden ihren Aufenthaltsort wechseln und ans gegenüberliegende Ufer des Sees ziehen. Die Begabten Frauen verfügten – angeblich, Windreit hatte da so ihre Zweifel – über die Fähigkeit, sich geistig in das im Zentralarchiv gehortete Wissen hinein zu versetzen, um auf diese Weise an Informationen heranzukommen, auf die sonst nur die Gilde der Wissensträger Zugriff hatte. Die Kunden der Lumini konnten ihnen
beliebige Fragen stellen: nach lohnenden Handelsrouten, vermissten Personen, wirtschaftlichen Entwicklungen, medizinischen Problemen, geheimen Vertragsinhalten, testamentarische Verfügungen, der Treue oder Untreue gewisser Personen oder was immer sie zu erfahren begehrten. Es hieß, für ihr Geld erhielten sie die jeweils auf den gesammelten Schätzen des Archivs beruhende bestmögliche Antwort. Falls das stimmte, mochte das die hohen Preise der Lumini rechtfertigen. Natürlich war das Anzapfen des Zentralarchivs in vielfacher Hinsicht illegal. Wobei der Begriff »legal« wie überall auch in Burundun von jenen festgelegt wurde, die über die Macht dazu verfügten, nämlich den Bibliothekaren. Nicht nur das Wissensmonopol des Zentralarchivs wurde durch die Tätigkeit der Lumini gebrochen. Der geistige Diebstahl der Begabten Frauen hatte auch noch einen unangenehmen Nebeneffekt für die Fragesteller. Die aus dem Wissensspeicher des Archivs abgezogenen Informationen wurden automatisch durch Erinnerungen aus dem Kopf des jeweiligen Kunden ersetzt, da sonst der Diebstahl der Lumini sofort aufgeflogen wäre. Windreit konnte sich nicht vorstellen, wie sich dieser Vorgang abspielen sollte. Vielleicht war er mit einem Trick vergleichbar, den sie als Taschendiebin oft benutzte, obwohl ihr klar war, wie sehr dieser Vergleich hinkte: Um zu verhindern, dass die Fortnahme eines Beutels zu früh bemerkt wurde, steckte sie einen ähnlichen Gegenstand als Ersatz an die Stelle des entwendeten Beutels. Für den Eigentümer fühlte es sich zumindest eine Weile so an, als habe er keinen Verlust erlitten. Zeit genug für Windreit, unbemerkt zu verschwinden. Welche Erinnerung aus dem Kopf des Kunden abgezogen wurde, konnte die vermittelnde Lumini nicht steuern. Es konnte also sein, dass man nach der »Beratung« zwar die Antwort auf seine drängendste Frage kannte, jedoch die Frage selbst und den Grund der eigenen Anwesenheit in Lakara vergessen hatte. Ebenso sollte es schon geschehen sein, dass sich Fragende nach einer Sitzung nicht mehr an ihren Namen, ihre Heimat, ihre Familie oder ihren Geburts-
ort erinnern konnten. Es passierte wohl nicht jedem, sondern etwa jedem Zehnten, aber es war ein unkalkulierbares Risiko, ein zusätzlicher Preis, den jeder Wissenssuchende hinnehmen musste. Windreit schüttelte es: Ihr wäre es nicht im Traum eingefallen, jemals die Dienste einer Begabten Frau in Anspruch zu nehmen. Dann lieber ein ehrliches Leben als Taschendiebin führen, dachte sie und merkte, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Hinter ihr raschelte es. Der Duft von frisch aufgebrühtem Konnack wehte ihr um die Nase, als ihre Schwester vor die Hütte trat und ihr eine heiße Schale reichte. »Danke. Wie geht es dir?« Stumm hob Windfang ihre Hand. Die Schwimmhäute hatten sich weiter verfärbt; ihr Rosa wurde zusehends rötlicher. »Ich fühle mich schwer und aufgedunsen«, sagte sie. Ihr Bauch hatte sich kaum gerundet, aber das besagte wenig: Selachinnen wölbten ihre Leiber während einer Schwangerschaft nicht besonders aus. »Wie im sechsten Lunarium, so siehst du aus«, stellte Windreit prüfend fest. »Jede Bewegung fällt mir schwer«, seufzte Windfang. »Und schwer ist das Stichwort: Wir brauchen dringend Feuerholz.« »Ich habe es bemerkt. Auf dem Rückweg bringe ich welches mit.« Wann sie aus Burundun zurück sein würde, war unbestimmt und hing von den Gegebenheiten ab – wie schnell sie jemanden fand, den sie um seine Barschaft erleichtern konnte. Windreit leerte die Schale, griff nach ihrem Schultersack und machte sich auf den Weg. * In der Nähe des Steinernen Hafens betrat Windreit festen Boden. Allerdings war nicht der Hafen ihr Ziel, sondern das naheliegende Viertel der Spieler. Während sie den Hafenplatz überquerte, suchte sie nach Anzeichen, ob die Anwärter ihren Ruf schon erhalten hatten, aber nichts deutete darauf hin. Der Weihenachen lag wie seit Tagen schon unbeweglich am Ostpier, unbemannt und unzugänglich für jeder-
mann, aber dicht umstellt von einem bewaffneten Kordon aus Archivwachen. Das Banner der Wissensträgergilde, die schwarze, in sich gedrehte Schleife auf weißem Grund, flatterte an rund um den Anlegeplatz aufgestellten Masten über ihren Helmen. Windreit ließ die Dampfpfeife auf ihrer Insel hinter sich, langte im Vorübergehen in den Obstkorb eines Straßenhändlers und biss herzhaft in den gestohlenen Apfel. Auch wenn sie die Humains nicht sonderlich mochte – die Äpfel, die sie als Saatgut mit nach Less gebracht hatten und deren Bäume mittlerweile weit verbreitet wuchsen, waren ein nicht zu verachtender Genuss. Die Selachin war so in den süßsauren Fruchtgeschmack vertieft, dass sie ihre Umgebung für einen Moment nicht beachtete und prompt mit jemandem zusammenstieß. Bei Maris! Auch das noch – eine Humainfrau!, dachte Windreit angeekelt, als ihr Gesicht in einer Mähne brünett-roter Locken versank. »Was zum …!« Die Menschenfrau kreiselte blitzschnell herum, ihre Arme fuhren auseinander, die Hände zu schlagbereiten Sicheln erhoben. Windreit sah sich von einem Paar strenger, grüner Augen gemustert. Sie beugte ihr Haupt in einer Geste der Demut. »Verzeiht einer Unaufmerksamen«, bat sie. »Vergebt meinem Ungestüm; es geschah ohne Absicht. Ich hoffe, ich habe Euch nicht belästigt?« Die Grünäugige nahm die Hände herunter. Ihr Ellbogen strich an der linken Körperseite entlang. Sie verrät sich selbst durch ihr unbewusstes Tasten: ihr Geld steckt in der linken Innentasche unterhalb ihrer Brust. Windreit, bedeutend kleiner als die Humain, streifte mit ihrem Blick die Stelle, an der die Jackensäume der Grünäugigen einander berührten. Unwillkürlich fiel ihr die Verzierung auf der nackten Haut über dem Brustbein auf, die wie ein geflügeltes Reptil geformt war. Erst dachte Windreit, es handle sich um eine Tätowierung, aber es war eindeutig etwas anderes. Es sah aus, als habe man der Humain die Formen zuerst in die Haut geritzt und die offene Wunde danach mit flüssigem Metall ausgegossen; je nach Lichteinfall schimmerte die Verzierung wie Jade oder als ob sie gar aus Gold wäre. Die winzigen Augen des
Reptils leuchteten rubinrot. Wenn das echtes Gold ist, oder Jade oder beides, fuhr es Windreit durch den Sinn, dann kenne ich mindestens einen Händler, der für dieses Stück Haut ein paar Opale springen ließe. Falls auch die beiden Rubine echt waren, ließ sich der Preis vielleicht verdoppeln. »Schon in Ordnung«, sagte die Humain. »Ich danke Euch vielmals«, antwortete Windreit und verbeugte sich abermals. Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen, aus der Reichweite möglicher Schwert- und Handkantenhiebe. Windreit kehrte ihr den Rücken zu und verzog sich ins Gassengewirr. Hinter einer Säule verborgen beobachtete sie, wie die Grünäugige langsam weiterging, als habe sie kein Ziel. Trotzdem sah sie sich im Gehen immer wieder sorgfältig um und tauchte bald darauf in eine schattige Seitengasse ein. Windreit nickte beifällig. Das passte vortrefflich. Die Gasse führte direkt zum Viertel der Spieler. Eine Dampfplattform zischte und dröhnte heran und ratterte laut über den Hafenplatz. Alle Augen wandten sich der Plattform zu und folgten der bedrohlich schwankenden Ladung, und in der allgemeinen Ablenkung eilte die Selachin hinter der Säule hervor, lief quer über die Straße und bog in die Mauerschatten ein. Ein ockerfarbener Wunta, ein Allesfresser mit einem fast unterarmlangen Gebiss, riss seinen Kopf herum und knurrte sie warnend an, als sie an der dritten oder vierten Eingangstür vorbei eilte und an einem Haufen Abfälle vorüber musste, in denen das vierbeinige, etwa kniehohe Tier mit seiner langen Schnauze herumstocherte. Als der Wunta erkannte, dass die Selachin ihm seinen Fressplatz nicht streitig machen wollte, wühlte er sich wieder in die fauligen Tiefen und würdigte Windreit keines weiteren Blicks. Hinter dem Abfallhaufen machte die Gasse einen Knick. Als Windreit um die Ecke bog, sah sie die Humainfrau vor sich durch die Schatten gehen, höchstens fünfzehn oder zwanzig Schritte entfernt. Niemand sonst hielt sich in der Gasse auf. Bis zur nächsten Kreuzung war es mindestens doppelt so weit – mithin ein fast idealer Ort
für einen Überfall. Fast nur deshalb, weil sich über der Diebin einige geöffnete Fenster befanden, durch die möglicherweise unliebsame Zeugen spähen mochten. Windreit warf einen raschen Blick hinauf, doch niemand war zu sehen. Dennoch waren die Wohnungen belebt; sie hörte jemanden leise singen, ein anderer hustete sich die Lunge aus dem Leib. Direkt über ihr drang das Nörgeln eines Kindes herab, gefolgt von einem klatschenden Geräusch, woraufhin brüllendes Geschrei einsetzte, das von belferndem Gekeife übertönt wurde. Windreit fühlte in sich hinein und spürte keinerlei Widerstand. Das bedeutete, sie würde von einem Augenblick zum anderen in die rote Welt eintauchen können. Manchmal war bis hierher der Einfluss der Bibliothekare stark genug, um ihr den Zugang zeitweilig zu verwehren; hier und jetzt aber hinderte sie nichts daran, ihre Kraft zu gebrauchen. Sie machte sich schwer, und alles um sie herum wurde still. Das ohnehin spärliche Licht in der schmalen Gasse warf Schatten von der Farbe dunklen Weins; über die Kanten der Häuser legte sich ein roter Schimmer. Die vertraute Kühle prickelte in den empfindlichen Enden ihrer Falli. Nichts deutete auf ein Zeitloch hin. Maris meinte es gut mit ihr. Die grünäugige Frau vor ihr schien mitten im Gehen eingefroren worden zu sein. Der rechte Fuß schwebte eine Handbreit über dem Pflaster, die linken Fingerspitzen strichen gedankenverloren über die nahe Hauswand. Windreit eilte um die Humain herum und betrachtete ihr Opfer. Die widerlichen rötlichen Haare waren zurückgeworfen, die Humain hielt das Kinn vorgereckt, die Lider senkten sich gerade zu einem Blinzeln. Windreit streckte die Hand aus und tastete über die linke Jackenseite. Sie verkniff sich ein Lächeln, als sie den Beutel an der vermuteten Stelle spürte. Sie bog das in der roten Welt widerspenstige, starre Leder der Jacke mit einigem Kraftaufwand auseinander, griff hinein und zog den kleinen Beutel hervor. Die Lider der Frau waren jetzt vollständig geschlossen. Windreit öffnete die Verschnürung und drehte den dünnen Beutel um, um seinen Inhalt herauszunehmen.
DAS WÜRDE ICH AN DEINER STELLE BESSER UNTERLASSEN! Die Stimme kam so ganz und gar unerwartet, dass Windreit erschrak wie nie zuvor in ihrem Leben. Unwillkürlich ließ sie den Beutel los, und er schwebte scheinbar vor ihr in der Luft. Millimeterweise begann er zu fallen. Glitzernde Kristallsplitter quollen zäh wie geronnener Sirup aus seiner Öffnung. Es war völlig unmöglich! In der roten Welt existieren keine Geräusche. Daher konnte es auch keine Stimmen geben. Auch keine, die so laut und grollend und dunkel und hallend tönten wie diese. Einbildung!, dachte Windreit schweratmend. Ich bilde mir das nur ein. Ich bin mit den Nerven völlig runter und halluziniere. In diesem Moment sah sie das gelbliche Glimmen im Ausschnitt der Menschenfrau. Die Verzierung! Sie leuchtete auf wie flammendes Gold. Die beiden Rubine, die Augen des reptiloiden Wesens, strahlten auf wie glühende Kohlen. Ein Anblick, der sich wie stechende Nadeln in Windreits Netzhaut brannte. DER ZUGRIFF WIRD VERWEIGERT! Sie fühlte sich durch die Rubinaugen beobachtet. War das möglich? »Sprach« etwa die Verzierung mit ihr? Wenn das stimmte, dann war das kaum einen Handteller große Stück Haut mit dem Bildnis weitaus kostbarer, als die Diebin bisher angenommen hatte. Windreit verfiel keinen Augenblick auf die Idee, der Stimme zu antworten. Sie hatte es mehr als einmal versucht, in der roten Welt zu sprechen – es war ihr nie gelungen, auch nur einen Ton hervor zu bringen. Sie biss sich auf die Lippen und schwankte in ihrer Entscheidung. Sie konnte den einfachen Weg wählen, sich den kargen Inhalt des Beutels schnappen und verschwinden. Doch die Versuchung, den anderen Weg zu wagen, war groß. Sehr groß sogar. Andererseits würde das bedeuten, Blut zu vergießen. Etwas, das Windreit verabscheute und vermied, wo es nur ging. Aber würde ihr etwas Vergleichbares wie dieses kostbare Stück Haut jemals wieder in Reichweite ihrer Diebeshände geraten? Nein. Und gab es eine andere Möglichkeit, es in die Finger zu kriegen, als es mit ein, zwei raschen Schnitten von der Brust der Menschenfrau zu lösen? Aber-
mals nein. Die Wunde wird schmerzhaft, aber nicht tödlich sein, beruhigte sie sich. Die Humain wird es überleben. Besser entstellt als tot. Andere würden weniger zimperlich sein als sie, das wusste Windreit. »Menschhaut heilt gut«; lautete so nicht ein kuntarisches Sprichwort? Und die Frau war letzten Endes selber schuld. Was trug sie ihren Schmuck auch für jeden sichtbar durch die Gegend? Die Diebin zückte das Messer. Der Beutel mit den herausrutschenden Kristallen fiel in dieser Zeit zwei Fingerlängen weiter. Das Messer hatte eine kleine, gekrümmte Klinge aus Porzellan, schärfer als jeder Stahl und bestens geeignet, um widerstrebende Nähte oder Halteschnüre zu durchtrennen. Oder um ein Hautstück zu erbeuten. Windreit hob die Klinge und setzte sie an das Brustbein der Humainfrau. Deren Lider hatten sich wieder halb erhoben, die Pupillen darunter blickten sie direkt an, und zum ersten Mal fragte sich Windreit, ob sie von diesen grünen Augen bemerkt werden konnte. ICH SEHE DICH! ICH KENNE DEIN GESICHT! UND ICH VERGESSE NICHTS! Einen ihr endlos erscheinenden Atemzug lang zögerte Windreit. Sollte sie auf die Warnung hören und die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen? Weil sie eine Stimme hörte? An einem Ort, an dem es keine Stimmen geben konnte? Vermutlich würde sie nie wieder so günstige Umstände vorfinden. Und ein Beutestück wie dieses. Auf dem burundunischen Schwarzmarkt wurden für Raritäten jeder Art teilweise Unsummen gezahlt. Ein sprechendes Stück Haut, das wie Jade wirkte und im nächsten Moment glänzte wie mehrere Unzen verflüssigtes Gold, würde die reichsten Sammler auf den Plan rufen. Mit geschliffenem Gestein in der Tasche. Konnte Windreit es sich überhaupt leisten, auf den zu erwartenden Gewinn zu verzichten? Niemand wusste, was aus Windfangs ebenso ungewollter wie ungewöhnlicher Schwangerschaft erwachsen würde. Sehr wahrscheinlich würden sie in naher Zukunft jeden Halbmond dringend brauchen.
Also vorwärts. Sie drückte die Klinge in die bräunlich schimmernde Epidermis der Humainfrau. Die Haut wich förmlich zurück, klaffte vor dem hauchdünnen Porzellansplitter auseinander. Kein Blut entwich. Dazu war das Messer in der roten Welt zu schnell. Der Lederbeutel passierte den Gürtel. Windreit zog mit der Klinge einen halben Kreis um die Verzierung herum. Sie führte das Messer zurück, um es für den zweiten Halbkreis anzusetzen. Dabei legte sie die Hand auf die leuchtende Darstellung des geflügelten Reptils. Und schrie vor Schrecken auf. Das Ding glühte tatsächlich! Sie sah, wie die Menschenfrau gleichzeitig die grünen Augen aufriss. Ein Schwall Blut spritzte in Windreits Augen. Ein widerlicher, Brechreiz erregender Eisengestank ging von ihm aus. Etwas traf unversehens ihr Handgelenk, und ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren rechten Arm. Die Porzellanklinge wirbelte davon und klirrte an der Hauswand entlang. Ein zweiter, noch heftigerer Schlag traf Windreits Brustbein und schleuderte sie vier, fünf Schritte die Gasse hinunter. Der Beutel und die herausgefallenen Kristalle landeten auf dem Boden. Keuchend rang Windreit nach Luft. Zu spät begriff sie – sie befand sich wieder im normalen Zeitablauf! Etwas hatte sie aus der Kühle der Roten Welt heraus katapultiert. Aber was, bei Maris? Sie wischte sich das Blut aus den Augen. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, mit welcher Gewandtheit sich die Grünäugige plötzlich bewegte. Mit einem Schrei schnellte die Humainfrau auf sie zu. Sie hechtete durch die Luft. Ihr großer, schlanker Leib schoss über das Pflaster. Ihre Gestalt streckte sich im Flug, die Hände stießen wie zwei Lanzenspitzen auf die Kehle der Selachin zu. Windreit sackte in sich zusammen – gerade rechtzeitig; sie spürte die Schwere und gewahrte erleichtert den vertrauten, roten Schimmer auf den Kanten der nächstgelegenen Tür. Die Kühle schlug ihr um die Ohren wie eine Woge. Die Humainfrau fror gleichsam mitten in der Luft, inmitten ihres Hechtsprungs ein. Durch die lockigen
Haare lief eine langsame Welle. Windreit stieß den Atem aus und wagte vorsichtig, sich wieder zu bewegen. Ohne zu wissen, wie, war sie dem Verhängnis noch einmal entronnen. Es war ihr gelungen, wieder in die rote Welt zu tauchen. Hatte es ihr Instinkt ausgelöst? Oder die Todesangst? Der Drang zu fliehen wurde übermächtig, denn hier ging es ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Die Diebin ließ den Beutel und die Kristalle liegen. Aber sie bückte sich nach dem kostbaren Messer, zwängte sich unter dem langsam vorwärts schwebenden Frauenkörper durch und rannte dann die Gasse entlang, zurück Richtung Hafen.
Der Wunta hörte plötzlich einen dumpfen Aufprall und eine wütende Stimme, die sich an der Hauswand brach. Er spielte mit den Ohren und witterte. Warmes Blut, das von einem Wesen stammte und sich doch an zwei verschiedenen Orten befand. Abermals schnupperte er und schüttelte sich verwirrt. Da war ganz deutlich eine Duftspur, deren Quelle bewegungslos um die Ecke verharrte, und eine andere, sich schnell entfernende Marke. Wuntas waren Aasfresser und von Natur aus alles andere als mutig. Das Tier trollte sich in einen Hauseingang, als schwere Stiefelschritte plötzlich durch die hohle Gasse dröhnten. Ein Dutzend Beine wirbelten vorbei, jemand brüllte Kommandos, die von den Wänden widerhallten, tote Tierhaut knarzte, totes künstliches Zeug schepperte, und der Wunta machte sich ganz klein. Von allen Dingen fürchtete er die Tritte der Zweibeiner am meisten.
Der schnellste Weg zum Herzen einer Frau? Mit einer Axt durch die Brust. (Muthaffisches Sprichwort)
4. Eben noch glaubte Shanija die filigrane Frauengestalt mit dem Medusenhaupt zum Greifen nah vor sich zu sehen, da löste sie sich vor ihren Augen in Luft auf, als habe es sie nie gegeben – und Shanija krachte mit voller Wucht aufs Pflaster. Hart stieß sie sich die Schulter, und ihre rechte Hand knickte beim Versuch ab, den Fall abzufangen. Die Wunde an der Stirn platzte wieder auf. Auf der Brust brannte höllisch eine frisch blutende, mehrere Zentimeter lange Schnittwunde, die ihr das Miststück auf unbekannte Weise beigebracht hatte. Genau um Pongs Relieftattoo herum. Sie war einer gottverdammten Diebin in die Arme gelaufen! Der Zusammenstoß vorhin war also doch kein Zufall gewesen, denn Shanija hätte alles darauf verwettet, dass es sich bei dem grünhäutigen Wesen mit den Jade-Brüsten vom Hafen und der Diebin hier in der Gasse um einund dieselbe handelte. »Fuck!« Shanija verdrängte den Schmerz, der an vielen Stellen ihres Körpers pochte, rappelte sich mit zusammengebissenen Zähnen auf und humpelte ein paar Schritte dorthin zurück, wo ihr aufgerissener Lederbeutel im Straßenstaub lag. Sie stutzte, als sie erkannte, dass der Beutelzug nicht gerissen, sondern vollständig aufgebunden worden war. Hastig sammelte sie die herausgefallenen Kristalle ein, steckte sie in den Beutel zurück und verstaute ihn wieder bei den Münzen in der Tasche. Die medusenhäuptige Diebin musste über eine psimagische Gabe verfügen, die sie rasend schnell werden ließ. Teleportation war es nicht, dann wären die Konturen nicht verwischt. Von einem Moment zum anderen war dieser brennende Schmerz an Shanijas Brust gewesen, und dann kurzzeitig, wie bei einem Holofilmtrick, der ra-
sende Geschwindigkeit visuell simulierte, die Hand mit der dünnen, weißlichen Klinge aufgetaucht. Instinktiv hatte Shanija sich zur Wehr gesetzt und einen schweren Körpertreffer gelandet. Vorher aber hatte es die Grünhäutige zuwege gebracht, ihr den Beutel aus der Tasche zu ziehen und den Knoten der Verschnürung zu lösen! Irgendwas muss schiefgegangen sein, dachte Shanija, normalerweise hätte sie mit dieser Gabe fort sein müssen, bevor ich irgendetwas mitbekommen hätte. Vielleicht der Einfluss der Archivwächter. Oder … Ihr Blick glitt zum Himmel. Gab es schon Veränderungen, die die Passage ankündigten? Muns und Darrens Worten zufolge passierten in letzter Zeit selbst für Less seltsame Dinge. Das alles musste einen Zusammenhang haben – die ständige Verfolgung durch die Sekten, das mögliche Auftauchen des Roten Adepten, Ausfälle der Psimagie … Zumindest in diesem Moment hatte sich die Veränderung, wenn es so war, als Segen für Shanija erwiesen und nicht nur ihr, sondern auch Pong das Leben gerettet. Sie presste ein Taschentuch, das sich rasch rot färbte, auf die pochende Wunde. Ein Glück, dass es nicht den kleinen Drachen getroffen hatte. »Pong?« Der Schmuckdrache rührte sich nicht. Das war nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Womöglich lud er sich immer noch von den vorangegangenen Anstrengungen auf und hatte von dem Kampf nicht das Geringste mitbekommen. Shanija wollte sich eben zum Gehen wenden, als sie die rasch näherkommenden, trampelnden Schritte hörte. Diesen Rhythmus kannte sie nur zu gut, aber er beruhigte sie keineswegs. Sie tastete nach dem Kurzschwert aus Kreischerstahl und erwog zu fliehen, doch es war zu spät. Uniformierte Gestalten bogen bereits um den Knick und sieben oder acht Gewehrläufe nahmen sie unverzüglich ins Visier. Shanija hob die Hände. Die Distanz betrug höchstens zehn Meter. Man musste kein Scharfschütze sein, um sie zu treffen. Bis zum Ausgang der Gasse gab es keine Deckung. Weitere Uniformierte polterten um die Ecke. Alle waren humanoid, aber keine Menschen. Sie gingen in die Hocke, sicherten, winkten
nachfolgende Soldaten nach vorn. Shanija fühlte sich fast geschmeichelt bei so viel Aufwand. Widerstandslos ließ sie sich entwaffnen und an den Händen mit Stahlbändern fesseln. Ein mit Rangabzeichen dekorierter Offizier rief ein Kommando. Jemand stülpte ihr einen Sack über den Kopf. Kräftige Fäuste packten sie und schleiften sie fort. * Als Shanija die Kapuze abgenommen wurde, fand sie sich in einem typisch kahlen Raum wieder. Vier fensterlose, gallfarbene Wände. Gaslampen zischten leise und warfen ein bläuliches Licht auf die Einrichtung. Ein nichtssagender Tisch. Zwei schweigende Türen. Drei sprachlose Stühle. Auf einem davon saß sie, mit den Stahlklammern an die Armlehnen gefesselt. Die beiden anderen hielten zwei Uniformierte in Beschlag. Wären die Wände aus Metall und das Licht elektrisch gewesen, sie hätte sich fast wie zu Hause fühlen können – in Washington-YorkState, in einem der vielen Police Departments. Sie haben glatt den Einwegspiegel vergessen, dachte Shanija in einem Anflug von Galgenhumor. Zum Ausgleich hing an einer Wand ein Regal mit einem Sammelsurium an Stöcken, Peitschen und unterschiedlich gebogenen Zangen. An der anderen Wand baumelten eiserne Reifen an kurzen Ketten. Praktisch! So sparen sie sich den Folterkeller. Sie warf einen kurzen Blick auf den Fußboden, der mit dunkelbraunen Flecken gesprenkelt war. Die Uniformen waren in den Farben des Zentralarchivs gehalten. Über schwarzen Hosen und dunklen Lederstiefeln trugen ihre Bewacher enge, weiße Jacken, deren Aufschläge und Reverse genau den blauen Ton aufwiesen, in dem auch Muns Adeptenmantel gehalten war. Shanija erinnerte sich, am Hafen ein halbes Bataillon dieser Soldaten am Anlegeplatz eines flachen, größeren Bootes gesehen zu haben. Wahrscheinlich saß sie nun den berüchtigten Archivwachen gegenüber. Auf dem Tisch lagen die Helme der beiden; über
der Stirn fand sich das Symbol des Zentralarchivs, das schwarze Möbiusband auf weißem Grund. Es wiederholte sich auf dem Brustteil ihrer Uniformen. Als winzige metallene Spangen prangte es zudem am Kragen. Rangabzeichen. Die Humanoiden besaßen keinen Haarwuchs. Ihre Hautfarbe war ein schokoladiges Braun; die Oberfläche wirkte rau und erinnerte vom Aussehen her an Schlangen- oder Eidechsenhaut. Bei bestimmten Bewegungen schimmerte ein gelblicher Unterton auf. Gelblich waren auch die Fingernägel und die Pupillen, die auf elfenbeinfarbenen Augäpfeln saßen, deren Durchmesser gut doppelt so groß war wie bei einem Menschen. Ihre Körpergröße schätzte Shanija auf zwei Meter. Sie waren schlank, aber kräftig. Shanija spürte immer noch den festen Griff an ihren Armen. »Was immer mir man auch vorwirft – es handelt sich ohne Frage um ein Missverständnis«, ergriff sie die Initiative, als ihr das Schweigen zu lange dauerte. Natürlich behaupten das alle, dachte sie, aber zur Eröffnung fiel ihr nichts Besseres ein. Die beiden Männer schwiegen und würdigten sie keines Blicks. An ihren Gürteln hingen je ein Messer und eine Faustfeuerwaffe. Minuten vergingen. Weitere folgten. Die beiden Wachen beantworteten weder Fragen, noch stellten sie selbst welche. Draußen wanderte Flavor in den Zenit. Die Tür flog plötzlich auf, und ein weiterer Humanoider derselben Art betrat den Verhörraum. Er trug einen dunkelroten Umhang über der Uniform, exakt in der Art gefaltet und von einer goldenen Fibel gehalten, wie Shanija sie aus historischen Dokumentationen über die römische Armee kannte. Die beiden Wachen fuhren von ihren Stühlen hoch und nahmen neben den Türen Aufstellung. Erst als er sich setzte, bemerkte Shanija den kleinen, farblosen und kreisrunden Kristall, der dem Offizier in die Stirn operiert war. »Wer bist du?«, begann er das Verhör mit männlich tiefer Stimmlage. Seine Hände lagen flach auf dem Tisch. »Ich bin die Königin von Saba«, wollte sie sagen. Der Kristall auf der Stirn bekam einen winzigen roten Leuchtpunkt.
»Shanija Ran, Colonel der Marine Special Force WILD RAMS, Dienstnummer T-19.846.367-WR«, schnarrte sie stattdessen herunter. Tiefe Erleichterung füllte plötzlich jede Faser ihres Seins, ihm ihre flapsige Antwort erspart und die Wahrheit gesagt zu haben. Im Grunde war es nicht so schlimm, hier zu sitzen und sich mit dem Mann zu unterhalten. Sie wich dem Blick der gelben Augen nicht aus, hütete sich aber andererseits, ihn zu provozieren. »Du hast eine starke Kraft eingesetzt«, behauptete er. »Wofür?« »Das geht dich einen feuchten Scheißdreck an«, wollte sie sagen. Der Leuchtpunkt im Inneren des Kristalls wuchs auf die Größe eines Stecknadelkopfes, zugleich wurde das Rot um mehrere Nuancen dunkler. »Ich weiß davon nichts«, hörte sie sich stattdessen antworten. Sie stieß den Atem aus und fühlte die Gänsehaut die Arme hinauf und den Rücken hinunter kriechen. Nein, es war nicht unangenehm, eher hatte es den Charakter von Mach's-noch-einmal-Sam. Das düstere Glimmen im Innern des Steins nahm einen Rhythmus an; es schwoll an oder wurde fast unsichtbar, ging gleichsam an und aus wie eine Leuchtdiode im Cockpit ihres dahingegangenen Sturmvogels, an und aus, an und aus, an und … »Wer war bei dir?« Die Frage riss sie von irgendwo weg. »Nie-mand«, sprach sie, diesmal ganz langsam, vollkommen auf die zwei Silben konzentriert. Doch ihre Lippen formten daraus: »Ich wurde überfallen. Ich kenne die Frau nicht.« Shanija spürte, wie ihr der Schweiß auf der Stirn, auf dem Rücken und zwischen den Brüsten ausbrach. Die Wunde um ihr Relieftattoo brannte wie Feuer. Sie spürte, wie etwas warm in ihren Ausschnitt rann. Etwas wie Belustigung umspielte die spröden, lehmfarbenen Lippen des Mannes. »Auch wenn du dich wehrst«, sagte er. »Es ist zwecklos, nicht wahr? Versuch es, solange du willst, du kannst die Wahrheit nicht vor mir verbergen. Aus deinem törichten Sträuben schließe ich, dass du noch nie zuvor einem Wahrsprecher begegnet und folglich fremd in Burundun bist. Vermutlich hast du auch nie zuvor einen Muthaf-
fen gesehen, so, wie du uns begaffst. Was willst du hier in der Stadt?« »Ich suche die Urmutter.« Ja, es war die Wahrheit. Na und? Es tat gut, sie auszusprechen. Verdammt gut. Warum zittere ich? Shanija fühlte sich inzwischen wie nach einem kilometerlangem Sprint, bergauf und in dreitausend Metern Höhe. Oder nach dreitausend Höhepunkten auf den Gipfeln der Lust. »Was ist das für ein Ding da auf deiner Haut?« Der Offizier machte einer Wache ein Zeichen, die daraufhin verschwand und kurz darauf zurückkam. Mit einem Tuch wischte der Uniformierte das Blut ab. Shanija zögerte, spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen und keuchte: »Das ist Pong.« Grundgütiger! O mein Gott! Es kostete sie immense Kraft, nicht unverzüglich alles aus sich hervorsprudeln zu lassen. Sie bekam Herzrasen und Atemnot, sobald sie an eine abweichende Antwort dachte. Aber sobald sie die reine Wahrheit ausgesprochen hatte, wurde sie mit einem Gefühl der kolossalen Erleichterung belohnt, das demjenigen glich, wenn sie in einem Gefecht mit den Quinternen dem sicheren Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war. Oder dem Gefühl nach jener rauschartigen, andauernden Liebesnacht mit Darren im Moosbett … gleichfalls erschöpft, aber glücklich. Mehr davon, bitte. Dopamin!, hämmerte es irgendwo in ihren Gedanken. Das vom Körper selbst erzeugte Belohnungshormon. Irgendwie nimmt er Einfluss auf mein limbisches System. Bei jeder wahren Antwort überschwemmt er mich mit Dopamin. Ihr schossen Bilder von Versuchstieren durch den Kopf, die per Elektroden und mittels Tastendruck sich selbst stimulieren und dadurch beliebig viele Dopaminschübe auslösen konnten. Alle hatten sich bis zur Selbsterschöpfung immer wieder Dopamindosen verabreicht, hatten sämtliche sonstigen Bedürfnisse vergessen und irgendwann den körpereigenen Rauschzustand nicht mehr kontrollieren können. Was heißt können – sie hatten es nicht mehr kontrollieren
wollen. Alles in Shanija drängte inzwischen danach, eine neue Frage zu bekommen, um sie wahrheitsgemäß beantworten zu können. Los, Mann, frag was! »Wer hat dich hergeführt?« »Mun, der Adept.« Da hast du's! Und jetzt: Ja. Um Himmels willen: Ja. JAAH! Der Muthaffe schlug die flachen Hände auf den Tisch. Die Antiklimax kam so abrupt, so unerwartet, dass sich alles um sie herum zu drehen begann. »Lasst sie laufen«, sagte der Wahrsprecher. »Sie gehört zu Mun.« Damit stand er auf und verließ wortlos den Raum. Shanija wimmerte, als ihre Fesseln aufsprangen. »Wer war das?«, keuchte sie. »Der ehrenwerte Wahrsprecher Gaugarna«, antwortete einer der Soldaten und begleitete sie bis zum Ausgang. Allein und blinzelnd im gleißenden Licht stand sie auf der Straße. Blutend, aber frei. Die endlos wogende Menge trieb an ihr vorüber, nahm sie auf, trug sie mit sich fort. Achtlos. Atemlos. Ahnungslos. Die Dampfplattform kreischte einen Häuserblock entfernt über ihre Schiene. Schwankend machte sich Shanija auf den Weg hinunter zum Hafen. Sie hatte alles wiedererhalten, was man ihr genommen hatte. Nur ein Stück ihrer Würde war in dem Raum zurückgeblieben.
Was wir brauchen, sind ein paar Verrückte. Seht, wo uns die Vernünftigen hingebracht haben. (George Berhard Shaw, Nobelpreisträger, geb. 1856, gest. 1950)
5. Den Weg zurück erging Shanija sich in Selbstvorwürfen. Trotzdem vergaß sie ihre antrainierte Wachsamkeit nicht. Sie wechselte öfter die Straßenseite, warf immer wieder unauffällig einen Blick zurück und musterte jedes Gesicht. Horchte auf das Klacken von Holzperlenketten, was auf einen potenziellen Wiedergänger hingewiesen hätte, oder suchte nach aufblitzenden Metallsymbolen, die die Erlöser an Ketten um den Hals trugen. Mehr als einmal verwechselte sie verwischten Schmutz mit einer Tätowierung und fürchtete, sich im nächsten Moment des Angriffs eines Warners erwehren zu müssen. Und sobald sie die Uniformen von Archivwachen durch die Menge pflügen sah, trat sie in den Schatten von Hauseingängen oder beugte sich scheinbar interessiert über die Auslagen eines Händlers. Sie wusste, gegen ein grünhäutiges Wesen, das sich in einen schnelleren Zeitablauf versetzen konnte, würde das nichts helfen. Aber das war kein Grund, alle Vorsicht aufzugeben. Jetzt sollte sie sich wieder darauf konzentrieren, Informationen über die Urmutter zu bekommen. Jeder Tag, den sie länger hier auf Less verweilte, brachte die Menschheit dem Untergang näher. Und Shanija würde mit jedem Tag der Abschied schwerer fallen und ihr seelisches Gleichgewicht gefährden. Die Gemeinschaft mit As'mala, Seiya und Mun bedeutete ihr inzwischen unglaublich viel; auf diese Weise Freundschaft zu erfahren war immer noch etwas Neues für sie. Eine tiefe emotionale Erfahrung, nach der ihre ausgetrocknete Seele dürstete. Und dann war da noch Darren – und die schmerzhafte Gewissheit,
dass sie ihre Beziehung würde opfern müssen, wenn ihr der Start endlich gelang. Ausgerechnet den Mann, zu dem sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein so tiefes Gefühl wie Liebe entwickelte, würde sie zurücklassen müssen. Eben dort, wohin er gehörte. Die Alternative, ihrerseits auf Less zu bleiben, an seiner Seite zu leben und mit ihm alt zu werden, stellte sich ihr nicht. Durfte sich ihr nicht stellen. Es wäre wie Massenmord, an neun Milliarden Menschen der Erde, die im Inferno der Quinternenwaffe untergehen würden, wenn sie jetzt einfach aufgab. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie haarscharf die Menschheit vorhin in der dunklen Gasse an ihrem Schicksal entlang geschrammt war. Wäre Pong, der die Daten in seinem Drachenleib hütete, beschädigt worden … Der Gedanke weckte augenblicklich den zurückgedrängten Schmerz, der in pulsierenden Wellen zurückkehrte. Sie musste den Schnitt medizinisch versorgen. Zumindest einer Infektion vorbeugen. Heilkräuter! War am Hafen nicht dieser Obstund Gemüsehändler gewesen? Er würde wissen, wo man Heilkräuter kaufen konnte. Den Schnitt konnte sie notfalls selbst nähen, wäre nicht das erste Mal. Hinter einem Säulengang nahe des Schienenstrangs fand Shanija den gesuchten Stand. Ein Zelt, davor eine Planke auf einem Gestell, dahinter Fässer, Körbe, Kisten und Säcke. »Patsalbalut, zu Euren Diensten«, stellte sich der gnomartige Händler vor, ein Zwergenwüchsiger wie derjenige, der am Stadttor mit dem Kuntar in Streit geraten war. Die Auslagen an seinem Stand waren größtenteils geräumt; er war dabei, zusammenzupacken. Offenbar war ihm ein so guter Markttag beschieden, dass er schon mittags die Arbeit beenden konnte. Shanija fragte nach heilenden Kräutern. »Aah, gewiss, ich sehe, ich verstehe«, brabbelte der Zwergenwüchsige hinter der Planke, auf der sich für Shanijas Augen viel Buntes, aber kaum Vertrautes fand. »Ihr seid verletzt, Stirn, Brust, in der Tat, oha, wie wahr, naja.« Bei dem Wort »wahr« zuckte Shanija zusammen. Der Zwerg nickte mitfühlend. »Das tut weh, wie ich seh' – kein bitterer Tee, eh?«
»Wie bitte?« »Euch hilft kein bitterer Tee, wollte ich sagen. Heilkräuter, ja. Nun ja. Das könnt' gehen, Ihr habt Glück, woll'n mal sehen.« Patsalbalut verschwand in seinem Zelt und kramte in mehreren Kisten, ehe er sich vor den Kopf schlug und ein Büschel getrockneter Kräuter von einer Stange nahm. »Hier – Schnöder Knollenpfuhl, auch Zipperer genannt, oder auch als Unechtes Kräuselgras bekannt, falls Ihr aus Schillwein stammt. Heilt Wunden und Wehwehchen, besser als jedes Teechen, eh?« »Du handelst auch mit Kräutern?« »Mit Kraut und Rüben, mit Obst und Fliegen, wenn's beliebt. Hier: getrocknete Mugvligs, in Honig eingelegt. Hilft gegen …«, er sprach den Satz hinter der vorgehaltenen Hand zu Ende, »… gegen den Brummschädel nach zu viel Wein. Ihr habt nicht zufällig Kopfweh? Nein. Dann den Knollenpfuhl, eh?« Prüfend betrachtete er Shanija, bemerkte, dass die Wunden trotz des vielen Blutes wohl nicht genäht werden müssten, und blieb beim Angebot des Knollenpfuhls. »Wie werden die Kräuter verwendet?«, fragte Shanija. »Ihr zerkleinert sie und schüttet das Pulver in Warzöl, rührt kräftig um, bis es eine schöne Paste ergibt. Dick auftragen, das Ganze, und trocknen lassen. Verhindert Wundbrand und Fieber. Lässt Schmerzen schwinden. Und Narben heilen ohne Eiter. Aber – lasst mich raten – Ihr habt kein Warzöl, eh? Na? Na bitte. Hier habt Ihr, frisch aus den Dungwarzen brunftiger Gemelstuten. Nein, sagt nichts, ich kann Begeisterung erkennen, wenn ich sie sehe. Zwei Halbmonde, das Fläschchen, vier Sicheln, die Kräuter. Ihr seid fremd in der Stadt?« Shanija zahlte wortlos und bekam das Warzöl und den Schnöden Knollenpfuhl ausgehändigt. »Geht mich nichts an«, beeilte sich Patsalbalut zu versichern, »aber, falls Ihr fremd seid, so lasst Euch den Anblick von der Eigentlichen, der Wahren, der Alten Stadt nicht entgehen.« Er senkte wieder die Stimme. »Sagt bloß, Ihr wusstet nicht, dass es neben Burundun und Lakara noch eine dritte Stadt gibt? Im See? Eh?« »Im See?«, fragte Shanija verblüfft. Weder Mun noch Darren hatten
jemals von einer dritten Stadt erzählt. »Im See, unter Wasser, zwischen Ufer und Insel. Aber ja. Fiora. So heißt der Ort. Dort hausen die Fioren!« »Die Fioren? Wer ist das nun wieder?« »Ach, altes Volk. Uralt. Schwimmvolk. Wasseratmer. Waren schon da, als Burundun noch ein Dorf war. Lange her. Nachts kann man ihre Lichter sehen. Auf dem Grund. Schaurig-schön anzusehen. Man muss nur tief tauchen, ja. Ziemlich tief. Geht weit runter, da. Lohnt sich aber. Die Fioren wissen viel.« »Sie wissen viel? Was wissen sie?« »Ah, das wollt Ihr wissen, was, eh? Manche sagen so, manche so. Die meisten sagen: Fioren wissen alles, weil sie sich alles merken. Warum merkt sich der Fiore alles dann? Weil er's kann, weil er's kann. Ob es stimmt? Da müsst Ihr sie schon selber fragen. Tief tauchen, wie gesagt. Langer Weg, da runter. Aber machbar. Wenn Ihr Brakkenkraut habt, versteht sich. Das verschafft Euch Luft. Nur dann, natürlich. Ist ja klar. Aber Ihr habt keins, was, eh? Wer hat schon Brakkenkraut, oder Gemeiner Tauchling, wie's auch heißt? Wer, außer Patsalbalut, zu Euren Diensten? Na?« Shanija wusste nicht, was sie mehr in Erstaunen versetzte: Die unverhoffte Nachricht über die Existenz einer Unterwasserstadt mit angeblich »alleswissenden« Fioren oder Patsalbaluts unverschämte Verkaufstaktik. »Also du hast dieses Brakkenkraut? Welch ein Zufall. Zu welchem Preis?« Die Dampfpfeife auf der Platzinsel begann lang und siebenmal zu tuten. Das Signal, in die Herberge zurückzukehren. »Fünftausend Sonnen, da habt Ihr's!«, rief der Zwerg. »Ihr wollt handeln, eh? Aber nicht beim Brakkenkraut. Ich hab's, weil ich weiß, wo's wächst. Wächst zudem selten. Hält sich nicht lang. Ist schnell vergriffen. Mancher will halt was wissen. Die Fioren kommen nie nach oben. Kann man nichts machen. Muss man halt runter. Fünftausend Sonnen. Wollt Ihr's?« Shanija begriff ungläubig, dass die »fünftausend Sonnen« kein Ausruf waren, sondern die Höhe des Preises. »Fünftausend Sonnen? Bist du von Sinnen?«
Der Gnomartige streckte die leeren Hände aus und schüttelte sie. »Ihr müsst wissen, was Ihr wissen wollt. Geht tief runter da. Hilft nur Brakkenkraut – oder Ihr habt Kiemen.« »Ich habe keine fünftausend Sonnen«, sagte Shanija. »Dann«, meinte der Zwerg, »lasst Euch Kiemen wachsen.« »Ich wette, auch dafür hast du ein Kraut.« Patsalbalut sah sie sehr ernst an. »Ihr wettet? Ihr hättet verloren, Humainfrau. Und das Kraut wirkt, bei meiner Ehre. Fünftausend Sonnen, wenn Ihr's wollt.« Alle Verkaufsmasche war von dem Zwerg abgefallen. Shanija spürte, er meinte es ernst. Er war sowohl von den Fioren und ihrem umfassenden Wissen als auch von der Wirksamkeit des Brakkenkrauts zutiefst überzeugt. »Wo finde ich dich, falls ich auf dein Angebot zurückkomme?« »Nicht weit, nicht weit, bei den Kleinkrämern und Marktbeschickern. Ein Stück die Straße zurück, dann links. Nehmt ein Licht mit. Wird zum Mittag ziemlich schattig da.« Shanija wollte sich zum Gehen wenden, aber dann hatte sie doch noch eine Frage. »Hast du je von einem Raumschiff namens Sunquest gehört?« »Eh?« »Es muss hier ganz in der Nähe abgestürzt sein, vor tausend Jahren. Die Überlebenden waren Menschen wie ich, und die Bibliothekare haben …« »Ihre Maßeinheiten, Sprache und allerlei Mumpitz übernommen, ich weiß, ich weiß, jaja, müssen besoffen gewesen sein, die Bibliothekare, aber was geht's mich an, was weiß ich schon, bin nur ein armer kleiner Händler, Patsalbalut, zu Diensten«, unterbrach der Zwerg und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Kein Schiff mehr, nicht mal ein Gerippe, alles schon lange weg, sehr lange. Nichts zu besichtigen, aber die Stadt der Fioren hingegen …« »Ich hab schon verstanden. Danke für die Auskunft.« Shanija machte sich auf den Weg. Der Zwerg wandte sich augenblicklich der nächsten Kundin zu, einer schon seit einiger Zeit unruhig wippenden Urianifrau, die
schmatzend nach Dampfkohl verlangte. * Shanija traf als Letzte im An roodsten ein, sogar As'mala war trotz ihrer Sprüche schon zurück. Als sie die Tür des gemeinsamen Zimmers hinter sich schloss, erstarben alle Gespräche. Sämtliche Blicke richteten sich auf sie. Selbst Mun starrte sie an. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, wie sie aussah – ab der Stirn bis zu den Brüsten blutbesudelt, die Kleidung von dem Sturz noch verstaubt, in der einen Hand das Büschel des Schnöden Knollenpfuhls, in der anderen das Fläschchen Warzöl. »Bei Zyrkans Eiern! Was ist denn mit dir passiert?«, rief As'mala entgeistert und sprang auf, aber Darren war schneller bei Shanija, mit zutiefst erschrockenem Gesicht, und besah sich den Schnitt. As'mala und Seiya überfielen sie mit Fragen. Shanija hob schließlich die Hände. »Bitte, gebt mir ein paar Augenblicke. Ich erkläre euch bald alles, aber zuerst muss ich meine Wunden versorgen.« Sie verschwand im Bad, reinigte sich und die Kleidung. Seiya brachte ihr ein frisches Hemd, die Hose war noch in Ordnung. Das gewaschene Hemd und die Jacke hängte sie zum Trocknen auf. Einigermaßen erholt kehrte sie zu den anderen zurück und wusste, sie sah besser aus; die Wunden hatten endlich aufgehört zu bluten. Darren wollte sich jetzt nicht mehr zurückhalten und zog Shanija in seine Arme. »Kann man dich keinen Augenblick allein lassen?« Sie ließ sich seine Wärme und Nähe gefallen und entspannte sich allmählich. Mun befühlte derweil das Kräuterbündel, zog den Korken von der Flasche und roch an ihrem Inhalt. Der Adept nickte, ging nach unten und kam mit Tontopf und Mörser zurück. Er zerschnitt und zerrieb die Pflanze, goss das Öl dazu und verrieb alles zu einer Paste. Seiya und As'mala zappelten auf den Stühlen. »Setz dich endlich und erzähl!«, verlangte die blonde Abenteurerin. Shanija kam der Aufforderung nach, während Mun sie verarztete.
Sie berichtete von dem Überfall, ihrer Verhaftung und der Unterhaltung mit dem Straßenhändler. Nur ihre Empfindungen während des Verhörs behielt sie für sich. »Die Diebin kauf ich mir!«, knurrte As'mala. »Was soll das bringen?« Shanija schüttelte den Kopf. »Außerdem kann ich sie dir nicht genau beschreiben, es ging alles viel zu schnell.« »Das mit der geheimnisvollen dritten Stadt habe ich noch nie zuvor gehört«, meinte Darren zweifelnd. »Und ich war schon öfter in Burundun, als ich mich erinnern kann.« »Dieser Patsalbalut klang sehr überzeugt«, erwiderte Shanija. Dankbar fühlte sie die bereits einsetzende schmerzlindernde Wirkung der Paste. Pong verhielt sich weiterhin auffallend still, doch darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. »Er sagt die Wahrheit.« Mun stellte den Topf beiseite. »Zumindest in Teilen. Auf dem Grund des Sees, direkt zwischen dem Hafen und der Insel, gibt es tatsächlich eine Unterwasserstadt. Sie ist wahrlich uralt und wurde einst von den Fioren bewohnt. Dass dort immer noch jemand leben soll, ist mir allerdings neu. Ich denke, hier wird sich Geschichte mit Legende mischen. Ich glaube nicht, dass die Fioren nach der langen Zeit weiterhin existieren.« »Wie alt ist diese Stadt?« »Fiora? Sehr viel älter als Burundun.« »Und was weißt du über die Fioren?« »Ihr Schiff stürzte ab; es ist dieselbe, alte Geschichte, die jedes Volk auf Less über sich erzählt. Es heißt, dass die Fioren ein Volk von Suchern waren. Doch wonach sie suchten und ob sie es jemals fanden, entzieht sich meiner Kenntnis.« Shanija grübelte. »Wie tief ist der Seegrund bei der Stadt?« »Fiora liegt in etwa vierzig Metern Tiefe.« »Mein Rekord in der Akademie lag bei sieben Metern. Patsalbalut hatte recht.« »Du willst doch nicht etwa wirklich tauchen?« Darren sprang von seinem Stuhl. Shanija warf ihm einen langen Blick zu. Dann wandte sie sich er-
neut an Mun. »Weißt du etwas über dieses Brakkenkraut?« »Ich kenne diesen Begriff nicht. Aber den anderen, den du nanntest, kenne ich.« »Den Gemeinen Tauchling?«, warf As'mala ein. »Gibt's das Kraut wirklich? Und falls ja: hat schon mal jemand darüber nachgedacht, warum das Zeug so heißt – gemein?« »Der Gemeine Tauchling heißt so, weil er bei jedem Lebewesen gleich wirkt«, erklärte Mun. »Allerdings ist er sehr selten zu finden. Kaum jemand weiß, wie er aussieht. Auch ich habe dieses Kraut noch nie mit eigenen Augen gesehen. Was ich weiß, ist dies: Wer davon zu sich nimmt, verlangsamt seinen Luftverbrauch etwa um das Fünffache. Statt etwa zwei Minuten kann ein Mensch damit rund zehn Minuten unter Wasser bleiben. Der Tauchling verhindert zudem das Zusammenpressen der Lunge durch den Wasserdruck. Wer es allerdings zu sich nimmt und sich danach nicht sofort in tieferes Wasser begibt, dem zerreißt es unweigerlich nach kurzer Zeit die Lungenflügel. Vielleicht ist auch das die eigentliche Bedeutung des Zusatzes gemein.« »Mit anderen Worten: die dritte Stadt existiert, und das Brakkenkraut hat die versprochene Wirkung?« »Das ist korrekt.« Mun neigte bestätigend den Kopf. »Shanija!«, ereiferte sich Darren. »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du weißt nicht, was du dort vorfindest, wenn überhaupt etwas. Du hast es doch gehört: die Fioren sind nur noch Geschichte!« Shanija seufzte. »Sie wissen viel. Behauptet zumindest Patsalbalut. Warum merkt sich der Fiore alles dann? Weil er's kann, weil er's kann. Darren, bitte hör mir zu. Mun geht ins Zentralarchiv. Und er will sich freundlicherweise umhören, ob er etwas über die Urmutter erfährt. Es kann sehr wohl sein, dass er nichts erfährt oder nicht dazu kommt, sich zu erkundigen. Oder er kommt unverrichteter Dinge zurück, weil es keine Informationen über die Urmutter im Zentralarchiv gibt. Alles, was wir im Moment haben, ist eine Aussage von Seiya, die vermutet, es könnten im Archiv Angaben über die Urmutter vorliegen. Verstehst du? Wenn es da unten tatsächlich Fioren gibt, die seit Äonen gleichfalls Wissen sammeln, dann kann ich es
mir nicht leisten, nicht runterzugehen. Ich will hier nicht herumsitzen und untätig warten, bis Mun seinen Ruf erhält. Deshalb werde ich mir das Brakkenkraut beschaffen.« »Ich nehme an, da komme ich ins Spiel«, sagte As'mala und schlug ihre langen Beine übereinander. »Wann soll ich es stehlen?« »Gar nicht«, antwortete Shanija. »Erstens hat keiner von uns auch nur einen Schimmer davon, wie Brakkenkraut aussieht. Wie willst du es finden? Und zweitens will ich den Zwerg nicht ruinieren. Ich wäre keinen Deut besser als eine gewisse grünhäutige Frau mit Schlangenhaaren.« »Aber fünftausend Sonnen hast du mal eben locker in der Tasche?« As'mala zog spöttisch eine Braue hoch. »Nun«, gab Shanija zu, »das ist allerdings ein Problem.« As'mala blickte Darren auffordernd an. Der hob abwehrend die Hände. »Das könnt ihr vergessen! Ich halte das nach wie vor für eine Schnapsidee. Außerdem habe ich keine fünftausend Sonnen bei mir.« »Aber du könntest sie dir leihen«, schlug As'mala vor. »Ich habe kein Pfand, und wenn ich dich verkaufe, kriege ich nicht so viel«, knurrte Darren und erntete dafür einen heftigen Knuff von As'mala. Seiya mischte sich ein. »Bezahl mit deinem guten Namen.« »Auf Less beherrscht der Tauschhandel das Geschäft, Liebes. Selbst, wenn ich wollte – ich habe gerade zufällig keine Karawane bei mir, deren Waren ich als Sicherheiten anbieten könnte.« »Also doch stehlen.« As'mala drehte kunstvoll ihr Handgelenk, als griffe sie in eine unsichtbare Tasche. »Nein, das lasse ich nicht zu«, lehnte Shanija erneut ab. »Ich muss mir das Geld auf andere Weise beschaffen.« Darren betrachtete sie einen langen Augenblick. »Es ist dir also wirklich ernst?« »Absolut. So gut solltest du mich inzwischen kennen, dass mich nichts von einem einmal gefällten Entschluss abbringen kann.« »Also schön«, lenkte er ein und zog das Pergament hervor. »Das hier ist ein Brief meines Vaters an ein hiesiges Handelshaus. Die
Händler, die vorher hier wohnten, sind Kaufleute in seinem Kontor. Der Brief gibt ihnen auf, bei einem gewissen Cascalan fällige Schulden einzufordern. Es geht um die Summe von …« »Fünftausend Sonnen?« »Nein«, sagte er lächelnd. »Es geht um eintausend Sonnen.« Shanija machte ein ratloses Gesicht. »Das verstehe ich nicht.« »Das bringt uns, verehrteste Sternenschöne, ins Gespräch mit Cascalan. Welchselbiger ein Spieler ist. Hoffnungslos dem Strikkit verfallen. Das weiß ich, weil ich vorhin Erkundigungen eingezogen habe. Ich könnte zu ihm gehen und ihm anbieten, mit ihm um den Erlass dieser Schulden zu spielen – als ein gönnerhaftes Angebot des ach so leutseligen Earl Hag. Gewinnt Cascalan, ist er fein raus. Ich erlasse ihm schriftlich den Betrag. Mein Vater wird vor Freude tanzen. Gewinne ich, erhöhen sich Cascalans Schulden um tausend Sonnen. Doppelt oder nichts.« »Darfst du das denn? Im Namen deines Vaters handeln?«, fragte Seiya. »Nein«, sagte Darren grinsend. »Aber das weiß Cascalan nicht.« Shanija legte die Stirn in Falten. »Wenn ich das recht verstehe, willst du solange spielen, bis du die fünftausend Sonnen gewonnen hast?« »Haarscharf erraten.« Bestimmt hob sie eine Hand. »Damit bin ich nicht einverstanden. Glücksspiele sind was für Träumer, für realitätsfremde Glücksritter. Unkalkulierbare Risiken bei minimaler Einflussnahme. Keine Planung, keine Taktik, keine Strategie. Vergiss es! Ich suche nach einer rationalen, zumindest nachvollziehbar wahrscheinlichen Methode, an das Geld heranzukommen.« »Ich bin ein ziemlich guter Spieler«, verteidigte er sich. Sie sah ihm in die Augen. »Ja, das glaube ich gern«, sagte sie leise. Eine Weile starrten sie sich an. Die anderen taten so, als wären sie nicht anwesend. »Du irrst, wenn du meinst, die Einflussnahme sei minimal«, sagte Darren schließlich. »Geschicktes Taktieren gehört ebenso dazu wie eine ruhige Hand in brenzliger Lage.«
»Aber es bleibt ein Risiko, richtig?«, hielt Shanija dagegen. »Zugegeben«, antwortete Darren. »Aber der Wert, um den es geht, ist ungleich höher.« »Ich weiß – fünftausend Sonnen!« »Nein«, sagte er sanft. »Ich rede von dir.« Shanija schluckte. Niemals zuvor hatte sich ein Mann ihr gegenüber so geäußert. Oder sie so angesehen, wie Darren es in diesem Moment tat. »Ich sehe das so«, sagte Darren in abschließendem Tonfall. »Entweder, du lässt mich spielen, und ich gehe mit dir auf Tauchgang, oder du vergisst deine Idee.« »Das halte ich für einen vernünftigen Kompromiss«, sagte Mun überraschend. Seiya und As'mala nickten. »Also gut«, gab Shanija nach.
Nimm an, was nützlich ist. Lass weg, was unnütz ist. Und füge das hinzu, was dein eigenes ist. (Bruce Lee, Kampfsportler u. Philosoph, 1940 – 1970)
6. Cascalans Handelshaus lag ein gutes Stück vom An roodsten entfernt den Kraterhang hinauf, in einem der wohlhabenden Außenviertel. Allerdings deuteten schon beim Näherkommen kleine Anzeichen auf gewisse Störungen im Geschäftsverlauf des Handelsherrn hin. Die Treppenstufen wiesen Sprünge auf. An den gebogenen Lehmwänden fehlte Farbe, die gleichfalls vom Namenszug am Tor abblätterte. Das nebenstehende Lagerhaus, dessen Inneres durch eine offen stehende Tür einsichtig war, bot zu viel ungenutzten Lagerplatz, die Dachschindeln waren moosüberzogen oder brüchig, die bepflanzten Tonkrüge, die den Zugangsweg säumten, boten ein kränkelndes Bild, wie überhaupt der Garten dringend nach der rettenden Hand eines Gärtners verlangte. Wenn es in Burundun so etwas wie Hypotheken gibt, dachte Shanija, kennt sich Cascalan damit ohne Zweifel bestens aus. Darren ließ sich anmelden und bat Shanija, auf ihn zu warten. Während er im Haus verschwand, betrachtete sie den Anblick der unter ihr liegenden doppelten Stadt. Deutlich ließen sich von hier oben die beiden Ringe unterscheiden, die unterhalb der Berghöhen den gesamten Talkessel rund um den Kratersee bedeckten: außen erstreckte sich Burunduns Häusermeer, in dem die schwärzlichen, schiefergedeckten Dächer überwogen, von deren Schornsteinen graue Wölkchen aufstiegen; und innen drängte sich Lakara, die schwimmende Stadt, in der es keine Straßen und Plätze mehr gab, sondern nur noch heillos ineinander verkeilte und verwobene, wenig Vertrauen erweckende Konstruktionen ohne festen Boden. Schon nach wenigen Minuten kam Darren zurück und zog Shanija
wieder Richtung Innenstadt. »Es könnte gar nicht besser sein«, verkündete er fröhlich. »Cascalan sitzt beim Spiel. Und du errätst nicht, wo.« »Wie sollte ich?«, lächelte sie. »Im Lustigen Fioren. Das Haus heißt wirklich so, und es ist eine Spielhölle.« »Du kennst sie?« »Ich weiß, wo ich den Laden finde. Er liegt im Viertel der Spieler.« Ihr Rückweg führte sie wieder über den Hafenplatz, und Shanija sah, dass Patsalbalut sein Zelt inzwischen abgebrochen hatte. Der Lärm der tutenden Dampfpfeife, die Neunklang verkündete, – den Achtklang hatten sie alle verschlafen –, malträtierte ihre Ohren in dem Augenblick, als sie unmittelbar an der Platzinsel vorübergingen. Wenig später standen sie vor dem Lustigen Fioren. Shanija war Darren dankbar, dass er es geschafft hatte, sie ins Viertel der Spieler zu lotsen und dabei die Gasse zu vermeiden, in der sie Stunden zuvor überfallen und verhaftet worden war. * Strikkit war ein Spiel um hohe Einsätze. Eine Kombination aus Glücksrad und Kartenspiel, wobei die Spieler auf bestimmte Zahlen des Glücksrades setzten und mittels der Karten den Winkel erspielen konnten, der auf dem Glücksrad die Gewinnzone markierte. Auf dem Rad befanden sich 144 Zahlen. Wer ohne die Karten setzte, was möglich war, tippte somit auf nur eine Zahl und schloss die übrigen 143 aus. Wer ein gutes Blatt hatte, konnte beispielsweise auf die 30 setzen und den Winkel um die 30 vergrößern, sodass vielleicht die Felder von 10 bis 50 abgedeckt waren. Blieb nun das Glücksrad bei 23 stehen, befand sich die Gewinnzahl innerhalb des erspielten Fächers und der Spieler gewann dennoch, obwohl er nicht auf die eigentliche Siegeszahl gesetzt hatte. Shabo wurde dieser Fall genannt. Der höchste Gewinn hieß Strikkit wie das Spiel: In diesem Fall besaß der Spieler ein Blatt, das ihm zwar einen weiten Fächer offenbarte,
den er aber andererseits nicht in Anspruch nehmen musste, weil genau die Zahl im Rad stehen blieb, auf die er gesetzt hatte. Es gab weitere Regeln, die Darren Sharija in aller Eile zu erklären versuchte, aber es wurde schnell kompliziert, und ihr reichte es, dass er sich auskannte. Das Rattern der Glücksräder untermalte den Lärm, der an den etwa zwanzig Tischen von erregten, erbitterten, erfreuten und erwartungsfrohen Spieler erzeugt wurde. Es wurde getrunken, gelacht, gespottet und gespielt, immer wieder gespielt, pausenlos, und die Shabo-Rufe erschütterten die rauchgeschwängerte Luft, als kündigten sie ein Wesen an, das von Tisch zu Tisch und von Glücksrad zu Glücksrad sprang. Eine Frage genügte, und sie wussten, wo Cascalan steckte. Der Handelsherr, ein gertenschlanker Mensch, saß in einer Runde Uriani. Es sah so aus, als ob er allein gegen die einander zublinzelnden Krötenwesen spielte. Darren beobachtete ihn, seine Mitspieler und die Vorgänge am Tisch gut zehn Minuten lang. Das Glücksrad fixierte er geradezu. Dann marschierte er los. Cascalan nickte, als Darren sich zu ihm hinunterbeugte und leise mit ihm sprach. Darren zeigte das Pergament vor, während das Spiel weiter ging, machte eine abwägende Handbewegung und grinste den Handelsherrn auffordernd an. Es gab eine kurze Diskussion am Tisch, dann nickte Cascalan abermals, und die vier Uriani sammelten quasselnd ihre Gewinne ein. Der Händler forderte Darren auf, sich zu setzen. Neue Karten wurden gereicht, Bier in mächtigen Krügen geordert. Shanija stand abseits und verstand infolge des Lärms kein einziges Wort. Immerhin, offenbar war Cascalan auf Darrens Angebot eingestiegen. Sie winkte und erhielt ebenfalls ein Bier. Zuerst nannten die Spieler ihre Wunschgewinnzahl. Cascalan setzte auf 7, Darren auf 39. Ein Hausangestellter, offenbar so etwas wie ein Croupier und passenderweise derselben Rasse angehörend wie Patsalbalut, notierte neben dem Glücksrad auf einer Schiefertafel die Zahlen. Dann wurden die Karten verteilt.
Das Los fiel auf Darren als Geber. Fünf Karten an jeden. Anscheinend konnte man wie beim Poker Karten kaufen, denn es gab einen mehrfachen Wechsel. Der Croupier notierte auch diese Gebote. Endlich deckten beide Spieler ihre Karten auf. Darren hatte einen Fächer von 9, Cascalan einen Fächer von 17. Das bedeutete, Darren gewann bei allen Zahlen von 30 bis 48, und Cascalan deckte alle Zahlen zwischen 134 und 24. Der zwergenhafte Humanoide versetzte dem Rad einen Stoß, und ratternd wirbelte es die Farbflächen durcheinander. Doppelt oder nichts. Shanija biss sich auf die Lippen, als das Glücksrad langsamer und langsamer wurde. Klackediklack. Ein mehrstimmiger Shaho-Schrei am Nebentisch kam so unerwartet, dass sie beinahe ihren Krug fallen gelassen hätte. Klaaa-cke-diii-klaaa-cke-diii-klack. Darren setzte alles auf eine Karte. Wir setzen alles auf eine Karte. Nein! Ich setze alles auf eine Karte. Und das Ganze noch viermal, um die restlichen viertausend Sonnen zu erspielen? Ich halte das nicht aus. Klacke. Di. Klack. Zuschauer hatten sich um den Tisch versammelt. Manche wetteten untereinander. Gelächter und Geraune. Kaalackee. Dii. Klaaa … Ich muss verrückt sein! »Shabo!«, brüllte die Menge. Arme wurden hochgerissen, Hüte geschwenkt. Shanija sah nur noch fuchtelnde Gliedmaßen und gerötete Gesichter. Einer von beiden hatte gewonnen. Aber wer? »Cascalan!«, riefen die Zuschauer. »Die 31! Unglaublich. Cascalan hat verloren! Was sagt man dazu?« Die beiden Spieler standen auf, beugten sich über den Tisch. Die Menge johlte. Shanija lehnte sich erleichtert an den Tresen. Dieser Spinner! Er
kam mit lachendem Gesicht auf sie zu. Und mit einem prallen Beutel Opale im Wert von 1000 Sonnen. Sie küsste ihn. »Jetzt«, sagte er, laut genug, um die Umstehenden zu Begeisterungsrufen hinzureißen, »jetzt wollen wir Burundun mal zeigen, dass Darren Hag wieder in der Stadt ist.« Grinsend steuerte er einen neuen Tisch an und wurde willkommen geheißen. Shanija erschrak, als sie die beiden Gestalten sah, die dort saßen. Die eine war ein grünhäutiges Wesen mit dicken, schwarzen Schlangenhaaren – ein Mann mit dem gleichen Medusenhaupt wie die Diebin. Den Zweiten erkannte sie sofort wieder. Es war kein anderer als der ehrenwerte Wahrsprecher Gaugama. Er hatte seine Uniform abgelegt und trug eine weite, beige Kutte, die in ihrem Schnitt an die von Mun erinnerte. Shanija empfand dieses Zusammentreffen als schlechtes Omen. Darren nahm zwischen den beiden Platz. Der Blick, den sich der Schlangenhaarige und der Muthaffe zuwarfen, wollte Shanija ganz und gar nicht gefallen. Sie befürchtete, dass Darren ihn nicht bemerkt hatte.
Lass ab von Drachen. (Robert N. Charette, Schriftsteller, geboren 1953)
7. Windreit warf den Stapel Feuerholz neben den Herd der Pfahlhütte und fluchte vor sich hin. Von wegen, Maris meine es gut mit ihr! Das Gegenteil war der Fall. Erst der mickrige Beutel des Anwärters aus Pecktmaginkhor, dann Windfangs Schwangerschaft, jetzt der Reinfall mit der Humainfrau. Dabei hätte sie es wissen müssen. Maris war als launische Göttin bekannt, die einerseits die Diebe beschützte, die aber andererseits auch gern ihre Beine für die Erfüllung ihrer Lust spreizte. Und wenn sie das tat, vergaß sie alle Diebe und scherte sich einen Dreck um deren Schutz. Windreit hatte sich den ganzen Rückweg den Kopf darüber zerbrochen, was in der Gasse schief gelaufen war. Woher war die geisterhafte Stimme gekommen? Was hatte das goldene Glühen der Verzierung zu bedeuten? Warum waren die Soldaten so plötzlich aufgetaucht? Stand die Humain unter einem besonderen Schutz? Waren die Muthaffen zu ihrer Hilfe herbeigeeilt? Oder waren sie geschickt worden, weil die Wächter des Zentralarchivs gar nichts von der Frau wollten, sondern weil sie Windreits Eintauchen in die rote Welt angemessen hatten? Sie drängte die drängenden Fragen gewaltsam zurück. Zur Ruhe finden. Das allein war jetzt wichtig. Die aufgewühlten Nerven entspannen. Sie aß etwas und legte sich für zwei Klänge hin. Als sie erwachte, waren Windfangs Häute bereits tiefrot. Noch vielleicht eine Doppelstunde, und die Wehen würden einsetzen. Es wurde höchste Zeit, dass Windreit eine Hebamme fand. Unverzüglich machte sie sich auf den Weg. *
Aus Gründen, die allein Maris wissen mochte, waren die dicken urianischen Frauen die geborenen Hebammen für alle denkbaren Herkunftsformen. Etwas in ihren Adern, vielleicht war es auch nur der ölige Film auf ihrer Krötenhaut, besänftigte die Schmerzen, beruhigte die werdenden Mütter, machte jede Geburt leichter und verhinderte das Kindbettfieber. Windreit bestellte eine Frau namens Maquana Manoloo in die Pfahlhütte, entrichtete den üblichen Preis und versprach ein stattliches Aufgeld, wenn ihre Schwester die Geburt gut überstand und das Kind gesund zur Welt kam. Woher sie das »stattliche Aufgeld« nehmen würde, wusste sie selbst noch nicht. Bei der Geburt dabei zu sein war indes das Letzte, was sie sich wünschte. Das Geschrei, das Blut, die ständig beiwohnende Angst – nein, danke. Dann würde sie lieber einen Wunta essen (es gab nichts, das grausiger schmeckte) oder dem Schwängerer das Geld aus der Tasche ziehen. Letzteres wäre im Übrigen gerecht und deswegen gar keine schlechte Idee. Sie lachte auf, als sie das heruntergekommene Boot der Uriani verließ. Nun wusste sie, bei wem sie das Aufgeld beschaffen würde. Der Mistkerl sollte nicht allzu schwer zu finden sein. Er war Selache, hieß Legetar und trieb sich in Spielhöllen herum. Täter, dachte sie, kehren immer wieder an den Ort ihrer Schandtat zurück. Eine halbe Stunde später betrat sie den Lustigen Fioren. * Windreit wusste aus den Erzählungen ihrer Schwester, wie gefährlich Legetar war. Sie kannte aber auch Windfangs Fähigkeiten als Diebin; und bei allem, was recht war, darin war sie ihrer Schwester haushoch überlegen. Na ja, eher zaunhoch. Zumindest überlegen. So verstand sie es weitaus besser, mit einem einzigen Blick eine
Menge zu tyxieren. Das Wort war ihre eigene Schöpfung: eine intuitive Mischung aus Taxieren und Typisieren. Sie erkannte sofort, wo etwas zu holen war, sie fühlte, wen sie besser meiden oder wen sie schärfer ins Auge nehmen sollte. Jedenfalls normalerweise, gestand sie sich ein. Bei der Humainfrau hatte ihr Tyxieren vollständig versagt. Ihr Diebessinn nahm den Spielsaal, das Drehen und Irrlichtern der Glücksräder, das Johlen der Menge, die Flut der Gesichter in sich auf. Sie erkannte Legetar sofort, obwohl sie ihm nie zuvor begegnet war. Der einzige Selache im Saal, und dem Münzenhaufen nach zu urteilen, gewann er oft. Er saß mit einem Humain und einem Wahrsprecher an einem Tisch und spielte Strikkit. Und dort, an einen Pfeiler gelehnt, stand sie. Die Grünäugige bemerkte Windreit zum Glück nicht, sondern starrte auf den Tisch. * »Shabo!«, grölte die Menge, als das Rad auf der 14 einrastete. Legetar lächelte kalt und strich sich den Gewinn ein. Es mussten Abertausende von Sonnen sein. Der Humain fuhr hoch und deutete anklagend auf Legetar. Daraufhin erhob sich der Wahrsprecher und bat um Ruhe. »Ihr kennt mich. Ich bin Gaugama. Niemand vermag in meiner Gegenwart zu lügen. Für alle, die zweifeln …« Gaugama machte eine Pause, aber es war klar, wen er meinte. »Niemand an diesem Tisch setzt magische Kräfte ein. Ihr nicht, Darren Hag, und auch Legetar nicht. Beherrscht Euch oder nehmt Euer Geld und geht!« Windreit fragte sich, mit wie viel Prozent Legetar Gaugama beteiligte, denn selbst einem Selachen war es unmöglich, in Gegenwart eines Wahrsprechers zu lügen. Und Legetar spielte falsch, daran hegte sie keinen Zweifel. »Meinetwegen!«, rief der Humain. »Aber wenn alles mit rechten Dingen zugeht, dann werdet Ihr nichts dagegen haben, mir eine Revanche zu geben. Habt ihr den Mut, Herr Legetar? Alles oder nichts?«
Legetar lächelte noch kälter. »Es ist Euer Geld«, hörte Windreit ihn sagen. Alle setzten sich wieder. Das nächste Spiel begann. Als die Gebote gemacht worden waren und das Rad sich drehte, hatte Windreit nur Augen für den Selachen. Im langsamen Auslaufen des Rades saß er bewegungslos da. Er starrte nicht wie alle anderen gebannt auf die kaum noch kippenden Zahlen, sondern schloss die Augen. Windreit wusste, was das bedeutete. Hinter einer breiten Säule machte sie sich ebenfalls schwer. Kaum war sie in der gespenstischen Stille der roten Welt angekommen, öffnete Legetar die Augen. Er stand auf, trat zwischen den Erstarrten hindurch und hielt das Glücksrad bei der 117 an. Dann ging er zum Tisch zurück und setzte sich exakt wieder so hin wie zuvor. Er schloss die Augen und erstarrte. Windreit hielt den Atem an. Ihr Puls raste. Sollte sie ihm folgen? Wenn sie nichts unternahm, würde Legetar alles gewinnen, was auf dem Tisch lag. Was aber wäre, wenn er alles verlöre? Dann würde der Humain prall gefüllte Taschen haben, und ihn zu bestehlen würde um Längen einfacher sein, als der Diebin dies bei Legetar jemals möglich wäre. Auch wenn dieser Menschenmann ziemlich groß und ein Muskelberg war. Aber er konnte nicht in die rote Welt tauchen. Noch während sie darüber nachdachte, merkte Windreit, dass sie sich längst von der Säule gelöst hatte. Die Entscheidung war damit gefallen. Ihr blieben zwei Wimpernschläge. Allerhöchstens drei. Nie war ihr der Druck höher erschienen, der Widerstand, den die rote Welt jeder Bewegung entgegensetzte. Mit aller Kraft drängte sie sich durch die Umstehenden, griff in die Zapfen des Glücksrades und verstellte es auf die Zahl, auf die der Muskelberg gesetzt hatte. Es war die 42. Bis zu ihrem Platz hinter der Säule zurück würde sie es nicht mehr schaffen. Zu weit. Also seitwärts aus dem Kreis der Gaffer. Die einzige Deckung war die andere Säule, jene, an der die Grünäugige lehnte. Direkt in ihrem Rücken, nur durch ein Stück Stein getrennt, trat Windreit aus der roten Welt. Der Lärm brach über sie herein wie eine Sturzwelle des Sees im wildesten Sturm.
»Strikkit!«, brüllten nahezu alle im Saal. Der Humain lachte laut auf und stopfte sich seinen Gewinn in die Taschen. Legetar starrte stirnrunzelnd das Glücksrad an, und Windreit sah, wie seine Gedanken rasten. Die pechschwarzen Falli türmten sich nassgeschwitzt über seinem Gesicht. Im Licht der Gaslampen schimmerten sie wie die hochsommerlichen Gewitterwolken über Burunduns Krater, in denen gefährliche Blitze zuckten. Als Shanija und ihr Begleiter den Lustigen Fioren unter dem Applaus der Anwesenden verließen, schlüpfte Windreit ungesehen hinterdrein. * Die beiden Humains blinzelten im grellen Sonnenlicht, orientierten sich kurz und schlugen dann den Weg Richtung Hafen ein. Wie viel Geld der Muskelberg jetzt wohl in seinen Taschen spazieren trug? Streng genommen war sein Gewinn allein Windreit zu verdanken; mithin war es mehr als gerecht, wenn sie sich ihrerseits bei ihm bediente. Um Legetar machte sie sich nicht die geringsten Gewissensbisse. Windreit folgte den Menschen mit einigem Abstand, bis sie die breite Straße verließen und in das Viertel der Marktbeschicker und Krämer abbogen. Leider machten sie keinerlei Anstalten, sich zu trennen. Und was, bei Maris, wollten sie bei den armseligen Krämerseelen? Mehrfach erkundigten sie sich, dann wurde ihnen der richtige Weg gewiesen, und die beiden klopften an ein Mietshaus, in dessen überbautem Hinterhof ein Gemüsehändler seine Waren einlagerte. Hier brannten sogar Lampen, so wenig Licht fiel in die schmale Gasse. Ein zwergenwüchsiger Pantruke öffnete, und Windreit erkannte in ihm den Straßenhändler, bei dem sie früher am Tag den Apfel hatte mitgehen lassen. Der Krämer händigte ihnen ein Säckchen aus, und zu Windreits
bleibendem Erstaunen wanderte der gesamte klimpernde Inhalt aus des Muskelbergs prallen Taschen in die gierig vorgestreckten Hände des Giftzwergs. Einige leise Worte wurden gewechselt. Dann schloss sich die Tür, und die beiden Humains drehten sich um und kamen die Gasse zurück. Windreit huschte in eine Mauernische, und die beiden gingen vorüber, ohne sie zu bemerken. Sie blickte der Grünäugigen und ihrem Begleiter hinterher. Dann wandte sie ihr Gesicht entschlossen dem Metshaus zu. Die Humains waren vergessen. Sollte die Frau ihre sprechende Verzierung behalten. Was allein zählte, war der gerade eingetroffene Schatz bei dem Pantruken.
Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es. (Bertrand Russel, Mathematiker, 1872 – 1970)
8. »Ich war mir sicher, ich würde alles verlieren«, sagte Darren bestimmt schon zum fünften Mal. Vorsichtig überquerten sie einen schmalen Balken und hangelten sich an einem zerschlissenen Tau außen um ein halb zerlegtes Boot herum. Sie spürten die Blicke vieler Augen argwöhnisch auf sich gerichtet, aber niemand sprach sie an. Überall ließ man sie unangetastet passieren. Nahezu alle Gestalten verschwanden in Hütten oder Bootseingängen, sobald sie sich näherten, Gesichter tauchten hinter Matten unter oder wandten sich ab. Nur die allgegenwärtigen Bettler reagierten auf ihre Anwesenheit und hoben flehend die Hände. Hätten die beiden Menschen allen Bitten entsprechen wollen, hätten sie einige Male gehen müssen, um die Almosen säckeweise heranzuschaffen. »Aber du hast gewonnen«, wiederholte Shanija ebenfalls. »Und wir haben jetzt das Brakkenkraut. Und sind wieder arm wie die Kirchenmäuse.« Der Anblick der überall aus den Ritzen schielenden Armut entfachte ihr schlechtes Gewissen. Sie konnte nichts dagegen tun. Auch wenn sie leichthin sprach, so fragte sie sich ununterbrochen im Stillen, ob die fünftausend Sonnen, die sie an Patsalbalut gezahlt hatten, ihr Geld tatsächlich wert waren. Sie folgte damit einem bestenfalls vagen Gerücht, klammerte sich an eine Legende, die dünner war als die Halme des Gemeinen Tauchlings, den sie dafür eingetauscht hatten. Hinter dem Boot führte der Weg weiter über ein Geflecht aus Stangen. Es überbrückte eine Kluft zwischen zwei schwimmenden Pon-
tons. Darren hob die Schultern. »Mag ja sein – aber ich hätte nicht gewinnen dürfen. Das Rad sprang im letzten Moment fast um hundertachtzig Grad. Und das ist vollkommen unmöglich.« Ein dürres Wesen mit mächtigem Gebiss, dem die Rippen wie bei einem Waschbrett aus dem Körper standen, jaulte sie aus einem Verschlag heraus hungrig an, als sie an ihm vorübergingen. »Armer kleiner Wunta«, murmelte Darren. Eine Strickleiter reichte nah ans Wasser. Auf schwappenden, teilweise überspülten Brettern wankten sie bis zu einer Wand aus roh zusammengefügten Planken, in der eine Art Treppe mit krummen Stufen wieder nach oben führte. Jeder Schritt hier war ein Balanceakt; dafür sorgten schon die Steine, die sie in je zwei grob gewebten Säcken um ihre Taillen gebunden hatten. Wie Darren trug auch Shanija mindestens zwanzig Kilo Bruchgestein mit sich herum. Improvisierte Schultergurte verteilten das Gewicht der baumelnden Säcke. Was die Last nicht leichter machte. Die Gurte schnitten tief in die Schultermuskeln ein. Shanija passte nicht auf und bezahlte es mit einem weiteren schmerzhaften Ruck des vorpendelnden Sacks gegen ihre Hüfte. Endlich standen sie auf einer kleinen Plattform, auf der Netze trockneten. Ein betäubender Algen- und Fischgeruch stieg von ihnen auf. Auf der anderen Seite ging es wieder hinab. Diesmal ohne Treppe – sie rutschten an einem verwitterten Mast hinunter, der in den Seegrund gerammt worden war. Ein Durcheinander von grotesk verkeilten Holzresten umgab ihn wie eine Insel, von der ein schmaler Steg dem offenen See zustrebte. »Es ist nun mal geschehen«, sagte Shanija schnell, als sie sah, dass Darren zur nächsten Wiederholung ansetzte. »Aber es hätte nicht geschehen dürfen«, erwiderte er hartnäckig. »Dann gib es endlich zu – du hast telekinetisch daran gedreht.« »Eben nicht. Meine Kraft ist nach wie vor wie weggefegt. Ich kann nicht mal dieses Seil da greifen.« Shanija berührte flüchtig die heilende Wunde über ihrer Brust. »Mun hat gesagt, es liegt am Einfluss des Archivs. Wieso konnte
mich dieses elende Diebesweib dann psimagisch überlisten?« »Anscheinend wird sie nicht immer erfasst, aus welchen Gründen auch immer. Liegt vielleicht am Beherrschen der Zeitabläufe, dass sie sich entziehen kann.« Darren blieb ruckartig stehen und schlug sich an die Stirn. »Natürlich! Das ist es! Hast du nicht gesagt, der Grünhäutige, dieser Legetar, sähe genauso aus wie deine Diebin? Sie beherrschen beide dasselbe! So hat es funktioniert!« »Klar, er hat absichtlich verloren«, sagte Shanija spöttisch. Darren machte ein verdutztes Gesicht. »Stimmt auch wieder«, murmelte er. »Ach, zum Steuereintreiber damit.« Inzwischen hatten sie die Seeseite Lakaras fast erreicht. Der auf schwimmenden Fässern errichtete Steg umrundete ein Pfahlhaus, aus dessen Inneren in kurzen Abständen Schreie ertönten. Eine tiefe schmatzende Stimme, die nur einem Uriani gehören konnte, redete beruhigend auf die Kreischende ein. »Dort bekommt jemand ein Baby«, erkannte Shanija. Für den Moment war sie erschüttert. Allein die Vorstellung, ein hilfloses Kind, gleich welcher Herkunftsform auch immer, in die brutale und keinen Augenblick lang Sicherheit gewährende Gesellschaft dieser Welt zu setzen, raubte ihr den Atem. Noch dazu in einer Slum-Umgebung wie Lakara. Das Geschenk des Lebens erschien ihr in diesem Augenblick wie ein Verbrechen an dem armen Neugeborenen. Ein weinerliches Krähen war sein erstes Lebenszeichen. Sie wünschte dem Kind ein langes und glückliches Leben. Falls es so etwas auf Less irgendwo gab. »Na, komm – du kannst nichts für den kleinen Wurm tun.« Darrens warmherzige Stimme verriet mehr Einfühlungsvermögen, als sie je bei ihm zu hoffen gewagt hatte. Sie nickte und lächelte: Dankbar schmiegte sie sich an ihn, als er ihr den Arm um die Schultern legte. Sie gingen weiter, bis der Steg zu Ende war. Vor ihnen lag der See. Die fast kreisrunde Insel mit dem Turm des Zentralarchivs zeigte sich in dünnen Dunst gehüllt. Das türkisfarbene Wasser kräuselte sich leicht im Wind. Die winzigen Wellen schwappten an die Fässer
unter ihren Füßen. Bis zur Insel blickten sie über eine achthundert Meter breite Wasserfläche. Und irgendwo vor ihnen, in vierzig Metern Tiefe, verbarg sich die uralte Stadt Fiora. Angeblich. Genau auf der Hälfte der Entfernung, hatte Patsalbalut behauptet. Das deckte sich immerhin mit Muns Auskünften. Etwa fünfzig Meter vom Steg entfernt trieb ein schmales Boot, in dem zwei menschliche Fischer verbissen Jagd auf etwas machten, das sich durch schlickigen Grund wühlte. Sie stießen mit Speeren danach, verfehlten es aber ein um das andere Mal. »Heda!«, rief Darren. Er winkte den Fischern zu. Sie sahen zunächst erstaunt zu ihnen herüber und winkten vage zurück. Erst als Darren die Geste des Geldzählens machte, verstanden sie. Sie legten die Speere beiseite und ruderten herbei. Während sie über den See schaute, kam Shanija ihr eigenes Vorhaben plötzlich töricht und vollkommen lächerlich vor. Ich jage einem Phantom hinterher, dachte sie. Nichts, aber auch gar nichts deutete auf ein Leben unterhalb der Wasseroberfläche hin. Sie versuchte bis auf den Grund zu blicken, aber die flirrenden Reflexe der drei Sonnen auf den Wellen schmerzten in den Augen und machten jede Beobachtung unmöglich. Der Kahn hielt längsseits des Stegs. Die beiden älteren Männer im Boot erklärten sich nach einigem Hin und Her bereit, sie auf den See hinaus zu rudern. »Für zwei Halbmonde«, verlangte der Größere. Sein fast zahnloses Lächeln wurde noch breiter, als Darren ihm einen Halbmond extra in die schwielige Hand drückte. Sie kletterten in das schwankende Gefährt, die Fischer stießen ab und legten sich in die Riemen. »Ihr wollt zur Insel, Herr?« Der Kleinere drehte den Kopf über die Schulter. »Nein, nur bis zur Mitte des Sees.« Der alte Mann kratzte sich dort, wo er einst Haare besessen haben mochte. »Aber da ist doch die Insel, Herr.« »Rudert einfach geradeaus, wir sagen, wann ihr anhalten könnt.« Der Greis musterte misstrauisch die schweren Säcke. Der Kahn lag
mit den vier Menschen und dem Gestein bis fast zum Bordrand im Wasser. »Keine Fische da, Herr, da vorn. Zuviel Modergas.« »Modergas?«, fragte Shanija misstrauisch. »Übelriechendes Zeug. Stinkt gammlig wie tausend tote Thela-Rinder. Steigt in öl'gen Blasen auf. Meist nachts, wenn die Lichter leuchten. Die Fische machen ei'n großen Bogen 'rum. Is' anders als die Kraterbläschen.« »Kraterbläschen?«, wiederholte Darren. »Wahrscheinlich Kohlendioxid«, sagte Shanija automatisch und wunderte sich zugleich, dass ihr der vor Jahren erteilte Crashkurs in Exogeologie tatsächlich in Erinnerung geblieben war. »Kratergründe atmen Kohlendioxid aus, meist in der Nähe warmer Quellen.« »Gibt warme Quellen im See. Wollt Ihr da baden?« »Rudert bis dorthin, wo die Lichter nachts leuchten«, verlangte Darren. Er fuhr fort, an Shanija gewandt: »Willst du es immer noch durchziehen?« Sie nickte. »Klar. Nun gib mir endlich das Brakkenkraut.« »Kommt gar nicht in Frage, Sternenschöne. Euer Liebden erhalten nur die Hälfte.« »Ach ja? Ist das so?« »So ist das, alldieweil nämlich ich …« »Weil du was?« »Weil ich dich begleiten werde, wie ich schon sagte.« »Von wegen ›tauche nie allein‹ und so?«, fragte Shanija lächelnd. »Von wegen ›pass auf deine Liebste auf‹ und so«, erwiderte er mit tiefem Ernst. Er deutete auf die verkrustete Paste unter ihrer Halsgrube. »Ich will dich nicht verlieren, Shan. Schon gar nicht mit dem Kopf nach unten treibend im Netz irgendeines Sirrhellenfischers. Entweder wir tauchen gemeinsam, oder du musst mich hier und jetzt bewusstlos schlagen.« »Würde auch der Versuch zählen, dich hier und jetzt besinnungslos zu küssen?« Die Fischer ließen die Ruder sinken und steckten die Köpfe zusammen. »Ich würde schwanken«, gestand Darren, »aber weichen würde
ich nie.« Sie standen auf, behielten mühsam das Gleichgewicht und griffen beide in das Säckchen. Die beiden Fischer saßen mit offenem Mund da und starrten Shanija und Darren an, während sie das bittere, strohige Brakkenkraut kauten. »Brr, es schmeckt so, wie es klingt.« »Klingt so, als ob's nicht schmeckt.« Er schluckte den letzten Bissen und verzog das Gesicht. »Was habt Ihr vor?«, fragte der Zahnlose verständnislos. »Wir haben«, antwortete Darren mit gedrückter Stimme, »beide beim Che'es verloren. Unser Stückchen Brot fiel in den geschmolzenen Käse. Zur Strafe müssen wir in den See und mit schweren Gewichten beladen zurückschwimmen.« »Aber … Ihr riskiert dabei euer Leben!« »Eben darum geht es beim Che'es – um Geld oder Leben.« Die beiden alten Männer sahen sich sprachlos an. Shanija musste lachen. »Gibt es ein solches Spiel wirklich?«, raunte sie. »Che'es?«, grinste Darren. »Selbstverständlich. Unter den Reichen erfreut es sich ebenso ungeheurer wie ungebrochener Beliebtheit. Es heißt, es sei einst mit von der Erde gekommen. Es ist ein echter Mordsspaß – und glaube mir, das ist wörtlich zu verstehen.« »Und du spielst so was Hirnverbranntes?« Er zwinkerte. »Ich bin sogar Thel-Ryonischer Käsemeister.« »Aha. Dann habe ich nur noch eine Frage: Was macht dich so sicher, dass ich mein Leben einem derart leichtsinnigen und verantwortungslosen Spieler anvertraue?« Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Ich weiß eben, wann ich eine Glückssträhne habe«, sagte er leise. Ehe sie etwas darauf antworten konnte, stürzte er sie beide kopfüber ins Wasser. Das Boot schwankte bedrohlich, kenterte aber nicht. Shanija holte im letzten Augenblick tief Luft. Dann schlugen über ihrem Kopf die Wellen zusammen. Die schweren Steine zogen sie nach unten.
* Sie sahen weder Lichter noch Blasen von aufsteigendem Gas. Auch keine Fische. Nur Schlieren von aufgewühltem Seewasser, das in Perlenschnüren nach allen Seiten zerstob. Schon nach wenigen Metern stieg der Druck in Shanijas Ohren schmerzhaft an. Sie schluckte und bemühte sich, so ruhig wie nur irgend möglich zu bleiben. Nicht atmen!, zwang sie sich zu denken. Du hast genug Luft! Mit jedem Meter wurde es dunkler. War das Licht der Sonnen unter Wasser zunächst genauso hell wie oberhalb der Wellen, so nahm es allmählich eine orangene, dann türkisene, dann eine immer bläulicher werdende Färbung an. Der Seegrund war in der kobaltblauen Welt gerade so eben noch zu erkennen, eine nach innen abfallende Flanke, die zur Insel hin in bodenlosen Tiefen verschwand. Shanija kam es vor, als sänken sie im Innern einer gigantischen Schüssel auf halber Höhe der Wandung entgegen. Sie konnte schroffe Felsen unter sich erkennen, zwischen denen tangähnliche Pflanzen und Algendickichte Wälder bildeten. Aber so sehr sie ihre Augen anstrengte, sie erblickte nichts, was auch nur im Entferntesten an eine Stadt erinnerte. Sie hatte sich eine Kuppel vorgestellt, unter deren klarer Rundung sich irgendetwas befinden würde. Oder Buckel im Boden mit Bullaugenfenstern, hinter denen die Fioren … Shanija drehte sich einmal um sich selbst. Doch soweit sie zu sehen vermochte, erblickte sie nur Felsen in den abstrusesten Formen, fand Grate, Schründe, Kerben und Schlote, dann wieder sich sanft wiegende Wälder aus Tang, über die reflektierte Lichter und ihre Schatten flogen – aber wenn etwas fehlte, so war es der geringste Hinweis auf eine dritte Stadt. Patsalbalut hatte sie belogen. Mun war einer Legende aufgesessen. Und sie hatte sich zur Närrin gemacht. Shanija berührte Darren am Oberarm und machte ihm ein Zei-
chen. Auftauchen! Hier ist nichts. Er wedelte mit der Hand, verneinte. Zeigte nach vorn. Nickte bekräftigend. Deutete abermals. Darren kam ihr mit seinen schwebenden Haaren plötzlich vor wie ein Meeresgott, der Flechten im Bart hatte und Seegras hinter den Ohren. Beinahe hätte sie gekichert. Wenn nur dieser unerträgliche Druck auf den Ohren endlich nachließe. Was immer Darrens graue Augen erkannt haben mochten, sie sah nur schwärzliches Blau, bläuliches Schwarz und … … schwartigeles Belilau. Außerdem war sie unendlich müde. Sie fühlte Darrens harten Griff an ihrem Arm. Kam für einen Moment wieder zu sich. Das Brakkenkraut! Es verliert seine Wirkung! Viel zu früh! Auch egal. Darren schüttelte sie, ohne dass sie den Grund dafür wusste. Warum war er auf einmal so böse? Dann zog er ein Messer. Stieß es gegen ihren Bauch. Er will mich töten! Sie riss in jäh einsetzender Panik die Beine hoch und trat ihm beide Füße in den Magen. Mehrere dicke Luftblasen entwichen seinem Mund. Darren trieb drei oder vier Armlängen von ihr fort. Muss! Steine! Loswerden! Dieser eine Gedanke beherrschte auf einmal ihr Denken. Sie nestelte an ihren Schultergurten. Zerrte vergeblich an den Sackverschnürungen. Etwas war ihr im Weg – der Griff ihres Kurzschwertes. Unnützes Ding. Warum ging der Knoten nicht auf? Außerdem muss ich atmen. Etwas Großes schwamm heran. Eine Fratze. Sie schlug danach. Wenn ich atme, werde ich sterben. Nein, anders herum. Wenn ich nicht sofort atme, sterbe ich. Warum lag nur dieser mörderische Druck auf ihr? Ich will nicht sterben. Etwas zog an ihr. Zog sie hinab. Zog sie in immer tiefere Dunkelheit. Aber was blendete sie da? Dadunk! Ein Schatten schuf erneute Finsternis. Etwas pochte, lauter als ihr Herz, schwoll an wie Donnerhall, der jede Zelle ihres Körpers zum
Bersten zu bringen drohte. Dadunk! Ich will atmen. Tief, tief sog sie ein, was sie umgab, und eisiger Schmerz pfählte sich in ihre Lungen. Sie wollte schreien, doch mehr als ein Gurgeln brachte sie nicht heraus. Wasser drang ihr in Mund und Rachen. Rasseln und Rauschen. Toben in den Ohren. Hämmerndes Pauken. Dadunk! Dadunk! Oben ist unten. Und unten ist oben. Das Letzte, was sie dachte, verlor sich für sie in keinerlei Sinn. Gemeiner Tauchling. Ein stechender Schmerz in ihrem Herzen. Dann war nichts mehr.
Entweder wir kennen alle verschiedenen Gattungen von Geschöpfen, die unseren Planeten bevölkern, oder wir kennen sie nicht. (aus: »20.000 Meilen unter dem Meer«, Jules Verne, Schriftsteller, 1828 – 1905)
9. Da-donk! Da-donk! Da-Donk! Da-Donk! Das hämmernde Geräusch hatte seine Frequenz verändert. Die einzelnen Schläge klangen klarer und um einige Oktaven höher. Auch die Schnelligkeit, mit der die Schläge fielen, hatte zugenommen. Shanija spürte jeden einzelnen wie mit einer Spitzhacke in ihren Schädel getrieben. Da-Donk! Wie kann ich tot sein und zugleich Kopfschmerzen haben?, fragte sie sich. Und begriff im selben Moment, dass sie nicht gestorben war, sondern soeben aus einer Ohnmacht erwachte. Die Gesichter, die sie umstanden – Gesichter? – lächelten erleichtert, als sie die Augen aufschlug. Da war Darren, und neben ihm stand ein hoch aufgerichteter, asketisch wirkender Mann mit kurzem schwarzem Bart und dichten, weißen Haaren. Ein weiterer Mann mit breitem Kreuz hantierte an Hebeln und Speichenrädern und wandte ihr halb den Rücken zu. Über ihr verlief ein Gewirr an Rohren in allen Stärken und Materialien: mit grauer Substanz isolierte, daneben blanke, kupferglänzende Rohre zwischen bleigrauen und stählernen Kanülen. Schellen, Schrauben, Bolzen, Halteringe, dahinter eine gewölbte Decke aus miteinander vernieteten Metallplatten, die ohne Knick in die nach außen gebogenen Wände überging. Shanija erblickte an den Wänden eine Vielzahl kreisförmiger Messapparaturen, in denen Zeiger zitterten, unzählige Kipphebel unter segmentierten Skalen, handbeschriftete Anzeigetafeln, Federwerke, an deren Enden dünne Stifte saßen, die hin und her schwangen und ihre Ausschläge auf einer
darunter entlang laufenden Papierwalze aufzeichneten. In regelmäßigen Abständen angebrachte Messing-Gaslichter tauchten den Raum in ein düsteres, gelbliches Licht. Mechanische Uhren tickten, in den Rohren tropfte und brodelte es, und von irgendwoher ertönte das unaufhörliche Da-Donk-Gestampfe einer Maschine. Ich bin in einem Unterseeboot! Was Shanija sah, ließ keinen anderen Schluss zu. Was die Unwahrscheinlichkeit, sich ausgerechnet in diesem See in einem Unterseeboot zu befinden, keineswegs minderte. Wäre Darren nicht hier, hätte sie alles für einen Traum gehalten, für ein Restaufflackern ihres Unterbewusstseins, das ihr mit einer kruden Phantasie den Tod des Ertrinkens erleichtern wollte. Sie lag mit dem Rücken auf einer Art Bahre, eingemummelt in eine dicke Decke. »Ihr hattet erwiesenermaßen mehr Glück als Verstand, gute Frau«, sagte der Weißhaarige. Er nickte Darren zu. »Wir sind an Bord der Crater«, erklärte Darren und strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. »Das hier ist Kapitän Menlu. Er …« »Wir kamen glücklicherweise gerade zur rechten Zeit«, fiel der Kapitän ihm ins Wort. »Bedankt Euch bei Eurem Freund. Ohne sein Klopfen hätten wir euch nicht bemerkt.« »Ich sah ein helles Licht«, sagte Shanija. »Unseren Bugscheinwerfer. Doch Ihr befandet Euch nicht in seinem Fokus. Unsere Fenster sind klein …«, er verwies auf zwei höchstens fünfzehn Zentimeter durchmessende Bullaugenfenster. »Erst Darrens Klopfen erregte unsere Aufmerksamkeit.« »Aber wie konntet Ihr in der Kürze …?« Der schlanke, hochgewachsene Mann winkte ab. »Wir stoppten die Maschine, richteten den Scheinwerfer auf Euch aus. Mehr als eine Schleuse zu öffnen vermochten wir nicht zu tun. Darren zog Euch hinein, und hier seid Ihr nun.« Shanija sah Darren zweifelnd an. Er hob die Schultern. »Das Brakkenkraut wirkte bei mir länger, Shan. Keine Ahnung, warum. Vielleicht habe ich mehr davon gegessen oder es besser vertragen als du. Aber ohne die Crater wären wir wohl beide ertrunken. Für dich ging es um jede Sekunde.«
Der nasse Lederanzug knautschte vernehmlich, als sie sich aufrichtete. Erleichtert bemerkte sie, dass der Steingürtel abgenommen war. »Die Frage ist vielleicht überflüssig, aber ich bin fremd hier. Warum, verehrtester Kapitän Nemo, gibt es im Kratersee ein verdammtes Unterseeboot? Was unternehmt Ihr damit? Und warum weiß niemand davon?« Der Kapitän prüfte die Anzeige eines kupfernen Messinstruments, ehe er sagte: »Mein Name ist Menlu. Außerdem waren das drei Fragen, aber ich will sie gern beantworten. Die Crater gibt es, weil ich sie erbaut habe. Vielmehr habe ich sie als sechzehnjähriger Junge fertiggestellt. Ich setzte damit das Lebenswerk meines Vaters fort, der schon in seinen Jugendjahren einen Auftrag erhielt, ein solches Boot zu konstruieren.« »Einen Auftrag? Von wem?« »Von den Fioren.« Shanija warf Darren einen raschen Blick zu. »Dann existieren die Fioren noch!« »Sie existieren, aber nicht so, wie Ihr das vielleicht meint. Es gibt nur noch drei von ihnen, und es werden die Letzten ihrer Art sein.« Menlu machte eine bedauernde Geste. »Der Rest ihres Volkes ist ausgestorben. Die letzte Fiorin war die Mutter jener drei, die noch leben. Und diese sind inzwischen hochbetagt.« »Wozu dann das Unterseeboot?« »Es fehlte ihnen mittlerweile an vielem«, erklärte der hagere Kapitän. »Ohne unsere Hilfe wären sie längst verloren. Dafür belohnen sie mich und meine Helfer mit Informationen.« »Also stimmt es: Die Fioren wissen viel«, entfuhr es Shanija. Menlu nickte. »Die Fioren gehörten einst einer sehr alten Rasse an, die ihre Bestimmung darin sah, das Universum zu bereisen und dessen Geheimnisse zu studieren und aufzuzeichnen. Der Absturz auf Less machte alle Pläne zunichte. Gleichwohl blieb ihnen das Sammeln von Wissen wichtig – zumindest einigen von ihnen. Sie nannten sich die Getreuen. Im Unterschied zu jenen, die mit der Zeit nachlässig wurden. Die Getreuen blieben an Bord ihres Schiffes, das in den See gestürzt war. Die Nachlässigen stiegen zum Land hin auf
und verstreuten sich in alle Winde. Die Getreuen, die in ihrem funktionsuntüchtigen Schiff auf dem Grunde des Sees ausharrten, entwickelten sich in den folgenden Jahrtausenden immer deutlicher zu Wechselatmern, die sowohl Kiemen als auch Lungen benutzten. Was sie über heimliche Helfer über die Verhältnisse an der Oberfläche erfahren konnten, sammelten sie in all der Zeit akribisch. Aber sie selbst scheuten sich, in die Wirren der Welt aktiv einzugreifen oder sich mit den unterschiedlichsten Machtgefügen auf Less auseinanderzusetzen.« »Dann gibt es gar keine dritte Stadt?« Menlu verneinte. »Es gibt nur einen kleinen Teil ihres Schiffes, der noch bewohnbar ist. Die angeblich mächtige Stadt der Fioren im See ist eine Legende der Oberwelt.« »Aber die Fischer sagten, sie sähen jede Nacht Lichter.« »Richtig. Und Gasblasen, die stinken«, ergänzte Darren. Der Kapitän wechselte einen belustigten Blick mit dem schweigsamen Breitschultrigen. »Sie sehen unser Buglicht. Und sie riechen unsere Abgase. Methan stinkt in manchen Nasen.« »Aber Euch vertrauen die drei Fioren? Und Ihr wisst, wo sie zu finden sind?« Shanija nahm die Decke ab und schwang die Beine über den Rand der Bahre. »Die Crater beliefert sie regelmäßig mit Nahrungsmitteln.« Sie zögerte. »Könnt Ihr uns zu ihnen bringen?« »Wir sind bereits dahin unterwegs.« * Die Crater ging in einer spiralförmigen Bahn tiefer, deutlich tiefer als die vierzig Meter, die ihnen Mun genannt hatte. Während des Tauchgangs umrundeten sie einmal den mit Algen behangenen Sockel der zentralen Insel. Dichte Fischschwärme standen nahe des Inselmassivs und flohen in wildem Zickzack, wenn sich die Crater ihnen näherte. »Sirhellen«, erklärte Menlu. »Der Reichtum des Sees.« Das Boot bestand im wesentlichen aus vier durch Schotte verrie-
gelbare Abteilungen: dem Steuerraum, in dem sie sich befanden, einer Schleusenkammer mittschiffs, zu der auch ein Oberluk gehörte, einer Nutzlastkammer und dem dahinter befindlichen Maschinenraum im Heck der Crater. Der Antrieb des Bootes, erfuhr Shanija, war eine Kombination aus beidseitig angebrachten Druckkammern, deren Druck die Dampfmaschine in Überwasserfahrt erzeugte, und einer Reihe von komplizierten Federwerken, die durch den allmählich über Ventile abgegebenen Druck in Bewegung versetzt wurden. Im Prinzip glich die Crater in Unterwasserfahrt einer gigantischen, aufgezogenen Uhr, deren Federkraft auf den Heckpropeller gelenkt wurde. Das hämmernde Da-Donk kam nicht etwa von der Dampfmaschine, sondern von der ambossgroßen Unruh des Federantriebs, die mit metallenem Pochen in die Zahnräder schlug, dieses Geräusch an das ganze Boot weitergab und die Hülle zum Dröhnen brachte: Es war das »Ticken« der mobilen Uhr. Flutfähige Kammern sorgten für den Aufund Abtrieb. Da die Gaslichter, vor allem der Bugscheinwerfer, der von einem auf Hochglanz polierten Reflektorkranz umgeben war, konstant Atemluft verbrauchten, konnte die Besatzungsstärke nicht mehr als zwei Mann umfassen, die insgesamt maximal fünf Stunden unter Wasser bleiben konnten. Mit zwei zusätzlichen Passagieren an Bord verringerte sich die Tauchzeit um die Hälfte. Sie würden daher nicht lange bei den Fioren bleiben können, erkannte Shanija, nachdem sie das Messinstrument entdeckt hatte, das die verbleibende Atemluft anzeigte. Endlich erstarb das Dröhnen. Menlu und sein Helfer regelten ein gutes Dutzend Ventile, es rauschte in den Rohren, und Shanija konnte, dem Gefühl in einem Fahrstuhl nicht unähnlich, deutlich spüren, wie sich der Bootskörper ein Stück weit senkrecht aus dem Wasser hob. Die Crater kam zischend und knackend zur Ruhe. * Als Shanija den Kopf aus der Luke steckte, roch sie mit dem ersten
Atemzug die Fremdheit, die diesen Ort erfüllte. Die Crater lag aufgetaucht in einer Halle, die vor Urzeiten einmal ein Beiboothangar gewesen sein mochte. Das Seewasser wurde durch den im Raumschiff herrschenden Überdruck zurückgehalten. Das Becken, in dem das Boot dümpelte, war von einem ovalen Stahlrahmen umgeben; eine gleichfalls stählerne Leiter führte hinauf, und Shanija kletterte Darren nach, der seinerseits Kapitän Menlu folgte. Ihre Stiefel erzeugten ein klankendes Geräusch, das sich an den Wänden brach. Ein fünf Meter hohes, offen stehendes Schott lag im fahlen Licht bläulich schimmernder Lampen. Ein Gang erstreckte sich dahinter, um schon nach kurzer Zeit an einer T-Kreuzung zu enden. Dort warteten drei Gestalten auf sie. Für Shanija war es unmöglich, die drei Fioren auseinanderzuhalten. Ihr Körperbau entsprach dem aller humanoiden Grundformen: zwei Arme, zwei Beine, der Rumpf, darauf ein völlig haarloser Kopf. Die Haut der Fioren war weiß, fast farblos, sodass ein Netz dunkler Adern unter dem Gewebe erkennbar war. Schwarze Augen lagen in tiefen Höhlen, und hier endete schon jede Ähnlichkeit mit menschlichem Aussehen – die Fioren hatten drei Augen auf gleicher Höhe, zwei an den Schläfen, eines oberhalb des lamellenartigen Atemschlitzes, der anstelle einer Nase das Gesicht beherrschte. Ihr Gesichtskreis musste weitaus größer sein als der eines Menschen. Der Mund wirkte klein und dünn, die Lippen selbst waren graue, gerunzelte, nach unten gebogene Linien. Alle drei trugen völlig gleiche, einteilige, fließende Gewänder aus silberner Farbe, die ihnen bis zu den Füßen reichten. »Menlu«, sagte der Mittlere. »Wir grüßen dich. Du erscheinst zur rechten Zeit.« Nichts an ihm und seinen beiden Artgenossen verriet etwas über ihr Alter; auch wenn sie angeblich hochbetagt waren, so wiesen sie weder Falten noch erkennbare Gebrechlichkeiten auf. Die Stimme des Fioren klang sanft, war eher ein Singsang als gesprochenes Wort. Der Kapitän stellte seine Begleiter vor.
Neun Augen ruhten auf Darren und Shanija. Nicht neugierig oder gar wissbegierig, dachte sie, sondern beinahe resigniert. Sie hob grüßend die Hand und hoffte, die Geste möge verstanden werden. »Ich bin erst vor kurzem auf Less notgelandet«, begann sie. »Und ich bin in großer Bedrängnis.« So kurz wie möglich umriss sie ihre Geschichte, sprach von der Gefahr durch die Quinternen, von der drohenden Vernichtung der Erde und der Menschheit, wenn es ihr nicht gelang, rechtzeitig Less wieder zu verlassen. Sie erzählte, wie sie von der Urmutter erfahren hatte, jener legendären Ahnin der auf Less lebenden Menschen. Berichtete, wie sie zu ihrem eigenen Erstaunen vernommen hatte, dass die Urmutter immer noch leben und obendrein das Geheimnis kennen sollte, wie ein Start von Less gelingen könne. »Es heißt, sie besitzt den Schlüssel zu einem erfolgreichen Start, kann aber selbst nicht starten«, endete sie. »Leider kenne ich ihren Aufenthaltsort nicht. Aber mir wurde gesagt, Ihr wüsstet möglicherweise darüber Bescheid. Deshalb bin ich hier. Um Euch zu bitten, mir zu helfen.« Die drei Fioren wandten sich einander zu, und wenn sie miteinander sprachen, dann taten sie es nicht mit Worten. Eine Minute verging in bedächtigem Schweigen. Darren und Shanija wechselten beunruhigte Blicke. Kapitän Menlu tat, als ginge ihn das alles nichts an. Plötzlich traten die beiden Außenstehenden zurück, und der bisherige Wortführer sagte: »So geschieht es also.« »Was meint Ihr damit?«, fragte Shanija. »Folgt uns.« Die drei Fioren drehten sich wortlos um und gingen den linken Gang hinunter. Unter den fließenden Gewändern sah Shanija am oberen Rücken merkwürdige Ausbuchtungen, die sich beim Gehen hin und her bewegten. »Einst waren wir geflügelte Wesen«, sagte der Sprecher, als habe er ihre Gedanken wahrgenommen. »Wir verloren die Fertigkeit des Fliegens, als wir den Weltraum eroberten, und die Flügel bildeten sich zurück. Jetzt, wo wir seit vielen tausend Jahren auf Less gefangen sind, sind uns über viele Generationen hinweg Kiemen gewach-
sen, und wir können für Stunden unter Wasser atmen. Wir sind Wesen, denen das Schicksal eine hohe Anpassungsfähigkeit verlieh. Vielleicht war es unsere Bestimmung, die unterschiedlichsten Welten zu besiedeln, uns ihnen schnellstmöglich anzupassen und so dem Universum unseren Stempel aufzudrücken. Stattdessen werden wir hier zugrunde gehen.« Durch ein weiteres geöffnetes Schott betraten sie einen Raum, in dessen Mitte sich auf einem kleinen Podest eine steinerne Stele erhob, ein völliger Widerspruch zu dem sonst überall verwendeten und offenbar unvergänglichen Metall des einstigen Fiorenschiffes. Die Stele glänzte wie polierter weißer Marmor. Shanija musste kurz an Muns Bemerkung von dem metallenen Hafen denken. Bestand hier ein Zusammenhang? Der Fiore strich über die flache Oberfläche der Stele, und ein kugelförmiges Glimmen von der Größe eines Kürbisses entstand in der Luft darüber. »So geschieht es also«, wiederholte der Sprecher. »Du bist jene, deren Schicksal zugleich unser aller Schicksal ist. Dir ist die Sonnenkraft gegeben worden, und allein schon aus diesem Grund musst du Less verlassen.« »Ich verstehe nicht …« »Die Passage«, antwortete der links stehende Fiore. »Alle zehntausend Quartennien entsteht durch eine besondere Konstellation ein Riss im Kontinuum – eine Verbindung zu einem anderen Universum. Schon einmal hat ein gewaltiges Wesen von dort versucht, den Durchgang zu nutzen. Wir wissen es. Wir wissen auch, der Riss hat sich bis zuletzt geschlossen, bevor das Wesen hindurch konnte.« »Die Passage gestattet den Übertritt«, sagte der dritte Fiore. »Wieder könnte jenes Wesen versuchen, hierher zu gelangen. Es könnte aber auch sein, dass unser Universum dieses Mal von dem anderen eingesaugt wird. Niemand weiß, wann das alles begann, doch wir wissen, dass es mit jedem Mal gefährlicher wird. Es sind gewaltige Resonanzkräfte am Werk, die sich hochschaukeln. Dieses Mal könnte es zu einem Kollaps kommen. Wir rechnen damit.« »Vielleicht ist es tatsächlich kein Zufall«, fuhr der erste Sprecher fort, »dass das Ende unserer Art und das Ende des Universums, wie
wir es kennen, zeitlich zusammenfallen. Wir konnten unserer Aufgabe, uns im Universum zu verbreiten, nicht nachkommen. Damit entstand ohne Frage ein Ungleichgewicht – wir konnten an irgendeiner Stelle einen wichtigen Beitrag nicht leisten. So ist die jetzt beginnende Zeit des Übertritts zugleich unsere Strafe für unser Versagen. Die Passage steht praktisch unmittelbar bevor, noch in diesem Quartennium – und du, Shanija, bist in diesem Drama die Hauptperson.« »Das höre ich nicht zum ersten Mal.« »Es liegt an der Sonnenkraft, die in dir ruht«, sagte der zweite Fiore. »Setzt du sie ein, so könnte sie die Passage stabil halten und es Dur dem Ewigen gelingen, herüber zu kommen.« »Das wäre das Ende aller Tage«, sagte der dritte Fiore. »Also haben die Warner völlig recht«, entfuhr es Darren. Der erste Sprecher hob beide Hände und formte eine Schale. Unwillkürlich verstand Shanija dies als eine Geste der Bejahung. Ungeduldig sagte sie: »All dies ist mir bereits hinlänglich bekannt. Ob wahr oder nicht – mir ist daran gelegen, Less so schnell wie möglich zu verlassen.« »Das ist deine Pflicht.« »Du musst die Urmutter finden, nur sie kennt den Weg.« »Denn sie lebt in der Tat noch – nach allem, was wir wissen.« »Wo finde ich sie?« »Dort«, sagte der erste Sprecher. Er bewegte wieder die Hand, und in dem Glimmen verdichtete sich das Licht zu einem dreidimensionalen Bild. Es zeigte ein brandendes Meer, das gegen gewaltige, rötliche Steilfelsen donnerte. Das Bild wurde unschärfer, sprang förmlich auf die Felsen zu und wurde wieder klar. Auf der höchsten Klippe, inmitten eines kreisrunden Platzes, erhob sich auf einer zentralen Erhebung eine Stele, die der hiesigen glich wie ein Ei dem anderen. »Wo ist das?«, fragte Shanija atemlos. Der erste Sprecher kreuzte beide Hände. »Das wissen wir nicht«, bedauerte er. »Was wir indes wissen«, sagte der zweite Fiore, »was wir erst jüngst erfahren haben, soll dir offenbart sein, denn du bist in großer
Gefahr.« Er bewegte wiederum die Hand, das Bild der Stele verschwand, und es zeigte plötzlich einen von Fackeln erleuchteten Raum, in dem eine Gruppe von düsteren Gestalten einen Ring bildete. Shanija erkannte an den Tätowierungen, dass es sich um Warner handelte. In der Mitte des Kreises stand ein humanoides Wesen, dessen Gesicht mit einer Maske bedeckt war. »Das dort ist Corundur«, sagte der dritte Fiore. »Was du hier siehst, ist die Erinnerung eines Mitglieds der Warner. Wie wir sie erhielten, tut nichts zur Sache. Aber sieh, Corundur kennt dich, denn er erinnert sich an dein Gesicht.« Für einen kurzen Moment flimmerte Shanijas Antlitz vorüber. Plötzlich löste sich der Kreis der Sektenmitglieder auf, und nur jener, dessen Erinnerung sie miterlebten, und Corundur, der Anführer, befanden sich noch im Raum. Corundur wandte seinem Jünger den Rücken zu. Die Aura des Humanoiden musste gewaltig sein; sie vermittelte sich selbst durch diese indirekte Form der Beobachtung. Und dann geschah etwas, womit Shanija nicht gerechnet hatte und worauf sie nicht zu hoffen gewagt hatte. Corundur griff sich mit beiden Händen an den Kopf und nahm die Maske ab. Dann drehte er sich um – und sein Blick strich wie suchend umher. Das flackernde Licht der Fackeln reflektierte in seinen Augen. Noch immer lang Corundurs Gesicht im Schatten, seine Züge blieben unscharf. Für einen winzigen Moment glaubte Shanija ein Gesicht zu erkennen, aber alles war zu flüchtig, zu verschwommen, zu schnell. Da hob sich der scharfe Blick – und Shanija fühlte sich mit einem Mal direkt angesehen, als ob sie sich plötzlich selbst in jenem Raum befände, anstelle des Jüngers. Wie eisige Nadeln stach es in ihr Gehirn. Ein Schmerz durchzuckte ihren Kopf, dass sie schwankte. Ein Raunen durchlief ihren Körper, wallte auf, wurde Stimme. Du kannst dich nicht verstecken! Ein Lachen folgte, das lässige Gewissheit verströmte. Im nächsten Moment war es vorbei. Das Bild erlosch. Das Glimmen über der Stele verblasste. »Hüte dich vor Corundur«, sagte der erste Fiore. »Leider wissen
wir nicht, wer er ist.« »Wir wissen nur, er kann überall und nirgends sein.« »Sein Einfluss ist schrecklich«, schloss der dritte Fiore. »Wir können die Angst spüren, die mit jener Erinnerung einhergeht.« Shanija schüttelte ihr Haar, als könne sie damit das Erlebte aus dem Kopf vertreiben. Doch die Augen Corundurs hatten sich förmlich in ihre Seele gebrannt. »Hüte dich vor ihm«, wiederholten die drei Fioren gleichzeitig. Shanija hob abwehrend die Hände. »Wer seid ihr?«, stieß sie hervor. »Was habt ihr mit Burundun zu tun? Oder vielmehr – mit dem Zentralarchiv?« »Shanija …«, begann Darren verwundert. »Merkst du es denn nicht?«, rief sie. »Es hängt alles zusammen!« Eindringlich wandte sie sich an die drei Fioren. »Habe ich recht? Erst durch euch sind die oberen Städte entstanden … und das Archiv! Ihr seid die ersten Wissenssammler! Mit euch fing es an!« Die drei Fioren steckten die Köpfe zusammen. Dann entschieden sie, sich zu offenbaren. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, mit ihnen würde die letzte Erinnerung an ihr Volk sterben. Wieder machte der Mittlere der drei eine Handbewegung. Über der Stele entstand ein Bild voll undurchdringlicher Schwärze. Sterne glitzerten darin auf – der Weltraum. Ein Raumschiff kam rasch heran; es wirkte groß, auch wenn es keinen Vergleichsmaßstab gab. Shanija erkannte einen zentralen Körper, an dem zwei lange Ausleger befestigt waren. Das Ganze sah aus wie ein Y. Das Schiff flog mit beiden Auslegern voran. »Das ist die Ferengwuer«, erklärte ein Fiore. »Sie flog in das System der drei Sonnen«, fügte der Zweite hinzu. »Vor etwa einhundertzwanzigtausend Jahren«, sagte der Dritte. »Gerechnet nach euren menschlichen Jahren.« In der Schwärze über der Stele tauchte das Dies Cygni-System auf: Die gelbe, die rote und die orangene Sonne. Der Gasriese zog unermüdlich seine Bahn. Die Monde, die ihn umkreisten, kamen nacheinander ins Bild. »Die Ferengwuer stürzte ab.«
»Less zog sie unbarmherzig an, wie jeden Unglücklichen vor uns.« »Die Technik fiel aus – wie bei allen davor und danach.« Flammenzungen loderten aus den Bremsdüsen, flackerten, brachen ab, flammten erneut auf. Less' einziger Kontinent wurde größer. Das Schiff hielt auf dessen Zentrum zu. Ein Binnenmeer wuchs rasend schnell auf die Ferengwuer zu. Der Winkel, in dem das Fiorenschiff abstürzte, wurde flacher, bis der Antrieb endgültig versagte. Das Schiff, eben noch eine Wasserung versuchend, fiel wie ein glühender Meteor in das Binnenmeer. Der Aufprall entfesselte eine Naturkatastrophe. Das Wasser verdampfte, wurde zu kilometerhohen Wolken verwirbelt. Die Mondoberfläche brach auf. Glühendes Erdreich quoll aus sich öffnenden Klüften. Dann sprengte eine gewaltige Explosion ein Loch in den Boden, riss den gewachsenen Fels auseinander wie nichts. Magmabrocken schossen in den Himmel, zeichneten weißliche Parabeln ans Firmament. Schlamm, Ascheflocken, heiße Gase mischten sich zu einem alles überwogenden Plasma. Pechschwarze Wolken wallten hoch in die Atmosphäre hinauf, Regen setzte ein, schmieriger Schlamm kam in unablässigen Wellen herab. Das Binnenmeer war verschwunden. Ein hunderte Kilometer durchmessendes Kraterringgebirge, dampfend und kochend, erhob sich an seiner Stelle aus dem einstigen Seegrund. Die gewaltigen Regenmassen sammelten sich im Inneren des Kraters, kühlten das heiße Gestein ab, bildeten mit der Zeit einen sich immer weiter füllenden See. Die Ferengwuer steckte, grotesk verbogen, tief im Schlamm des sich neu bildenden Sees, einer der Ausleger war zertrümmert, der andere reckte sich, wie ein mahnender Finger, senkrecht in den Himmel. Immer weiter fiel Schlamm aus den Wolken, floss am Metall des Auslegers herab, bildete ein erst kaum wahrnehmbares, dann immer höher wachsendes Sediment, bis am Ende eine Insel den aus dem Wasser ragenden Ausleger umgab. »Der Turm des Zentralarchivs – das ist ein Teil eures Schiffes?«, stieß Shanija fassungslos hervor. Es war also tatsächlich Metall gewesen, was sie aus der Nähe unter den schrundigen, versteinerten Schlammresten hervorblitzen gesehen hatte.
»Der nicht zertrümmerte Ausleger der Ferengwuer, in dem hauptsächlich technische Geräte untergebracht waren; er ragte am Ende wie ein stummes Mahnmal über die Wasseroberfläche hinaus«, antwortete der mittlere der Fioren. »Nicht alle unseres Volkes starben«, setzte der Zweite fort, »und Fioren sind sehr anpassungsfähig. In den kommenden Jahrtausenden entwickelten sich manche der unseren immer deutlicher zu amphibischen Kiemen- und Lungenatmern.« »Wir gehören einer sehr alten Rasse an«, meinte der Dritte. »Eine Rasse, die ihre Bestimmung einst darin sah, das Universum zu bereisen und dessen Geheimnisse zu studieren und aufzuzeichnen. Doch die Erinnerung daran verblasste bei den meisten mit den Jahren immer mehr, verlor sich in Alltäglichkeiten.« »Die Nachlässigen sonderten sich ab von den Getreuen«, wiederholte Shanija das zuvor Gesagte. »So ergab es sich«, bestätigte der erste Sprecher. »Ein weiterer Umstand trat hinzu. Mit uns überlebten auch jene, die unser gesammeltes Wissen speicherten. Denn wir vertrauten unsere Entdeckungen und Erfahrungen niemals technischem Gerät, sondern organischen Wesen an. Einer Lebensform, die wir einst fanden – und zweckentsprechend nutzten. Würmer in euren Augen. Mit keinerlei Intelligenz behaftet, aber mit der Fälligkeit gesegnet, Informationen in unglaublichen Mengen in sich aufzunehmen. Ständiger Informationszufluss ist für sie so wichtig wie für euch die Nahrungsaufnahme.« »Ihr habt sie versklavt?« Darrens Miene zeigte deutliches Missfallen. »Versklavt? Sind eure Hühner und Schweine, sind eure Gemel eure Sklaven? Ihr sagt Nutztiere dazu. Es gibt keinen Unterschied zwischen lebenden Speicherbänken und eierlegenden Vögeln. Jedenfalls, diese Würmer überlebten die Havarie ebenfalls und sahen sich mit einem Mal von der regelmäßigen Versorgung durch uns abgeschnitten. Nichts war mehr so wie zuvor. Neue Wege mussten gefunden und begangen werden. Einige tausend Jahre später hatte sich die Situation schon grundlegend gewandelt. Das Wrack selbst war fast komplett ausgeschlach-
tet. Nur noch wenige Getreue lebten in den nicht gefluteten Kammern unter dem See. Die Wurmkolonie tief im Inneren des Schiffs reagierte langsam, aber stetig auf die ungewöhnliche Strahlung der drei Sonnen und entwickelte Intelligenz. Zwar bildeten die Würmer keine Lautsprache aus, verständigten sich jedoch schon bald mittels telepathischer Impulse. Ihr angeborener Drang, Informationen zu sammeln und zu speichern war nach wie vor ungebrochen, musste jedoch vorerst in den Hintergrund gerückt werden. Das Überleben der Art war wichtiger.« Shanija sah, wie Darren der Unterkiefer nach unten klappte. Sie konnte es ja selbst kaum glauben. So löste sich ein uralter Mythos auf – phantastischer, als es sich selbst ein Dichter hätte ausmalen können. Wenn Mun nur hier wäre! Er würde die Worte förmlich aus den Fioren saugen. »Sie«, sagte sie stockend, »die Würmer … machten eine Evolution durch?« »Exakt«, sagte der dritte Sprecher. »Sie begannen sich als Draawen zu bezeichnen. Sie entwickelten die psimagische Gabe, die Gehirne und den Willen anderer Lebewesen zu beeinflussen. Das war der Beginn einer gänzlich neuen Entwicklung.« Der erste Fiore ließ das Bild über der Stele verschwinden. »In den kommenden Jahrhunderten«, sagte er, »entstand die Basis für das spätere Zentralarchiv. Die Draawen sorgten durch sanften Zwang dafür, dass ihr Lebensraum ihren Bedürfnissen angepasst wurde. Sie selbst haben keine Gliedmaßen, können also nur bedingt Bauwerke errichten oder ähnliche Arbeiten durchführen. Immer mehr Individuen siedelten sich in der Nähe unseres abgestürzten Forschungsraumers an. Über viele Jahrtausende hinweg wuchs die Siedlung zu einer Stadt heran. Bald reicht der Platz für den steten Zustrom an Lebewesen nicht mehr aus und Lakara, die schwimmende Stadt, begann sich rund um das Seeufer herum von innen an Burundun anzulehnen und auf den See hinauszuwachsen. Bald schon beeinflussten die Draawen eine Reihe von geeigneten Personen, die sie als Späher in die nähere Umgebung schicken. Nach deren Rückkehr wurden die gesammelten Informationen telepathisch direkt aus dem Erinnerungsspeicher der Betroffenen gezapft. Schon bald
waren Dutzende von solchen Sammlern unterwegs – das System der Adepten bildete sich heraus.« »Die Bibliothekare sind Würmer«, murmelte Darren schockiert. »So ist es«, bestätigte der mittlere Fiore. »Niemand kann sich ihrem Einfluss entziehen. Nur über uns Fioren, die sie einst gezüchtet hatten, haben sie keine Macht.« Ein Bruder fuhr fort: »Als Nächstes sorgten die Draawen dafür, dass das Zentralarchiv als uneinnehmbar galt. Natürlich gab es immer wieder Versuche, einzubrechen, doch die Draawen beeinflussten diejenigen und benutzten sie für ihre Zwecke. Einige wurden Adepten, andere Archivwachen, und dergleichen mehr. Mit der Zeit sprach es sich herum, dass niemand unbefugt den Turm ohne Fenster und Türen betreten kann. So entstand in hunderttausend Jahren ein ebenso ausgeklügeltes wie perfekt arbeitendes System. Die Draawen gehen auch heute noch dem nach, was sie schon an Bord der Ferengwuer getan haben: Sie sammeln Informationen und speichern alles. Im Zentralarchiv befindet sich das gesammelte Wissen der Welt, und jeden Tag kommt neues hinzu.« »Für uns hat das keine Bedeutung mehr«, schloss der Dritte. »Unser Wissen wird mit uns sterben.« »Nicht alles«, sagte Shanija leise. »Ich werde mich erinnern.« * »Woher habt ihr die Erinnerung an Corundur?«, wollte Darren wenig später wissen, als sie den Stelenraum verlassen hatten und zur Crater zurückgingen. »Woher wissen wir, dass du Legetar kennst?«, fragte einer der Fioren zurück, wie üblich gefolgt von den anderen beiden. »Woher wissen wir, dass du dich vor dem fürchtest, was bei jenem Spiel geschehen ist?« »Woher wissen wir, was du für die Trägerin der Sonnenkraft empfindest?« Darren bekam einen roten Kopf. »Sie sind Telepathen, Darren«, sagte Shanija lächelnd.
Neben der Crater stapelten sich Ballen der Ladung, die Menlus schweigsamer Helfer in der Zwischenzeit ausgeladen hatte. Sie verabschiedeten sich mit einem Gefühl der Trauer von den Fioren, den Letzten ihres Volkes, bereits dem Tode näher als dem Leben. Allerdings hinterließen sie ein gewaltiges Erbe. Durch das Oberluk stiegen sie in das Unterseeboot zurück. Menlu verriegelte die zentimeterdicke Stahlscheibe. Gurgelnd bliesen Pumpen Wasser in die Ballasttanks, die Crater sank aus dem Hangar heraus. Hüte, was du schon hast, Shanija Ran. Es war eindeutig die singende Stimme eines Fioren, doch sie entstand unmittelbar in ihrem Kopf. Ihr könnt Eure Gedanken auch senden, dachte sie verblüfft zurück. Ein oder zwei Atemzüge vergingen. Gedanken senden und über weite Strecken empfangen, Shanija Ran. Wir wussten, dass du zu uns kommst. Wie sonst hätte dich Menlu so schnell finden können? Oder glaubst du nach allem, was dir widerfahren ist, immer noch an Zufälle? Sie wurde von einem Gefühl milder Heiterkeit überschwemmt, in das sich zugleich eine tiefe Traurigkeit mischte. Sie lauschte angestrengt, doch fortan kam nichts mehr. Kapitän Menlu wiegte wissend das weißhaarige Haupt. Das Auftauchen begann.
Jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu Essen bekommen, denen, die frieren und keine Kleidung haben. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder. (Dwight D. Eisenhower, 34. Präsident der USA, 1890 – 1969)
10. Windreit schlug die Lederhäute des Eingangs zurück und grinste stolz über ihr grünes Jadegesicht. Das, was da in ihren Taschen klimperte, war der Fischzug des Jahres. Ach was! Der ihres ganzen bisherigen Lebens. Keine falsche Bescheidenheit! Alle Sorgen waren damit hinfällig geworden, alle Trübsal ein sich im goldenen Sonnenlicht auflösender Nebel. Womöglich glaubte der pankrotische Giftzwerg immer noch, er habe das Geschäft seines Lebens gemacht. Bis er wieder in dem geheimen Versteck unter seinem Strohlager nachsah, mochten Tage vergehen. Und selbst dann musste das nicht heißen, dass er sofort alle Säckchen durchwühlte und gleich die Steinchen fand, die sie anstelle des Geldes hineingelegt hatte. Nicht in alle, wohlgemerkt, nur in die unteren zwei Lagen; die oberen, unberührten Säckchen würden ihm suggerieren, dass sein gesamter Schatz wohlbehalten unter seiner Schlafstatt ruhte. Windreit schätzte ihre Beute auf rund viertausend Sonnen, mehr als genug, um dem Baby Nahrung und Kleidung zu besorgen und Decken und was es sonst noch alles benötigte. In der Pfahlhütte war es still. Zu still, fand Windreit. Wo war Maquana Manoloo, die urianische
Hebamme? Wo war Windfang, die hoffentlich glückliche Mutter? Wo war das Baby, das längst zur Welt hätte kommen müssen? Nur das Schmatzen der Wellen, die gegen die Pfähle schwappten. Dann sah Windreit die Tonschüsseln; die grün verschmierten, blutigen Tücher; das Beißholz, Achtlos fallen gelassen; Windfangs besudelter Kittel, der zusammengeknüllt auf dem Boden lag. Der Herd war aus, das Feuerholz unberührt. Die Diebin betrat Windfangs abgetrenntes Gemach mit einem mulmigen Gefühl – und erstarrte. Ihre nackte Zwillingsschwester hielt einen fremden, gleichfalls nackten, dünnen, vollkommen ausgemergelten Greis in den Armen. Ihr Gesicht war auf seine knöcherne Brust gesunken, ihre Tränen benetzten seine bloße Haut. Windfang hob den Kopf, wollte ihrer Schwester sagen, was geschehen war, brachte jedoch keinen Ton heraus. Ihre Lippen bebten in ungesagter Qual. Sie pendelte mit dem Oberkörper leicht vor und zurück. Wie eine Mutter, die ihr Kind wiegt, dachte Windreit und verstand immer noch nicht. Die Uriani hockte in Krötenmanier neben dem Lager, die feisten Schenkel bis zu den Ohröffnungen angezogen. Die Kehlhaut pumpte hektisch, als litte die Hebamme Atemnot. Ihr Gesicht war ebenfalls nass, ob nun infolge von vergossenen Tränen oder weil urianische Gesichter selten trocken waren – es war einerlei. Windreit wurde bewusst, dass sie sich am Schauplatz eines schrecklichen Ereignisses befand, an dem niemand der Geschichte ihres bedeutsamen Fischzugs Gehör schenken würde. »Was ist geschehen?«, fragte sie leise und ließ den Schultersack fallen. Die Uriani senkte den Kopf tiefer, drehte die Glupschaugen in ihre Richtung. »Böse Zeichen«, sagte sie dumpf. »Sehr böse Zeichen.« Ihr Knorpelfinger malte seltsame Figuren in die Luft. »Alles gerät durcheinander«, blubberte sie. »Die Zeit rast, die Welt gerät aus den Fugen. So lautet die Mär von Dur, dem Ewigen. Er wird kommen, heißt es, und mit ihm die grausame, dunkle, zerstörerische Zeit. Alles wird enden im Untergang. Alles wird untergehen im nahen Ende.«
»Hör auf mit diesem Altweibergeschwätz!«, herrschte Windreit sie an. »Sag mir endlich, was hier geschehen ist!« Die urianische Hebamme ließ ihre lange Zunge übers Gesicht wischen. »Das Baby ist tot«, grummelte sie. »Tot?« Windreit ging durch das Gemach und sah sich suchend um. »Wieso tot? Wo ist es?« Maquana Manoloo schüttelte den Kopf so heftig, dass Speichelblasen beiderseits der Mundwinkel entstanden. »Papperlapapp!«, prustete sie. »Das ist das Kind! Da! Der alte Mann!« Windreit sackte sprachlos auf die Knie. »Aber wie ist das möglich?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein matter Hauch. »Böse Zeichen«, wiederholte Maquana Manoloo. »Sehr böse Zeichen.« »Aber wie kann …?« »Es alterte vor unseren Augen«, flüsterte Windfang. »Es tat seinen ersten Schrei, ich hielt es in meinen Armen, legte es an meine Brust, und alles war, wie es sein sollte. Bis …« »Bis …?« »Es wuchs«, kam es blubbernd von der Uriani. »Es wuchs in Windeseile. Es wuchs und wuchs und sprach kein Wort. Binnen drei Stunden wandelte es sich vom Kind zum Greis. Er … es ist vor einer halben Stunde gestorben.« »Aber woran?« Windreits Gedanken rasten. »Was weiß denn ich? Ich bin Hebamme, keine Altenpflegerin. Vermutlich an Altersschwäche. Alles gerät durcheinander. Alles wird sich wandeln, das Unterste zuoberst kehren. Es ist ein Zeichen. Durs Zeichen. Ich konnte nichts gegen diese böse Kraft tun.« Maquana Manoloo wälzte sich zur Türöffnung. »Dafür«, sagte sie und machte eine Geste der Abwehr, »nehme ich kein Geld. Es tut mir leid.« Sie wollte eben die Lederhäute hinter sich fallen lassen, drehte sich aber noch einmal um. »Ihr solltet mit dem Begräbnis nicht lange warten. Wenn ihr genug Geld übrig habt, um eines zu bezahlen, versteht sich. Gräber sind teuer. Falls nicht, lasst es mich wissen. Ein Verwandter von mir ist Hochamtsversacker erster Güte. Hat gute Beziehungen. Er kennt Wege, einen Leichnam sauber zu
entsorgen. Keine Fragen, keine Klagen. Und er nimmt nur eine geringe Gebühr. Lasst es mich wissen.« Damit fielen die Häute zu, und die Schwestern waren allein. »Mein Sohn«, schluchzte Windfang. Er ist von seiner Geburt an in ein inverses Zeitloch geraten!, erkannte Windreit entsetzt. Oder in etwas, was diesem ähnelt. Und er fand nicht wieder heraus … »Hast du die Kälte gespürt? Oder die blauen Blasen gesehen?«, flüsterte sie – tonlos, ratlos, fassungslos. In Windreit tobten Gefühle, die sie nicht beschreiben konnte, für die sie keinen Namen kannte. Grauen, das jenseits aller Worte war. Zwei gleiche Kräfte, die sich unheilvoll bündelten. Sie hatten das Kind vor der Zeit tauchen lassen, tiefer und tiefer, ohne dass es wusste, wie ihm geschah. Ohne Aussicht auf Wiederkehr. Festgesaugt vom Schlick der Zeit. Ein ganzes Leben, verronnen binnen zweier Klänge. Das zitternde Nicken der Schwester sagte ihr genug. Das Furchtbare war geschehen, doch es war vorbei. Oder hatte die Uriani recht, und das war erst der Auftakt? Windreit fröstelte. Sie sah auf den schimmernden See hinaus, bis ihr Blick unter Tränen verschwamm. Die Dampfpfeifen dröhnten, doch sie zählte nicht mit.
Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben. (André Gide, frz. Nobelpreisträger, 1869 – 1951)
11. Erst, als das Oberluk nach dem Auftauchen aufgestoßen und die frische Luft herein geströmt war, fiel es Shanija auf, welcher Mief in der metallenen Röhre geherrscht hatte. Kapitän Menlu lenkte die Crater von der Insel fort. Die Kolben der Dampfmaschine fuhren zischend in die Zylinder ein, eine schwarze Rauchfahne verwehte über dem ausgefahrenen Auspuffrohr im immer herrschenden Seewind. Sie befanden sich auf der dem Steinernen Hafen entgegengesetzten Seite des Sees. »Wo soll ich Euch absetzen?«, fragte er. »Kennt Ihr jemanden, der wissen könnte, wo sich die rote Klippenküste mit der Stele befindet?«, fragte Shanija. »Zu meinem Bedauern – nein«, antwortete der Kapitän. Er dachte kurz nach und machte dann eine abwägende Handbewegung. »Es sein denn, Ihr wollt das Risiko eingehen und eine Lumini danach befragen.« »Was ist eine Lumini?« Sie sah Darren fragend an, doch der ThelRyoner schüttelte abwehrend den Kopf. Menlu erläuterte, was es mit den Begabten Frauen auf sich hatte. Mehrfach betonte er den drohenden Erinnerungsverlust. »Wartet«, sagte sie. »Ihr wollt mir damit allen Ernstes sagen, die Lumini können verlässlich auf das Wissen im Zentralarchiv zugreifen?« »So gewiss, wie ich jetzt vor euch stehe.« Shanija wandte sich Darren zu: »Und du wusstest davon?« Darren nickte ernst. »Menlu hat recht. Es ist ein unkalkulierbares Risiko, zu einer Lumini zu gehen. Was ich sicher weiß: ich würde niemals meinen Kopf dafür hergeben. Meine Erinnerungen aufs
Spiel zu setzen, meine ich. Für mich käme dieser Weg niemals in Frage. Und das sollte auch für dich gelten. Denn eines ist sicher – wer Pech hat, verliert eigene Gedächtnisinhalte. Ob diese allerdings tatsächlich im Zentralarchiv anstelle der gestohlenen Informationen landen, kann ich nicht sagen. Es wäre auch möglich, dass andere sie sich aneignen und Schindluder damit treiben.« Menlu fügte hinzu: »Die Informationen, die Euch die Lumini besorgen, sind verlässlich. Sie haben nur keinen Einfluss darauf, welche Eurer Erinnerungen Euch genommen werden wird, falls Ihr zu den Unglücklichen gehört.« »Woher wisst Ihr das so genau?«, fragte Shanija. »Die Tochtertochter meiner Schwester ist eine Lumini«, antwortete der Kapitän der Crater. Shanija sah Darren auffordernd an. Der schüttelte erneut energisch den Kopf. »Denk gar nicht erst darüber nach, Shan! Du musst verrückt sein, wenn du das durchziehen willst!«, protestierte er. »Verrückt oder verzweifelt – wo ist da der Unterschied, Darren? Soll ich jetzt aufgeben, wo wir so weit gekommen sind? Auch, wenn ich eine Erinnerung verliere – na und? Eine alte Sage auf der Erde endet mit den Worten: ›Nichts ist vergessen. Nichts wird jemals vergessen.‹ Hilf mir einfach, mich zu erinnern.« »Weiß ich denn genug von dir?« »Das, was wichtig ist, weißt du. Um alle anderen Erinnerungen ist es nicht schade.« Sie gerieten fast in Streit. Aber am Ende musste Darren nachgeben. * Die Frau war etwa vierzig Jahre alt. Die Hütte, in der sie lebte, lag auf einem baufälligen Floß mitten im dichtesten Verschlagswirrwarr von Lakara – und war völlig nichtssagend. Geradezu anonym. Wenig Hausrat, ein Nachtlager, gepackt an der Seitenwand stehende Schulterbeutel … Alles wirkte, als habe die Bewohnerin vor, jederzeit für einen raschen Aufbruch gerüstet zu sein. Nach Menlus Bericht wusste Shanija, warum. Die Wahrsprecher
machten Jagd auf die Lumini. Die Begabten Frauen führten ein Leben im Untergrund, hatten kein festes Zuhause, befanden sich stets mit einem Bein auf der Flucht. Und mit dem anderen auf dem Weg zum Schafott. Menlus Großnichte war eine Frau mit braungebrannter Haut und kräftigen Händen, die ihr Leben größtenteils im Freien verbracht hatte. Lange, dunkelbraune Haare umflossen ein nachdenkliches Gesicht von zeitloser Schönheit; dunkle, an Kohlen erinnernde Augen blickten freundlich, als sie Menlu erkannte. Über Geld wurde nicht gesprochen. »Euer Name sagt ist wie bares Geld, Darren Hag«, hatte Menlu noch in der Crater versichert, die sie kurz darauf an einem einsamen Zipfel der Schwimmenden Stadt abgesetzt und ohne den Kapitän sofort wieder gestartet war. Wo Menlus geheime Werkstätten sich befanden, über die er ohne Zweifel verfügen musste, um die Crater in Schuss zu halten, verriet er nicht. Der schweigsame Breitschultrige hatte zum Abschied immerhin gewinkt und war wortlos davon gedampft. Menlu lotste seine Gäste eine weite Strecke durch Lakara. »Zur Not weiß ich, wo ich Euren Vater finde«, hatte er unterwegs hinzugefügt, was Darren zu einem breiten Grinsen veranlasste. »Ich bin sicher, er wird diese Rechnung mit Freuden begleichen.« »Was verlangt Ihr zu erfahren?«, fragte die Lumini, nachdem sie angekommen waren und Platz genommen hatten. Shanija kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich suche die Urmutter, die Ahnin der Menschen auf Less. Ich möchte wissen, wo ich sie finden kann.« Die Begabte Frau versenkte sich in eine Art Trance, murmelte dabei wiederkehrende Silben ohne erkennbaren Sinn, fing kurz darauf an leise zu singen, und Shanija merkte, wie die Melodie sie einzuschläfern begann. Tastete die Frau mit ihren Kräften nach ihrem Bewusstsein? Oder verließ sie ihren Körper, um auf mentalem Weg in das Zentralarchiv zu gelangen? Irgendwann war es vorüber. Shanija hatte nichts gefühlt. Und sie empfand keine Leere, keinen Verlust, keinen Blackout. »Wo finde
ich die Urmutter?«, stieß sie hervor, kaum dass sie die Augen wieder geöffnet hatte. Die Lumini wechselte einen nervösen Blick mit ihrem Großonkel. »Ich … ich bin nicht dorthin vorgedrungen«, sagte sie leise. Ihrem Gesicht war eine hochgradige Erschöpfung anzusehen. Was immer sie in der Trance getan hatte, sie hatte etwas getan. Soviel war sicher. »Etwas stellte sich mir in den Weg«, fuhr sie zögernd fort. »Eine … eine Präsenz. Ein Wesen namens – nein, ich erfuhr keinen Namen, eher eine Bezeichnung. Ich stieß geistig mit einem Wesen zusammen, das ich als den Roten Adepten erkannte. Ich dachte, er sei eine mystische Gestalt, eine Geschichte, die man sich auf den Straßen erzählt. Aber es gibt ihn! Ich sah ihn! Und es war mehr als merkwürdig! Ich wusste, dass er es ist, von einem Augenblick zum anderen. Das Wesen selbst aber kennt seine eigene Bestimmung nicht. Es weiß nicht, dass in ihm die Kraft des Roten Adepten schlummert. Und doch wies es mich zurück! Ich sah für einen flüchtigen Moment eine ganz und gar rote Welt, in der alle Dinge bewegungslos verharrten. Auch mich hielt dieses düstere Rot gefangen, bis mir der einzige menschliche Adept erschien …« »Mun?«, fragten Shanija und Darren wie aus einem Mund. »Ja, das ist sein Name. In ihm schlummert ebenfalls eine seltsame Kraft, und er weiß nichts davon. Denn er trägt die weiße Kraft in sich. Er ist der Weiße Adept … geschaffen, um den Roten Adepten aufzuhalten. Nur zu diesem Zweck wurde er auserwählt. Er ist in großer Gefahr! Beide ahnen nichts von ihrem Schicksal.« Die Lumini sprach mit immer größerer Anstrengung und schlug die Hände vors Gesicht. »Aber die Urmutter? Wo finde ich sie?« Shanijas Enttäuschung brach sich Bahn. Sie schrie beinahe. »Ich wollte, ich könnte es Euch sagen«, bedauerte die Begabte Frau. * Als sie das An roodsten erreichten, fanden sie niemanden auf ihrem
Zimmer vor. Nur zwei Nachrichten lagen auf dem Tisch. Die erste war von As'mala, kurz und bündig: Bin um die Häuser. Die andere stammte von Seiya, die schrieb, sie habe Mun zum Weihenachen begleitet, um ihn dort zu verabschieden. Er habe den Ruf erhalten und müsse ihm unverzüglich folgen. Mun hatte noch etwas an den Rand gekritzelt: Shanija, ich werde an die Urmutter denken – hab keine Sorge. Shanija ließ den Zettel sinken und sah Darren ratlos an. »Was jetzt? Wir können ihn nicht mehr warnen!« »Wir können nur warten. Und hoffen. Und auf Muns Fertigkeiten vertrauen, sich zu verteidigen«, versetzte er. »Wir haben keine Chance, ins Archiv zu gelangen. Und höflich zu bitten, würde wohl kaum etwas bringen. Schließlich erwarten die Bibliothekare ihren besonderen menschlichen Adepten schon sehnsüchtig.« Shanija pochte mit der Faust auf den Tisch. »Aber wenn er zurück ist, werden wir es ihm sagen. Wofür er benutzt wurde, wenn er es bis dahin nicht ohnehin schon weiß, und was es mit den Fioren und den Draawen auf sich hat.« »Später«, murmelte Darren und legte die Arme um sie. »Wie es aussieht, haben wir das Zimmer eine Weile für uns allein …« Er küsste ihren Hals, knabberte an ihrem Ohr. Shanija hätte seinem Verlangen gern nachgegeben. Als er versehentlich ihre Wunde streifte, spannte sie sich an. Er hielt inne und sah sie an. »Was ist los?« »Darren … wie lange wird es dauern? Hat meine Suche überhaupt einen Sinn? Werden die Daten noch von Nutzen sein, wenn ich sie zur Erde bringe? Diese Ungewissheit macht mich allmählich verrückt.« Als habe er nur auf dieses Stichwort gewartet, löste sich unversehens der Schmuckdrache von Shanijas Brust und flatterte auf den Tisch. »Tach, zusammen!«, krähte Pong fröhlich und gähnte herzhaft. »Meine Güte, war das 'ne lange Nacht! Und kaum Alpträume. Irgendwas mit Porzellanmessern oder so und bösen Gestalten in dunklen Gassen. Egal. Hab jedenfalls geschlafen wie ein versteinertes Drachenei. Alles ugo soweit?«
»Alles was?« »Mal wieder keinen Schimmer von klassischer Literatur, was? Ugo ist eine derart verschwindend kleine Zahl, die von den Unvorhandenen Winzlingen in dem Märchen von … äh … oh-oh, ich fürchte, wir haben ein Problem, Boss!« Sie seufzte. »Machs kurz, Pong. Was für ein Problem?« Pong legte die Flügel über den Kopf und blinzelte mit seinen Rubinaugen verstohlen darunter hervor. »Die, äh, Daten, von denen du gerade gesprochen hast …« »Jaaa?« »Die sollte ich kennen, vermute ich mal?« »Nein, du verwahrst sie nur. Du hast den Datenkristall geschluckt. Ohne meine Freigabe hast du keinerlei Zugriff darauf. Hast du das etwa vergessen?« »Ich? Vergessen? Wie sollte ich etwas vergessen, von dem ich keine Kenntnis habe?« Shanija stand kurz vor einem Herzanfall. »Willst du damit sagen, du hast keine Erinnerung mehr daran, den Kristall verschluckt zu haben?« Pong hob verlegen die kleinen Drachenschultern. »Theoretisch.« »Was heißt das?« »Praktisch habe ich ein ziemliches Völlegefühl im Bauch.« »Pong, du bist immer noch eine Art Maschine. Du kannst nichts vergessen. Dein Völlegefühl – das ist der Kristall!« »Oder es ist nur ein ›unerklärlicher Userfehler‹?«, beharrte Pong. »Negativ.« »Dann gibt's nur eine Erklärung, Boss: Datenleck.« Shanija warf Darren einen bestürzten Blick zu. »Was für ein Datenleck? Was faselst du da?« »Warte, Shan«, sagte Darren. »Ich glaube, ich weiß, was da los ist. Denk an die Lumini! Manchmal verlieren Fragende eine Erinnerung. In diesem Fall hast nicht du etwas verloren, sondern Pong! Immerhin wart ihr zum Zeitpunkt der Frage miteinander verbunden.« »Bei den dreiundzwanzig Höllen der Shingsan, das kann nicht wahr sein«, stöhnte Shanija und sank ungläubig auf einen der Stühle.
»Na, und wie wahr das ist«, pfiff Pong. »Aber so was von wahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich etwas, an das ich mich nicht erinnere, vergesse, liegt meilenweit, ähm, naja, eben jenseits von ugo. Ist sozusagen unvorhanden.« Bevor Darren zu einer Bemerkung ansetzen konnte, gebot Shanija ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. Sie wusste selbst, wie haarscharf sie an einer Katastrophe vorbeigeschrammt war – noch dazu ohne Ergebnis, weil die Frage nach der Urmutter weiterhin unbeantwortet war. Shanija fixierte das winzige Drachengesicht. »Also, als Update für dich, Pong. Erstens: Du trägst einen Datenkristall in dir. Zweitens: Er ist der wichtigste Datenträger, den je ein PONG verwahrt hat, verstanden? Ohne ihn ist die Menschheit verloren! Ist das bei dir klar und deutlich angekommen?« »Jawohl, Boss. Update vermerkt. Kann ich sonst etwas für euch tun? Hat jemand eine Frage? Haben Mylady noch einen Wunsch? – Upps, pardon.« Pongs winzigen Nüstern entwich eine schwefelgelbe Dampfwolke. Sie stank nach vergorenem Brakkenkraut. * As'mala sah den Mann irgendwann zwischen dem dritten und vierten Humpen am Tresen stehen. Sie hatte sein Hereinkommen nicht bemerkt, was ihr ein ungläubiges Kopfschütteln entlockte. Denn der Junge sah gut aus, bei Zyrkans schwellenden Eiern; er war groß, fast hager, und unter seinen gelockten schwarzen Haaren stahl sich immer wieder ein diebisches Lächeln in sein bronzefarbenes Gesicht, das sie zu gern auf sich gerichtet gesehen hätte. »Was nicht ist, kann ja noch werden«, murmelte sie, nahm ihren Humpen und stellte sich neben den Fremden an den Tresen. Unter ihren Füßen hörte sie das leise Glucksen der Wellen; die aus Ziegeln gemauerte Schenke stand zur Hälfte auf Säulen und damit gewissermaßen mit einen Bein schon im See; sie befand sich unmittelbar an Lakaras oder Burunduns Grenze, je nachdem, von welcher Seite man blickte.
Der Mann wandte sich ihr kurz zu, als er die Bewegung neben sich spürte. Dann widmete er sich wieder seinem Bier. As'mala unterdrückte gerade noch, dass sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Er riecht gut. Und er hat die blauesten Augen, die ich je gesehen habe! »Entschuldigung«, sagte sie, »ich bin erst seit Kurzem in der Stadt. Kannst du mir vielleicht sagen, ob auch Besucher zur Insel vorgelassen werden?« Sie warf ihm einen Blick zu, der Kreischerstahl zum Schmelzen bringen konnte. Hoffte sie zumindest. »Was willst du dort finden?« Sein spöttisches Lächeln verriet, dass er nicht im Entferntesten annahm, sie habe wirklich ein Interesse an der Insel. Bei allen Herzensbrechern!, verfluchte sich As'mala im Stillen. Mach so weiter, und er hält dich für eine der Hafenhübschlerinnen. »Wissen«, erwiderte sie nachdrücklich. »Ist das Zentralarchiv nicht der Hort des Wissens schlechthin?« »Wissen ist nichts ohne Weisheit«, entgegnete der Fremde. Seine Stimme klang sanft, sie verriet aber zugleich einen deutlichen Unterton von Selbstsicherheit und innerer Stärke. Seine tiefblauen Augen blitzen amüsiert. »Und Weisheit wirst du bei den Bibliothekaren nicht finden.« »Wenn du es sagst«, antwortete sie und strich eine gelöste Strähne aus dem Gesicht. »Du klingst, als hieltest du dich selbst für den Quell der reinen Weisheit.« »Nicht für den Quell«, antwortete er und lächelte auf eine Art, die irgendwo in As'malas Knien einen zittrigen Widerhall fand. »Aber für ein Gefäß, dem es dann und wann gelingt, ein wenig des reinen Quells aufzufangen. Ich hoffe, dieses Gefäß eines Tages gefüllt zu sehen – und es bis zur Erfüllung leeren zu dürfen.« Er hob seinen Humpen, und sie prosteten einander zu. »Und wo fängst du solch reine Tropfen auf?« Der fremde Mann sah ihr tief in die Augen. »Nicht wo. Nicht der Ort ist wichtig, das Was und Wie allein entscheidet.« »Du sprichst in Rätseln.« »Weisheit ist die Summe der Erfahrung«, sagte der Mann. »Du kannst dein Leben damit zubringen, die Dinge richtig zu tun. Oder
du kannst dich entschließen, stattdessen die richtigen Dinge zu tun. Was, glaubst du, bringt dich weiter?« »Woher weiß ich, was die richtigen Dinge sind?«, fragte As'mala und fiel erneut in seine unglaublichen Augen. Er nahm ihre Hand und legte sie an die Stelle seines Herzens. »Du kannst es niemals wissen. Du kannst es nur fühlen. Nachdem du gelernt hast, zu vertrauen.« War es die Berührung, oder war es seine Stimme, As'mala wusste es später nicht zu sagen. Sie spürte nur, etwas in ihr machte Klick, und alles um sie herum, die anderen Zecher, der Qualm und die gegrölten Lieder, all das versank in den tiefen Teichen unergründlich blauer Augen. As'mala stützte den Kopf auf den Arm, und zusehends verlor sie sich im sanften Plätschern der Stimme des Fremden. Als er ihr irgendwann anbot, sie persönlich zur Quelle der Weisheit zu bringen, sagte sie so selbstverständlich zu, als sei dies das eigentliche Ziel, weshalb sie nach Burundun gekommen war. Der Fremde zahlte für sie beide und geleitete sie hinaus.
Achter Teil Rüdiger Schäfer
Der Rote Adept
»Die Schwester der Hoffnung heißt Geduld. Manchmal musst du auf dem Weg innehalten, um dein Ziel zu erreichen.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im ersten Ausbildungsjahr.
1. Der riesige freie Platz vor dem Zentralarchiv hatte sich in einen Jahrmarkt verwandelt. Dort, wo sonst Demut und Stille vorherrschten, wogte ein unüberschaubares Meer aus Lebewesen aller Größen, Formen und Farben. Von überall her waren sie gekommen. Fahrende Händler, die ihre Waren feilboten, Bauern, die Obst und gekochtes Gemüse verkauften, Musikanten, die mit ihrem Spiel ein paar Sicheln zu verdienen hofften, Dichter, die sich in stundenlangem Rezitieren ihrer Werke ergingen, Scharlatane, die allerlei Salben, Pulver und Wundertränke anpriesen, deren Anwendung oder Einnahme angeblich so gut wie jede Krankheit heilen konnte und alte Männer in feurige Hengste verwandelte, Glücksspieler, die den Umstehenden mit Karten und Würfeln das Geld aus den Taschen zu ziehen versuchten, Diebe, deren flinke Finger in unachtsam geöffneten Beuteln verschwanden oder nach prall gefüllten Börsen grapschten; ja, es schien so, als hätte sich der halbe Planet zur anstehenden Adeptenweihe vor dem Zentralarchiv versammelt. Mun achtete kaum auf das um ihn herum wimmelnde Durcheinander. Seine Ohren nahmen das Rufen und Lachen, Poltern und Lärmen, Summen und Rauschen zwar wahr, doch es berührte ihn nicht. Das Bukett exotischer Öle mischte sich mit dem verlockenden Duft scharf gewürzten Fleisches. Von den Kochstellen zog fahler Rauch herüber, dessen harziges Aroma den Gestank der öffentlichen Bedürfnisanstalten wenigstens etwas abzuschwächen vermochte. Und über allem lagen die mannigfaltigen Ausdünstungen der anwesenden Lebewesen, der Geruch nach Schweiß, ungewaschenen Füßen und dem Blut der Schlachttiere.
Der Weihenachen hatte Mun erst vor wenigen Minuten am Ufer der Insel abgesetzt. Diese Transportmöglichkeit stand ausschließlich Adepten und Schülern zur Verfügung. Der Rest der Besucher musste sich mit den öffentlichen Booten und Fähren begnügen – und zur Weihezeit natürlich horrende Preise dafür zahlen. Die Sinne des Adepten registrierten das wogende Chaos nur unterbewusst. Mun hatte den kahlen Kopf gehoben. Sein Blick war auf den Turm gerichtet, der vor ihm wie ein mahnender Finger in den leicht bedeckten Himmel ragte. Das Licht der drei Sonnen erzeugte auf seiner rötlich schimmernden Oberfläche blitzende Reflexe, und die treibenden Wolken vermittelten den Eindruck, als würde der Turm sich dem Wissensträger entgegen neigen. Um den Turm herum gruppierten sich vier ringförmige Bezirke, die schlicht als Kreise bezeichnet wurden. Der äußere von ihnen, der sogenannte Kreis der Bemühung, war Muns Ziel. Von seinem Standort aus war zwar nur ein Bruchteil des gewaltigen Komplexes zu erkennen, doch dieser reichte schon aus, um jeden Neuankömmling vor Ehrfurcht erzittern zu lassen. Das Zentralarchiv war allgegenwärtig und ewig, ganz im Sinne seiner Bedeutung. Die Legenden und Geheimnisse, die sich um das Gebilde rankten, waren mindestens so zahlreich wie die Mugvligs in den Klärgruben Burunduns, und ein Großteil der Einwohner beider Städte lebte von dem nicht abreißenden Strom an Pilgern und Neugierigen, die sich auch außerhalb der Weihezeit in Scharen einfanden. Der abgewetzte Lederbeutel, den der Adept auf dem Rücken trug, schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Es war nicht das erste Mal, dass er ins Archiv zurückkehrte. Er kannte die seltsame Beklemmung gut, die ihn bei der Annäherung an das gigantische Gebäude überkam, aber diesmal kam es ihm schlimmer vor als sonst. Die kolossale Ansammlung aus scheinbar willkürlich angeordneten Mauern, Gebäuden, Türmchen, Brücken, Erkern und Zinnen schien zu atmen, sich auf ihn zuzuschieben und ihn erdrücken zu wollen. Vor allem die fensterlosen Wandungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie machten das Zentralarchiv zu einem massiven Block, mehr zu einem Berg, als zu einem Bauwerk, und je näher man ihm kam,
desto spürbarer wurde die bedrückende Würde, die es ausstrahlte. Das Weiße Portal, der einzige Zugang zum Archiv, verdiente seinen Namen eigentlich nicht, denn der mächtige steinerne Torbogen war direkt in die Außenmauern gehauen worden und endete vor einer massiven Wand. Der rötliche Stein, den man fast überall in der Gegend um Burundun und Lakara fand, war an dieser Stelle deutlich heller, jedoch nicht weniger massiv. Diejenigen, die sich so nah heranwagten, dass sie ihre Handflächen tatsächlich auf die rissige Oberfläche des Materials legen konnten, berichteten von einer seltsamen Wärme, die sich schnell im ganzen Körper ausbreitete. Andere sprachen von kaum fühlbaren Vibrationen, die schon nach kurzer Zeit ziehende Kopfschmerzen verursachten, die manchmal tagelang andauerten. Der Großteil der Besucher hielt aus diesen Gründen einen respektvollen Abstand zum Zentralarchiv, sofern sie es nicht ohnehin vorzogen, die Insel zu meiden und den riesigen Komplex vom sicheren Seeufer aus zu begaffen. Auch die zahlreichen Händler und Gaukler, die während der Weihezeit das große Geschäft witterten, achteten peinlich darauf, ihre Buden und Stände mindestens fünfzig Meter von der Außenmauer entfernt zu errichten. Die Ankunft eines Adepten, der sich anschickte, das Weiße Portal zu durchschreiten, stellte dann stets so etwas wie eine Attraktion dar, und so war es kein Wunder, dass die Menge, die Mun folgte, mit jeder Sekunde anwuchs. Das Zentralarchiv war alt. Sehr alt. Und die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Über viele Generationen hinweg war der Bau wie ein organisches Lebewesen gewachsen, war immer wieder erweitert und umgestaltet worden. Vermutlich wussten selbst seine geheimnisvollen Bewohner, die Draawen, nicht mehr genau, aus wie vielen Hallen, Zimmern und Gängen der unüberschaubare Komplex inzwischen bestand. Die Aufzeichnungen im Kreis der Bewahrung reichten jedenfalls viele Jahrzehntausende zurück – und schon damals war das Zentralarchiv riesig gewesen. Mun setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Auch wenn ihn der Gang zum Weißen Portal mit Unruhe erfüllte, so wusste er
doch, dass er nicht länger warten durfte. Seit er den Ruf empfangen hatte, wurde das Drängen in ihm immer stärker. Die Informationen, die er auf seinem langen Weg gesammelt hatte, füllten seinen Verstand bis in den letzten Winkel. Er sehnte sich nach der Entbürdung, dem Auslesen des geballten Wissen, das in ihm gespeichert war, ein Vorgang, der ihn ebenso befreien wie befriedigen würde. Die Entbürdung war der Höhepunkt im Leben eines jeden Adepten, das Ende einer Reise voller Opfer und Entbehrungen und gleichzeitig der Aufbruch zu einer neuen Wanderung, die möglicherweise noch abenteuerlicher und gefährlicher verlaufen würde. Vor ihm hatte sich eine breite Gasse gebildet. Man machte ihm Platz, wich zurück. In seinem dunkelblauen, mönchsähnlichen Mantel mit dem aufgestickten Gildensymbol war Mun schon von Weitem als Wissensträger zu erkennen. Fast überall auf dem Planeten begegnete man den Adepten des Zentralarchivs mit Respekt und Ehrfurcht. Die Mantelträger galten als unschätzbare Ratgeber und begnadete Geschichtenerzähler. Für eine warme Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf bestimmten sie den Bauern die beste Zeit zur Getreideernte, warnten vor Dürreperioden und Hungersnöten, überbrachten Nachrichten aus weit entfernten Gegenden oder unterhielten ihr dankbares Publikum mit allerlei kurzweiligen Fabeln und Anekdoten. Geringschätzung oder gar Gewalt schlugen den Adepten nur selten entgegen. Dennoch kam es immer wieder vor, dass Mitglieder der Gilde angegriffen oder getötet wurden. Zwar sorgte die gewissenhafte Ausbildung im Archiv dafür, dass sich ein Adept seiner Haut erwehren konnte, doch auch seiner Kampferfahrung und Geschicklichkeit waren Grenzen gesetzt. Jedes Jahr gab es Adepten, die nicht wie geplant von ihren Reisen zurückkehrten und von denen man nie wieder etwas hörte. Mun ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Auch wenn er sich voll und ganz auf das gigantische Bauwerk vor ihm konzentrierte, so blieb ein Teil seiner Aufmerksamkeit stets der unmittelbaren Umgebung zugewandt. Sein rechter Arm zuckte nach vorn, bekam ein fremdes Handgelenk zu fassen und umschloss es augen-
blicklich mit der Kraft einer Schraubzwinge. Der hagere Mann in der zerfetzten Kutte stieß einen kläglichen Schrei aus, verdrehte die wässrigen Augen und fiel auf die Knie. »Habt Erbarmen, Hoher Herr«, begann er zu winseln. »Ich bin weniger wert als der Staub unter Euren Schuhen. Ein kurzes Bad im Glanz Eurer Augen ist mehr Glück, als ich verdiene. Es war der Hunger, Hoher Herr, der vermaledeite Hunger, der mich zu meinem schändlichen Tun getrieben hat. Ich bin Eurer Vergebung nicht würdig, doch wenn Euer Herz so groß ist wie Eure Weisheit, dann hoffe ich auf Eure Nachsicht.« Mun ließ sein Gegenüber los und schloss die Riemen seines abgewetzten Lederbeutels, um dessen Inhalt ihn der jammernde Bettler auf so plumpe Weise hatte erleichtern wollen. Er versuchte sich das Lächeln zu verkneifen, was ihm nicht völlig gelang. Die Unverschämtheit des Mannes nötigte ihm einen gewissen Respekt ab. Nicht viele der in Lakara und Burundun zu Tausenden herumstreunenden Tagediebe hätten den Mut besessen, einen Adepten zu bestehlen. Wurden die Wissensträger schon auf ihren Reisen als so gut wie unantastbar angesehen, so galt das umso mehr in der Nähe des Zentralarchivs. »Wie heißt du?«, fragte Mun mit ruhiger Stimme. Um sie herum hatte sich eine bunte Schar Schaulustiger versammelt, die die Szene teilweise amüsiert, teilweise gespannt verfolgte. Die meisten hofften wohl darauf, dass er dem Langfinger eine deftige Tracht Prügel verabreichte. Die Wehrhaftigkeit der Adepten war ebenso bekannt wie gefürchtet und einer der Gründe dafür, warum man im Allgemeinen darauf achtete, sich die Wissensträger nicht zu Feinden zu machen. »Sagelot Masim, Hoher Herr«, kam die Antwort. Der Ertappte hatte sich vor Mun auf den Boden geworfen und sah ihn mit flehenden Augen an. »Euer ergebener Sklave und Diener, Hoher Herr.« »Steh auf, Sagelot Masim«, sagte der Adept, beugte die Knie und streckte dem Bettler beide Hände entgegen. »Und hör auf, Unsinn zu reden. Du magst ein Sklave deiner Begierden sein, gleichwohl der meine bist du nicht.«
»Wenn Ihr es sagt, Hoher Herr«, blieb der Bettler unterwürfig, ließ sich jedoch auf die Beine ziehen. Er strich sich eine Strähne seiner fettigen Haare aus der Stirn und tänzelte nervös hin und her. Sein Blick glitt hektisch nach allen Seiten. Man sah ihm an, dass er am liebsten davongelaufen wäre, aber der Ring der Gaffer war geschlossen, eine Flucht unmöglich. »Du hast Hunger, mein Freund?«, fragte der Adept. Er trat an Masim heran, packte sein Kinn und hob den Kopf an, sodass der Dieb ihm ins Gesicht sehen musste. »O ja, Hoher Herr.« Sagelot Masim versuchte zu nicken, doch der Griff des Wissensträgers ließ das nicht zu. »Großen Hunger, Hoher Herr.« »Dann sollten wir etwas dagegen unternehmen.« Mun nahm den Bettler an der Hand und führte ihn ein Stück des Weges entlang zu einem kleinen, mit in den Boden gehauenen Holzpflöcken notdürftig abgegrenzten Gehege. Dort drängten sich acht Gareks quiekend und grunzend aneinander, die breiten Nasen schnüffelnd am Boden. Vermutlich würden die Tiere in den nächsten Tagen je nach Bedarf geschlachtet werden und als saftige Braten enden. Die vielen tausend Besucher der Adeptenweihe mussten schließlich etwas essen. Der Gestank, den die Gareks verströmten, war so mörderisch, dass ein Großteil der Schaulustigen freiwillig zurückblieb. Den dicken Mann mit dem wallendem schwarzen Bart und der von Blutflecken übersäten Schürze schien der Geruch nicht zu stören. Er sah Mun und dessen Begleiter mit gerunzelter Stirn entgegen. »Sei gegrüßt«, sprach der Adept den Bärtigen an. »Mein Name ist Mun, und das ist Sagelot Masim. Das Gehege deiner Gareks sieht aus, als könne es eine gründliche Reinigung vertragen. Mein Freund hier verlangt nicht mehr als eine kräftige Mahlzeit dafür, und du würdest mir einen persönlichen Gefallen tun.« Der Dicke warf dem Bettler einen skeptischen Blick zu, dann zuckte er mit den Achseln. »Meinetwegen«, grunzte er. »Er kann gleich anfangen.« Sagelot Masim war anzusehen, dass er in diesem Moment am
liebsten auf der anderen Seite des Mondes gewesen wäre, so weit wie möglich vom Zentralarchiv und vor allem von der auf ihn wartenden Arbeit entfernt. Muns Gesicht war ernst, als er den Bettler bis auf wenige Zentimeter an sich heranzog und ihm tief in die Augen schaute. »Enttäusche mich nicht, Sagelot Masim«, sagte er so leise, dass es niemand außer dem Mann hören konnte. »Denke in den nächsten beiden Stunden darüber nach, was du mit dem Rest deines Lebens anfangen möchtest. Nur diese beiden Stunden. Mehr verlange ich nicht von dir.« Der Bettler zögerte einen Moment, doch er wich dem Blick Muns nicht mehr aus. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die schmutzige Stirn. »So sei es, Hoher Herr«, sagte er tonlos. Der Adept nickte und trat einen Schritt zurück. Ohne sich noch einmal umzusehen, setzte er den Weg zum Weißen Portal fort. Als er den freien Bereich vor dem Archiv betrat, blieben die Neugierigen hinter ihm zurück. Es mussten inzwischen mehrere hundert sein. Die Nachricht, dass ein Adept das Zentralarchiv betreten würde, hatte sich wie ein Steppenfeuer verbreitet, und dieses Schauspiel wollte sich niemand entgehen lassen. Mun verlangsamte seine Schritte unwillkürlich, je näher er dem Portal kam. Das Archiv füllte längst sein gesamtes Blickfeld aus, und ebenso, wie es nun seinen kompletten Gesichtskreis beherrschte, so hatte es sich auch in seinem Geist eingenistet und alle anderen Gedanken verdrängt. Der Adept fühlte sich bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele durchleuchtet; nichts blieb im Verborgenen und selbst seine geheimsten Wünsche und intimsten Phantasien wurden ans helle Licht gezerrt und ihm bewusst. Zu Beginn war Mun diese Prozedur entwürdigend und unnütz erschienen. Mit den Jahren begriff er, dass er mit dem Zentralarchiv nicht einfach nur ein Gebäude betrat. Das Archiv war so viel mehr, als nur ein Sammelbecken für Informationen, ein Speicherort für Daten und Fakten. Es war für jeden Wissensträger ein Stück Heimat, der Ersatz für alles, was er mit dem Eintritt in die Gilde aufgab. Es war ein Symbol und ein Bild, das man während der Wanderschaft
im Herzen trug und das einem Kraft und Zuversicht schenkte, wenn man sie benötigte. Um das Archiv drehte sich alles. Es war schon immer da gewesen, und es würde noch da sein, wenn in ferner Zukunft der letzte Adept von seiner Reise nach Hause zurückkehrte. Mun konzentrierte sich auf den Durchgang und schritt wieder energischer aus. Die undurchdringlich wirkende Mauer vor ihm war nichts weiter als Gestalt gewordener Wankelmut. Wer an das glaubte, was er tat, den konnte nichts aufhalten. Für all die ungezählten Zweifler und Zauderer, die ihm mit großen Augen hinterher starrten, war das Weiße Portal ein undurchdringliches Hindernis. Doch nicht für ihn. Er war Mun, einziger menschlicher Wissensträger der Gilde, und er war gekommen, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Ohne das geringste Zögern ging der Adept weiter, traf auf die Außenmauer des Zentralarchivs – und schritt durch sie hindurch, als wäre sie nicht vorhanden. Die lauten Rufe des Erstaunens und den vereinzelt aufkommenden Applaus der Schaulustigen hörte er schon nicht mehr.
Mun fand es immer wieder bemerkenswert, wie schnell Erinnerungen verblassten. Er hatte fast drei Jahre im Kreis der Bemühung verbracht, und doch erzeugte der Anblick der langen Gänge, der Torbögen, Gemeinschaftsräume, Meditierkammern und Studierzimmer kaum mehr als ein schwaches Echo in seinem Geist. Im Vergleich mit den Wundern, die er auf seinen Reisen als Adept geschaut, mit den erstaunlichen Dingen, die er allein in den vergangenen Lunarien erfahren hatte, wirkte das Zentralarchiv auf einmal seltsam alltäglich und monoton. Die Anspruchslosigkeit der Wohnzelle, die man ihm zugewiesen hatte, unterstrich diesen Eindruck. Ein hölzernes Lager mit einer dünnen Matratze, ein ebenfalls hölzerner Tisch mit zwei Stühlen und ein direkt in die steinerne Wand gehauenes Wäschefach; größeren Komfort gestanden die Herren des Zentralarchivs ihren Schülern und Beauftragten nicht zu.
Mun musste lächeln, ein Luxus, den er sich nur äußerst selten erlaubte. Achtlos ließ er den abgewetzten Lederbeutel auf den Steinboden vor der primitiven Bettstatt fallen. Er enthielt alles, was er besaß. Als Adept des Zentralarchivs benötigte er nicht viel. Ein paar Kleider zum Wechseln, eine dünne Flechtmatte für die kühleren Nächte unter freiem Himmel, einige Bücher, Schreibgerät und Papier, sein Rasiermesser sowie die schmale Flöte, die ihm einst sein Vater geschnitzt hatte, und die das einzige Erinnerungsstück an seine Eltern darstellte, das ihm geblieben war. Er hatte bis heute nicht gelernt, darauf zu spielen. Vielleicht sollte er sich eines Tages mehr mit solchen Dingen beschäftigen, auch wenn die Bibliothekare es nicht wünschten. Minutenlang stand der Mann einfach nur da und lauschte auf den eigenen Herzschlag und das leise Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Die Stille im Zentralarchiv war nahezu absolut und bildete einen schmerzhaften Gegensatz zu der allgegenwärtigen Rastlosigkeit, die in der Stadt und vor dem Weißen Portal geherrscht hatte. Mun genoss die Ruhe in vollen Zügen. Er war nie ein Stadtmensch gewesen. Auf seinen Reisen mied er die größeren Ansiedlungen oft ganz bewusst, zog das Schlafen in freier Natur jedem Bett, wie bequem es auch sein mochte, vor. Er war sich selbst genug und hatte gelernt, dass Einsamkeit nichts war, vor dem man sich fürchten musste. Im Gegenteil. Der Empfang durch einige Schüler im dritten Ausbildungsjahr war für die hiesigen Verhältnisse beinahe herzlich gewesen. Immerhin war Mun so etwas wie eine Berühmtheit – zumindest für die angehenden Adepten. Als erster und bislang einziger Mensch, der es je in die Gilde der Wissensträger geschafft hatte, war er ein Exot, eine Ausnahme, dessen Geschichten inzwischen an vielen Feuern und in zahlreichen Schankstuben die Runde machten. Die Schüler, darunter auch ein Kuntar namens Kelcheck, dessen Echsenkopf ständig ruckartig hin und her ging, hatten sich vorschriftsmäßig verneigt und Mun schweigend in sein Quartier geführt, doch das Glühen in ihren Gesichtern verriet, dass sie ihn am liebsten mit Fragen gelöchert hätten. Der Adept versprach der Grup-
pe, sich am kommenden Tag in einem der Speisesäle einzufinden und von seinen Abenteuern zu erzählen. Dann hatte er sich einige Stunden der Meditation hingegeben. Draußen legte sich in diesen Minuten bereits die Dämmerung über Lakara und Burundun; hier dagegen, im Innern des Archivs, erhellten zahlreiche Gaslampen die Hallen und Gänge. Mun nahm eines seiner Bücher aus dem Lederbeutel und ließ sich auf das karge Lager sinken. Schon nach den ersten paar Absätzen wurden ihm die Lider schwer. Er merkte nicht mehr, wie ihm das Buch aus den Fingern rutschte und er in die Welt der Träume hinüberglitt. * »Mun! Komm sofort ins Haus!« Die Stimme des Vaters klang unnatürlich laut und erinnerte den Jungen an das Splittern des Eises im Frühling, wenn die Strahlen der drei Sonnen die gefrorene Oberfläche des kleinen Teichs im hinteren Teil des Gemüsegartens aufbrechen ließen. Im ewigen Schatten der übermächtigen Kalten Berge des Kulatmassivs gab es hier tatsächlich Frost und Dunkelheit, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Gegenden, von denen der kleine Mun gehört hatte. Er hielt in seinem Spiel inne und sah zum Haupthaus hinüber. Kelt Lanaka stand auf dem staubigen freien Platz vor der Veranda und winkte aufgeregt seinem sechsjährigen Sohn, zu ihm zu kommen. »Ach, Pap!«, rief Mun und ließ die Mundwinkel nach unten hängen. »Es ist doch nicht mal Dämmerung. Nur ein paar Minuten!« Der groß gewachsene Mann, in dessen Gesicht die harte Farmarbeit und die strenge Witterung auf der Nordhälfte des Kontinents deutliche Spuren hinterlassen hatten, holte tief Luft und stemmte die riesigen Hände in die Hüften. »Mun!«, rief er so laut, dass die Gareks im nahe gelegenen Gehege nervös zu grunzen begannen. »Ich wiederhole es nicht noch einmal: Komm sofort ins Haus!« Der Junge wusste sehr genau, wann es an der Zeit war, den Anweisungen des Vaters Folge zu leisten. Zwar hatte ihn Kelt Lanaka noch nie geschlagen, aber es gab andere Strafen, die den schlanken
Blondschopf weit schlimmer getroffen hätten als eine Tracht Prügel. Ein Reitverbot auf den Gareks zum Beispiel. Oder der Entzug der Erlaubnis, nach der Ernte der Milik-Stauden auf dem Grasboden in der Scheune spielen zu dürfen. Mun legte die Stirn in Falten. Nie zuvor hatte er seinen Vater derart erregt erlebt. Er sammelte hastig die Kuru-Hölzer zusammen, mit denen er auf dem festgetretenen Lehmboden einige einfache Muster gelegt hatte, und rannte in Richtung Haupthaus. Kelt empfing ihn wortlos, packte ihn an den Schultern und drückte ihn durch die breite Tür in die nach feuchtem Holz und Krautsuppe duftende Diele. »Geh in die Küche zu deiner Mutter«, befahl ihm der Vater streng. »Und verhalte dich still.« »Was ist denn los?«, wollte Mun wissen, doch statt einer Antwort bekam er einen Klaps auf den Hinterkopf. Dann schob ihn der fast zwei Meter große Mann den schmalen Durchlass entlang, an dessen Ende der Zugang zur Küche lag. »Tu, was ich dir sage«, mahnte ihn Kelt Lanaka. »Jetzt!« Mun warf einen schnellen Blick zurück; die streng blickenden Augen des Vaters beunruhigten ihn plötzlich, doch da war noch mehr. Der Junge war für die Gefühle anderer schon immer auf besondere Weise empfänglich gewesen, und auch in diesen Sekunden spürte er, dass sein Vater etwas vor ihm verbarg. Hatte er etwa Angst? Nein, das konnte, das durfte nicht sein. In der letzten Kaltzeit hatte Kelt Lanaka einen scheuenden Garek mit bloßer Muskelkraft niedergerungen, bevor er durchgehen und die Herde gefährden konnte. Mun erinnerte sich, wie stolz er gewesen war, als sein Vater das wild zuckende Tier in den Schnee gedrückt und mit zwei Stricken an Vorder- und Hinterläufen gefesselt hatte. Wie war es möglich, dass ein solcher Mann Angst vor etwas hatte? Kaum in der Küche angekommen, nahm ihn die Mutter in die Arme und drückte ihn so fest an sich, dass er für einen Moment keine Luft mehr bekam. Im ersten Augenblick glaubte der Junge, dass die Augen der Frau vom heißen Dampf und den Schalen der sauren Logasfrüchte gerötet waren. Dann begriff er, dass sie geweint hatte.
Er hatte sich nicht geirrt. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. »Mam, was …«, begann er, doch Jaria Lanaka unterbrach ihn, indem sie ihm einen Zeigefinger auf die Lippen legte. Dann zog sie ihn mit sich in den hinteren Teil des großen Raums und schloss die Tür zur Vorratskammer auf. Der verlockende Duft nach scharf gewürztem Dörrfleisch, Trockenobst und glasiertem Fladenbrot stieg Mun in die Nase, aber in seinen Eingeweiden wühlte nicht der Hunger, sondern die Furcht. Obwohl er seine letzte Mahlzeit vor vielen Stunden eingenommen hatte, hätte er jetzt keinen Bissen heruntergebracht. Die Mutter öffnete eine in den Dielenboden eingelassene Klappe und drängte Mun hastig in Richtung der Öffnung. Der Junge wusste, dass im Depot unter der Vorratskammer die Mehlbestände lagerten. Er hatte seinem Vater im letzten Sommer geholfen, die Körner aus den geernteten Milik-Stauden zu schlagen und zur Mühle im Dorf zu bringen. Fast hundert Säcke Mehl hatte der dicke Pulurat daraus gemacht und damit das Depot bis zum Rand gefüllt. Normalerweise war es ihm streng verboten, das Mehldepot zu betreten. Jetzt schob ihn Jaria mit zitternden Händen hinein. »Versteck dich zwischen den Säcken, Mun«, flüsterte die Frau. Ihre Stimme bebte und es fiel ihr schwer, ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie packte ihn fest an den Schultern und sah ihn mit roten, feuchten Augen an. »Was immer auch geschieht«, stieß sie hervor, »was immer du auch hörst, du darfst unter keinen Umständen das Depot verlassen. Versprich mir das!« »Aber Mam, ich …«, begann Mun, und erneut Jaria ließ ihren Sohn nicht ausreden. Plötzlich war jede Ängstlichkeit aus ihren Zügen verschwunden. Ihr Griff wurde so fest, dass der Junge vor Schmerz aufstöhnte. »Versprich es mir!«, forderte die Frau. »Schwöre es bei meinem Leben und beim Leben deines Vaters!« »Ich …«, keuchte Mun, »ich … schwöre es …« Tränen stiegen in seine Augen und er spürte einen dicken Kloß, der seinen Hals verschloss, ihm das Atmen beinahe unmöglich machte. Die Furcht beherrschte jeden Zentimeter seines schmächtigen Körpers und ließ
ihn keinen klaren Gedanken fassen. Mit einem letzten Kuss auf seine schweißfeuchte Stirn drückte ihn die Mutter in das düstere Depot; dann schloss sich die hölzerne Klappe mit einem dumpfen Schlag. Es war dieses furchtbare, endgültige, in seinem Geist bis heute nachhallende Geräusch, das Mun bis an sein Lebensende nicht mehr vergessen würde. * Mun schlug die Augen auf und lag lange Minuten völlig still. Es war schon eine Weile her, seit er diesen Traum zum letzten Mal gehabt hatte. Er wartete darauf, dass sich sein Atem beruhigte, dass die Erinnerungen verblassten und der in ihm tobende Orkan zu einem milderen Sturm verebbte, dessen Auswirkungen er zu kontrollieren vermochte. Wie oft hatte er diesen verfluchten Tag wohl schon nacherlebt? Wie viele Male hatte er sich schon gefragt, ob er damals das Furchtbare hätte verhindern können? Natürlich, er war ein Kind gewesen, gerade einmal sechs Jahre alt, doch das schien ihm in diesen Momenten nicht bedeutsam zu sein. Die Gaslampe an der Wand seines Quartiers war erloschen. Vermutlich hatte sie einer der Schüler der Nachtwache ausgedreht. Durch die halb geöffnete Tür fiel ein wenig Licht aus dem Gang in die Wohnzelle. Im Zentralarchiv wurden Türen grundsätzlich nicht geschlossen. Im Hort des Wissens gab es keine Gefahren. Zudem durfte der Kreis der Bemühung ohnehin ausschließlich von Adepten, Schülern, Auserwählten und Draawen betteten werden – und die waren über alle Zweifel erhaben. Mun erhob sich lautlos von seinem Lager und verließ das kleine Zimmer. In der freien Natur bereitete es ihm wenig Mühe, die jeweilige Tages- oder Nachtzeit zu bestimmen. Im Zentralarchiv war das anders. Hier gab es keine Anhaltspunkte, nach denen er sich richten konnte. Keine Sonnen oder Monde am Himmel, keinen Wind, der die Blätter der Bäume bewegte, keine Moose, Blüten und Gräser am Boden. Nur Stille. Das Archiv war ein Labyrinth, wie es auf ganz Less wohl kein
zweites gab. Man konnte tagelang durch die Gänge und Räume streichen, ohne einen einzigen Ort zweimal zu betreten. Während der Ausbildung kursierten unzählige Geschichten über Schüler, die auf dem Weg zum Unterricht falsch abgebogen waren und sich rettungslos verirrt hatten. Einer aus Muns damaligem Jahrgang hatte sogar ernsthaft behauptet, in einem abgelegenen Gang ein Skelett entdeckt zu haben, die Überreste eines jener Bedauernswerten, denen die Größe und die verwirrende Architektur des Archivs zum Verhängnis geworden war. Beweisen konnte er seine Behauptung allerdings nicht, da er den betreffenden Gang angeblich nicht mehr wiederfand. In einem der Speisesäle suchte der Adept einen Wasserspender auf. Das klare, kalte Nass wurde über ein ausgeklügeltes Leitungssystem von mechanischen Pumpen tief aus der Erde gefördert; aus Quellen, die auch den großen See speisten. Mun tauchte beide Hände unter den plätschernden Strahl und benetzte sein Gesicht. Die Kühle tat gut, machte den Kopf klar, ließ die Gedanken fließen. In den vergangenen Tagen hatte Mun des öfteren darüber gegrübelt, ob sein Zusammentreffen mit Shanija Ran ein Zufall gewesen war. Während seiner Ausbildung hatten die draawischen Lehrer immer wieder erwähnt, dass es nach Ansicht vieler Völker auf Less so etwas wie Zufall gar nicht gab. Der Adept erinnerte sich gern an die langen Diskussionen, die er als Schüler mit seinem Mentor Taardar geführt hatte. Dieser hatte oft behauptet, dass das, was die meisten gemeinhin als Zufall bezeichneten, nichts weiter als ein Mangel an Informationen war. »Wenn uns sämtliche Fakten zur Verfügung stünden«, hatte der Draawe in seiner typischen, etwas lethargischen Sprechweise ausgeführt, »und wenn wir alle Regeln und Gesetze der Natur kennen würden, dann könnten wir jedes Ereignis, jede Entwicklung, jede Reaktion exakt vorherbestimmen.« »Aber wäre das nicht das Ende aller Dinge, Meister?« hatte Mun stets gefragt. »Wenn es keine Geheimnisse mehr gibt, wenn wir alle Antworten kennen, würde die Welt dann nicht aufhören zu sein, weil nichts ohne Grund existieren kann?«
»Das ist wohl möglich«, hatte die Antwort des Lehrers gelautet, »doch wir dürfen nicht aufhören zu fragen, nur weil wir uns vor den Antworten fürchten …« Mun wusste nicht, ob Taardar noch lebte. Er hätte seinen Mentor gern wiedergesehen, aber die wenigen Tage, die ein Adept im Rahmen seiner Entbürdung im Zentralarchiv verbrachte, ließen kaum Zeit für Persönliches. Allerdings würde er nach Informationen über die Urmutter suchen, wie er es Shanija versprochen hatte. Die Urmutter-Legende war weit verbreitet, und Mun, der schließlich ein Mensch war, hatte schon einmal im Archiv nach Hinweisen gesucht, die das Gerücht als Wahrheit belegten. Damals hatte er nichts gefunden, aber das musste nichts besagen. Das gesammelte Wissen war riesig, und nicht alle Stichwörter miteinander in Querverweisen verbunden, auch wenn ständig daran gearbeitet wurde. Vielleicht hatte Mun diesmal mehr Glück. Shanija faszinierte Mun auf eine schwer zu beschreibende Weise, und das hatte nicht im Geringsten mit ihren rein körperlichen Reizen zu tun. In gewissem Sinn glich die Frau ihm selbst, war von dem unstillbaren Drang getrieben, einen scheinbar vorbestimmten Weg zu gehen und ungeachtet aller Umstände ein fernes Ziel zu erreichen. Der Adept wollte den Speisesaal gerade verlassen, als er den Schatten bemerkte. An einem der hinteren langen Tische, an denen die Schüler normalerweise ihre Mahlzeiten einnahmen, saß eine in sich zusammengesunkene Gestalt. Mun konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch die Tatsache, dass sie schulterlange Haare trug, bewies, dass es sich nicht um einen Adepten handelte. Er durchquerte den Speisesaal und trat absichtlich so fest auf, dass der andere ihn hören musste, aber der Fremde reagierte nicht. Vermutlich war er einer der Auserwählten, die am Tag zuvor den Ruf empfangen hatten und der nun auf die ersten Prüfungen wartete. Viele der Neulinge waren in ihrer ersten Nacht im Zentralarchiv nervös und machten kein Auge zu, was unter anderem ein Grund dafür war, dass so viele schon an den einleitenden und eher harmlosen Herausforderun-
gen scheiterten. Mun wusste das aus eigener, leidvoller Erfahrung. Im matten Schein der Gaslampen erkannte der Adept jetzt, dass der Unbekannte ein Selache war. Er hatte schon lange keinen Angehörigen dieses Volkes mehr gesehen. Die grünhäutigen, oft etwas schwerfällig wirkenden Humanoiden lebten normalerweise in den Tausende von Kilometern entfernten Waldgebieten der Jhakarra-Ebene. Mun war noch nie dort gewesen, doch die Fabeln um die fast magischen Fähigkeiten einiger weniger Selachen waren mindestens ebenso verbreitet wie die Geschichten, die man sich über ihn selbst, den einzigen menschlichen Wissensträger erzählte. Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt und hier einem Selachen begegnete – denn Shanija war ihrer Beschreibung nach eindeutig von einer Selachen-Frau angegriffen worden. Zufall? Nur, solange Mun nicht alle Fakten beisammen hatte. »Du solltest dich in deine Zelle zurückziehen, mein Freund«, sagte der Adept sanft. »In ein paar Stunden beginnen die Prüfungen, und ich fürchte, dass du dort in deinem jetzigen Zustand keine gute Figur machen wirst.« Der Grünhäutige zuckte zusammen, hob den Kopf und rieb sich die großen, runden Augen. Sein Gesicht wirkte ein wenig aufgequollen, und sowohl die Pausbacken als auch die fast kugelförmige Knubbelnase trugen nicht dazu bei, diesen Eindruck zu mildern. Er starrte Mun einige Sekunden lang verwirrt an, dann klärte sich sein Blick. Er sprang auf und bemühte sich sichtlich um Haltung. »Verzeiht mir, Wissensträger«, rief er eine Spur zu laut. »Ich werde sofort gehen. Wenn ich Euch mit meiner Anwesenheit gestört habe, dann tut mir das …« Mun unterbrach ihn mit einer knappen Geste und musterte ihn lächelnd. Er schätzte den Burschen auf vielleicht fünfundzwanzig, höchstens dreißig Jahre. Der gedrungene Oberkörper, der in einem eng anliegenden, ärmellosen Hemd steckte, wies kein einziges Gramm Fett zu viel auf. Dieser Selache war harte, körperliche Arbeit gewöhnt. Die nicht minder knappe Hose war aus fein gegerbtem Tunachleder gefertigt und garantiert nicht billig gewesen. Gleiches galt für die knapp unter den Knien endenden Stiefel. Die gesamte
Garderobe wirkte so, als hätte der Selache sie gerade erst neu erstanden. Am auffälligsten waren jedoch die zwölf über den Hinterkopf verteilten Gelkammern, Falli genannt, die an die Tentakel bestimmter Meeresbewohner erinnerten. Mun wusste, dass die Selachen darin eine Reihe von lebensnotwendigen Nähr- und Mineralstoffen speicherten und bei Bedarf in ihren Blutkreislauf entließen. Haare im Wortsinn besaßen die Selachen nicht. »Setz dich wieder«, forderte der Wissensträger den jungen Mann auf. »Mein Name ist Mun, und es gibt nichts, wofür du dich vor mir rechtfertigen müsstest.« »Ich … äh …«, brachte der Selache hervor. Dann ließ er sich wieder auf die Bank sinken. Er schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Mun nahm ihm gegenüber Platz. »Verrätst du mir auch deinen Namen?«, erkundigte er sich freundlich. »Oh, natürlich«, lautete die Antwort. Der junge Mann starrte an ihm vorbei ins Nichts. »Ich bin Legetar. Es ist mir eine große Ehre, die Bekanntschaft des berühmten Mun zu machen.« Es klang nicht gerade begeistert. Der Adept seufzte innerlich. Die Tatsache, dass er unter den Adepten eine Sonderstellung genoss, brachte sowohl Vor- als auch Nachteile. »Und worauf, glaubst du, gründet sich dieser Ruhm?«, wollte er wissen. »Ich … ich verstehe die Frage nicht.« Legetar schien den Wissensträger erst jetzt wirklich wahrzunehmen, und dessen Gegenwart war ihm offenbar alles andere als angenehm. Mun kannte solche und ähnliche Reaktionen zur Genüge. »Nun«, sagte er gelassen, »wenn ich der berühmte Mun bin, dann wirst du doch sicher wissen, worauf dieser Ruhm basiert, nicht wahr? Warum sonst würdest du jemanden, den du nicht kennst, so bezeichnen?« »Oh«, machte der Selache und legte den Kopf schief. »Das meint Ihr. Nun, ich habe viel von Euch gehört.« Er schien sich endlich ge-
fangen zu haben, denn er wurde nun sichtlich ruhiger. »Ihr seid der einzige Humain … ich meine, der einzige Mensch, der je zum Wissensträger berufen wurde.« »Und das allein reicht, um mich berühmt zu machen?« »In den Augen der meisten Bewohner von Less ganz sicher«, entgegnete Legetar. Zum ersten Mal verzogen sich seine breiten Lippen zu so etwas wie einem Lächeln. Mun nickte anerkennend. »Eine feine Antwort«, sagte er. »Nun verrate mir noch, warum du hierher gekommen bist? Warum willst du Adept werden?« »Ist das schon ein Teil meiner Prüfung?« Legetar behielt sein Lächeln bei. Mun blieb ernst. »Erlaube einem, für den deine Zukunft bereits Vergangenheit ist, dir einen guten Rat zu geben: Nimm die nächsten Tage nicht auf die leichte Schulter, denn sie werden dein Leben für immer verändern. Dir ist eine große Ehre zuteilgeworden. Du wurdest auserwählt, und das allein ist etwas, von dem viele Tausend andere nur träumen können. Du wirst deine Grenzen kennenlernen. Du wirst deinen schlimmsten Ängsten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Die Prüfungen werden dir alles abverlangen, was du besitzt. Aber wenn du sie meisterst, wirst du wissen, wer du wirklich bist. Glaubst du, dass das ein Ziel ist, für das es sich zu leiden lohnt?« »Das … weiß ich nicht«, antwortete Legetar zögernd. »Sehr gut«, zeigte sich Mun zufrieden. »Bewahre dir deine Zweifel. Sie werden eines Tages vielleicht einmal alles sein, woran du dich klammern kannst. Und nun geh in deine Zelle zurück und schließe die Augen. Ich wünsche dir Glück und Kraft für den Weg.« »Darf ich Euch noch etwas fragen, Mun?« Der Selache lehnte sich ein Stück nach vorn und suchte den Blick seines Gegenübers. »Natürlich«, erwiderte der Wissensträger. »Eure Suche«, begann er, »die Suche nach Informationen, meine ich. Habt Ihr Euch jemals Gedanken darüber gemacht, wohin sie führt? Ich meine: Warum tut Ihr das, was Ihr tut? Welchen Sinn hat das Archiv, wenn seine Herren so eifersüchtig über seine Schätze
wachen?« »Das ist eine ausgezeichnete Frage«, versetzte der Adept. »Wiederhole sie, wenn man dich als Schüler akzeptierst und du deine Ausbildung im Archiv beginnst.« »Dann habt Ihr keine Antwort?«, hakte Legetar nach. »Es steht mir nicht zu, deinen Lehrern vorzugreifen. Allerdings hilft uns Wissen nicht nur, die Wahrheit von der Lüge zu trennen, sondern es verschafft uns auch den Nährboden für neue Erkenntnisse und Schlussfolgerungen.« »Aber die Bibliothekare halten das Wissen, das die Adepten gesammelt haben, zurück«, warf der Selache ein. »Die Suche nach Erkenntnis steht jedem frei«, sagte Mun. »Und die Adepten geben ihr Wissen auf ihren Reisen gerne preis, wenn sie danach gefragt werden. Sie ziehen – wie in meinem Fall – wenn nötig, sogar Erkundigungen im Archiv selbst ein. Ist dir die Legende der Urmutter bekannt?« »Ja. Bei ihr soll es sich angeblich um die letzte Überlebende jenes Humain-Raumschiffs handeln, das hier vor rund tausend Jahren strandete und die Keimzelle der Menschen auf Less legte. Gewissermaßen die Urahnin Eures Volkes, Mun.« »So ist es«, bestätigte der Adept. »Glaubst du, dass es diese Urmutter wirklich gibt?« »Natürlich nicht«, erwiderte Legetar. »Niemand kann so lange leben.« »Dennoch halten sich die Gerüchte um ihre Existenz«, sagte der Wissensträger. »Und viele sind davon überzeugt, dass es weit mehr als nur dumme Märchen sind, die man sich abends am wärmenden Feuer erzählt.« »Gehört Ihr auch zu diesen vielen?«, wollte Legetar wissen. »Nein.« Der Adept schüttelte den Kopf. »Trotzdem werde ich nach den entsprechenden Informationen suchen, denn jede Überzeugung verlangt zwingend den Respekt vor den Überzeugungen anderer. Aber damit genug der Fragen und Antworten. Du wirst deine Kräfte anderweitig brauchen.« Legetar dachte einen Moment nach, senkte dann stumm den Kopf,
stand auf und verließ wortlos den Speisesaal. Fünf Minuten später tat Mun es ihm gleich.
»Wissen führt selten zu Erkenntnis. Statt dessen produziert der Zuwachs an Wissen immer neue Fragen. Deshalb ist das Universum ewig. Deshalb wird die Suche nach Wissen niemals enden.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im ersten Ausbildungsjahr.
2. Mun wusste, dass etwas Furchtbares geschehen war. Er hatte sich im hintersten Winkel des Depots zusammengekauert und die Arme um die an den Körper gezogenen Beine geschlungen. Er wollte nicht weinen, wollte so stark und tapfer wie sein Vater sein, aber die Tränen ließen sich nicht zurückdrängen. Die kurzen, spitzen Schreie der Mutter hallten noch immer in seinem Kopf nach. Beinahe wäre er aus seinem Versteck hervorgekrochen und hätte nachgesehen, ob es ihr gut ging. Gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass er dafür sein Versprechen hätte brechen müssen, seinen Schwur. Auch wenn er mit seinen sechs Jahren erst vieles lernen musste, eines wusste er ganz sicher: Einen Schwur brach man nicht. Niemals! Und so war er in das Dunkel zwischen den Mehlsäcken eingetaucht, hatte sich so klein wie möglich gemacht und schließlich die Finger in die Ohren gesteckt. Gehört hatte er die Fremden trotzdem. Ihr lautes, böses Lachen, ihre heiseren Stimmen, die Worte riefen, die er nicht kannte und die ihn dennoch frösteln ließen. Kurz darauf wurde die Decke des Depots von schweren Schritten erschüttert. Die Männer hatten die Vorratskammer entdeckt und quittierten ihren Fund mit erfreutem Johlen. Nie zuvor in seinem Leben hatte sich Mun so elend gefühlt wie in diesen Stunden, nicht einmal, nachdem er vor einigen Lunarien die verbotenen Tannbeeren genascht hatte, die er im Wald gefunden und die ihm drei Tage Magenkrämpfe eingebracht hatten. Doch ein gnädiges Schicksal war auf seiner Seite. Die Klappe im Boden blieb von den Eindringlingen unbemerkt. Nach einigen Minuten herrsch-
te wieder Ruhe. Vermutlich hatten die Fremden die Fächer und Regale leergeräumt und waren nun damit beschäftigt, sich die Bäuche vollzuschlagen. Die Zeit wollte nicht vergehen. Und die Männer wollten offenbar nicht verschwinden. Der im Depot allgegenwärtige Mehlstaub kitzelte in Muns Nase, ihm war heiß und er hatte schrecklichen Durst. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Die Stimmen waren leiser geworden, kamen aus größerer Entfernung. Der Junge nahm an, dass sich die ungebetenen Gäste auf dem freien Platz zwischen dem Haupthaus und der Scheune aufhielten. Mun wagte kaum zu atmen, als er die Klappe zur Vorratskammer öffnete. Seine Beine zitterten, als er sich vorsichtig über den rauen Dielenboden schob. Die Tür zur Küche war geschlossen. Wie er vermutet hatte, war die Kammer leer. Die Scherben einer zerbrochenen Weinflasche glitzerten matt im herrschenden Dämmerlicht. Ansonsten hatten die Fremden nichts zurückgelassen. Erneut traten Mun die Tränen in die Augen. Die gesamte Kaltzeitreserve – verschwunden! Für einen Moment überlagerte der Zorn seine Furcht. Es war ein gutes Gefühl. Er wusste, wo sein Vater die doppelläufige Jagdflinte aufbewahrte, und auch wenn es ihm streng verboten war, nur in die Nähe des stets mit einer Kette und einem Vorhängeschloss versperrten Schranks zu kommen, so hätte er in diesen Sekunden alles dafür gegeben, die Waffe in seinen Händen zu halten. Mun wartete fast zehn Minuten, das rechte Ohr an die Tür zur Küche gepresst, doch außer dem Pochen des Blutes in seinen Schläfen hörte er nichts. Dennoch schlug sein Herz bis zum Hals, als er die schwere Klinke hinunterdrückte. Das leise Quietschen der Scharniere klang für ihn so laut wie Donner. Wieder verharrte er minutenlang auf der Stelle, darauf gefasst, jeden Moment das Trampeln von Stiefeln zu vernehmen. Seine Kehle war so trocken wie die Torische Wüste, von der sein Vater ihm oft erzählt hatte. Trotzdem wagte er es nicht, die kleine Handpumpe am anderen Ende der Küche zu bedienen und seinen Durst zu stillen. Durch den Flur drangen nach wie vor die Stimmen der Männer ins
Haus. Auch wenn Mun nicht verstand, was gesprochen wurde, so begriff er doch, dass draußen eine Art Feier im Gang war. Der Junge wandte sich nach rechts, durchquerte die Küche und betrat den großen Wohnraum. Der wuchtige Tisch mit den sechs Stühlen, an dem er so oft mit Mam und Pap gesessen hatte, kam ihm nun viel größer als früher vor. In einer Ecke am Fenster stand die Webmühle, mit der seine Mutter fast jeden Abend die Wolle der Gareks zu Socken, Mützen, Pullovern und vielen anderen nützlichen Kleidungsstücken verarbeitete. Mun liebte es, ihr dabei zuzusehen. Auf der anderen Seite des Zimmers ruhte die schwere Werkbank. Dort erledigte sein Vater Arbeiten wie das Flicken von Schuhen oder das Reparieren schadhafter Werkzeuge. Gleich daneben stand Muns Truhe, die ihm die Eltern zur letzten Sonnenwende geschenkt hatten. In den Deckel waren die Umrisse zweier Gareks geschnitzt und das braune Holz war mit einer glänzenden Lackierung versehen. Mun würde diesen Abend nie vergessen. Er war so stolz gewesen, als ihm Pap erlaubt hatte, die Truhe gleich neben der Werkbank aufzustellen. Danach war er in sein Zimmer gerannt und hatte all die kleinen Schätze geholt, die er in den letzten Jahren angesammelt hatte. Die flachen, glatten Kiesel aus dem Eisbach, das Ledersäckchen mit der farbigen Kreide, einen Ballen Stoffreste, die Kuru-Hölzer – und natürlich die vom Vater geschnitzte Flöte. Stundenlang hatte er vor der Truhe gesessen und seine Sachen immer wieder einund ausgeräumt. Mun verdrängte die Gedanken an damals. In ihm breitete sich eine grauenvolle Leere aus. Ohne zu wissen, woher die Erkenntnis kam, wurde ihm klar, dass die glücklichen Tage seines Lebens vorbei waren. Sein Vater hatte ihm ab und zu von den über Land ziehenden Räuberbanden erzählt, die vorwurfsvollen Blicke der Mutter dabei geflissentlich ignorierend. Die ausschließlich aus Männern bestehenden Gruppen zählten teilweise bis zu fünfzig Köpfe und suchten sich mit Vorliebe einsame Höfe oder kleinere Dörfer für ihre Beutezüge aus. Schutz vor den Banden gab es so gut wie keinen. Die Räuber lebten in den schwer zugänglichen Kulatbergen im Norden, wo sie
praktisch jeden Stein kannten. Zudem waren sie kampferfahren. Selbst wenn sich mehrere Bauern zusammentaten und ein paar Söldner fanden, die verrückt genug waren, sich anheuern zu lassen, hatten diese keine Chance. Auf allen Vieren kroch Mun an eines der beiden Fenster heran, durch die er auf die Veranda blickten konnte. Es wurde bereits dämmrig, die langen Schatten der Berge krochen herab. Durch das Glas warf der flackernde Schein einiger Fackeln bizarre Muster an Wände und Decke. Langsam richtete sich der Junge auf, bis er über das Fenstersims nach draußen sehen konnte. Der Abend hatte die Landschaft in ein Farbenmeer verwandelt. Die Farm umschließenden Wälder standen in dieser Zeit des Jahres in voller Blüte. Normalerweise hätte Mun den Anblick genossen, doch diesmal fehlte ihm der Sinn für die Schönheit der Natur. Die Räuber hatten sich überall niedergelassen. Auf der Pritsche des Heuwagens, auf Strohballen aus der Scheune, auf Decken und Polstern, die sie aus dem Haus geschleppt hatten, oder einfach direkt auf dem festgetrampelten Boden. Neben den in unregelmäßigen Abständen befestigten Fackeln brannte wenige Meter vor dem Gehege der Gareks ein hoch loderndes Feuer. Die Tiere selbst waren allesamt tot. Einige Männer hatten damit begonnen, die Kadaver zu häuten und in handliche Stücke zu zerteilen. Alles war voller Blut, doch das war es nicht, was Mun wie festgefroren aus dem Fenster starren ließ. Er hatte schon zugeschaut, wenn Vater einen Garek schlachtete oder wenn auf dem Markt in Kalamarrn den Nunaks die Hälse durchgeschnitten und sie dann zum Ausbluten auf lange Holzgestänge gehängt wurden. Mun öffnete den Mund, aber kein Laut drang daraus hervor. Das Grauen hatte auf eine Weise von ihm Besitz ergriffen, die ihn vollständig lähmte. Sein Körper fühlte sich an, als würde er nicht mehr zu ihm gehören, als wäre er ein unsagbar fremdes Etwas, dessen Bedeutung und Zweck sich seinem Verständnis entzog. Selbst wenn in diesem Moment das Haus über ihm zusammengestürzt wäre, hätte er sich keinen Millimeter vom Fleck rühren können. Der Vater lag ein wenig abseits der feiernden Männer. Die Arme
waren nach vorn gestreckt, das rechte Bein stand in groteskem Winkel zur Seite ab. Das Blut in den Haaren und auf dem Gesicht war frisch. Es glänzte im Licht des Feuers, und die zuckenden Flammen zauberten jähe Reflexe auf das starre Antlitz. Es sah aus, als würde ein Schwarm winziger Insekten den Kopf des Vaters umschwirren. Das Schlimmste für Mun waren jedoch die weit aufgerissenen Augen, in deren leeren Blick sich noch immer die Angst zu spiegeln schien, die der Mann empfunden haben musste. Nicht die Angst um das eigene Leben, sondern um das der geliebten Ehefrau und des einzigen Kindes. Vielleicht hatte der Vater geahnt, dass eines Tages so etwas passieren würde. Die Farm lag zu weit von den größeren Ansiedlungen entfernt, als dass sie auf Dauer vor Übergriffen der Räuberbanden sicher hätte sein können. Doch er hatte das Risiko in Kauf genommen, weil er es in Kauf nehmen musste. Die Farm sicherte das Überleben der Familie, bot ihr in guten Jahren sogar einen bescheidenen Luxus. Eine Alternative gab es nicht. Ab und an kamen Wanderarbeiter vorbei, die Kelt Lanaka vor allem in der Erntezeit gern für einige Zeit aufnahm. Die Geschichten, die sie von ihren Reisen erzählten, zeugten von einem Leben voller Unwägbarkeiten und Entbehrungen. Für Frau und Kind war in einem solchen Dasein keinen Platz. Kelt war ein kräftiger und geschickter Mann und hätte wahrscheinlich mit Leichtigkeit eine Stelle in der Holzmühle, in der Leimfabrik oder in einem der kleineren Handwerksbetriebe der Stadt bekommen können, doch dann hätten sie eine der ärmlichen Hütten in Kalamarrn beziehen müssen, dort, wo es keine befestigten Straßen gab und wo Menschen und Tiere auf engstem Raum zusammenlebten. Die Farm befand sich nun in der sechsten Generation im Besitz der Lanakas, war zweimal niedergebrannt und einmal beinahe gepfändet worden. Kelt hätte es sich nie verziehen, wenn ausgerechnet er derjenige gewesen wäre, der mit dieser Tradition brach. Lieber arbeitete er jeden Tag bis zum Umfallen und forderte das Schicksal Jahr um Jahr aufs Neue heraus. Endlich löste sich die Starre und Mun konnte sich wieder bewe-
gen. Wo war seine Mutter? War ihr womöglich die Flucht gelungen und sie wartete am Waldrand auf ihn? Von dort konnten sie die Stadt in einem halben Tagesmarsch erreichen und Hilfe holen. Mun durchquerte den Wohnraum und schlich in den hinteren Teil des Hauses. Jetzt machte es sich bezahlt, dass er sich oft heimlich aus seinem Zimmer im oberen Stockwerk in die Ställe gestohlen hatte, um mit den frisch geschlüpften Nunaks zu spielen. Er kannte jede einzelne Holzbohle und wusste, ob sie sein Gewicht klaglos trug. Auf halbem Weg hörte er die Männerstimmen. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Seine Knie schienen auf einmal aus Sirup zu bestehen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre gestürzt. Im letzten Moment hielt er sich an dem gewaltigen Wäscheschrank fest, der im Schlafzimmer der Eltern stand. »Ich weiß nicht, was das soll«, drang es aus Richtung der Eingangstür an seine Ohren. »Hier gibt es nichts mehr zu holen. Wir haben alles gründlich durchsucht.« »Die Kundschafter haben von einem kleinen Jungen erzählt«, erwiderte eine zweite Stimme. »Gorl will keine Zeugen, das weißt du so gut wie ich.« »Blödsinn!«, rief der erste Sprecher. »Wenn der Knirps hier wäre, hätten wir ihn gefunden. Vielleicht ist er bei Verwandten in der Stadt. Oder er hat sich bei unserem Anblick die Hosen vollgeschissen und ist abgehauen.« Die beiden Männer lachten rau. Mun hörte, wie sie die Veranda betraten. Jeden Moment musste sich die Tür öffnen und sie würden ihn sehen. Dann würde er so enden wie sein Vater. Mun zwang sich, weiterzugehen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Das Schlafzimmer schien mit jeder Sekunde größer zu werden. Das halb geöffnete Fenster, das auf den Seitenhof gegenüber der Scheune führte, wollte einfach nicht näher kommen. »Geh du nach oben«, kam es aus dem Flur. »Ich sehe mich noch einmal hier unten um.« Der zweite Räuber grunzte kurz zur Bestätigung. Muns Augen brannten wie Feuer, als der von seiner Stirn rinnende Schweiß in sie hineinlief. Die schmale Fensteröffnung konnte
er nur verschwommen erkennen. Verzweifelt wischte er sich mit dem Ärmel seiner Jacke über das Gesicht, aber das machte das Brennen nur noch schlimmer. Dann hatte er sein Ziel erreicht. Mit ausgestreckten Armen konnte er den Sims gerade so erreichen. Wenn er durch das Fenster klettern wollte, brauchte er etwas, auf das er steigen konnte. Auf der Bettseite, auf der Muns Mutter schlief, stand eine kleine Kommode. An der Wand dahinter hing ein Spiegel, den Pap vor vielen Jahren einem fahrenden Händler abgekauft hatte. Zuerst hatte ihn Mutter dafür fürchterlich geschimpft, ihm vorgeworfen, das knappe Geld gedankenlos für unnütze Dinge auszugeben, doch schon am Abend saß sie mit einem Lächeln auf den Lippen vor dem neuen Spiegel und bürstete ihre Haare. Vor der Kommode stand ein hochlehniger Stuhl. Es kostete Mun sämtliche Kraft, das Möbelstück anzuheben und zum Fenster hinüber zu tragen. Wenn er den Stuhl einfach über den Boden gezogen hätte, hätten ihn die Räuber garantiert gehört. Er hatte unglaubliches Glück. Die riesige Gestalt huschte wie ein Schemen an der Tür zum Schlafzimmer vorbei. Der Räuber hatte sich offenbar dazu entschlossen, zunächst noch einmal Küche und Speisekammer zu inspizieren. Vielleicht hoffte er auf die Entdeckung einer übersehenen Flasche mit Hochprozentigem. Auf jeden Fall wandte er nicht einmal den Kopf, um in das Schlafzimmer hinein zu sehen. Mun erklomm den Stuhl und streckte den Kopf aus dem Fenster. Das flackernde Licht der Fackeln erreichte den Seitenhof nur noch abgeschwächt. Große Teile des Areals lagen in schattigem Zwielicht – vor dem sich der Junge zum ersten Mal in seinem Leben nicht fürchtete, denn diesmal verhieß es Schutz und Sicherheit. Die Erleichterung und der sanfte, sein erhitztes Gesicht kühlende Nachtwind verliehen Mun neue Kräfte. Über den Seitenhof konnte er – den gemauerten Brunnen als Deckung nutzend – die Scheune erreichen und von dort auf den schmalen Weg wechseln, der zur Stadt führte. Mit einem letzten Ruck stieß er sich ab, um sich über das Fenstersims nach draußen zu schwingen.
Das Poltern hinter ihm klang wie ein Schuss aus Paps Jagdflinte. Mun kam es so vor, als könne man es bis nach Kalamarrn hören. Der Stuhl! Wie konnte er nur so unachtsam sein! Er hatte ihn beim Klettern aus dem Fenster mit seinen Füßen umgestoßen, und wenn die beiden Räuber nicht taub waren, dann war seine Flucht beendet, bevor sie begonnen hatte. Aus!, dachte Mun. Alles aus! Aus dem Schlafzimmerfenster drangen trampelnde Schritte und lautes Rufen.
Mun rannte, so schnell er konnte über den staubigen Boden des Seitenhofs. Zitternd presste er sich an die aus grob behauenen Steinen bestehende Umrandung des Brunnens, den sein Urgroßvater mit eigenen Händen gegraben hatte. Die Mauer mit dem darüber angebrachten Holzgerüst und der primitiven Seilwinde war einen guten Meter hoch. Abgesehen von dem Werkzeugschuppen hinter der Scheune war der Brunnen der einzige Ort auf der Farm, an dem es Mun verboten war zu spielen. Der Brunnenschacht reichte mehr als dreißig Meter in den Erdboden hinein und konnte für einen übermütigen Sechsjährigen schnell zur Todesfalle werden. »Kannst du etwas sehen?«, fragte die Stimme, die Mun bereits im Haus gehört hatte und inzwischen kannte. »Nein«, lautete die Antwort. »Es ist zu dunkel. Sag du Gorl Bescheid. Er soll ein paar Männer mit Fackeln schicken. Ich bleibe hier und schaue mich weiter drinnen um.« Mun drehte hastig den Kopf. Wenn er jetzt die Deckung des Brunnens verließ, um zur Scheune hinüber zu rennen, würde man ihn trotz der herrschenden trüben Dämmerung entdecken. Sein Blick wanderte hektisch am Zaun des Garek-Geheges entlang – und blieb an einer reglosen Gestalt hängen. Es war das zweite Mal an diesem furchtbaren und einfach nicht enden wollenden Tag, dass die Zeit stehen zu bleiben schien. Mun fühlte, wie sich eine eisige Kälte von seiner Brust aus in alle Richtungen ausbreitete und seinen Körper erstarren ließ. Der Junge glaubte
das trockene Knistern zu hören, mit dem sich der Frost in ihm ausbreitete, seine Glieder gefühllos machte. Sein Verstand weigerte sich, das, was er sah, zu akzeptieren. Weigerte sich zu glauben, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten. Er konnte den Blick nicht abwenden. Wie hypnotisiert starrte er auf seine Mutter, die kaum zwanzig Meter entfernt und doch unerreichbar war. Mams Handgelenke waren über ihrem Kopf an einen Querbalken des Zauns gefesselt. Die langen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und ihr Kleid war über der Brust zerrissen. Sie hatte die Augen geschlossen; über ihre rechte Wange verlief ein blutiger Schnitt. Auch der Saum ihres Rockes war zerfetzt. Die nackten Beine der Frau wiesen zahlreiche Schrammen und Schürfwunden auf. Mun wollte aufspringen, wollte zu seiner Mutter laufen und sie in die Arme nehmen, denn dann würde alles gut werden, so wie stets alles gut wurde, wenn sie ihn in ihre Arme nahm. Aber er konnte es nicht. Wie schon zuvor beim Anblick des toten Vaters war er nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. »Los!« Die Stimme klang laut, hart und befehlsgewohnt. »Auf die Füße, ihr faulen Säcke! Ich will, dass ihr jeden verdammten Winkel dieser stinkenden Farm von innen nach außen kehrt. Wenn der Junge hier ist, will ich ihn haben.« Schlagartig war die Luft von zahllosen Geräuschen erfüllt. In die Räuberbande kam Bewegung. Mun hörte lautes Fluchen, als einige der Männer von ihren Kameraden aus dem Schlaf gerissen wurden. Andere brüllten, man solle mehr Fackeln herbeischaffen. Noch lag der Brunnen im Schutz der dunklen Nachtschatten, die die Berge warfen, doch das musste sich jeden Moment ändern. Vorsichtig kroch Mun einen halben Meter an der Brunnenmauer entlang. Der freie Platz vor dem Haupthaus war fast leer. Die Räuber waren in alle Richtungen ausgeschwärmt. Lediglich ein einzelner, über zwei Meter großer Hüne mit langen, schwarzen Haaren und einem bis zum Bauchnabel reichenden Rauschebart stand mit in die Seiten gestemmten Armen da und beobachtete das bunte Treiben um ihn herum. Er trug einen speckigen Lederrock, bis über die Knie reichende Stiefel und eine ebenfalls aus Leder genähte Jacke
mit silbernen Knöpfen. In seinem breiten Gürtel steckten mehrere Messer und eine Pistole, die so groß und schwer war, dass Mun sie vermutlich nicht einmal hätte anheben können. Das musste der Räuberhauptmann sein, der, den die anderen Gorl nannten. Der Riese setzte sich in Bewegung. Mun glaubte die Erschütterungen zu spüren, die seine Schritte auf dem Boden auslösten. Gorl kam direkt auf ihn zu! Dem Jungen blieben kaum mehr als ein paar Sekunden und er handelte, ohne zu überlegen. Behutsam zog er sich auf den Brunnen und ließ sich vorsichtig über die Mauerkrone gleiten. Seine tastenden Füße fanden den hölzernen Eimer, dessen Henkel an das über eine Laufrolle führende Seil geknotet war. Mun bekam das andere Ende des Seils zu fassen, packte mit beiden Händen zu und ließ die Mauer los. Sein eigenes Gewicht überraschte ihn. Keuchend klammerte er sich an dem groben Seil fest. Der Eimer, in dem er mit beiden Beinen stand, pendelte hin und her, schlug zweimal laut an die Innenseite des Brunnens. Hatte Gorl das gehört? Mun spürte, wie sich der Schweiß in seinen Handflächen sammelte. Das Seil drohte ihm zu entgleiten; er rutschte ab. Über ihm bewegte sich die Seilwinde, die Laufrolle quietschte leise. Wenn Gorl nicht taub war, dann musste er das einfach hören. Die Schmerzen in Armen und Schultern wurden unerträglich. Muns Griff lockerte sich, und er rutschte fast zwei Meter in die Tiefe. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte geschrien. Die rauen Fasern des Seils schnitten in seine Finger, doch noch war die Angst, in den schwarzen Schacht zu stürzen, größer als der Wunsch, einfach aufzugeben, loszulassen und sich in das Unvermeidliche zu fügen. Wie viel Zeit war seit seinem Einstieg in den Brunnen vergangen? Er wusste es nicht. Würde Gorl in den Brunnenschacht hineinsehen, wenn er ihn erreichte? Mun hob den Kopf und starrte auf das kreisrunde Loch über ihm, jeden Moment darauf gefasst, das bärtige Gesicht des Räuberhauptmanns auftauchen zu sehen. Der Himmel hatte sich schwarzblau gefärbt. Ein paar einsame Lichtpunkte blitzten zwischen vom Wind getriebenen Wolken.
Erneut verließen den Jungen für einen Augenblick die Kräfte. Diesmal glitt er ein gutes Stück tiefer und schneller als zuvor. Die im Schacht herrschende Finsternis schien mit gierigen Fingern nach ihm zu greifen und ihn zu sich ziehen zu wollen. Es roch nach Feuchtigkeit und Moder. Das Seil raste durchs Muns Finger. Es tat so schrecklich weh und trotzdem unternahm er einen letzten und verzweifelten Versuch, sich festzuhalten. Vergeblich. Sein Fall beschleunigte sich von Sekunde zu Sekunde. Wollte dieser Schacht denn niemals enden? Wollte diese Nacht denn niemals enden? Dann kam der Schock! Das Wasser war eiskalt. Mun tauchte tief ein und ließ das Seil los. Der Eimer schwappte neben ihm wieder hoch und schwamm auf der Wasseroberfläche. Muns Hände tasteten verzweifelt nach Halt; in seiner Panik erinnerte er sich nicht mehr daran, dass ihm sein Vater im vergangenen Sommer das Schwimmen beigebracht hatte. Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Auf seiner Brust lastete ein von Sekunde zu Sekunde stärker werdender Druck. Er musste Luft holen, musste atmen … Später hätte er nicht mehr zu sagen vermocht, warum er überlebt hatte. Als das bewusste Denken wieder einsetze, hing er quer über dem Holzeimer, der ihm gerade genug Auftrieb gab, um ihn über Wasser zu halten. Er fror erbärmlich, zitterte am ganzen Körper. Der Lärm, den die suchenden Räuber verursachten, drang wie aus einer anderen Welt zu ihm herab, brach sich zwischen den feuchten Mauern des Brunnenschachts und erreichte seine Ohren als fernes, unbedeutendes Murmeln. Zum ersten Mal in seinem kurzen Leben war Mun Lanaka wirklich allein. Doch er hatte keine Angst mehr. Der Tod erschien ihm auf einmal wie ein guter Freund, ein hilfreicher Nachbar, den man zum Essen einlud und mit dem man die Freuden und Nöte des Alltags teilen konnte. Er hieß ihn mit offenen Armen willkommen, denn er wusste, dass das, was kam, nicht schlimmer sein konnte, als dass, was hinter ihm lag. *
Der Draawe war ein junges Exemplar; das erkannte Mun sofort an der fast weißen Haut um die kreisförmige Sprechöffnung. Der knapp drei Meter lange Bibliothekar neigte das obere Drittel seines Wurmkörpers weit nach vorn und verschränkte die winzigen Ärmchen ineinander. Der Adept erwiderte die Begrüßung und wartete geduldig, bis sein Gegenüber sich aufrichtete. Auch wenn er drei Jahre unter den Herren des Zentralarchivs gelebt hatte und von ihnen unterrichtet worden war, so verspürte Mun beim Anblick der Draawen nach wie vor eine merkwürdige Scheu. Vielleicht lag es daran, dass die Bibliothekare in vielerlei Hinsicht nicht minder geheimnisvoll und mystisch verklärt waren wie die sagenhafte Urmutter. Ein Draawe verließ das Archiv niemals, verbrachte sein ganzes Leben innerhalb der Mauern des riesigen Wissensspeichers. Zwar war es den Schülern und Adepten nicht ausdrücklich verboten, anderen über die Bibliothekare zu berichten, doch kaum einer tat es. Ob dabei Verehrung, Misstrauen, Furcht oder gar Beeinflussung eine Rolle spielten, wusste Mun nicht zu sagen. Er hatte schlicht und einfach nie das Bedürfnis verspürt, über die Draawen zu sprechen. Der Adept erinnerte sich gut an den Tag, an dem er zum ersten Mal eines dieser Wurmwesen gesehen hatte. Der feucht glänzende Körper, die zuckenden Fühler und das rudimentäre Gesicht, vor allem aber die fehlenden Augen, hatten ihn im ersten Moment abgestoßen. Es überstieg seine Vorstellungskraft, dass diese hässlichen und plump wirkenden Würmer etwas so großes und unerreichtes wie das Zentralarchiv geschaffen haben sollten. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich umgedreht und wäre schreiend davon gelaufen. In den Tagen danach hatte er fast jede Nacht von den Draawen geträumt, und es waren alles andere als angenehme Träume gewesen. Es hatte Lunarien gedauert, bevor Mun seine Befangenheit und den durch nichts gerechtfertigten Ekel vor den Bibliothekaren ablegen und sich auf den Lehrplan konzentrieren konnte. Seit er seine Ausbildung abgeschlossen hatte und auf Wanderschaft gegangen war,
hatte er bereits dreimal den Weg zurück ins Zentralarchiv gefunden, und die erste Begegnung mit einem Draawen war stets aufs Neue von Unbehagen und unbewusster Zurückhaltung geprägt gewesen. Die Herren des Zentralarchivs waren unsagbar fremd – vielleicht zu fremd, als dass ein Mensch in der Lage war, etwas anderes als einen großen, fetten, hässlichen Wurm in ihnen zu sehen. Nichtsdestotrotz freute sich Mun auf das, was vor ihm lag, denn die Entbürdung war nicht nur eine notwendige Prozedur, um die in seinem Gehirn gesammelten und gespeicherten Fakten auszulesen, sondern stets auch eine Befreiung. Die Reisen eines Adepten erstreckten sich für gewöhnlich über zwei, drei, manchmal auch mehr Sonnenzyklen. Nach Ablauf dieser Zeit begann er zu spüren, dass ihn die in ihm ruhenden Informationen vollständig ausfüllten, ihn in einen Zustand der inneren Unruhe und der Beklemmung versetzten. Am Ende hatte er immer öfter das Gefühl, als müsse ihm jeden Moment der Kopf platzen. Spätestens dann machte er sich auf den Rückweg nach Lakara, denn nur im Zentralarchiv konnten die Draawen ihre Aufgabe erfüllen. »Bist du bereit, Adept Mun?« Die Stimme des Bibliothekars erinnerte den Mann an das Knistern von Laub im Feuer und schien direkt in seinem Kopf zu entstehen. Draawen, insbesondere die jungen Exemplare, entwickelten normalerweise während der ersten Lebensjahre eine schwache telepathische Begabung, die im Alter jedoch wieder verflog. »Ich bin bereit«, sagte er. Der Bibliothekar drehte sich wortlos um und verließ die Wohnzelle. Die wellenförmigen Bewegungen, mit denen er seinen schimmernden Körper über den steinernen Untergrund schob, hatten etwas Hypnotisches. Mun wusste, dass die Wurmwesen uralt waren. Ebenso wie das Archiv selbst. Der Adept erinnerte sich gut an die langen Nächte im Kreis der Besinnung. Dort lagen die Lesezimmer, in denen es den Adepten möglich war, den gigantischen Informationspool des Expars, des Kernbereichs des Zentralarchivs, anzuzapfen. Mun hatte einen Großteil seiner Ausbildungszeit dort verbracht, weil er unter den anderen Schülern als Außenseiter galt und deshalb gemieden wurde. Seinen Status als –
wie hatte Legetar es genannt – Berühmtheit hatte er erst später erlangt. Wenn man es genau nahm, gab es da aber keinen großen Unterschied. Außer Taardar hatte er hier nie Freunde gehabt. Seine Welt waren die iDocs gewesen, jene kleinen Gelkügelchen, in denen die Draawen die ausgelesenen Daten speicherten und von denen es im Expar viele Milliarden gab. Mun hatte jede freie Minute genutzt und die im Überfluss vorhandenen Informationen wie ein Schwamm in sich aufgesogen. So war es kein Wunder gewesen, dass er in allen theoretischen Ausbildungsfächern innerhalb kurzer Zeit zum Klassenbesten geworden war – mit weitem Abstand vor allen anderen. Er hatte Less drei Sonnenzyklen lang durchstreift, ohne das Archiv auch nur für eine Minute zu verlassen. Der Übergang zwischen den Kreisen verlief unmerklich. Auch hier gab es keine verschlossenen Türen, und dennoch war es in all den Jahrtausenden nie zu einem Zwischenfall gekommen. Natürlich hatte es immer wieder Versuche Unbefugter gegeben, in das Archiv einzudringen, doch die Draawen sorgten nicht nur mit ihren psimagischen Kräften dafür, dass ein solches Unterfangen alles andere als einfach zu verwirklichen war. Sein Führer bog jetzt in einen langen geraden Gang ein. In Abständen von wenigen Metern waren torbogenförmige Öffnungen mit langen Tüchern verhängt. Die sogenannten Stillkammern waren die einzigen Räume im Zentralarchiv, die man hermetisch von der Außenwelt abriegeln konnte. Angeblich diente das dem Erhalt der Konzentration, die die Draawen während der Entbürdung aufbringen mussten, aber Mun wusste es besser. Der junge Draawe machte vor einer der Öffnungen Halt und wandte sich um. Erneut neigte er das vordere Drittel seines Körpers und erneut erwiderte Mun die Geste. »Ferenech erwartet dich bereits, Adept Mun«, wisperte es in seinem Geist. »Ich danke dir für das Wissen, das du dem Archiv schenken wirst, und wünsche dir Kraft und klare Gedanken für die nächste Reise.« Mun sagte nichts. Er wartete, bis das Wurmwesen hinter der
Gangbiegung verschwunden war, und betrat dann die Stillkammer. Der Raum maß etwa vier mal vier Meter. In seiner Mitte stand eine bequeme Liege mit breiten Polstern für Arme, Beine und Kopf. Ferenech ruhte hoch aufgerichtet am Fußende des Lagers. Er wirkte steif wie eine Statue und befand sich bereits in jener Trance, in die sich die Draawen versetzen mussten, um die immense Belastung einer Entbürdung ohne ernsthaften Schaden zu überstehen. Mit langsamen, kontrollierten Bewegungen entledigte sich Mun seiner Kleidung und legte sich nackt auf die Polster. Sie waren angenehm temperiert und passten sich seinen Körperformen an. Der Adept schloss die Augen, atmete ruhig und gleichmäßig. Ein, aus, ein, aus. Von irgendwo her glaubte er ein Singen zu hören, einen leisen, klagenden Ton, der durch die Stillkammer flimmerte wie eine Gulme durch die heiße Luft über der südlichen Seenplatte von Toskadi. Ein, aus, ein, aus. Seine Gedanken fanden den Rhythmus, flossen im Takt der Atemzüge, bahnten sich ihren Weg aus den tiefsten Tiefen der Erinnerung an die Oberfläche seines Bewusstseins. Ein angenehmer Schauer durchrieselte seinen Körper. Ihm war, als würde ein kaum merklicher Windhauch über seine Haut streifen und ihn kitzeln wie die leichte Brise an einem perfekten Sommermorgen. Er fühlte sich auf einmal gewichtslos, schien in einem riesigen warmen Ozean aus Wohlbefinden zu treiben. Die Behaglichkeit steigerte sich mit wachsendem Tempo, schwoll zur Euphorie an, wurde zur Ekstase. Mun stöhnte verzückt, warf sich auf seinem Lager hin und her, ohne es wirklich wahrzunehmen. Alles in ihm vibrierte, bebte, erzitterte unter der Macht einer Welle aus purer Lust, die über ihn hinweg spülte. Nichts anderes hatte gegen diesen Rausch Bestand. Keine noch so begabte Liebesdienerin könnte ihm die Befriedigung verschaffen, die eine Entbürdung erzeugte. Selbst die langen und schweißtreibenden Nächte mit Mairee, der einzigen Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte, verblassten in diesen Minuten zur Bedeutungslosigkeit. Der Sinnestaumel schien sich zu verstärken, tobte als unzähmbarer Orkan durch ihn hindurch und weit über ihn hinaus. Mun schrie seine Wollust hinaus, wünschte, dass diese erlösende Raserei der Be-
gierden niemals endete. Und doch war ihm klar, dass sie enden musste, da sie ihn sonst vernichtete. Gerüchten zufolge hatte es solche Fälle bereits gegeben. Manchen Adepten war es angeblich nicht gelungen, sich wieder aus dem Zustand der Ultimaten Verzückung zu lösen. Sie waren in ihrer Disziplin, in ihrem Willen zu schwach gewesen, hatten sich dem Feuer der Entbürdung nicht mehr entziehen können und waren in seiner Hitze schließlich qualvoll zugrunde gegangen. »Hast du etwa Angst, dass es dir ebenso ergehen könnte?«, hatte Taardar damals auf entsprechende Fragen Muns geantwortet. »Merk dir eines, mein Junge: Zu viel Kummer kann dich ebenso zerstören wie zu viel Glück. Nur Ordnung und Besonnenheit helfen dir, das Gleichgewicht zwischen den Extremen aufrecht zu erhalten. Wenn du dir deiner selbst sicher bist, hast du weder Freude noch Leid zu fürchten.« Bei diesem Gedanken erwachte Mun wie aus einem langen, schönen Traum. Er öffnete die Augen und ließ das schwache gelbe Licht, das in der Stillkammer vorherrschte, auf sich wirken. Wie schon nach den in der Vergangenheit erlebten Entbürdungen fühlte er sich wunderbar ausgeruht und mit sich und der Welt im Reinen. Er wollte dieses Gefühl so lange wie möglich festhalten. Dann jedoch drang leises Wimmern und ein dünnes Rascheln an seine Ohren. Augenblicklich war Muns Hochstimmung verflogen. Er richtete sich auf seinem Lager auf. Ferenech war zu Boden gesunken. Der faltige Wurmkörper krümmte sich ruckartig, zuckte immer wieder wie unter Peitschenhieben zusammen. Dabei jammerte der Bibliothekar gedämpft vor sich hin, die Sprechöffnung halb geschlossen, die winzigen Ärmchen in ständiger, unkontrollierter Bewegung. Um ihn herum drängelten sich sechs kleinere Würmer, deutlich schmaler und nur eineinhalb Meter lang, mit grauer, glatter Haut. Sie waren wie aus dem Nichts erschienen. Die Neewen, wie sie genannt wurden, übernahmen im Zentralarchiv Boten- und Helferdienste. Unter anderem kümmerten sie sich um die nach einer Entbürdung zu Tode erschöpften Draawen. Mun hatte erst am Ende
seiner Ausbildungszeit erfahren, dass eine Entbürdung dem betroffenen Adepten zwar ungeahnte körperliche Wonnen bescherte, seinem Draawen aber stattdessen das genaue Gegenteil. Das telepathische Auslesen der Informationen aus den Gehirnen der Wissensträger beanspruchte einen Draawen – wie begabt und gut geschult er auch sein mochte – über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus. Bei etwa jeder zehnten Entbürdung, so hatte Mun in den Lesezimmern in Erfahrung gebracht, bezahlte der Bibliothekar seine Bemühungen sogar mit dem Leben. Schuldbewusst musterte Mun den sich nach wie vor unter Qualen windenden Ferenech. Die Neewen würden sich um ihren Artgenossen kümmern, doch es würde fast ein Lunarium dauern, bis sich der Bibliothekar soweit erholt hatte, dass an eine weitere Entbürdung überhaupt nur zu denken war. Der Adept hatte Jahre gebraucht, um zu verstehen, warum die Draawen diese furchtbare Tortur immer und immer wieder auf sich nahmen, so lange, bis sie ihnen eines Tages zum Verhängnis wurde. Erst nach seiner ersten Entbürdung hatte er die iDocs gesehen, die Wissenstränen, wie sie unter den Schülern auch genannt wurden. Ihr Anblick hatte jeglichen Zweifel beiseitegefegt. Auch jetzt starrte Mun wieder ergriffen auf das kaum zentimetergroße Gebilde, das in der Mitte eines halbhohen Tisches lag und die Essenz dessen verkörperte, was er in den letzten Jahren erfahren und in seiner Erinnerung verankert hatte. Der winzige Tropfen schien ihm zuzublinzeln, schien von innen heraus zu glänzen und Lichtspeere in alle Richtungen zu schicken. Muns Erinnerungen an seine letzte Reise, die in ihrer Form prinzipiell substanzlosen Informationen, die er mittels seiner besonderen Begabung in gewaltigen Mengen gespeichert hatte, hatten durch den Einfluss des Draawen Gestalt angenommen. Immaterielle Daten und Fakten waren zu etwas Greif- und Fassbarem geworden. Einer der Neewen ließ von dem sich nun endlich beruhigenden Ferenech ab und wandte sich dem iDoc zu. Er nahm die Wissensträne behutsam mit seinen langen, schlanken Fingern auf und presste sie eng an seinen Körper. Die Arme der Neewen waren länger und
kräftiger ausgebildet als die der Draawen, was sie für ihre Aufgabe als dienstbare Geister prädestinierte. Der Wurm würde das iDoc unverzüglich in den Kreis der Bewahrung bringen und dort den Luuwen, der dritten und letzten Fraktion der Bibliothekare, übergeben. Mun hatte erst ein einziges Mal einen Luuwen gesehen, ebenso wie er auch erst ein einziges Mal im Innern der vier Kreise gewesen war. Der Kreis der Bewahrung umschloss das Expar im Großen Turm lückenlos. Die Luuwen, kaum mehr fingergroß und pechschwarz, waren das letzte Glied in der Kette der Informationssammlung und -verarbeitung des Zentralarchivs. Sie integrierten die iDocs in das gigantische Wissensnetz, waren permanent beschäftigt, die zunächst ungeordneten und oftmals widersprüchlichen Daten zu sortieren, zu gliedern und sinnvoll miteinander in Bezug zu setzen. Das Expar bedurfte der ununterbrochenen Pflege, denn auch die bereits vorhandenen Informationen mussten immer wieder überprüft und im Hinblick auf das neu hinzugekommene Material auf ihre Richtigkeit untersucht werden. Das Netzwerk der iDocs war somit nicht einfach nur ein banaler Wissensspeicher, sondern eine lebende, atmende Datenbank mit unzähligen Verknüpfungen, Bezügen und Querverweisen. Mun erhob sich von seinem Lager. Angesichts der Hölle, die Ferenech durchlitten hatte, erschien es ihm nicht schicklich, länger als unbedingt notwendig seiner eigenen Bequemlichkeit zu frönen. Für ein paar Sekunden stand er einfach nur da, unschlüssig, was er tun sollte. Schließlich, nach einem letzten Blick auf den Draawen, kleidete er sich an und verließ die Stillkammer.
»Es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen, nicht der Besitz sondern sein Erwerb, nicht die Reise, sondern der Weg, die uns den größten Genuss gewähren.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im zweiten Ausbildungsjahr.
3. »Komm schon, verdammter Bengel! Mach endlich die Augen auf!« Irgendjemand hatte Mun an den Schultern gepackt und schüttelte ihn unsanft. War er tot? Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war die Finsternis im Brunnenschacht und das leise Plätschern des eisigen Wassers. »Wach auf!« Die Stimme klang schrill und ungeduldig. Hatten ihn die Räuber am Ende doch gefunden und aus dem Brunnen gezogen? Wollten sie ihn an einem fernen Ort als Sklaven verkaufen oder gar noch schlimmere Dinge mit ihm anstellen? Nein, Mun wollte nicht aufwachen, wollte nicht in eine Welt zurückkehren, in der es Mam und Pap nicht mehr gab und die nichts als Leere und Einsamkeit für ihn bereithielt. Warum ließ man ihn nicht sterben? »Ich weiß, dass du bei Bewusstsein bist, Bursche. Verkauf mich nicht für dumm, oder ich ziehe dir den Hosenboden stramm!« Ein lautes Klatschen, dann ein brennender Schmerz an der rechten Wange. Mun schrie vor Schreck, wollte aufspringen und davonlaufen, doch zwei kräftige Hände drückten ihn zu Boden. Er blinzelte in grelles Tageslicht, sah einen Schatten vor sich aufragen, wollte um sich schlagen, sich befreien, aber der andere war zu stark. »Halt endlich still, bei allen Geistern Peerokams!«, sagte der Unbekannte. »Niemand wird dir etwas tun. Die Bande ist längst weitergezogen.« Mun beruhigte sich langsam. Nun kam ihm die Stimme des Fremden gar nicht mehr so scharf und feindselig vor. Der Blick des Jun-
gen klärte sich. Dass der Mann, der da vor ihm kniete und mit großen, blauen Augen auf ihn hinabstarrte, kein Mensch war, sah man sofort. Ein zwar humanoider, jedoch spindeldürrer Körper steckte in einem dunkelblauen Mantel. Der lange schmale Kopf mit der schneeweißen Haut wies kein einziges Härchen auf. Selbst die Brauen waren sorgfältig abrasiert. Anstelle einer Nase besaß der Fremde drei von dünnen Membranen überzogene Schlitze. Die zarten Häutchen blähten sich bei jedem Atemzug auf und erschlafften wieder. Als sich die blassen Lippen jetzt zu etwas verzogen, das wohl eine Art Lächeln sein sollte, erkannte Mun zudem, dass sein Retter keine Zähne, sondern zwei massive, gelbgraue Knochenleisten besaß, die seinen Kiefer ausmachten. »Na also«, zeigte sich der Mann zufrieden. »Jetzt sag mir deinen Namen, Kind.« »Mun …«, erwiderte Mun zögerlich. »Mun Lanaka.« Der Fremde nickte. »Gut, Mun«, gab er sich zufrieden. »Ich bin Alman a Sant. Du hattest großes Glück, dass ich dich rechtzeitig aus diesem Schacht ziehen konnte. Noch eine oder zwei Stunden in dem Eiswasser da unten …«, er deutete mit einem seiner langen, knochigen Finger in Richtung des Brunnens, »… und du wärst erfroren oder ertrunken. Ich beobachte diese feige Mörderbande schon ein paar Tage. Wenn Gorl und seine Spießgesellen nicht vor einer Stunde endlich abgezogen wären …« Mit einem Seufzen stemmte sich Alman a Sant auf die Beine. Er war weit über zwei Meter groß. Nachdenklich musterte er den Jungen vor seinen Füßen. »Geh nach Kalamarrn, Mun. Man wird sich dort um dich kümmern.« »Aber …«, widersprach der Junge und spürte, wie der Kloß in seinem Hals dicker und dicker wurde, »aber, ich … ich kenne dort doch niemanden …« »Hast du keine Verwandten?«, erkundigte sich Alman barsch. Plötzlich klang er wieder wie zuvor. Ungeduldig. Unfreundlich. Erbost. »Keine Tanten oder Onkel oder sonstige Familienangehörige?« Mun schüttelte nur den Kopf.
»Geh trotzdem in die Stadt«, brummte der Mann. »Irgendjemand wird sich deiner schon annehmen. Ich habe bereits zu viel Zeit verloren.« »Kann ich … kann ich nicht bei dir bleiben?« Der Junge nahm seinen ganzen Mut zusammen. Mun wusste nicht warum, aber etwas an Alman a Sant erweckte sein Vertrauen, erzeugte ein unerklärbares Echo in seinem Geist, so als würde er den Mann schon ein ganzes Leben kennen, das viel länger als nur sechs Sonnenzyklen gedauert hatte. Für einen Moment schien Alman überrascht, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er lachte so laut und lange, dass Mun sich schon besorgt umsah, weil er fürchtete, dass Gorl und seine Räuberbande zurückkehren könnten, um nachzusehen, wer hier einen solchen Lärm veranstaltete. Dabei wanderte sein Blick hinüber zum Garek-Gehege. Der reglose Körper seiner Mutter lag nicht weit von der Umzäunung entfernt. Offenbar hatte Alman a Sant die Frau losgebunden, ihre Kleider geordnet und sie zur letzten Ruhe nahe des niedergebrannten Feuers gebettet – direkt neben ihren toten Ehemann. Sofort war der Schmerz wieder da. Was sollte er in Kalamarrn? Er hatte die Stadt nie gemocht – und die Menschen dort erst recht nicht. Die hatten stets von oben herab auf die Familie Lanaka geschaut, auf die schmutzigen Farmer, die am Ende der Welt lebten und in tausendmal geflickten Kleidern herumliefen. Nein, dort würde sich niemand um das Schicksal eines Waisenjungen scheren. Im besten Fall würde man ihn in die Obhut eines Fabrikbesitzers oder eines Schankwirts entlassen, wo er den Rest seines Daseins als billige Arbeitskraft fristen durfte. »Du bist ein lustiger Bengel«, sagte Alman a Sant, atemlos von seinem Lachanfall. »Was sollte ich wohl mit dir anfangen? Weißt du denn nicht, wer ich bin? Hast du noch nie von den Adepten des Zentralarchivs gehört? Ich bin ein Wissensträger, Kerlchen. Ich habe eine Aufgabe, eines Mission, und kann mich nicht um jeden dahergelaufenen Bauernjungen kümmern. Und jetzt troll dich. Wenn du sofort aufbrichst, wirst du vor Einbruch der Nacht in Kalamarrn sein.«
Der hochgewachsene Mann drehte sich demonstrativ um und schritt zum Brunnen. Der gefüllte Holzeimer stand auf der Brunnenmauer. Alman a Sant nahm die Schöpfkelle und trank. Danach füllte er eine metallene Flasche mit dem kühlen Nass und befestigte sie am Gürtel seiner Hose, die er unter dem Mantel trug. Schließlich ging er in die Knie und überprüfte den Inhalt eines großen Leinensacks, der offenbar seine Habseligkeiten enthielt. Daneben lehnte ein fast zwei Meter langer, dicker Wanderstab. Mun kämpfte mit den Tränen, und er hasste sich selbst dafür. Warum konnte er nicht so groß und stark wie sein Vater sein? Pap hätte dem eingebildeten Wissensträger, was immer das auch sein sollte, die Tracht Prügel seines Lebens verpasst. Danach hätte Alman a Sant Mun nie wieder als »dahergelaufenen Bauernjungen« bezeichnet. Aber Mun war nicht groß und nicht stark. Er war ein sechsjähriger Junge, der nicht verstand, was geschehen war. War seine kleine Welt nicht gestern noch in Ordnung gewesen? Hatte sein Vater ihm nicht vor ein paar Tagen versprochen, ihn mit zur Aussaat zu nehmen und ihm zu zeigen, wie er die Gareks vor den Pflug spannte? Wie konnte sich all das in einer einzigen Nacht in Nichts auflösen? In diesen Minuten fällte Mun einen Entschluss. Er würde nicht nach Kalamarrn gehen. Er würde sich Alman a Sant anschließen, ob dieser es nun wollte oder nicht. Er würde dem hageren Adepten einfach folgen, wohin dieser auch gehen mochte. Das konnte ihm niemand verbieten. Mit neuem Mut sprang er auf. Im ersten Moment erfasste ihn leichter Schwindel. Nur mit Mühe hielt er sich aufrecht. In seinen Eingeweiden rumorte es. Das war nicht ungewöhnlich, schließlich hatte er seit mindestens eineinhalb Tagen nichts mehr gegessen. So schnell ihn die wackligen Beine trugen, rannte er ins Haus hinüber. Der fleckige Lederbeutel des Vaters hing an einem Haken in der Abstellkammer. Pap hatte darin alles Mögliche transportiert. Mun riss ihn an sich und stopfte hinein, was er gerade finden konnte – und was die Räuber übrig gelassen hatten. In einer der Küchenschubladen fand er ein langes Messer. Auf der
Anrichte lagen zwei keimende Kitritts, scharf schmeckende Gemüsepflanzen, die die Mutter im kleinen Garten hinter dem Haus gezogen hatte. In der Holzkiste unter dem Waschzuber wartete das alte Brot darauf, verfüttert zu werden. Mun sortierte hastig einige der weniger angeschimmelten Stücke aus und verstaute sie mit den bislang gesammelten Dingen in dem Beutel. Aus seinem Zimmer holte er ein paar Kleider zum Wechseln, aus der Truhe die hölzerne Flöte und seine bunte Kreide. Der Schrank, in dem Kelt Lanaka die Flinte aufbewahrt hatte, war zertrümmert worden; die Waffe fehlte. Gorl und seine Kumpane hatten sie wohl gestohlen. Letztlich hätte Mun aber ohnehin darauf verzichtet, sie an sich zu nehmen. Alman a Sant würde es vermutlich alles andere als amüsant finden, wenn ihm ein Sechsjähriger mit einem geladenen Jagdgewehr folgte. Zum Schluss griff sich der Junge einen der beiden Wasserschläuche, die sein Vater immer mitgenommen hatte, wenn er losgezogen war, um die Felder zu bestellen. Als Mun aus dem Haus und von der Veranda auf den Vorplatz trat, war Alman a Sant verschwunden. Im ersten Moment erfasste ihn Panik, doch dann sah er die schmale Silhouette des Adepten auf der Spitze des Hügels hinter der Farm. Der Wissensträger hatte sich den Leinenbeutel auf den Rücken geschnallt und bewegte sich mit gemächlichen Schritten in Richtung Wald. Mun hetzte zum Brunnen hinüber und füllte den Wasserschlauch. Der Lederbeutel war inzwischen ziemlich schwer. Für Selbstzweifel war es jetzt zu spät. Wenn er Alman a Sant nicht verlieren wollte, musste er sofort aufbrechen. Der Junge drehte sich nicht mehr um, als er den Hügel erklomm. Der Anblick der toten Eltern, die er nicht einmal hatte ordentlich begraben können, hätte ihm vermutlich auf der Stelle jene Entschlossenheit genommen, von der er sich bis heute fragte, wie er sie damals hatte aufbringen können. Mun Lanaka verließ den Ort, an dem er sein bisheriges Leben verbracht hatte, ohne zu wissen, was die Zukunft für ihn bereithielt, denn er hatte alles verloren, was ihm etwas bedeutete.
* Der Adept schreckte aus unruhigem Schlaf hoch. Einmal mehr hatten ihn die Erinnerungen an längst vergangene Tage heimgesucht. Das taten sie immer, wenn er im Zentralarchiv war. Vielleicht lag es daran, dass er sich hier sicher fühlen konnte. Während seiner Reisen musste er trotz des Respekts, der den Wissensträgern in allen Teilen von Less entgegengebracht wurde, jederzeit darauf gefasst sein, sein Leben zu verteidigen. Zum Träumen blieb da keine Zeit. Alman a Sant war ein wichtiges Teil jenes Puzzles gewesen, das er bis heute noch immer nicht vollständig zusammengesetzt hatte. Vier endlos lange Lunarien war er dem Peerer – so hatte dieser sich später selbst bezeichnet – gefolgt. Schon kurz nach dem Verlassen der elterlichen Farm war der Hagere plötzlich verschwunden gewesen. Dann tauchte er unvermittelt vor dem Jungen auf und prügelte ihn mit seinem Stock so heftig durch, dass man die Schmerzensschreie wohl bis nach Kalamarrn hatte hören können. »Ich sage es dir zum letzten Mal im Guten, Rotzlöffel!«, schrie ihn der Wissensträger an. »Es tut mir leid, was dir widerfahren ist, aber glaub mir eines: Ich bin nicht der, dem du dich anvertrauen möchtest. Verschwinde endlich und lass mich in Ruhe!« Mun wartete, bis der Adept außer Sichtweite war, quälte sich dann stöhnend und ächzend auf die Beine, hängte sich den Lederbeutel über die Schulter und folgte Alman a Sant weiter. Natürlich bemerkte ihn der Wissensträger, denn Mun bemühte sich weder um einen besonders großen Abstand, noch versuchte er sich gar vor ihm zu verbergen. Es war ihm egal, ob ihn der Adept bemerkte oder nicht. Es war ihm auch egal, ob Alman ihn ein weiteres Mal verdrosch. Die Schmerzen, die ihm der Peerer mit seinem Stock zufügte, waren nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der in seiner Brust wühlte, den ihm jeder Gedanke an seine Eltern bereitete. Wann immer auch das Gesicht seiner Mutter oder seines Vaters vor seinem inneren Auge auftauchte – es war jedes Mal so, als würde er sie aufs Neue verlieren.
Zweimal war Alman a Sant stehen geblieben, um seinem kleinen Verfolger drohende Blicke zuzuwerfen, doch Mun ließ sich nicht einschüchtern, hatte die Blicke sogar trotzig erwidert. Und dieser Trotz in ihm wurde mit jedem zurückgelegten Kilometer stärker, half ihm, den Schmerz zu verdrängen; zumindest vorübergehend. Aus heutiger Sicht glaubte Mun, dass er damals den Schritt vom Kind zum Erwachsenen vollzogen hatte. Zwangsweise, denn als Kind hätte er die kommenden Sonnenzyklen niemals überlebt. Natürlich war dieser Übergang alles andere als einfach gewesen. Im Gegenteil. Er hatte ihn viel von dem gekostet, was ihn seiner Meinung nach einst ausgemacht hatte. Seinen Glauben an das Gute beispielsweise, den ihm erst Taardar wieder zurückgeben konnte. Oder die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte auf ihre Grundlagen zu reduzieren. Das und mehr hatte er verloren, vieles davon für immer. Als Gegenleistung lernte er Fähigkeiten, auf die er keinen besonderen Wert legte, die er jedoch dringend brauchte, um an Almans Seite zu bestehen. Kaltschnäuzigkeit, Phlegma, vor allem aber Leidensfähigkeit. Er lernte, sein Schicksal zu akzeptieren und die Hoffnung auf Besserung unter einem Mantel aus Duldsamkeit und vermeintlicher Unterwerfung zu verstecken. Hunger und Durst wurden seine besten Freunde, und wenn er sich nachts unter einer dünnen Decke oder einem löchrigen Moospolster zum Schlafen niederlegte, gesellten sich Kälte und Verzweiflung hinzu. Mun erhob sich vom Bett und nahm das Rasiermesser aus seinem Lederbeutel. Die Euphorie der Entbürdung klang noch immer in ihm nach, und er freute sich daher besonders auf das Ritual. Die regelmäßige Rasur war für die meisten der Adepten eine oftmals rituelle Pflicht, derer sie sich mit größtmöglicher Beflissenheit hingaben. Im Zentralarchiv existierten zu diesem Zweck ausgedehnte Waschräume, ein Luxus, den man auf Reisen normalerweise nicht in Anspruch nehmen konnte. Der Tag war noch jung und der Waschraum fast leer. Zwei weitere Adepten sahen kurz auf, grüßten Mun respektvoll und wandten sich dann wieder ihrer Morgentoilette zu. Der Wissensträger zog
seinen Mantel und die restliche Kleidung aus, stellte sich unter eine der zahlreichen Springquellen und ließ sich das warme Wasser über Kopf und Körper laufen. Unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu Alman a Sant zurück. Taardar hatte ihm viele Jahre später die Wahrheit über den Peerer eröffnet, und damit auch den Grund für seine, Muns Berufung zum Adepten. Damals hatte er von all dem natürlich nichts geahnt, denn Alman hatte keine Gelegenheit versäumt, seine körperliche Überlegenheit zu demonstrieren. Bis zum Schluss hatte er Mun nicht als Gleichberechtigten, ja nicht einmal als Schüler oder Freund betrachtet. Auf gewisse Weise erfüllte das den Adepten mit Bedauern. Ja, der Peerer war ein grausamer Tyrann gewesen. Vermutlich hatte er die Misshandlungen, die Schläge und Tritte, die er seinem Zögling, seinem Sklaven bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte angedeihen lassen, sogar genossen. Doch irgendwo tief in seinem erkalteten Herzen war ein Funke Wärme verborgen geblieben. Eine winzige Portion Barmherzigkeit, die sich ab und an, selten zwar, aber immerhin, an die Oberfläche seiner Persönlichkeit wagte. Mun hatte nie wieder einen Adepten kennengelernt, der so zwiespältig und in seinem Verhalten den Idealen der Gilde scheinbar so vehement widersprechend agierte. Wenn der Peerer sich abends am gemeinsamen Lagerfeuer betrank, sich über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Undankbarkeit Muns im Besonderen ausließ, und den Jungen am Ende grün und blau schlug, wertete dieser das als Zeichen der Zuneigung. Der hagere Wissensträger zeigte seine Sympathie eben auf ungewöhnliche Weise. Manch einer hätte Mun ob solcher Interpretationen für verrückt erklärt, und vielleicht war Alman tatsächlich nur ein trunksüchtiger, menschenverachtender Psychopath gewesen, aber er hatte den Sechsjährigen schließlich aufgenommen und ihn vieles gelehrt, von dem der heute Neununddreißigjährige immer noch zehrte. Mun erinnerte sich nur zu gut an jenen Morgen, an dem er unterkühlt, halb verhungert und mit vom harten Boden schmerzenden Gliedern aufgewacht war, mit seinen Kräften am Ende und bereit, einfach nur liegen zu bleiben und auf den Tod zu warten. In der Nacht zuvor hatte er einmal mehr stundenlang versucht, ein Feuer
zu entfachen, doch es war ihm nicht gelungen. Er war Alman a Sant Dianoctum um Dianoctum über die Geröllebene im Vorfeld des Akinosa-Massivs gefolgt, einem der größten Gebirge im Norden des Kontinents. Hier gab es nichts außer Wind und Felsen. Muns karge Vorräte waren längst aufgebraucht, und wenn es nicht einige Tage zuvor geregnet hätte, wäre er verdurstet. Seine Füße steckten in dem, was von seinen Schuhen übrig war, und waren von Blasen und blutigen Schnitten übersät. Nachts zitterte und weinte der Junge sich in den Schlaf, während der Peerer kaum fünfhundert Meter entfernt vor dem Feuer saß und seine Mahlzeiten in einem Blechnapf zubereitete. Am Tag darauf entdeckte Mun durch Zufall ein salamanderähnliches Tier, das in einem Felsspalt stecken geblieben war und sich nicht mehr selbst befreien konnte. Er brach ihm das Genick und würgte das rohe Fleisch hinunter. Kurze Zeit später übergab er sich so heftig, dass er sicher war, sterben zu müssen. Doch er starb nicht. Er lebte und lief. Immer weiter, stets nur den nächsten Schritt vor und Sinnlosigkeit hinter sich. Und dann kam besagter Morgen, an dem seine Reise zu Ende war. Er hatte geahnt, dass ihm dieser Moment früher oder später bevorstand, aber nun überraschte er ihn. Manchmal, wenn er wie das vom Wasser getriebene Rad einer Mühle hinter Alman a Sant hergestolpert war, hatte er geglaubt, es könne ewig so weiter gehen. Während seiner Ausbildung und auch auf seinen späteren langen Reisen war ihm immer wieder bewusst geworden, welch ein erstaunliches Gebilde der menschliche Organismus war, was er zu leisten vermochte und welche Strapazen er imstande war, zu verkraften. Damals aber war die Grenze erreicht. Er konnte nicht mehr. Mun war in eine Art Dämmerzustand gefallen und seltsamerweise waren seine Träume angenehm. Er träumte von heißem, süßem Tee, der auf seine Lippen tropfte, er schmeckte das salzige Aroma einer kräftigen Suppe auf der Zunge, und er spürte, wie sich Wärme in seinen starren Gliedern ausbreitete. Als er schließlich die Augen aufschlug, war der Peerer verschwunden, doch Mun wusste, dass nur er es gewesen sein konnte, der ihm erneut das Leben gerettet hatte. Neben ihm lagen zwei weiche Garek-Felle, ein Paar fester Schuhe,
Obst und getrocknetes Fleisch sowie ein Säckchen mit Zunder und Schwefelhölzchen. Der Junge saß lange Zeit einfach nur da und ließ seinen Tränen freien Lauf. Es tat gut und spülte einen großen Teil des Kummers aus ihm heraus. In diesen Erinnerungen versunken, beendete der Adept seine Rasur und trat an einen der Spiegel heran, die an der Längswand des Waschraums angebracht waren. Kritisch musterte er sein Abbild. Die Zeit hatte ihre Schründe und Klüfte in seinem Gesicht hinterlassen, weit vor der Zeit, denn er hatte nicht einmal die Hälfte seines Lebens erreicht und stand in der Blüte seiner Jahre. Er hatte nie erfahren, welches Alter Alman a Sant erreicht hatte, als dieser in Muns Armen gestorben war. Ebenso war Mun bislang keinem zweiten Peerer auf Less begegnet. Doch die Ahnung, dass sein sadistischer Zuchtmeister sehr alt gewesen sein musste, blieb stets präsent. Das Bild im Spiegel veränderte sich. Mun sah sich selbst zusammenschrumpfen, bis er wieder der verängstigte, sechsjährige Junge war, der gegen ein unbarmherziges Schicksal ankämpfte. Aus dem Waschraum wurde die Geröllebene, die sich in allen Richtungen scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckte, und die für Mun zu einem Synonym für Entbehrung und Standhaftigkeit geworden war. Die folgenden Lunarien nach der Rettung durch Alman a Sant wurden nicht einfacher, aber durch die pechschwarze Wolke, die der Junge bisher als Zukunft gesehen hatte, stachen plötzlich ein paar helle Sonnenstrahlen. Von nun an ließ ihm der Wissensträger ab und zu kleine Geschenke zukommen. Mal fand Mun ein paar in Blätter eingewickelte Wurzeln oder Beeren in einer Astgabel, mal erwachte er vom Duft einer dick mit Geräuchertem belegten Scheibe Brot. Dazwischen jedoch lagen nach wie vor kräfteraubende Fußmärsche durch unwegsames Gelände, kalte Nächte auf steif gefrorenem Boden in einem Gebirge, das nie von Sonnenstrahlen erwärmt wurde, und Ungewissheit, wie es weitergehen sollte. Trotzdem bemerkte Mun nach und nach Veränderungen an seinem Körper. Trotz Mangel und Entbehrung wurde er muskulöser, sehniger. Zwar konnte er, wenn er gelegentlich ein Bad in einem See oder einem Fluss nahm, seine Rippen einzeln
zählen, doch das stundenlange Marschieren machte ihm immer weniger aus. Er lernte, sich mit seiner Umgebung zu arrangieren, seine Kräfte einzuteilen und mit dem zurechtzukommen, was ihm die Natur lieferte. Und dann, eines Tages, stand Alman a Sant zum zweiten Mal vor ihm, so wie damals, kurz nachdem sie die Farm verlassen hatten. Er schien kleiner geworden zu sein, doch in Wahrheit war Mun selbst ein gutes Stück in die Höhe geschossen. Instinktiv nahm er Abwehrhaltung ein, weil er befürchtete, dass der Peerer nur gekommen sei, um ihm eine neue Tracht Prügel zu verabreichen. Stattdessen streckte der Wissensträger ihm wortlos einen frisch geschnittenen Gehstock und seinen Leinensack entgegen. Mun griff zu und Alman a Sant bedeutete mit einer kaum erkennbaren Geste, ihm zu folgen. Zu Beginn glaubte der Junge noch, dass der Adept ihn endlich akzeptiert hatte, doch er musste schnell feststellen, dass das ein Trugschluss war. Für Alman war er kaum mehr als ein nützliches Anhängsel, ein Lakai, der sein Bündel schleppte, Feuerholz sammelte, die Wäsche wusch und all die zahlreichen anderen Kleinigkeiten eines Nomadendaseins erledigte. Dabei konnte Mun seinem Herrn grundsätzlich nichts recht machen, egal wie sehr er sich auch bemühte. Was heute richtig war, war morgen falsch, und auch wenn der Junge etwas genau so tat, wie es ihm der Peerer gezeigt hatte, war der Wissensträger nie zufrieden. Mun akzeptierte die neue Situation dennoch, da sie ihm eine Reihe von Annehmlichkeiten verschaffte. Zum einen musste er nun keinen Hunger mehr leiden. Alman trieb stets etwas zu essen auf, oft sogar mehr, als sie beide brauchten. Wann immer sie an einem Hof vorbeikamen, ein Dorf betraten oder die Nacht in einer städtischen Herberge verbrachten, wurden sie wie die Könige bewirtet. Und wenn sie am nächsten Morgen weiter zogen, drängte man ihnen Brot, Fleisch, eingelegtes Obst und gekochtes Gemüse als Wegzehrung geradezu auf. Als Gegenleistung forderten die derart großzügigen Gastgeber nichts weiter, als dass Alman a Sant von seinen Reisen erzählte. Das erschien Mun zunächst eine geradezu lächerlich geringfügige Ver-
gütung, bis er die erste Geschichte des Peerers gehört hatte. Die sonst so unduldsame und kalte Stimme des Adepten versetzte ihn von einem Moment zum anderen in eine fremde und doch vertraute Welt. Die Worte erzeugten Bilder in seinem Kopf, die so klar und deutlich waren, dass er meinte, das Gehörte selbst zu erleben. Die Berichte des Wissensträgers waren womöglich der Hauptgrund dafür, dass er die Launen und Rohheiten Almans in den kommenden Sonnenzyklen geduldig ertrug und den Tanz des Stocks auf seinem Rücken als etwas Alltägliches hinzunehmen lernte. Daneben begann der Peerer eines Abends damit, Mun zu unterrichten, auch wenn der Junge die Lektionen seines Herrn zunächst gar nicht als Unterricht, sondern als neue Form der Quälerei empfand. Alman a Sant war als Lehrer nämlich nicht minder grausam denn als Gebieter. Oft dauerten seine Unterweisungen, die eher Monologen glichen, mehrere Stunden, und wenn Mun die danach an ihn gerichteten Fragen nicht korrekt beantworten konnte – und das war selten der Fall – setzte es Hiebe. Hinzu kam, dass er sich auf Gebieten wie Algebra, Geometrie oder Sprachenkunde alles andere als talentiert erwies, und selbstverständlich bemerkte das Alman sehr schnell und setzte entsprechende Schwerpunkte. Trotzdem genoss Mun das vermittelte Wissen, wie er nie zuvor etwas genossen hatte. Zweifelsohne war auch sein Vater bemüht gewesen, ihn auszubilden, doch dessen Instruktionen hatten sich stets auf Dinge bezogen, die die Arbeit auf der Farm betrafen. Alman a Sant eröffnete seinem Schüler neue Horizonte, zwang dessen Gedanken in Bahnen, die weit und aufregend waren. Der Schüler lernte fremde Völker und deren Kulturen kennen, erfuhr vom Leben in Städten, die die hundertfache Ausdehnung Kalamarrns besaßen. Er lauschte mit offenem Mund, wenn der Peerer von künstlichen Vögeln erzählte, die Menschen wie mit Geisterhand durch die Lüfte trugen, von Häusern, die höher als der höchste Baum in den Himmel ragten und von Lastkarren, die ohne Gareks fuhren und nur von heißer Luft getrieben wurden. Vieles davon tat Mun zunächst als Märchen ab – natürlich ohne es Alman merken zu lassen –, doch im Laufe der Zeit musste er erkennen, dass alles, was ihm der Adept
erzählte, der Wahrheit entsprach. Nie würde er die erste Ankunft in Lakara vergessen. Schon der klingende Name kündete von den Wundern, die die »Schwimmende Stadt« im Überfluss bereithielt. Und als sie dann vor ihm lag, in all ihrer Pracht und atemberaubenden Schönheit, da konnte er nur stehen und schauen und ihre Köstlichkeit in sich aufsaugen, bis er das Gefühl hatte, zu platzen. Niemals zuvor und niemals danach hatte er wieder etwas gesehen, das ihn so tief berührte wie Lakara – abgesehen vielleicht von Mairee. Das Zentralarchiv mit seinem mächtigen Turm und das sich wie eine Herde schutzsuchender Gareks um ihn herumscharende Häusermeer schienen zu atmen, auf eine Weise zu leben, die selbst der begabteste Schreiber in den Poetischen Tempeln von Pagitur nicht in Worte zu fassen vermochte. Alman a Sant ließ ihm Zeit, all das zu verarbeiten. Vielleicht zeigte er dieses Verständnis deshalb, weil es ihm einst ähnlich ergangen war. Eine Stadt wie Lakara nahm man nicht einfach so hin. Die Entbürdung, von der Mun jetzt erfuhr, schien das Einzige zu sein, das Alman heilig war, und worauf er sich freute, ja sich geradezu danach sehnte. Er lieferte Mun an seinem elften Geburtstag bei einem unglaublich fetten Mann in einer kleinen Taverne am Stadtrand ab und befahl ihm, dort zu bleiben, bis er wiederkam. Der Dicke, der sich als Dubiknarnasandrakar vorstellte und sich die riesigen Pranken ständig an einer fleckigen Lederschürze abwischte, entpuppte sich als überaus freundlicher Mann. Er forderte Mun auf, ihn einfach »Onkel Dubik« zu nennen, führte ihn in die Küche der zwar baufällig wirkenden, jedoch erstaunlich sauberen Herberge, und servierte ihm ein riesiges Stück Kuchen mit frisch geschlagener Sahne. Grinsend sah er zu, wie der Junge die süße Leckerei verschlang, und nahm sich dann selbst eine etwa dreimal so große Portion. Die vier Tage bei Onkel Dubik gehörten zu den bislang schönsten in Muns jungem Leben. Daran hatten aber nicht nur die üppigen Mahlzeiten und das riesige, weiche Bett ihren Anteil. Am ersten Abend lernte der Junge Mairee kennen, als sie vom Markt zurückkehrte. Onkel Dubiks Backwaren waren sehr beliebt, und alle paar
Tage machte sich die zwölfjährige Mairee mit einem Wagen voller Plätzchen, Torten, Hörnchen und ähnlichen Naschereien auf den Weg, sie zu verkaufen. Auch an diesem Abend war der Wagen leer und die Geldbörse, die das Mädchen unter dem Kleid verborgen trug, mit Sicheln und Halbmonden wohl gefüllt. Als Mairee Mun begrüßte und ihn wie selbstverständlich umarmte, ging eine vierte Sonne auf. Wie schon beim Anblick von Lakara konnte er nichts weiter tun, als starren. Auf so etwas hatten ihn sämtliche Belehrungen Alman a Sants nicht vorbereitet. Mairee war genauso groß wie er, und ihre schulterlangen, weißen Haare umrahmten ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und strahlenden, braunen Augen. Das enge Mieder betonte ihre sich gut entwickelnden weiblichen Formen, und den Duft, den sie verströmte, würde Mun wohl nie mehr vergessen. Er übertraf die herrlichen Gerüche in Onkel Dubiks Backstube um Welten. Mairee schien Muns Verlegenheit gar nicht zu bemerken. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in den kleinen Garten hinter der Taverne. Dort zeigte sie ihm ein schmales Beet bunter Blumen und erklärte, dass dies ihr ganz eigener Bereich sei. Mun rang nach Worten, doch seine Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Die Gefühle, die ihn durchströmten, waren so beängstigend sinnverwirrend und gleichzeitig so außerordentlich köstlich, dass sie ihn in einen nie gekannten Zwiespalt stürzten. Er verstand nicht, was da mit ihm geschah, was Mairee mit ihrer bloßen Gegenwart bei ihm auslöste. In der Nacht hatte er einen Traum, von dem er wünschte, er würde niemals enden, und als er am nächsten Morgen das feuchte Laken und die durchnässte Hose bemerkte, schämte er sich so sehr, dass er beides nahm und heimlich im Ofen der Backstube verbrannte. Muns Spiegelbild verzog die Lippen zu einem traurigen Lächeln. Er kleidete sich wieder an, reinigte das Rasiermesser und machte sich auf den Rückweg zu seiner Wohnzelle. Die Erinnerung an Mairee schmerzte auch nach so vielen Jahren wie am ersten Tag. Er hatte sie wiedergesehen. Vier Sonnenzyklen später, als er mit Alman a Sant zum zweiten Mal nach Lakara gekommen war. Sie war zu einer
jungen, bildhübschen Frau gereift und es kam, wie es kommen musste. Sie verbrachten eine gemeinsame Nacht am Seeufer, und Mairee zeigte dem fünfzehnjährigen Mun, was dieser bislang nur von den Zuchttieren seines Vaters oder aus den Erzählungen seines Herrn kannte. Wenn sie durch ländliche Gebiete reisten, waren die dargebotenen Schilderungen oft schlüpfriger Natur gewesen, und Mun konnte sich mit der Zeit zusammenreimen, welchen Vergnügungen Mann und Frau sich gern hingaben. Er begriff daher schnell, was zu tun war, und was Mairee besonders gut gefiel. Viel später lag das junge Paar nackt und nach Atem ringend am Strand. Mun war glücklich, ein Zustand, der genau bis zum nächsten Morgen andauerte. Als die beiden kichernd in Onkel Dubiks Taverne schlichen, wurden sie bereits erwartet, und während Mairees Vater das ungezogene Töchterlein am Ohr aus dem Schankraum beförderte, verprügelte Alman a Sant seinen Schüler derart, dass Mun noch sechs Tage später jeder Knochen im Leibe wehtat. Dennoch hatte sich Mun damals zum ersten Mal gegen Alman aufgelehnt, auch wenn er es besser hätte wissen müssen. Als er dem Peerer damit drohte, ihn einfach zu verlassen und in Lakara bei Mairee zu bleiben, hatte dieser nur müde gelächelt. »Du musst noch viel lernen, Jungchen«, sagte er. »Wenn dir wirklich etwas an dem kleinen Miststück liegt, dann tust du, was ich dir sage. Glaub mir, am Ende wird es dein Schätzchen sein, das den Preis für deinen Starrsinn bezahlt.« Mun hatte sich auf Alman gestürzt, sich der Folgen bewusst, doch von einem Feuer erfüllt, das sich nicht löschen ließ. Der Adept hatte seine Attacken mühelos abgewehrt und seinerseits Hiebe ausgeteilt, bis Mun entkräftet und mit Tränen in den Augen zu Boden sank. Am nächsten Tag ging er wieder gemeinsam mit dem Peerer auf Wanderschaft. Mun schüttelte die letzten Bilder der Vergangenheit ab. Nach diesem Vorfall hatte er Mairee nur einmal wiedergesehen, und danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor. Der Adept erreichte die Wohnzelle, verstaute das Rasiermesser in
seinem Beutel und machte sich auf den Weg zu den Gemeinschaftsräumen. Falls Taardar am Leben war, dann würde er ihn aufsuchen. Mehr als Alman a Sant hatte der alte Draawe sein Schicksal bestimmt. Er hoffte inständig, dass sein Lehrmeister noch lebte.
»Was wir wissen, ist so unendlich wenig. Niemals wird eine gemacht, ohne dass hundert andere Beobachtungen außer acht gelassen werden. Nie wird etwas beurteilt, ohne dass uns eine boshafte Wahrheit Blick verstellt und durch einen wieder verloren geht.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im zweiten Ausbildungsjahr.
4. Der Draawe tauchte lautlos aus einer Nische auf und stellte sich Mun in den Weg. Er glich exakt dem Exemplar, das ihn am Vortag zur Entbürdung abgeholt hatte, doch ob es sich tatsächlich um denselben Bibliothekar handelte, konnte der Wissensträger unmöglich sagen. Selbst in den Jahren der Ausbildung war es ihm nie gelungen, die Wurmwesen voneinander zu unterscheiden. »Kann ich etwas für dich tun, Adept?«, fragte der Draawe. An das dabei entstehende Knistern in seinem Kopf würde sich Mun wohl nie gewöhnen. »Ich suche einen guten Freund«, antwortete der Adept. »Er heißt Taardar. Kannst du mir helfen, ihn zu finden?« Der Bibliothekar zögerte. »Taardar möchte nicht gestört werden«, sagte er. Er wollte sich umdrehen und davoneilen, doch diesmal verstellte Mun den Weg. »Sag ihm, dass sein Schüler Mun Lanaka ihn zu sprechen wünscht«, blieb er hartnäckig. »Ich bin sicher, dass er seine Meinung dann ändert.« »Das glaube ich nicht«, widersprach der Draawe. »Taardar liegt im Sterben. Die Hirten sind bereits bei ihm, und bereiten ihn auf den Übergang vor.« Der Schreck fuhr Mun wie ein Blitz in die Glieder. Also war er zu spät gekommen. Mit »Hirten« meinte der Draawe die Neewen, die unter anderem auch dafür verantwortlich waren, sterbende Bibliothekare für ihre letzte Reise, den Übergang zu präparieren. Die Her-
ren des Zentralarchivs machten um ihre Toten kein großes Aufhebens, aber unter jeder Schülergeneration kursierte ein Gerücht, das von einem geheimnisvollen fünften Kreis, dem Kreis des Bewusstseins, sprach, der sich angeblich unter dem Expar befinden sollte und in den die Wurmwesen nach ihrem Ableben eintraten. Mun hatte lange nach konkreten Hinweisen auf solcherlei Behauptungen gesucht, jedoch nie welche gefunden. Wohin die Leichen der Bibliothekare letztendlich verschwanden, wusste niemand. »Ich bitte dich inständig«, brachte er heiser heraus, räusperte sich und fuhr fort: »Geh zu ihm und nenne ihm meinen Namen. Es würde mir die Welt bedeuten, ihn noch einmal zu sehen.« Erneut zögerte der Draawe, dann jedoch neigte er den Oberkörper zum Einverständnis. »Warte hier«, bat er. Mit feuchten Augen sah Mun dem Bibliothekar nach, der ohne sichtbare Eile um die Biegung des Ganges verschwand. Der Adept fröstelte. Auf einmal schienen die dicken Wände um ihn herum keinen Schutz mehr zu bieten, sondern sich bedrohlich zusammen zu schieben und ihn erdrücken zu wollen. Die Stille im Kreis der Besinnung war nicht mehr sanft und tröstlich, sondern aufdringlich und Furcht einflößend. Mun hatte das Gefühl, schon seit Tagen in diesem Gang zu stehen, gleichsam mit dem rötlichen Stein um ihn herum verwachsen zu sein. All die Schmerzen, die unaussprechlichen Qualen, die die Draawen während ungezählter Entbürdungen durchlitten hatten, waren in die Mauern des Zentralarchivs eingesickert, hatten sich dort über Jahrtausende angesammelt und brachen jetzt wie eine Flutwelle über den Wissensträger herein. Die entsetzlichen Schreie der Bibliothekare, die das lustvolle Stöhnen der Adepten mühelos übertönten und der wahre Grund für die Isolation der Stillkammern waren, erzeugten ein ständig lauter werdendes Echo in seinen Ohren, neben dem nichts anderes Bestand hatte. Die Kälte um Mun nahm zu. Für einen Moment glaubte er wieder im Brunnenschacht auf der Farm seiner Eltern gefangen zu sein, zu spüren, wie das eisige Wasser die Wärme aus jeder einzelnen Körperzelle saugte. Blaue Blasen erschienen aus dem Nichts, schwebten durch die frostige Luft und zerplatzen geräuschlos, als sie an die
Gangwände stießen. Er war nicht mehr allein! Er war nicht mehr im Zentralarchiv! Etwas geschah; etwas, das die Ordnung der Welt gefährdete. Er war … »Adept? Adept Mun, geht es dir gut?« Die Stimme riss ihn gewaltsam in die Realität zurück. Keuchend füllte er seine Lungen mit Luft, so als wäre er gerade vom Grund des Kratersees aufgetaucht. Sein Körper war in Schweiß gebadet. Der Draawe vor ihm schwankte hin und her. Es dauerte lange Sekunden, bis Mun merkte, dass es nicht der Bibliothekar war, der sich bewegte, sondern er. Er trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. »Ja, es … es geht mir gut«, antwortete er und wischte sich mit dem rechten Ärmel seines Mantels das Gesicht trocken. Langsam beruhigte sich sein rasendes Herz. Was war das gerade gewesen? Etwas Ähnliches hatte er noch nie zuvor erlebt. Er versuchte, sich auf den Nachhall des Phänomens zu konzentrieren, doch da war nichts mehr übrig. Nur ein kaum merklicher Druck, der auf seinem Geist lastete, und den er nicht exakt lokalisieren konnte. »Folge mir, Adept Mun«, sagte der Draawe. »Taardar wird dich empfangen. Sei dir jedoch bewusst, dass er sehr schwach ist.« »Ich danke dir«, entgegnete der Wissensträger, jetzt wieder gefasster. Sein Führer lotste ihn an den Eingängen zu den Stillkammern vorbei in die inneren Bereiche des Kreises der Besinnung und von dort über eine enge Röhre hinein in den dritten Kreis, den Kreis der Beständigkeit. Hier residierten die Neewen, die im Gegensatz zu ihren übrigen Artgenossen nur eine rudimentäre Intelligenz besaßen und größtenteils ihren Instinkten gehorchten. Sie lebten nicht in einzelnen Wohneinheiten, sondern zu Tausenden gemeinsam in großen Hohlräumen. Taardar war in einer gut gewärmten Kammer aufgebahrt, in der nur ein einziges, schwaches Gaslicht brannte. Er lag in einer mit Kissen ausgepolsterten Mulde, bedeckt von mindestens zwei Dutzend Neewen, die seinen faltigen Körper wie ein Nest hungriger Schlangen umschwärmten. Einige der Wurmwesen benetzten die Haut des
alten Bibliothekars beständig mit Wasser, um sie zu kühlen. Andere massierten die Muskelstränge um die Körpermitte herum, die im Alter verhärteten und die Bewegungsfähigkeit einschränkten. Wieder andere tupften mit weichen Tüchern das Sekret ab, das aus den weit geöffneten Poren austrat. Gesunde Draawen konnten Menge und Viskosität kontrollieren. Mun trat ans Lager seines Lehrmeisters. Die Kopffühler des Bibliothekars zuckten, seine dünnen Ärmchen tasteten ziellos umher. Der Adept nahm Taardars Hände in die seinen. Draawen hatten keine Augen, und doch spürte der Adept sofort, dass Taardar ihn erkannte. »Verzeih die übertriebene Fürsorge meiner Brüder«, wisperte der Sterbende. »Sie glauben, der Tod sei ein unheilbares Leiden und man müsse den Erkrankten die letzten Stunden mit Isolation und ermattendem Müßiggang vergällen. Dabei ist das Beste im Grunde das Letzte im Leben, denn dafür wird alles gemacht. Darauf läuft alles hinaus.« »Ihr hattet schon immer ungewöhnliche Ansichten, Meister«, sagte der Adept und lächelte. »Was ist Sterben anderes als Heimkehr?«, erwiderte Taardar. »Wir gehen dorthin zurück, von wo wir gekommen sind. Dass wir unsere Herkunft vergessen haben, ist dem Tod nicht anzulasten. Und wer sich vor der Dunkelheit fürchtet, der hat nur zu lange im Licht gelebt.« »Es freut mich auch, Euch wieder zu sehen.« Mun drückte vorsichtig die Hände seines einstigen Lehrers. Es fiel ihm nicht leicht, die Tränen zurückzuhalten. Er wusste, dass Taardar kein Freund von Sentimentalitäten war. »Es ist gut, dass du hier bist, Mun«, wurde der greise Draawe übergangslos ernst. »Nicht, dass ich auch nur einen Moment an dir gezweifelt habe, aber das Schicksal hat seine Art, alte Narren zu übertölpeln.« »Ich dachte, Ihr glaubt nicht an so etwas Unbestimmtes wie Schicksal, Meister«, wandte der Wissensträger ein. Ihm war nicht klar, was der Greis meinte.
»Werde nicht vorlaut, Junge«, gab Taardar zurück. »Schicksal ist nur ein anderer Begriff für die gesammelten Fehler, die man gemacht hat. Sie sollen als Mahnung gereichen, jedoch nicht die Handlungen bestimmen. Hast du etwa alles vergessen, was ich dir beigebracht habe?« »Natürlich nicht, Meister«, sagte Mun leise, und nun versagte ihm doch beinahe die Stimme, »nicht ein einziges Wort …«. Taardar war mehr für ihn gewesen als nur Lehrer, sondern auch Ersatzvater und Seelentröster. Er hatte Mun vorurteilsfrei aufgenommen. Hatte ihn als das akzeptiert, was er war, den etwas schwerfälligen Verstand eines Bauerntölpels mit Geduld und Geschick geformt und geschärft und ihm dabei geholfen, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und das Leben als etwas zu begreifen, das dem Ausgleich von Missverhältnissen diente. »Vergiss Begriffe wie Rechte und Pflichten«, hatte Taardar oft gesagt. »Mach dich frei von dem, was andere von dir erwarten, was du glaubst, tun zu müssen, um dir deinen Platz in der Welt da draußen zu erobern. Wenn du wissen willst, was wirklich von Bedeutung ist, dann musst du dir nur eine einzige Frage stellen: Was lässt du zurück? Das, was bleibt, wenn du nicht mehr bist, ist das, worauf du deine Aufmerksamkeit zu richten hast.« »Sprichst du von Dingen wie einem Gedicht, einem Lied oder einem Buch? Wichtig ist also, was wir aus unserer Fähigkeit des Schaffens gewinnen, wenn wir Getrenntes zusammenfügen, wenn wir aus Bruchstücken etwas bilden, das mehr ist als die Summe seiner Teile?« »Halt den Mund, du dummer Junge«, reagierte Taardar scharf darauf. »Wenn du nur Phrasen dreschen und auswendig Gelerntes dahersagen kannst, dann ist das Geschenk der Sprache an dich verschwendet. Ein Gedicht ist nichts, wenn es niemand rezitiert. Ein Lied ist stumm, wenn keiner es anstimmt. Ein Buch ist sinnlos, wenn es niemand liest. Das wahrhaft Bleibende findest du nur in den Köpfen und Herzen. Das Bild eines Sonnenaufgangs über den Dächern Lakaras, die Erinnerung an jemanden, der dir etwas bedeutet, das Echo eines anregenden Gesprächs, das dir neue Erkenntnisse und
Einsichten beschert hat. Bleibendes, das merke dir, Mun, existiert nur abseits der Notwendigkeiten. Eine Scheibe Brot verschafft dir unmittelbare Befriedigung, ein Glas Wasser stillt deinen Durst für ein paar Stunden. Doch aller Unmut, aller Ärger, jede Form der Unzufriedenheit resultiert aus der tief in jedem Lebewesen verwurzelten Ahnung, dass ihm etwas fehlt, etwas, das man niemals erlangen kann: Erkenntnis!« »Aber dann ist unsere Suche nach Wissen sinnlos, Meister«, wandte Mun ein. »Was ist der Zweck des Lernens, wenn am Ende nicht die Erkenntnis steht?« »Eines Tages wirst du es vielleicht verstehen«, sagte Taardar. »Doch bis dahin hast du noch Zeit. Sehr viel Zeit.« In diesen Minuten, da er am Sterbebett seines Meisters stand, glaubte der Adept zu begreifen, was der Draawe einst gemeint hatte. Taardar war seinen Weg bis zum Ziel gegangen. Er hatte die Antworten auf viele Fragen gesucht und gefunden. Zumindest jene Antworten, die die Welt der Lebenden bereithielt. War die Angst vor dem Tod in Wahrheit nicht die Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten? So viele der auf Less praktizierten Religionen predigten, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang war, dass der Körper sterben mochte, doch der Geist ewig weiterlebte. Wozu dann die Furcht? Warum die Trauer? »Ich hoffe, Meister«, sagte Mun, »dass ich nur einen winzigen Teil Eurer Weisheit besitze, wenn meine Zeit einmal gekommen ist.« »Schluss mit den Schmeicheleien«, entgegnete Taardar. »Ich habe dir zum Abschied noch ein paar Dinge zu sagen, und das Schicksal des Zentralarchivs hängt davon ab, dass du mir genau zuhörst …« * Zwei Lunarien, nachdem der fünfzehnjährige Mun die Seestadt Lakara mit Alman a Sant verlassen hatte, wurde er von seinem Lehrer in Kampftechniken unterwiesen. Die ersten Übungen waren eher harmlos. Der Peerer zeigte ihm, wie man die Balance hielt, wie man einfache Schläge blockte, und, sollte man einmal zu Boden gehen,
wie man sich geschmeidig abrollte. Mit der Zeit stieg der Schwierigkeitsgrad. Der Adept brachte dem Schüler bei, wie man Stockschläge abwehrte, Angriffen auswich und seinerseits konterte. Zu Beginn stellte sich Mun nicht gerade besonders geschickt an. Der Umstand, dass er aus seiner Unerfahrenheit heraus regelmäßig derbe Schläge einstecken musste, kümmerte ihn wenig, da er Prügel gewohnt war. Je länger die Ausbildung durch den Wissensträger jedoch andauerte, desto flinker und taktisch klüger agierte er, und schon bald musste sich Alman ziemlich anstrengen. Natürlich war der Peerer weiterhin klar überlegen; darüber machte sich der junge Mun keine Illusionen. Immerhin nahm die Anzahl der blauen Flecken und Prellungen an seinem Körper stetig ab. Das lag auch daran, dass er in den wenigen Stunden, in denen ihn Alman nicht in Anspruch nahm, allein trainierte, an seinen Reflexen arbeitete und Finten und Täuschungsmanöver einstudierte. Eines Abends forderte ihn Alman a Sant überraschend auf, ihn in ein nahes Wirtshaus zu begleiten. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise zog der Peerer allein los, um sich zu betrinken, während Mun zurückblieb und Kleider flickte, bestimmte Pilze suchte, die Alman trocknete und regelmäßig rauchte, das Rasiermesser des Adepten schärfte und all den anderen kleinen und großen Pflichten nachkam, die ihm sein Herr über die Jahre nach und nach auferlegt hatte. Sie hatten ihr Lager in der Nähe einer winzigen Ortschaft aufgeschlagen und einige der Bewohner, ausschließlich Menschen, waren am späten Nachmittag mit Proviant und Geschenken angerückt und hatten den Wissensträger in die einzige Schenke ihres Dorfes eingeladen. Die Nachricht von der Ankunft eines Adepten des Zentralarchivs hatte sich wie üblich schnell verbreitet, und als Mun zusammen mit Alman die Schankstube betrat, verschlug es ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Atem. Der Raum war mit fünfzig bis sechzig Personen hoffnungslos überfüllt. Sie hockten auf Stühlen, drängelten sich auf der Treppe, die ins obere Stockwerk des Gebäudes führte, standen dicht an dicht am Tresen oder hatten sich mangels Alternativen einfach auf den Boden gehockt. Die Luft wirkte wie Nebel und war so dick, dass
man sie buchstäblich greifen konnte. Es stank nach Schweiß und Alkohol. Alman a Sant orderte zwei große Humpen eines Getränks, das er Skok nannte, und das grauenhaft schmeckte. Als Mun mutig den ersten Schluck nahm, bekam er einen Hustenanfall und würgte den größten Teil der pechschwarzen Flüssigkeit unter dem grölenden Gelächter der Umstehenden wieder hervor, doch dann siegte sein Stolz. Trotzig stürzte er den Inhalt des Humpens hinunter und schaffte es diesmal tatsächlich, alles bei sich zu behalten. Sein Herr gab in den folgenden beiden Stunden eine Reihe von Geschichten zum Besten, die sich hauptsächlich um irgendwelche Heldentaten drehten und in denen er selbst die Hauptrolle spielte. Mun vermutete schon seit Längerem, dass es sich dabei um frei erfundene Ereignisse handelte, denn während der gemeinsamen Sonnenzyklen mit Alman hatten sich ihre Abenteuer auf gelegentliche Wirtshausschlägereien und Begegnungen mit mehr oder weniger gefährlichen Wildtieren beschränkt. Die Zuhörer waren aber begeistert und brachten ihre Verzückung mit immer neuen bis zum Rand gefüllten Humpen zum Ausdruck, die sie vor den Wissensträger und seinen Begleiter hinstellten. Es dauerte nicht lange, bis sich die Welt vor Mun zu drehen begann, und er eine höchst angenehme Leichtigkeit in den Gliedern verspürte. Er merkte erst spät, dass der Geräuschpegel im Schankraum deutlich niedriger geworden war, ja dass beinah Totenstille herrschte. Wie durch eine Wand aus Tuchballen hörte er die laute Stimme des Peerers. »Ja, ihr habt richtig gehört: Zwei Sonnen für den, der den Jungen im Faustkampf besiegt!«, rief Alman a Sant. »Ich habe ihn persönlich trainiert, und er hat mir noch vorhin selbst versichert, dass er jeden hohlköpfigen Dorfgimpel in dieser Schenke, der es wagt, ihn herauszufordern, in Grund und Boden stampfen wird.« Mun war schlagartig nüchtern. Was redete der Adept denn da? Mit großen Augen musterte er die Umstehenden, die jetzt eine dichte Traube um ihn und seinen Herrn bildeten und ihn mit glasigen Blicken anstarrten, die Münder zu einem breiten Grinsen verzogen.
Offenbar gab es keinen Einzigen im Raum, der das Angebot Almans nicht mit Freude angenommen hätte. Kein Wunder: Zwei Sonnen waren nicht nur für einen Stadtbewohner eine immense Summe; hier draußen mussten sie ein Vermögen sein, und vermutlich hatte keiner der Anwesenden jemals so viel Geld auf einmal zu Gesicht bekommen. Zudem erschien die zu lösende Aufgabe leicht, denn der dünne, heranwachsende Mun vermittelte nicht gerade das Bild eines unbesiegbaren Meisterkämpfers. »Aber, Herr …«, protestierte der Junge. »Ich kann doch nicht …« »Zwei Sonnen!« Der Peerer ignorierte seinen Schützling und schlug mit der Faust auf den Tisch, an dem er saß. »Sofort und gleich ausbezahlt an den, der Mun niederschlägt, dass er nicht mehr aufstehen kann.« Das Geschrei, das anhob, war ohrenbetäubend. Die Männer drängelten, und erst als Alman einige energische Worte sprach, kehrte wieder Ruhe ein. Ein bulliger, knapp über zwei Meter großer Hüne, vor dem die anderen respektvoll zurückwichen, trat schließlich nach vorn und baute sich vor dem Wissensträger auf. »Ich bin Koromak«, stellte er sich mit kehliger Stimme und nicht mehr allzu verständlicher Aussprache vor. »Kann ich das Geld sehen?« »Zweifelst du am Wort eines Adepten des Zentralarchivs?«, fragte Alman a Sant drohend. »Nie und nimmer«, beeilte sich Koromak zu versichern und hob beschwichtigend beide Hände, die jeweils die Größe einer von Onkel Dubiks Prachttorten hatten. »Gut.« Alman zeigte sich zufrieden. »Dann lasst uns beginnen.« »Herr …«, klagte Mun und packte den Peerer am rechten Arm. »Das ist nicht Euer Ernst. Gegen den Riesen habe ich keine Chance!« Im nächsten Moment rieb sich der Junge fassungslos die schmerzende Wange. Alman a Sant hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. »Willst du mich beleidigen, verfluchter Bengel?«, zischte er wütend und brachte sein Gesicht ganz nah an Mun heran. Sein Atem roch nach Skok und halb verdautem Essen. »Ich … ich …«, stammelte Mun.
»Ich habe dir alles beigebracht, was du wissen musst«, sprach der Adept weiter. »Mit deinen Fähigkeiten könntest du problemlos ein halbes Dutzend vom Schlage Koromaks besiegen. Also hör auf zu jammern und beweise mir, dass ich meine Zeit nicht an einen Schwächling vergeudet habe!« Er stieß Mun von sich, sodass dieser samt Stuhl nach hinten kippte und unsanft auf den Boden schlug. Erneut brachen die Umstehenden in dröhnendes Gelächter aus. Der Junge rappelte sich hastig auf, geriet jedoch ins Schwanken und landete abermals auf dem Hinterteil. Die Wirkung des vielen Alkohols ließ sich nicht so einfach abschütteln. »Komm schon, Bürschchen«, brummte Koromak und zog Mun auf die Füße. Die riesige Pranke, die er ihm dabei auf die Schulter legte, fühlte sich an wie ein Mühlstein. »Bringen wir es hinter uns.« Die übrigen Gäste hatten inzwischen Stühle und Tische beiseite geräumt und eine Art Ring gebildet. Koromak schubste sein Opfer in die Mitte der provisorischen Arena und winkelte unter dem Beifall des Publikums beide Arme an. Unter der braunen, dicht behaarten Haut zuckten gewaltige Muskelpakete. Mun warf Alman einen hilfesuchenden Blick zu, doch der Wissensträger hatte sich einen weiteren Humpen mit Skok organisiert und konzentrierte sich ganz auf dessen Inhalt. Die stumme Hoffnung des Jungen, dass sich dieser ganze Alptraum als schlechter Scherz des Adepten entpuppte und dieser dem Schauspiel im letzten Augenblick Einhalt gebot, erfüllte sich nicht. Alman a Sant meinte es offenbar ernst. Da die Menge langsam unruhig zu werden begann, hielt es Koromak wohl an der Zeit, die Kraftmeierei zu beenden und sich seinem Opfer zuzuwenden. Mun wich dem eisten, eher schwerfällig vorgetragenen Angriff mühelos aus, tauchte unter den wirbelnden Fäusten des Hünen hinweg und stand plötzlich in dessen Rücken. Die Sohle seines Stiefels krachte gegen Koromaks Hinterteil. Es war, als hätte er gegen eine Mauer getreten. Der Riese wankte nicht einmal. Er stieß lediglich ein erstauntes Grunzen aus und drehte sich um. Seine nächste Attacke führte er bereits mit deutlich mehr Aufmerksamkeit, doch auch diesmal sprang
Mun rechtzeitig zur Seite. »Was soll das, Bübchen?«, murrte Koromak. »Bleib stehen, dann verspreche ich auch, dir nur die Hälfte deiner Knochen zu brechen.« Im selben Maße, wie sich der Atem seines Gegners beschleunigte, wurde Mun beherrschter. Alman a Sant hatte recht. Er war alles andere als chancenlos. Größe und Kraft eines Kontrahenten waren selten ausschlaggebend für Sieg oder Niederlage. Das war eine der ersten Lektionen, die er gelernt hatte. Die Stärke deines Feindes wird zu seiner Schwäche, wenn er sich ihrer zu sicher ist, hörte er die Worte des Peerers. Deshalb lass ihn glauben, er sei dir grenzenlos überlegen. Mach dich vor ihm zum Gespött und bestätige ihn in der Überzeugung der eigenen Dominanz. Mun täuschte ein Stolpern vor, ließ sich fallen und rollte sich nach hinten weg, als Koromak das vermeintliche Ungeschick ausnutzen wollte und nach vorn stürzte. Sofort stand der Junge wieder aufrecht und glitt gewandt um den heranstürmenden Koloss herum. Diesmal fand sein rechter Fuß die Kniekehle des Widersachers. Koromak stieß einen Schrei aus, mehr aus Wut denn aus Schmerz, und knickte ein. Seine Arme wirbelten im Drehen wie Dreschflegel. Mun erhielt einen harten Schlag gegen die Brust und wurde mehrere Meter durch den Raum mitten hinein in die Wand der Zuschauer geschleudert. Jeden Kampf führst du zunächst gegen dich selbst und dann erst gegen andere, sprach Alman a Sant in seinem Geist. Es gibt keine schlimmeren Feinde als die, die in dir wohnen. Zorn und Unbeherrschtheit. Selbstüberschätzung und Arroganz. Egoismus und Gedankenlosigkeit. Sie sind es, die du fürchten und niederwerfen musst. Jeden Tag aufs Neue! Koromak war nun sichtlich verstimmt. Er hatte wohl mit einem schnellen und vor allem mühelosen Erfolg gerechnet. Zudem fürchtete er vermutlich den Spott seiner Kumpane, die bereits hämische Bemerkungen machten. »Was ist los, Koro?«, höhnte einer. »Brauchst du etwa Hilfe?« »Hast wohl zu viele Humpen gestemmt«, lachte ein anderer. »Soll ich deine Frau holen, damit sie dich ins Bett bringt?« »Der Kleine ist dir über«, lästerte schließlich der Dritte. »Vielleicht
solltest du einen von uns ranlassen.« Das brachte das Fass zum Überlaufen. Koromak machte es Mun viel zu leicht, als er wie eine Lawine auf ihn zurollte. Anscheinend wollte er ihn mit seiner reinen Körperfülle bezwingen, ihn einfach unter sich begraben. Der Junge wartete geduldig, bis ihn der Mann beinahe erreicht hatte. Er fühlte die Ruhe, die ihn durchströmte, dirigierte sie ins Zentrum seines Körpers und ließ sie sich von dort in alle Richtungen ausbreiten. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, die Bewegungen Koromaks wurden immer schleppender. Wie im Traum wechselte Mun die Position, ließ Koromak an sich vorbeirasen und rammte ihm das Knie mit voller Wucht in die Magengrube. Der Hüne brach zusammen, und Muns Handkante drosch in seinen fleischigen Nacken. Mit einem dumpfen Stöhnen krachte Koromak endgültig zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Mun konnte sich später nicht mehr daran erinnern, was danach passiert war. Ihm war plötzlich kalt und er sah seine Umgebung in verwischten Blautönen. Offenbar hatte ihn Alman zurück zu ihrem Lagerplatz geschleppt, denn als er am nächsten Morgen mit hämmerndem Schädel und schmerzender Schulter aufwachte, lag er neben dem heruntergebrannten Feuer, während der Wissensträger bereits damit begonnen hatte, ihre Sachen zusammenzupacken. »Steck deinen Kopf in den Bach«, grinste er wissend und deutete in Richtung des leise plätschernden Wasserlaufs, kaum mehr als zehn Schritte von ihrem Ruheplatz entfernt. »Und beeil dich. Ich kann nicht ausschließen, dass dein Freund Koromak auf die Idee kommt, für die gestern erlittene Schmach eine Revanche zu fordern. Übrigens: Du hast dich recht annehmbar geschlagen.« Mun war gerührt und vergaß sogar seine Kopfschmerzen. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihn der Peerer in all den Jahren auch nur ein einziges Mal gelobt hatte. Zwei Sonnenzyklen später, Mun stand kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag, erreichten sie erneut Lakara. Der Adept erhielt den Ruf und machte sich auf den Weg zum Zentralarchiv, sein Zögling suchte stattdessen Onkel Dubik auf, der ihn wie einen lange verlorenen Sohn empfing und so heftig an seinen feisten Leib drückte, dass
er zu ersticken drohte. »Mairee ist oben in ihrem Zimmer«, sagte er schließlich und zwinkerte Mun vertraulich zu. »Sie wird erfreut sein, dich zu sehen.« Der Junge musterte Onkel Dubik verwirrt. »Oh«, lächelte der dicke Schankwirt, als er Muns Befangenheit bemerkte. »Falls du dir Sorgen um das machst, was beim letzten Mal passiert ist: Ich persönlich finde, ihr beiden passt wunderbar zusammen. Allerdings lege ich mich nicht mit Alman an und stelle schon gar nicht seine Entscheidungen in Frage. Er glaubte damals zu wissen, was für dich am besten ist.« Er trat auf Mun zu und legte seine großen Hände mit den fettigen Wurstfingern auf dessen Schultern. »Du bist alt genug zu wissen, was du willst, mein Junge«, sagte er ernst. »Und du bist alt genug, um für das, was du tust, die Verantwortung zu übernehmen.« Mun hatte in den beiden vergangenen Sonnenzyklen oft an Mairee gedacht und der Schmerz, den er dabei in der Brust verspürte, machte ihn jedes Mal rasend. Alles, was Alman a Sant ihm jemals angetan hatte, verblasste zur Bedeutungslosigkeit gegenüber der Tatsache, dass sich der Peerer zwischen ihn und Mairee stellte. Ja, der Adept hatte ihm das Leben gerettet, ihn letztlich sogar aufgenommen, ihn, den dummen und unerfahrenen Waisenjungen. Er hatte ihn gefüttert, gekleidet und unterrichtet, doch Mun war der Ansicht, diese Schuld mit seiner Rolle als besserer Sklave bezahlt zu haben. Alman hatte kein schlechtes Geschäft gemacht, und vielleicht war genau das der Grund, warum er seinen Zögling nicht gehen lassen wollte. Diesmal würde sich Mun nichts mehr vorschreiben lassen. Und mit Schlägen würde ihn der Wissensträger nicht mehr überzeugen können. Onkel Dubik hatte es gesagt. Er war jetzt alt genug, um sein eigenes Leben zu leben, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, und falls Alman glaubte, das mit Stockhieben ändern zu können, würde er eine unangenehme Überraschung erleben. Mairee war reifer und bezaubernder geworden. Sie empfing ihn, als wäre er nie weg gewesen. Zusammen gingen sie auf den Markt, wo er ihr half, die Backwaren ihres Vaters zu verkaufen. Die Sonnen
schickten Licht und Wärme über eine Stadt, die vor Geschäftigkeit überzukochen schien, und Mun in seinem Willen, das Nomadenleben endlich aufzugeben, nur bestärkte. Als sie in die Schenke zurückkehrten, fanden sie eine kurze Nachricht von Onkel Dubik vor, der ihnen mitteilte, dass er Bäckerei und Wirtshaus für einige Tage geschlossen hatte, um seinen Bruder in Burundun zu besuchen. Burundun zog sich ringförmig um Lakara herum und reichte bis in die steilen Wände des Kraterrings, der die Schwimmende Stadt und das Zentralarchiv weiträumig umschloss. Mairee lächelte, nachdem sie die Nachricht gelesen hatte. Als Mun sie nach dem Grund dafür fragte, sagte sie: »Mein Vater hat keinen Bruder. Was er hat, ist Taktgefühl, und deshalb weiß er sehr genau, wann er stört.« Mit den letzten Worten zog sie ihn die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, in das geräumige Bett, das sie beide in den kommenden Tagen nur selten verließen. An dem Tag, an dem sein altes Leben endete, erwachte Mun sehr früh neben Mairee, die noch tief und fest schlief. Eine Strähne ihrer langen weißen Haare hing ihr ins entspannte Gesicht, fiel in sanften Wellen über Stirn, Nase und Wange und verschwand schließlich hinter der Schulter. Hüte dich vor schönen Frauen, mein Junge, hörte er Alman a Sant mit schwerer Zunge lallen, denn sie fressen dich mit Haut und Knochen, damit sie von dir zehren können, wenn alle Anmut verflogen ist. Mun vertrieb die Erinnerung an den Peerer mit einem unwilligen Kopfschütteln. Was wusste ein betrunkener Schinder wie der Adept schon von Schönheit? Wenn Mairee ihn verschlingen wollte, dann würde er sich nicht wehren. Die Liebe und der Krieg haben viel gemeinsam, kehrte Alman beharrlich in seine Gedanken zurück. Sie sind leicht zu beginnen, schwer zu beenden und bringen stets nur Kummer und Leid. Wütend schlug Mun die Bettdecke zurück. Warum behielt der verdammte Schwätzer seine Weisheiten nicht für sich? Warum musste er sein Gift bei jeder sich bietenden Gelegenheit versprühen, selbst wenn er gar nicht anwesend war? Mairee öffnete die Augen und blinzelte ins erste, durch die halb
geschlossenen Fensterläden fallende Sonnenlicht. »Entschuldige«, sagte Mun zerknirscht. »Ich wollte dich nicht wecken.« »Warum bist du schon auf?«, fragte die junge Frau und zog die Decke wieder über ihren schlanken nackten Körper. »Der vierte Tag ist angebrochen«, antwortete Mun. »Heute kommt er zurück. Und natürlich wird er sofort wieder auf Reise gehen wollen.« Mairee suchte seinen Blick, doch er wich ihr aus. Eine seltsame Unruhe hatte ihn gepackt, eine düstere Ahnung, die ihm die Kraft aus den Gliedern zog und von bedrohlichen Entwicklungen kündete. Nun verließ Mairee das Bett, ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Als sich ihr warmer, weicher Körper an ihn schmiegte, schienen Zweifel und unterschwellige Angst für einen Augenblick zurückzuweichen, aber ganz ließen sie sich nicht vertreiben. »Dann wird es ein guter Tag«, flüsterte sie in sein Ohr. »Denn du wirst ihm sagen, dass du bei mir bleibst und er sich zu den Kraterdämonen scheren kann. Ich habe schon viel zu lange auf dich gewartet.« »Ja«, nickte Mun. »Das werde ich ihm sagen.« Mairee wollte ihn wieder ins Bett ziehen, doch ihm war nicht danach. Sie schmollte ein wenig, lächelte dann aber und begann sich anzukleiden. Auch er suchte seine Sachen zusammen. Nach einem gemeinsamen Frühstück, das hauptsächlich aus Leckereien aus Onkel Dubiks Backstube bestand, schickte Mairee ihn zum Schneider, der ihn tags zuvor genau vermessen und versprochen hatte, die neue Kleidung innerhalb eines Tages anfertigen zu können. Mun empfand es als ungehörig, sich von einer Frau beschenken zu lassen, doch er besaß keinerlei Zahlungsmittel. Alles, was Alman für seine diversen Dienste und das Erzählen von Geschichten verdiente, behielt er für sich. Das war bislang kein Problem gewesen, da er stets für Essen, Kleidung und Unterkunft gesorgt hatte. Wenn Mun ab jetzt in Lakara blieb, musste er sich Arbeit suchen. Vielleicht konnte er sich in Onkel Dubiks Bäckerei nützlich machen. Die neue Garderobe, eine weit geschnittene Hose, ein weißes
Schnürhemd und ein hellblauer, bis zu den Kniekehlen reichender Umhang, passte genau. Mun hatte nie zuvor bequemere Bekleidung getragen, und nun erschien ihm die hohe Summe, die Mairee dafür aufgewendet hatte, eine durchaus angemessene Bezahlung. Er bedankte sich bei dem Schneider und machte sich auf den Rückweg zur Schenke. Schon von Weitem beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Fensterläden von Onkel Dubiks Schenke waren nach wie vor geschlossen. Aus dem Schornstein kam kein Rauch und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass jemand zu Hause war. Hatte sich Mairee etwa noch einmal schlafen gelegt? Nein, das war eher unwahrscheinlich. Der spitze Schrei stach Mun mitten ins Herz. Mairee! Er rannte zur Eingangstür, die direkt in die Schankstube führte. Verschlossen! Jemand hatte von innen den Riegel vorgelegt. Ein zweiter Schrei, länger diesmal, verzweifelter. Mun sah sich um. Der Schuppen! Er rannte zu dem kleinen Holzverschlag hinüber, der sich neben dem Unterstand für den Kuchenwagen befand und in dem Onkel Dubik alles Mögliche aufbewahrte. An der Rückwand des Schuppens waren die Holzvorräte für den mächtigen Ofen in der Backstube fein säuberlich aufgeschichtet. Davor ruhte ein riesiger Hackklotz mit einer hineingeschlagenen Axt. Mun riss sie an sich und stürzte zum Haus zurück. Er versuchte erst gar nicht, durch die massive Holztür zu kommen; das hätte viel zu lange gedauert. Stattdessen wandte er sich einem der Fenster zu. Glas splitterte, der Holzrahmen wurde aus der Verankerung gerissen, und Mun sprang hindurch. Im ersten Moment glaubte er nicht, was er sah. Mairee stand mit dem Rücken zum Tresen im Hintergrund des Raums. Ihr Kleid hing in Fetzen an ihr herunter und ihr Gesicht war zu einem Ausdruck maßlosen Entsetzens verzerrt. Alman a Sant packte sie am Arm, während er sich umdrehte und Mun amüsiert angrinste. »Sieh an, sie an«, lachte er. »Wer hat es denn da so eilig? Such deine Sachen zusammen, Junge. Wenn ich hier fertig bin, brechen wir auf.« »Lasst sie los!«, schrie Mun mit vor Wut zitternder Stimme. »So-
fort!« Der Adept lachte erneut. »Was denn, was denn«, sagte er. »Findest du es etwa fair, dass nur du deinen Spaß mit ihr hast? Aber ich bin gar nicht so. Wenn du willst, kannst du zusehen. Vielleicht lernst du ja etwas dabei.« Damit wandte er Mun wieder den Rücken zu. Mairee wollte sich aus dem Griff des Wissensträgers befreien, doch natürlich hatte sie gegen den wesentlich stärkeren Mann nicht den Hauch einer Chance. Während er die junge Frau mit der Linken am Arm festhielt, schloss sich seine Rechte um ihren Hals. Mairee öffnete den Mund, außer einem erstickten Röcheln drang kein Wort hervor. »Nur die Ruhe, Herzchen«, kicherte Alman a Sant. »Glaub mir, ich habe dir weit mehr zu bieten als die halbe Portion da hinten.« Ohne Warnung sprang Mun nach vorn. Er merkte gar nicht, dass er noch immer die Axt in den Händen hielt und sein Gegner unbewaffnet war. In diesem Augenblick war es ihm egal. Der Adept ließ sich nicht im Mindesten beeindrucken. Sein Kopf ruckte zur Seite, schneller, als es Mun jemals gesehen hatte. Gleichzeitig trat Alman zu und katapultierte seinen Schüler durch die halbe Schankstube, bis Mun gegen einen der dort aufgestellten Tische stieß und zu Boden ging. Die Axt polterte schwer auf die Holzdielen. »Was soll das werden, Junge?«, spottete der Wissensträger. »Glaubst du wirklich, du könntest mich an irgendetwas hindern?« Mun griff von neuem an. Er rannte frontal auf Alman zu und ließ diesen glauben, er sei außer sich vor Zorn. Erst im allerletzten Moment änderte er die Richtung der Attacke, doch auch diesmal blockte der Peerer lässig ab und schlug erbarmungslos zurück. »Das ist die erste Regel des Lehrens, mein Junge«, grinste er Mun an, als dieser sich die schmerzenden Rippen massierte. »Bring deinem Schüler niemals alle Tricks bei.« Ansatzlos schnellte sich Mun nach vorn – und diesmal überraschte er Alman tatsächlich. Noch während er beide Fäuste gegen das Kinn des Adepten führte, ging er in die Knie und tauchte unter den angewinkelten Armen Almans hinweg. Der Peerer bog den Oberkörper nach hinten und nahm so den nachfolgenden Hieben die Wucht.
Dennoch musste er Mairee loslassen und zurückweichen. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Das ist die erste Regel des Lernens, Herr«, sagte Mun kühl. »Armselig ist der Schüler, der seinen Lehrer nicht übertrifft.« »Es freut mich, dass meine jahrelangen Mühen nicht völlig umsonst waren«, bemerkte Alman a Sant. »Offenbar benötigst du nur die richtige Motivation, um über dich hinaus zu wachsen.« Mairee hatte sich eilends hinter den Tresen zurückgezogen und ihr zerrissenes Kleid notdürftig gerichtet. Ängstlich beobachtete sie die beiden Männer, die sich jetzt wie zwei wütende Gruloks umkreisten. »Warum geht Ihr nicht einfach Eures Weges und lasst mich zurück, Herr?«, fragte Mun. »Ich bin Euch dankbar für alles, was Ihr für mich getan und mir beigebracht habt, doch unsere gemeinsame Zeit ist zu Ende. Von heute an muss ich meinen eigenen Weg gehen.« »Hat dir die Dirne derart den Kopf verdreht, dass du nicht mehr klar denken kannst?«, knurrte der Peerer. »Reichen ein hübsches Gesicht und eine ausschweifende Nacht schon aus, um dir die Sinne zu vernebeln? Lass mich dir zeigen, was du noch alles lernen musst …« Alman a Sant war unglaublich schnell, seine Bewegungen kaum auszumachen. Mit bloßen Händen drang er auf seinen Schüler ein. Mun hatte alle Mühe, die unablässig auf ihn niederprasselnden Schläge und Tritte abzuwehren. Er verhielt sich passiv, lauerte auf seine Chance. Geduld ist dein mächtigster Verbündeter, hatte ihn Alman während der langen Trainingsstunden immer wieder ermahnt, denn niemand will es sich heutzutage leisten zu warten. Wenn du auf etwas in dieser Welt bauen kannst, dann ist es die Ungeduld. Der Wissensträger schien sich nicht an seine eigenen Ratschläge halten zu wollen. Je länger ihn sich Mun erfolgreich vom Leib hielt, desto wilder und ungestümer ging er vor. Und schließlich war der Moment da. Mit zwei, drei übergangslos vorgetragenen Attacken durchbrach Mun die von Alman a Sant vernachlässigte Deckung und deckte ihn mit einer Serie von harten Schlägen ein. In den letz-
ten, vor die schmale Brust des Peerers gesetzten Tritt, legte er alle Kraft, Zorn und Bitternis, die sich in den Jahren angesammelt hatten. Der hagere Adept flog durch die Luft und krachte mit dem Schädel gegen den massiven Tresen. Für eine kleine Ewigkeit stand er reglos auf beiden Beinen, dann sank er in sich zusammen wie ein misslungener Hefekuchen von Onkel Dubik. Erschüttert starrte Mun auf den sich schnell dunkel färbenden Mantel des Adepten. Das Blut schoss aus einer breiten Wunde am Hinterkopf. Was hatte er getan? »Mairee!«, stieß er bebend hervor. »Schnell! Wir müssen einen Heiler …« »Halt den … Mund«, fiel ihm Alman a Sant ins Wort. Seine Stimme klang schwach, war aber klar verständlich. »Ein Heiler kann mir nicht mehr helfen. Komm her und hör mir zu«, forderte er seinen Zögling auf. »Du hattest recht. Unsere gemeinsame Zeit … ist zu Ende.« Er verzog schmerzhaft das Gesicht, bevor er weitersprach. »So viele Tage. Und an jedem einzelnen davon hast du mich mindestens ein Dutzend Mal verflucht.« Mun wollte widersprechen, doch der Peerer stoppte ihn mit einer energischen Geste. »Du sollst zuhören, verdammt!«, keuchte er. »Mir bleibt nicht viel Zeit. Du wirst dich zum Zentralarchiv begeben und dort nach einem Draawen namens Taardar fragen. Er weiß, was zu tun ist und wird sich um alles kümmern.« Wieder musste er abbrechen und Atem schöpfen. Seine dünnen Finger tasteten nach Muns Hand. »Du warst ein lausiger Schüler, Junge«, sagte er und grinste sein übliches, abfälliges Grinsen. »Und wahrscheinlich wird sich dir die mathematische Eleganz der astrolaktischen Formeln des Pytaklon niemals erschließen. Aber du besitzt etwas, das wichtiger ist als alles, was ich dich jemals gelehrt habe: Feuer! Es brennt in dir, und selbst mir ist es in all den Jahren nicht gelungen, es zu löschen.« »Ich …« Mun schüttelte den Kopf. »Ich … verstehe nicht.« »Natürlich nicht«, kicherte Alman a Sant. Der Blutfleck auf seinem Mantel umschloss inzwischen fast den gesamten Oberkörper. »Du bist und bleibst eben ein dummer Bauerntölpel. Wenigstens mit dei-
nen Fäusten weißt du umzugehen. Wie ich schon sagte: Es braucht nur die nötige Motivation.« »Herr, Ihr seid …«, setzte Mun an, brachte den Satz jedoch nicht zu Ende. Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften auf sein gerade erst erstandenes Hemd. »Hör auf zu flennen, verdammter Bengel«, flüsterte Alman a Sant. »Ich bin es nicht wert. Aber du … du bist wichtig. Für die Gilde … für unser aller … Zukunft.« Ein letztes Mal kehrte der Glanz in die halb geschlossenen Augen des Peerers zurück. Er packte Mun im Nacken und zog ihn dicht zu sich heran. »Nichts geschieht ohne Grund, Junge«, hauchte er so leise, dass es außer ihnen beiden niemand verstehen konnte. »Es wird nicht leichter werden, aber das Ziel ist aller Mühen wert. Vergiss das niemals.« Erst als Mairee ihn sanft an den Schultern fasste, merkte Mun, dass der in seinen Armen ruhende Alman a Sant längst tot war. Er ließ den leblosen Peerer vorsichtig zu Boden gleiten und verließ Onkel Dubiks Schenke ohne ein Wort.
»Es gibt drei Wahrheiten: Die historische Wahrheit, der wir nachspüren, die persönliche Wahrheit, an die wir glauben und die tatsächliche Wahrheit, die wir nie erfahren.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im zweiten Ausbildungsjahr.
5. Mun schwirrte der Kopf. Sein Besuch bei Taardar hatte viele, längst verdrängt geglaubte Erinnerungen zurückgebracht. Erinnerungen, die er am liebsten für ewig in den hintersten Winkel seines Verstandes verbannt hätte. Auch nach so langer Zeit schmerzte der Gedanke an Mairee immer noch. Sie hatte versucht, ihn umzustimmen, ihn angefleht bei ihr zu bleiben, doch er hatte damals gespürt, dass das nicht der richtige Weg gewesen wäre. »Es gibt nur zwei Arten, sein Leben zu führen«, hatte ihm Taardar am Ende ihrer ersten Begegnung eröffnet. »Keine ist richtiger oder falscher als die andere, doch ob die von dir gewählte Lebensweise dich erfüllt hat, weißt du erst ganz am Ende. Du kannst dich entweder dem Außen verschreiben, dich den Farben, Formen und Gerüchen hingeben, dich dem Dinglichen, dem Greifbaren zuwenden und damit glücklich werden. Oder du wendest dich dem Innen zu, widmest dich der Suche nach allem, was man nicht sehen oder fühlen kann, lenkst deine Energie auf das Abstrakte, das nicht Fassbare und findest darin nicht nur Halt, sondern beträchtlichen persönlichen Gewinn. Ich kann dir diese Entscheidung nicht abnehmen, Mun, aber ich rate dir, sie gut zu überdenken.« Niemals zuvor hatte die Gilde einen Menschen in ihre Reihen aufgenommen. Mun Lanaka war der erste und der letzte seiner Art, und er hatte niemals erfahren warum. Bis heute! Die Prüfungen, die er als Anwärter über sich ergehen lassen musste, waren alles andere als leicht gewesen, doch Alman a Sant hatte ihn gut vorbereitet. Vieles von dem, was er bei dem Peerer gelernt und als nutzlos und in
der praktischen Anwendung als unzureichend angesehen hatte, erwies sich plötzlich als überaus hilfreich. Und so bewältigte er die gestellten Aufgaben ohne größere Schwierigkeiten und erhielt den Schülerstatus. Zu Beginn seiner Ausbildung hatte der angehende Adept Taardar immer wieder mit der gleichen Frage gelöchert: Warum er? Warum Mun Lanaka, der Mensch? Der Draawe hatte nur seine langen Fühler auf ihn gerichtet und geschwiegen. Ihm musste klar gewesen sein, dass sein Schüler unter dem Sonderstatus litt, denn unter den Adepten galt der Begriff Mensch als Schimpfwort. Die erste Zeit im Zentralarchiv glich deshalb einem Spießrutenlaufen und erst, als er sich einige seiner ausdauerndsten Peiniger vornahm und sie nach allen Regeln der Kunst vermöbelte – wobei ihm auch hier die Lektionen Almans gute Dienste leisteten –, ließ man ihn in Ruhe. Dennoch hätte er es ohne Taardar nicht geschafft. Der Bibliothekar verbrachte viel Zeit mit ihm, vor allem dann, wenn sich Mun wieder einmal fragte, ob ein Leben an der Seite Mairees nicht die bessere Wahl gewesen wäre. Natürlich hätte er jederzeit gehen können, denn die Schüler waren keine Gefangenen, doch dann wäre ihm die Rückkehr für immer verwehrt gewesen. »Eine Berufung setzt den Drang voraus, etwas in dieser Welt zur Vollendung bringen zu wollen«, hatte Taardar manchmal doziert. »Fühlst du diesen Drang, Mun?« »Ich fühle eine Verpflichtung, Alman gegenüber«, antwortete der junge Mann. »Ich habe ihn getötet.« »Glaubst du das wirklich?« Der Draawe verschränkte die Ärmchen vor seinem feisten Wurmkörper. »Vielleicht überschätzt du dich da ein wenig.« »Wie meint Ihr das, Meister?«, wollte Mun wissen. »Es ist noch zu früh, aber eines Tages werde ich dir mehr erzählen. Bis dahin solltest du dein Gewissen nicht mit Dingen belasten, die sich deiner Einflussnahme entziehen. Alman hat eine Aufgabe erfüllt, so wie wir das alle hier tun. Er hat seine Berufung gefunden und wenn du dich ihm verpflichtet fühlst, dann solltest die Suche nach deiner intensivieren.«
Von da an war Muns Ahnung, dass der Peerer ihn all die Jahre gezielt auf den Eintritt in die Gilde vorbereitet hatte, zur Gewissheit geworden, was Taardar viel später endgültig bestätigten sollte. »Kennst du die Legende vom Roten Adepten?«, hatte ihn der alte Draawe einmal gefragt. »Natürlich«, lautete die Antwort des Jungen. »Jeder Schüler kennt sie, denn sie wird uns im Unterricht oft genug erzählt.« »Dann fasse sie für mich zusammen.« »Man sagt, dass etwa alle siebenhundertachtzig Quartennien ein besonders begabter Schüler auftaucht und zu einer Bedrohung wird, die die Existenz des gesamten Archivs und der Gilde gefährdet. Es ist unmöglich, ihn zuvor zu identifizieren, da seine Fähigkeiten alles Bekannte übersteigen. Die letzten vier so genannten Roten Adepten konnten abgewehrt werden, doch nun wird die Ankunft des Fünften erwartet, der besonders stark und mächtiger sein soll als alle Vorgänger.« »Glaubst du an diese Legende?« Taardars wimmelnde Fühler kamen kurzzeitig zum Stillstand. »Ist es nicht das Wesen einer Legende, dass sie auf Hörensagen und Ammenmärchen beruht, Meister?«, fragte der Junge zurück. Der Draawe hatte daraufhin nur geschwiegen. Mun hatte viel Zeit damit verbracht, im Expar Informationen über die Roten Adepten zu suchen, doch gefunden hatte er nichts. Die ältesten Aufzeichnungen der iDocs reichten etwa hunderttausend Jahre – 3.891 Quartennien – zurück. Während dieser langen Zeit hatten viele versucht, das Zentralarchiv anzugreifen und von den dort gesammelten Daten zu profitieren. Rote Adepten waren allerdings nicht darunter gewesen. Mun erreichte seine Wohnzelle. Taardar hatte ihn aufgefordert, noch einen weiteren Tag zu bleiben. Da er Shanija und den anderen Gefährten keine feste Zeit für seine Rückkehr genannt hatte, willigte er nur zu gern ein, zumal sein Lehrmeister schließlich sehr erschöpft gewesen war. Am frühen Abend wollten sie ihr Gespräch fortsetzen. Die Kälte fuhr Mun wie Messer in die Glieder. Unvermittelt glaubte er auf einer felsigen Ebene zu stehen. Ein eisiger Wind wehte ihm
ins Gesicht und verbiss sich schmerzhaft in seiner Haut. In der Ferne sah er wirbelndes Blau, kleine und große Blasen, die einen bizarren Tanz aufführten. Wie schon zuvor im Kreis der Besinnung, als er auf die Rückkehr des Draawen gewartet hatte, griff eine nie gekannte Angst nach ihm, und diesmal war die Vision deutlicher. Er wusste plötzlich, dass er nicht mehr allein war. Etwas kam auf ihn zu. Rasend schnell. »Du kennst die Wahrheit längst, Mun«, hörte er wieder die letzten Worte, die sein Lehrmeister zu ihm gesagt hatte, bevor er sich verabschiedete. »Du musst dich ihr öffnen. Alles ist vorbereitet. Nun liegt es nur noch an dir.« Das Bild vor seinen Augen war seltsam verzerrt. Undeutlich, so als würde er die Umgebung durch ein dünnes, weißes Tuch wahrnehmen. Durch die spitzen Felsen um ihn herum schimmerte die Wand seiner Wohnzelle. Durch den steinigen Boden konnte er seinen Lederbeutel sehen, der neben dem Bett lag. Dann verschwand die unwirkliche Landschaft so schnell, wie sie aufgetaucht war. Überrascht starrte er auf die gedrungene Gestalt, die ihrerseits mit verwirrtem Gesichtsausdruck zurückstarrte. »Ist Euch nicht gut, Wissensträ … ich meine, Mun?«, erkundigte sich Legetar. Der Selache wirkte ernsthaft besorgt, obwohl er selbst alles andere als gesund aussah. Die grüne Haut wies an mehreren Stellen dunkle Flecken auf, die Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Falli hingen schlaff und vertrocknet zu beiden Seiten des Kopfes herab. »Ich bin in Ordnung«, winkte der Adept ab. »Aber du scheinst mir ziemlich mitgenommen zu sein. Sind die Prüfungen so hart?« »Die Prüfungen?« Im ersten Moment schien Legetar gar nicht zu wissen, wovon Mun sprach. »Oh ja, die Prüfungen«, sagte er dann leichthin. »Nicht so schwer. Alles schon erledigt. Es ist … nur eine Frage der Konzentration.« »Nun«, erwiderte der Adept und trat einen Schritt näher an den Anwärter heran. »Es freut mich, dass es für dich so gut läuft. Darf ich erfahren, warum du hier bist?« »Oh!« Wieder machte Legetar einen verwirrten Eindruck, so, als
wäre er gerade eben aus tiefstem Schlaf erwacht und müsse sich erst orientieren. »Entschuldigt mein Eindringen, aber ich musste Euch unbedingt sprechen … ich …« »Setz dich, mein Freund«, sagte Mun und drückte den Selachen auf einen der beiden Stühle. Er selbst nahm auf dem zweiten Platz. »Und dann sag mir, was dich bedrückt.« »Es ist … ich weiß nicht«, setzte Legetar an. »Ich fühle, wie alles aus mir herausströmt … mein Mut, mein Ehrgeiz, meine Willenskraft … alles verschwindet im Nichts, und ich habe keine Ahnung warum …« »Die Prüfungen können sehr fordernd sein«, gab Mun zurück. »Auch wenn sie dir als einfach erscheinen, so erfordern sie dennoch …« »Nein!« brauste der Selache auf, fiel jedoch unmittelbar darauf wieder in tiefe Verzweiflung. »Das ist es nicht. Es ist … anders.« »Hast du schon einmal meditiert?«, erkundigte sich der Adept. Legetar sah ihn zweifelnd an. »Meditation?« Die kränklich aussehenden Falli kräuselten sich leicht. »Ich glaube nicht an solchen Unsinn.« Mun lächelte. »Schließ die Augen«, forderte er den Anwärter auf. Der Selache zögerte. »Schließ die Augen«, wiederholte der Adept seine Anweisung. Diesmal gehorchte Legetar. »Lausche auf das leise Zischen der Gaslampen« sagte Mun. »Konzentriere deine gesamte Aufmerksamkeit auf dieses Geräusch. Es besitzt einen Rhythmus. Hörst du ihn? Ein kaum merkliches Anund Abschwellen, so wie die regelmäßigen Atemzüge eines Schläfers. Gleiche deinen eigenen Atem diesem Rhythmus an. Atme durch die Nase ein und den Mund wieder aus. Ja, so ist es gut. Spürst du, wie die Ruhe in dich einkehrt? Gib dich ihr hin. Öffne dich ihr, und alles, was dich bedrückt, verliert an Bedeutung.« Mun betrachtete das jetzt deutlich entspannte Gesicht des Selachen. »Meditation ist keine Frage des Glaubens, junger Freund«, sagte er sanft, »sondern eine Frage der Befähigung. Innerer Friede ist ein mentaler Zustand wie jeder andere auch, und man kann ihn
willentlich herbeiführen. Das Erlernen von entsprechenden Entspannungstechniken wird ein maßgeblicher Aspekt deiner Ausbildung im Zentralarchiv sein.« Fünf Minuten später öffnete Legetar die Augen. Er wollte etwas sagen, doch Mun bedeutete ihm zu schweigen. »Kehre in deine Wohnzelle zurück und wiederhole diese Übung dort so oft, wie es dir nötig erscheint«, wies er ihn an. Der Selache erhob sich und verließ wortlos den Raum. * Muns erste Reise als Adept verlief ohne größere Zwischenfälle. Von Lakara aus wandte er sich nach Norden, durchquerte die sonnenüberflutete Hochebene von Wex, folgte den Karawanenstraßen durch Tistrata und Schillwein, schlug sein Lager für einige Zeit in Moklaata, der Stadt der Händler auf und überquerte schließlich den Maimalsee an Bord eines Dreimasters der Königin von Gurtuk. Adepten wählten ihre Route selten im Voraus, sondern ließen sich vom Wind und ihren Vorlieben und Stimmungen treiben. Es überraschte den frischgebackenen Wissensträger regelrecht, als er eines Tages die Gipfel der Kulatberge am Horizont ausmachte. Drei Tage später erreichte er die ehemalige Farm seiner Eltern, die er vor mehr als fünfzehn Sonnenzyklen verlassen hatte. Sie hatte sich kaum verändert und wurde von einem achtköpfigen Makoja-Clan bewirtschaftet, der ihn geradezu überschwänglich aufnahm und bewirtete. Mun ließ seine Gastgeber über seine Vergangenheit im Unklaren, und so berichtete ihm Pekosh Indik, der Clansführer der Makoja, freimütig von einem Überfall einer berüchtigten Räuberbande, die vor vielen Jahren die ursprünglichen Besitzer der Farm ermordet und den kleinen Sohn verschleppt hatte. Der Stadtrat von Kalamarrn beschloss daraufhin, die Lanakas auf dem öffentlichen Friedhof beizusetzen und die Farm nach einer angemessenen Wartezeit zu versteigern. Obwohl ihm ein dicker Kloß im Hals saß, kam Mun dem Wunsch der Makoja nach und gab eine seiner Erzählungen zum Besten.
Dann erst suchte er das Grab seiner Eltern auf. Lange stand er vor den beiden schlichten Holzstelen und spürte, wie der Zorn in ihm wuchs. Während er mit Alman a Sant unterwegs gewesen war, hatte er versucht, so selten wie möglich an seine Mutter und seinen Vater zu denken. Die Reisestrapazen und die ständigen, mehr oder weniger argen Quälereien des Peerers hatten ihm dabei geholfen. Nun jedoch, da er auf sich allein gestellt und niemandem Rechenschaft schuldig war, ließen sich die Erinnerungen nicht mehr beiseiteschieben, zumal die bekannte Umgebung ihr Übriges tat. Nach einer Nacht in der Scheune – die Makojas boten ihm natürlich ein Bett im einstigen Schlafzimmer seiner Eltern an, doch Mun lehnte ab – setzte er seine Reise fort und nahm Kurs auf die Kalten Berge. Auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte, so gab es doch keinen Zweifel daran, dass ihn der Hass vollständig ausfüllte. Der Hass ist die Kapitulation des Verstandes vor dem Gefühl, warnte ihn die Stimme Taardars in seinem Kopf. Er blockiert unser Denken, vernichtet die Logik und reduziert unsere Seele auf eine bloße Hülle. Nicht das Wissen tötet, sondern der Hass. Wie leicht war es doch für jemanden, der sein ganzes Leben wohlbehütet an einem einzigen Ort verbrachte, klug von Logik und Verstand daher zu reden. Die Philosophen des Zentralarchivs hatten damit noch kein einziges Problem dieser Welt gelöst. Es waren stets die Dreisten und Rücksichtslosen, die sich über Regeln und Moral hinwegsetzten und am Ende das bekamen, was sie wollten. War es wirklich ein Zeichen von Stärke, wenn man der Skrupellosigkeit mit Nachsicht begegnete? Verschaffte man sich Respekt, wenn man erlittenes Unrecht verzieh und über begangene Gräueltaten den Mantel der Nächstenliebe breitete? Nein! Nach Muns Überzeugung schuf man mit dieser Form der Absolution nur neues Leid und noch mehr Ungerechtigkeit, als es ohnehin schon gab. Taardar war ein kluger, ja sogar weiser Lehrmeister, doch in diesem Punkt irrte er. Nur wer sich bewusst war, dass ein gegen andere verübtes Verbrechen eine adäquate Bestrafung nach sich zog, der mochte den unheilvollen Zwang in sich
selbst bekämpfen, und wenn schon nicht aus Einsicht, dann zumindest aus Furcht ein halbwegs tugendhaftes Leben führen. Der Adept musste nicht lange nach Gorl suchen. Schon in der ersten Nacht am Fuß des Mouraba, des höchsten Berges des Kulatmassivs, überfiel ihn eine kleine Gruppe Männer, die zweifelsfrei zur Bande des Räuberhauptmanns gehörte. Mun ließ alles widerstandslos mit sich geschehen, und als klar war, dass er keinerlei relevante Wertgegenstände mit sich führte, beschloss man, ihn mit ins Lager zu nehmen. Selbstverständlich wussten auch die Räuber um die unvergleichlichen Fähigkeiten der Adepten, wenn es um das Erzählen unterhaltsamer Geschichten ging. Gorl hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Er sah immer noch imposant aus, hatte jedoch deutlich Speck angesetzt, und die langen schwarzen Haare samt Rauschebart waren mit grauen Strähnen durchwebt. Er musterte Mun mit zusammengekniffenen Augen und nickte seinen Männern wohlwollend zu. »Ein Adept des Zentralarchivs«, grinste der Räuberhauptmann. »Welch hoher Besuch in unserem bescheidenen Heim.« Die Umstehenden lachten pflichtschuldig. »Darf man fragen, was dich in diesen gottverlassenen Winkel von Less führt?«, wollte Gorl wissen. »Ich habe nach dir gesucht«, antwortete Mun wahrheitsgemäß. »Mein Name ist Mun Lanaka, aber du wirst dich wohl weder an mich noch an meine Eltern erinnern, die du vor fünfzehn Sonnenzyklen auf einer kleinen Farm nicht weit von hier abgeschlachtet hast.« Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Der Adept hörte das Prasseln der Lagerfeuer, das Klatschen der vom Wind bewegten Zeltplanen und das unruhige Scharren einiger Gareks. Dann trat Gorl bis auf einen halben Meter an Mun heran. Dieser wich nicht zurück. Der Räuberhauptmann überragte den Wissensträger um gute dreißig Zentimeter, und Mun musste aufblicken, um ihm in die Augen zu sehen. »Und nun willst du Rache nehmen, richtig?« Gorl strich sich nachdenklich durch den verfilzten Bart. »Nenn es, wie du willst«, erwiderte der Adept. »Jemand, der
weitaus klüger ist als wir beide, hat einmal zu mir gesagt, dass die Rache keine Früchte trägt, weil sie sich selbst genug ist. Möglicherweise ist das eine Theorie, die man nur in der Praxis überprüfen kann.« »Ein Wink von mir, und du bist tot, Adept«, stieß der Räuberhauptmann grimmig hervor. »Das mag sein«, sagte Mun laut. »Aber schau dich um. Fast alle deine Männer sind hier. Was würden sie wohl denken, wenn sich ihr Anführer einem fairen Zweikampf verweigert und stattdessen einen geachteten Repräsentanten der Gilde feige ermorden lässt? Ich will dir sagen, was sie denken würden, Gorl. Sie würden denken, dass du nicht mehr fähig bist, sie zu befehligen, dass du deinen Tatendrang und deine Leidenschaft verloren hast und es womöglich an der Zeit ist, ein furchtloseres und kühneres Oberhaupt zu bestimmen.« »Du führst eine flinke Zunge, Adept«, stieß Gorl hervor. Man sah ihm an, dass er seinen Zorn kaum noch unter Kontrolle halten konnte. »Man sagt, dass ihr Wissensträger begabte Redner seid. Lass uns herausfinden, ob du deinen Worten auch Taten folgen lassen kannst.« Mit einer kaum sichtbaren Handbewegung hatte der Räuberhauptmann die Schnalle seinen Gürtels geöffnet. Mehrere Messer und die große Pistole, die er schon während des Überfalls auf die Lanaka-Farm getragen hatte, polterten mit Getöse auf den felsigen Untergrund. Mun bewegte sich nicht. Er wartete darauf, dass sich etwas in ihm veränderte, etwas, von dem er in den letzten Lunarien oft geträumt hatte und von dem er nicht genau wusste, was es war. Die Erinnerungen an seine Eltern waren schemenhaft; kaum mehr als ein paar verwaschene Bilder in seinem Kopf. Deutlich war nur diese eine, qualvolle Nacht, das Blut, die Schreie, das Krakeelen der Betrunkenen. All das Gute und Schöne, das seine Mutter und sein Vater repräsentiert hatten, hatte diese Nacht ausgelöscht. All die innigen Eindrücke und Momente, die Eltern ihren Kindern hinterließen und die diese ein Leben lang mit sich trugen, waren damals ausgelöscht
worden. Was hatte der Adept erwartet? Dass die Schläge, mit denen er Gorl durch das Lager trieb, seine Schmerzen linderten? Dass die Demütigung, die der Räuberhauptmann erfuhr, die Schuld aufwog, die er auf sich geladen hatte? Gorl war zweifellos noch immer stark, aber gegen einen ausgebildeten Adepten besaß er nicht die Spur einer Chance. Er war zu schwerfällig, zu steif, zu begrenzt in seinen Mitteln, und mit jeder weiteren Minute, die ihr ungleiches Duell andauerte, begriff Mun das Wesen seiner Rache besser. Es gab keine Befriedigung. Es gab keine Befreiung. Der Verlust, den er erlitten hatte, war ein Teil von ihm und würde es für immer bleiben. Er kämpfte nicht gegen Gorl, diesen alten, fetten, erbärmlichen Mörder, der tat, was er tat, weil er schon längst keine Alternative mehr besaß. Mun kämpfte gegen sich selbst, gegen seine Zweifel, gegen seine Ohnmacht und Unfähigkeit zu akzeptieren, dass Kelt und Jaria Lanaka nicht mehr da waren und nie mehr zurückkehren würden, was auch immer er unternahm. Besitzen heißt verlieren, Mun, hörte er Taardar sagen. Erinnern heißt bewahren. Doch am Ende gehst du so, wie du gekommen bist. Irgendwann lag Gorl vor ihm auf dem Boden, geschlagen, besiegt, mit Blut besudelt und am Ende seiner Kräfte. Die Furcht einflößende Gestalt von einst, die den sechsjährigen Mun als Inbegriff allen Schreckens so lange in seinen Alpträumen verfolgt hatte, war plötzlich nicht mehr als ein Häufchen Elend, ein vor Angst und Scham schlotternder Riese. Muns dunkelblauer Mantel wies dagegen nicht einen einzigen Fleck auf. Er sah auf den Räuberhauptmann hinunter und empfand … nichts. Keinen Zorn. Kein Mitleid. Höchstens einen Hauch Traurigkeit darüber, dass seine Suche ergebnislos geblieben war. Hier würde er keinen Frieden finden. Der Mann, der ihm seine Eltern genommen hatte, konnte ihm nichts geben, das er nicht schon besaß. Mun drehte sich um und verließ das Lager der Räuberbande. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Niemand hielt ihn auf.
»Womit unter dem Himmel soll man die Weisheit vergleichen? Sie ist süßer als der süßeste Nektar und köstlicher als der beste Wein. Sie leuchtet heller als drei Sonnen und ist wertvoller als ein Korb kostbarer Edelsteine. Sie macht fetter als Öl, satter als Gebratenes und reicher als der Besitz von Gold und Silber. Sie kann den Kenntnisreichen noch etwas lehren, sie tröstet die Klugen und schenkt dem Suchenden Vertrauen.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im dritten Ausbildungsjahr.
6. Mun erwachte mitten in der Nacht. Aus dem Gang fiel schwaches Licht in die Wohnzelle. Er erhob sich von seinem Lager, kleidete sich an und schlug den Weg zum nächsten Aufenthaltsraum ein. Die Unruhe, die er schon bei der Ankunft im Zentralarchiv gespürt hatte, war drängender geworden. Sie hatte ihn voll im Griff, machte ihn fahrig und unzufrieden. Da war diese in ihm wühlende Besorgnis, die er einfach nicht los wurde, so als hätte er etwas immens Wichtiges vergessen, etwas, von dem unendlich viel abhing, und es verursachte ihm Kopfschmerzen, dass ihm nicht einfallen wollte, was das war. Er hatte Shanija und den anderen versprochen, im Expar nach Informationen über die Urmutter zu suchen, doch das war es nicht, was ihn quälte. Shanija jagte einem Traum nach und vielleicht scheute er sich davor, diesen zu zerstören, indem er ihr eröffnete, dass es die Urmutter gar nicht gab. Du kennst die Wahrheit längst, hatte sein Lehrmeister zu ihm gesagt. Du musst dich ihr öffnen. Alles ist vorbereitet. Nun liegt es nur noch an dir. Warum konnte Taardar nicht offen aussprechen, was er meinte? In all den Jahren hatte er Mun stets das Gefühl gegeben, ziellos umherzuirren, auf einer endlosen Straße zu wandern, ohne Chance, sein Ziel jemals zu erreichen. Selbst jetzt, auf dem Sterbebett, gefiel sich
der Draawe als geheimnisvolles Orakel, trieb Mun mit Andeutungen und launigen Aphorismen zur Verzweiflung, anstatt ihm klipp und klar zu sagen, was er von ihm erwartete. Mun wunderte sich über die Grabesstille um ihn herum. Sicher, das Zentralarchiv war kein Jahrmarkt, keine Bühne für Lärm und Spektakel, sondern ein Ort der Ruhe, ein Ankerplatz inmitten der beiden brodelnden Metropolen, die es umschlossen, doch so still wie jetzt hatte der Adept die weitläufigen Hauen und Gänge noch nie erlebt. Sein Herzschlag klang ihm wie fernes Trommeln in den Ohren. Das gesamte Archiv schien unter einem dicken Eispanzer zu liegen. Erst jetzt bemerkte Mun die feinen Atemwölkchen, die er ausstieß. Er legte eine Hand flach gegen die Wand des Gangs – und zog sie erschrocken zurück. Der Stein war eiskalt; ebenso wie die frostige Luft, die er in kurzen Zügen einsog, und die in den Lungen schmerzte. Die Umgebung nahm einen zarten Blauschimmer an. Kälte. Blausicht. Schon wieder. Er kannte dieses Phänomen, und das war es, was ihn seit seinem Aufenthalt hier beunruhigte. Bisher hatte er es für Halluzinationen gehalten, doch das war ein Irrtum. Mun kramte in seinen Erinnerungen. Natürlich! Die Psimagie der Selachen. Die Fähigkeit einiger weniger Vertreter dieses Volkes, den Zeitablauf in eng gesetzten Grenzen zu verlangsamen – und die damit verbundenen Risiken, die dieses Talent eher zu einem Fluch denn zu einem Segen machten. Taardar hatte ihm davon erzählt. In jeder Generation wurden zwei oder drei Selachen geboren, die eine außergewöhnliche psimagische Fähigkeit entwickelten. Sie waren in der Lage, den normalen Zeitablauf räumlich eingeschränkt zu beeinflussen. Die Außenstehenden merkten normalerweise nichts davon, doch der entsprechende Selache bewegte sich plötzlich rasend schnell. Besonders geschulte Selachen konnten bis zu mehreren Minuten in diesem Zustand verharren, den sie selbst als »Eintauchen in die rote Welt« bezeichneten, denn mit der Zeitmanipulation ging eine Rotverschiebung des sichtbaren Lichts einher. Zudem berichteten alle Betroffenen von einer lediglich für sie selbst spürbaren Absenkung der Temperatur.
So ungewöhnlich und reizvoll die Möglichkeit der Kontrolle des Zeitflusses auf den ersten Blick zu sein schien, so gefährlich, ja sogar tödlich waren die möglichen Nebenwirkungen. Es kam gar nicht so selten vor, dass sich während des Aufenthalts in der roten Welt sogenannte Zeitlöcher bildeten, in denen sich ein Selache verfing und aus eigener Kraft nur mit viel Glück wieder befreien konnte. In diesem Fall kehrte sich die Wirkung der selachischen Psimagie um. Während die Zeit für den Eingeschlossenen praktisch zum Stillstand kam, lief sie für den Rest der Welt im normalen Tempo weiter. Während dieses Vorgangs verschob sich das Lichtspektrum nicht ins Rote, sondern ins Blaue, und die üblicherweise gefühlte angenehme Kühle wandelte sich zur Eiseskälte. Auf diese Weise hatten Selachen bereits Tage oder Lunarien verloren. Wenn sie sich schließlich aus der selbst geschaffenen Falle lösen konnten – was nach ihrem Empfinden nur wenige Sekunden dauerte – war in Wahrheit viel mehr Zeit vergangen. Bei seinen Ausflügen in die Wissensspeicher des Expars war Mun unter anderem auf einen Bericht gestoßen, wonach ein Selache namens Togamar fast sechzig Sonnenzyklen in einem Zeitloch verbracht hatte. Erst nach über zwei Quartennien fand er wieder heraus. Für ihn selbst war kaum mehr als eine Minute verstrichen. Kurz darauf nahm sich Togamar das Leben, weil er es wohl nicht ertragen konnte, dass alle, die er gekannt hatte, längst gestorben waren. Mun hatte den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte stets angezweifelt und auch auf seinen Reisen zwar ab und an Selachen getroffen, aber nie Bekanntschaft mit deren angeblichen Fähigkeiten gemacht. Doch selbst wenn die nun bereits zum dritten Mal verspürte Kälte und die Blaufärbung der Umgebung etwas mit einem Zeitloch zu tun haben sollten – warum nahm er diese Phänomene dann wahr? Er war kein Selache und besaß ganz sicher nicht deren beinahe magische Begabung. Zeit ist nicht das, was unsere Uhren anzeigen, hatte Taardar ihm einmal erklärt. Zeit sind nicht die Stunden, Tage oder Zyklen, die wir zählen. Alles, was war, ist und jemals sein wird, ist von Beginn an vorhanden. Die Zeit verhindert lediglich, dass alles zugleich geschieht.
Die Kälte machte es Mun mittlerweile schwer, weiterzugehen. Sie drang in ihn ein, lähmte ihn und ließ dabei keinen Zweifel, dass man ihr weder mit einem wärmenden Feuer noch mit einem dicken Mantel und gefütterten Stiefeln beizukommen vermochte. Diese Kälte war anders als in den Kalten Bergen, die schon einzigartig genug war auf dieser warmen Welt. Wo waren die Schüler? Die Draawen? Er erreichte den Speisesaal. Leer. Er inspizierte die Wohnzellen. Alle verlassen. Von einer Sekunde zur anderen stand Mun auf der bereits bekannten Felsebene. In der Ferne sah er die blauen Blasen, die sich wie eine Wand aus Seifenschaum in die Höhe türmten und die Ebene als bizarre Kuppel überspannten. Ihre Bewegungen schienen im Vergleich zum letzten Mal wilder und unberechenbarer geworden zu sein. Mun musste all seine Willenskraft aufbringen, um zwei weitere Schritte nach vorn zu machen. Ein leises, anhaltendes Klicken ließ ihn aufhorchen, bis er merkte, dass es seine eigenen Zähne waren, die aufeinanderschlugen. Er fuhr sich mit der Rechten über den kahl geschorenen Schädel, auf dem sich eine hauchdünne Reifschicht gebildet hatte. Dann sah er die reglose Gestalt. Schon von Weitem erkannte er den Selachen an seiner medusenähnlichen Haarpracht. Legetar stand mit dem Rücken an eine verwinkelte Felsformation gelehnt und schien Mun gar nicht zu bemerken. Er wirkte verloren – und sichtlich durcheinander. »Legetar?«, sprach der Adept ihn an. Der Selache zuckte zusammen. »Ihr?«, fragte er verdutzt. »Was tut Ihr hier? Wie kommt Ihr hierher?« »Ich dachte, das könntest du mir verraten«, erwiderte Mun. »Wo sind wir?« »Ich weiß es nicht.« Legetar wirkte ehrlich verzweifelt. Sein Zustand hatte sich zusehends verschlechtert. Er erweckte inzwischen den Eindruck, als hätte er schon seit Tagen weder geschlafen noch gegessen. Die Pausbacken waren eingefallen und die Flecken im Gesicht hatten sich deutlich vergrößert.
»Diese Ebene …«, sprach er weiter und stockte kurz. »Ich … ich bin plötzlich hier. Immer wieder … Und alles ist wie … als wäre …« »Als wärst du in einem Zeitloch gefangen«, vollendete der Wissensträger leise. »Ja«, bestätigte der Anwärter überrascht, »aber … es ist … anders. Das ist nicht das erste Mal, dass ich … festsitze. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Dieser Ort ist …« Er brach erneut ab. »Die Entstehung eines Zeitlochs geht normalerweise mit dem Empfinden extremer Kälte und einer Verfärbung der Umgebung ins Blaue einher«, versuchte Mun eine Erklärung. »Allerdings kommt es nicht zu einem Ortswechsel. Die Tatsache, dass wir hier inmitten einer unbekannten Felslandschaft stehen, lässt jedoch vermuten, dass genau das geschehen ist. Du weißt also nicht, wo wir hier sind, und vor allem, warum ich hier bin? Ich bin weder ein Selache, noch habe ich jemals auch nur annähernd ähnliche Fähigkeiten entwickelt, wie sie bei deinem Volk gelegentlich vorkommen.« »Ich sage Euch doch: Ich habe keine Ahnung!« Legetar wischte sich die Hände nervös an den Hosenbeinen ab. »Es hat begonnen, kurz nachdem ich in Burundun angekommen war. Und nach meinem Eintritt ins Zentralarchiv wurde es schnell schlimmer. Das hier ist kein gewöhnliches Zeitloch, sofern man diese Phänomene überhaupt als gewöhnlich bezeichnen kann. Irgendwann kehre ich in die normale Welt zurück, nicht willentlich, nicht aus eigener Kraft, sondern weil mich etwas … ausspuckt, weil mir etwas meine Energie entzieht und schließlich genug von mir hat. Gleichzeitig aber gleichen sich die Zeitabläufe an, als würde ich zuerst einen Schritt durch die rote Welt gehen, um den Verlust auszugleichen, bevor ich wieder hier bin. Die Versetzungen geschehen in immer kürzeren Abständen und ich fürchte … ich glaube, dass ich das nicht mehr lange aushalte.« »Hast du dich an die Prüfer gewandt?«, fragte Mun ernst. »Hast du den Draawen von diesen Problemen erzählt?« »Was soll ich ihnen denn erzählen?«, begehrte Legetar auf. »Sie können mir nicht helfen. Niemand kann das. Auch Ihr und Eure Meditation nicht. Vielleicht sollte ich das Archiv verlassen und …«
Unvermittelt brach er ab und krümmte sich zusammen. Mun sprang geistesgegenwärtig nach vorn und fing den Selachen auf, bevor er auf den steinigen Boden fallen und sich verletzen konnte. Aus Legetars halb geöffneten Lippen drang ein kaum hörbares Wimmern. Der Adept sah sich um. Die Ebene verlief flach in alle Richtungen und endete erst an der Blasenwand. Wie weit diese tatsächlich entfernt war, konnte Mun nicht abschätzen. Der Versuch, in diese seltsame Barriere einzudringen und so eine Rückkehr ins Archiv zu erzwingen, erschien ihm zu riskant. Nachdenklich nahm er einen faustgroßen Felsbrocken auf. Die Kälte hatte seine Hände inzwischen zwar fast empfindungslos gemacht, doch der Stein fühlte sich real an. In den vergangenen Minuten war eine düstere Ahnung in ihm aufgestiegen und er fragte sich, warum er diese nicht schon viel früher entwickelt hatte. Plötzlich glaubte er zu wissen, was Taardar ihm hatte sagen wollen, auch wenn er nach wie vor nicht begriff, warum sein alter Lehrmeister die Informationen stets nur als Andeutungen und versteckte Hinweise lieferte. War die Legende über den Roten Adepten mehr als nur ein Schauermärchen, das man den Schülern im ersten Ausbildungsjahr erzählte? War Legetar …? Der Schrei des Selachen war so durchdringend und schrill, dass Mun instinktiv einen Schritt zurückwich. Die eisige Luft war von einem eigentümlichen Knistern erfüllt. War es zuvor schon da gewesen, und er hatte es lediglich nicht bemerkt? Er mochte sich irren, aber auch das Blau um ihn herum war intensiver geworden, und Legetar selbst schien plötzlich von einem schwachen Leuchten umgeben zu sein. Die gesamte Ebene geriet jetzt in Bewegung. Die überall herumliegenden Geröllbrocken zitterten und bebten, doch der Untergrund selbst blieb ruhig. Mun fixierte die Felsformation, an die sich Legetar kurz zuvor angelehnt hatte. Ihre Konturen wirkten unscharf und flossen ineinander. Der Adept schloss die Augen, lauschte in sich hinein. Taardar, dachte er so intensiv wie möglich. Taardar! Du musst mir helfen. Ich weiß nicht, was zu tun ist.
Mun wusste, dass die telepathische Begabung seines draawischen Lehrmeisters einst ungewöhnlich stark ausgeprägt gewesen war, doch seine Hoffnung, dass er ihn hörte und ihm mental antwortete, erfüllte sich nicht. Taardar war längst zu alt. Womöglich war er bereits im fünften Kreis. Und dann, von einer Sekunde zur anderen, war alles vorbei. Mun taumelte, als er sich unvermittelt in genau jenem Gang wieder fand, in dem er sich vor seiner Versetzung in die blaue Ebene aufgehalten hatte. Die Kälte war verschwunden. Ebenso Legetar. Befand sich der Selache noch immer in der mysteriösen Felswüste? Lange Minuten saß der Wissensträger einfach nur da und rieb sich die prickelnden Glieder, in die nach und nach das Gefühl zurückkehrte, und je länger er die vergangenen Tage in Gedanken Revue passieren ließ, desto mehr war er davon zu überzeugt, endlich zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Alles ergab nun einen Sinn. Er musste Taardar finden, und er betete zu allem, was ihm heilig war, dass der alte Draawe noch lebte.
Auf seinem Weg durch den Kreis der Bemühung begegnete Mun niemandem. Selbst die Bibliothekare schienen sich – zumindest aus diesem Bereich des Archivs – zurückgezogen zu haben. Insofern hielt ihn auch niemand auf, als er den Kreis der Beständigkeit und dort die Kammer erreichte, in der er am Tag zuvor mit seinem Lehrmeister gesprochen hatte. Taardar war verschwunden, das Lager verlassen. Sollte sich seine Befürchtung bewahrheiten? War der greise Draawe gestorben und Mun auf sich allein gestellt? Der Adept inspizierte einige der angrenzenden Räumlichkeiten, suchte sogar ein paar Lesezimmer auf, doch auch dort wurde er nicht fündig. Was sollte er tun? Das Zentralarchiv verlassen und zu seinen Gefährten stoßen? Nein, er war ein Wissensträger, ein Mitglied der Gilde, und wenn das Archiv in Gefahr schwebte, war es seine Pflicht, alles zu tun, um die Bedrohung abzuwenden. Zumal würde das, was hier geschah, auch Lakara und Burundun in Mitleidenschaft ziehen.
Das Leben als Adept war nichts, für das man sich leichtfertig und aus einer Laune heraus entschied. Viele Schüler begriffen das erst im Verlauf ihrer dreijährigen Ausbildung, und etwa die Hälfte aller Anwärter schied noch vor der Adeptenweihe aus und kehrte in die normale Welt zurück. Adept zu sein, bedeutete ein hohes Maß an Verantwortung, bedeutete stetiges Training und Entbehrungen. Adept zu sein hieß, die eigenen Bedürfnisse für die Bedürfnisse der Gilde aufzugeben und das Sammeln von Wissen über alles andere zu stellen. Viele Schüler ließen sich zunächst von den Privilegien und dem hohen Ansehen blenden, das die Wissensträger besaßen, und erkannten nicht, dass man sich all das erst hart erarbeiten musste. »Es ist soweit, Mun.« Der Angesprochene fuhr erschrocken herum. Taardar stand im Eingang zu dem Lesezimmer, das der Adept zuletzt betreten hatte. Das vordere Drittel des Wurmkörpers schwebte nur wenige Zentimeter über dem Boden. Es war deutlich zu sehen, dass der alte Draawe nicht mehr die Kraft hatte, sich vollständig aufzurichten. »Meister!«, entfuhr es Mun bestürzt. »Was macht Ihr hier? Solltet Ihr nicht …« »… schwach und nutzlos auf dem Sterbebett liegen und auf den Tod warten?«, vollendete Taardar den Satz. »Ganz sicher nicht! Noch ist mein Wort innerhalb dieser Mauern Gesetz. Die Kreise sind geräumt, Mun. Ich habe alle Schüler, Anwärter und Lehrer in die unterirdischen Bereiche des Archivs geschickt. Nur ich bin zurückgeblieben, denn mir obliegt die Aufgabe, dir deine letzten Zweifel zu nehmen.« »Meine letzten Zweifel …«, wiederholte der Wissensträger. Er spürte, dass die Kälte in ihn zurückkehrte, doch diesmal trug nicht Legetar die Schuld daran. »Du hast mich oft gefragt, warum du als Einziger deiner Art in die Gilde aufgenommen wurdest«, redete Taardar weiter. »Ich fürchte, die Antwort darauf wird dir nicht besonders gefallen. Wahrscheinlich kennst du sie längst.« »Es war alles von Anfang an von den Bibliothekaren gesteuert«,
bestätigte Mun die Vermutung seines Lehrmeisters. »Die Jahre mit Alman a Sant, der Kampf gegen ihn als letzte Prüfung, meine Ausbildung, das Zusammentreffen mit Legetar. Verratet mir eines, Taardar: war auch die Ermordung meiner Eltern Teil dieses Plans?« Das Wurmwesen richtete sämtliche Fühler auf den Adepten. »Ich weiß«, sagte es sanft, »dass du das nicht wirklich glaubst. Aber ich kann deine Verbitterung verstehen. Du wurdest gegängelt und missbraucht. Man hat dich benutzt und belogen, und ich habe davon gewusst, hatte maßgeblichen Anteil an allem, was man dir angetan hat. Wenn du mich dafür verachten willst, so habe ich es verdient. Doch auch ich bin nicht immer frei in meinen Entscheidungen. Ich habe so gut es ging versucht, dir einen Teil dessen zurückzugeben, was du verloren hattest, aber deine Bestimmung stand stets zwischen uns.« »Ich verachte Euch nicht, Meister«, brachte Mun kaum hörbar hervor. »Wie könnte ich das? Ihr wart … Ihr seid der, zu dem ich immer gehen konnte, der mich nie abgewiesen hat. Ihr seid der Einzige, zu dem ich stets … Vertrauen hatte.« »Dann ist alles gut, mein Junge«, erwiderte Taardar, »denn Vertrauen ist wichtiger als Verstehen.« »Selbst jetzt«, Mun schüttelte den Kopf und lächelte bitter, »kleidet Ihr Eure Gedanken in kluge Phrasen.« »Aber ist es nicht genau das, wonach sich alle sehnen?«, fragte der Draawe. »Einfache Wahrheiten? Die Erkenntnis liegt immer im Grundlegenden, Mun. Daher wird sie so oft übersehen. Deine Vorfahren, die einst mit ihrem Raumschiff auf Less strandeten, brachten viele neue Legenden mit, darunter auch die vom Baum der Erkenntnis, der in einem paradiesischen Garten namens Eden stand und dessen Früchte alle Wonnen und alles Wissen des Universums verhießen. Doch als die ersten beiden Menschen von den Früchten kosteten, mussten sie zur Strafe den Garten für immer verlassen. Erinnerst du dich an die Schlussfolgerung, die wir damals aus dieser Geschichte gezogen haben?« »Wer nicht bereit ist, das aufzugeben, der sollte sich nicht um Antworten auf seine Fragen bemühen«, sagte Mun.
»So ist es«, bestätigte Taardar zufrieden. »Die Antworten sind alle vorhanden, nur scheuen die meisten die Anstrengung, ernsthaft nach ihnen zu suchen. Sie zimmern sich die Welt nach ihren alltäglichen Neigungen und Wünschen zurecht, weil es so am bequemsten ist. Sie errichten unüberwindbare Mauern um ihren Verstand und wenn ihre kurze Lebensspanne abgelaufen ist, bejammern sie die Sinnlosigkeit ihrer Existenz. Du bist anders, Mun, und nicht nur Alman hat das vom ersten Augenblick an gewusst.« »Er hat mich gesucht«, nickte der Adept. »Er hat jemanden mit einer ganz besonderen Veranlagung gesucht«, korrigierte der Draawe. »Er und viele andere. Im Auftrag des Zentralarchivs und über Jahrzehnte hinweg. Es gibt bestimmte Anzeichen, die ein Wissensträger erspüren kann, die auf die gesuchte Veranlagung hinweisen. Leider wussten wir nicht, welchem Volk der Gesuchte entstammen würde, daher waren wir auf eine sehr lange Suche gefasst, mit nur geringer Aussicht auf Erfolg. Aber das war immer noch besser als nichts. Niemals hätten wir damit gerechnet, dass ausgerechnet ein Mensch, Abkömmling einer erst so jung auf Less heimisch gewordenen Rasse, diese einzigartige Veranlagung besitzen könnte.« »Meister, was …«, begann Mun verständnislos, wurde jedoch von einer knappen Geste unterbrochen, die Taardar mit den dünnen Ärmchen vollführte. »Niemand kann einen Roten Adepten erkennen, bevor er sein unheilvolles Wirken begonnen und somit Zugriff auf das gesammelte Wissen des Expars hat«, sagte er. »Das ist auch der Grund, warum dort keine Daten über diese Gefahr gespeichert sind. Die entsprechenden Informationen werden von jeher nur von Draawe zu Draawe weitergegeben. Es ist die einzige Chance, den Roten Adepten aufzuhalten und ihm einen Gegenspieler zu präsentieren, der ihm ebenbürtig ist und von dem er nichts ahnt.« »Legetar handelt nicht bewusst«, widersprach Mun. »Er weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass er …« »… der Rote Adept ist?«, stoppte ihn Taardar zum wiederholten Mal. »Natürlich nicht! Ebenso wie du nie gewusst hast, dass du der
Weiße Adept bist!« »Der Weiße Adept?«, wiederholte Mun konsterniert. »Ein Name, nichts weiter. Wir haben einstmals den Namen Roter Adept gewählt, weil die Selachen das Eintauchen in einen anderen Zeitablauf als rote Welt bezeichnen. Obwohl wir heute wissen, dass der Ausdruck nicht korrekt ist, blieb es aus Gewohnheit dabei. Und Weiß, nun – das ist neutral. Aufhebung einer Wirkung.« Der Draawe schob sich schwerfällig ein paar Zentimeter in das Lesezimmer hinein. »Legetar ist wie wir alle nur eine Figur in einem Spiel«, erklärte er dann. »Wir versuchen seit Ewigkeiten zu ergründen, was es mit den Roten Adepten auf sich hat und warum alle siebenhundertachtzig Quartennien ein Lebewesen auftaucht, mächtig genug, das Expar zu vernichten. Möglicherweise handelt es sich um einen natürlichen Regelmechanismus, eine Art Ventil, über das sich der durch die wachsende Zahl der iDocs entstehende psimagische Druck ausgleicht und so den Raum für das Wissen der nächsten zwanzigtausend Sonnenzyklen schafft. Du bist im Expar gewesen, hast die Macht gespürt, die es verkörpert. Die Anzahl der Adepten ist in den vergangenen Jahrhunderten ständig gestiegen, und damit auch die Menge an verfügbarer Information. Vielleicht sind die letzten Antworten, die dieses Universum liefern kann, zu gefährlich. Vielleicht ist es nicht vorgesehen, dass wir den Konstruktionsplan der Schöpfung einsehen und unter Umständen in Versuchung geraten, daran herumzupfuschen.« »Aber was kann ausgerechnet ich dagegen tun?«, wollte Mun wissen. »Du wirst Legetar aufhalten«, antwortete Taardar. »Was immer es kostet.« »Und was passiert, wenn ich es nicht tue? Wenn ich scheitere?« Mun ging in die Knie. Seine Blicke fixierten die müde hin und her pendelnden Fühler des Draawen. »Das Zeitloch, das Legetar erzeugt, vergrößert sich mit jeder verstreichenden Sekunde«, sagte Taardar. »Schon bald wird es das Expar erreicht haben, kurz darauf das gesamte Zentralarchiv, wahrscheinlich sogar Lakara und Burundun mit einschließen. Wissen hat
nur einen einzigen Feind, Mun. Es gibt nur eine Macht im Kosmos, die Wissen zerstören kann.« »Zeit«, nickte der Adept. »So ist es«, bestätigte der Draawe. »Wissen wird um so nutzloser, je mehr Zeit verstreicht. Deshalb muss es ständig erneuert und überprüft werden. Deshalb schickt die Gilde ihre Diener aus. Wenn das Zeitloch seine maximale Ausdehnung besitzt, wird es aktiv werden. Dann werden in jeder Sekunde, die wir im Zentralarchiv, in Lakara und Burundun zählen, für den Rest des Universums Jahre, Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte vergehen. Spätestens nach ein paar Minuten ist das gesamte, in hunderttausend Jahren angehäufte Wissen im Expar wertlos, und selbst wenn es uns gelingt, dem unheilvollen Wirken des Roten Adepten irgendwann Einhalt zu gebieten, wird das Less, das wir kennen, nicht mehr vorhanden sein.« »Was erwartet Ihr von mir?«, rief Mun. »Soll ich Legetar umbringen?« »Du bist der Einzige, der ihn jetzt noch erreichen kann«, gab der alte Bibliothekar zurück. »In seinem Zeitloch ist er für jeden anderen unangreifbar. Außer für dich. Du kannst in Nullzeit zwischen den beiden Ebenen hin- und herwandeln. Das war der Grund, warum die Gilde dich aufgenommen und ausgebildet hat, um dich auf diesen Tag vorzubereiten. Jeder der vier bisherigen Roten Adepten hatte seinen Gegenspieler, so wie du derjenige für den fünften bist. Die Dualität ist das fundamentalste Gesetz der Natur. Das Gute kann nicht existieren, wenn es sich nicht am Bösen messen lässt. Die Nacht hat keine Bedeutung, wenn sie dem Tag nicht weichen muss. Jedes Ding hat sein Gegenteil und wird erst dadurch zur Realität. Du bist den Weg fast bis zum Ende gegangen, Mun. Willst du so kurz vor dem letzten Schritt aufgeben?« »Ich bin kein Mörder«, sagte der Adept trotzig. »Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?«, entgegnete Taardar schwach. »Glaubst du tatsächlich, dass du Legetar lediglich töten musst, um das Archiv zu retten? Du bist um so vieles klüger als all die tausend anderen Schüler, die ich das Privileg hatte, zu unterrichten. Verzeih einem alten Querkopf seine Sentimentalität, aber du
warst von Anfang an etwas ganz Besonderes für mich – und du hast mich niemals enttäuscht.« »Was muss ich tun, Meister?«, flüsterte Mun verzweifelt. »Bitte sagt es mir!« »Erfülle deine Aufgabe, und dann setze deine Reise fort«, antwortete der Draawe. »Geh mit der Menschenfrau, die sich Shanija Ran nennt. Bleib an ihrer Seite, was immer auch geschieht.« »Aber warum?«, fragte der Adept. »Natürlich, um Wissen zu erlangen. Zudem ist es von großer Bedeutung und daher mein letzter Wunsch«, erwiderte Taardar müde. »Und weil Vertrauen …«, die Stimme des Bibliothekars brach. »… wichtiger ist als Verstehen«, vollendete Mun den Satz heiser. Sein Lehrmeister sagte nichts mehr. Mit einem letzten kurzen Aufbäumen sank er zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Der Adept beugte sich zitternd zu dem reglosen Wurmkörper hinab und legte beide Hände auf die faltige Haut neben den Fühlern. Sie war noch warm, erkaltete jedoch schnell. Als Mun sich wieder aufrichtete, liefen ihm Tränen die Wangen hinab. In ihm wühlte der gleiche Schmerz, den er vor so langer Zeit beim Tod seiner Eltern gefühlt hatte. Und auch diesmal hatte er keine Zeit für Trauer. Ohne Vorwarnung hüllte sich die Umgebung in ein düsteres Blau und die Tränen gefroren auf seiner Haut. An den Wänden des Lesezimmers bildeten sich Eisblumen, und Taardars Körper überzog sich mit einer hauchdünnen Reifschicht. Mun warf einen letzten Blick auf die Leiche des Draawen. »Lebt wohl, Meister«, sagte er laut. Dann machte er sich auf, um Legetar zu suchen.
»Es gibt kein Schicksal, das die Geschöpfe dieses Universums unabhängig von ihren Handlungen ereilt. Das Schicksal schlägt nur dann zu, wenn man nicht handelt. Wenn du dein Schicksal also selbst bestimmen willst, handle.« Aus den draawischen Zeugnissen, Lehrstoff für Adepten im dritten Ausbildungsjahr.
7. Die Kälte war mörderisch. Mun hatte sich aus einer leeren Wohnzelle eine Decke besorgt und sich so gut wie möglich darin eingewickelt, doch viel half das nicht. Selbst die Wasserspender in den Speisesälen waren eingefroren und viele der Gaslampen waren erloschen oder brannten nur noch mit kleiner Flamme. Letzteres stellte allerdings keine Behinderung dar, denn die Blausicht war inzwischen längst kein rein optisches Phänomen mehr. Das Blau drang als mildes Schimmern aus Wänden, Decken und jedem Gegenstand. Selbst die Luft schien aus sich selbst heraus zu leuchten und wie Morgennebel über einer feuchten Wiese zu schweben. Der Adept war in den Kreis der Bemühung zurückgekehrt. Eigentlich war es egal, wo er nach Legetar suchte, denn die Versetzung in die Felsebene war willkürlich und an verschiedenen Orten erfolgt, doch die klirrende Kälte erforderte es, in Bewegung zu bleiben, um die natürliche Wärmeproduktion des Körpers am Laufen zu halten. Mun hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob die von Taardar befürchtete Zeitumkehr bereits eingesetzt hatte. Vielleicht kam er zu spät, und das Zeitloch war schon invers aktiv und hatte sich auf den gesamten Kreis oder sogar das Archiv ausgedehnt, dann würde ihm auch seine Gabe nichts mehr helfen. Es wäre zu spät, denn außerhalb des Zentralarchivs würde die Zeit dahinrasen. Für etwaige Beobachter wäre Mun dann nicht mehr als eine lebende Statue, ein Standbild aus Fleisch und Blut, das sich so langsam bewegte, dass man es nicht wahrnehmen konnte.
Wie üblich traf ihn die Versetzung ohne Warnung. Die Ebene hatte sich verändert. Der geröllübersäte Untergrund hob und senkte sich wie unter schweren Atemzügen. Die größeren Steinformationen zitterten, als wären auch sie von den tiefen Temperaturen betroffen, und die blauen Blasen wimmelten so hektisch durcheinander, dass man kaum noch einzelne von ihnen auseinanderzuhalten vermochte. Dann entdeckte Mun den Selachen. Legetar hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, das Kinn auf der Brust, die Hände zu Fäusten geballt. Er sah nicht auf, als Mun ihn ansprach. Erst, als der Adept ihn an beiden Schultern packte und leicht schüttelte, schreckte er wie aus tiefem Schlaf und hob den Kopf. »Was willst du?«, fragte er matt. »Warum lässt du mich nicht in Ruhe?« »Du musst damit aufhören!«, sagte Mun eindringlich. »Ich weiß, dass du niemandem schaden willst, aber wenn du nicht damit aufhörst, wirst du eine furchtbare Katastrophe auslösen.« Legetar starrte ihn nur verständnislos an. »Verlasse das Zeitloch«, beschwor ihn der Wissensträger. »Du kannst es. Konzentriere dich. Du beherrschst deine Gabe, nicht sie dich. Du entscheidest, was geschieht!« Das Gesicht des Selachen glühte in blauem Feuer. Winzige Lichtblitze schlugen aus Ohren, Augen, Nase und Mund, als würde sich in seinem Innern ein Gewitter entladen. Mun wich instinktiv zurück, als Legetar sich erhob und beide Arme nach ihm ausstreckte. Sein Körper strahlte jetzt in tiefem Blau. »Hilf … mir …!« Die Worte Legetars kamen wie fernes Donnergrollen aus seiner Kehle und wurden von einem wahren Feuerwerk an Lichtblitzen begleitet. Mun hatte wieder jenes Gefühl, das er bei seinem ersten Kontakt mit dem Zeitloch gehabt hatte, das Gefühl, dass etwas geschah, das die Ordnung der Welt gefährdete – doch diesmal war es um vieles intensiver. »Wie kann ich …«, begann er, brach ab und räusperte sich. »Wie kann ich dir helfen?« Um ihn herum fing es wieder an zu knistern. Auch dieses Ge-
räusch hatte er schon gehört, damals bei seinem ersten Besuch auf der Felsebene. Das Knistern wurde lauter und lauter, schob sich als akustische Barriere zwischen ihn und den Selachen. Legetar stand nach wie vor da, die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit ausgestreckt. Täuschte sich Mun, oder wurde die Gestalt des Selachen langsam transparent? Er glaubte durch ihn hindurch bereits ganz schwach eine der vielen Felsformationen im Hintergrund erkennen zu können. Ohne zu überlegen machte der Adept zwei Schritte nach vorn und ergriff die Arme Legetars. Der Schmerz war überwältigend. Mun wollte sich losreißen, doch der Selache ließ das nicht zu. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an dem Wissensträger fest. Die Lichtkaskaden, die er dabei ausschickte, schienen direkt durch Muns Fleisch zu schneiden, in ihn einzudringen und ihn zu verbrennen. Der Adept schrie, doch das Knistern war inzwischen so laut, dass es alles andere übertönte. Die Ebene wurde rasend schnell kleiner, als die blauen Blasen von überall her heranrollten. Vor Muns Augen wechselten bizarre Bilder in so rasender Folge, dass es ihm unmöglich war, Einzelheiten auszumachen. Einmal glaubte er Shanija Ran zu sehen, wie sie am Fuß einer mächtigen Steinsäule stand; ihr Gesicht eine vor Angst verzerrte Fratze, die Augen weit aufgerissen, aber er war sich nicht sicher, denn die Vision verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Schließlich tauchte Taardar auf, der ihm mit seinen kleinen Ärmchen zuwinkte. Hinter ihm ragte ein gigantisches Netz aus Myriaden glänzender Tropfen in die Höhe, die durch hauchdünne Fäden miteinander verknüpft waren. Tausende fingerdünner, schwarzer Würmer krabbelten kreuz und quer durch das fragil wirkende Gebilde, brachten ständig neue Tropfen heran und spannen frische Verbindungsfäden aus ihren Hinterleibern. Das Expar! Niemals zuvor oder danach hatte Mun etwas Schöneres gesehen. Das Expar schien ein lebendes, atmendes Wesen zu sein, ein Meer schimmernder Tränen, durch das sich die Luuwen, das dritte und letzte Geschlecht der Bibliothekare, mit traumwandlerischer Sicher-
heit bewegten. Hier schloss sich der Kreis. Hier schlug das Herz des Zentralarchivs. Kein Adept im dritten Ausbildungsjahr, der zum ersten Mal das legendäre Expar mit eigenen Augen sehen durfte, vergaß je wieder diesen Anblick. Milliarden iDocs, jedes einzelne Wissenskügelchen bildete die Essenz jahrelanger Anstrengung, zu psimagischer Energie geronnenes Wissen, miteinander verknüpft durch ein Netz aus silbernen Fäden, dünner als menschliches Haar und doch unzerreißbar. Dazwischen die zu Tausenden wimmelnden Luuwen, Tag und Nacht darum bemüht, das unendlich komplexe Flechtwerk zu verfeinern, zu pflegen, neues Wissen zu integrieren und Überholtes zu entfernen, Zusammenhänge zu erkennen, Fakten zu ordnen und zu sortieren, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Vor vielen Sonnenzyklen, nach Abschluss seiner Ausbildung, hatte Taardar Mun in den Kreis der Bewahrung geführt und ihm das Expar gezeigt. Mun wusste bis heute nicht, wie lange er damals mit offenem Mund vor dem gewaltigen Gebilde gestanden hatte, vor dieser gigantischen Mauer aus edelsteinglitzernden Tropfen, die viele hundert Meter in die Höhe ragte und fast den gesamten Großen Turm ausfüllte. Wie viele Adepten hatten an diesem unfassbaren Schatz mitgewirkt? Wie viele hatten sich für ihn aufgeopfert, manchmal sogar ihr Leben dafür verloren? Wenn man das Expar einmal gesehen hatte, dann verstand man, warum die Mitglieder der Gilde ihre Aufgabe mit so viel Leidenschaft und Entschlossenheit verfolgten. Das entsetzliche Stechen in Muns Schädel riss ihn endlich in die Gegenwart zurück. Die Felswüste war verschwunden. Statt dessen badeten Legetar und er in einem Ozean aus blauem Feuer. Er hielt den Selachen inzwischen ebenso fest umklammert wie dieser ihn. Mun ahnte, dass er den Roten Adepten auf keinen Fall loslassen durfte. Legetar schien sich auf einmal aufzublähen. Mun spürte, wie er sich losreißen wollte, und verstärkte den Griff. Jemand schrie so laut und Mitleid erregend, dass dem Adepten Schauer über den Körper liefen. Erst nach einer halben Ewigkeit begriff er, dass er selbst es war, der seine Qual in die unwirkliche Umgebung hinaus brüllte.
Das blaue Feuer zehrte ihn auf, fraß sich in ihn hinein. Er glaubte vor Schmerzen wahnsinnig zu werden, und obwohl er sich danach sehnte, endlich das Bewusstsein zu verlieren und aus diesem Alptraum zu erwachen, kämpfte er gegen die drohende Ohnmacht an. Glaubst du tatsächlich, dass du Legetar lediglich töten musst, um das Archiv zu retten?, hörte er die Stimme Taardars. Nein, natürlich war es nicht so einfach. »Warum fürchten wir den Schmerz, Mun?«, hatte ihn sein Lehrmeister früher oft gefragt. »Weil er uns körperliches Unbehagen bereitet«, hatte die Antwort des Adepten gelautet. »Weil er ein Zeichen für Krankheit und Tod ist.« »Falsch«, widersprach der Draawe. »Wir fürchten den Schmerz, weil wir mit ihm allein sind, und wenn es etwas gibt, das dem Tod gleichkommt, dann ist es die Einsamkeit. Schmerz ist – im Gegensatz zur Freude – unteilbar. Er isoliert, beraubt uns aller Masken und Selbsttäuschungen. Schmerz kennt nur die Wahrheit.« Vor ihm erschien das Gesicht Legetars. Der Selache sah um zehn Jahre älter aus – und sein Verfall setzte sich mit wachsender Geschwindigkeit fort. Grelles Blau ergoss sich in rhythmischen Wellen aus ihm heraus, und mit jedem neuen Schwall verlor der Selache einen Teil dessen, was sein und das Leben aller Geschöpfe im Universum ausmachte: Zeit! Legetar alterte in einem beängstigenden Tempo. Mun konnte zuschauen, wie sich die Falten immer tiefer in seine Züge gruben, wie die Haut schlaff und fleckig wurde. Die Falli, jene tentakelähnlichen Gelkammern, vertrockneten in Sekundenschnelle und hingen schließlich als dürre Gewebelappen rechts und links am Kopf herab. Legetars Griff lockerte sich, und wenn ihn der Adept nicht festgehalten hätte, wäre er zusammengebrochen. Mun dagegen fühlte sich mit jedem Atemzug besser. Auch wenn er noch nicht vollständig verstand, was hier passierte, so ahnte er die Zusammenhänge zumindest. Legetar hatte von Anfang an keine Chance gehabt. Ein unbarmherziges Schicksal hatte ihn zu etwas gemacht, das er nie hatte sein wollen. Vielleicht hatte Taardar recht gehabt, und das Expar benötigte tatsächlich in regelmäßigen Abständen
ein Ventil, um den angestauten psimagischen Druck auszugleichen. Vielleicht hing alles auch mit den ungewöhnlichen astronomischen Verhältnissen im System Dies Cygni und damit auf Less zusammen. Letztendlich war es gleichgültig, denn sowohl Legetar als auch Mun waren ohne ihr Zutun in die Ereignisse verwickelt worden. Niemand hatte sie um Zustimmung gebeten. Niemand hatte sie gefragt. Die Dualität ist das fundamentalste Gesetz der Natur. Das waren Taardars Worte gewesen. Jedes Teil hatte sein Gegenteil. Roter und Weißer Adept standen sich diametral gegenüber und doch war der eine nichts ohne den anderen und der andere nichts ohne den einen. Legetars Psimagie hatte die im Expar gespeicherte überschüssige Energie in das entstehende Zeitloch gelenkt, und Mun hatte den größten Teil dieser Energie neutralisiert und die Gefahr damit beseitigt. Alles andere waren nur Begleiterscheinungen eines Vorgangs gewesen, den selbst die jahrtausendelangen Nachforschungen der Bibliothekare bis heute nicht hatten erklären können. Das blaue Feuermeer war verblasst; die geheimnisvollen Blasen hatten sich aufgelöst. Mun und Legetar waren in den Kreis der Bemühung zurückgekehrt. Der Adept bettete den Kopf des Selachen, der einem Totenschädel glich, behutsam in seinen Schoß. Der einst so kräftige und vor Leben strotzende Rote Adept war zu einer Mumie geworden. Legetar atmete flach. Die schmalen Lippen bewegten sich, so als wolle er etwas sagen. Mun beugte sich zu ihm hinunter, brachte sein rechtes Ohr nahe an den Mund des Sterbenden. »Ich danke dir«, flüsterte Legetar. »Nun bin ich erlöst. Doch du … da ist etwas, das du wissen musst. Der Ort, den du und deine Freunde erreichen wollen. Ich spürte die große Bedeutung und habe deswegen für dich danach gesucht. Ich habe ihn gesehen.« Legetar wollte sich aufrichten, war aber zu schwach. »Bleib liegen«, sagte der Adept. »Es ist vorbei. Alles ist in Ordnung.« »Du … du verstehst mich nicht«, flüsterte der Selache. »Du hast dich … geirrt. Die Urmutter … sie existiert! So … wie ich, und wie so vieles andere, das du nicht erahnst. Du musst lernen zu glauben …« Legetars Mund formte tonlos Worte, er hatte kaum mehr die
Kraft zu sprechen. »Das Expar …«, brachte er schließlich hervor. Mun konnte den Selachen nur mit Mühe verstehen. »Es ist alles … vorhanden. So viel Wissen. So viele … Antworten. Und da ist … die Passage, Mun. Schrecklicher als ich. Sie wird … mehr zerstören, als du dir vorstellen kannst. Ich habe es gesehen … du musst die Sonnenkraftträgerin zur Urmutter bringen …« »Die Urmutter«, stieß der Adept erschüttert hervor. Tausend Fragen drängten sich in seinem Verstand, doch er wusste, er hatte keine Zeit mehr. »Wo finden wir sie?« »Nicht weit von hier«, erwiderte Legetar. »In der Nähe des … Meeres. Suche nach der Stele von … Majakar. Alles andere … wird sich finden.« War so etwas möglich? Sollte es tatsächlich eine Überlebende des Absturzes vor tausend Jahren geben? Wie hatte sie diese weit über ein Menschenleben hinausgehende Zeit überstanden? »Legetar«, bat Mun, »ich habe noch nie von diesem Ort gehört, wo …« Er brach ab. Ernüchtert blickte er auf den reglosen Körper in seinen Armen hinab. Legetars starrer Blick ging ins Leere. Der Selache war tot. * Wenige Stunden später verließ Mun den Weihenachen im Steinernen Hafen. Er brauchte nicht lange, um die kurze Strecke zur Herberge Aan roodsten zurückzulegen. Seit er sich von seinen Gefährten getrennt hatte und dem Ruf gefolgt war, waren knapp drei Tage vergangen, doch sie kamen ihm vor wie dreihundert. In seinem Kopf jagten sich noch immer die Gedanken. Nach Legetars Tod hatten sich die Gänge und Hallen im Kreis der Bemühung schnell wieder mit Leben gefüllt, Draawen und Schüler waren zurückgekehrt. Die meisten von ihnen hatten von den dramatischen Ereignissen gar nichts mitbekommen, und die wenigen, die wussten, wie knapp das Archiv der Katastrophe entgangen war, verspürten kein Bedürfnis, darüber zu sprechen. Das Expar allerdings war verschlossen. Auch Mun konnte keine weiteren Nachforschungen nach der Urmutter mehr anstellen. Der
Adept respektierte den Wunsch der Bibliothekare, sich für eine Weile zurückzuziehen und den Schock zu verarbeiten. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, denn die Draawen wussten nicht, was Dankbarkeit war. Seine Anwesenheit war nicht länger erwünscht. Sie hatten Mun die Pflicht auferlegt, das Archiv zu retten, das hatte er getan, und damit war die Aufgabe erledigt. Seine Bitte um Informationen lehnten sie rundweg ab, und Taardar war nicht mehr da, um ein Wort für ihn einzulegen. Schweigend holte Mun seinen Lederbeutel aus der Wohnzelle und ging. Es war sehr unbefriedigend, Shanija eine Enttäuschung bereiten zu müssen, nachdem er ihr versprochen hatte, zu helfen. Immerhin hatte er einen Anhaltspunkt: Die Stele von Majakar. Als Mun das Aan roodsten betrat, kam ihm Kemnor entgegen. Der Adept erkundigte sich nach seinen Gefährten. Laut Aussage des Wirts hielten sich derzeit lediglich Shanija und Seiya im Zimmer oben auf. Die beiden anderen Gäste waren wohl in Burundun unterwegs. Langsam machte Mun sich auf den Weg nach oben, erschöpft nach all dem, was im Zentralarchiv geschehen war. »Mun!« Seiya sprang vom Bett auf, als der Wissensträger die gemeinsame Unterkunft betrat. Sie machte einige Schritte auf ihn zu, blieb dann jedoch stehen und lächelte ihn schüchtern an. Sie sah so jung und liebreizend aus, dass es ihn rührte. Er war froh, wieder in der normalen Welt zu sein. Der Adept lächelte zurück und neigte kurz den Kopf. Erfreut sah er, dass die Prinzessin nur noch einen kleinen Verband um ihren Finger trug. Die Heiler von Burundun verstanden ihr psimagisches Handwerk. Shanija, die mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem Fenster gestanden und hinaus gestarrt hatte, drehte sich um und nickte Mun zu. Er bemerkte, dass sie ihre Wunde auf dem Brustbein erneut mit der Salbe behandelt hatte. Der Schnitt war dabei, sich unter dem Schorf zu schließen, die Haut darum hatte eine gesunde Farbe. Auch die Stirnwunde war fast verheilt. »Du siehst müde aus«, stellte Shanija fest. »Setz dich, iss etwas. Und erzähl, soweit es dir gestattet ist.«
Mun ließ sich auf einem der um den schweren Holztisch gruppierten Stühle nieder. Die beiden Frauen setzten sich zu ihm und warteten geduldig, während er etwas zu sich nahm. In einer Zusammenfassung erzählte der Adept den staunenden und mitfühlenden Frauen, was er im Archiv erlebt hatte, und erfuhr zu seiner Überraschung, dass auch Shanija und Darren den seltsamen Selachen Legetar getroffen hatten. Das musste kurz vor dessen Aufbruch zum Zentralarchiv gewesen sein. Mun beendete seinen Bericht mit dem Tod Legetars und der Erwähnung der Stele von Majakar, dem vermutlichen Aufenthaltsort der Urmutter. Shanija schloss für einen Moment die Augen. »Sie existiert also«, flüsterte sie erleichtert. Ein Schatten wich von ihrem Gesicht, als wäre ein Teil ihrer schweren Last genommen worden. »Ich darf endlich realistisch hoffen, nicht nur wünschen oder träumen.« »Leider habe ich nur eine grobe Richtungsangabe«, bedauerte Mun. »Besser als nichts«, meinte Shanija. »Besser als alles, was ich bisher hatte. Irgendwo am Meer wird es jemanden geben, der die Stele von Majakar kennt.« Schlagartig strahlte sie Zuversicht aus und wirkte energiegeladen, drauf und dran, sofort loszustürmen. Der Adept konnte es ihr nicht verdenken. Mun erzählte ihr nichts von der Vision, die er gehabt hatte. Nicht jetzt, entschied er, denn dieses Bild war mehr als vage gewesen. Vor allem hatte er keine Vorstellung, wie es zu deuten war. Nachdem Mun seinen Bericht beendet hatte, zog er sich in sein Bett zurück. Die Augen fielen ihm zu, er brauchte dringend Schlaf. * Shanija, die ein wenig eingenickt war, fuhr auf, als Darren zurückkam. »Ich dachte schon, du wärst uns auch abhanden gekommen.« Darren keuchte, er schien gelaufen zu sein. »Ich brauche was zu trinken.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, goss sich einen Becher voll und sog gierig den Saft in sich ein. »Hast du As'mala gefunden?«, fragte Seiya aufgeregt.
Vom Bett her erklang Muns überraschter Ausruf. »As'mala ist verschwunden?« »Das wissen wir noch nicht«, antwortete Shanija. »Sie hat eine Nachricht hinterlassen, dass sie allein auf Erkundung geht.« »Vor drei Tagen«, ergänzte Seiya. »Seit gestern suchen wir nach ihr. Es passt nicht zu As'mala, sich solange nicht zu melden.« »Wie es scheint, ist sie tatsächlich verschwunden«, begann Darren schließlich seinen Bericht. »Wenigstens habe ich endlich eine Spur gefunden. Sie hat sich vor zwei oder drei Tagen in einem Gasthaus mit einem merkwürdigen Kerl unterhalten. Groß, hager, gutaussehend, aber irgendwie … seltsam. So bezeichneten ihn mehrere Stammgäste, die ihn schon öfter dort gesehen haben wollen. Er scheint eine ziemliche Wirkung auf Frauen zu haben, denn ab und zu schleppt er eine ab.« »Das wäre nicht ungewöhnlich für As'mala, mitzugehen«, bemerkte Shanija. Darrens Miene verdüsterte sich jedoch. »Seine Begleiterinnen hat man nicht wieder gesehen. Es gab schon Anzeigen bei den Archivwächtern, aber die bekamen den Kerl nicht zu fassen. Er taucht immer nur kurz auf und ist schon wieder verschwunden, bevor ein Wächter in seine Nähe kommt.« Seiya machte ein besorgtes Gesicht. »Hoffentlich ist As'mala nichts zugestoßen«, flüsterte sie. »As'mala ist bodenständig und erfahren«, wandte Shanija ein. »Sie kann sehr gut auf sich aufpassen und wird sich nicht von einem einzelnen Mann übertölpeln lassen.« »Und wenn doch?«, fuhr Seiya auf. »Du machst es dir leicht!« »Das tue ich ganz gewiss nicht«, sagte Shanija ungehalten. »Und was schlägst du vor?«, fragte Darren. Shanija presste die Lippen zusammen. »Ich muss zum Meer«, antwortete sie leise. Seiya starrte sie einen Moment lang fassungslos an. Dann stieß sie hervor: »Das ist nicht dein Ernst!« Hilflos blickte sie zu Mun. Der Adept schwieg jedoch, wie gewöhnlich, sobald sich soziale Konflikte anbahnten.
»Könnte mich mal einer aufklären, wieso gerade zum Meer?«, verlangte Darren. Shanija gab ihm einen Kurzbericht über das, was Mun herausgefunden hatte. »Und das heißt also«, sagte Darren langsam, »dass du dich sofort auf den Weg dahin machen willst.« »Ich muss, Darren«, versuchte sie zu erklären. »Die Zeit läuft mir davon.« »Da wären wir ja wieder einmal am Punkt angelangt.« Darren schlug mit den flachen Händen klatschend auf die Tischplatte, stand auf und trat ans Fenster. Shanija runzelte die Stirn. »Worauf willst du hinaus?« »Das weißt du ganz genau!«, fuhr Seiya sie an. »Es ist schließlich nicht das erste Mal!« »Milliarden Menschen …«, begann Shanija, doch sie kam nicht weiter. »Verschone uns!« Darren wandte sich ihr zu und hob die Hände. »Du denkst ja nicht mal über eine Möglichhit nach, wie man die Suche nach As'mala mit der deinen verbinden kann! Deine Entscheidung ist gefallen, ganz militärisch: Verluste müssen einkalkuliert werden.« »Das … ist unfair.« Shanija spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Willst du As'mala suchen, oder nicht?«, fragte Seiya herausfordernd. »Sie hat dir mehr als einmal das Leben gerettet!« Shanija stand auf, es wurde ihr jetzt zu viel. »Das weiß ich, Seiya. Und auch, dass ich ihr das niemals vergelten kann. Aber alle Opfer wären sinnlos gewesen, wenn ich jetzt nicht zusehe, meinen Auftrag zu erfüllen.« »Hast nicht du uns gelehrt, dass man niemanden zurücklässt?«, erklang Darrens Stimme vom Fenster. »Ja.« Shanija schloss kurz die Augen. »Aber ich habe keine Wahl. Wenn ihr zum Himmel schaut, wisst ihr, was ich meine. Die Veränderungen fangen bereits an. Die Passage rückt näher. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.« Sie griff sich an die Brust. Als wäre dies ein Si-
gnal gewesen, löste Pong sich aus ihr, doch im Gegensatz zu seiner sonst so schnoddrigen Art verhielt er sich still. »Ich weiß jetzt, dass die Urmutter existiert, doch ich habe nur einen vagen Anhaltspunkt, wo sie sich aufhält. Ich kann nicht abschätzen, wie lange ich nach ihr suchen muss.« »Natürlich, die Suche nach As'mala würde zusätzlich Zeit rauben«, äußerte Darren sarkastisch. Seiya bedachte Shanija mit einem Blick, der ihr einen heftigen Stich versetzte. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Seiya, ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, was oberste Priorität für mich hat. Ich muss mich für die Menschheit der Erde entscheiden.« »Tja, das ist deine Entscheidung, wohl wahr«, machte sich Darren wieder bemerkbar. »Aber ich sage dir: Bei uns auf Less läuft das anders. Wir sind eine Gemeinschaft, in der einer für den anderen da ist. Ich werde jedenfalls weiter nach As'mala suchen.« »Ich auch«, bekräftigte Seiya. »Genau das solltet ihr«, versetzte Shanija. »Es ist sowieso besser, wenn ihr meine Nähe meidet. Je näher die Passage rückt, desto mehr Anhänger der Sekten werden mich in die Fänge kriegen wollen. Es wird zu gefährlich für euch. Deshalb muss ich ab hier allein weiter. Ich halte das für die beste Lösung.« »Und das war's dann?« Darren schnippte mit dem Finger. »Einfach so?« Shanija schluckte schwer. Wie sollte sie ihm begreiflich machen, dass dieser Zeitpunkt früher oder später ohnehin gekommen wäre? »So ist es nicht«, flüsterte sie. »Darren, ich …« »Nein, schon gut«, unterbrach er. »Keine emotionalen Ausbrüche mehr, bitte, wenn es sowieso vorbei ist. Ich hätte es wissen müssen.« »Ich habe euch nie etwas vorgemacht«, sagte Shanija verzweifelt. Seiya wandte sich an Mun. »Und was wirst du tun?« »Ich werde Shanija begleiten«, antwortete der Adept bedächtig. »Das Zentralarchiv hat mir den Auftrag gegeben, sie zur Urmutter zu bringen.«
Die Unterlippe der Prinzessin fing an zu zittern. »Oh, natürlich, ich vergaß«, sagte sie leise. »Du bist ja genauso pflichtversessen wie Shanija. Ihr beide passt perfekt zusammen.« Sie ging zu ihrem Bett und sammelte ihre Sachen. Shanija sah Darren bittend an, aber er wandte sich ab und packte ebenfalls. »Ihr … ihr werdet As'mala bestimmt finden«, sagte sie schließlich. Darren schulterte seinen Beutel. »Sicher«, sagte er kühl. »Mach dir um uns keine Gedanken, wir kommen zurecht. Schließlich ist das hier unsere Heimat. Geh und erfüll deinen Auftrag, Shanija Ran von der Erde.« Mit der Fingerkuppe tupfte er kurz Pong an, der mit hängenden Flügeln auf Shanijas Schulter saß. Seiya versuchte etwas zu sagen, aber sie brachte nichts mehr heraus. Sie folgte Darren aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen, und Shanija lauschte lange dem Nachhall ihrer Schritte auf der Treppe. Dann konzentrierte sie sich auf die Zukunft. »Du hättest mit ihnen gehen sollen«, sagte sie zu Mun, während sie ihre Sachen zusammensuchte. »Wir gehen alle, wohin wir müssen«, erwiderte der Adept. »Taardar gab mir folgende Worte zum Abschied meiner ersten Reise mit auf den Weg: Von dem, was du wirklich erkennen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens auf Zeit. Erst wenn du Burundun verlassen hast, siehst du, wie hoch sich der Große Turm des Zentralarchivs über die Häuser erhebt.« ENDE
Anhang Die Sekten Eine alte Legende besagt, dass alle 10.000 Quartennien (= 257.000 Jahre) durch eine besondere Konstellation, genannt »Passage«, ein Riss im Kontinuum entsteht und sich eine Verbindung zu einem anderen Universum öffnet. Schon einmal soll ein gewaltiges Wesen von dort versucht haben, den Durchgang zu nutzen (und hat angeblich einiges hinterlassen, was diese Legende belegen soll), aber der Riss hat sich geschlossen, bevor das Wesen hindurch konnte. Die Passage entsteht durch eine besondere Sonnenkonstellation des Systems, das das ohnehin brüchige Gleichgewicht durcheinanderbringt. Durch die dabei entstehenden neuen Kräfteverhältnisse bricht das Normalgefüge auseinander und lässt einen klaffenden Riss entstehen – wohin auch immer. Die Bibliothekare verfolgen die Theorie, dass während der Passage tatsächlich eine Verbindung zwischen zwei Universen entsteht, und es spricht auch einiges dafür, dass »irgendetwas« hindurchkommen könnte – oder dass unser Universum von dem anderen eingesaugt wird. Bisher hat die Passage zwar noch keine universell zerstörerischen Auswirkungen gehabt, aber durch die regelmäßigen Intervalle, in denen dieses Phänomen stattfindet (wann es begann, weiß man nicht), könnte es tatsächlich einmal zu einem Kollaps kommen. Neben vielen kleineren Sekten und Glaubensgemeinschaften gibt es drei bedeutende und allgemein bekannte Sekten, die ihre religiöse Auffassung über die Identität des Wesens aus dem fremden Universum gebildet haben: 1. Bei dem Wesen handelt es sich um Gott, den Schöpfer unseres Universums, der sich nach Beendigung der Schöpfung zurückgezogen hat (oder sein Werk in einem anderen Universum fortsetzte), und nun zurückkehren will, um den Fortgang der Schöpfung zu be-
werten und zu vollenden. Diesen Glauben verfolgt die Sekte des Wiedergängers, die sich aus vielen Völkern zusammensetzt, unter Führung des Erhabenen Propheten, einem Menschen namens Raban. Diese Sekte existiert erst seit etwa zweihundert Jahren und ist sehr populär. 2. Bei dem Wesen handelt es sich um Dur, den Ewigen, der unser Universum und sein eigenes miteinander verbinden will, um »Herrscher« über zwei Universen zu werden. Diesen Glauben verfolgt die Sekte des Erlösers, die ebenfalls bunt zusammengesetzt ist, unter Führung ihres derzeitigen Verkünders, einem nichtmenschlichen Wesen namens Aliandur (»Sprecher des Dur«). Diese Sekte existiert bereits seit eintausend Jahren und ist wegen ihrer Ziele, die beiden Universen miteinander verbunden zu sehen, umstritten. 3. Es gibt eine Gegenströmung scharfer Kritiker dazu, die Dur für eine grausame, dunkle Gottheit halten und den Untergang unseres Universums prophezeien, sollte die Verbindung gelingen. Unser Universum würde sich dem anderen angleichen und sich in eine Hölle verwandeln. Dur ist demnach »der Widersacher«. Die Kritiker haben sich vor etwa vierzig Jahren von der ursprünglichen Sekte der Verkünder abgespalten und bezeichnen sich als Warner. Ihr Anführer ist ein gesichtsloses, masketragendes, humanoides Wesen namens Corundur (»Feind des Dur«). Die Warner sind kompromisslos in ihrem Auftreten, schrecken vor Gewalt und Attentaten nicht zurück.
Vorschau Am Rande der Hoffnung von Volker Ferkau und Michael Marcus Thurner
Die Gemeinschaft ist zerfallen. Die »Passage«, eine besondere Sternenkonstellation, steht kurz bevor, was gewaltige, lebensbedrohliche Veränderungen auf Less auslöst. Anhänger der Sekten der Warner, Wiedergänger und Erlöser bereiten sich auf den großen – oder letzten – Tag vor, wenn der Ewige Zutritt erhält. Während Prinzessin Seiya und Darren Hag nach As'mala suchen, sind Shanija Ran und der Adept Mun weiter Richtung Osten unterwegs, zum Meer und der geheimnisvollen »Stele von Majakar«, wo die tatsächlich noch existierende Urmutter der Menschheit auf Less leben soll.