Dass muss die große Liebe sein Renee Roszel
Romana 1299
1/2 2000
gescannt von suzi_kay korrigiert von Dodoree
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Dass muss die große Liebe sein Renee Roszel
Romana 1299
1/2 2000
gescannt von suzi_kay korrigiert von Dodoree
1. KAPITEL
Joshua Raven hatte sich lässig auf den antiken Kaminsims gestützt und gab vor, der überschwänglich plappernden Blondine zuzuhören, die ein viel zu enges Kleid trug. An diesem Abend stand ihm einfach nicht der Sinn nach affektierten Frauen. Vielmehr wollte er die letzte Hürde überwinden, die seiner Übernahme von Maxim Enterprises noch im Weg stand. Er wollte Gower Isaacs Tochter heiraten. Wie war noch gleich ihr Name? Mindy, Sandy? Nein, Wendy. Genau! Diesen Namen würde er sich merken müssen. Ab und zu lächelte er die Blondine an, um ihr zu signalisieren, dass er ihr zuhörte. Dann wiederum ließ er den Blick durch das elegante, im georgianischen Stil eingerichtete Wohnzimmer schweifen, das in Apricot- und Rosttönen gehalten war. Joshs Gastgeber, Gower Isaac, hatte die Stirn gerunzelt und zuckte die Schultern, als er Joshuas Blick begegnete. Offensichtlich missfiel ihm die Verspätung seiner Tochter ebenfalls. Wendy hätte schon vor einer Stunde eintreffen sollen, und Josh verlor langsam die Geduld. Nachdem er einige Worte mit der schier übersprudelnden Blondine gewechselt hatte, riskierte er einen unauffälligen Blick auf seine Armbanduhr. Fast halb neun. Gowers Tochter hatte wirklich Nerven! Unter anderen Umständen hätte er sich auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung wie dieser nur kurz blicken lassen und sich dann unter dem Vorwand verabschiedet, dringende geschäftliche Angelegenheiten erledigen zu müssen. Doch an diesem Abend gab es kein Entrinnen, denn er sollte dem Vorstand von Maxim Enterprises als neuer Generaldirektor vorgestellt werden. Man wartete nur noch auf das Eintreffen von Miss Wendy Isaac. Sie wusste noch nichts von ihrem Glück, dass sie hier ihren zukünftigen Ehemann kennen lernen würde - falls sie je auftauchen würde. Gower hatte sein einziges Kind kürzlich als "etwas seltsam" bezeichnet. Josh verzog resigniert das Gesicht. Wenn man nur heiratete, um einen millionenschweren Vertrag abzuschließen, konnte man keine Liebesheirat erwarten. Hoffentlich ließ die seltsame Wendy Isaac sich bald blicken, damit er damit beginnen konnte, um sie zu werben.
Der alte Gower hatte darauf bestanden, dass er, Josh, seine Tochter heiraten würde. Vielleicht hatte Gower gehofft, ihn dadurch doch noch von dem Geschäft abbringen zu können. Doch da kannte er ihn schlecht. Er wusste, dass Menschen aus den verschiedensten Gründen und nicht immer aus Liebe heirateten. Josh träumte seit Jahren davon, endlich die Leitung von Maxim Enterprises zu übernehmen. Nichts und niemand würde ihn nun - so kurz vor dem Ziel - davon abbringen. Schon gar nicht dieses seltsame Mädchen, das sich einbildete, von ihrem zukünftigen Mann angehimmelt und auf Händen getragen zu werden. Als Josh ein vernehmliches Hüsteln hörte, sah er auf. Der alte Gower ging zur Flügeltür des Raumes, wo eine mit Jeans und einem weiten Sweatshirt bekleidete Frau stand. Unter all den Herren im Smoking und Damen in eleganter Abendrobe wirkte sie denkbar fehl am Platz. Sie winkte Gower zu und wich zurück. Offenbar wollte sie ihn nur wissen lassen, dass sie da war, beabsichtigte jedoch nicht, sich unter die Gäste zu mischen: Josh beobachtete, wie der kleine, korpulente Gower Isaac die Frau am Arm festhielt und so zum Bleiben zwang. Sein gerötetes Gesicht wurde noch dunkler, als er aufgebracht auf die Frau einredete. Sie lächelte und drückte ihn kurz an sich. Sollte dies die seltsame Wendy Isaac sein, dann hatte sie - Joshs Ansicht nach - einige Pluspunkte verdient, weil sie sich von ihrem zornigen Vater nicht aus der Ruhe bringen ließ. Eine Gemeinsamkeit hätten wir also schon, dachte Josh und ließ den Blick über ihr Gesicht gleiten. Sie war nicht im klassischen Sinn schön. Das braune Haar hatte sie achtlos zum Pferdeschwanz gebunden. Dafür hatte sie einen hübschen Mund und ein ansteckendes, strahlendes Lächeln. Er war überrascht, als sie ihn plötzlich ansah. Ihr Lächeln war nicht mehr ganz so strahlend, und sie zog die Augenbrauen zusammen. Offensichtlich konzentrierte sie sich auf die Worte ihres aufgebrachten Vaters. Schließlich versetzte sie ihm einen Stups und bahnte sich einen Weg zu Josh. Josh sah, dass sie Joggingschuhe der Marke "Go for it" - "Auf geht's!" - trug, und hatte den Eindruck, es könnte sich um Wendy Isaacs Lebensmotto handeln. Als sie nun selbstbewusst auf ihn zukam, überlegte er, was ihr Vater wohl gesagt haben könnte. Vielleicht: "Wendy, mein liebes Kind, dieser Mann ist bereit, Maxim Enterprises
zu kaufen. Dadurch können wir eine feindliche Übernahme abwenden. Um die Firma jedoch weiterhin in Familienbesitz zu behalten, habe ich zur Bedingung gemacht, dass er dich heiratet. Sei ein liebes Mädchen." Nein, so ist es bestimmt nicht gewesen, dachte Josh sofort. Gower hatte ihm ja berichtet, Wendy weigere sich, als Faustpfand für seine Geschäfte missbraucht zu werden, so, wie es ihrer Mutter ergangen war. Für Wendy kam nur eine Liebesheirat in Frage. Außerdem lächelte sie, als sie jetzt auf ihn zukam. Das hätte sie sicher nicht getan, wenn ihr Vater ihr reinen Wein eingeschenkt hätte. Die arme Blondine neben ihm hatte aufgehört zu plappern. Offensichtlich war ihr endlich bewusst geworden, dass ihr sowieso kein Mensch zuhörte. Wendy stand jetzt vor ihm und reichte ihm die Hand. "Hallo, Mr. Raven." Als er ihre Hand umschloss, ergriff sie die Initiative und schüttelte seine, was für eine Frau ihrer Herkunft sehr ungewöhnlich war. "Dad meinte, wir sollten uns kennen lernen. Leider habe ich wenig Zeit. Ich bin nur kurz hergekommen, um einige Sachen abzuholen, und muss gleich wieder los." Josh betrachtete ihre lebhafte Mimik und bemerkte, dass ihre Augen größer waren, als er gedacht hatte. Sie waren von einem ungewöhnlichen Veilchenblau. Sehr hübsch. Und Wendy lächelte ihn völlig unbefangen an. Sie schien das genaue Gegenteil ihres berechnenden, herrischen Vaters zu sein. "Ich gebe dienstags, donnerstags und sonnabends Abendkurse für Erwachsene, die lesen und schreiben lernen wollen", erklärte sie. "Dad vergisst das immer. Ich bin wirklich sehr in Eile. Der Mann, den ich heute Abend unterrichte, ist vierzig Jahre alt und hat sich anfangs sehr geschämt, weil er Analphabet ist. Es hat ihn große Überwindung gekostet, zum Unterricht zu kommen. Und nun ist er ganz begeistert, und ich darf ihn einfach nicht hängen lassen. Dad ist furchtbar böse auf mich, weil ich nicht hier bleiben kann." Sie zuckte die Schultern. Vielleicht war sie es gewohnt, ihren Vater zu enttäuschen. "Dad hat erzählt, Sie sind der Retter von Maxim Enterprises. Das ist wirklich ganz wunderbar. Bestimmt haben wir bald mal Gelegenheit, uns zu unterhalten." Sie sah flüchtig auf ihre Armbanduhr. "Oje, schon halb neun. Jetzt muss ich aber rennen."
Wendy lächelte entschuldigend, drehte sich um und war im nächsten Moment verschwunden. "Ich habe mich auch gefreut, Sie kennen zu lernen, Wendy", erwiderte Josh leise. Sein Selbstbewusstsein hatte ein wenig gelitten. Die seltsame Wendy Isaac schien ihn, Joshua Raven, nicht für so unwiderstehlich zu halten, wie die Boulevardpresse es ständig von ihm behauptete. Dabei hatte er gehofft, er würde leichtes Spiel mit Wendy haben. Da hatte er sich offensichtlich getäuscht. Er würde sich richtig ins Zeug legen müssen. "Das ist mir wirklich sehr peinlich, mein Junge." Gower war zu Josh gekommen und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. "Das Mädchen ist schrecklich eigenwillig." Josh lächelte amüsiert. "Sie hatten mich ja gewarnt, Gower. Ich finde sie eigentlich recht erfrischend." Gowers Miene war noch immer finster. "Sie sind eben ein Gentleman." Dann hatte er offenbar eine Idee. "Wie wäre es, wenn Sie morgen zum Abendessen kommen würden?" Josh schob eine Hand in die Hosentasche. "Unterrichtet Ihre Tochter auch sonntags?" Gower stieß einen verächtlichen Laut aus. "Ich glaube nicht. Im vergangenen Monat hat sie mich an einem Sonntag zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung begleitet. War ein hartes Stück Arbeit, sie dazu zu überreden. Sonntag scheint ihr freier Tag zu sein. Ich werde dafür sorgen, dass sie morgen Abend da ist. Und wenn ich sie am Tisch festbinden muss", fügte er entschlossen hinzu. Josh musterte ihn überrascht. Meinte der alte Mann das etwa ernst? Wohl kaum. Josh lächelte. "Okay. Vielen Dank für die Einladung." "Dann können Sie anfangen, sie zu verführen." Josh zuckte zusammen. Gower hatte sich abgewandt und winkte jemandem am anderen Ende des Raumes zu. Josh musterte den alten Mann von der Seite. Wie konnte ein Vater nur so von seiner Tochter reden? Sie war doch keine Zuchtstute, die man an den Meistbietenden verkaufte. Aber er, Josh, hatte sich auf diesen Handel eingelassen. Für ihn gehörte Wendy Isaac mit zum Aktienpaket. Gower wandte sich ihm wieder zu und klopfte ihm auf die Schulter. "Okay, mein Junge, dann bis morgen Abend halb sieben." Josh nickte und konzentrierte sich auf sein Ziel. Wenn Maxim Enterprises erst einmal ihm gehörte, würde er zu den reichsten
Männern Amerikas zählen. Und deshalb würde er Wendy Isaac nach allen Regeln der Kunst umwerben. Sie sollte den Eindruck haben, er läge ihr zu Füßen. Wendy fühlte sich sehr wohl in der Wohnung des Butiers, die an den Küchentrakt des Hauses angrenzte. Überall standen und lagen Bücher, es roch nach Pfeifentabak, und es war genauso gemütlich wie der Mann, der hier wohnte. Miltville, der sie schon seit ihrer Geburt kannte, war wie ein Großvater für sie. Er und sein alter irischer Setter Agnes hatten ihr sehr gefehlt. Viel mehr als ihr Vater, was nicht gerade für ihn sprach. Sie kniete auf dem Wollteppich, um Agnes zu streicheln. "Wie geht es dir, altes Mädchen?" Die Hündin hob den Kopf und leckte Wendy die Hand. "Wir haben dich auch vermisst. Deshalb habe ich Al mitgebracht." Wendy strich der Albino-Krähe über den Kopf. Der Vogel hatte sich auf einem Zeitschriftenstapel neben dem Couchtisch niedergelassen. Sie betrachtete ihr Haustier. "Na, Al? Freust du dich, Aggie zu sehen?" Die Krähe war ganz weiß, nur die Augen waren rosa. Sie hob einen Fuß und krähte: "Al liebt Aggie. Al liebt Aggie." Wendy lachte. "Ja, und Aggie liebt..." "Was, um alles in der Welt, tust du hier, Kind?" Da sie an den barschen Tonfall ihres Vaters gewöhnt war, zuckte Wendy nicht mit der Wimper. Doch Agnes versteckte sich ängstlich unterm Couchtisch. Al flatterte kreischend vom Zeitschriftenstapel direkt auf Wendys Kopf und krallte sich erschrocken im Haar fest. "Au", schrie Wendy auf. Zum Glück hatte sie Al gerade die Krallen geschnitten, so dass ihre Kopfhaut nicht verletzt worden war. Wendy stand auf und musterte ihren Vater ungehalten. "Da siehst du, was du angerichtet hast, Dad. Du hast Al erschreckt." Sie versuchte, die Krallen des Vogels aus ihren Locken zu lösen, mit denen sie sich so viel Mühe gegeben hatte, doch dieser hackte nur nach ihrem Finger. "Au! Was fällt dir ein, Al?" Die Krähe thronte also weiterhin auf ihrem Kopf. "Du hast wirklich keine Ahnung, wie man mit Tieren umgeht, Dad." Sie ließ seine unwillige Musterung über sich ergehen. Offensichtlich missfielen ihm das grüne Baumwollkleid und die Sandaletten. "Willst du in diesem Aufzug zum Abendessen kommen?"
Er ist wirklich unausstehlich, dachte sie und schüttelte den Kopf. Al krallte sich sofort in ihrem Haar fest, und Wendy zuckte zusammen. "Warum muss ich denn unbedingt zum Abendessen kommen, Dad? Du willst dich doch bestimmt mit Mr. Raven übers Geschäft unterhalten, oder? Sonst behauptest du immer, von meinem Geplapper Kopfschmerzen zu bekommen." "Es ist eine gute Gelegenheit für dich und Josh, euch näher kennen zu lernen." Gower ließ noch einmal missbilligend den Blick über sie gleiten. "Hast du keine Kleider hier gelassen, als du ausgezogen bist? Du musst doch etwas anderes anzuziehen haben." Wendy blieb gelassen und strich ihrem Vater über die Wange. "Dies ist nicht das Jahr 1955, Dad. Man trägt heutzutage keine Schärpen und weißen Handschuhe mehr. Außerdem kauft Mr. Raven die Firma, nicht mich. Ihm ist es sicher völlig gleichgültig, was ich trage." Ihr Vater verschränkte die Arme vor der Brust. Trotz seines Gewichts wirkte er in dem marineblauen Seidenanzug wie aus dem Ei gepellt. "Jetzt verscheuch schon endlich diesen lächerlichen Vogel von deinem Kopf, Kind. Wenn Raven dich so sieht, wird er dich für verrückt halten." Als in diesem Moment die Türglocke erklang, huschte ein fast ängstlicher Ausdruck über Gowers Gesicht. "Da ist er schon." Seine Nervosität verblüffte Wendy. Ihren Vater brachte sonst nichts so leicht aus der Ruhe. Besorgt folgte sie seinem Blick zur Küche. "Miltville ist bereits auf dem Weg zur Haustür." Gower drehte sich zu Wendy um und verzog das Gesicht. "Nun tu endlich etwas!" "Pst", sagte sie warnend, begleitet von Als schrillem Kreischen. "Mit deinem Gezeter machst du alles nur noch schlimmer, Dad. Die einzige Möglichkeit, Al jetzt loszuwerden, wäre, mir die Haare abzuschneiden, in die sie sich verkrallt hat. Wir warten lieber, bis sie sich wieder beruhigt hat." Wendy umfasste die Hand ihres Vaters. "Wenn Al sich aufgeregt hat, ist nichts zu machen. Wenn du dich fünfzehn oder zwanzig Minuten ganz ruhig verhalten würdest, könnte ich sie vielleicht dazu bewegen, von meinem Kopf herunterzufliegen." Gemeinsam gingen sie in die Küche. Dann blieb ihr Vater stehen. Wendy bemerkte die verblüfften Blicke des Personals. Sie hatte Verständnis, denn schließlich sah man nicht jeden Tag eine weiße Krähe auf dem Kopf einer Frau sitzen. "Du willst Mr. Raven doch nicht mit diesem... diesem Tier auf dem Kopf begrüßen?" fragte ihr Vater entsetzt.
Wendy lächelte verstohlen. Es freute sie, von ihrem Vater ausnahmsweise einmal ernst genommen zu werden. Er beachtete sie ja nur, wenn er sich über sie aufregte. "Warum soll Mr. Raven Al denn nicht kennen lernen?" fragte sie unschuldig. "Sie haben doch einiges gemein. Al ist eine Krähe, also ein großer Rabenvogel, und Raven bedeutet ,Rabe'. Vielleicht würden sie sich gern unterhalten." "Wendy!" brauste Gower ungehalten auf und fuhr sich ratlos übers Gesicht, als der Vogel erschrocken aufkreischte. "Was habe ich nur falsch gemacht?" brummelte Gower. "Du bist kein Kind mehr, Wendy, sondern eine junge Frau von fünfundzwanzig Jahren. Es gehört sich nicht, seine Gäste mit Vögeln auf dem Kopf zu begrüßen." Sie betrachtete ihren Vater mitleidig. Er war schrecklich pedantisch und egozentrisch, und er würde nie einsehen, dass er sich selbst ständig das Leben schwer machte. Wendy wollte ihn beruhigend an sich drücken, doch er schob sie von sich. "Nicht! Du weißt, dass ich solche Gefühlsduselei nicht leiden kann." Wendy seufzte. Doch so leicht ließ sie sich nicht aus der Fassung bringen. "Immerhin ist es deine Schuld, dass Al auf meinem Kopf sitzt", gab sie zu bedenken und hakte sich bei ihrem Vater ein. "Außerdem hast du Mr. Raven doch schon verraten, dass ich etwas ... außergewöhnlich bin. Das erzählst du den Leuten doch immer zuerst." Er verzog mürrisch das Gesicht. In seiner Miene spiegelte sich aber auch Schuldbewusstsein. "Ich hab's ja gewusst!" Es machte ihr kaum noch etwas aus, dass ihr Vater sich ständig für ihr - in seinen Augen - merkwürdiges Verhalten entschuldigte. "Trotzdem verbiete ich dir, Mr. Raven mit diesem Monstrum auf dem Kopf zu begrüßen." "Du verbietest es mir?" Wendy Isaac ließ sieh nichts verbieten! Zumindest in dieser Beziehung ähnelte sie ihrem Vater. Unerschrocken hielt sie seinem Blick stand. "Offensichtlich verwechselst du mich mit meiner Mutter", sagte sie gelassen. "Komm jetzt, Dad." Es gelang ihr tatsächlich, ihn mit zur Haustür zu ziehen. Natürlich fand auch sie es wenig erbaulich, Mr. Raven, mit einer Krähe auf dem Kopf willkommen zu heißen, aber der Gedanke, an einem langweiligen Geschäftsessen teilnehmen zu müssen, war auch nicht
gerade begeisternd. Daher schlug sie vor; "Ich könnte auch durch die Hintertür verschwinden und nach Hause gehen." "Nein, kommt nicht ...", fuhr ihr Vater sie zornig an, besann sich dann jedoch eines Besseren und fügte in versöhnlicherem Tonfall hinzu: "Ich möchte, dass du uns heute Abend Gesellschaft leistest." Missbilligend betrachtete er den Vogel. "Wieso hast du das Tier überhaupt mitgebracht?" "Weil Al deprimiert, war. Ich war in der letzten Zeit kaum zu Hause, und da dachte ich, die Gesellschaft von Agnes und Miltville würde ihr gut tun." Gower musterte sie verständnislos, "Wie kann ein Vogel deprimiert sein?" "Al hat gebellt. Sie bellt immer, wenn Agnes ihr fehlt." Ihr Vater schüttelte den Kopf, als würde er die Welt nicht mehr verstehen. Wendy konnte sich das Lachen kaum verkneif en. Obwohl sie es mit ihrem Vater nicht leicht hatte, liebte sie ihn doch. Sie hatte ja auch nur noch ihn. Ihrer Mutter hatte er das Leben zur Hölle gemacht, bis sie daran zerbrochen war. Doch sie, Wendy, war aus anderem Holz geschnitzt. Jahrelange Erfahrung im Umgang mit ihm hatte sie gelehrt, seine Wutanfälle einfach zu ignorieren. Sie behandelte ihn nett und freundlich, weigerte sich jedoch, sich von ihm einschüchtern zu lassen. Dieses Verhalten machte ihn wiederum fast wahnsinnig. Doch das war ihr egal. Sie ließ sich nicht bevormunden. Inzwischen hatten sie die weitläufige, ovale, mit Säulen verzierte Halle erreicht. Das Geräusch ihrer Schritte hallte auf dem weißen Marmorboden wider. Da hier alles weiß ist, bemerkt Mr. Raven Al vielleicht gar nicht, dachte Wendy ironisch. Miltville, der betagte Butler, hatte das Portal geöffnet, um den Gast einzulassen, der in schwarzer Hose und schwarzem Polohemd einen scharfen Kontrast zu der Umgebung bildete. In dieser Aufmachung sieht er genauso blendend aus wie im Smoking, dachte Wendy überwältigt. Schon bei ihrer ersten Begegnung war ihr ein prickelnder Schauer über den Rücken gelaufen, als Mr. Raven sie so eindringlich angesehen hatte. Natürlich hatte sie sich nichts anmerken lassen, vergessen konnte sie dieses Gefühl allerdings nicht. Der Mann hatte sich bereits in jungen Jahren zu einem Topmanager hochgearbeitet. Vielleicht betrachtete er jeden Menschen mit Adleraugen, um ihn
gleich von vornherein richtig einschätzen zu können. Möglicherweise
war das sein Erfolgsrezept.
Wendy beobachtete, wie er sie ansah - und die Krähe. Nur einen
Sekundenbruchteil lang spiegelte sich Verblüffung in seiner Miene,
dann hatte er sich wieder in der Gewalt und betrachtete Wendy mit
seinen schwarzbraunen Augen. "Hallo, Mr. Raven", sagte sie lächelnd.
"Herzlich willkommen."
Der Gast schien den Blick kaum von ihrem Kopfschmuck abwenden
zu können. Als ihre Blicke sich trafen, fügte sie erklärend hinzu: "Das
ist Al." Sie griff hinauf, um den weißen Vogel zu streicheln, und
zuckte zusammen, als Al nach ihrer Hand hackte. "Au!"
"Miss?" fragte Miltville in seiner gelassenen Art. "Soll ich sie
nehmen?"
"Nur zu gern, Miltville. Aber Daddy hat vorhin gebrüllt. Sie wissen ja,
wie sie darauf reagiert."
Der Butler nickte. "Ich hole das Lockmittel."
"Das ist eine wunderbare Idee." Wendy strahlte. "Daran hatte ich gar
nicht gedacht."
"Was ist denn das Lockmittel?" fragte Josh amüsiert. "Ein Katapult?"
Wendy lachte. "Nein. Al liebt Biskuitkuchen. Manchmal lässt sie sich
damit locken."
"Aha." Josh betrachtete nachdenklich die Krähe, bevor er sich Gower
zuwandte, dessen Gesichtsfarbe unnatürlich rot war. "Dad wäre es
lieber, wenn ich meinen Kopfschmuck zum Abendessen ablegen
würde", sagte sie humorvoll. "Noch lieber wäre es ihm
wahrscheinlich, wenn er Al zum Abendessen serviert bekommen
würde."
Josh Raven lachte amüsiert. "Tatsächlich? Der Anblick wäre sicher
nicht mit Geld zu bezahlen."
Wendy stimmte in sein Lachen ein und wagte einen erneuten Versuch,
Al zu streicheln. Dieses Mal ließ der Vogel es sich gefallen. "Ich mag
Mr. Raven, Al. Was hältst du von ihm?"
"Du bist ein hübscher Junge", krächzte die Krähe. "Küss mich,
hübscher Junge."
"Ach du meine Güte!" Der arme Gower schien einer plötzlichen
Ohnmacht nahe zu sein.
Doch Josh lächelte nur amüsiert. "Eine weiße Krähe, die spricht und als Hut dient. Ich bin beeindruckt." Er sah Wendy an. "Sie können ruhig Josh zu mir sagen." "Danke, gern, Josh." Sein Humor war eine angenehme Überraschung. Dass er blendend aussah, wusste sie ja bereits. Und wenn man den Klatschspalten der Boulevardblätter glauben wollte - die sie, Wendy, natürlich nur überflog -, dann konnte keine Frau ihm widerstehen. Nachdenklich betrachtete sie das Grübchen in seinem Kinn, die hohen Wangenknochen und die ausdrucksvollen dunklen Augen, die von beneidenswert dichten schwarzen Wimpern umrahmt waren. Eine richtige Verschwendung bei einem Mann! "Küss mich, hübscher Junge!" wiederholte Al. "Ich mache mir leider nichts aus Federvieh, Al", antwortete Josh und lachte. "Aber trotzdem vielen Dank für das Angebot." Josh hat den Test bestanden, dachte Wendy, ohne recht zu wissen, um welchen Test es sich dabei handelte. Sie kraulte Al die Brust. "Okay, Al, wir haben dich verstanden", sagte sie und sah dabei in Joshs wunderschöne dunkle Augen. "Al ist übrigens die Abkürzung von Alberta. Sie flirtet schamlos. Wir vermuten, dass ihre Vorbesitzerin eine Dame des horizontalen Gewerbes war." "Dann hat Alberta es jetzt aber viel besser getroffen." Josh lächelte. So ein Schmeichler, dachte Wendy entzückt. Kein Wunder, dass die Frauen ihm zu Füßen liegen. Er gibt ja sogar mir das Gefühl, als wäre es der letzte Schrei, eine Krähe auf dem Kopf zu tragen! Das Geräusch sich nähernder Schritte schreckte sie aus ihren Gedanken auf. "Ach, wunderbar. Jetzt kommt Hilfe." Sie sah Miltville entgegen. Er wirkte unerschütterlich wie immer und hatte ein Stück Biskuitkuchen in der Hand. "Komm zu Onkel Millie, Alberta", lockte er. "Ich habe leckeren Kuchen für dich, mich und Agnes." Das ließ Al sich nicht zweimal sagen. Sie krächzte kurz auf und flatterte von Wendys Kopf, wobei sie ihr einige Haare ausriss. Im nächsten Augenblick war der Vogel auf Miltvilles ausgestrecktem Arm gelandet und begann, am Kuchen zu picken. "Danke, Miltville." Wendy versuchte schnell, ihre Frisur zu richten. "Ich hole sie nachher wieder ab." "Das eilt nicht, Miss", antwortete der alte Butler. "Alberta hat Agnes und mir sehr gefehlt."
"Miltville", sagte Gower heiser; "Sehen Sie zu, dass Sie dieses Vieh loswerden, und sagen Sie der Köchin, dass unser Gast Hunger hat." Als Miltville sich wieder in den Küchentrakt zurückzog, krächzte Al: "Hübscher Junge, küss mich!" Dabei flogen Krümel durch die Luft. Wendy zuckte zusammen. Ihr wurde erst jetzt bewusst, dass sie Josh die ganze Zeit über angelächelt hatte. Verlegen senkte sie den Blick. Du lieber Himmel, was mochte Josh nur von ihr denken? Hoffentlich bildete er sich nicht ein, sein Charme würde auch sie überwältigen. Sie wandte sich schnell ihrem Vater zu und sagte kurz angebunden: "Ich bin schon halb verhungert, Dad. Lass uns zu Tisch gehen." Plötzlich war es ihr sehr unangenehm, Josh mit einer Krähe auf dem Kopf begrüßt zu haben, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Sie nahm sich vor, das Abendessen mit Würde hinter sich zu bringen, und hoffte, Joshua Raven würde sie danach einfach vergessen. Es war auf der hoch über dem Lake Michigan liegenden Terrasse gedeckt worden. Hier saß Wendy am liebsten, und diesen Teil des Elternhauses ihrer Mutter, das in Kennilworth, einem nördlichen Vorort von Chicago gelegen war, vermisste sie am meisten. Segelboote glitten im Sonnenuntergang über den See, der eigentlich mehr Ähnlichkeit mit dem Meer hatte. Wendy fröstelte und rieb sich die Arme. In der Abenddämmerung wurde es jetzt doch etwas kühl. "Ist Ihnen kalt?" Sie sah Josh an. Ihr Vater hatte sich bereits vor einiger Zeit verabschiedet. Er hatte behauptet, einen Termin vergessen zu haben. So musste sie sich mit dem Gast unterhalten. Es sah Gower Isaac gar nicht ähnlich, sie mit seinen - eher langweiligen - Geschäftspartnern allein zu lassen. Zur Abwechslung hatte Wendy diesmal nichts dagegen - im Gegenteil. Josh lächelte, als fände er sie ganz entzückend. Sie musste sein Lächeln einfach erwidern. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte er noch anziehender. Wendy hatte ein seltsames Gefühl, als er ihr so tief in die Augen blickte. Ein plötzlicher Gedanke verunsicherte sie. Ob Raben wirklich Unglück brachten? Ach, Unsinn, dachte sie gleich darauf. Das war alles Aberglaube. Josh Raven war doch für ihren Vater der Retter in der Not. Jedenfalls kein Feind. Sie versuchte, sich auf das Gespräch zu
konzentrieren. "Es ... es wird rasch kühl, wenn der Wind vom See kommt", sagte sie. "Ich werde Ihnen eine Jacke holen." Josh stand auf. In diesem Moment kam Miltville an den Tisch, um die Dessertteller abzuräumen und Kaffee nachzuschenken. Der fürsorgliche Mann hatte sogar an eine warme Stola für Wendy gedacht. "Können Sie Gedanken lesen, Millie?" fragte sie, als sie sich dankbar die Stola um die Schultern legte. Er nickte und stellte das benutzte Geschirr auf ein Tablett. "Noch eine Tasse Kaffee, Miss?" "Nein, danke." Miltville sah Josh an. "Und Sie, Sir?" Josh schüttelte den Kopfe "Dann werde ich mich jetzt zurückziehen." So leise, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. Wendy rückte sich die Stola zurecht, als sie spürte, wie ihr eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. "Darf ich?" Als sie aufsah und Joshs Lächeln bemerkte, nickte sie. Er rückte die weiße Stola zurecht und ließ dabei wie unbeabsichtigt die Hände über Wendys Schultern gleiten. Die kurze Berührung war erstaunlich sinnlich und ließ Wendy lustvoll erschauern. "So." Josh streckte auffordernd die Hand aus. "Wollen wir nicht ein wenig am Wasser spazieren gehen? Ich liebe diesen See." Wie benommen umfasste sie seine Hand. Dieser Abend verlief völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Normalerweise waren die Abendessen im Hause Isaac formell und langweilig, und sie, Wendy, war immer froh, wenn sie vorbei waren. Doch dies war ein ganz bezaubernder Abend. Ihr Vater hatte kaum einen Ton gesagt und das Gespräch Josh und ihr überlassen. Josh war ein ausgezeichneter Gesprächspartner. Er wusste faszinierend zu erzählen. Wendy war hingerissen gewesen, und das Abendessen, das sie so gefürchtet hatte, war wie im Flug vergangen. Und kurz vor dem Dessert hatte Gower sich überstürzt verabschiedet. Wendy war es nur recht. Sie genoss es, mit dem amüsanten Josh Raven allein zu sein. Er war ihr ausgesprochen sympathisch. Zudem sah er außerordentlich gut aus, und wenn er ihr so charmant zulächelte wie jetzt, klopfte ihr Herz sofort schneller. "Sie haben ein wunderschönes Zuhause, Wendy", sagte er.
Sie schlenderten durch den weitläufigen, parkähnlichen Garten und gingen zu einer Steinmauer. Durch ein kleines Tor gelangten sie zu einer Treppe, die zum See führte. Nach kurzem Schweigen antwortete Wendy: "Es ist ein herrliches Grundstück. Aber ich wohne nicht hier." Sie spürte seinen erstaunten Blick. "Nein? Warum denn nicht?" Lächelnd ging sie weiter. "Würden Sie mit Gower Isaac unter einem Dach leben wollen?" Josh lachte amüsiert. "Das soll natürlich nicht heißen, dass ich ihn nicht gern habe", fügte sie schnell hinzu. , "Ich kann Sie gut verstehen, Wendy", behauptete Josh. "Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Ich würde auch nicht gern mit Ihrem Vater zusammenleben." "Aber das soll nicht heißen, dass Sie ihn nicht gern haben", erwiderte sie humorvoll. Er lächelte amüsiert. "Ich habe ihn so gern wie einen Vater, den ich mir nie gewünscht habe." Nun musste Wendy laut lachen. "Sie lassen sich offensichtlich auch nicht von ihm einschüchtern", sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. "Der alte Gower scheint einen ebenbürtigen Partner gefunden zu haben. Sie können stolz auf sich sein." Er schien reumütig das Gesicht zu verziehen, aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Im Licht der Dämmerung war das schwer zu sagen. Der Wind frischte auf und spielte mit ihrem Haar. Wendy zog die Stola fester um sich, die jedoch zu dünn war, um sie ausreichend zu wärmen. "Vielleicht ist es so besser." Josh legte den Arm um Wendy. Sie schmiegte sich an seine Schulter und staunte über ihre Reaktion, die völlig uncharakteristisch war. Männern, mit denen sie sonst ausging, zeigte sie eher die kalte Schulter, weil sie mit ihnen nichts anfangen konnte. Sie waren zu angepasst und hatten es nur auf das Geld ihres Vaters abgesehen. So etwas spürte sie sofort. Josh hingegen hatte das nicht nötig, denn er hatte sich sogar als Retter der Firma erwiesen. Es war schon erstaunlich gewesen, wie nervös ihr Vater in seiner Gegenwart gewesen war. Wendy lächelte und schmiegte sich enger an
Josh. Sein After Shave duftete nach Zedern und Sommernächten. Es
gefiel ihr sehr gut, und sie atmete den Duft tief ein.
Seltsam, sie hatte das Gefühl, Josh Raven schon seit langem zu
kennen. Wie kam es nur, dass sie sich in seiner Nähe so unendlich
wohl fühlte? Hier würde sie es bis ans Ende ihrer Tage aushalten
können.
"Ist es so besser?" fragte Josh an ihrer Schläfe. Wendy sah auf. Seine
Augen waren wirklich wunderschön. Benommen nickte sie.
"Prima." Er lächelte jungenhaft und ließ den Blick über den See
gleiten. Inzwischen war die Sonne untergegangen. Man hörte nur die
leicht ans Strandufer schlagenden Wellen und in weiter Entfernung
das Geräusch eines Motorboots.
Bis zum Sandstrand waren es nur noch wenige Meter. "Hätten Sie
Lust, im Sand zu gehen?" fragte Josh leise.
Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. "Ich glaube, ja."
Er stützte sie, damit sie die Sandaletten abstreifen konnte. Dann zog er
selbst Schuhe und Strümpfe aus und krempelte sich die Hosenbeine
hoch. "Wenn es wärmer wäre, könnten wir schwimmen", sagte er und
sah Wendy von der Seite an.
Sie lachte. Die Lufttemperatur war schon erstaunlich mild für Anfang
Juni. Doch bevor der See warm genug war zum Schwimmen, würde
bestimmt noch ein Monat vergehen.
Wendy zeigte auf ihr Kleid. "In diesem Aufzug könnte ich sowieso
nicht baden."
"Stimmt." Er lächelte verführerisch. "Das Kleid müssten Sie
ausziehen."
Sie sahen einander tief in die Augen. Wendy wurde es ganz heiß. Du
liebe Zeit, dachte sie, was ist nur mit mir los? Eigentlich müsste sie
ihm jetzt eine Ohrfeige verpassen. Und warum tat sie es nicht?
Außerdem hatte sie das beängstigende Gefühl, dass sie sich
ausgezogen hätte, wenn es nur wärmer gewesen wäre. "Ja, schade,
dass es noch zu kalt ist", sagte sie schließlich.
"Sehr schade."
Als sie weitergingen, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen:
"Schwimmen Sie oft nackt?"
"Das habe ich noch nie gemacht."
Sie sah ihn ungläubig an.
"Nein, wirklich nicht."
Wendy lächelte. Sie glaubte ihm kein Wort. Ein kleines Teufelchen
ritt sie, als sie hinzufügte: "Und Liebe haben Sie auch noch nie
gemacht, nehme ich an." Sie wusste selbst nicht, was plötzlich in sie
gefahren war. So etwas hatte sie noch zu keinem Mann gesagt!
"Lassen Sie mich nachdenken." Er kniff ein Auge zu.
Das Spiel gefiel Wendy immer besser. "Und ich wette, Sie haben auch
noch nie eine Frau geküsst."
"Woher wissen Sie das?"
"Ab hier ist es nicht mehr jugendfrei, Leute." Wendy lachte.
Sein unwiderstehliches Lächeln brachte sie noch um den Verstand. Sie
müsste sich abwenden, sonst wäre es um sie geschehen.
Josh nahm ihre Hand und blieb stehen. Als Wendy sich umwandte,
bemerkte sie seinen ernsten Blick. "Was ist los?" fragte sie atemlos
und wunderte sich über seinen plötzlichen Stimmungsumschwung.
Er bedeutete ihr, näher zu kommen. Dabei war er nur einen Schritt
entfernt. "Was ist denn?" fragte Wendy leise, obwohl sie es instinktiv
ahnte. Und schockiert stellte sie fest, dass sie nichts dagegen hatte.
Josh umfasste zärtlich ihr Gesicht und sah ihr tief in die Augen. Und
dann kam er immer näher und küsste sie.
2.KAPITEL
Josh saß an seinem Schreibtisch in seinem riesigen Büro und litt unter heftigen Kopfschmerzen. Ungehalten stand er auf, versetzte dem ledernen Chefsessel einen Stoß und ging zur Fensterfront. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Lake Michigan. Er fühlte sich wie ein Schuft, weil er Wendy so leidenschaftlich geküsst hatte. Sie musste ja denken, dass er etwas von ihr wollte. Aber genauso war es eigentlich auch! Er wollte sie zur Frau. Besser gesagt, er sah sich gezwungen, sie zu heiraten. Doch als er sich auf Gowers Forderung eingelassen hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, was für einen schalen Nachgeschmack es bei ihm hinterlassen würde. Der Kuss allerdings war alles andere als schal gewesen. Das merkwürdige Mädchen, das Krähen auf dem Kopf spazieren führte, konnte wunderbar küssen. Und sie sah auch gar nicht merkwürdig aus. In dem grünen Sommerkleid und mit den hübschen Locken, die ihr Gesicht umschmeichelten, hatte sie auf eine unschuldige Art sexy gewirkt. Nachdem Gower seine Tochter so glanzlos beschrieben hatte, hätte er, Josh, damit gar nicht zu rechnen gewagt. Doch was konnte man von Gower schon erwarten? In seinen Augen war sie wertlos, weil sie nicht der Erbe war, den er sich so sehnlich gewünscht hätte. Vielleicht nicht ganz wertlos, denn immerhin hatte Gower es ihr zu verdanken - ohne ihr Wissen natürlich -, dass die Firma im Besitz seiner Familie bleiben würde. Die arme Wendy tat ihm, Josh, fast Leid. Er schüttelte ungehalten den Kopf. Er wollte kein Mitleid mit der Frau haben, die er heiraten würde. Am liebsten würde er die Heirat so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit er sich ganz auf die Leitung des Unternehmens konzentrieren konnte, das dann "Raven-Maxim-Enterprises" heißen sollte. Er war stolz darauf, dass seine Softwarefirma inzwischen zu den größten in den Vereinigten Staaten zählte. Nach der Fusion mit Gowers Holdinggesellschaft, die aus Zeitungsverlagen, Rundfunk und Fernsehstationen bestand und zu der auch verschiedene
überregionale Zeitschriften gehörten, würde Josh mehr Reichtum und
Macht besitzen, als er sich je hätte erträumen können. Die Schulden,
die Gower im Laufe der Jahre aufgetürmt hatte, störten Josh nicht
weiter. Nach der Umstrukturierung von Maxim Enterprises würde er
sie schon in den Griff bekommen. Es juckte ihn förmlich in den
Fingern, diese Aufgabe endlich in Angriff zu nehmen.
Nur der Gedanke, zunächst heiraten zu müssen, dämpfte seine
Vorfreude etwas. Aber wenn man etwas wirklich wollte, musste man
Opfer bringen. Das hatte er aus eigener Erfahrung gelernt.
"Es hilft ja alles nichts", sagte er vor sich hin. "Ich muss da durch.
Also los, Raven, an die Arbeit!" Er kehrte an seinen modernen
Schreibtisch zurück und betätigte die Gegensprechanlage. "Miss
Oaks? Verbinden Sie mich mit Miss Isaac."
"Selbstverständlich, Sir."
Im nächsten Moment hatte Josh es sich bereits anders überlegt. "Nein,
warten Sie. Schicken Sie ihr ein Dutzend Rosen, zusammen mit einer
Einladung zum Abendessen."
"Wohin soll ich sie schicken lassen, Sir?" fragte seine Sekretärin.
Josh schloss die Augen. Er war leicht verärgert. "Keine Ahnung.
Erkundigen Sie sich bei Gowers Sekretärin. Die wird die Adresse
sicher wissen."
"In Ordnung, Sir. Soll ich ausrichten, dass Sie Miss Isaac abholen
werden?"
Er unterdrückte einen Fluch. "Selbstverständlich hole ich sie ab. Um
acht Uhr. Und besorgen Sie mir die Adresse."
"Gern, Sir." Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Möchten Sie
jetzt die Werbeprospekte durchsehen?"
"Oje, die hatte ich schon völlig vergessen. Ja, jetzt sofort", fügte er
barsch hinzu, entschuldigte sich jedoch gleich für seinen unhöflichen
Tonfall. "Tut mir Leid, Miss Oaks, ich habe es nicht so gemeint.
Scheint heute nicht mein Tag zu sein."
"Schon gut, Sir. Das kann jedem mal passieren."
"Danke, Miss Oaks." Er klang wesentlich gelassener, als er in
Wirklichkeit war. Hoffentlich war Wendy mit einer baldigen Heirat
einverstanden. Er wollte die Angelegenheit möglichst schnell über die
Bühne bringen, damit er sich auf andere Dinge konzentrieren konnte.
Er rieb sich die Schläfen und hoffte, die Kopfschmerzen würden
endlich nachlassen.
Kurz vor acht Uhr abends hielt Joshs Chauffeur vor einem Mehrfamilienhaus in Evanston, einem nördlichen Vorort von Chicago. Josh betrachtete das Gebäude. Ihm war unbehaglich zumute. Auch in Evanston gab es großartige Villen am See, doch dieses Haus lag in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend. Was mochte Wendy Isaac dazu bewogen haben, ausgerechnet hier einzuziehen? "Sind Sie sicher, dass dies die richtige Adresse ist, Mr. Raven?" fragte der Chauffeur. Josh lächelte verstohlen. "Ich fürchte, ja, Higgins." "Möchten Sie, dass ich die Lady abhole, Sir?" Josh räusperte sich, um ein Lachen zu verbergen. Offensichtlich wusste Higgins nicht, dass er, Josh, als Kind selbst so ein schlichtes, renovierungsbedürftiges Haus für einen Palast gehalten hätte. Offensichtlich befürchtete sein Chauffeur, er könnte sich mit irgendetwas anstecken, wenn er das Haus betrat. "Nein, danke, Higgins. Ich werde sie selbst abholen." "Und wenn das Haus keinen Fahrstuhl hat, Sir?" Josh versuchte, ernst zu bleiben. "Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand, Higgins." Er öffnete die Autotür, stieg aus und wollte gerade aufs Haus zugehen, als ihm etwas einfiel. Er klopfte ans Fenster auf der Fahrerseite. Als der junge Chauffeur die Scheibe herunterließ, streckte Josh eine Hand aus. "Geben Sie mir den Beutel." Gehorsam reichte der verblüffte Higgins seinem Chef eine braune Papiertüte durchs Fenster. "Danke." "Bitte, Sir." Bevor Josh sich abwandte, bemerkte er noch, dass sein Chauffeur ungläubig den Kopf schüttelte. Dann glitt die getönte Scheibe lautlos wieder hinauf und verbarg Higgins. Josh lächelte verstohlen. Der arme Higgins. Er schien noch immer zu rätseln, warum Josh ihn angewiesen hatte, bei einem nahe gelegenen Supermarkt anzuhalten und Biskuitkuchen zu kaufen. Löwenzahn hatte sich zwischen den zerbrochenen Gehwegplatten angesiedelt. Der Rasen im Vorgarten müsste auch mal wieder gemäht werden, dachte Josh, als er sorgfältig darauf achtete, keine Blume zu zertreten. Nachdem er zwei von Rissen durchzogene Stufen hinaufgestiegen war, stand er vor einer grünen Haustür, von der die Farbe abblätterte. Er stieß sie auf und sah sich um. Im
heruntergekommenen Hausflur war weit und breit kein Fahrstuhl zu sehen. Nur vier Türen: 1A, B, C und D. Josh zog einen Zettel aus der Jacketttasche. Ein Blick darauf bestätigte seine Befürchtung: 5A. "Wie hätte es auch anders sein können?" murmelte er vor sich hin. Missmutig betrachtete er die ausgetretenen Stufen im Treppenhaus. "Auf geht's", sagte er sich. "Gut für den Kreislauf. Miss Wendy Isaac muss ziemlich fit sein." Er marschierte los. Wendy öffnete die Tür, gleich nachdem er geklopft hatte. Nicht gerade raffiniert, dachte Josh. Weiß sie nicht, dass man einen Mann warten lässt? "Hallo, Josh." Ihr Lächeln war ansteckend. Er war noch etwas außer Atem, erwiderte aber ihr Lächeln und betrachtete sie eingehend. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre schmale Taille betonte, und sie duftete wie frische Luft nach einem Wolkenbruch. Sehr natürlich, dachte er. Parfüm scheint sie nicht zu benutzen. Eine angenehme Abwechslung. Einige der Damen, mit denen er sonst ausging, schienen in Parfüm zu baden und rochen entsprechend aufdringlich. Wendys braunes Haar war aufgesteckt, nur einige Locken umrahmten ihr Gesicht. Jetzt bat sie ihn in die Wohnung und zeigte auf einen Blumenstrauß, der einen ovalen Esstisch zierte. Das Möbelstück war auf Hochglanz poliert, trotzdem hatte Josh den Eindruck, als käme er aus einem Geschäft für Gebrauchtmöbel. "Die Rosen sind herrlich, Josh." Wendy errötete. "Tut mir Leid, dass ich keine passende Vase habe. Alberta hat meine beste Blumenvase umgeworfen, und ich musste mir von meiner Nachbarin ein Mayonnaiseglas ausleihen. Leider musste ich die Stiele kürzen." Sie schüttelte bekümmert den Kopf. "Ich glaube, es ist ein Vergehen in Illinois, langstielige Rosen zu kürzen, damit sie in ein Mayonnaiseglas passen." Josh lachte amüsiert. Seine schlechte Laune besserte sich merklich. "Nur eine winzige Gesetzesübertretung, sonst nichts. Es bleibt unter uns." Er betrachtete die winzige Wohnung und überlegte erneut, warum Wendy ausgerechnet in diese Gegend gezogen, war. Sie hatte doch bestimmt von ihrer Mutter geerbt und könnte sich etwas Luxus leisten. Die Wohnung war sauber und ordentlich, schien jedoch
ausschließlich mit Sachen vom Flohmarkt oder aus Möbellagern eingerichtet zu sein. Wendy war inzwischen zu einem grünbraun karierten Sofa gegangen, wo sie einen schwarzen Blazer hingelegt hatte, den sie jetzt hochhob und Josh hinhielt. Als er ihr hinein half, hörte er plötzlich ein Flattern. "Küss mich, hübscher Junge!" Das Krächzen war ihm schon vertraut. Er schaute auf und sah gerade noch, wie die weiße Krähe auf dem Tisch landete. Der Vogel musterte die Rosen durchdringend. Josh erinnerte sich an die braune Papiertüte. "Ich habe Alberta etwas mitgebracht." Wendy sah ihn überrascht an. "Wirklich?" Er reichte ihr die Tüte. "Übernimm du das." Neugierig machte sie die Tüte auf und lächelte, als sie den Inhalt entdeckte. "Das ist aber lieb von dir, Josh." Sie holte den Kuchen heraus und zeigte ihn der Krähe. "Sieh mal, du ungezogenes Mädchen. Josh hat dir auch ein Geschenk mitgebracht." Im Nu schwang Al sich in die Lüfte und landete Auf Wendys Arm. Dann begann der Vogel, an der Verpackung zu zerren, und krächzte: "Zieh es aus, hübscher Junge. Zieh alles aus." Lachend warf Wendy die Kuchenschachtel auf die Couch. Al flatterte sofort hinterher. "Sie darf nur ein kleines Stück fressen, sonst wird ihr nachher noch schlecht", sagte Wendy und brach ein Stückchen für die Krähe ab. Josh, der sich über den witzigen Vogel amüsierte, lehnte sich an die Wand und fragte: "Wer, sagtest du, war die Vorbesitzerin von Al? Ein Freudenmädchen?" Wendy errötete und konzentrierte sich darauf, den restlichen Kuchen wieder einzupacken. "Wir wissen es nicht genau. Eines Tages fand Miltville sie auf Dads Terrassentisch, wo sie ,Bad to the Bone' sang. Kennst du das Lied? Miltville ist ein großer Tierfreund und hat alles Mögliche versucht, um sie anzulocken." Wendy verschwand um die Ecke, und Josh vermutete, dass sie das Kuchenpaket im Küchenschrank versteckte. Sie lächelte schüchtern, als sie zurückkehrte. "Mit Biskuitkuchen hatte Miltville schließlich Erfolg." Sie zuckte die Schultern. "Nach und nach gab sie ihren Wortschatz zum Besten, der vor allem aus Anzüglichkeiten bestand. Deshalb unsere Vermutung über die Vorbesitzerin. Wir haben einen Monat lang Zeitungsanzeigen geschaltet, um herauszufinden, ob jemand
Alberta vermisst. Doch es hat sich niemand gemeldet." Wendy strich der Krähe liebevoll über den Kopf. "Al ist so klug und witzig. Ich wäre niemals ohne sie umgezogen. Ich hänge sehr an ihr, trotz ihrer zotigen Ausdrücke." Josh sah zu, wie der Vogel auf dem Sofa am Kuchen pickte. Al legte den Kopf schief und blickte Josh an. An ihrem Schnabel klebte Butterkrem, Er amüsierte sich über die vorwitzige Krähe. "Willst du dich gar nicht bedanken?" fragte er scherzhaft. Al neigte den Kopf zur anderen Seite und schien nachzudenken. Dann sah es so aus, als würde sie Josh zuzwinkern, und sie krächzte: "Bargeld. Keine Schecks." Josh musste laut lachen. "Bitte, bitte, du kleiner Frechdachs." "Nun benimm dich, Al", mahnte Wendy. "Wenn jemand versucht einzubrechen, bellst du wie Aggie. Das wird ihn schon in die Flucht schlagen." Die Krähe flatterte Furcht erregend mit den Flügeln und bellte wie ein blutrünstiger Dobermann. Wirklich bemerkenswert! Josh war beeindruckt. "Mit dieser Dame möchte ich mich lieber nicht anlegen", sagte er zu Wendy und lächelte. Sie senkte schüchtern den Blick und tat, als musste sie ihren Blazer zurechtrücken. Als sie wieder aufsah, sagte sie leise: "Von Al hast du nichts zu befurchten. Sie ist ganz vernarrt in dich." Gemeinsam verließen sie die Wohnung. "Ich fühle mich geehrt", sagte Josh lachend. "Wie viele Männer können schon von sich behaupten, dass sich eine Krähe in sie verliebt hat?" Insgeheim fügte er hinzu: Gut gemacht, alter Junge. Den Vogel hast du schon für dich gewonnen, fehlt nur noch sein Frauchen. Nach kurzer Fahrt setzte Higgins sie vor dem Hancockbau ab, wo sich im fünfundneunzigsten Stock eins der besten Restaurants in Chicago befand. Leider war das delikate Menü für Wendy die reinste Verschwendung. Sie hatte überhaupt keinen Appetit und konnte sich nur auf Josh konzentrieren. Es verwunderte sie noch immer, dass sie hier mit dem begehrtesten Junggesellen des Landes saß und dass er ihr zudem noch aufmerksam zuhörte und sie anlächelte. Er interessierte sich sogar für ihr Projekt, erwachsenen Analphabeten das Lesen und Schreiben beizubringen. Hätte der Abend noch perfekter sein können?
Vielleicht; Ein Kuss wäre ganz schön. Aber nein, das wäre wohl doch
zu viel des Guten gewesen. Wendy hatte sich einige Male unauffällig
gekniffen, um ganz sicher zu sein, dass sie auch nicht träumte.
Wahrscheinlich würde sie diverse blaue Flecken bekommen.
Josh sah ihr tief in die Augen. Im Kerzenschein wirkte er noch
unwiderstehlicher. Wendy musste daran denken, wie sinnlich,
einfühlsam und meisterhaft er sie am Abend zuvor geküsst hatte.
Schon in dem Moment hatte sie gewusst, dass sie sich unsterblich in
diesen Mann verliebt hatte.
Diese Erkenntnis machte ihr Angst, weil sie sich ausgerechnet in
einen Mann verliebt hatte, der jede Frau haben konnte, wenn er wollte.
Wenn man den Boulevardblättern glauben wollte, ließ er ja auch
nichts anbrennen.
Als sie die Rosen und die Einladung erhalten hatte, war sie hin und
her gerissen gewesen. Einerseite hatte sie sich sehr gefreut,
andererseits hatte sie Angst gehabt. Sie hatte einfach nicht glauben
können, dass auch Josh von ihrem Kuss überwältigt war.
Trotzdem hatte sie der Einladung zum Abendessen nicht widerstehen
können.
Gedankenverloren fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.
Wieder dachte sie an den Kuss. Josh trank seinen Kaffee und ließ sie
keine Sekunde lang aus den Augen.
Als er die Tasse abstellte und Wendy lächelnd in die Augen sah, war
sie fast traurig, die Einladung angenommen zu haben. In Josh Ravens
Nähe zu sein war fast grausam, weil alles so hoffnungslos war.
Niemals würde er ihre Liebe erwidern. Für ihn würde sie immer nur
Gower Isaacs seltsame Tochter sein.
Wendy schluckte. Es wäre besser gewesen, er hätte den Biskuitkuchen
für Al abgegeben und sie in Ruhe gelassen.
"Wendy?"
Wie er ihren Namen aussprach, so sexy, so heiser. Ein lustvoller
Schauer lief ihr über den Rücken.
"Ja?"
Er sah ihr tief in die Augen, umfasste ihre Hand und sagte: "Lass uns
heiraten."
Ihr Lächeln verschwand augenblicklich. Verblüfft fragte sie sich, ob
sie sich vielleicht verhört haben könnte. Wahrscheinlich hatte er sie
nur um den Zuckerstreuer gebeten.
Sie schob ihm den Zucker zu. Josh bemerkte es erstaunt und sah sie verwirrt an. Merkwürdig, dachte Wendy. Was kann er denn sonst gewollt haben? Ratlos ließ sie den Blick über den Tisch schweifen, entdeckte aber nur Salz- und Pfefferstreuer. Josh würde sich doch kaum Salz oder Pfeffer auf seinen Walnusskuchen streuen wollen, oder? Sie sah ihn verwirrt an. "Entschuldige. Ich hatte gerade nicht zugehört." Josh lächelte charmant. "Ein Dämpfer für mein Selbstbewusstsein. Da frage ich eine Frau, ob sie mich heiraten will, und sie hört mir nicht einmal zu." Er drückte ihre Hand. "Hörst du mir jetzt zu?" Sie sah ihn fassungslos an. Josh stand auf, kam um den Tisch herum und setzte sich neben sie, bevor er zärtlich ihr Ohr küsste. "Wendy." Sein Atem strich über ihre Wange. "Sag doch etwas." Er sah ihr tief in die Augen. Sie spürte, wie er wieder ihre Hand drückte. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Doch Wendy wagte nicht, ihren Ohren zu trauen. Es war unvorstellbar, dass dieser Traummann sie gerade gebeten hatte, seine Frau zu werden, oder? Nein, so etwas passierte nicht einmal im Film. Kein Mann machte gleich bei der ersten Verabredung einen Heiratsantrag. Ganz offensichtlich stimmte etwas mit ihren Ohren nicht. Sie schüttelte den Kopf, um das Hörproblem zu beseitigen. "Entschuldige, Josh, aber ..." "Natürlich ist es etwas überstürzt. Aber ich habe noch nie so viel für eine Frau empfunden wie für dich, Wendy. Ich brauche dich." Sie blinzelte und blickte dann in seine faszinierenden Augen. "Wendy?" fragte er noch einmal leise und fast... verzweifelt. "Ja, Josh?" Ihre Stimme klang plötzlich schrill vor Aufregung. Er küsste ihre Hand. "Meinst du, du könntest mich ein wenig gern haben, Wendy?" Ihre Hand prickelte von der Liebkosung, und ihr wurde ganz warm Schüchtern und verlegen senkte sie den Blick. Vor ihr auf dem Tisch stand die unberührte Nachspeise. "Ich ... ich ..." Ihr fehlten die Worte. "Wendy, Wendy", flüsterte er drängend und beugte sich so weit vor, dass sich ihre Lippen fast berührten. "Ich verstehe, dass du dich überrumpelt fühlst. Das tut mir Leid. Aber ich bin nun einmal ein Mann schneller Entscheidungen. Ich kann meine Gefühle für dich nicht anders ausdrücken."
Sie sah ihn verwundert an. Meinte er den Heiratsantrag wirklich ernst? Dieser unwiderstehliche, aufregende Mann wollte sie heiraten? Das konnte nicht sein! Josh zog sie leicht an sich und küsste sie flüchtig. "Ich habe dir Angst gemacht", sagte er leise an ihrem Mund. Wendy atmete tief ein. "Ja", gab sie offen zu und löste sich aus seiner Umarmung. "Das ergibt doch keinen Sinn. Du kannst dich doch nicht in mich verliebt haben! Wir kennen uns doch kaum länger als vierundzwanzig Stunden." Wieder umfasste er ihre Hand. "Weißt du denn nicht, dass es so etwas tatsächlich gibt, Liebling?" Wendy schluckte. Doch, sie hatte schon von Liebe auf den ersten Blick gehört. Es war ihr sogar selbst passiert - mit Josh! Aber sie konnte einfach nicht glauben, dass er sich auch auf den ersten Blick in sie verliebt haben sollte. Sie musste träumen! Zur Sicherheit kniff sie sich noch einmal und zuckte vor Schmerz zusammen. Es war kein Traum. Sie war hellwach. Und doch konnte dies alles nicht wahr sein. "Das ist ein sehr schlechter Scherz, Mr. Raven", sagte sie schließlich. Sein Lächeln verschwand, und er ließ Wendys Hand los. Dann setzte er sich zurück auf seinen Platz und schüttelte verdrießlich den Kopf; "Entschuldige, Wendy. Ich wollte nur ..." Er verstummte, zog seine Brieftasche aus dem Jackett und entnahm ihr eine Platin-Kreditkarte. "Ich hätte meine Gefühle verbergen müssen und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen dürfen", sagte er zerknirscht. "Jetzt weiß ich, dass du meine Gefühle nicht erwiderst. Entschuldige bitte." Wendy sah ihn verwirrt an. Schimmerten da etwa Tränen in seinen traurig blickenden Augen? Hatte er den Antrag vielleicht doch ernst gemeint? Sie hätte sich nichts Schöneres wünschen können, als mit diesem Mann den Rest ihres Lebens zu verbringen, seine Kinder zur Welt zu bringen, ihm eine liebende Frau zu sein. Josh winkte den Ober heran. Als der mit der Karte verschwunden war, sah er Wendy ernst an. "Verzeihst du mir meine Eile?" Er schien wieder nach ihrer Hand greifen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders. "Ich bin ein solcher Narr." Er sah so traurig aus, dass Wendy ihn am liebsten tröstend in den Arm genommen hätte. Was habe ich angerichtet? fragte sie sich entsetzt. Hatte sie etwa den Heiratsantrag des Mannes abgelehnt, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte? Es schien so.
Josh räusperte sich. "Okay, lass uns das Thema wechseln", schlug er vor, als wäre nichts geschehen. "Ja", stieß Wendy hervor. Warum sollte sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wie es gekommen war, dass auch er sich in sie verliebt hatte? Womöglich würde er ihr dann doch noch davonlaufen. "Ich weiß selbst nicht, wie das alles so schnell geschehen konnte, aber ich sage Ja, Josh. Ich will dich heiraten." Sie umfasste seine Hand, führte sie an die Lippen und küsste sie zärtlich, bevor sie sein attraktives Gesicht betrachtete. "Ich wollte es mir selbst nicht eingestehen", sagte sie leise. "Aber als du mich gestern Abend geküsst hast, da wusste ich, dass ich mich in dich verliebt habe, Josh." Josh sah sie mit großen Augen an, dann senkte er schnell den Blick. "Liebling", sagte er mit tiefer Stimme. "Wendy, mein Liebling." Sie lächelte und war vor Rührung den Tränen nahe, "O Josh!" Er umfasste liebevoll ihr Gesicht. "Du weißt ja gar nicht, wie glücklich du mich machst." Sie schob ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und genoss die Vorstellung, mit diesem Mann, der ihre Liebe offensichtlich erwiderte, den Rest ihres Lebens zu verbringen. "O Josh." Ihr versagte die Stimme. "Was habe ich Großartiges getan, um dich zu verdienen?"
3. KAPITEL
Das war ja wirklich ein Kinderspiel, dachte Josh mürrisch. Nun war er also verlobt, genau wie er es geplant hatte. Mit einer Frau, die er kaum kannte und die ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Er ging hinaus auf den Balkon seiner Wohnung, die zwei Stockwerke über seiner Büroetage in einem der elegantesten Wolkenkratzer Chicagos lag. Der Blick auf den Lake Michigan war atemberaubend. Die Lichter der Großstadt erhellten den hügeligen Verlauf des Seeufers. Nach einem hektischen Tag wirkte die Aussicht normalerweise beruhigend auf Josh. An diesem Abend war das allerdings nicht der Fall. Er hatte seine Verlobte nach Hause gebracht und sich mit einem keuschen Kuss von ihr verabschiedet. Josh schloss die Augen, lehnte sich an die Balkonbrüstung und sagte leise: "So, Gower, jetzt hast du also einen Schwiegersohn." Das Läuten der Türglocke riss ihn unsanft aus seinen Gedanken. Er öffnete verblüfft die Augen und blickte auf seine Armbanduhr. Mitternacht! Wer konnte das um diese Zeit noch sein? Ungehalten kehrte er ins modern eingerichtete Wohnzimmer zurück. Das Ambiente war erst kürzlich in einem Magazin für Architektur und Inneneinrichtung als klassisch-elegant gepriesen worden. Josh sah sich flüchtig in dem großen Zimmer mit den Designermöbeln und den Gemälden zeitgenössischer Künstler um. Er hätte den Raum eher als Wartezimmer eines neureichen Innenarchitekten beschrieben. Als er ein Geräusch hörte, sah er auf. Sein Butler zog sich gerade hastig einen schwarzen Gehrock über und wollte zur Tür eilen. "Ich mach das schon, Nelson", sagte Josh. "Gehen Sie ruhig schlafen." Nelson gähnte unterdrückt, nickte dankbar und zog sich wieder zurück, während Josh zur Tür ging. Die Absätze seiner Schuhe klapperten auf dem schwarzen Granitboden. Ein flüchtiger Blick durch den Spion verriet Josh, wer ihn zu so später Stunde besuchte. "Auch das noch!" stöhnte er. Dann riss er sich zusammen und öffnete lächelnd die Tür. "Hallo, Evelyn. Du siehst toll aus."
Wortlos rauschte die Brünette an ihm vorbei und hüllte ihn in einen Nebel exklusiven Parfüms. Als Josh die Tür wieder geschlossen hatte, wirbelte die Frau in dem hoch geschlitzten roten Organzakleid herum. Das glänzende braune Haar war zu einem perfekten Pagenkopf frisiert. Evelyn lächelte Josh erwartungsvoll an. "Du siehst aus, als wolltest du gerade ins Bett gehen." Sie musterte ihn mit hellblauen Augen, "Kein Jackett? Keine Krawatte?" Josh zog ironisch die Augenbrauen hoch. Wenn man jemandem um Mitternacht einen Besuch abstattete, konnte man wohl kaum erwarten, in Anzug und Schlips empfangen zu werden! Er nahm es mit Humor. "Ja, ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe", sagte er sarkastisch. Sie schmollte. Das konnte sie wirklich gut. "Ich dachte, wir könnten tanzen gehen." Sie lächelte vielsagend. "Oder etwas in der Art." Josh verschränkte die Arme vor der Brust. "Ach wirklich?" Sein Lächeln konnte kaum darüber hinwegtäuschen, wie ungehalten er war. "Es ist Mitternacht, Evelyn. Morgen ist ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Nur weil du bis mittags schlafen kannst, heißt das noch lange nicht, dass ich mir das auch leisten kann." Sie kam näher und begann, an seinem Kragen zu zupfen. "Sei nicht albern, Josh, Liebling. Du bist der Boss. Du kannst kommen und gehen, wann du willst," Er musterte sie unbeeindruckt. "Vielleicht will ich ja gern zeitig im Büro sein." Sie strich ihm über die Lippen. "Und was willst du noch, Süßer?" fragte sie anzüglich. Jeder Mann hätte die Bedeutung ihrer Frage sofort verstanden. Josh jedoch zeigte keinerlei Reaktion. Allerdings wurde ihm bewusst, dass er bis zu seiner Eheschließung noch einige Schwierigkeiten aus dem Weg räumen musste. Dazu gehörte auch, mit seiner Freundin Schluss zu machen, obwohl sie eigentlich gar nicht seine Freundin war. Gut, er war in den vergangenen Wochen einige Male mit Evelyn Jannis ausgegangen, aber mehr auch nicht. Versprochen hatte er nichts, und das hatte sie wohl auch nicht erwartet. Jetzt schien es allerdings, als wollte sie die Beziehung intensivieren. Er umfasste ihr Handgelenk. "Hör mal, Evelyn. Du bist ganz bezaubernd, und wir haben ..."
"Das haben wir wirklich." Sie lachte sinnlich und fuhr sich aufreizend durchs Haar. "Komm, Josh. Nach einem Gespräch ist mir im Moment nicht." Sie drängte sich an ihn und sah ihn herausfordernd an. Er lächelte gequält und schob sie energisch von sich. "Hör zu, Evelyn!" Sein bestimmtes Auftreten schien sie zu verwirren. Sie blinzelte und sah ihn an. "Ja? Was ist denn so wichtig, dass du es mir jetzt sagen musst?" Josh fand, er könnte ebenso gut gleich mit der Wahrheit herausrücken. "Ich werde bald heiraten." Einen Moment lang sah sie ihn nur regungslos an. Dann hatte sie sich wieder gefasst. "Oh. Das ist aber eine Überraschung." Sie straffte sich. "Darf man erfahren, wer die Glückliche ist? Und wann du dich dazu entschlossen hast?" Ihr Blick war stahlhart geworden. "Heute Abend. Ich heirate Gower Isaacs Tochter." Sie runzelte die Stirn, dann hellte ihre Miene sich wieder auf. "Ach so, eine Vernunftehe", sagte sie erleichtert. "Ich hatte schon einen Schreck bekommen." Evelyn schmiegte sich wieder an ihn und legte ihm die Arme um den Nacken. "Das betrifft uns ja nicht, Süßer. Ich bin erwachsen, weißt du ..." Josh verzog das Gesicht. Die Frau schien es wirklich darauf abgesehen zu haben, mit ihm zu schlafen. "Komm, Josh", bat sie einschmeichelnd und bot ihm die Lippen zum Kuss. "Lass uns etwas Spaß haben." Er atmete tief durch. Ich bin doch nicht aus Stein, dachte er. Was soll ich tun? Er hatte einer anderen Frau die Ehe versprochen: Wendy Isaac, die er zwar nicht liebte, der er aber doch treu sein wollte. Er wollte diese Ehe mit ehrbaren Absichten schließen - jedenfalls so ehrbar es ging. Josh glaubte an die Ehe. Als seine Eltern geheiratet hatten, war es ein Bund fürs Leben gewesen, und so wollte er es auch halten. In guten und in schlechten Zeiten ... Sie hatten einander vertraut und sich aufeinander verlassen können. Ja, so eine Ehe wollte er auch führen. Er atmete noch einmal tief durch, dann löste er entschlossen Evelyns Arme von seinem Nacken und schob sie von sich. "Ich möchte, dass meine Ehe funktioniert, Evelyn", erklärte er ernst. "Affären kommen nicht in Frage."
Offensichtlich hatte Evelyn nicht damit gerechnet, ein zweites Mal zurückgewiesen zu werden. Sie wich zurück und stolperte. Josh musste sie schnell festhalten, sonst wäre sie gestürzt. "Ist das dein Ernst?" fragte sie schockiert. "Liebst du diese Frau etwa? Du hast sie bisher mit keinem Wort erwähnt. Ich kenne nicht einmal ihren Namen." "Wendy", antwortete er leise. Sollte er Evelyn, mit der er sicher eine Menge Spaß haben könnte, wirklich zurückweisen, nur weil er einer Frau die Ehe versprochen hatte, die er kaum kannte? Wendy war ein naives junges Ding, das wie eine Studentin lebte und noch dazu einen Vogel adoptiert hatte, der zweifellos mehr davon gesehen hatte, wie man einen Mann glücklich macht, als seine neue Besitzerin je wissen würde. "Wendy Isaac", wiederholte er. . .. Evelyn sah ihn ratlos an. "Okay, sie hat also einen Namen. Was beweist das schon?" Sie stemmte die Hände in die Hüften. "Willst du etwa behaupten, es wäre eine Liebesheirat und keine Vernunftehe aus geschäftlichen Gründen? Willst du mir wirklich erzählen, dass du bis über beide Ohren verliebt bist in das Mädchen?" Josh wandte den Blick ab und betrachtete eine Plastik, die einen stolzen Hengst im silbernen Mondschein darstellte. Das Kunstwerk gefiel ihm genauso wie die restliche Wohnungseinrichtung. Er sah Evelyn wieder an. Über den Innenarchitekten, der sich hier ausgetobt hatte, ärgerte er sich wenigstens, doch für die hübsche Brünette, die ihn jetzt so wütend anfunkelte, empfand er überhaupt nichts. Sie ließ ihn völlig kalt. Wendy Isaac hingegen mochte er. Wenigstens brachte sie ihn zum Lachen. Außerdem gefiel es ihm, wie sie sich für andere Menschen einsetzte., In einer Welt, in der jeder nur an sich zu denken schien, war das etwas ganz Seltenes. "Ich habe Wendy Isaac gern", bemerkte er wahrheitsgemäß. "Und ich werde versuchen, ihr ein guter Ehemann zu sein." Er öffnete die Tür und sah Evelyn bedeutungsvoll an. "Du wirst mich jetzt bitte entschuldigen, Evelyn. Ich muss morgen sehr früh raus." Sie sah ihn völlig ungläubig an. Offensichtlich passierte es ihr zum ersten Mal, dass man sie vor die Tür setzte. "Und ich bedeute dir nichts?" fragte sie pikiert. Sein höfliches Lächeln verschwand, als sie ihn so wütend musterte. Fast hilflos erwiderte er ihren Blick. Eins musste man ihr lassen: Es war ihr gelungen, ihm Schuldgefühle einzureden. Evelyn wusste
genau, was sie ihm bedeutete: Sie war eine nette Zerstreuung gewesen, eine kurze Affäre, um seine erotischen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit anderen Worten, das, was sie sich auch von ihm erhofft hatte. Trotzdem war es wohl verständlich, dass sie jetzt beleidigt war, "Evelyn", sagte er beschwichtigend. "Du bist ganz bezaubernd, aber wir wussten doch beide ..." Weiter kam er nicht, denn sie versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. "Untersteh dich, Josh!" Ihr Gesicht war wutverzerrt. "Erzähl mir nicht, was wir beide wussten!" Sie rauschte an ihm vorbei, drehte sich jedoch auf der Türschwelle noch einmal um. "Ich will dich nie wieder sehen", schrie sie. "Ruf mich ja nicht an!" Als sie verschwunden war, machte Josh erleichtert die Tür zu. Hoffentlich war niemand Zeuge dieser hässlichen Szene geworden. Er schob die Hände in die Hosentaschen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Leichte Gewissensbisse quälten ihn, weil er nicht nur Evelyn verletzt, sondern auch Wendy aus reinem Geschäftsinteresse dazu gebracht hatte, ihn zu heiraten. In diesem Moment kam er sich sehr mies vor. Wendy stöhnte verzweifelt. Warum hatte sie nichts Einfacheres zum Abendessen zubereiten können? Hot Dogs zum Beispiel. Dieses Menü war einfach zu kompliziert. Für die Rinderrouladen hätte sie Gewürzgurken gebraucht. Leider hatte sie ihren Einkaufszettel, nachdem der Regen ihn verschmiert hatte, nicht mehr lesen können und deshalb keine Gurken gekauft. Zu Hause hatte sie noch eine Dose eingelegter Okra gefunden. Den Unterschied zwischen Gurken und Okra würde man sowieso nicht mehr merken, wenn das Fleisch erst einmal mit den anderen Zutaten zusammengerollt war, hatte sie gedacht. Doch inzwischen waren ihr Zweifel gekommen. Der Anblick, der sich ihr im Schmortopf bot, glich so gar nicht der appetitlichen Abbildung in ihrem Kochbuch. Einige Zahnstocher waren abgebrochen; hatten sich aus den Rouladen gelöst und schwammen in einer undefinierbaren braunen Brühe herum. Eine der Fleischtomaten war geplatzt, als sie diese gefüllt hatte. Den Schaden musste sie auch noch beheben, denn die aus gekochtem Gemüse bestehende Füllung quoll unansehnlich heraus.
Wenigstens duftete das Apfelkompott gut. Sie hatte sogar daran gedacht, Zitroneneis zu kaufen, das auf dem Kompott verteilt werden sollte. Hoffentlich würde alles so gut schmecken, wie das Kompott duftete. Joshs Koch hatte ihr die Lieblingsspeisen seines Chefs verraten. Wendy wollte gleich von vornherein beweisen, dass sie auch für Joshs leibliches Wohl sorgen konnte. Er sollte es nicht bereuen, sie zur Frau gewählt zu haben. Ihr Herz begann sofort, schneller zu pochen, als es kurz darauf an der Tür klopfte. Aufgeregt betrachtete Wendy ihr Gesicht in der glänzenden Klinge eines Buttermessers. Sie hoffte, dass ihr vom Probieren keine Essensreste am Kinn klebten, und lachte nervös. Nachdem sie sich über das gelbe Baumwollkleid gestrichen hatte, das sie zur Feier des Tages trug, ging sie zur Tür. "Verduftet! Die Bullen!" kreischte Al. Mahnend musterte Wendy die weiße Krähe, die auf einer Stange saß und mit den Flügeln schlug. "Benimm dich, Al", flüsterte sie. "Verdirb mir ja nicht den Abend." Dann atmete sie tief durch und öffnete die Tür. Da stand er, Josh. Der Mann, den sie liebte. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, erschien er ihr männlicher und perfekter. Bewundernd ließ sie den Blick über ihn gleiten und versuchte sich das Bild, wie er dort so vor ihr stand, für immer einzuprägen. Mit seiner beigefarbenen Freizeithose und einem weinroten Polohemd sah er unglaublich sexy aus. "Hi", sagte er und lächelte jungenhaft. "Hi." Sie schmiegte sich an ihn und ließ sich küssen. Es war ein wunderbares Gefühl, seine zärtlichen Lippen zu spüren. Und wie sehr sie sein nach Zedern duftendes After Shave liebte! "Du hast mir gestern gefehlt", gestand sie schüchtern und lächelte ihn liebevoll an. Josh umfasste ihre Hand, schob Wendy in die Wohnung und schloss die Tür. "Und wer ist schuld daran, dass wir uns nicht sehen konnten?" fragte er lächelnd. Sie schmiegte sich zärtlich an ihn. "Ich, du hast Recht. Aber ich musste doch den Kindern im Krankenhaus Geschichten vorlesen und mich abends um meine erwachsenen Schüler kümmern, die lesen und schreiben bei mir lernen wollen. Oder soll ich sie alle einfach vernachlässigen?"
Josh zog sie zum Sofa, und beide setzten sich. "Natürlich nicht." Er
ließ ihre Hand los und streckte den Arm auf der Rückenlehne aus.
"Außerdem hatte ich ja einen Termin mit..."
"...Daddy." Wendy lachte. "Ich weiß."
Er nickte. "Es gibt allerdings jemand in seiner Familie, den ich
wesentlich lieber mag." Josh drückte Wendy kurz an sich, um ihr zu
zeigen, wen er damit meinte. Dann wandte er den Blick ab und
schnupperte, "Was duftet denn hier so gut?"
Sie atmete tief durch. "Deine Lieblingsnachspeise."
Josh sah sie ungläubig an. "Apfelkompott?"
Sie lächelte. "Ich habe alle deine Lieblingsspeisen gekocht." Sie
liebkoste sein Kinn. "Weil ich dich liebe", fügte sie hinzu und küsste
ihn. Er hatte wirklich wunderschöne Augen. Und diese dichten
schwarzen Wimpern! Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Er sah sie so
seltsam an. Wendy lehnte sich zurück. "Ist alles in Ordnung, Josh?"
fragte sie besorgt.
Er runzelte die Stirn, doch dann entspannte er sich wieder und lachte.
"Klar. Außer dass ich fast verhungert bin." Er stand auf und zog sie
hoch. "Können wir jetzt essen?"
"Natürlich, Liebling. Entschuldige. Du hattest sicher einen langen
Tag. Ich bin wirklich egoistisch."
"Aber nein. Und du hättest dir nicht so viel Arbeit machen sollen.
Mein Koch hätte das doch für uns erledigen können. Du willst doch
den armen Mann nicht in den Ruhestand schicken, wenn wir erst
verheiratet sind, oder? Er ist immerhin erst dreiunddreißig."
"Keine Angst." Wendy schlang einen Arm um seine Taille.
"Aber er hat doch mal einen freien Tag, oder? Dann kann ich
einspringen."
"Kann schon sein", neckte Josh sie.
Sie lachte. "Und hast du nicht erzählt, wir werden die Flitterwochen
allein in deiner Hütte in den Adirondacks verbringen?"
"Stimmt." Er betrachtete sie neugierig.
"Kannst du denn kochen?" fragte sie neckend.
"Klar." Er lachte über ihren verblüfften Gesichtsausdruck. "Was sind
denn deine Lieblingsspeisen, Wendy?"
"Das verrate ich nicht. Als Frau muss ich vor der Hochzeit einige
kleine Geheimnisse bewahren."
Josh verzog gespielt entsetzt das Gesicht. "Oje! So komplizierte Sachen isst du?" Sie lachte. "Keine Angst. Sie sind alle ganz leicht zuzubereiten, aber ziemlich kalorienreich." Als sie am Esstisch standen, schob Wendy die Vase mit Joshs Blumenstrauß zur Seite und bot ihm den Platz gegenüber an. "Setzt dich doch. Ich hole das Essen." Zwanzig Minuten später war Wendy sehr erleichtert, dass es mit ihren Kochkünsten offensichtlich doch besser bestellt war, als sie befürchtet hatte. Josh ließ es sich schmecken. Man merkte gar nicht, dass sie die Gewürzgurken durch Okra ersetzt hatte, und die Rouladen waren zwar etwas auseinander gefallen, schmeckten aber trotzdem recht gut. Wendy hörte angeregt zu, als Josh von seinen Plänen erzählte, wie er die Firma ihres Vaters auf den neuesten Stand bringen wollte. Verträumt sah sie ihn an. Wenn er so begeistert von seinem Konzept sprach, wirkte er noch faszinierender und lebhafter. Al landete auf Joshs Schulter und stibitzte ein Stück Fleisch von seiner Gabel. Wendy verkniff sich nur mit Mühe ein Lachen über Joshs Reaktion. Im ersten Moment war er völlig verblüfft und betrachtete starr seine leere Gabel. Doch dann begann er, amüsiert zu lächeln. "Ich weiß ja, dass Krähen alles fressen, aber direkt von meiner Gabel? Ist das eins der Geheimnisse, die du erst nach der Hochzeit lüften wolltest?" "Vielleicht. Frauen haben viele Geheimnisse, Liebling. Aber ich glaube, Al wollte nur ein Souvenir von dir haben. Sei froh, dass sie dir nicht die Haare ausgerissen hat." Wendy verzog das Gesicht. "Ich weiß, wovon ich spreche. Das tut ganz schön weh." Sein tiefes Lachen war einfach unwiderstehlich. Ein wohliger Schauer überlief sie. Josh war die Liebe ihres Lebens, und er hatte einen wunderbaren Sinn für Humor. Sie liebte sein Lachen und würde es immer lieben! Sie tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, begann ihr Herz, schneller zu schlagen. Wenn er sie anlächelte, geriet sie schier aus dem Häuschen vor Glück und hätte die ganze Welt umarmen mögen. Wendy war immer sehr herzlich und gefühlvoll gewesen. Stets war sie bereit, Menschen und Tieren in Not zu helfen. Doch sie hatte noch nie tiefe Gefühle für einen Mann empfunden. Wahrscheinlich war sie dem
Richtigen noch nicht begegnet. Aber das hatte sich von einem Tag auf
den anderen geändert, denn sie hatte Joshua Raven kennen gelernt.
Erst jetzt konnte sie nachvollziehen, was ihre Freundinnen meinten,
wenn sie nur noch von dem Mann ihres Lebens redeten. Nun wusste
sie, wie eine Frau sich fühlte, wenn sie einen Mann liebte. Es war wie
ein Wunder. Sie hatte das Gefühl, ein Teil von Josh zu sein, und war
überglücklich, dass das Schicksal es so gut mit ihr gemeint hatte.
Sie räusperte sich verlegen, um ihre Rührung zu verbergen, und fragte
erstaunlich ruhig: "Wie wär's jetzt mit dem Dessert und Kaffee?"
Er zwinkerte ihr zu. "Du kannst Gedanken lesen." Josh stand auf.
"Aber ich helfe dir. Du hast schließlich das Kochen übernommen."
Eigentlich wollte sie protestieren, doch dann überwog der Wunsch,
Josh nahe zu sein, sich an ihn zu schmiegen, ihn zu küssen und in den
Armen zu halten. Am liebsten hätte sie es sogar gehabt, wenn er sie
zum Dessert direkt auf dem Esstisch vernascht hätte. Sie sehnte sich
schrecklich nach ihm.
"Was ist los, Wendy?" fragte Josh. ,,Was ist mit dem Tisch?"
Sie blinzelte erschrocken. Offensichtlich hatte sie einen ihrer
Tagträume gehabt. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie und Josh ... auf
dem Esstisch ...
Verlegen senkte sie den Blick. Wenn sie Josh jetzt angesehen hätte,
hätte er vielleicht in ihrem Gesicht gelesen, wie sehr sie ihn begehrte.
"Ach, gar nichts", sagte sie ausweichend und flüchtete in die Küche.
"Irgendetwas stimmt doch nicht, Wendy." Josh, der ihr gefolgt war,
gab nicht nach.
"Doch, doch. Alles in Ordnung." Sie nahm zwei Topflappen und
öffnete den Backofen. Vorsichtig zog sie die Backform mit dem
Apfelkompott heraus. Ihre Hände zitterten. "Ich bin nur etwas albern."
Als sie das Dessert auf die Arbeitsfläche gestellt hatte, spürte sie Joshs
Hände auf den Schultern. Mit sanfter Gewalt drehte er Wendy zu sich
herum. "Albern?"
Sie wich seinem Blick aus. "Ja, sehr."
Er hob ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. "Wieso bist du
albern?"
Wendy schluckte. Sie wagte nicht, ihm zu gestehen, wie sehr sie ihn
begehrte. Er war der Mann, er musste sie verführen. Oder konnte sie
als Frau es wagen, ihren Verlobten zu verführen? Sie wusste es nicht.
Ihr fehlte jede Erfahrung. Allerdings war ihr bekannt, dass man nicht
unbedingt verlobt sein musste, wenn man sich ... ein wenig vergnügen wollte. "Was ist los, Wendy?" Josh sah sie verwirrt an. "Habe ich dir etwas getan?" Sie schüttelte den Kopf. Wenn es doch so wäre, dachte sie sehnsüchtig. Sie rang sich ein Lächeln ab. "Nein, du hast gar nichts getan." Und genau das war ja das Problem! Leider schien Josh das nicht zu verstehen. Sie musste wohl deutlicher werden. Warum konnte sie ihn nicht einfach zu sich ziehen und verlangen: "Küss mich!" Al hatte doch auch keine Hemmungen. "Du bist ein hübscher Junge. Küss mich!" kreischte Al wie auf Kommando. Wendy zuckte zusammen und errötete verlegen. Was war nur mit ihr los? Sie hatte doch noch nie erotische Tagträume gehabt. Es musste daran liegen, dass sie Josh über alles liebte und ihm ganz nahe sein wollte. Im nächsten Moment hatte sie sich Josh in die Arme geworfen und begann, herzzerreißend zu schluchzen. Er hielt sie fest, war allerdings offensichtlich überfordert mit dieser Situation. Wendy kam sich plötzlich sehr dumm vor. Sie lachte unter Tränen über die absurde Szene. Josh schien sich von seinem ersten Schock erholt zu haben. Er hob Wendy einfach hoch und trug sie zur Couch, wo er sie vorsichtig absetzte. "Du bist völlig erschöpft, Wendy. Es ist alles meine Schuld", sagte er leise. "Ich werde jetzt gehen." Doch sie hielt ihn zurück. "Ich bin nicht erschöpft, Josh", sagte sie. "Und auch nicht verrückt. Ich ... ich möchte nur, dass du ..." Sie schluckte. Er musste es doch in ihrem Blick lesen, was sie wollte. Josh betrachtete sie erst verblüfft, dann besorgt. Warum schaut er mich so besorgt an? überlegte Wendy verwirrt. Angeblich ist er doch ein Playboy und lässt nichts anbrennen. Wieso beunruhigt es ihn, mit mir, seiner Verlobten, zu schlafen? Das ergab wirklich keinen Sinn. "Josh?" rief sie ängstlich. Er blinzelte und begann zu lächeln. "Entschuldige, Liebling, Ich habe nicht geschaltet." Er umfasste ihre Hand und küsste sie zärtlich. "Ich begehre dich auch. Das musst du wissen." Er beugte sich über sie und strich ihr liebevoll das Haar aus dem Gesicht. Dann küsste er sie auf die Wange, auf die Lider. Es war unglaublich zärtlich und erotisch.
"Du bist die Frau meines Lebens", flüsterte er an ihrem Mund. "Ich möchte, dass du glücklich bist." Und dann endlich küsste er sie richtig. Wendy legte ihm die Arme um den Nacken und erwiderte Joshs sinnlichen Kuss. Leider beendete er ihn viel zu schnell, und sie seufzte enttäuscht, als er sie losließ. "Ich habe etwas für dich, Liebling", sagte er leise und beugte sich zurück. "Eigentlich wollte ich es dir erst nachher geben, aber ..." Er verstummte und sah sie ernst an. Sie wollte kein Geschenk, nur ihn - seine Lippen, seine zärtlichen Hände ... Doch das musste sie ihm nicht mehr sagen, denn er hatte die Sehnsucht in ihrem Blick richtig gedeutet. Josh zog etwas aus seiner Hosentasche und reichte es Wendy. Es war ein kleiner schwarzer Schmuckkasten. "Ich hoffe, er gefällt dir." Er hob ihre Hand. "Ein Ring?" fragte sie erstaunt. Hatte sie etwa durch ihr albernes Verhalten eine romantische Verführung verdorben? Wendy stützte sich auf. "Öffne das Kästchen für mich, Liebling", bat sie und unterdrückte Tränen der Rührung. So hatte er sich das also gedacht. Erst wollte er ihr den Verlobungsring überstreifen, und dann wollte er ihr zeigen, wie sehr sie ihn anzog. Als Josh das Kästchen öffnete und sie den riesigen Brillantring entdeckte, lächelte sie gerührt: "O Josh! Der ist ja wundervoll." Der birnenförmige Stein war so groß wie ihr Daumennagel. Wendy, die in ihrem Leben schon viele reiche Frauen kennen gelernt hatte, war es gewohnt, erlesene Brillanten an deren Fingern zu sehen. Doch dieser Ring war mit keinem anderen zu vergleichen! "Darf ich ihn dir überstreifen?" fragte Josh. Sie hielt ihm bereitwillig die Hand hin. "Er ist wunderschön", flüsterte sie ergriffen, obwohl ihr etwas Schlichteres lieber gewesen wäre. Vor einigen Jahren hatte sie dem luxuriösen Lebensstil ihres Vaters den Rücken gekehrt. Ihr gefiel das einfache Leben besser, und es war ihr unangenehm, solch einen großen Brillantring zu tragen. "Gefällt er dir nicht?" fragte Josh. Wendy sah erstaunt auf. Er schien einfühlsamer zu sein, als sie bisher gedacht hatte. Sie hob die Hand. Der Stein glitzerte und funkelte, dass es eine wahre Pracht war. "Er... er ist ein bisschen groß." Sie lächelte schuldbewusst. "Aber er ist von dir, Josh. Also gefällt er mir." Er lächelte flüchtig. "Du kannst ihn nicht leiden."
Wendy schmiegte sich an ihn. "Ich liebe dich, Josh." Sie lehnte sich zurück und sah ihm in die Augen. "Aber ich würde dich ganz genauso lieben, wenn du mir einen schlichten Goldreif überstreifen würdest." Er blickte sie einen Augenblick lang ernst und forschend an. "Bist du sicher?" Sie lachte über seine Unsicherheit. "Ob ich sicher bin, dass ich dich liebe?" fragte sie neckend. "Natürlich, du Dummkopf. Was für eine Frage." "Ich spreche von dem Ring." "Ach so," Sie strich ihm zärtlich über die Wange. "Ganz sicher. Sei mir bitte nicht böse." "Dein Vater ist es vielleicht." "Mein Vater?" Sie musterte ihn verwundert. "Was geht es uns an, was mein Vater denkt?" "Gar nichts. Du hast Recht." Er zog sie an sich und küsste sie auf die Schläfe. "Ich werde dir einen schlichten Goldreif besorgen." Er streifte ihr den schweren Brillantring wieder vom Finger. Sie küsste Josh und flüsterte: "Danke, Liebling." Dann schmiegte sie sich enger an ihn. Wie berauschend er duftete! Sie sehnte sich so sehr nach ihm und freute sich auf das Liebesspiel, das nun sicher gleich beginnen würde. "Du bist wunderbar", flüsterte sie an seiner Schulter. Josh hatte sein Kinn auf ihren Kopf gestützt und verhielt sich reglos. Was mochte er denken? "Ich werde mich jetzt verabschieden, Wendy", sagte er schließlich. Sie wurde bleich. Hatte sie sich vielleicht verhört? "Wie bitte?" fragte sie verwirrt. Er stand auf. Wendy war auf einmal kalt. Sie fröstelte. Was war denn nun wieder los? Hatte sie seine Gefühle verletzt, weil sie den Ring zurückgewiesen hatte? Sie umfasste seine Hand. "Bitte bleib, Josh." Er drückte, zärtlich ihre Hand, ließ sie jedoch gleich wieder los und trat einige Schritte zurück. "Es ist alles etwas schnell gegangen", sagte er und lächelte sie beruhigend an. "Das ist meine Schuld. Ich glaube, du brauchst jetzt etwas Zeit für dich." Er kam zurück, küsste sie flüchtig auf die Stirn und ging wieder zur Tür. "Ich rufe dich morgen an", versprach er noch, dann war er verschwunden. Wendy sah starr auf die Tür. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Ich muss ihm sehr weh getan haben, dachte sie entsetzt. Wie konnte ich so grausam sein, seinen Ring zurückzuweisen? Er hat es persönlich
genommen, dachte sie und weinte herzzerreißend. Sie hatte seinen
wunderbaren Plan, sie zu verführen, durchkreuzt! Es war schrecklich.
Plötzlich spürte sie erschrocken, wie Al auf ihrer Schulter landete.
"Komm mit ins Heu, hübscher Junge", krächzte der Vogel. "Komm
mit ins Heu!"
"Ach Al!" Wendy stöhnte entnervt. "Jetzt fang du bloß nicht auch
noch an!"
4. KAPITEL
Josh war es nicht gewohnt, eine Frau zu verlassen, die ihn so unmissverständlich dazu aufgefordert hatte, mit ihr zu schlafen. Und auch dieses Gefühl unerfüllten Verlangens war ihm neu. Kaum war er nach Hause zurückgekehrt, nahm er zunächst eine kalte Dusche. Er verwünschte seinen Plan, Gower Isaacs Tochter nur aus geschäftlichen Erwägungen heraus zu heiraten und sie zur Gastgeberin von Geschäftsessen und Mutter seiner statistisch errechneten zweieinhalb Kinder zu machen. Er hatte völlig außer Acht gelassen, welche Auswirkungen ein solcher Plan auf eine Frau haben musste. Auf eine Frau mit Herz und Gefühl. Am vergangenen Abend hatte er, Josh, völlig neue Erfahrungen gemacht, mit denen er sich erst einmal auseinander setzen musste. "Verflixt!" "Haben Sie etwas gesagt, Mr. Raven?" Er sah auf und bemerkte den fragenden Blick seiner Sekretärin, die ihm gerade die Post auf den Schreibtisch legen wollte. Er hatte Miss Oaks gar nicht in sein Büro kommen hören und runzelte die Stirn. Leider misslang es ihm, sich seine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen. "Nein, gar nichts." Er beugte sich über die Bilanz, die er gerade analysiert hatte, und mied so den Blick seiner jungen Sekretärin. "Das wäre dann alles, Miss Oaks. Legen Sie die Post einfach auf den Schreibtisch." "In Ordnung, Sir." Seine Sekretärin war eine attraktive Blondine, doch Verhältnisse mit Angestellten waren für ihn tabu. Er gestattete sich nicht einmal einen interessierten Blick. In der Geschäftswelt konnte man sich heutzutage eine Affäre mit einer Angestellten nicht leisten. Wenn man ihr den Laufpass gab, zeigte sie einen am Ende noch wegen sexueller Nötigung an. Oder sie war so frustriert, dass sie sämtliche Akten beschmierte. Nein danke. Diese Probleme wollte er sich gern ersparen. Er hatte bereits genug andere Sorgen.
Als Josh hörte, wie die Bürotür zufiel, sah er auf. Momentan hatte er Probleme mit seiner Verlobten. Wendy wollte mit ihm schlafen! Besser gesagt, sie erwartete, dass er mit ihr schlief. Schließlich wollte er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen. Ihr Wunsch war also nur allzu verständlich. Josh fuhr sich nervös durchs Haar und lehnte sich in seinem Chefsessel zurück. Was sollte er tun? Er saß in der Klemme. Seine große Liebe war immer seine Arbeit gewesen, die er jeden Tag mit überwältigender Leidenschaft bewältigte. Natürlich wusste er auch, wie man eine Frau verführte und sie verwöhnte, aber Liebe war doch noch etwas anderes. Er hatte keine Ahnung, wie man einer Frau seine Liebe zeigte. Es war unehrenhaft genug, Wendy zu Gowers Bedingungen zu heiraten. Und nun sollte er, Josh, ihr auch noch vormachen, sie zu lieben? Natürlich wäre es sehr nett, mit ihr ins Bett zu gehen. Sie war ja eine attraktive Frau, und instinktiv spürte er, dass sie mit der einen oder anderen Anleitung eine hervorragende Geliebte sein würde. Da sie ziemlich unerfahren war, könnte es ihm unter Umständen gelingen, ihr vorzutäuschen, dass seine Gefühle tief und aufrichtig waren. Und trotzdem widerstrebte es ihm, vor der Hochzeitsnacht mit ihr zu schlafen. Sie war ein anständiges Mädchen und verdiente es, auch so behandelt zu werden. Er hatte mit Gower vereinbart, die Verträge erst nach der Hochzeit zu unterzeichnen. Erst dann würde das Aktienpaket auf ihn übergehen. Das bestärkte ihn noch in seinem Vorsatz, Wendy bis zur Hochzeitsnacht zu widerstehen. Er fühlte sich schon jetzt gemein und unehrlich. Wenigstens etwas Anstand wollte er sich bewahren. Und wenn die Fusion nun im letzten Moment schief gehen würde? Dann würde er auch nicht heiraten. Und wenn er Wendy unter diesen Umständen einfach den Rücken kehren würde? Wie würde sie sich dann fühlen, wenn ihr bewusst wurde, dass der Mann, dem sie vertraut, dem sie sich hingegeben hatte, ein gemeiner Lügner war? Nein, es kam nicht in Frage, sie anzurühren, bevor alles unter Dach und Fach war. Er, Josh, war zwar ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann, aber er hatte auch ein Gewissen.
"Also gut", murmelte er vor sich hin. "Und wie willst du sie in den kommenden zwei Monaten hinhalten?" Es war eine neue Erfahrung für ihn, die Unschuld einer Frau bewahren zu müssen. Josh atmete tief durch und schloss die Augen, Vor ihm lagen zwei sehr lange Monate. Josh wusste selbst nicht mehr, weshalb er sich zuvor so viele Gedanken gemacht hatte. Sowie die Zeitungen Wind von der Verlobung bekommen hatten, schien ganz Illinois nichts anderes zu tun zu haben, als Partys, Abendessen und Festlichkeiten anlässlich der bevorstehenden Hochzeit zu geben. Natürlich standen die meisten Veranstaltungen mit geschäftlichen Interessen in Zusammenhang, und Josh war sich bewusst, dass Wendy nur seinetwegen gute Miene zum bösen Spiel machte. Sie ist wirklich erstaunlich, dachte er, als er aus einiger Entfernung beobachtete, wie angeregt sie sich mit dem Gouverneur und seiner Frau unterhielt. Sie befanden sich im Ballsaal des Countryclubs, wo die Verlobungsfeier in vollem Gang war. Josh hatte sich etwas zurückgezogen. Er stand an einer Säule und sah seiner zukünftigen Frau zu. Sie trug ein wadenlanges beigefarbenes Leinenkleid mit kurzen Ärmeln und einem dezenten Ausschnitt. Ihr Haar war sorgfältig aufgesteckt, und ihr einziger Schmuck bestand aus Perlohrringen. Eigentlich wirkte sie sehr jung. Wie ein Mädchen, das gerade Abitur gemacht hatte. Josh hatte den Eindruck, dass Wendy ihre Frisur und die Art, sich zu kleiden, ihm zuliebe verändert hatte. Offensichtlich glaubte sie, es würde ihm besser gefallen, sie würde sich so kleiden, wie es in diesen Kreisen erwartet wurde. Komisch, die "alte" Wendy hatte ihm aber besser gefallen. Es passte viel besser zu ihr, mit einer Krähe auf dem Kopf herumzulaufen. Vielleicht täte es der Welt ganz gut, wenn mehr Leute den Mut hätten, sich extravagant zu geben und zu kleiden. Josh nahm sich vor, Wendy zu sagen, dass sie sich seinetwegen nicht verstellen müsste. Es reichte eigentlich schon, wenn sie ihn als Verlobte begleitete. Doch das konnte sie natürlich nicht wissen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ den Blick über ihr Gesicht gleiten, als sie lachte. Es schien ihm, als könnte er ihr glockenhelles, natürliches Lachen überall heraushören, selbst wenn Musik gespielt wurde und hundert Gäste sich unterhielten. Wendy
strahlte und gab sich gut gelaunt, doch Josh wusste, dass es ihr unangenehm war, schon wieder eine Nachhilfestunde ausfallen zu lassen. Seit der Verlobung hatte Wendy immer wieder Termine absagen müssen, was ihr sehr Leid tat. Doch sie hatte sich nie beschwert. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, und fügte sich in ihr Schicksal. Und Gower bedeutete es sehr viel. "Daddy würde einen Schlag bekommen, wenn wir auch nur eine einzige Einladung ausschlagen würden", hatte sie vor kurzem gesagt. "Zum ersten Mal in seinem Leben ist er stolz auf mich." Josh senkte bei der Erinnerung an das Gespräch den Kopf und ballte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Gower verdiente Wendy gar nicht. Und er, Josh, auch nicht. "He, Josh, alter Junge, warum versteckst du dich denn hinter der Säule?" Er wandte sich um und bemerkte einen seiner Vizepräsidenten, der ihn aufmunternd anlächelte. "Ich beobachte nur meine zukünftige Frau", erklärte Josh wahrheitsgemäß. "Das kann ich gut verstehen." Der ältere Mann bedachte Wendy mit einem wohlwollenden Blick. "Sie ist wirklich ganz entzückend, Josh." Er musterte Josh lächelnd. "Wie hast du sie eigentlich davon überzeugt, so einen ausgebufften Workaholic zu heiraten?" Josh lächelte amüsiert. "Glücklicherweise habe ich ihr den Antrag selbst gemacht, statt dich vorzuschicken, Pete." Er klopfte dem Kollegen auf die Schulter und spielte den glücklichen Bräutigam. "Ich glaube, ich hole sie jetzt lieber, bevor der Gouverneur zu viel über mich ausplaudert. Nachher bereut sie noch, meinen Heiratsantrag angenommen zu haben." Pete lachte. "Ach ja, du warst ja mit ihm auf der Uni, oder?" "So ist es." Josh machte sich auf den Weg. "Ich war damals ein ziemlicher Playboy." "Damals?" fragte Pete belustigt. Josh drehte sich noch einmal um und zog gespielt drohend die Augenbrauen hoch. "Sag mal, hast du eigentlich den Geschäftsbericht schon fertig, um den ich dich gebeten hatte?" Pete ließ sich nicht beeindrucken. Lachend winkte er ab. Kurz darauf war Josh bei Wendy. Gouverneur Perry begrüßte ihn mit einem Nicken, ließ sich jedoch nicht bei seiner Erzählung
unterbrechen. Josh hatte sie schon einige Male gehört und beobachtete daher geistesabwesend die Menschenmenge. Er hatte sich bei Wendy eingehakt, um ihr zu zeigen, dass er volles Verständnis für sie hatte und wusste, wie schwer es ihr fallen musste, all diese Partys über sich ergehen zu lassen. Sie hatte ihm liebevoll zugelächelt. Als sie sich wieder dem Gouverneur zuwandte, betrachtete Josh selbstvergessen ihr Profil und bemerkte gar nicht, dass der Gouverneur ihm eine Frage gestellt hatte. "Wie bitte?" fragte er schließlich und sah den ehemaligen Kommilitonen an. Ben Perry schüttelte amüsiert den Kopf. "Die Liebe steht dir gut." Josh erwiderte verwirrt Bens Blick. Es war schon merkwürdig, was die Leute sich einbildeten. Nur weil er sich mit Wendy verlobt hatte, weil er sie anlächelte und sich bei ihr einhakte, glaubten sie so etwas Dummes. Aber Ben war schon immer leicht zu täuschen gewesen. Im Pokern war er ihm, Josh, stets unterlegen gewesen. Josh spielte seine Rolle amüsiert weiter und sagte: "Dir konnte ich ja noch nie etwas vormachen, Ben." Ben lachte. "Hört mal, Kinder, es ist schon spät. Warum verdrückt ihr euch nicht einfach? Ich merke doch, dass ihr gern allein sein wollt." Josh spürte Wendys Blick auf sich. "Möchtest du jetzt gern gehen, Liebling?" fragte er notgedrungen. Sie lächelte. Natürlich würde sie die Party am liebsten sofort verlassen. Dumme Frage. Es fiel Josh schwer, die Nerven zu behalten. Er wusste ja genau, was sie wollte. Verflixt! Und es waren noch zwei Wochen bis zur Hochzeit. Die vergangenen sechs Wochen waren schon schlimm genug gewesen. Immer wieder hatte er sich Entschuldigungen ausdenken müssen, um Wendy auf Distanz zu halten. Langsam fiel ihm nichts mehr ein. Was sollte er ihr heute sagen? Dass er einen wichtigen Anruf erwartete? Dazu war es zu spät. Vielleicht könnte er sich mit Kopfschmerzen herausreden. Alles andere hatte er bereits versucht. "Ja, dann ..." Er sah den Gouverneur an und reichte ihm die Hand. "Vielen Dank, Ben. Es war sehr nett von dir und deiner Frau, diese Party für uns zu geben." Ben zwinkerte ihm zu. "Das war es mir wert - auch von Springfield hierher nach Chicago zu kommen, das muss ich zugeben. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem der wilde Joshua
Raven gezähmt wird." Er nahm Wendys Hand. "Aber bisher kannte ich ja auch diese entzückende Frau noch nicht." Wendy errötete verlegen. "Vielen Dank, Herr Gouverneur. Und ich werde mich bei Ihnen melden, wenn der Gesetzentwurf bezüglich des Analphabetentums vorliegt." "Ich freue mich auf Ihren Anruf." Der Gouverneur machte seiner Frau, einer zierlichen Rothaarigen, Platz. Mrs. Perry umarmte Wendy herzlich zum Abschied. "Alles Gute. Ich weiß, dass Sie beide sehr glücklich werden." Wendy strahlte und wandte sich Josh zu. "Wollen wir gehen?" Ihre hübschen Augen funkelten voller Vorfreude, und Josh wurde sehr unruhig, als er ihren Blick sah. Er umfasste ihren Arm und überlegte, wie er Zeit gewinnen könnte. "Wollen wir deinem Vater nicht noch schnell auf Wiedersehen sagen?" schlug er vor. Sie schüttelte den Kopf. "Er amüsiert sich gerade so gut. Er wird es nicht einmal merken, wenn wir jetzt unauffällig die Party verlassen." Damit hatte sie allerdings Recht. Josh hatte noch nie einen so egoistischen Mann wie Gower Isaac kennen gelernt. Wenn er eine Möglichkeit gefunden hätte, hätte er die Fusion und die Hochzeit ganz allein über die Bühne gebracht, ohne dass Josh und Wendy ihm die Show hätten stehlen können. Wie gern hätte er es gesehen, wenn die Aufmerksamkeit der Leute ihm allein gegolten hätte. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis sie den Ausgang des Countryclubs erreicht hatten. Immer wieder wurden sie von Bekannten aufgehalten, die ihnen viel Glück wünschen wollten. Dann vergingen einige Minuten, bis der Portier Joshs Wagen vorfuhr. Aber es ist immer noch nicht spät genug, dachte Josh beunruhigt. Gegen halb zwei Uhr morgens befanden sie sich auf dem Heimweg. Vor Wochen hatte Josh beschlossen, von der Limousine mit Chauffeur auf sein BMW Cabriolet umzusteigen. Und das aus gutem Grund. Der Sportwagen hatte nämlich keine Rücksitze. Außerdem lag der Schaltknüppel zwischen den Vordersitzen. Es war Wendy also unmöglich, sich während der Fahrt zärtlich an ihn zu schmiegen oder ihn sonst wie zu liebkosen. Die Fahrt begann ereignislos. Josh und Wendy hingen beide ihren Gedanken nach, ohne etwas zu sagen. Doch die Stille hielt nicht lange
an. "Josh?" fragte Wendy plötzlich, und er zuckte bei ihrem Tonfall zusammen. Er sah sie fragend an. "Ja?" "Vielleicht sollten wir heute bei dir übernachten. Du wirst ja sehr früh aufstehen, weil du zu einer Besprechung musst, und wenn du mich erst zu meiner Wohnung bringst, bist du noch eine Stunde länger unterwegs." Josh hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn er jetzt behauptete, unter Kopfschmerzen zu leiden, würde sie ihm erst recht auszureden versuchen, sie nach Hause zu bringen. Was sollte er nur tun? Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: "Ich habe deine Wohnung noch gar nicht richtig gesehen. Nur ganz flüchtig, als wir neulich zwischen zwei Partys einen kurzen Abstecher dorthin gemacht haben. Ich würde gern mehr Zeit bei dir verbringen." Sie berührte seinen Arm, und er zuckte zusammen. "Werden wir denn nicht dort wohnen?" Josh sah Wendy an und hoffte, sie würde nicht merken, wie schwer ihm das Lächeln fiel. "Doch, das wäre eine gute Idee. Wenigstens für den Anfang." Wenn er sich auf dieses Gesprächsthema konzentrierte, würde sie vielleicht vergessen, dass sie die Nacht mit ihm verbringen wollte. "Ich hatte an ein Jahr gedacht. Später können wir uns dann nach einem Haus am Stadtrand umsehen. Wenn wir beschließen, eine Familie zu gründen." "Ich würde gern gleich damit anfangen." Josh nahm sich zusammen und blickte starr auf die Straße. Er ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Es war doch klar, dass Wendy sofort darauf einging, wenn er anfing, von Kindern zu reden. Was war nur mit ihm los? Er war doch sonst nicht auf den Kopf gefallen! "Bitte, Josh", sagte sie leise, aber bestimmt. Offensichtlich glaubte sie, ein Recht darauf zu haben, die Nacht mit ihrem Verlobten zu verbringen. "Verpass die Ausfahrt nicht", fügte sie kurz darauf hinzu. Josh bog ab, zerbrach sich aber die ganze Zeit den Kopf, wie er es schaffen sollte, nicht mit Wendy zu schlafen. Sie drückte flüchtig seinen Arm. "Sehr gut", flüsterte sie und lehnte sich zurück. Bei einem verstohlenen Seitenblick stellte Josh fest, dass sie die Augen geschlossen hatte und lächelte.
Er zog wütend die Augenbrauen zusammen. Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll, überlegte er. Natürlich sehnte er sich danach, endlich mit seiner Verlobten zu schlafen, doch er musste standhaft sein. So viel Anstand besaß er immerhin, dass er sie ihrer Unschuld erst nach der Hochzeit berauben wollte, selbst wenn er bis dahin noch so viele kalte Duschen nehmen müsste. Sobald sie seine Wohnung betreten hatten, schickte Josh den Butler ins Bett. Dann sah er Wendy an. Er war noch immer entschlossen, das Unausweichliche so lange wie möglich aufzuschieben. "Möchtest du etwas trinken?" fragte er. Sie schüttelte den Kopf. "Nein." Dann kam sie näher, umarmte ihn und sah ihn erwartungsvoll an. "Ich will nur dich." Josh zuckte zusammen, gab ihr jedoch den Kuss, den sie sich gewünscht hatte. Sie hielt ihn so eng an sich gedrückt, dass er spürte, wie sie erschauerte. Er wusste sofort Bescheid. Sie sehnte sich nach ihm - verlangend, leidenschaftlich, und er liebte ihre unschuldigen, doch gleichzeitig viel versprechenden Küsse. Wahrscheinlich war sie sich ihrer Anziehungskraft nicht einmal bewusst. Es wäre bestimmt sehr aufregend, mit ihr zu schlafen. Oje! Die Situation drohte ihm zu entgleiten. Er wollte sich doch zusammenreißen! Stattdessen zog er Wendy an sich und küsste sie leidenschaftlich. Aber es war so ein wunderbares Gefühl. Und er hatte so lange keine Frau mehr gehabt. Bisher hatte er sich Wendy gegenüber wie ein perfekter Gentleman benommen. Doch langsam fiel ihm diese Rolle immer schwerer. Wochenlange Enthaltsamkeit war er nicht gewohnt. Und wie es schien, hatte das Warten ein Ende. Besonders wenn es nach seiner Verlobten ginge. Wendy lehnte sich etwas zurück und flüsterte: "Bring mich ins Bett, Liebling." Ihr Wunsch kam alles andere als überraschend, trotzdem wunderte er sich über ihren entschlossenen Gesichtsausdruck. Heute Nacht gibt es kein Zurück, schien sie sagen zu wollen. Wenn sie wusste, wie sehr auch er sich danach sehnte, sie endlich richtig in den Armen halten zu können! Erwartungsvoll sah Wendy ihn an. Josh zögerte. Er war hin und her gerissen. Sollte er seinen und ihren Bedürfnissen nachgeben, wie sie es sich beide wünschten? Oder sollte er weiterhin den edlen Ritter spielen?
Überrascht stellte er fest, dass Wendy sich von ihm gelöst hatte. Im nächsten Moment lag das Leinenkleid am Boden. Josh schluckte. Wendy stand in einem verführerischen Body vor ihm. Wie sehr sehnte er sich danach, ihr ganz langsam das atemberaubende Kleidungsstück auszuziehen. Doch er konnte sie nur fassungslos ansehen. Hier stand sie nun und blickte ihn erwartungsvoll an, bereit, sich ihm hinzugeben. Das war zu viel für Josh. Er schloss die Augen und stöhnte verzweifelt. "Wo ist das Schlafzimmer?" Wendy zog ihn entschlossen aus dem Wohnzimmer. "Zeig es mir." Er öffnete erschrocken die Augen und sah sie nur schweigend an. Sie schien wirklich wild entschlossen. Träumte nicht jeder Mann von so einer Situation? fragte sich Josh, als Wendy ihm tief in die Augen sah. Doch das war zu viel für ihn. Er sehnte sich so sehr nach ihr. "Da hinten", antwortete er schließlich heiser. Sie lächelte und zog ihn mit sich. Wie warm und weich ihr Körper ist, dachte Josh. Wie graziös sie war! Er war so voller Verlangen, dass er kaum aufrecht gehen konnte. War er wirklich sicher, dass er noch länger Warten wollte? War das eine so gute Idee? Vielleicht sollte er doch gleich ... Er schüttelte verzweifelt den Kopf und versuchte, sich zur Vernunft zu rufen. Sie betraten das Schlafzimmer, das durch eine raffinierte Beleuchtung in Goldtöne getaucht war. Ein großes Doppelbett beherrschte den Raum, der eine sehr maskuline Note hatte. Da die Wohnung im vierzigsten Stock lag, hatte man einen wundervollen Blick auf den Sternenhimmel und den riesigen Lake Michigan. Wendy führte Josh zum Bett, setzte sich und schlüpfte aus ihren hochhackigen Sandaletten. "Das Zimmer gefällt mir. Es duftet nach dir." Sie lächelte wie die Mona Lisa - verlockend und doch schüchtern. Heftiges Verlangen durchflutete ihn, als sie ihn neben sich aufs Bett zog. Gleichzeitig hatte er Schuldgefühle, weil ihm zusehends die Kontrolle entglitt. Er wusste, dass ihn jetzt nur noch ein ganz drastischer Schritt davon abhalten könnte, Wendy leidenschaftlich zu lieben. Mit letzter Kraft stand er wieder auf und schob die Hände in die Hosentaschen. Er wagte nicht, ihr in die erwartungsvoll blickenden Augen zu sehen. "Wendy", sagte er rau. "Es fällt mir sehr schwer,
darüber zu sprechen, aber ich muss dir sagen, dass ..." Josh hatte keine Ahnung, was er ihr sagen müsste. Vielleicht könnte er behaupten, in seiner Familie sei es Tradition, bis zur Hochzeitsnacht zu warten. Ob sie ihm das abnehmen würde? Bei seinem Ruf? Würde sie ihm glauben, wenn er behauptete, manche Frauen wären es wert, geheiratet zu werden, während andere nur etwas für flüchtige Affären wären? Und dass sie zur ersten Kategorie gehörte? Nein, das konnte er auch nicht sagen. Wie hörte sich das denn an? Schließlich verloren heutzutage die meisten Frauen ihre Unschuld, lange bevor sie überhaupt daran dachten zu heiraten. "Ich weiß alles, Josh", sagte sie so leise, dass er nicht ganz verstanden hatte, was sie gesagt hatte. Er runzelte die Stirn und sah auf. "Wie bitte?" Sie kniete sich hin, nahm seine Hand und zog ihn aufs Bett zurück. "Ich habe gesagt, dass ich alles weiß", wiederholte sie und umfasste sein Gesicht. Josh sah sie nachdenklich an. Was wusste sie? "Ist das wahr?" fragte er unsicher. Wenn sie alles wusste, warum trug sie dann erotische Wäsche und hielt sein Gesicht zärtlich umfasst, statt ihm wütend den Laufpass zu geben? Wendy nickte ernst. "Ich bin misstrauisch geworden, als du damals bei mir zum Essen warst. Aber ich wollte es nicht glauben." Er wurde immer unruhiger unter ihrem forschenden Blick. Hatte sie etwa eine Waffe bei sich? Doch wo sollte sie die versteckt haben? Er beschloss, sich ahnungslos zu stellen und herauszufinden, was sie zu wissen glaubte. "Du wolltest es nicht glauben?" Sie schüttelte den Kopf und küsste Josh zärtlich auf den Mund. "Ich arbeite ja einmal die Woche ehrenamtlich in einer Bücherei, und da habe ich alles darüber nachgelesen." Worüber? Wovon, um alles in der Welt, sprach sie eigentlich? Was hatte sie gelesen? Es wurde immer mysteriöser. "Wirklich?" fragte er erstaunt. Sie lehnte sich zurück und sah ihn zärtlich an. "Mach dir keine Sorgen, Liebling, du brauchst dich deiner Impotenz nicht zu schämen." Er hatte gehört, was sie gesagt hatte. Aber begriffen hatte er kein Wort. "Impo... Was?"
Sie beugte sich wieder vor und schmiegte sich an ihn. Er spürte ihre Brüste im Rücken. "Das ist nur der Stress. Du hast doch jetzt wegen der Fusion so unglaublich viel zu tun. Jeden Tag, auch sonntags, arbeitest du mindestens zehn Stunden lang, und dann musst du dich auch noch bei diesen vielen Partys und Empfängen blicken lassen." Ihr Atem streifte sein Ohr. "Ich weiß nur zu gut, wie Daddy sein kann. Liebling, es überrascht mich gar nicht, dass du ... dass du Probleme hast." Josh blickte ungläubig zur Decke. Er? Impotent? Diese Ausrede wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen. Nicht einmal in einem Albtraum. Impotent? Eine schreckliche Vorstellung! Aber eigentlich so unglaublich, dass es fast lächerlich war. Er musste sich das Lachen verkneifen. Als er sich so weit gefasst hatte, dass er es wagte, Wendy anzusehen, bemerkte er Tränen in ihren Augen. Du liebe Zeit, hatte sie sich so sehr aufgeregt? Offensichtlich. Wahrscheinlich machte sie sich seit Wochen Sorgen um ihn. Das Lachen verging ihm vollends. So hatte ihn niemand mehr angesehen, seit er als Achtjähriger von einem Auto angefahren worden war, sich den Arm gebrochen und eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte. Als er damals im Krankenhaus wieder zu sich gekommen war, hatte seine Mutter ihn genauso angesehen wie Wendy in diesem Moment. Gerührt küsste er sie auf die Wange. Es geschah ganz impulsiv. Er wusste auch nicht, was ihn dazu bewogen hatte. Vielleicht freute es ihn, dass sie ihm eine Ausrede auf dem Silbertablett serviert hatte. Oder war es ihr Mitgefühl, das ihm nahe ging? Wendy richtete sich so weit auf, dass sie Josh auf den Mund küssen konnte. Der Kuss war so süß und sinnlich, dass ihn heftiges Verlangen durchflutete. "Wenn wir erst in den Flitterwochen sind, wird schon alles gut werden", flüsterte Wendy. "Da können wir so richtig entspannen." Josh atmete tief durch. Wenn du mich weiter so küsst, werde ich alles andere als entspannt sein, dachte er. Als er spürte, dass sie ihn wieder mit den Lippen liebkosen wollte, wandte er sich schnell ab. "Ich bin froh, dass du es so gelassen nimmst, Wendy." Es war ihm sehr unangenehm, den Ausweg anzunehmen, den sie ihm in letzter Sekunde geboten hatte, aber ihm blieb nichts anderes übrig.
"Ich möchte heute Nacht nur neben dir liegen, Josh, und mich an dich schmiegen." Sie umarmte ihn wieder. "Ich möchte dich nicht bedrängen, nur endlich bei dir sein. Okay?" Josh veränderte seine Position. Es war gar nicht so einfach zu verbergen, wie erregt er war. Impotent, ha! Er räusperte sich. "Natürlich, das wäre sehr schön." Wie hätte er ihr das abschlagen können? Sie hatte sich solche Sorgen um ihn gemacht. Wahrscheinlich jedes Buch gelesen, das je zu diesem Thema geschrieben worden war. Schrecklich! Hoffentlich hatten ihre Kolleginnen in der Bücherei nicht bemerkt, wofür sie sich plötzlich so brennend interessierte. Sie küsste ihn flüchtig. "Ich warte im Bett auf dich, Liebling." Er spürte, wie sie unter die Bettdecke kroch, und wandte sich um. Als Wendy ihm aufmunternd zulächelte, stand er auf und verschwand im Badezimmer. Da er sonst nackt schlief und gar keine Pyjamas besaß, beschloss er, weite Boxershorts anzuziehen. Denn sich völlig unbekleidet zu Wendy zu legen, wollte er lieber nicht riskieren. Kaum war er im Bett, hatte sie sich auch schon an ihn geschmiegt. "Gute Nacht, Liebling", sagte sie zärtlich. "Ich liebe dich." Er küsste sie nur flüchtig, weil er sonst für nichts hätte garantieren können. "Gute Nacht", flüsterte er und blickte starr an die Zimmerdecke. Stunden später sah er noch immer an die Decke, Wendy will mich also nicht bedrängen, dachte er und lächelte ironisch vor sich hin. Ihren warmen Körper an seinem zu spüren war wohl kein Bedrängen. In zwei Stunden stand ihm eine Vorstandssitzung bevor, und er hatte kein Auge zugetan. Verzweifelt hatte er versucht, den weichen, warmen Körper neben sich zu ignorieren und dem betörenden Duft ihres Parfüms zu widerstehen. Aber es fiel ihm von Minute zu Minute schwerer. Die Hand, die stundenlang auf seiner Brust gelegen hatte, war immer weiter nach unten geglitten. Jetzt spürte er sie unter dem Bund seiner Boxershorts. Wenn das so weiterging, würde Wendy gleich einen Schock bekommen, wenn sie erwachte und spürte, dass er, Josh, gar nicht so vom Stress geplagt war, wie sie vermutet hatte. Vorsichtig schob er die Hand auf seine Brust zurück und wunderte sich, wie, um alles in der Welt, er sich in diese prekäre Lage gebracht hatte. Wendy Isaac war doch ein seltsames Mädchen. Für sie gab es
keine Halbherzigkeiten. Sie erledigte alles gründlich. Und sie schien
ihn von ganzem Herzen zu lieben, trotz seines kleinen Handikaps.
Jedenfalls glaubte sie, er litte darunter. Und er kannte keine Frau, die
so viel Liebe zu geben hatte und die hoffte, ihm durch ihre Liebe Kraft
zu schenken.
Er betrachtete sie zärtlich. Sie schlief ganz fest und friedlich.
Sie war einfach süß. Er gab dem Impuls nach, ihr übers Haar zu
streichen und sie auf die Schläfe zu küssen.
Wendy streckte sich ein wenig und seufzte leise. Josh zog sie enger an
sich und runzelte die Stirn über sein Verhalten. Verwirrt sah er wieder
an die Zimmerdecke. Konnte es sein, das er sich in dieses selbstlose,
bezaubernde Geschöpf verliebt hatte?
5. KAPITEL
Josh war völlig Wendys Meinung. Auch ihm wäre eine schlichte Trauung lieber gewesen. Doch da hatten sie die Rechnung ohne Gower Isaac gemacht. Protzig war noch die schmeichelhafteste Beschreibung, die ihm, Josh, zu Gowers Hochzeitsarrangement einfiel. Wendys Vater hatte keine Kosten und Mühen gescheut und sogar zwölf Trompeter, die wie eine Palastgarde kostümiert waren, und ein Harfenquartett engagiert, dessen Spielerinnen wie Engel aussahen. Wendy hätte viel lieber im engsten Freundeskreis auf der Terrasse ihres Elternhauses geheiratet, doch Gower hatte sich durchgesetzt. Die Hochzeit seiner Tochter mit dem wohlhabenden, einflussreichen Joshua Raven sollte das gesellschaftliche Ereignis des Jahres sein. Die Gelegenheit, im Rampenlicht zu stehen, durfte Gower Isaac sich nicht entgehen lassen. Josh hätte den eitlen, egoistischen Mann am liebsten auf der Stelle mit einem Kinnhaken niedergestreckt, hatte sich dann aber doch zusammengerissen. Schließlich war es das Vorrecht des Brautvaters, die Hochzeit auszurichten. Darüber hinaus hatte Josh sowieso genug zu tun, er konnte sich nicht auch noch um die Hochzeitsvorbereitungen kümmern. Erstens war er mit seiner eigenen Firma beschäftigt, und zweitens musste er die Umstrukturierungspläne für Gowers Holding ausarbeiten. Er wollte sie sofort umsetzen, sobald er die Leitung der Holding übernommen hatte. Wie pompös und übertrieben die Hochzeitsfeier auch war, Wendy schien das ganze Spektakel zu genießen. In einem traumhaft schönen weißen Hochzeitskleid stand sie neben ihm, Josh, und sah aus wie eine Märchenprinzessin. Ihre großen veilchenblauen Augen schimmerten, als sie ihm das Jawort gab. Als er, Josh, an der Reihe war, sah er den Pfarrer an, der die Trauungsformel sprach. "Bis dass der Tod euch scheidet..." "Ja, ich will", antwortete Josh, und das Echo seines Jaworts hallte von den hohen Kirchenwänden wider. Insgeheim zuckte er jedoch
zusammen. Er hoffte, sein Liebesschwur würde sich nicht als Lüge erweisen, Schnell schloss er die Augen und schwor sich, sein Bestes zu geben. "Sie dürfen die Braut jetzt küssen." Die Stimme des Pfarrers riss Josh aus seinen Gedanken. Erschrocken öffnete er die Augen. War das schon alles? Die Trauungszeremonie hatte nur wenige Minuten gedauert, sollte jedoch einen Bund fürs Leben schließen. Josh war es nur recht, dass er es nun hinter sich hatte. Er wandte sich seiner frisch gebackenen Ehefrau zu, lüftete den Schleier und gab ihr den traditionellen Kuss. Ihre Lippen bebten, und er schmeckte salzige Tränen. Besorgt richtete er sich auf und sah Wendy in die Augen. "Alles in Ordnung?" Sie lächelte. "Ja, ich bin ganz schrecklich glücklich." Das gab es nicht! Sie weinte vor Glück? Obwohl ihr Vater ihr so eine pompöse Hochzeit aufgedrängt hatte und ihr eine schlichte Feier viel lieber gewesen wäre? Es war rührend, wie schnell sie dem alten Dickkopf vergeben hatte. Josh lächelte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er dem Alten etwas anderes erzählt und Wendy ihren Willen gelassen. Er beugte sich wieder zu ihr hinunter, um sie noch einmal zu küssen, dieses Mal jedoch leidenschaftlicher. Er spürte ihre Hand auf seiner Taille und wusste, dass sie ihn am liebsten fest an sich gedrückt und auf der Stelle geliebt hätte. Ihm ging es ja ganz genauso. Die letzten beiden Wochen vor der Hochzeit hatte Wendy jede Nacht an ihn geschmiegt in seinem Bett verbracht. Für Josh war es die Hölle auf Erden gewesen, denn mit jeder Nacht sehnte er sich mehr danach, endlich eins mit Wendy zu werden. Er hielt es kaum noch aus. Am liebsten hätte er die Ehe auf der Stelle vollzögen. Doch einige Stunden musste er sich noch zusammennehmen. Das gebot der Anstand. Josh beendete verträumt den Kuss. Gleich darauf führte er seine Frau aus der Kirche, wo sie von lautem Jubel empfangen wurden. Nach schier endloser Knipserei und unermüdlichem Händeschütteln waren sie endlich auf dem Weg zum Countryclub, wo der Empfang stattfinden sollte. Josh selbst war in keinem Club Mitglied, weil er wegen seiner Arbeit wenig Freizeit hatte. Im Hintergrund spielte ein aus zwanzig Musikern zusammengesetztes Orchester, und die Feier schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Gower schwelgte in der Rolle des Conferenciers. Immer wieder
sprach er einen neuen Toast aus, philosophierte über das Leben im Allgemeinen und die Bedeutung der Liebe im Besonderen. Eigentlich erstaunlich für einen Mann, der nur des Geldes wegen geheiratet und keine sehr glückliche Ehe geführt hat, dachte Josh. Aber er wusste ja, wie gern Gower sich reden hörte. Der Mann ließ keine Gelegenheit aus, sich in Szene zu setzen. Josh schüttelte ärgerlich den Kopf. Wenn er das alles geahnt hätte, wäre er Wendys Wunsch nach einer schlichten Hochzeitsfeier wohl doch gefolgt. Nun war es zu spät. Gower, der alte Tyrann, hatte mal wieder allen seinen Willen aufgezwängt. Im Vergleich zu ihm fühlte Josh sich wie ein blutiger Anfänger. Dabei hatte er doch den ganz großen Coup gelandet. Hatte er nicht Wendy im Handumdrehen überredet, seine Frau zu werden, nur um an die Firma ihres Vaters zu kommen? Nachdem sie alle Glückwunschreden hinter sich gebracht hatten, fragte Wendy ihn leise: "Wie geht es dir?" Ihre Besorgnis, die wohl einem ganz bestimmten Körperteil galt, war schon komisch. Josh rang sich ein Lächeln ab und drückte zuversichtlich ihre Hand. "Prima, ich beginne mich nur langsam zu fragen, wann ich endlich mit dir allein sein kann." Sie errötete, und auch das fand Josh immer wieder anziehend. Das Orchester spielte gerade ein modernes Lied, nach dem man sogar tanzen konnte. Josh sah auf seine Armbanduhr. Wie lange sollte dieses Theater denn noch dauern? Schließlich hatten sie noch den langen Weg nach Adirondacks vor sich. "Unser Flug geht in zwei Stunden", flüsterte er Wendy zu. "Wir müssen bald aufbrechen." Wendy lächelte. "Nichts dagegen, Liebling." Gower kam strahlend und mit stolzgeschwellter Brust zu ihnen. Aber stolz war er wohl eher auf sich selbst, nicht auf seine Tochter. Josh konnte sich nicht vorstellen, dass Wendy sich diesbezüglich Illusionen hingab. "Wir wollen den Tanz eröffnen, Wendy." Mit übertriebener Geste half Gower seiner Tochter vom Stuhl. "Der erste Tanz gehört traditionell mir." Gower klopfte Josh auf die Schulter, nickte ihm zu und sagte etwas. Doch die Musik war so laut, dass Josh kein Wort verstand. Hatte Gower etwa gesagt, dass mit der Heirat die Fusion erfolgt wäre?
Zuzutrauen wäre es ihm. "Halt ja den Mund", murmelte Josh vor sich hin. "Wenigstens wenn deine Tochter in der Nähe ist." Dieser Gower hatte wirklich nur seine eigenen Interessen im Kopf. An Wendys Gefühle verschwendete er offensichtlich nicht einen einzigen Gedanken. Hatte er denn schon vergessen, dass seine Tochter von dem Heiratsabkommen nichts wissen durfte? Ein falsches Wort zur falschen Zeit, und für sie würde eine Welt zusammenbrechen, Josh war zwar nicht bis über beide Ohren in sie verliebt, doch er hatte sie gern. Und er wollte auf keinen Fall, dass jemand ihre Gefühle verletzte. Gower wirbelte seine Tochter über die Tanzfläche, als wäre er wirklich der perfekte Vater und Gastgeber, Josh machte gute Miene zum bösen Spiel, Sein Schwiegervater war an diesem Tag nicht das einzige Problem. Evelyn Jannis saß am Nebentisch. Josh rang sich ein höfliches Lächeln ab, als sie auf ihn zukam. Sie legte eine Hand auf seine. "Hallo, Süßer." "Dich hatte ich hier nicht erwartet, Evelyn." "Ich begleite Daddy. Wusstest du denn nicht, dass er und Gower zusammen pokern?" "Nein." Als er ihr ungläubiges Lächeln bemerkte - offensichtlich bildete sie sich ein, er, Josh, habe sie zur Hochzeit eingeladen -, wurde sein Tonfall kühl und abweisend. "Nett, dich zu sehen, Evelyn, aber..." "Du siehst zum Anbeißen aus, Josh. Ich könnte dich auf der Stelle vernaschen." Sie lächelte anzüglich. Er verkniff sich eine passende Bemerkung. "Ich weiß, wozu du fähig bist, Evelyn. Aber dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort." "Okay, Süßer", antwortete sie nachgiebig. "Ruf mich an, wenn du zurück bist. Wir werden schon ein Plätzchen finden." Sie ließ den Blick zu Gower und Wendy schweifen, die einsam ihre Runden auf der Tanzfläche drehten. "Meine Nummer hast du ja." Josh sah sie an. Evelyn hätte überhaupt keine Skrupel. Jeder Junggeselle hätte sich nur zu gern mit ihr amüsiert. "Ich versuche gerade, deine Nummer zu vergessen", sagte er leise. Nun war Evelyn hellhörig geworden. "Du versuchst es?" fragte sie sofort. "Das ist die interessanteste Bemerkung, die ich seit langem gehört habe." Sie beugte sich vor und bot ihm einen tiefen Einblick in
ihr Dekollete. "Dann versuch das mal schön weiter, Süßer. Und wenn es dir misslingt, bin ich für dich da." Sie ging mit wiegenden Hüften davon, doch ihr schweres Parfüm hing noch in der Luft. Josh sah ihr schuldbewusst nach. Dabei hatte er doch gar nichts getan. Diese Evelyn, dachte er. Vorbei. Für ihn gab es nur noch Wendy. Erwartungsvoll sah er ihr entgegen, als sie jetzt am Arm ihres Vater zum Tisch zurückkehrte. "Dein Tanz, mein ... Sohn", sagte Gower und zwinkerte ihm verschwörerisch zu, Josh war sofort auf den Beinen. Hand in Hand ging er mit Wendy zur Tanzfläche, um Walzer zu tanzen. "Nach diesem Tanz verschwinden wir", flüsterte er ihr ins Ohr. "Mir reicht es langsam." "Mir auch. Wenn ich noch fünf Minuten länger wie eine preisgekrönte Zuchtsau herumgeführt werde, fange ich an zu schreien." Josh lachte vergnügt. "Du bist wirklich sehr direkt, Wendy. Apropos, wollen wir Al tatsächlich mitnehmen?" Wendy wurde ernst "Hast du etwas dagegen?" Er kam sich sehr egoistisch vor. Nein, er wollte ihre Pläne nicht durchkreuzen. "Ich dachte nur, bei Miltville wäre sie besser aufgehoben." Wendy schüttelte den Kopf. "Sie ist in der letzten Zeit oft allein gewesen und hat sich heiser gebellt. Es wäre keine gute Idee, sie bei Miltville zu lassen. Dad könnte sie aufregen." Josh zog wissend die Augenbrauen hoch. "Du hast Recht. Es wäre furchtbar, wenn wir zurückkommen und eine ausgestopfte Alberta im Zimmer deines Vaters vorfinden würden." Sie sah ihn entsetzt an. "Eine grauenhafte Vorstellung!" Dann fasste sie sich schnell wieder. "Al wartet in meiner Wohnung. Mein Gepäck ist auch noch da." Er lachte. "Schon gut. Hoffentlich erfährt niemand, dass meine Frau darauf bestanden hat, ein anderes weibliches Wesen mit auf die Hochzeitsreise zu nehmen. Sehr pikant! Aber für dich tue ich alles." Er schwenkte sie noch einmal herum, dann war der Walzer zu Ende. "Wer zuerst am Wagen ist." Sie lächelte ihn liebevoll an. "Ich möchte mich nur noch schnell von meinen Freunden verabschieden", bat sie.
Gemeinsam gingen sie zu dem Tisch, an den man ihre Schüler und ihre Kollegen aus der Bücherei gesetzt hatte, die auch ehrenamtlich tätig waren. Der Tisch stand etwas abseits in der Nähe der Küche. Wendy ließ sich ihre Verärgerung darüber nicht anmerken. Sie wollte niemandem die Feier verderben. Josh war ihnen beim Empfangsdefilee vorgestellt worden, doch er erinnerte sich nur noch an die ehrenamtlichen Büchereimitarbeiter. Sie hatten ihn so mitleidig angesehen, dass er am liebsten laut herausgeschrieen hätte: "Ich habe keine Potenzprobleme!" Doch er riss sich zusammen und rang sich ein Lächeln ab. Unter den Gästen an diesem Tisch befanden sich auch durchaus wohlhabende Leute, die sozial engagiert und nicht so versnobt waren wie die meisten von Gowers Bekannten. Man merkte ihnen die andere Lebenseinstellung wirklich an. Sie waren Wendy sehr ähnlich, die sich auch nichts auf ihren Reichtum einbildete. Ihr war es wichtig, den Menschen zu helfen. Wenn es nach Wendy gegangen wäre, hätten nur diese Freunde zur Hochzeit eingeladen werden dürfen. Und Josh konnte ihren Wunsch jetzt erst recht verstehen. Er bedauerte, ihre Freunde, auf die man sich in der Not verlassen konnte, nicht näher kennen gelernt zu haben, aber vielleicht bot sich ja später eine Gelegenheit dazu. Josh sah zu, wie Wendy sich herzlich von ihnen verabschiedete und versprach, sich in zwei Wochen zurückzumelden. Auch er schüttelte jedem die Hand, sagte seinem Freundeskreis auf Wiedersehen, und dann warf Wendy den Brautstrauß in die Menge. Eine hübsche schwarze Lehrerin fing ihn auf. "Karen Ann! "rief Wendy begeistert. Die junge Frau hüpfte begeistert herum und konnte sich gar nicht wieder beruhigen. "Sie scheint sich zu freuen", rief Josh Wendy zu und lachte über seine Untertreibung. Wendy lächelte fröhlich. "Ihr Freund wird sich wohl bald vom Junggesellendasein verabschieden müssen. So, wie Karen Ann sich aufführt, bleibt ihm gar nichts anders übrig, als sie schnell zu heiraten." Nun konnte das Hochzeitspaar endlich entkommen. Einen Wermutstropfen musste Wendy zuvor jedoch noch schlucken: Gower unterhielt sich gerade mit dem Gouverneur und winkte ihnen nur
ungeduldig von weitem zu, statt sie anständig in die Flitterwochen zu entlassen. Josh war sehr wütend auf seinen Schwiegervater, denn er hatte genau gesehen, wie enttäuscht Wendy gewesen war, als ihr Vater sie plötzlich nicht mehr beachtet hatte. Josh versuchte sofort, sie aufzumuntern. "Kommen Sie, Mrs. Raven", sagte er leise, küsste sie auf die Nasenspitze und zog Wendy zum Wagen. Vielleicht war er nicht gerade bis über beide Ohren verliebt in sie, aber Wendy Isaac Raven war eine süße, leidenschaftliche Frau. Und er schwor sich bei all der Arbeit, die er in die Fusion gesteckt hatte, sich die Flitterwochen durch nichts und niemand verderben zu lassen. Wendy wusste nicht so recht, was sie sich von ihrem und Joshs Abstecher in ihre Wohnung erhofft hatte. Vielleicht eine kurze, leidenschaftliche Umarmung, um den ersten Liebeshunger zu stillen, damit sie entspannt nach New York fliegen konnten. Doch daraus wurde nichts, da sie bereits von Judy Sawyer, Wendys Nachbarin, erwartet wurden. Judy war eine zurückhaltende junge Frau, die ihren fünfjährigen Sohn Seth allein erzog. Sie trug alte Jeans und ein grünes Top und überreichte Wendy scheu ein in buntes Papier gewickeltes Geschenk. "Es tut mir so Leid, dass ich die Hochzeit verpasst habe", sagte sie, "aber Seth hat eine Grippe. Und anstatt mir die Augen darüber auszuweinen, dass ich nicht zur Feier kommen konnte, habe ich die Zeit lieber genutzt, um mich auf mein Bewerbungsgespräch vorzubereiten. Es ist eine Stelle als Gerichtsreporterin frei." Sie lächelte schüchtern. "Die Hochzeit hätte sicher mehr Spaß gemacht." Wendy mochte Judy und Seth. "Du hast gar nicht so viel verpasst", sagte Wendy tröstend und bedankte sieh für das Geschenk. "Wenn die Fotos fertig sind, melde ich mich bei dir. Einverstanden?" Judy nickte erleichtert. "Du siehst wunderschön aus", sagte sie und blickte dabei Josh an. Er lachte. "Vielen Dank für das Kompliment. Wunderschön hat mich bisher noch niemand genannt." Judy errötete verlegen. "Eigentlich meinte ich Wendy." "So ungerecht ist das Leben." Josh zwinkerte ihr vergnügt zu und schloss Wendys Wohnungstür auf. Judy hob die lange Schleppe des Brautkleids hoch. "Das ist ein wundervolles Kleid", sagte sie
bewundernd. "Es muss ja eine Märchenhochzeit gewesen sein." Sie folgte ihnen in die Wohnung und breitete andächtig die Schleppe aus. Wendy bemerkte, wie in Judys Augen Tränen schimmerten. Offensichtlich dachte sie an ihre eigene Hochzeit. Ihr Mann war gestorben, als Seth zwei Jahre alt gewesen war. Hoffentlich bekommt Judy den Job, dachte Wendy. Und hoffentlich findet sie wieder einen Mann, den sie so lieben kann wie ich Josh. Plötzlich wurde Wendy bewusst, dass sie noch immer das Geschenk in der Hand hielt. Aus Höflichkeit musste sie es wohl öffnen, solange Judy noch da war. Sie zog die Schleife auf und sah Josh an. Er beobachtete sie lächelnd. Ob er wohl auch enttäuscht war, dass sie nicht allein in der Wohnung waren? Es schien so. Aber wenigstens nahm er es mit Humor. Josh Raven war wirklich ein wunderbarer Mann! Wendy zog das Silberpapier auseinander und stellte die Schachtel aufs Sofa. Dann öffnete sie den Deckel und fand ein Glas mit einem Schraubverschluss. "Pfefferminzcreme", erklärte Judy. "Es ist ein altes Familienrezept und schmeckt prima zu Eis oder Schokoladenpudding. Natürlich ist es kein großartiges Geschenk, aber in der Familie meiner Mutter ist es Tradition, die Pfefferminzcreme in den Flitterwochen aufzuessen. Das bringt Glück, und ihr werdet eine unglaublich glückliche Ehe führen." Sie lächelte traurig. "Wenn Seths Daddy nicht krank geworden wäre..." Judy schluckte. "Na ja, also wir waren jedenfalls unendlich glücklich. Wenigstens waren uns sechs wunderschöne gemeinsame Jahre vergönnt." Wendy war den Tränen nahe. Sie reichte Josh das Glas und umarmte Judy herzlich. "Das ist wirklich sehr lieb von dir", sagte sie leise. "So ein wunderbares Geschenk! Vielen, vielen Dank." Sie küsste Judy auf die Wange und ließ ihre Nachbarin wieder los. "Du sagst mir sofort Bescheid, wenn du den Job als Gerichtsreporterin hast, hörst du?" fügte sie hinzu, um ihre Rührung zu verbergen. "Ich drück dir die Daumen." Judy nickte und trocknete sich verstohlen die Tränen. "Ja, klar." Sie sah Josh schüchtern an. "Alles, alles Gute euch beiden. Ihr müsst jetzt wohl wieder los, oder?"
Josh nickte und hielt das Glas hoch. "Das werde ich gut im Reisegepäck verstauen, während Wendy sich umzieht", sagte er und zwinkerte Judy zu. "Vielen Dank." Judy winkte ihnen zu und war verschwunden. Ich werde sie und den kleinen Seth als Nachbarn vermissen, dachte Wendy wehmütig. Doch dann hatte sie nur noch Augen für ihren Mann, der in seinem weißen Smoking einfach umwerfend gut aussah. "Higgins soll das für uns einpacken", sagte Josh und zog sie an sich. Wendy stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn flüchtig. "Danke, dass du die Creme mitnehmen willst," Er zog überrascht die Augenbrauen hoch: "Wieso? Traditionen muss man pflegen." Sie lachte und umarmte ihn. "Ich liebe dich so sehr, Josh." Nun zog er sie enger an sich und küsste sie. Dann stöhnte er. "Nun zieh dich schnell um, bevor ich etwas Unbedachtes tue." Wendy wusste genau, was er meinte, und ließ ihn nur zögernd los. Sie hätte gar nichts dagegen gehabt, unbedacht zu sein. Allerdings war es wunderbar, dass Josh sich gerade beim ersten Mal offensichtlich viel Zeit lassen wollte. "Ich ziehe mich hier um", sagte Josh, "Wenn ich mit ins Schlafzimmer komme, kann ich für nichts garantieren," Wendy lachte. "Ich beeile mich", versprach sie. "Wir wollen doch das Flugzeug nicht verpassen und uns nicht die Flitterwochen verderben." Joshs herzliches Lachen begleitete sie, als sie ins Schlafzimmer ging. Und sie wusste genau, was es bedeutete: Ihr wunderbarer Ehemann würde sich durch nichts und niemand die Flitterwochen verderben lassen.
6. KAPITEL
Schon von weitem erblickte Josh, der an Deck des Motorboots stand, die Lichter von Raven's Roost. Endlich, dachte er und sah auf die Armbanduhr. Zwei Uhr morgens! Die Reise mit Flugzeug, Mietwagen und Boot zu seiner abgelegenen Hütte in den Adirondacks war lang und ermüdend gewesen. Er sah sich nach Wendy um, die friedlich auf einer gepolsterten Bank schlief. Sie war eingeschlafen, sobald das Motorboot abgelegt hatte. Josh lächelte zärtlich, als er sich zu ihr hinunterbeugte und sie sanft schüttelte. "Aufwachen, Liebling. Wir sind da." Schlaftrunken öffnete sie die Augen und sah ihn verwirrt an. Offensichtlich wusste sie nicht, ob sie wach war oder träumte. Dann erwiderte sie sein Lächeln. "Hallo." So verschlafen sah sie erst recht zum Anbeißen aus. Er half ihr hoch. "Bist du bereit?" Sie lächelte nur schüchtern. Kurz darauf hatte die Bootsbesatzung das Gepäck, einschließlich Al in ihrem Käfig, ausgeladen und in die Hütte gebracht, in der Wendy und Josh ihre zweiwöchigen Flitterwochen verbringen wollten. Im Holzhaus fand sich alles, was sie brauchten. Joshs Sekretärin hatte dafür gesorgt, dass es ihnen an nichts fehlen würde. Sogar die Lampen waren eingeschaltet, und das Haus vermittelte einen einladenden Eindruck. Als Josh und Wendy Hand in Hand den gewundenen Pfad zum Haus hinaufgingen, hörten sie den Motor des Bootes aufheulen, das sie in die Einsamkeit gebracht hatte. Die Männer waren bereits wieder auf dem Rückweg. Josh überlegte, ob er sie hätte bitten sollen, zur Sicherheit am kommenden Sonnabend bei ihnen vorbei zu sehen, statt sie zwei ganze Wochen lang allein der Wildnis zu überlassen. Na ja, jetzt war es sowieso zu spät. Er sah Wendy an. Hoffentlich waren ihr seine plötzlichen Zweifel entgangen.
Sie gingen die Treppe hinauf, die auf eine breite, überdachte Veranda führte, und Josh hielt Wendy die Tür auf. Doch Wendy zögerte, die Hütte zu betreten. "Was ist los?" fragte er verwirrt. Sie lächelte scheu und senkte den Blick. "Ich dachte ... ich dachte, du würdest mich über die Schwelle tragen", sagte sie leise. Er kam sich sehr dumm vor. Natürlich! Er war ja verheiratet, und es war Tradition, die Braut über die Schwelle zu tragen. Verlegen lächelnd scherzte er: "Du fängst wohl schon an, mich herumzukommandieren, oder?" Er zwinkerte ihr zu, damit sie wusste, dass er sie nur neckte. Ohne ihre Antwort abzuwarten, hob er sie hoch und trug sie in die rustikale Diele. "Deine Nachbarin Judy ist nicht die Einzige, die Familientraditionen aufrechterhält." Wendy schmiegte sich lachend an ihn. "Diese hat wenigstens keine Kalorien." "Wir geben uns Mühe", sagte Josh neckend. "Alles leere Versprechungen." Sie liebkoste seine Wange. "Glaub ja nicht, dass ich dein Versprechen vergessen habe." Er sah sie liebevoll an. Sie schien plötzlich hellwach zu sein. Josh neigte den Kopf und begann, sie zu küssen. Ihre Lippen waren warm und einladend, und Wendy seufzte sehnsüchtig an seinem Mund. Josh beendete den Kuss und sagte rau: "In den Flitterwochen - und am besten sogar schon in der Hochzeitsnacht - gilt es, noch eine Tradition aufrechtzuerhalten." Wendy sah ihn unschuldig an. "Wirklich?" Er nickte. Sie war wirklich süß und sah sehr verführerisch aus mit ihren rosigen Wangen. Am liebsten hätte er sie sofort ins Schlafzimmer getragen. Doch er widerstand dem Impuls. Er wusste, wie unerfahren Wendy war, und wollte nichts überstürzen. Sie schmiegte sich an ihn. "Soll ich raten, was für eine Tradition das ist?" "Du kannst es ja versuchen." Es brachte ihn fast um den Verstand, wie verführerisch sie ihn ansah. Er hätte sich in ihrem Blick verlieren mögen. "Ich habe keine Ahnung", behauptete sie lächelnd. "Aber wenn du mich absetzt, zeige ich dir, was es vielleicht sein könnte meiner Ansicht nach."
Josh dachte an den Abend vor zwei Wochen, als sie plötzlich im
verführerischen Body vor ihm gestanden hatte. Damals hatte er den
Gentleman gespielt und sie nicht angerührt, doch nun waren sie
verheiratet. Er brauchte nicht mehr zu warten. Also setzte er sie
gehorsam ab. "Ja, zeig es mir", bat er heiser.
Sie lächelte neckend und ging zu seinem Seesack. Kokett sah sie sich
noch einmal nach Josh um.
"Was tust du da?" fragte er verblüfft. In seinem Seesack würde sie
nichts Verführerisches zum Anziehen finden.
"Das wirst du schon sehen." Sie begann, den Seesack zu öffnen. "Hab
etwas Geduld."
Ich habe zwei Monate lang Geduld bewiesen, dachte er. Doch ihre
prickelnde Verzögerungstaktik gefiel ihm. Dafür, dass sie so
unerfahren ist, stellt sie sich wirklich ziemlich geschickt an, überlegte
er begeistert.
"Hier." Sie drehte sich um und hielt das Glasgefäß von Judy hoch.
"Pfefferminzcreme."
Er musterte sie ungläubig. "Daran habe ich nun gar nicht mehr
gedacht. Du machst Witze."
"Im Gegenteil." Sie zupfte ihn am Ärmel. "Komm, zeig mir, wo die
Küche ist. Wir müssen Pfefferminzcreme essen. Das bringt Glück.
Schon vergessen?"
Josh lachte amüsiert. "Ich wusste nicht, dass wir sofort darüber
herfallen müssen."
Sie sah ihn von der Seite an. "Wo ist die Küche?"
Er schüttelte nur den Kopf. "Also gut, du gibst ja sonst doch keine
Ruhe, oder?"
"Sie haben es erraten, Mr. Raven."
Er zeigte zum Wohnzimmer. "Hier durch, Mrs. Raven." Sie gingen
zwei Stufen hinunter und durchquerten einen großen, gemütlichen
Raum mit großen Fenstern. Als sie an den rustikalen Holzmöbeln
vorbeigingen, gab Josh zu bedenken: "Wir haben aber weder Eis noch
Schokoladenpudding. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß, leider."
"Das macht nichts. Ich bin sowieso nicht besonders hungrig."
Sie hatten jetzt eine weitere Diele erreicht, an deren Ende eine
Glasschiebetür zu einem Innenhof mit einem schattigen Garten führte.
In der Mitte des Hofes stand ein dezent beleuchteter Springbrunnen,
der leise plätscherte.
Josh führte Wendy um eine Ecke herum in ein getäfeltes Esszimmer,
das sie durchquerten. Nun hatten sie die geräumige Küche erreicht, die
auch ganz mit Kiefernholz vertäfelt war. Der Herd stand in der Mitte.
"Das ist die Küche. Zufrieden?" fragte Josh und ließ Wendy los.
Sie betrachtete bewundernd den Raum. "Das Haus ist fantastisch", rief
sie begeistert. "Einfach wunderschön. Du hattest doch von einer Hütte
gesprochen. Das ist aber eine ziemlich große Hütte."
Josh freute sich über ihre Begeisterung. Es bedeutete ihm viel, dass
auch ihr das Haus gefiel. Langsam wurde er nun aber doch
ungeduldig. Sein Verlangen ließ sich kaum noch zügeln. Schnell
schraubte er das Glas auf und hielt es Wendy hin. "Und nun?"
Sie betrachtete es. Dann sah sie ihn so liebevoll und verführerisch an,
dass er sich wirklich nur noch mit größter Mühe zurückhalten konnte.
Im nächsten Moment hatte sie die Finger in das Glas gesteckt, zog sie
- mit Pfefferminzcreme bedeckt - wieder heraus und hielt sie Josh vor den Mund. "Du zuerst." Er betrachtete sie amüsiert; "Bist du sicher? Um zwei Uhr morgens? Eigentlich hatte ich für diese Zeit etwas anderes geplant." Sie fuchtelte ungeduldig vor seinem Mund herum. "Mach schon! Ich will endlich mit dir schlafen." Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Gehorsam lutschte er die Pfefferminzcreme von ihren Fingern, langsam, genießerisch und sehr sinnlich. Wendy stockte der Atem. Schnell hielt Josh ihre Hand fest, damit sie sie nicht zurückziehen konnte, und genoss es, auch den kleinsten Tropfen Pfefferminzcreme abzulecken. Von diesem Spiel konnte er gar nicht genug bekommen. Als er einmal kurz aufsah und ihren verzückten Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte er zufrieden und machte weiter. Zwischendurch küsste er ihre Finger, dann lutschte er wieder die Creme ab, bis er auch den letzten Rest abgeleckt hatte. Wendy war entzückt von dem erotischen Spiel. Es war wunderbar, Josh auf diese Weise zu spüren, sich so von ihm liebkosen zu lassen. Als er schließlich ihren Arm losließ, blieb sie reglos stehen. Ihr Atem ging schneller. Staunend sah sie Josh an. Dieser war überglücklich, in der Hütte zu sein, hier seine Flitterwochen zu verbringen - mit ihr. Er verzehrte sich danach, endlich mit ihr zu schlafen, ihr beizubringen, welche Freuden Mann und Frau einander bereiten konnten. Auch er
steckte jetzt einen Finger in die Pfefferminzcreme und hielt ihn Wendy hin. "Jetzt bist du an der Reihe." Sie blinzelte. Offensichtlich schien sie mit ihren Gedanken weit weg gewesen zu sein. "Wie?" Er fuchtelte mit dem klebrigen Finger vor ihrem Mund hemm. "Es bringt Glück", sagte er leise. "Das hat Judy jedenfalls behauptet." Als Wendy noch immer nicht reagierte, verteilte er die Pfefferminzcreme auf ihren Lippen und beobachtete entzückt, wie sie sich mit der Zunge darüber fuhr. Sie lächelte, als sie seinen Blick bemerkte, und umfasste seine Hand. Dann lutschte sie genießerisch die Creme von seinem Finger. Kaum war sie damit fertig, biss sie zärtlich zu. Josh schluckte, als sie in seiner Hand noch einen kleinen Rest Creme fand und diesen auf erotische Weise entfernte. Das war zu viel! Er räusperte sich. "Wendy", sagte er rau und befreite sich aus ihrem Griff. "Es wird Zeit, uns jetzt der anderen Tradition zu widmen." "O ja!" Sie strahlte und küsste ihn sehnsüchtig auf den Mund, bevor sie sich zärtlich an ihn schmiegte. "Wo ist unser Schlafzimmer, Liebling?" Heißes Verlangen durchflutete ihn. "Ich dachte schon, du würdest diese Frage überhaupt nicht mehr stellen", flüsterte er, hob seine Braut hoch und trug sie die Treppe hinauf. Am nächsten Morgen fühlte Josh sich wunderbar. Nicht nur entspannt und körperlich zufrieden, sondern rundum gut. Als er gegen neun Uhr aufgewacht war, hatte Wendy noch neben ihm geschlafen. Sie sah sehr verführerisch aus, das Haar war zerzaust, ihr hübscher nackter Körper zeichnete sich unter der dünnen Bettdecke ab, und ihr Mund wirkte sehr einladend. Nur ein Kuss, dachte Josh, besann sich dann aber doch anders, denn er wusste, wohin ein Kuss führen würde. Und er wollte Wendy Zeit geben, sich zunächst an die intimeren Seiten des Ehelebens zu gewöhnen. Er stand also auf, zog sich Jeans über und ging barfuss nach unten, wo er Al in ihrem Käfig entdeckte. Er beschloss, die Krähe mit in die Küche zu nehmen. Schon bald lief der Kaffee durch den Filter, in der Pfanne brutzelte Frühstücksspeck, und Josh holte Eier aus dem Kühlschrank. "Sag mal, Al, mag Wendy lieber Rühr- oder Spiegeleier?"
Die weiße Krähe legte den Kopf schief und krächzte: "Hübscher Junge, küss mich." Er lachte. "Dazu bin ich leider zu müde, altes Mädchen." Josh entschloss sich, Rühreier zu machen. "Das kann ich nämlich ziemlich gut", erklärte er Al. "Du kannst einiges ziemlich gut." Josh wandte sich um, als er Wendys Stimme hörte. Wendy lehnte an der Tür zur Speisekammer. Sie sah äußerst verführerisch aus, denn sie trug eins seiner Polohemden, das sie nicht zugeknöpft hatte. "Hallo", sagte er rau. Sie schien noch etwas schlaftrunken zu sein und sah sehr süß aus in seinem Hemd. "Ich wollte gerade Rühreier machen. Magst du die?" Sie kam langsam auf ihn zu. Ihr Anblick war unerhört sexy. Josh betrachtete ihre hübschen langen Beine und erinnerte sich, wie sie ihn damit in der vergangenen Nacht umschlungen hatte - besitzergreifend und leidenschaftlich. Heißes Verlangen erfasste ihn. Wendy schmiegte sich an ihn und küsste seine nackte Brust. "Du wärst mir lieber zum Frühstück", sagte sie leise. Ihr Atem streifte seine Wange. Josh lachte jungenhaft über ihre sinnliche Anspielung, versuchte jedoch, sich zu beherrschen. "Wir müssen zwischendurch aber etwas essen, um bei Kräften zu bleiben", gab er zu bedenken. "Bargeld! Keine Schecks!" krächzte Al. Wendy lachte und sah ihrem Mann tief in die Augen. "Al ist nicht gerade sehr romantisch", sagte sie amüsiert. Josh zog sie an sich. "Stell dir vor, sie hat mir einen unsittlichen Antrag gemacht, kurz bevor du hereingekommen bist." "Ja?" Wendy zog gespielt pikiert die Augenbrauen hoch. "Und was hast du getan?" "Ich habe ihr gesagt, ich sei müde." Sie errötete. Josh hätte wetten mögen, dass sie an ihr heißes Liebesspiel dachte. "So, du bist also müde." Sie nahm seine Hand und zog ihn mit zum Küchentisch, wo sie ihm einen am Fenster stehenden Stuhl zurechtrückte. "Dann setz dich lieber. Ich kümmere mich um die Rühreier." "Ach, das schaffe ich schon noch." "Keine Widerrede. Zuerst bekommst du einen Kaffee."
Josh gehorchte und sah zu, wie sie Kaffee einschenkte. Sie servierte
ihn und küsste Josh zärtlich auf die Wange, bevor sie anfing, die Eier
aufzuschlagen. Schon bald duftete es in der Küche nach Kaffee,
gebratenem Speck und Rühreiern. Die Sonne schien in die Küche, und
es herrschte eine wunderbar gemütliche Atmosphäre.
Und es machte Josh Spaß, Wendy zuzusehen. Diese Erkenntnis
überraschte ihn. Er hatte nicht gewusst, wie er sich am Morgen nach
der Hochzeitsnacht fühlen würde. Aber dies alles übertraf seine
kühnsten Erwartungen.
Er ließ den Blick über Wendy gleiten. Das beigefarbene Polohemd
war ihr von einer Schulter gerutscht, und er konnte kaum dem Impuls
widerstehen aufzuspringen und Wendys samtweiche Schulter zu
küssen. Irgendwie habe ich das Gefühl, nach Hause gekommen zu
sein, überlegte er nachdenklich.
Wendy drehte sich um und fragte lächelnd: "Toast?"
Er hob ein Glas Orangensaft hoch. "Auf dich."
Sie lachte amüsiert und machte einen Knicks. "Danke, sehr freundlich,
Sir. Aber das meinte ich gar nicht. Möchtest du Toast zu den Eiern
essen?"
"Wenn du auch welchen nimmst."
"Okay." Sie steckte Brotscheiben in den Toaster.
Selbst das fand Josh erotisch. Ihm wurde wieder heiß.
Nach einem prüfenden Blick auf die Eier schaltete Wendy die
Herdplatte aus. "Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?"
"Nein, danke." Mit einer Kopfbewegung bat Josh sie zu sich.
"Und der Toast?"
"Der kann warten. Ich muss jetzt einen Kuss haben."
Sie errötete wieder. Auch das fand er unsagbar anziehend. Sie kam
langsam auf ihn zu und setzte sich auf seinen Schoß. "Du musst also
einen Kuss haben?"
Josh schloss die Augen und versuchte, sich zu beherrschen, doch ein
verlangendes Stöhnen verriet ihn. Als er die Augen wieder öffnete,
bemerkte er Wendys wissenden Blick. Unglaublich, wie schnell sie
lernte! "Und werden Sie sich mit einem Kuss begnügen, Mr. Raven?"
Er schluckte. Wie sollte er sich an seinen Vorsatz halten, ihr Zeit zu
geben, wenn sie ihn so ansah?
Wendy lächelte vielsagend. "Aha, ich wusste es doch! Sie wollen
mehr, Mr. Raven. Oder?" Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab,
sondern begann, ihn zu küssen. Zunächst sanft und zärtlich, dann immer leidenschaftlicher. Josh zog sie erregt an sich. Das Frühstück konnte warten. Ob sie jetzt bereit war für die nächste Lektion: "Sex auf dem Küchentisch?" Er wollte es gerade ausprobieren, als sie den Kuss beendete und von Joshs Schoß glitt. "Das hatte ich mir gedacht", sagte sie und ging gelassen zum Herd. Josh sah ihr sprachlos nach. Wie konnte sie so ruhig sein, wenn er das Gefühl hatte, sein ganzer Körper würde unter Strom stehen? Was hatte sie jetzt vor? "Wohin ..." Er räusperte sich. "Wo willst du jetzt hin?" fragte er, als sie sich vom Herd entfernte. Im nächsten Moment hatte sie den Kühlschrank geöffnet und holte etwas heraus. Triumphierend drehte sie sich zu Josh um. "Du möchtest doch sicher dies hier auf deinen Toast streichen." Sie stellte ein Glas auf den Küchentisch und lächelte verführerisch. Stachelbeermarmelade! Dieses raffinierte Biest wickelte ihn wirklich um den kleinen Finger! Josh schüttelte den Kopf. Er war sich nicht so sicher, wer hier eigentlich von wem lernte. Wendys Hinhaltetaktik war sehr gekonnt! Und er hatte das Nachsehen. Na warte, dachte er. Laut sagte er: "Ich möchte keine Stachelbeermarmelade." "Nein?" fragte Wendy amüsiert. "Was möchtest du dann?" Josh stützte die Ellbogen auf den Tisch und winkte Wendy zu sich. "Kommen Sie her, Mrs. Raven!" Sie sah ihn gespielt unschuldig an. "Aber die Rühreier sind fertig. Und der Toast auch." "Das Frühstück kann warten." "Aber Josh! Hattest du nicht gesagt, wir müssen etwas essen, um bei Kräften zu bleiben?" Sie verschränkte die Arme. "Und hast du nicht behauptet, müde zu sein?" Das Spiel wäre sehr amüsant gewesen, wenn er nicht so erregt gewesen wäre. "Legst du jedes Wort auf die Goldwaage?" fragte er und lehnte sich zurück;. "Komm her!" Sie lächelte und drehte sich um. Dabei wiegte sie sich aufreizend in den Hüften. "Ich hole den Toast." "Wenn du nicht sofort herkommst, passiert was ..." Wendy wandte sich schnell um. "Tatsächlich?" Ungerührt drehte sie ihm wieder den Rücken zu und nahm das geröstete Brot aus dem
Toaster. "Eins kannst du dir gleich merken, Joshua Raven: Ich lasse
mich nicht herumkommandieren." Sie zwinkerte ihm zu.
"O Wendy, wenn ich aufstehen könnte, würde ich ... ich würde..."
"Zu Boden gehen und dich vor Lust winden?" schlug sie frech vor.
"Genau. Aber ich finde das gar nicht komisch!" Josh unterdrückte ein
Lächeln. "Du weißt genau, was du mir antust, du kleines Biest."
Wendy schob sich eine Haarsträhne zurück und wurde ernst. "Dann
kannst du dir ja ungefähr vorstellen, was du vor Wochen mit mir
gemacht hast. Mit einem einzigen Lächeln."
Ihr Eingeständnis berührte ihn sehr. Auch er war nun ernst. Sie liebt
mich, dachte er verträumt. Sie liebt mich wirklich. An Liebe hatte er
während der aufregenden Hochzeitsnacht gar nicht gedacht. Sondern
nur daran, Freude zu bereiten und zu empfangen. Und nun nahm er
sich vor, nichts zu überstürzen. Er lächelte. "Vielleicht sollten wir
wirklich erst einmal frühstücken", sagte er und stand stöhnend auf.
"Ich serviere die Eier, du streichst Butter auf den Toast."
"Alles in Ordnung?" fragte sie besorgt und umarmte ihn, als er an ihr
vorbeigehen wollte.
Er küsste sie flüchtig aufs Haar. "Klar. Kein Problem."
"Habe ich etwas falsch gemacht?"
Josh lachte amüsiert. "Nein, Wendy. Mach dir keine Sorgen." Er
schob sie von sich. "Wir sollten nur das Essen nicht kalt werden
lassen."
"Ach, Al würde es sich schon schmecken lassen." Sie wirkte verwirrt
und enttäuscht.
"Al ist sowieso schon zu fett. Komm, lass uns frühstücken. Und
anschließend denken wir uns etwas anderes aus." Er lächelte ihr
aufmunternd zu.
"Okay, aber du hast Schuld, wenn wir Magenkrämpfe bekommen."
Josh musste laut lachen. "Keine Sorge, Liebling. Ich hatte nicht vor,
dich im See zu lieben. Untergehen werden wir also nicht."
"Oh." Wendy stimmte in sein Lachen ein.
Kurz darauf saßen sie beim Frühstück. "Weißt du, was ich jetzt
möchte?" fragte Wendy, nachdem sie ihren letzten Bissen Toast
aufgegessen hatte.
Josh zuckte ahnungslos die Schultern, hoffte jedoch, sie würde sich
wieder rittlings auf seinen Schoß setzen, damit er ihr die Lektion "Sex
auf dem Küchentisch" erteilen konnte. "Was denn?"
Sie stand auf, und sein Herz klopfte sofort schneller. Ein gutes
Zeichen, dachte er.
"Ich möchte Judy anrufen, um ihr zu sagen; wie wunderbar ihre
Pfefferminzcreme wirkt."
Josh musterte sie verblüfft. "Das ist nicht dein Ernst. Du willst deine
Nachbarin anrufen und dich mit ihr über Pfefferminzcreme
unterhalten? In unseren Flitterwochen?"
Sie lächelte frech. "Warum nicht? Hast du etwas Dringendes vor?"
"Darauf kannst du dich verlassen. Wenn du so weitermachst, bringst
du mich noch um."
Wendy stand auf, umfasste sein Gesicht und küsste ihn zärtlich.
"Bitte, Josh. Nur ganz kurz. Und sie würde sich bestimmt sehr über
meinen Anruf freuen."
Als sie sich zurücklehnte, versuchte Josh, seine Gefühle zu
analysieren. Konnte es sein", dass er auf Wendys Nachbarin
eifersüchtig war? Das wäre ja zu albern! Er atmete tief durch und
sagte lächelnd: "Natürlich, Liebling. Gute Idee."
"Ich wusste, dass du es verstehen würdest. Ich werde sie von dir
grüßen." Sie führte ihre Fingerspitzen an die Lippen und legte sie ihm
anschließend auf den Mund. "Wo ist das Telefon, Schatz?"
"In meinem Aktenkoffer in der Eingangshalle."
"Sagtest du Aktenkoffer?" Wendy musterte ihn überrascht. "Willst du
in unseren Flitterwochen etwa arbeiten?"
Josh senkte schuldbewusst den Kopf. Wie sollte er ihr erklären, dass
die Flitterwochen für ihn ein Geschäft waren? Er hatte ja nicht ahnen
können, dass es ihm so große Freude bereiten würde, mit Wendy
zusammen zu sein. Er ließ sich nichts anmerken und fragte gespielt
ironisch: "Und wer will telefonieren?"
Sie lachte und warf ihm eine Kusshand zu. "Iss dein Frühstück auf!
Ich bin gleich wieder da."
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie streng an. "Du
hast genau zwei Minuten."
"Mir genügen eineinhalb." Sie wandte sich um und sah ihn kurz über
die Schulter hinweg an. "Rat mal, was mir gerade eingefallen ist."
Er lächelte amüsiert. "Dass du Judys Telefonnummer vergessen hast."
Wendy lachte. "Nein, du Dummkopf. Dass ich dich liebe."
Im nächsten Moment war sie verschwunden. Josh blickte ihr nach. Dann schüttelte er den Kopf. "Ich habe wieder einmal danebengetippt", sagte er zu Al. "Sie ist wirklich süß." Die Krähe schlug mit den Flügeln. "Komm mit ins Heu", krächzte sie und trippelte auf dem Stuhl neben Josh hin und her. Erst nach links, dann nach rechts. "Küss mich!" Josh widmete sich wieder seinem Frühstück. "Keine Lust, Alberta. Ich bin viel zu sehr vernarrt in dein Frauchen." Er sah zu, wie der Vogel einen weiteren Tanz auf dem Stuhl aufführte und einladend mit den Schwanzfedern wackelte. "Du bist wirklich ein schlimmes Mädchen, Alberta." "Schlimm", krächzte sie. "Ganz schlimm." Dann wackelte sie wieder mit den Schwanzfedern. Josh fiel fast vom Stuhl vor Lachen. Flitterwochen machten wirklich Spaß. Sogar wenn eine verrückte Krähe dabei war. Er hatte das Gefühl, die kommenden beiden Wochen würden ihm sehr viel bringen - nicht nur geschäftlich. Voller Vorfreude lächelte er vor sich hin.
Im nächsten Moment erschrak er. Er hörte ein lautes Krachen, und
etwas Warmes und Feuchtes lief ihm über die nackte Brust.
Rührei! Er war über und über mit Rührei bedeckt! Sein
Frühstücksteller war zerbrochen, und auf den Scherben lag sein mit Ei
beschmiertes Handy.
"Was, um alles in der Welt ...?" Entsetzt sah er sich um und entdeckte
Wendy, die an der Tür zur Speisekammer stand und ihn zornig
anfunkelte.
"Du gemeiner Mistkerl!" schrie sie außer sich vor Wut.
7. KAPITEL
Josh war wie vom Donner gerührt. Was hatte Wendy denn plötzlich? So wütend hatte er sie noch nie erlebt. Sie sah aus, als hätte sie Lust; ihn umzubringen. In der Hand hielt sie ein Blatt Papier. "Wendy! Liebling! Was ist denn los?" fragte er vorsichtig. Sie schien noch wütender zu werden. "Untersteh dich, mich Liebling zu nennen!" schrie sie. »Du gemeiner Kerl! Du fieser Lügner!" Zornig drückte sie ihm das Blatt an die Brust, wo es am Rührei kleben blieb. "Ich will dich nie wieder sehen. Niemals!" Sie schluchzte unterdrückt und fuhr herum. Josh wollte aufspringen und ihr folgen, überlegte es sich jedoch anders. Das an seiner Brust klebende Blatt Papier würde ihm wahrscheinlich Aufschluss darüber geben, worüber Wendy sich so aufregte. Er griff danach, drehte es um und entdeckte Gowers Briefkopf. Das war ja merkwürdig. Diesen Brief sah er zum ersten Mal. Gower musste ihn nach der Trauung unbemerkt in seinen Aktenkoffer gelegt haben. Aber warum? Er überflog das Schreiben. Josh, mein lieber Junge! Du hast Dich an unsere Abmachung gehalten und Wendy geheiratet. Jetzt werde ich meine Zusage erfüllen und Dir das Aktienpaket überschreiben. Es gehört Dir, wenn Du aus den Flitterwochen zurückkommst. Herzlichen Glückwunsch! Ich muss Dir ja sicher nicht sagen, dass Du ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht hast. Ein ausgezeichnetes Geschäft! Heftiger Zorn erfasste Josh. Wie hatte Gower ihm so etwas antun können? Er selbst hatte ihn, Josh, doch beschworen, Wendy niemals auch nur ein Sterbenswörtchen von dieser Vereinbarung zu verraten! Josh atmete tief durch. "Das wirst du mir büßen, Gower", stieß er zornig hervor. Im nächsten Moment rief er sich ins Gedächtnis, wie verletzt Wendy ihn angesehen hatte. Die Wut war nur oberflächlich.
Tief in ihrem Innern musste etwas zerbrochen sein. Was soll ich nur tun? überlegte er verzweifelt. Im nächsten Moment hörte er ein lautes Krachen. Erschrocken sprang er auf und lief aus der Küche. Hoffentlich hatte Wendy sich nichts angetan! Am Fuß der Treppe wich er zurück, weil Wendys Koffer heruntergepoltert kam. Er sprang darüber hinweg und lief die Treppe hoch. "Wendy? Ich kann dir alles erklären." Sie musste sich in Sekundenschnelle angezogen haben, denn sie trug Jeans, ein rosa T-Shirt und Sandaletten. Ihre Haare hatte sie allerdings noch nicht gekämmt. Sie sah sehr wütend aus. "Was gibt es da zu erklären?" schrie sie aufgebracht. "Du hast ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht." Josh zuckte zusammen. "Hör mir doch mal zu", bat er. "Bitte! Du solltest niemals erfahren, dass ..." "Komm ja nicht näher, du ... du ..." "Ich kann ja verstehen, dass du schlecht von mir denkst." Am liebsten hätte er sie tröstend an sich gezogen. "Bitte entschuldige. Das, was passiert ist, tut mir sehr Leid, Wendy." Wütend und verletzt zugleich musterte sie ihn. "Fass mich nicht an!" Sie lief die Treppe hinunter. "Ich verlasse dich." "Wie?" fragte er besorgt. "Wir sind hier völlig abgeschnitten von der Außenwelt." Sie blieb stehen und strich sich mit dem Handrücken übers Gesicht, um die Tränen zu trocknen. "Ich bestelle telefonisch ein Boot, das mich abholt." Josh war ihr gefolgt und schloss die Augen, weil er den Anblick nicht ertragen konnte. Wendy sah unglaublich verloren und verletzt aus. Er spürte die ersten Anzeichen bohrender Kopfschmerzen und massierte sich die Schläfen. Langsam öffnete er wieder die Augen und wagte, Wendy anzusehen. "Wir haben kein Telefon mehr", sagte er. "Kein Handy der Welt übersteht so etwas unbeschadet." Wendy senkte schuldbewusst den Blick, hatte sich jedoch gleich wieder gefangen. Energisch hob sie das Kinn. "Ich komme hier heraus. Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Raven. Machen Sie ruhig weiterhin schmutzige Geschäfte mit meinem Vater. Aber mich lassen Sie in Zukunft bitte aus dem Spiel." Sie wirbelte herum, griff nach ihrem Koffer und öffnete die Haustür. "Stecken Sie Alberta in
den Käfig, und bringen Sie sie mir zum Anleger." Sie knallte die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Josh schwankte und hielt sich am Treppengeländer fest. Was soll ich nur tun? dachte er verzweifelt. Wie sollte er ihr die ganze Geschichte erklären? Wendy würde ihm ja doch kein Wort glauben. Sie fühlte sich verraten und verkauft von den beiden Menschen, die ihr am nächsten standen: von ihrem Vater und von ihrem Ehemann. Plötzlich wurde er unruhig. Er hatte Angst, Wendy könnte sich etwas antun. Schnell lief er aus dem Haus und sah sich um. Rechts vom Haus fehlte das Kanu. In einiger Entfernung erblickte er Wendy, die das Boot zum Sandstrand zog. "Bleib stehen, Wendy!" Sie drehte sich kurz um, sah ihn wütend an und machte sich daran, das Boot zu Wasser zu lassen. Josh rannte den Weg zu ihr hinunter. "Warte, Wendy! Das dämliche Ding wird sinken." Sie ignorierte ihn einfach, setzte sich ins Boot und griff nach dem Paddel. "Wendy! Das Kanu hat ein Leck", rief Josh außer sich vor Sorge. Das Boot schaukelte, doch Wendy hatte es bald wieder im Griff und paddelte davon, so schnell sie konnte. Sie hatte noch nie in einem Kanu gesessen, wusste aber aus dem Indianerfilm "Der letzte Mohikaner", wie man paddelte. Wendy kniete sich ins Boot und sah zu, dass sie vorwärts kam. Sie hatte zwar keine Ahnung, welche Richtung sie einschlagen sollte, doch früher oder später würde sie wohl ein anderes Haus am Ufer entdecken oder von einem anderen Boot gesichtet werden. Natürlich hörte sie Joshs Rufe, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum. Was fiel ihm eigentlich ein zu behaupten, das Kanu hätte ein Leck? Dieser Lügner! Man konnte ihm wirklich kein Wort glauben. Verzweifelt paddelte sie weiter. Plötzlich bemerkte sie, dass ihre Knie nass waren. Und als sie verwundert nach unten sah, wusste sie auch, warum. Das Boot war tatsächlich undicht! Sie blickte sich um. Verflixt! Weit war sie auch noch nicht gekommen. Sie befand sich noch immer in Ufernähe, trotz aller Mühe. Außerdem entdeckte sie ihren Koffer. Den hatte sie in der Hektik völlig vergessen.
Josh war inzwischen auf den Steg gelaufen, der nur zwei Kanulängen von ihr entfernt lag. Am liebsten hätte sie ihn mit dem Paddel ins Wasser gestoßen, diesen gemeinen Kerl! "Wendy! Kehr sofort um, solange es noch geht." Sie musterte ihn wütend, und dann paddelte sie erst recht los. Das kleine Kanu schwankte bedenklich. Das Wasser stand jetzt schon fast zehn Zentimeter hoch. Wendy überlegte hin und her. Es hatte wenig Sinn, auf den See hinauszupaddeln, wenn das Boot früher oder später sinken würde. "Wendy!" schrie Josh wieder. "Spring raus, und schwimm her." Als sie sich erneut umsah, erblickte sie einen Rettungsring in seiner Hand. Woher hatte er den denn so schnell gezaubert? Wendy unterdrückte ein verzweifeltes Schluchzen. Wieso musste die Situation so verfahren sein? In der vergangenen Nacht hatte Josh sie so hingebungsvoll geliebt. Es war schöner gewesen, als sie es sich je erträumt hatte. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. Warum musste Josh sich nun als hinterhältiger Mistkerl entpuppen? Noch vor einer Stunde war sie die glücklichste Frau der Welt gewesen. Und nun? "Wendy!" Josh schwenkte den Rettungsring. "Spring ins Wasser. Ich verspreche, dich herauszufischen." Das Kanu bewegte sich keinen Zentimeter nach vorn und war inzwischen halb untergegangen. Wendy sah ein, dass sie keine Wahl hatte, als das Boot zu verlassen. Aber auf Josh wollte sie jedenfalls nicht zu schwimmen. Sie war eine gute Schwimmerin und würde den Strand schon erreichen. Vorsichtig richtete sie sich auf und sprang kopfüber ins Wasser. Es war eiskalt! Damit hatte sie nicht gerechnet. Erschrocken schnappte sie nach Luft und ließ sich an die Wasseroberfläche treiben, wo die Temperatur nicht ganz so eisig war. Bei den ersten kräftigen Schwimmzügen verlor sie auch noch ihre Sandaletten. Nun, den Verlust konnte sie verschmerzen. Energisch schwamm Wendy aufs Ufer zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Josh, der am Strand entlanglief und auf sie wartete. Offensichtlich gab es kein Entkommen, das musste sie nun einsehen. Kurz darauf spürte sie Boden unter den Füßen und richtete sich auf. Zitternd vor Kälte, aber hoch erhobenen Hauptes stieg sie aus dem Wasser.
Als Josh ihr entgegenwatete, um ihr an Land zu helfen, holte sie schwungvoll aus, um ihm einen gezielten Kinnhaken zu verpassen. Leider verfehlte sie ihr Ziel, geriet ins Taumeln und fiel im nächsten Moment wieder ins Wasser, dass es nur so spritzte. Keuchend rappelte sie sich hoch. Das Wasser lief ihr in die Augen. Das nasse Haar klebte ihr im Gesicht. Sie hörte nur, wie Josh unterdrückt fluchte, dann fand sie sich in seinen Armen wieder. "Lass mich sofort runter!" schrie sie und fing an, wie wild um sich zu schlagen. "Ich hasse dich!" "Hör auf damit, Wendy! Wenn du nicht sofort die nassen Sachen ausziehst, holst du dir noch eine Lungenentzündung." "Genau das will ich auch!" Sie zitterte vor Kälte, dachte aber nicht daran, Josh nachzugeben. "So ein Unsinn", sagte er ruhiger, "Du brauchst deine Kraft, um mich umzubringen." Wendy musterte ihn feindselig. "Du hast es erfasst." "Ich kann es dir nicht verdenken." Das war zu viel für sie. Sie gab jeden Widerstand auf und brach in Tränen aus. Schluchzend schmiegte sie sich an seine Brust und ließ sich ins Haus tragen. Sie war völlig verzweifelt und schrecklich verletzt. Und doch wusste sie im tiefsten Innern, dass sie Josh noch immer liebte. Und das war vielleicht das Schlimmste, nach dem, was er ihr angetan hatte. Wie habe ich mich nur so in ihm täuschen können? überlegte sie. Wie hatte er es geschafft, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebte, während er überhaupt nichts für sie empfand? Er hatte, seine Ausstrahlung eingesetzt, um seine Pläne zu verwirklichen. Und sie, Wendy, war ihm arglos in die Falle gegangen. Wahrscheinlich amüsierte er sich prächtig über seine naive Frau. Und was hatte ihren Vater bewogen, sie so gemein zu hintergehen? Er trug die Hauptschuld an ihrer Misere, aber Josh hatte willig mitgespielt, weil er unbedingt die Firma haben wollte, koste es, was es wolle! Der wird sich noch wundern, schwor sie sich zornig. Es kam überhaupt nicht in Frage, dass sie sich das gefallen ließ, so wie damals ihre Mutter, mit der ihr Vater ein ähnlich hinterhältiges Spiel getrieben hatte.
Wendy rammte Josh wütend den Ellbogen in die Brust und hörte
zufrieden, wie er aufstöhnte. Das ist nur der Anfang, sagte sie sich.
"Lass mich sofort runter, du Ungeheuer", verlangte sie.
Zu ihrer großen Überraschung gehorchte er sofort. Noch verwunderter
stellte sie fest, dass sie sich im Schlafzimmer befanden. "Zieh dich
aus, Wendy."
Sie musterte ihn wütend, "Raus! Aber ein bisschen plötzlich!" Sie fror
so sehr, dass sie kaum sprechen konnte. "Okay, dann muss ich eben
nachhelfen", sagte er und begann, ihr das T-Shirt auszuziehen.
Wendy ließ es fassungslos geschehen und hielt sich schützend die
Hände vor die Brüste, als das nasse Kleidungsstück am Boden lag.
"Was fällt dir eigentlich ein?" fragte sie, als sie die Sprache wieder
gefunden hatte.
"Jetzt die Jeans."
Josh öffnete den Knöpf und wollte den Reißverschluss hinunterziehen,
doch Wendy schlug seine Hand weg. "Du hast kein Recht, mich
anzufassen!"
"O doch, mein Schatz. Ich bin dein Mann. Hast du das vergessen?
Nun stell dich nicht so an, ich habe dich schließlich schon nackt
gesehen." Er schob ihre Hand weg, zog den Reißverschluss hinunter
und zerrte an den Jeans. "So, und nun streifst du sie über die Füße;"
Im nächsten Moment fand Wendy sich nackt in der leeren Badewanne
wieder. Josh hatte die Hähne aufgedreht und ließ warmes Wasser
einlaufen. "Gleich wird dir wärmer. Ich mache inzwischen Feuer im
Kamin."
Wendy wusste, dass sie sich fürs Erste geschlagen geben musste. Mit
finsterer Miene sah sie Josh an und sagte: "Okay. Ich nehme ein Bad.
Aber jetzt verschwinde endlich."
Ihre plötzliche Nachgiebigkeit schien ihn misstrauisch zu machen.
"Bilde dir ja nicht ein, du könntest aus dem Fenster springen", warnte
er. "Das ist viel zu hoch."
Wendy biss die Zähne zusammen und senkte den Blick.
"Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst!"
Sie schloss die Augen und nickte. Momentan war sie zu erschöpft, um
auf Rache zu sinnen, aber sobald sie sich erholt hatte, würde ihr schon
etwas einfallen, wie sie es Joshua Raven heimzahlen konnte.
Josh machte Feuer im Kamin und hängte Wendys Sachen zum
Trocknen auf. Er kam sich wie ein Schuft vor. Als er ihr rosa T-Shirt
in den Händen hielt, fiel ihm ein, wie erregend ihr Anblick gewesen war, als sie aus dem Wasser gestiegen war. Das nasse Hemd hatte ihren Körper wie eine zweite Haut umspannt. Er war so hingerissen gewesen, dass er wahrscheinlich nicht einmal die Geistesgegenwart gehabt hätte, Wendys Kinnhaken auszuweichen. Gut, dass sie ihr Ziel verfehlt hatte. "Nun reiß dich aber zusammen, Raven", ermahnte er sich und fuhr sich ärgerlich durchs Haar. Gleichzeitig beschloss er, alle scharfen Gegenstände zu verstecken, eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wer konnte schon ahnen, was Wendy sich ausdenken würde, um sich an ihm zu rächen? Kurz darauf hörte er, wie die Badezimmertür geöffnet wurde, und drehte sich um. Wendy erwiderte seinen Blick. "Ich ... ich brauche was zum Anziehen", sagte sie leise und sah zu Boden. Josh ließ den Blick über sie gleiten. Sie trug seinen Bademantel, der im Badezimmer gehangen hatte. Und ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Sie wirkte so zart, so zerbrechlich und verloren. Er verachtete sich selbst, ihr so viel Leid zugefügt zu haben. Könnte er es doch nur ungeschehen machen! Er nickte und ging hinunter zum Anleger, um ihren Koffer zu holen. Als er kurz darauf wiederkam, hatte er einen Entschluss gefasst. Er wollte ihr die ganze Geschichte erzählen. So schlimm war sie nun auch wieder nicht. Immerhin hatte er ehrliche Absichten mit Wendy gehabt... Sie saß in einem Schaukelstuhl am Kamin, blickte in die züngelnden Flammen und wirkte verloren. "Hör mal, Wendy", begann er. "Menschen heiraten aus den verschiedensten Gründen. Nicht nur, weil sie ineinander verliebt sind. Und viele Paare bleiben verheiratet, selbst wenn sie nicht aus Liebe geheiratet haben. Bei meinen Eltern war das auch so. Und sie waren ziemlich glücklich miteinander." Wendy sah zögernd auf, senkte aber gleich wieder den Blick, ohne etwas zu erwidern. Josh fuhr trotzdem fort. "Ich möchte, dass wir eine harmonische Ehe führen. Und ich werde dich immer gut behandeln." Er machte eine beschwörende Geste, obwohl Wendy ihn gar nicht ansah. "Nachdem wir uns kennen gelernt hatten, bin ich mit keiner anderen Frau mehr
ausgegangen. Das sollte doch beweisen, dass ich es ehrlich mit dir
meine,"
Sie blickte schweigend ins Feuer. Schließlich sagte sie ironisch: "Sehr
edel von dir." Eine Träne kullerte über ihre Wange. "Für ein
Multimillionen-Dollar-Geschäft kann man wohl schon mal auf die
eine oder andere Affäre verzichten. Ich verachte dich, Joshua Raven."
Ihr Tonfall traf ihn zutiefst. Er schluckte und setzte den Koffer ab.
Dann ging er zu Wendy, kniete sich vor ihr hin und ergriff ihre Hand.
"Ich habe dich wirklich sehr gern, Wendy. Das musst du wissen."
Sie riss sich los und musterte ihn verächtlich. "Spar dir deine Lügen!"
Sie sprang auf und schob den Schaukelstuhl zwischen sich und Josh.
"Ich habe beschlossen, die nächsten beiden Wochen zu zelten und
Vögel zu beobachten."
"Du willst was?" Ungläubig sah er sie ah.
"Im Schrank ist ein Schlafsack, und ein Fernglas habe ich auch
gefunden. Ich will Vögel beobachten."
Josh sah ein, dass er ihr das in ihrer gegenwärtigen Verfassung kaum
würde ausreden können. Also versuchte er es mit einer anderen
Taktik. "Hast du überhaupt schon mal gezeltet?" fragte er sie ruhig.
"Das geht dich nichts an."
"Aber Wendy..."
"Verschwinde! Ich möchte mich anziehen. Wenn ich die Insel schon
nicht verlassen kann, dann gehe ich eben landeinwärts. Jedenfalls
denke ich nicht daran, die nächsten zwei Wochen unter einem Dach
mit dir zu verbringen."
"Da draußen gibt es aber Bären. Und Elche. Die sind auch nicht ganz
ungefährlich." Er fuhr fort, als er bemerkte, wie unbehaglich ihr
zumute war. "Und wenn du dich verirrst? Du als Stadtpflanze wüsstest
doch nicht einmal, wovon du dich ernähren könntest."
Wendy schluckte und wollte etwas sagen, doch offensichtlich fiel ihr
nichts ein.
Josh, der seine Chance witterte, setzte noch eins drauf. "Von den
Giftschlangen, die es hier in der Gegend gibt, will ich gar nicht
reden."
"Schlangen?" Wendy zog den Bademantel fester um sich. "Ich wette,
hier gibt es nur eine Schlange. Und die steht gerade vor mir."
Er zuckte zusammen. "Es war wirklich nie meine Absicht, dir weh zu tun, Wendy. Ehrlich nicht." Ihre Lippen bebten, in den Augen schimmerten Tränen. "Ich gehe. Lieber lasse ich mich von einem Bären auffressen, als mit dir unter einem Dach zu wohnen." Josh schüttelte frustriert den Kopf. Am liebsten hätte er den Schaukelstuhl an die Wand geworfen und zu Kleinholz verarbeitet. Er konnte kaum an sich halten vor Zorn. "Du bist meine Frau, und du bleibst, wo du bist." Wendy hob entschlossen das Kinn und funkelte ihn nur herausfordernd an.
8. KAPITEL
Nach schier endlosen Diskussionen rang Josh Wendy einen Kompromiss ab. Sie erklärte sich tatsächlich damit einverstanden, wenigstens in der Nähe des Hauses zu zelten, und sie ließ sich sogar von Josh hinführen. Es war später Vormittag, und die Luft duftete nach Kiefern. Ganz in der Nähe ihres Weges befand sich ein sprudelnder Wasserfall, der sich über Granitfelsen ergoss. Schon von weitem sah man das kristallklare Wasser im grauen Felsbecken. Josh atmete das frische, würzige Aroma tief ein. Er war schon wieder etwas optimistischer. In dieser wunderschönen, friedlichen Landschaft musste Wendy sich doch wieder beruhigen, oder? Er drehte sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgen konnte. Als ihre Blicke sich trafen, sah Wendy schnell in eine andere Richtung. Sie trug den Schlafsack, den sie gefunden hatte, unterm Arm und das Fernglas um den Hals. Ob sie schon einen einzigen Vogel beobachtet hatte? Josh bezweifelte es. Wahrscheinlich war Alberta der einzige Vogel, mit dem sie sich je beschäftigt hatte. Die weiße Krähe saß auf Wendys Kopf. Es schien ihr gar nicht zu gefallen, durch die Wildnis getragen zu werden. Doch Wendy hatte darauf bestanden, Alberta mitzunehmen. Offensichtlich vertraute sie ihm nicht einmal ihren Vogel an. Wovor hatte sie Angst? Dass er Alberta zum Mittagessen verspeisen würde? Der Weg, der zu dem Platz führte, den Josh für Wendys Campingabenteuer ausgesucht hatte, war mit Moos bewachsen, was ihre Schritte leicht abfederte. Als sie angekommen waren, ließ Josh das mitgebrachte Feuerholz und eine Schaufel zu Boden gleiten und stellte den großen Proviantkorb, den er zuvor gepackt hatte, auf einen Felsen. Dann richtete er sich auf und sah sich auf der Lichtung um. Links durch die Bäume schimmerte ein Felsvorsprung, der hoch über dem See lag. Von der Seite drohte Wendy jedenfalls keine Gefahr. Die Lichtung war ungefähr so groß wie ein Schlafzimmer und von Kiefern, Ahorn und Birken umgeben.
Josh wandte sich Wendy zu und zeigte auf die Mitte des Platzes. "Hier werde ich ein Lagerfeuer für dich anzünden." Sie ließ den Schlafsack zu Boden gleiten. "Mach dir keine Mühe, das kann ich auch selbst tun." Sie schien nach dem langen Aufstieg etwas außer Atem zu sein. "Das glaube ich gern", sagte er mürrisch und griff nach der Schaufel, um Laub und Kiefernnadeln weg zu schieben. "Besonders toll finde ich diese Idee übrigens immer noch nicht." Er beobachtete, wie sie den Schlafsack auseinander rollte. "Deine Meinung interessiert mich nicht." Sie musterte ihn vorwurfsvoll, als wollte sie sagen, er sei ohnedies an allem schuld. Dann setzte sie sich auf den Schlafsack. Alberta schlug mit den Flügeln und versuchte, sich auf Wendys Kopf zu halten. "Geh zurück zum Haus. Ich kann selbst ein Lagerfeuer machen." Josh blieb stur und schichtete Feuerholz auf. "Ich zünde es an, und du sorgst dafür, dass es nicht ausgeht." Als er damit fertig war, drehte er sich um und sah Wendy an, die verloren auf dem Schlafsack saß. "Hör mal, das ist doch alles völlig verrückt. Du hast nicht einmal ein Zelt." Sie musterte ihn wütend und verletzt zugleich. "Ich werde es schon überleben", sagte sie heftig. Warum muss sie nur so eigensinnig sein? überlegte Josh verzweifelt. Ist ihr denn schon alles gleichgültig? Warum fordert sie ihr Schicksal hier in der Wildnis heraus? Er schüttelte mutlos den Kopf, dann versuchte er, noch einmal an ihre Vernunft zu appellieren. "Lass mich wenigstens Alberta mit zurücknehmen. Sie ist völlig verängstigt." Wendy zuckte vor Schmerz zusammen. Offensichtlich hatte Al sich zu fest in ihr Haar gekrallt. "Au!" rief sie erschrocken und versuchte, die Krallen zu lösen. "Du tust mir weh, Al." "Versteck mich", krächzte Al. "Schnell weg. Die Bullen." "Besonders begeistert klingt sie jedenfalls nicht", meinte Josh und streckte eine Hand aus. "Komm zu mir, Alberta, Schätzchen. Wir gehen zurück und essen Biskuitkuchen." Al schlug mit den Flügeln und krächzte: "Küss mich, hübscher Junge." Zwei Sekunden später landete sie auf Joshs Kopf. "Schnell weg!" Besorgt sah Josh seine Frau an. Sie hatte die Arme um die Knie gelegt und starrte vor sich hin. "Es ist besser, wenn Al im Haus bleibt.
Insgeheim weißt du das auch", sagte er und fügte müde hinzu: "Und für dich wäre es auch besser, aber das willst du ja nicht hören." Wendy sah auf und musterte ihn verächtlich. "Okay, dann nimm meine Krähe mit. Aber verschwinde jetzt endlich." Der verzweifelte Unterton in ihrer Stimme war Josh nicht entgangen. Offensichtlich hatte Wendy das Gefühl, von aller Welt verraten und verkauft zu sein. Sogar ihr Haustier hatte sich gegen sie entschieden. Sie wandte sich ab, nahm das Fernglas und sah hindurch. Josh folgte ihrer Blickrichtung, konnte jedoch nichts Interessantes entdecken. Wahrscheinlich sah sie nur durchs Fernglas, um ihre Tränen zu verbergen. Außerdem wollte sie ihm wohl zu verstehen geben, dass sie nun endgültig ihre Ruhe haben wollte. "Okay, okay", sagte Josh ungehalten. "Ich habe schon verstanden." Er wandte sich um, blickte aber noch einmal über die Schulter hinweg zurück. Eine Träne rollte Wendy über die Wange. Er fluchte unterdrückt. Warum muss diese Frau nur so stur sein? fragte er sich. "Wenn du mich brauchst, Wendy, werde ich ... Ruf einfach laut." Sie reagierte nicht einmal. Josh sah eine weitere Träne über ihre Wange kullern und musste sich sehr zusammenreißen, Wendy nicht einfach hochzuheben und ins Haus zurückzutragen. Doch er wusste, dass es keine Lösung wäre. Daher machte er sich schweren Herzens allein mit Al auf den Rückweg. Allerdings kehrte er zurück, sobald er den Vogel im Haus abgesetzt hatte. Vorsichtig schlich er im Schutz der Bäume näher, bis er Wendy sehen konnte. Sie saß auf dem Schlafsack und weinte bitterlich. Es brach ihm fast das Herz. Doch er konnte absolut nichts tun. Nur eins: Er würde sich in der Nähe im Dickicht verstecken und sie im Auge behalten. Sollte sich irgendein wildes Tier nähern, könnte er sie so wenigstens beschützen. Plötzlich hörte er, wie rechts von ihm ein Ast brach. Sofort hob er sein Gewehr und zielte in die Richtung. Dann atmete er erleichtert auf. Es war kein Bär, sondern ein Reh, das mit seinem Kitz zum Bach gekommen war, um zu trinken. Mutter- und Jungtier boten ein idyllisches Bild. Josh ließ sich an einen Baumstamm zurücksinken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. "Hoffentlich muss ich nicht die kommenden vierzehn Tage hier verbringen", flüsterte er verzweifelt.
Inzwischen lag die Hochzeitsfeier vier Tage zurück. Oder sogar fünf? Josh wusste nicht, ob es noch Mittwoch oder bereits Donnerstag war. Jedenfalls saß er seit Tagen auf einer Astgabel und hatte das Gefühl, schon selbst ein Vogel zu sein. Ich muss aufpassen, dass ich im Winter nicht nach Süden ziehe, sagte er sich und lachte leise vor sich hin. Mittlerweile war er so erschöpft, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Er brauchte dringend Schlaf. In diesem Zustand würde er Wendy kaum beschützen können. Abgesehen von ein paar kurzen Nickerchen im Haus, wo er zwischendurch gegessen und gebadet hatte, hatte er während, der vergangenen Nächte kein Auge zugetan. Josh stöhnte und ließ sich vorsichtig vom Baum gleiten. Es herrschte stockdunkle Nacht. Er schlich zu Wendy auf die Lichtung, wo sie in ihrem Schlafsack lag und offensichtlich fest schlief. Das Feuer war fast ausgegangen. Er entfachte es wieder und betrachtete ihr Gesicht im Feuerschein. Selbst im Schlaf sah sie traurig aus. Es brach ihm fast das Herz. "O Wendy, was soll ich nur tun?" Er stöhnte leise Und plötzlich war ihm alles egal. Er war viel zu erschöpft, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Und er sehnte sich nach etwas menschlicher Wärme. Er wollte Wendy beschützend in den Arm nehmen und ihren Körper spüren. Vielleicht würde sie sich wehren, vielleicht würde sie um sich schlagen und treten und ihm die Knochen brechen. Doch das war ihm gleichgültig. Er war nervlich am Ende, was sollte ihm noch passieren? Mit zwei Schritten war er bei ihr und streckte sich hinter ihr aus, Schützend legte er einen Arm um sie und flüsterte: "Gute Nacht, mein kleiner Hitzkopf." Er lächelte, als er ihren Duft wahrnahm, der sofort schöne Erinnerungen in ihm hervorrief. Dann war er eingeschlafen. Erst im Morgengrauen wachte er wieder auf. Vorsichtig erhob er sich, um Wendy nicht zu wecken, und verschwand wieder im Dickicht. Seine Stimmung hatte sich merklich gebessert. Und er wusste auch, warum: Weil er Wendys Nähe gespürt hatte. Wendy streckte sich und rieb sich die Augen. Sie hatte gar keine Lust aufzuwachen, denn sie hatte gerade geträumt, in Joshs Armen zu liegen. Er hatte sie ganz eng an sich gezogen, und sie hatte sich wunderbar sicher und geborgen gefühlt. Dieses Gefühl hatte sie nur einmal erlebt, und zwar in ihrer Hochzeitsnacht. Aber die Erinnerung daran war so lebendig, dass es fast schien, als ob ...
Nun öffnete sie doch lieber schnell die Augen. Es hatte keinen Sinn, albernen Träumen nachzuhängen. Ein weiterer Tag voller Traurigkeit und Einsamkeit war angebrochen. Inzwischen hatte Wendy eingesehen, wie dumm es gewesen war, darauf zu bestehen, unter freiem Himmel zu campen. Sie hätte es Josh überlassen sollen, draußen zu bleiben. Wenigstens hätte sie dann ein Dach über dem Kopf gehabt. Wenn es auch Joshs Haus gewesen wäre. Sie schüttelte den Kopf. Was war nur mit ihr los? Sie wollte doch nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nein, sie würde nicht nachgeben. Einige Tage würde sie schon noch durchhalten. Und vielleicht legte ja unverhofft doch bald ein Boot an, auf dem sie in die Zivilisation zurückkehren konnte. Sie seufzte und schlüpfte aus dem Schlafsack. Ihr erster Blick fiel auf den Proviantkorb. Merkwürdig, der hatte gestern Abend, als sie sich zum Schlafen hingelegt hatte, ganz anders ausgesehen. Und auch das Feuer brannte noch. Sehr seltsam. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Versuchte Josh etwa, sich bei ihr einzuschmeicheln? Sie wusste, dass auch er unter der Situation litt. Aber ganz sicher nicht so sehr wie sie. Ihr hatte es das Herz gebrochen, als sie herausgefunden hatte, dass die große Liebe ihres Lebens sie in gemeiner Weise hintergangen hatte. Josh litt doch nur, weil er nicht wusste, wie er sie, Wendy, wieder für sich gewinnen konnte, damit er die Firma ihres Vaters nicht verlor, bevor er sie noch richtig besessen hatte. Mit Gefühlen hatte das wenig zu tun. Oder doch? Bei objektiver Betrachtung musste sie zugeben, dass Joshs Herz genauso sehr an dieser Fusion hing wie ihr Herz an ihm. Wendy schlug die Hände vors Gesicht und drängte die Tränen zurück. Sie war noch immer schrecklich verzweifelt. Aber irgendwie musste sie über diese verfahrene Geschichte hinwegkommen. Sei stark, beschwor sie sich. Joshua ist nur ein Mann, du wirst ihn schon vergessen. Sie war entschlossen, sich durch den Verrat ihres Vaters und seines neuen Schwiegersohns nicht unterkriegen zu lassen. Das wäre ja noch schöner. Wendy war eine Kämpfernatur, und sie würde es diesen Männern schon zeigen! Obwohl ihr schon vor Tagen der Appetit vergangen war, zwang sie sich, etwas zu essen. Sie brauchte Energie, wenn sie überleben wollte. Also zog sie den Proviantkorb zu sich heran. Sie fand eine
Thermoskanne Kaffee, Muffins und Orangen und schenkte sich zunächst einen Becher Kaffee ein. Das aromatische Getränk belebte sofort ihre Lebensgeister. Plötzlich war sie doch hungrig geworden und ließ sich ein KleieMuffin schmecken. Zu ihrem Glück fehlte ihr jetzt nur noch ein Mann, der sie liebte und ihr zärtlich zulächelte. Bei diesem Gedanken kamen ihr sofort wieder die Tränen, doch sie schluckte sie hinunter. Sie hatte in den vergangenen Tagen wirklich genug Tränen wegen dieses Verräters vergossen. Jetzt war Schluss! Wendy stand auf und beschloss, ihr Frühstück auf dem Felsvorsprung fortzusetzen. Von dort könnte sie sofort sehen, ob vielleicht doch ein Boot in die Bucht kommen würde. Wenigstens das Postboot musste sich doch blicken lassen. Oder gab es wirklich niemand, der ihr schrieb, während sie in den Flitterwochen war? Sie ließ den Blick über den silbern schimmernden See gleiten. Nachmittags nahm er eine blaugrüne Farbe an. Still und friedlich lag er da. Kein Lüftchen regte sich. Am anderen Ufer erstreckten sich dicht bewaldete Hügel, die in den verschiedensten Grüntönen schimmerten. Dieses Naturschutzgebiet war wirklich überwältigend schön. Sie hätte Stunden auf dem Felsvorsprung zubringen können, denn sie konnte sich einfach nicht satt sehen. Allerdings hätte alles noch viel schöner sein können, wenn sie es mit jemandem hätte teilen können. Josh ließ sich den ganzen Tag lang nicht blicken. Auch als Wendy sich im Haus aufhielt, um zu baden, sich umzuziehen und Al zu besuchen, blieb er wie vom Erdboden verschluckt. Wo kann er nur sein? überlegte sie. Im Haus duftete es nach ihm, und er fehlte ihr schrecklich. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihm nahe zu sein, in seinen Armen zu liegen, ihm übers seidige Haar zu streichen. Es war furchtbar. Sie liebte ihn noch immer, trotz seines Verrats. Wo ist er nur? Er kann mich doch hier nicht allein zurückgelassen haben! Schließlich wurde es Zeit, zu ihrem Lager zurückzukehren. Wendy kroch in den klammen Schlafsack. Da sie seelisch völlig erschöpft war, schlief sie sofort ein. Mitten in der Nacht hatte sie einen Traum. Sie fühlte sich warm und geborgen, das Feuer brannte knisternd, dass die Funken stoben, und es duftete verführerisch. Wunderbar! Das war unverkennbar Joshs After
Shave. Wendy lächelte verzückt und atmete tief durch. Dann rekelte
sie sich wohlig und schmiegte sich enger an den Mann in ihrem
Traum. Sie küsste ihn impulsiv, seufzte zufrieden, bevor sie ihm einen
Arm um die Taille legte und sich noch enger am ihn kuschelte.
Sie spürte, wie jemand sie auf die Schläfe küsste. Ach, Josh war so ein
zärtlicher, einfühlsamer Mann - im Traum.
Plötzlich horte sie ein Zischen. Was war das? Sie träumte doch gerade
so schön. Der Traum sollte weitergehen. Sie wollte keine Schlange in
ihrem Traum haben. Etwas Kaltes spritzte auf ihre Stirn, dann auf ihre
Wange.
"Wendy, Liebling. Es regnet."
Sie wollte nicht, dass es in ihrem Traum regnete. Keine Schlangen,
kein Regen, und damit basta! Sie wollte nur Josh, seine Küsse, sein ...
"Wendy, wach doch auf", flüsterte eine tiefe männliche Stimme. "Es
regnet."
Sosehr sie sich auch dagegen wehrte, aus diesem Traum zu erwachen,
es half alles nichts. Sie streckte sich und rieb sich die Augen. In
diesem Moment fiel ihr ein dicker, kalter Regentropfen auf die Hand.
"Lass uns ins Haus gehen", sagte jemand neben ihr.
Verwundert hielt sie in der Bewegung inne. Dann öffnete sie die
Augen und sah Josh vor sich. Josh? Ein lautes Zischen lenkte sie ab.
Als sie sich erschrocken umdrehte, wurde ihr klar, woher es kam.
Regentropfen fielen auf das Lagerfeuer und lösten das Zischen auf den
heißen Scheiten aus. Dichter Qualm brachte Wendy zum Husten. Es
regnete also tatsächlich. Und Josh? Von dem hatte sie doch nur
geträumt, oder?
Sie blieb reglos liegen. Dann war sie plötzlich hellwach und drehte
sich um.
Es war kein Traum gewesen. Josh war da. Er lag neben ihr und sah sie
so zärtlich an, dass sie sofort von heftigem Verlangen erfasst wurde.
Verzweifelt versuchte sie, es zu unterdrücken. "Was tust du hier?"
fragte sie leise.
"Ich schlafe."
"Wie bitte?" Sie richtete sich auf und rückte von ihm ab. "Was soll das
heißen - du schläfst?"
Josh stand auf und wollte sie hochziehen. "Komm, wir unterhalten uns
im Haus weiter. Es regnet."
Sie schob seine Hand weg und stand auf. "Ich weiß, dass es regnet.
Nun antworte mir endlich!"
Er löschte das Feuer, griff nach dem Schlafsack und sagte kurz
angebunden: "Du nimmst den Korb! Es soll die ganzen nächsten Tage
regnen. Komm mit mir ins Haus!" Er umfasste ihren Arm.
Wendy hob den Korb hoch und ließ sich widerstandslos mitziehen.
Sie wusste, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. Und insgeheim
freute sie sich darauf, wieder in seiner Nähe zu sein. Wahrscheinlich
war sie noch immer nicht ganz wach.
Doch das änderte sich, nachdem sie einige Minuten durch den Regen
gegangen waren. Die kalten Tropfen hätten eine ernüchternde
Wirkung auf sie.
9. KAPITEL
Josh erschrak, als Wendy sich so plötzlich losriss, dass sie fast den bemoosten Abhang hinuntergestürzt wäre. Sein Versuch, sie festzuhalten, wurde mit einer rüden Abfuhr quittiert. "Lass mich ja in Ruhe! "Wendy wich zurück. Sie war bis auf die Haut durchnässt, das Haar klebte an ihrem Gesicht. "Bilde dir ja nicht ein, dass du mich noch einmal mit deinem Charme einwickeln kannst!" Der Regen wurde immer stärker und peitschte ihnen ins Gesicht. Josh hob den Schlafsack wie eine Haube über den Kopf und hielt Wendy das andere Ende hin. "Komm, hier bist du etwas geschützt. Und diskutieren können wir, wenn wir im Trocknen sind." Sie musterte ihn verächtlich. "Ich denke nicht daran, jemals wieder mit dir unter irgendeine Decke zu schlüpfen, Joshua Raven!" Sie versetzte ihm einen leichten Stoß. "Ich will es mal so ausdrücken, dass es auch ein skrupelloser Geschäftsmann versteht." Sie wischte sich den Regen aus den Augen. Oder waren es etwa Tränen? "Dieses Komplott, das du mit Daddy geschmiedet hast, dieses Ehekomplott, das ist sittenwidrig, mein Freundchen." Sie stieß ihn wieder an. "Und das ist eine Tatsache, die auch du nicht schönreden kannst. Finde dich also lieber damit ab." Josh empfand tiefen Schmerz. Nicht weil sie ihm wiederholt gegen die Brust gestoßen hatte, sondern weil sie so unendlich traurig aussah. Der Versuch, die Trauer hinter Wut zu verbergen, war misslungen. Josh wusste genau, was in Wendy vorging. Und er war völlig hilflos. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Natürlich hatte er Schuldgefühle. Am liebsten hätte er die Zeit zurückgedreht und alles ungeschehen gemacht. Nein, nicht alles... Jedenfalls war er wütend auf Gower, wütend auf sich selbst und mittlerweile auch auf Wendy. Sie war einfach zu stur. Konnte sie nicht einmal nachgeben und wenigstens den Schlafsack als Regenschutz benutzen? Er hatte genug von diesem Unsinn. Energisch hob er sie hoch und schwang sie sich über die Schulter, obwohl sich aus Leibeskräften
dagegen wehrte. Wütend schrie er sie an: "Du bist die eigensinnigste Frau, die ich je kennen gelernt habe! Hör auf zu strampeln, du kleines Biest." Wendy dachte gar nicht daran. "Lass mich sofort runter, du Unmensch!" Strampeln konnte sie nicht mehr, weil Josh ihre Beine festhielt, doch sie konnte noch mit den Armen um sich schlagen. "So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert." "Mir auch nicht, mein Schatz", schrie er wütend. "Aber vielleicht macht es dir ja Spaß, ein zweites Mal über die Schwelle getragen zu werden." "Nein! Nicht von dir, du gemeiner Kerl." "Wie willst du mich denn davon abbringen?" Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und hämmerte auf seinen Rücken ein. "Lass mich runter! Mir wird übel." Josh verlangsamte seinen Schritt, als er die Terrassenstufen hinaufging, und bemühte sich, Wendy nicht allzu sehr hin und her schaukeln zu lassen. Schließlich wollte er nicht, dass ihr schlecht wurde. "Ich habe gesagt, du sollst mich absetzen!" Er öffnete die Tür und trug Wendy in den Innenhof, wo er sie schließlich herunterließ und sofort ihre Hände festhielt, damit sie nicht weiter auf ihn einschlagen konnte. "Beruhige dich!" befahl er und musterte sie unnachgiebig. Dann fügte er in sanfterem Tonfall hinzu: "Hör zu, Wendy. Du musst diese nassen Sachen ausziehen, du zitterst ja. Wenn dir wieder warm ist, solltest du etwas essen." Er versuchte, an ihren Verstand zu appellieren. "Ich möchte, dass wir uns wie vernünftige Menschen benehmen. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir noch einige Zeit allein hier verbringen müssen. Lass uns versuchen, das Beste daraus zu machen." Wendy hörte sich das alles an, obwohl sie außer sich vor Wut war. Er hatte natürlich Recht - leider. Es passte ihr nicht, mit diesem Schuft einen Kompromiss einzugehen, doch unter den gegebenen Umständen hatte sie keine Wahl. So nickte sie schließlich und gab jeden äußeren Widerstand auf. Erleichtert nahm Josh es zur Kenntnis. "Geh nach oben, und nimm ein warmes Bad. Ich kümmere mich ums Frühstück." Behutsam ließ er sie los und wartete auf ihre Reaktion.
Sie blieb reglos stehen und musterte ihn verächtlich. Dann drehte sie sich um und verschwand durchs Wohnzimmer nach oben. Josh lächelte sarkastisch vor sich hin. "Herzlichen. Glückwunsch, Raven. Du hast alles nur noch schlimmer gemacht. Wenn Blicke töten könnten, wäre es jetzt um dich geschehen." Als Wendy nach einiger Zeit in Sweatshirt, Jeans und dicken Socken wieder nach unten kam, hatte auch Josh inzwischen im Gästebadezimmer gebadet und sich umgezogen. Auch er hatte sich für Sweatshirt, Jeans und dicke Socken entschieden. Wenigstens sind wir uns in Kleidungsfragen einig, dachte er und lächelte verstohlen. Wendy hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz frisiert und war ungeschminkt. Was hatte ich denn erwartet? dachte er. Dass sie sich für mich herausputzt? Wohl kaum. Er lächelte ihr entgegen und hoffte, sie könnten sich beide zur Abwechslung wie zivilisierte Menschen benehmen. "Wie wär's mit Pfannkuchen zum Frühstück? Die ersten sind schon fertig. Fang ruhig an, wenn du Hunger hast." Wortlos ging sie zum Tisch und begann, Al zu streicheln, die auf einer Stuhllehne saß. "Wie geht's dir denn, kleiner Verräter?" fragte sie leise. Lautes Donnern erschreckte die Krähe, die hin und her trippelte. "Ich liebe Josh", krächzte sie schrill. "Ich liebe Josh." Josh drehte sich nicht einmal um, sondern kümmerte sich um die Pfannkuchen. Er hatte Albertas neuesten Spruch bereits gehört. Das erste Mal hatte der Vogel ihn damit überrascht, als Wendy nach ihrem missglückten Fluchtversuch im Kanu in der Badewanne gelegen hatte. Damals wie jetzt hätte Alberta sich keinen unpassenderen Zeitpunkt ausdenken können. Wehmütig stellte Josh sich vor, wie Wendy strahlend durch ihre Wohnung getanzt war und immer wieder gesungen hatte: "Ich liebe Josh." Wie oft mochte Alberta das während der zweimonatigen Verlobungszeit gehört haben? Er konnte sich jedenfalls nicht so recht über den Spruch des Vogels freuen. Im Gegenteil. Wenn er ihn hörte, empfand er noch tiefere Schuldgefühle. Was mochte jetzt in Wendy vorgehen, wenn sie Al hörte? Wahrscheinlich war sie beschämt und wütend zugleich. Er räusperte sich. "Der Kaffee ist fertig."
Als sie nicht reagierte, warf er ihr schnell einen Blick über die
Schulter zu. Sie stand am Fenster und blickte in den Regen hinaus.
"Möchtest du eine Tasse?"
Sie schüttelte den Kopf.
Josh wurde langsam ungeduldig. "Hör mal, Wendy, du musst doch..."
"Ich will mich scheiden lassen", erklärte sie ruhig.
Er konnte nicht sagen, dass er überrascht war, irgendwie hatte er
damit gerechnet. Aber warum zuckte er dann trotzdem zusammen, als
hätte man ihn geschlagen? Er wandte sich wieder den Pfannkuchen
auf dem Herd zu und rieb sich die Augen.
"Hast du gehört, was ich gesagt habe?" fragte Wendy.
Er verzog wortlos das Gesicht.
"Josh?"
"Ich hab's gehört", antwortete er leise, dann wendete er die
Pfannkuchen, auf die er plötzlich keinen Appetit mehr hatte. Fünf
Wörter, die sein ganzes Leben zu zerstören drohten: Ich will mich
scheiden lassen.
"Ich liebe Josh", krächzte Alberta. Der Vogel hatte wieder einmal den
unpassendsten Moment gewählt. Die in der Küche herrschende
Spannung war ihr offensichtlich verborgen geblieben. "Ich liebe Josh.
Komm ins Heu, hübscher Junge."
"Wenn du nicht gleich deinen frechen Schnabel hältst, kommst du in
die Pfanne", rief Josh wütend.
Im nächsten Moment hörte er ein Flattern und spürte Krallen auf
seiner Schulter. "Ich liebe Josh. Ich liebe Josh", wiederholte der Vogel
und ahmte Wendys Satzmelodie verblüffend ähnlich nach. "Küss
mich, hübscher Junge!"
Wütend musterte Josh die Krähe, hob sie von seinen Schultern und
setzte sie auf den Kühlschrank. "Weißt du, was ein Brathähnchen ist?"
stieß er ärgerlich hervor.
Al schlug mit den Flügeln und hüpfte sorglos auf dem Kühlschrank
umher.
Als Josh sich wieder umdrehte, bemerkte er erstaunt, dass Wendy sich
gerade eine Tasse Kaffee einschenkte und einen ganz gefassten
Eindruck machte. Ausdruckslos begegnete sie seinem Blick, der keine
Gefühlsregung widerspiegelte. Keine Traurigkeit, keine Wut - nichts.
Es schien, als habe sie alle Emotionen verdrängt.
Und das machte alles nur noch schlimmer. Josh sah sie fassungslos an und schluckte. Das war nicht mehr die fröhliche, liebevolle Frau, die er geheiratet hatte. »Wendy?" fragte er besorgt. Sie ging ungerührt zum Tisch und setzte sich, bevor sie aufsah. "Ja?" "Ich wollte nur ..." Er setzte sich neben sie. "Ist alles in Ordnung mit dir?" Sie sah ihn abweisend und desinteressiert an, als wäre er ein Fremder, mit dem sie zufällig in einem abgelegenen Haus gefangen war. Josh fühlte sich schrecklich hilflos. Es tat unglaublich weh, aus ihrem Leben ausgeschlossen zu sein. Mit ihr war alles so wunderbar, und ohne sie war er entsetzlich einsam. Verzweifelt fuhr er sich durchs Haar. Ohne Wendy war sein Leben sinnlos und leer. Er zuckte zusammen und schob diese Erkenntnis weit von sich. Doch die Wahrheit ließ sich nicht so einfach ignorieren. Er, Joshua Raven, sah sich gezwungen, ihr ins Auge zu blicken. Plötzlich wusste er, warum er sich auf dieses verrückte Ehekomplott eingelassen hatte. Geahnt hatte er es bereits, als er zum ersten Mal in diese wunderschönen veilchenblauen Augen geblickt hatte, doch er hatte es nicht wahrhaben wollen. Er war doch ein Verstandsmensch, der mit beiden Beinen im Leben stand und an nichts glaubte, was er nicht sehen konnte. Und Liebe war eine Illusion. Man konnte sie nicht greifen. Wie sollte sie Macht über ihn haben? Josh schüttelte den Kopf. Was für ein Narr er doch gewesen war! Was für ein oberflächlicher, begriffsstutziger Narr! Impulsiv nahm er Wendys Hand in seine. "Schließ mich bitte nicht aus deinem Leben aus", flehte er mit bebender Stimme. "Ich liebe dich." Sie sah ihn nur an. Joshua Raven musste der grausamste Mensch auf Erden sein. Was hatte ihn nur dazu bewogen, ihr so wehzutun? Es war gemein von ihm, zu so einer Taktik zu greifen. Wendy schluchzte unterdrückt. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie sehr er sie mit seinen Worten getroffen hatte, die natürlich gelogen waren. Sie würde sich nicht von ihm beeindrucken lassen, nicht von seinen warmen Händen, die ihre so zärtlich umfasst hielten, nicht von seinem betroffenen Gesichtsausdruck. Josh wirkte doch tatsächlich verzweifelt. Diese Darbietung war nichts weniger als oscarreif! Wendy hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Schnell entzog sie Josh die Hand. Sie ertrug diese bittersüße Berührung nicht
mehr. "Schön, du liebst mich also", sagte sie und stand auf, konnte sich jedoch kaum auf den Beinen halten und musste sich daher an der Stuhllehne festhalten. Lange würde sie ihm nicht mehr vorgaukeln können, ihr wäre alles gleichgültig. Ich muss hier raus, dachte sie und hob mutig das Kinn. "Faszinierend, wie du deine Liebe an- oder abstellen kannst, wie es dir gerade passt." "Wendy." Er wollte wieder ihre Hand nehmen, doch Wendy wich geschickt aus. "Gib dir keine Mühe, Josh." Außer Stande, seinen Blick noch eine Sekunde länger zu ertragen, fügte sie leise die bitterste Lüge ihres Lebens hinzu. "Ich ... ich liebe dich nicht mehr," Dann verließ sie hoch erhobenen Hauptes die Küche. An der Tür zur Speisekammer flog Alberta ihr auf die Schulter, und Wendy war so dankbar für diesen Beweis der Zuneigung, dass es mit ihrer würdevollen Haltung vorbei war. Die Tränen kullerten ihr übers Gesicht, und damit Josh nicht mitbekam, wie sehr sie litt, floh sie ins Schlafzimmer und schloss sich mit ihrer Krähe ein. Schon seit Stunden saß Josh auf dem Wohnzimmersofa, das zum Ausstrecken und Schlafen viel zu kurz war, und sah hinaus in die dunkle Nacht. Es regnete noch immer. Hin und wieder hörte er, wie über ihm im Schlafzimmer die Dielen knarrten. Also fand auch Wendy keinen Schlaf. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und konzentrierte sich. Komm zu mir, bat er. Komm zu mir, sieh mir in die Augen, und behaupte dann, dass du mich nicht mehr liebst. Er dachte gar nicht daran, sie jetzt aus seinem Leben verschwinden zu lassen. Anfangs hatte er es wirklich nur auf die Firma ihres Vaters abgesehen. Deshalb hatte er sich sogar auf Gowers Forderung eingelassen, seine Tochter zu heiraten. Doch während der zweimonatigen Verlobungszeit war es Wendy gelungen, sich in sein Herz zu stehlen. Er liebte ihre offene und ehrliche Art. Und wie hatte er es ihr gedankt? Mit Lug und Trug. Er hatte ihr Vertrauen aufs Sträflichste missbraucht. Wie sollte er sie jetzt davon überzeugen, dass er sie wirklich und wahrhaftig liebte? Nach allem, was er ihr angetan hatte? Ein Klicken schreckte ihn auf. Er lauschte. Wendy kam tatsächlich. Sie hatte die Schlafzimmertür aufgeschlossen und ging die Treppe herunter. Josh hörte genau zu, wie sie sich durchs dunkle Haus tastete. Er machte sich ganz klein auf dem Sofa, damit sie ihn nicht gleich bemerkte.
Als sie das Wohnzimmer betrat, hielt er den Atem an. Doch sie ging an ihm vorbei zur Küche. Sie hatte ihn nicht einmal gesehen. Offensichtlich vermutete sie ihn in einem der Gästezimmer. Also hatte sie nicht einmal einen Blick in diese Räume geworfen, sonst hätte sie gewusst, dass sie völlig unmöbliert waren. Im ganzen Haus gab es nur ein Bett: Das im gemeinsamen Schlafzimmer. Josh stand auf und folgte Wendy. Die Tür zur Speisekammer stand einen Spalt breit offen. Er schaute hindurch und beobachtete seine Frau, die noch immer die gleiche Kleidung wie am Morgen trug, dabei war es zwei Uhr nachts! War sie denn gar nicht ins Bett gegangen? Offensichtlich nicht. Sie fand wohl auch keine Ruhe. Er selbst hatte den Eindruck, auf dem Baum besser geschlafen zu haben als im Haus. Er sah zu, wie sie einen Teller mit belegten Broten aus dem Kühlschrank nahm und sich ein Glas Milch einschenkte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch - mit dem Rücken zu ihm. Josh war enttäuscht. Er hätte gern ihr Gesicht gesehen. Und er sehnte sich danach, sie an sich zu ziehen, sie um Verzeihung zu bitten und ihr zu zeigen, wie sehr er sie liebte. Deprimiert wandte er sich ab und überlegte, was er tun sollte. Schließlich spähte er wieder durch den Türspalt. Wendy hielt noch immer das Milchglas in der Hand. Die belegten Brote waren noch unberührt. Iss was, Liebling, bat er lautlos und hoffte, sie würde seine stumme Botschaft erhören. Und tatsächlich! Sie griff nach einer Scheibe Brot, aß sie und trank die Milch aus. Ach, könnte er ihr auf diesem Weg doch auch vermitteln, dass er sie von ganzem Herzen liebte! Wie sehr wünschte er sich, sie würde sich ihm in die Arme werfen und freudestrahlend rufen: "Ich liebe Josh!" Sie musste es oft genug gesagt haben, sonst hätte Alberta es nicht nachkrächzen können. Er beschloss, sich in die Küche zu wagen, als Wendy aufstand. Im ersten Moment schien sie überrascht, ihn zu sehen, dann setzte sie wieder eine gleichgültige Miene auf, ging wortlos an ihm vorbei und stellte das benutzte Geschirr in die Spülmaschine. Er verstellte ihr den Weg, bevor sie die Küche verlassen konnte. "Habe ich dir eigentlich schon von dem Mann erzählt, dem ich dieses Haus abgekauft habe? Es war ein texanischer Ölmillionär. Genau
gesagt, habe ich das Haus seinem Nachlassverwalter abgekauft. Der Texaner hatte das Haus als Alterssitz für sich und seine Frau gebaut. Die beiden waren schon eingezogen und waren noch damit beschäftigt, das Haus einzurichten, als die Frau plötzlich starb. Der arme Mann ließ alles so, wie es war. Er baute keinen Bootsschuppen, kaufte nicht einmal ein Boot. Er blieb ganz allein hier, bis auch er vor Kummer starb. Das Haus hat also nicht viele glückliche Tage erlebt. Ich hoffe, Wendy ..." "Was hat Daddy für den Fall einer Scheidung vertraglich vereinbart?" unterbrach sie ihn kühl. Josh sah sie frustriert an und zählte langsam bis zehn. Wieso fing sie ausgerechnet jetzt wieder davon an? Er atmete tief durch, bevor er antwortete. "Gar nichts. Eine Scheidung war nicht vorgesehen." Wendy musterte ihn ungläubig. "Das nehme ich dir nicht ab. Heutzutage, wo sich alle Welt scheiden lässt? Okay, ich werde die Frage anders stellen. Was musst du aufgeben, wenn ich dich verlasse?" "Gar nichts." Und das war die Wahrheit. "Erwartest du wirklich, dass ich dir das glaube?" "Deine Mutter hat sich nicht von deinem Vater scheiden lassen, und ich hatte keine Veranlassung zu glauben, dass du dich je von mir scheiden lassen würdest." Wendy war fassungslos. "Sag mal, du leidest wohl wirklich an Selbstüberschätzung. Hältst du dich wirklich für so perfekt, dass keine Frau auch nur im Traum daran denken würde, dich zu verlassen?" Ihr Spott tat ihm weh. Bisher hatte ihn wirklich noch keine Frau verlassen, daher war er auch nicht auf die Idee gekommen, mit ihr, Wendy, könnte das anders sein. Und Gower hatte auch nicht daran gedacht, dass seine Tochter ein völlig anderes Naturell hatte als ihre Mutter, die alles hingenommen, nie aufgemuckt hatte. Der Vertrag war aufgesetzt worden, bevor er, Josh, Wendy kennen gelernt hatte. Natürlich war es ihm seltsam vorgekommen, dass eine Scheidungsklausel fehlte, doch er hatte Gower nicht danach gefragt. Laut Vertrag gehörte die Firma jetzt ihm, Josh. Auch eine Scheidung würde daran nichts ändern. Aber er wollte sich ja gar nicht scheiden lassen. Er wollte mit Wendy zusammenleben, endlich eine Familie gründen und sich um sein Firmenimperium kümmern.
"Anscheinend habe ich mich getäuscht, als ich dachte, du würdest bei mir bleiben", sagte er schließlich leise. "Aha." Sie funkelte ihn an. "Das solltest du dir auf deinen Grabstein meißeln lassen." "Vielleicht. Aber ich sage nur offen und ehrlich, wie es ist, Wendy." "Du? Offen und ehrlich?" Ihre schönen Augen blitzten wütend. Josh verspürte eine freudige Erregung. Endlich zeigt sie wieder Gefühle, dachte er erleichtert. Ach, wenn sie ihm doch wieder vertrauen würde! Wenn sie ihn doch wieder so zärtlich küssen würde wie in der Hochzeitsnacht. Doch darauf würde er wohl noch einige Zeit warten müssen. Er wusste, dass er ihr Vertrauen erst langsam wieder zurückgewinnen könnte. Nur wenn er offen und ehrlich zu ihr war, würde es ihm gelingen, ihr Herz zurückzuerobern. "Eine Scheidung hätte keinen Einfluss auf den Vertrag", gestand er ein. "Aber du willst ja gar nicht fort." Er nahm ihre Hand. "Du liebst mich, das wissen wir doch beide." Sie riss sich los und stieß ihn zurück. "Ich glaube dir nicht, dass dir die Scheidung keine Nachteile bringen würde. Das behauptest du nur, um mich auszutricksen. Ich soll glauben, du hättest nichts zu verlieren." Josh wurde es heiß. Er sah Wendy tief in die Augen. Ich habe sogar sehr viel zu verlieren, Liebling - dich, stand in seinem Blick. Leider war jetzt der falsche Zeitpunkt, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte, denn momentan würde sie ihm kein einziges Wort glauben. Er musste viel Geduld haben. Eines Tages würde sie ihm sicher wieder vertrauen. Und obwohl er spürte, dass sie ihn noch immer liebte, war ihm eins nur zu bewusst: Sie würde sich ihm nie wieder so bereitwillig hingeben, bevor sie ihm nicht hundertprozentig vertrauen konnte. "Ich gehe jetzt ins Bett." Wendy drehte sich um und verließ die Küche. "Gute Idee." Er folgte ihr. Sie wandte sich ärgerlich um. "Komm mir ja nicht nach." Josh schob die Hände in die Jeanstaschen. "Erwartest du, dass ich in der Küche schlafe?" "Es ist mir völlig gleichgültig, wo du schläfst." "Dann ist es ja gut." Er lächelte amüsiert. So hatte sie das bestimmt nicht gemeint!
"Ha!" Wendy eilte durchs Esszimmer, die kleine Halle und das
Wohnzimmer. Als sie die Treppe erreicht hatte, fuhr sie herum. "Ich
habe doch gesagt, du sollst mir nicht folgen. Wo willst du hin?"
"Ins Bett." Er umfasste das Treppengeländer. "Du beachtest mich am
besten gar nicht.''
"Nichts leichter als das." Hoch erhobenen Hauptes ging sie die Treppe
hoch.
Als sie ins Schlafzimmer stürmte, konnte Josh gerade noch
verhindern, dass sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug.
"Was soll das?" fragte sie aufgebracht, als er ins Zimmer schlüpfte
und die Tür hinter sich schloss.
"Leidest du unter Gedächtnisstörungen, Liebling?" Er zeigte aufs Bett.
"Ich habe bereits zweimal erklärt, dass ich jetzt ins Bett gehe."
Endlich schien sie verständen zu haben. "Aber nicht in mein Bett",
antwortete sie schließlich ärgerlich.
Josh lehnte sich an die Tür. "Dein Bett?"
Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, wie sie schluckte. "Okay, ich
kann dich nicht daran hindern, dich in dieses Bett zu legen. Du bist
viel stärker als ich. Dann schlafe ich eben in einem der anderen
Betten."
"Wie meinst du das?" Er verschränkte die Arme vor der Brust und
wartete auf ihre Antwort.
"Was soll das, Josh?" fragte sie unsicher.
"Ich habe dir doch gerade von dem texanischen Ölmillionär erzählt,
dessen Frau gestorben ist, bevor sie das Haus fertig eingerichtet
hatten."
Wendy ahnte Schlimmes. "Die anderen Schlafzimmer sind
unmöbliert", sagte sie leise.
"Genau."
"Aber ... aber du könntest auf dem Sofa schlafen."
"Nein, das habe ich schon probiert."
"Dann schlafe ich eben im Wohnzimmer."
"Das darfst du gern." Er musterte sie betont arrogant, um sie
herauszufordern. Sie sollte hier mit ihm in einem Bett schlafen. Wie
sollte er ihr denn seine Liebe zeigen und sie davon überzeugen, dass
sie ihn noch immer liebte, wenn sie ständig voneinander getrennt
wären? Er wollte sie bei sich haben, damit er sie in den Arm nehmen
konnte, wenn sie schlief. Sie sollte sich daran erinnern, wie es
zwischen ihnen gewesen war. Sie musste doch einsehen, dass sie beide füreinander geschaffen waren. Also provozierte er sie, forderte ihren Widerspruch heraus. Mit etwas Glück würde sie darauf hereinfallen. "Du hast meine Erlaubnis, auf dem Wohnzimmersofa zu übernachten", sagte er unverfroren. "So? Habe ich die?" Sie funkelte ihn erbost an, fuhr herum, zog sich das Sweatshirt über den Kopf und warf es zu Boden. Als Josh sah, dass sie nichts darunter trug, spürte er sofort heißes Verlangen. Die Jeans folgten dem Sweatshirt. Der Anblick von Wendy in einem winzigen Slip war fast zu viel für Joshs Selbstbeherrschung. Wendy griff nach einem Kleidungsstück, das über dem Fußende hing, und zog es über. "Herzlichen Dank, Mr. Raven! Wirklich außerordentlich großzügig. Aber ich verzichte gern auf Ihr Angebot. Das Sofa gehört Ihnen." Sie wirbelte herum. "Was fällt dir eigentlich ein, mich herumzukommandieren? Solange ich Mrs. Raven bin, schlafe ich in dieser hinterwäldlerischen Hütte, wo ich will." Josh war froh, an der Tür zu lehnen. Bei Wendys Anblick war ihm schwindlig geworden. Zum Glück hatte sie sich inzwischen etwas übergezogen. Aber ein Blick hatte genügt, und er empfand übermächtiges Verlangen. Er atmete tief durch und sah, wie Wendy unter die Decke schlüpfte und ihm den Rücken zuwandte. Nun hatte er sie genau da, wo er sie wollte. Stolz machte ihn das nicht gerade. Doch es bewies wieder einmal seine hervorragende Menschenkenntnis, ohne die er es niemals soweit gebracht hätte. Er wusste, wie Wendy reagierte, wenn sie glaubte, bevormundet zu werden. Dann tat sie genau das Gegenteil von dem, was von ihr erwartet wurde. Lieber würde sie mit ihm das Bett teilen, als mit seiner Erlaubnis im Wohnzimmer zu schlafen. Offensichtlich hatte sie die Konsequenzen nicht bedacht. Glaubte sie wirklich, er würde auf dem kurzen Wohnzimmersofa schlafen? "Wohl kaum, mein Schatz", flüsterte er.
10. KAPITEL
Josh spürte, dass Wendy nicht schlief. Sie lag reglos im Bett und wartete, dass er endlich verschwinden würde. Darauf kannst du lange warten, dachte er, ging zum Bett und setzte sich auf die Kante, wo er sein Sweatshirt auszog. "Was tust du da?" fragte Wendy besorgt. Er öffnete den Knopf seiner Jeans. Dann drehte er sich um und sah Wendy an. Sie hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und die Bettdecke schützend bis unters Kinn gezogen. Er wandte sich wieder um und hoffte, dass sie nicht aufstehen würde. Bitte bleib hier, bat er inständig. Laut sagte er: "Ich gehe ins Bett," Seine Stimme klang etwas rau, als er vorsorglich hinzufügte: "Das Bett ist groß genug, Wendy. Ich möchte nur etwas Schlaf bekommen, okay?" Sie regte sich nicht, sagte auch nichts. Damit gab er sich zunächst zufrieden. Er stand auf, zog die Jeans aus und schlüpfte anschließend unter die Bettdecke, wobei er sorgfältig darauf achtete, keine hektischen Bewegungen zu machen. Sonst hätte Wendy womöglich doch noch das Weite gesucht. Das wollte er unter allen Umständen verhindern. Er brauchte sie so sehr. Nachdem er sich auf die Seite gedreht hatte - mit dem Rücken zu Wendy -, verhielt er sich ganz ruhig und lauschte. Bisher hatte sie keinerlei Reaktion gezeigt. Wahrscheinlich stützte sie sich noch immer auf einen Ellbogen und überlegte, was sie tun sollte. "Ich könnte im Schlafsack schlafen", sagte sie leise und nicht sehr überzeugend. Er öffnete die Augen. "Der Schlafsack ist draußen. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Wendy. Ich würde dir niemals wehtun." Draußen ertönte ein heftiger Donnerschlag. Josh runzelte die Stirn. Hatte Wendy etwas gesagt? "Wie bitte?" fragte er sicherheitshalber. Er spürte, wie sie sich bewegte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. "Ich sagte, du hast mir bereits wehgetan." Jetzt war wieder alles ruhig. Wendy lag noch im Bett. Vielleicht hatte sie sich nur auf den Rücken gedreht. Josh atmete erleichtert aus.
"Du hast ziemlich gemeine Sachen getan, aber ich glaube nicht, dass du einer Frau Gewalt antun würdest." Sie seufzte. "Es passt mir nicht, das Bett mit dir zu teilen, aber ich bin zu müde, um etwas dagegen zu unternehmen." Er war unendlich erleichtert. "Danke." "Bleib aber bitte auf deiner Seite." Er lächelte fröhlich und schloss die Augen. Wendy wusste, dass es unvernünftig gewesen war, mit Josh im Bett zu bleiben. Doch wenn es um ihn ging, setzte ihr Verstand anscheinend aus. Nun lag sie schon seit Stunden reglos neben ihm und versuchte vergeblich einzuschlafen. Sein Duft betörte ihre Sinne, seine Körperwärme war unendlich anziehend. Wenigstens lag sie mit dem Rücken zu ihm und musste ihn nicht ansehen. Dann wäre es nämlich um sie geschehen gewesen. Diesem fantastischen Körper, dem gut aussehenden Gesicht und vor allem seinen zärtlichen Händen hätte sie nicht widerstehen können. Sie erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, als diese Hände sie liebkost, ihr so viel Freude bereitet hatten. Verzweifelt schloss sie die Augen. Sie wollte nicht daran erinnert werden. Und doch wusste sie, dass sie die wunderschönen Stunden ihrer Hochzeitsnacht niemals vergessen würde. Irgendwann in der Nacht drehte Josh sich um und zog sie an sich. Ganz ruhig lag er an ihren Rücken geschmiegt. Hätte er angefangen, sie zu Streichern, wäre sie sofort aus dem Bett gesprungen. Doch er hielt sie nur fest, und sie fühlte sich wunderbar warm und geborgen. Es war wirklich zu gemein! Ihr Verstand riet ihr, Josh von sich zu stoßen, doch sie gehorchte ihrem Herzen und ließ es bleiben. Sie war nicht mehr wütend auf ihn, weil er sie hintergangen hatte, sondern nur noch sehr traurig. Er hatte sie nur geheiratet, um an die Firma zu kommen. Der Trauring an seiner Hand bedeutete ihm nichts. Trotzdem gab sie dem Impuls nach, den Ring zu küssen und sich an seine Hand zu schmiegen. Wie lange sie es wagen würde, in seinen Armen zu bleiben, wusste sie nicht. Nur noch einen Moment, dachte sie. Ein wenig länger, sie fühlte sich so geborgen ... Als Josh aufwachte, stellte er als Erstes fest, dass es bereits hell war. Dann bemerkte er, dass er allein im Bett lag. Dabei konnte er sich
genau erinnern, Wendy im Arm gehalten zu haben, als er eingeschlafen war. Er sah starr auf Wendys Kopfkissen. Es war zerdrückt. Geträumt hatte er also nicht. Gut. Josh richtete sich auf und war gerade im Begriff, die Bettdecke zurückzuschlagen, als er Wendy entdeckte. Sie hatte sich seinen Bademantel übergezogen und saß im Schaukelstuhl am Kamin, wo ein Feuer brannte. "Guten Morgen." Josh stützte sich auf einen Ellbogen und war sehr erleichtert, Wendy zu sehen. "Prima Feuer", lobte er. Sie sah ihn flüchtig an. "Mir war kalt." Er betrachtete sie mit einem Verlangen, das ihm Angst machte. Sie sah verloren und verführerisch zugleich aus, wie sie da im Feuerschein saß. Unglaublich, wie schön sie war. Dass er das nicht gleich gesehen hatte! Er war wirklich ein Narr gewesen, bis er sich in Wendy Raven, geborene Isaac, verliebt hatte, Er lächelte zärtlich. "Tut mir Leid, dass dir kalt ist. Du hast dich eigentlich ganz warm angefühlt." Sie fuhr herum und musterte ihn ärgerlich, "Was willst du damit sagen?" Wenn sie wütend war, fand er sie noch begehrenswerter. Am liebsten hätte er sie vor dem Kamin geliebt. Doch er musste sich zurückhalten. "Das weißt du selbst am besten, mein Liebling. Du bist eine schlechte Schwindlerin", sägte er leise. Wendy zuckte zusammen und wollte aufstehen. "Ich weiß. Der Experte auf diesem Gebiet bist du." Das tat weh, doch er wusste, dass er es nicht anders verdient hatte. Der Impuls, zu ihr zu gehen, zärtlich ihr Gesicht zu umfassen und sie zu küssen, war fast unwiderstehlich. Nur die Erkenntnis, dass Wendy es sich nicht gefallen lassen würde, hielt ihn zurück - so schwer es ihm auch fiel. "Außerdem habe ich geschlafen", behauptete sie beharrlich. "Ich habe also keine Ahnung, wovon du sprichst." Josh richtete sich auf und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sollte sie ihm jetzt allerdings in die Augen sehen, wusste sie sofort, wie sehr er sich nach ihr sehnte. Unglaublich, wie viel Sinnlichkeit seine Frau ausstrahlte! Hätte er es nicht besser gewusst, wäre er überzeugt gewesen, sie würde nur mit ihm spielen, ihn hinhalten, bis er es nicht mehr
aushalten würde. Ob sie wusste, wie viel Macht eine Frau über den Mann hatte, der sie liebte? Er schwang sich aus dem Bett und zog seine Jeans an. Als er aufsah, begegnete er Wendys unsicherem Blick. Langsam ging er auf sie zu, kniete sich neben den Schaukelstuhl und umfasste die Armlehne. "Danke für die vergangene Nacht", sagte er leise. "Ob du nun wach warst oder geschlafen hast, spielt keine Rolle. Ich danke dir." Als er behutsam ihre Hand streicheln wollte, zuckte Wendy zusammen. Dann zog sie die Beine an, die nun wieder unter dem Bademantel steckten, und blickte in die Flammen. Natürlich verstand Josh ihre ablehnende Körperhaltung, doch die Tatsache, dass Wendy noch im selben Zimmer war wie er, machte ihm Mut, denn es bewies, dass er den Kampf um sie noch nicht verloren hatte. Noch immer fühlte sie sich zu ihm hingezogen, wenn sie das momentan auch nicht zugeben wollte. Ich will sie wiederhaben, dachte er verzweifelt. Sie liebt mich doch, und ich liebe sie. Wir könnten eine wunderbare Ehe führen, wenn Wendy nur wollte. "Was kann ich tun?" fragte er voll sehnsüchtigen Verlangens. Er begehrte sie so sehr, und er wünschte sich, auch sie würde ihn begehren. "Bring mich von hier fort." Ihre Bitte traf ihn völlig unvorbereitet. Mutlos blickte Josh ins Feuer. "Ich kann nicht", flüsterte er schließlich; Wendy sprang auf. "Was soll das heißen, du kannst nicht? Was habe ich nicht alles für dich getan!" Als Josh verblüfft aufsah, fügte sie wütend hinzu: "Deinetwegen habe ich dieses alberne schwarze Kleid angezogen, bin auf all diese grässlichen Partys gegangen, habe meine Schüler und meine Pflichten in der Bücherei vernachlässigt und im Tierheim! Ich war sogar so dumm, dich im Arm zu halten, als ich dachte, du hättest ... ein Problem. Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgespielt, weil du die Vorstellung nicht ertragen konntest, mit mir zu schlafen." Josh entdeckte so viel Schmerz in ihrem Blick, dass er erschrak "Aber Wendy, so war es doch gar nicht. Ich konnte die Partys auch nicht ausstehen, und ich habe dich nie gebeten, ein besonderes Kleid für mich anzuziehen Geschlafen habe ich nicht mit dir, weil ich es ehrenhafter fand, damit bis zur Hochzeit zu warten."
"Aber es hat dir nichts ausgemacht." "Doch, ich wollte nur nicht..." "Lüg mich nicht an! Während ich mich Nacht für Nacht nach dir verzehrt habe, weil ich so dumm war, mich in dich zu verlieben, konntest du es kaum erwarten, endlich die Firma zu übernehmen." Ihre Stimme überschlug sich beinahe, doch Wendy hatte sich schnell wieder gefangen. "Es war wirklich sehr interessant, deine Bekanntschaft zu machen, Joshua Raven. Ich werde bestimmt kein zweites Mal den Fehler begehen, mich in einen gut aussehenden Mann zu verlieben, der mir Honig um den Bart schmiert." Sie stemmte die Hände in die Hüften. "Du siehst also, dass ich jetzt schlauer als vorher bin. Was mich allerdings interessieren würde, ist, ob auch du etwas dazugelernt hast." Sie lächelte kühl und blickte ihn erwartungsvoll an. Josh stand langsam auf und sah ihr in die Augen. "Ich habe gelernt zu lieben." "Haha", rief sie und musterte ihn verächtlich. "Ich weiß, dass es dir schwer fallen wird, Wendy, aber ich bitte dich trotzdem darum, mir zu glauben." Sie lachte bitter, und Josh spürte, dass sie nervlich am Ende war. "Klar glaube ich dir", rief sie. "ich glaube dir, dass du mich liebst. Genauso wie ich glaube, dass mein Vater die nächste Miss Amerika wird und Sylvester Stallone in Wirklichkeit eine fünfundachtzigjährige Großmutter ist, die nur gut geschminkt wurde. Ich glaube alles, weil ich eine Närrin bin, der man alles erzählen kann." "Wendy! Bitte!" "Was ist?" "Stell dein Licht nicht so unter den Scheffel", bat er leise. "Du bist eine wunderschöne Frau. Jeder Mann wäre glücklich, mit dir verheiratet zu sein." Ungläubig schüttelte sie den Kopf. "Hör auf ...", begann sie, dann wandte sie sich abrupt ab. "Du bist unfair", sagte sie mit versagender Stimme. "Nimm es einfach so hin. Dein Trick hat nicht funktioniert, du hast verloren. Und nun lass mich bitte allein." Die letzten Worte waren kaum noch vernehmbar gewesen. Josh spürte, dass Wendy gleich in Tränen ausbrechen würde, und hätte sie gern an sich gezogen. Doch es war wohl der falsche Zeitpunkt. Sie würde ihn sicher nur zurückstoßen.
Er schluckte. "Okay, Wendy." Er griff nach seinem Sweatshirt. "Wie
du willst." Er ging zur Tür. Bevor er hinausging, drehte er sich noch
einmal um, "Was möchtest du zum Frühstück?"
Als sie ihn ansah, schimmerten Tränen in ihren Augen. "Ist das alles,
was du zu sagen hast?"
Josh zuckte die Schultern.
"Okay, wenn das so ist, dann möchte ich Schweinefleisch zum
Frühstück. Du kannst dir sicher denken, warum,"
Wendy hält mich also für ein gemeines Schwein, dachte Josh, als er
gehorsam Frühstücksspeck brutzelte. Was soll ich denn noch tun,
damit sie endlich einsieht, dass ich sie liebe? überlegte er und stöhnte
verzweifelt.
Inzwischen war Freitag, er hatte noch eine gute Woche Zeit, Wendy
die Scheidung auszureden.
Er war so tief in Gedanken versunken, dass er Albertas Anwesenheit
gar nicht bemerkte hatte. Erst als er ein Sausen hörte und im nächsten
Moment Krallen auf seiner Schulter spürte, sah er auf und betrachtete
seine gefiederte Freundin von der Seite. "Au, Alberta, das tut weh. Ich
wünsche dir aber trotzdem einen guten Morgen." Er spießte ein Stück
Speck auf die Gabel, mit der er die Scheiben in der Pfanne umdrehte.
"Möchtest du vielleicht auch Speck zum Frühstück?"
Die Krähe pickte an seinem Ohr. "Au! Ich meinte eigentlich den
Speck in der Pfanne, du dummer Vogel."
"Ich liebe Josh", krächzte Alberta. "Ich liebe Josh!"
"Tatsächlich? Da bist du aber die Einzige", sagte er mürrisch. Und
dann hatte er eine Idee. "Hör mal, Al, könntest du mir einen Gefallen
tun?"
"Küss mich, hübscher Junge."
"Ich denke ja gar nicht daran. Pass auf und sprich mir nach: Josh liebt
Wendy", flüsterte er. "Josh liebt Wendy."
Al flüsterte zurück. "Küss mich, hübscher Junge."
Josh blickte frustriert an die Decke, bevor er wiederholte: "Josh liebt
Wendy,"
"Ich liebe Josh."
"Nein! Josh liebt Wendy."
"Schnell weg." Al ahmte Joshs Flüstern nach. "Die Bullen."
Er lachte amüsiert. "Du hast doch ein Spatzenhirn, Alberta."
"Du Spatzenhirn - kräh, kräh."
Josh schüttelte den Kopf. "Ich gebe es auf."
"Du Spatzenhirn", krächzte Alberta. "Komm ins Heu, du
Spatzenhirn."
"Toll, jetzt bin ich ein Schwein und ein Spatzenhirn. Vielen Dank,
Al." Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Speck in der
Pfanne.
"Josh liebt Wendy", flüsterte Al.
Er konnte es kaum fassen. "Das ist es, Alberta! Du bist ein Genie." Er
nahm sie von der Schulter und sah ihr in die kleinen rosa Augen. "Sag
es noch einmal: Josh liebt Wendy. Aber lauter."
"Lauter, du Spatzenhirn."
Er verzog missmutig das Gesicht. "Du bist ein hoffnungsloser Fall,
Alberta", sagte er und setzte den Vogel auf den Kühlschrank. "Man
sollte dich zu Pastete verarbeiten."
"Lauter, du Spatzenhirn."
Josh ging zum Herd zurück und musste lachen, ob er wollte oder
nicht. Diese Krähe war eine echte Komikerin. Ständig lenkte sie ihn
ab.
Als ihm bewusst wurde, dass auf Wendy das Gleiche zutraf, wurde er
ernst. Auch sie lenkte ihn mit ihrem herzlichen Humor ab. Wenn sie
ihn verließ, wäre er, Josh, für immer verloren.
"Schnell weg. Die Bullen", flüsterte Al.
"Spatzenhirn", sagte Josh. "Wenn du es nicht kannst, lass es."
"Was soll sie lassen?"
Josh hatte Wendy gar nicht hereinkommen hören. Offensichtlich trug
sie wieder diese dicken Socken. Er legte die letzte Scheibe Speck auf
einen mit Küchenpapier bedeckten Teller, damit das überschüssige
Fett aufgesaugt wurde. "Nichts", behauptete er mürrisch. "Wie
möchtest du die Eier?"
"Ich kann mir selbst Eier kochen."
"Das habe ich nicht gefragt." Josh atmete tief durch, als ihm ihr Duft
in die Nase stieg. Viel verführerischer als Speck, dachte er.
Wendy nahm ihm die Gabel aus der Hand und fragte: "Möchtest du
dir erst Eier braten?"
Konnte sie denn nicht ein einziges Mal nachgeben? Josh schüttelte
den Kopf und sagte: "Ich mache Kaffee."
Als er die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, kehrte er an den Herd zurück und sah in die Pfanne, in der Spiegeleier brutzelten. "Acht Eier?" fragte er erstaunt. "Du musst ja einen Riesenhunger haben." Wendy blinzelte. Anscheinend war sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. "Wie?" Er zeigte auf die Pfanne. "Ob das deinem Cholesterinspiegel gut tut?" Sie errötete verlegen - und sah zum Anbeißen aus. "Oje. Da habe ich wohl die Übersicht verloren. Tut mir Leid." "Macht ja nichts." Er lächelte verstohlen. "Komm, ich nehme sie jetzt heraus, bevor sie anbrennen. Wenn du nichts dagegen hast, esse ich die Hälfte." "Okay. Bevor wir das Essen wegwerfen." Sie holte zwei Teller und hielt sie Josh hin, der die Eier gerecht verteilte. "So. Von jetzt an sollten wir uns die Lebensmittel aber besser einteilen, sonst müssen wir die letzten Tage hier noch hungern." "Daran gibst du sicher mir die Schuld." Verärgert zog sie die Augenbrauen hoch. "Ich habe das Telefon kaputtgemacht, deshalb sitzen wir jetzt hier fest." "Nein, Wendy," Er nahm ihr die Teller ab und stellte sie auf den Tisch. "Dich trifft überhaupt keine Schuld." Sie funkelte ihn an und wollte etwas sagen, wusste aber nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Schließlich stöhnte sie und hielt ihm eine zur Faust geballte Hand unter die Nase., "Warum streitest du dich nicht mit mir, Josh? Kannst du nicht gemeine Sachen zu mir sagen? Ich will dich von ganzem Herzen hassen, wenn ich hier endlich wegkomme." "Hasst du mich denn noch nicht?" Sie schrie frustriert auf und hämmerte auf seine Brust ein. "Doch. Ich hasse dich!" Die Stimme versagte ihr fast. "Ich hasse dich! Ich möchte ..." Plötzlich legte sie ihm die Arme um den Nacken und schmiegte sich an ihn. Dann liebkoste sie seinen Hals und flehte Josh an: "Bitte, tu etwas, damit ich dich hassen kann. Ich habe schon alles versucht." Josh konnte sich in diesem Moment selbst nicht leiden. Verzweifelt nahm er sie in die Arme. "Es tut mir alles so Leid, Liebling." "Nein! Sag etwas Gemeines. Sag mir, dass du mich nicht liebst. Sag mir, dass ich dumm und albern bin und dass du froh bist, wenn du mich endlich los bist." Sie barg den Kopf an seiner Brust und schluchzte verzweifelt.
Josh hielt, sie ganz fest. "Ich liebe dich, Wendy", flüsterte er zärtlich. "Ich würde lügen, wenn ich das Gegenteil behauptete." Sie lachte verzweifelt auf. "Du gemeiner Kerl!" Besorgt bemerkte er, dass sie nervlich am Ende war. "Sei doch einmal nett zu mir, Joshua Raven. Ein einziges Mal. Tu mir doch den Gefallen, um den ich dich gebeten haben. Sei nicht so egoistisch", bat sie. Es brach Josh fast das Herz, sie so verzweifelt zu sehen. Trotzdem weigerte er sich, etwas zu behaupten, was nicht der Wahrheit entsprach. Als sie ihn ansah, spürte er, dass sie seine Gedanken lesen konnte. "Nein, Liebling", sagte er bedauernd. "Den Gefallen kann ich dir nicht tun. Niemals." Und dann küsste er sie - sehnsüchtig und leidenschaftlich. Sie war so warm und weich, und er liebte sie so sehr. Er stöhnte, wollte niemals wieder aufhören, sie zu küssen. Und er wollte mehr. Zärtlich ließ er die Zunge in ihren Mund gleiten. Wie sehr sehnte er sich danach, wieder eins mit Wendy zu sein. Vielleicht war es gleich soweit und ... Josh hatte sich zu früh gefreut, denn Wendy drehte ihren Kopf weg und stieß ihn von sich. "Lass mich los", verlangte sie leise. "Du ... du bist ja so gemein!" Verblüfft ließ er sie los und suchte Halt am Küchenschrank. Er wehrte sich nicht, als sie auf ihn einschlug. Wie in Trance ließ er alles mit sich geschehen. Ihr Mund bewegte sich, offensichtlich redete sie auf ihn ein, doch er hörte keinen Ton. Und dann würde er auch noch geblendet. Jetzt endlich erwachte er aus seiner Starre. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Spiegeleier. Wendy hatte ihm die lauwarmen Eier ins Gesicht geschleudert und war verschwunden. "Josh liebt Wendy", krächzte Al. Josh lehnte am Schrank und hätte der Krähe am liebsten den Hals umgedreht. Am nächsten Morgen wurde Josh von einem ungewohnten Geräusch geweckt. Wendy hatte darauf bestanden, im Wohnzimmer zu schlafen, so dass er die Nacht allein im großen Doppelbett verbracht hatte. Er setzte sich auf und lauschte. Klang wie Motorengeräusch. Aber das konnte kaum angehen. Woher sollte das kommen?
Josh sprang hastig aus dem Bett. Nein, er täuschte sieh nicht. Das war eindeutig ein Bootsmotor! Das Geräusch wurde immer schwächer. Was, um alles in der Welt, war hier los? In Windeseile zog er sich seine Jeans über und stolperte barfuss und mit nacktem Oberkörper aus dem Zimmer. Eigentlich konnte das nur das Postboot gewesen sein. Jemand musste ihnen geschrieben haben. Er lief die Treppe hinunter und sah, dass die Tür offen war. Vorsichtig spähte er ins Wohnzimmer, doch Wendy war nicht da. Die Bettdecke lag auf dem Boden, als wäre Wendy übereilt vom Sofa aufgesprungen. Als ihm bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte, rannte er aus dem Haus und sprintete zum See. In einiger Entfernung sah er das Postboot davonfahren. Aufgeregt sprang er am Ufer hin und her, um irgendwie auf sich aufmerksam zu machen, doch das Boot war schon zu weit weg. Und das dröhnende Motorengeräusch überdeckte sein lautes Schreien. Völlig verzweifelt lief er zum Bootssteg, wo er einen Brief vorfand. Er hob ihn auf. Er war an Mr. und Mrs. Raven adressiert. Auf der Rückseite stand der Absender: Judy Sawyer. Dann hatte sie also den Job als Gerichtsreporterin bekommen. Hatte Wendy nicht darauf bestanden, dass Judy ihr gleich schrieb, sobald man sie benachrichtigt hatte? Irgendwie war es typisch, dass Wendys Hilfsbereitschaft und die Sorge um andere Menschen ihr nun dabei geholfen hatten, ihrem verhassten Ehemann zu entwischen. Denn inzwischen war Josh davon überzeugt, dass sie ihn hasste. Hätte sie ihn sonst verlassen? Hilflos und verzweifelt sah er dem davonfahrenden Boot nach, das seine über alles geliebte Frau an Bord hatte, in diesem Moment um die Landzunge bog und endgültig aus seinem Blickfeld verschwand. Josh fühlte sich so elend, dass er sich hinsetzen musste. Mit leerem Blick betrachtete er den See. Sie war fort. Seine Wendy war fort. Sie war ihm einfach weggelaufen und hatte alles zurückgelassen. Sogar ihre geliebte Krähe, deren Käfig er im Vorbeilaufen im Haus gesehen hatte. Er schluckte. Seine Kehle fühlte sich ganz rau und trocken an, seine Hände zitterten unkontrolliert. Verzweifelt schüttelte er den Kopf. Erinnerungen wurden wach: Wendy und er in leidenschaftlicher Umarmung. Wendy, die liebevoll seine Hand umfasste. Wie hätte er
vor zwei Monaten ahnen können, dass eine junge Frau, die eine Krähe auf dem Kopf spazieren trug und deren Ziel es war, möglichst vielen Erwachsenen Lesen und Schreiben beizubringen, ihm so den Kopf verdrehen würde? Woher, um Himmels willen, hätte er denn wissen sollen, dass es die größte Tragödie seines Lebens sein würde, diese geliebte Frau zu verlieren?
11. KAPITEL
"Da bist du ja, Kind!" , Wendy wurde es schwer ums Herz, als sie den aufgebrachten Tonfall ihres Vaters hörte. Langsam ging sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, vor deren Tür Gower wohl schon einige Zeit gewartet haben musste. Seiner puterroten Gesichtsfarbe nach zu schließen, war er furchtbar wütend. Zwei Wochen lang war es ihr, Wendy, gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen,, indem sie sich fast Tag und Nacht im Keller der Bücherei aufgehalten und am Computer gearbeitet hatte. Natürlich hätte sie ihren Vater sofort zur Rede stellen sollen, doch dazu hatte ihr bisher die Kraft gefehlt. Die Auseinandersetzung mit Josh hatte zu sehr an ihren Nerven gezehrt. "Als Josh in die Stadt zurückgekehrt ist, hat er mich gleich angerufen, um mir mitzuteilen, dass du ihm davongelaufen bist", schrie Gower anklagend. Es passte Wendy nicht, dass das ganze Haus Zeuge ihres Streits wurde. Daher beschleunigte sie ihre Schritte und stand wenig später vor ihrer Wohnungstür. "Lass uns hineingehen, Vater. Wir müssen unseren Streit ja nicht in aller Öffentlichkeit austragen." "Es ist mir völlig egal, wer das hört", schrie Gower. "Du wirst jetzt auf der Stelle zu deinem Mann zurückkehren. Hast du mich verstanden? Immer musst du Schwierigkeiten machen, du stures Ding! Ständig habe ich Ärger mit dir." Wendy zwang sich, ruhig zu bleiben. Was fiel ihrem Vater ein zu verlangen, sie solle zu dem Mann zurückkehren, der sie wie eine Ware gekauft hatte? Nach kurzem Suchen fand sie ihren Schlüssel, der ihr zweimal aus der Hand fiel, bevor es ihr gelang, die Tür aufzuschließen. Sie zog ihren Vater in die Wohnung, machte die Tür zu und sagte bestimmt: "Es fällt mir nicht im Traum ein, zu Josh zurückzugehen. Du weißt ja, was ich von Ehen halte, die aus geschäftlichem Interesse geschlossen werden, Vater. Leider ist es dir gelungen, mich hinters Licht zu führen. Du und Joshua Raven habt mich ganz gemein hintergangen.
Ich lasse es mir nicht bieten, wie ein Möbelstück behandelt zu werden. Meine Mutter hat das umgebracht, mit mir macht ihr das nicht!" In Gowers Schläfe pochte eine Ader. "Raven hat guten Glaubens um deine Hand angehalten." "Dass ich nicht lache! Woran hat er denn geglaubt? An ein gutes Geschäft?" Das war ja wirklich der Gipfel der Unverfrorenheit! Wendy wandte sich ab und warf ihre Handtasche aufs Sofa. Dann drehte sie sich wieder um und fragte verletzt: "Warum hast du den Brief in Joshs Aktenkoffer gelegt, Daddy? Weil du mir zu verstehen geben wolltest, dass ich nur Mittel zum Zweck war? Warum bist du so gemein zu mir? Macht es dir Spaß, mich leiden zu sehen? Erträgst du es nicht, wenn andere Leute glücklich sind? Selbst wenn sie sich das Glück nur einbilden?" "Wovon redest du überhaupt?" fragte er mürrisch. "Was fällt dir ein, mich als einen alten Sadisten hinzustellen?" "Aber genau das bist du ja. Du und Joshua Raven. Euch interessiert doch nur Geld, Geld, Geld! Viel Glück bei euren Unternehmungen." Wendy zeigte auf die Tür. "Und nun verschwinde! Ich habe genug von dir. Aus uns wird nie eine Familie. Am liebsten würde ich dich niemals wieder sehen, Daddy!" Fassungslos sah Gower sie an. "Ich lasse mich nicht von dir herumkommandieren! Ich könnte dir ohne weiteres den Geldhahn zudrehen, wenn du nicht spurst." Er schnippte mit dem Finger. "Einfach so. Dann kannst du es wenigstens nicht mehr in diese unsinnigen wohltätigen Einrichtungen stecken. Und zu essen wirst du auch nichts mehr haben." "Du täuschst dich." Sie musterte ihn triumphierend. "Man hat mir angeboten, das Erwachsenenbildungszentrum zu leiten. Die Stelle ist gut bezahlt. Ich brauche kein Geld aus Mutters Erbe." Gower schüttelte hochmütig den Kopf. "Du stures kleines Biest! Das wird dir noch Leid tun! Du wirst für deinen Verrat büßen, das verspreche ich dir." "Meinen Verrat?" Wendy lachte verächtlich. "Wie kannst du es wagen, mir das ins Gesicht zu sagen? Raus!" Sie ging zur Tür und riss sie auf. "Verschwinde! Und zwar sofort." Er stürmte hinaus und hinterließ eine Wolke seines auf dringlichen Rasierwassers. Wendy verzog das Gesicht. Dieser süßliche Geruch war ja widerlich! Sobald ihr Vater draußen war, knallte sie die Tür
hinter ihm zu und hielt sich den flachen Bauch. Ihr war plötzlich sehr elend und schwindlig. Sie musste sich an die Tür lehnen, sonst wäre sie zusammengesunken. "Nach einigen Minuten hatte sie sich wenigstens soweit erholt, dass sie es zum Sofa schaffte. Was war nur mit ihr los? Noch nie hatte sie sich nach einem Streit mit ihrem Vater so benommen gefühlt. Verzweifelt legte sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Warum konnte ihr Vater sie nicht lieben? Wieso hatte er nur Geld und Macht im Sinn? Und warum sehnte sie sich so sehr nach Josh, der doch genauso verlogen und oberflächlich war wie ihr Vater? Das Klingeln des Telefons lenkte sie von ihren traurigen Gedanken ab. Sollte sie überhaupt abnehmen? Eigentlich war ihr nicht nach einem Gespräch zumute, aber es könnte ja wichtig sein. "Hallo?" "Mrs. Raven?" fragte eine geschäftsmäßige weibliche Stimme. Raven? Ach ja, sie war ja noch immer mit Josh verheiratet. "Ja?" "Mein Name ist Faith Hanfield, ich gehöre zu Mr. Ravens Anwaltsteam. Ich würde Sie gern heute Abend aufsuchen. Sie müssten einige Papiere unterschreiben." Wendy schloss die Augen und lehnte sich gegen die Rückenlehne des Sofas. Sie hatte es noch nicht über sich bringen können, die Scheidung einzureichen. Joshua war offensichtlich weniger zurückhaltend. "Ja, natürlich. Die Scheidung." "Nun ... ja." Der Anwältin schien die Angelegenheit etwas unangenehm zu sein. "Wäre Ihnen acht Uhr recht?" "Heute Abend?" Die plötzliche Eile machte Wendy Angst. Dabei hatte sie die Scheidung doch gewollt! "Wenn es Ihnen nicht passt..." "Nein, nein, ich kann es einrichten. Bis nachher dann. Haben Sie meine Adresse?" "Mr. Raven hat sie mir gegeben." "Ach so." Wendy wurde es wieder schwindlig. Sie rieb sich die Augen. "Schön, bis später." Müde legte sie den Hörer auf, holte sich eine Kompresse aus dem Eisfach und legte sich aufs Sofa. Wendy musste eingeschlafen sein, denn sie wurde von einem lauten Klopfen an der Tür geweckt. Es ging ihr noch immer nicht besser. Wendy sah auf die Uhr. Es war Viertel vor acht. So spät schon? Und die Anwältin war auch noch überpünktlich. Nun konnte sie, Wendy, sich nicht einmal etwas frisch machen. "Einen Moment, bitte." Wendy
legte die Kompresse auf den Tisch und versuchte, sich zu sammeln. Wahrscheinlich bekam sie eine Grippe. Langsam ging sie zur Tür und öffnete sie. Judy Sawyer lächelte besorgt. Wendys Zustand gefiel ihr gar nicht. Und besonders unangenehm war es ihr, dass die Pfefferminzcreme versagt hatte. "Du siehst schlecht aus, Wendy", sagte Judy zur Begrüßung. "Ja, ich glaube, ich werde krank. Du solltest lieber draußen bleiben, sonst steckst du dich noch an." "Unsinn, ich bin abgehärtet. Was meinst du, was Seth alles anschleppt?" Judy setzte sich zu Wendy aufs Sofa und fühlte ihre Stirn. "Ich habe gerade Hühnersuppe gekocht. Die würde dir jetzt bestimmt gut tun." Wendy drehte sich der Magen um, doch sie lächelte tapfer. "Ich ... danke, aber ..." "Du musst wenigstens versuchen, etwas zu essen. Fieber scheinst du nicht zu haben. Nur einige Löffel Suppe, dann wird es dir gleich besser gehen. Ich wette, du hast in der letzten Zeit kaum etwas gegessen." Wendy zuckte die Schultern. Judy hatte Recht. Aber sie, Wendy, hatte einfach keinen Appetit gehabt. "Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Mir geht es erst seit einigen Stunden schlecht. Eigentlich erst nach dem Streit vorhin mit meinem Vater." "So?" Judy sah ihre Nachbarin forschend an. Dann stand sie auf. "Ich hole jetzt die Suppe. Bin gleich wieder da." "Danke, Judy." Wendy schloss die Augen und lehnte sich erschöpft zurück. Kurz darauf kehrte Judy mit einer Tasse Suppe und einer Schachtel Kräcker zurück. Wendy drehte sich schon vom Aroma der Suppe der Magen um. Judy musterte sie besorgt, setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. "Es geht mich ja nichts an, Wendy, aber könnte es sein, dass du..." "Hallo? Jemand zu Hause?" Wendy und Judy sahen auf. Eine große, schlanke, dunkelhaarige Frau in einem schicken schwarzen Kostüm stand am Eingang. Eine elegante Aktentasche hatte sie auch bei sich. Beim Anblick der bildhübschen Anwältin wurde Wendy das Herz schwer. Wieso musste Josh so eine fabelhaft aussehende Kraft beschäftigen? Typisch! "Sind
Sie Miss Hanfield?" fragte Wendy, als sie sich von ihrem Schock
erholt hatte.
"Ja, Faith Hanfield. Darf ich hereinkommen?"
"Ich gehe dann wieder", sagte Judy. "Versuch, etwas Suppe zu essen,
Wendy."
"Okay, ich ..." Wendy war völlig durcheinander.
"Sind Sie krank, Mrs. Raven?" fragte die Anwältin besorgt. "Soll ich
lieber morgen oder übermorgen wiederkommen?"
"Ihr war vorhin schwindlig, und ihr Magen spielt verrückt", erklärte
Judy beim Hinausgehen. "Vielleicht können Sie Wendy überreden,
etwas zu essen."
"Es ist sicher nur eine Erkältung. Danke für die Brühe, Judy", rief
Wendy ihrer Nachbarin nach.
Judy winkte ihr zu, "Ich komme morgen früh noch einmal kurz
vorbei", versprach sie und schloss die Tür hinter sich.
Wendy bot der Anwältin einen Platz an.
"Danke." Faith Hanfield setzte sich zu ihr aufs Sofa. "Sind Sie sicher,
dass ich bleiben soll?"
Wendy nickte. "Ja. Es ist nur der Stress oder Schlafmangel. Vielleicht
auch Grippe. Hoffentlich stecken Sie sich nicht an."
Faith Hanfield lachte: "Keine Sorge. Meine sechsjährige Tochter
schleppt ständig Krankheitserreger aus der Schule an. Ich muss
inzwischen immun sein."
Wendy rang sich ein Lächeln ab. Die Frau war wirklich sehr nett,
obwohl sie für Josh arbeitete.
"Wir können die Angelegenheit gern verschieben", schlug Faith vor.
"Ich weiß, wie belastend solche Sachen sein können."
"Nein, danke. Ich würde es gern hinter mich bringen."
"Okay." Faith legte einen Papierstapel auf den Tisch. "Das sind die
Scheidungsdokumente. Lesen Sie die bitte in aller Ruhe durch, bevor
Sie unterschreiben."
Wendy blätterte lustlos in den Papieren. "Sieht alles sehr offiziell
aus", sagte sie. Ihr wurde wieder übel.
"Das hoffe ich. Es ist schließlich mein Job." Faith legte einen weiteren
Stapel Dokumente auf den Tisch. "Und dies sind die Papiere zur
Übernahme der Firma. Bitte unterschreiben Sie die auch."
Wendy nickte geistesabwesend und überflog die letzte Seite der
Scheidungsdokumente. "Wenn Sie einen Kugelschreiber haben, werde
ich ..." Sie verstummte, weil sie eben erst erfasst hatte, was die Anwältin zuvor gesagt hatte. "Was sagten Sie gerade über die Firma?" fragte sie und sah auf. "Ich sagte, dass die Firma Ihnen gehört, wenn Sie diese Papiere unterschreiben. Sie können schalten und walten, wie Sie wollen, und einen Geschäftsführer Ihrer Wahl einstellen." "Welche Firma?" Wendy sah sie verwirrt an. "Was soll das heißen?" Faith war offensichtlich davon ausgegangen, dass Wendy Bescheid wusste. "Ich spreche von Joshs Firmengruppe. Einschließlich der Firmen, die er durch die Fusion erlangt hat. Haben Sie denn nicht gewusst, dass Mr. Raven Ihnen Raven-Maxim-Enterprises überschrieben hat?" Wendy schüttelte fassungslos den Kopf. "Er muss den Verstand verloren haben." Faith lächelte trocken. "Mr. Raven ist der intelligenteste, großzügigste Arbeitgeber, den man sich nur wünschen könnte. Und er hat ganz sicher nicht den Verstand verloren." Sie zückte einen goldenen Kugelschreiber, den sie Wendy hinhielt. "Nein, den Verstand hat er nicht verloren, sondern ... Aber das wissen Sie ja selbst, Mrs. Raven." Wendy hatte das Gefühl, vom Blitz getroffen zu sein. ,, Aber ... aber darf er mir die Firma denn überhaupt überschreiben? Ist die Fusion denn nicht geplatzt, weil ich ihn verlassen habe?" Faith drückte ihr den Kugelschreiber in die Hand. "Nein. Wie kommen Sie denn auf die Idee?" "Na ja, er hat doch alles versucht, damit ich bei ihm bleibe. Das hätte er doch nicht getan, wenn ... wenn ..." Wendy verstummte. Konnte es denn wirklich sein, dass .... Sie schüttelte ungläubig den Kopf und bemerkte kaum, dass Faith eine Visitenkarte aus dem Aktenkoffer holte, Wendy den goldenen Kuli aus der Hand nahm und etwas auf die Rückseite der Karte kritzelte. "Mrs. Raven", sagte Faith dann ruhig. Wendy sah verstört auf. "Ja?" "Ich lasse Ihnen die Unterlagen hier. Rufen Sie mich bitte an, wenn sie unterschrieben sind, ich lasse sie dann abholen. Ich glaube, ich werde Mark vorbeischicken. Er ist ein so netter junger Mann, und ich habe das Gefühl, er würde gern Ihre Nachbarin kennen lernen." "Judy?" Wendy sah sie verblüfft an.
Faith nickte und lächelte verschwörerisch. "Ich habe etwas Menschenkenntnis. Würden Sie Mark Judy vorstellen, wenn er zu Ihnen kommt?" "Ja, wenn Sie meinen." Es wäre schön, wenn Judy einen netten Mann kennen lernen würde, in den sie sich verlieben könnte. "Nichts lieber als das ", fügte sie begeistert hinzu. "Prima." Faith stand auf und gab Wendy zum Abschied die Hand. "Auf Wiedersehen, Mrs. Raven. Passen Sie gut auf sich auf." Wenig später fiel die Wohnungstür zu, und Wendy war wieder allein. Warum ist mir nur so entsetzlich schwindlig? überlegte sie verzweifelt und barg den schmerzenden Kopf in ihren Händen. Und alles war so schrecklich verwirrend. Josh wollte sich von ihr scheiden lassen, aber gleichzeitig gab er ihr etwas, wofür er sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte? Das ergab doch keinen Sinn! Es sei denn, er hatte es ernst gemeint, als er gesagt hatte ... Wendy schüttelte langsam den Kopf. Dabei bemerkte sie die Visitenkarte, die Faith mit der Kopfseite nach unten auf den Tisch gelegt hatte. Was stand darauf? "Dr. John Morris, Geburtshelfer", las Wendy. Darunter hatte die Anwältin gekritzelt: "Ich habe eine gute Menschenkenntnis, Mrs. Raven. Ich würde einen Termin vereinbaren." Fassungslos betrachtete Wendy die Karte. Was, um alles in der Welt, sollte sie bei einem Geburtshelfer? Die Antwort traf sie völlig unvorbereitet. Ich bin schwanger, dachte Wendy. Ihr stockte der Atem.
12. KAPITEL
Josh zog sich das Hemd aus und warf es auf einen Stapel Feuerholz. Er hatte genug Holz für die nächsten zwei Jahre gehackt und wusste kaum noch, wohin damit. Doch er hatte sich irgendwie beschäftigen müssen. Seine Rastlosigkeit war schrecklich. Nach den völlig misslungenen Flitterwochen hatte er nur wenige Tage in Chicago verbracht. Eigentlich, nur lange genug, um Wendy die Firmengruppe zu überschreiben. Er hatte sich auf nichts konzentrieren können und sich sehr einsam und verloren gefühlt. Hier in der Hütte hatte er wenigstens seine Erinnerungen an die wunderbare Hochzeitsnacht mit Wendy. Er zog die Axt aus dem Baumstumpf und begann, die nächsten Scheite zu hacken, die er auf den immer höher werdenden Stapel warf. Dann hielt er inne und lauschte. War das ein Motorboot? Er sah auf seine Armbanduhr. Für das Postboot war es eigentlich schon zu spät. Aber das war ihm auch egal. Ihm war sowieso alles gleichgültig. Josh atmete tief durch und machte sich wieder an die Arbeit. Körperliche Erschöpfung war das einzige Mittel, um Schlaf finden zu können. Seit Wendy ihm vor einem Monat weggelaufen war, war ihm bewusst geworden, wie wenig ihm Geld und Macht bedeuteten. Er hatte erkannt, dass man Glück und Zufriedenheit nicht kaufen konnte. Mittlerweile hatte er überhaupt keine Ambitionen mehr, der reichste Mann Amerikas zu sein. Alles war so sinnlos. Ohne Wendy war sein Leben sinnlos. In den vergangenen Tagen hatte er oft überlegt, ob auf der so idyllisch gelegenen Hütte ein Fluch lastete. Würden in ihr nur Männer mit gebrochenem Herzen wohnen? Zumindest hatte es den Anschein. Frustriert hieb er auf den nächsten Scheit ein und warf die Holzhälften auf den Stapel. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Josh fuhr sich mit dem Handrücken über die Brauen und wandte sich dem See zu.
Irgendjemand kam den Weg hoch. Josh richtete sich auf und ließ die Axt fallen. Wachte er, oder träumte er? Er atmete tief durch und sah der Person entgegen, die langsam näher kam. Josh beschloss, ihr entgegenzugehen. Es konnte Faith Hanfield sein, die ihm die Scheidungspapiere brachte. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie zu unterschreiben. Nicht bevor er Wendys Unterschrift auf den Dokumenten gesehen hatte. Aber Faith hätte die Unterlagen doch sicher mit der Post geschickt, oder? Er ging ums Haus herum. Als er schließlich den Anfang des Wegs erreicht hatte, hatte sie schon die halbe Strecke zurückgelegt. Es war Wendy! Sein Herz begann, aufgeregt zu klopfen. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass sie kommen möge, hatte es jedoch nicht zu hoffen gewagt. Und nun war sie da! Josh konnte sein Glück kaum fassen. Um nicht völlig durchzudrehen, überlegte er sich schnell die verschiedensten Gründe für ihr Eintreffen. Vielleicht hat sie nur etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen, dachte er. Halt dich zurück, du Narr! Äußerlich gefasst, winkte er ihr zu. "Hallo, Fremde." Dann verzog er das Gesicht. Wahrscheinlich hätte er das nicht sagen sollen, weil es sie daran erinnern würde, dass sie fortgelaufen war. Doch sie winkte auch. Sie schien ohne Gepäck gekommen zu sein, schwenkte nur einen dicken Umschlag. Was hat das nun wieder zu bedeuten? überlegte Josh verwirrt. Das Boot hatte bereits wieder abgelegt. Also plante sie hier zu bleiben. Oder würde das Boot sie bald wieder abholen? Und was war in dem Umschlag? Doch nicht etwa die Scheidungspapiere? Aber warum? Wollte sie sich an ihm rächen? Josh rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. "Schön, dich zu sehen", sagte er zur Begrüßung und schob - scheinbar gelassen - die Hände in die Taschen seiner Jeans. "Ich freue mich auch, dich zu sehen, Josh." Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen und lächelte flüchtig. Sie trug ein rosa Sommerkleid und war schöner denn je. MUSS sie so grausam zu mir sein, dachte Josh und atmete ihr Parfüm ein. Diese Folter hielt er nicht mehr lange aus. Es wäre wohl am besten, die Angelegenheit, wegen der Wendy gekommen war, zügig zu erledigen.
"Ist der für mich?" fragte er daher und zeigte auf den großen Umschlag. "Ja." Sie sah Josh ernst an. "Könnten wir vielleicht ins Haus gehen?" "Natürlich." Er umfasste ihren Arm - genau das hatte er sich strengstens untersagt. Nun würde er sie nicht mehr loslassen können. Das wusste er genau. Er räusperte sich und öffnete ihr höflich die Tür. "Al wird sich freuen, dich zu sehen", sagte er, nur um das Schweigen zu brechen. Wendys Miene hellte sich auf. "Sie hat mir gefehlt. Wie geht es ihr?" Ein Flattern kündigte Als Ankunft an. Die Krähe grub ihre Krallen in Joshs Schulter, auf der sie landete. "Kräh, kräh. Ich liebe Josh! Ich liebe Josh!" Josh zuckte zusammen. "Tut mir Leid, ich habe es ihr einfach nicht ausreden können." Verblüfft bemerkte er, dass Wendy ihn an die Hand nahm und mit ins Wohnzimmer zog; "Komm, setz dich zu mir, Josh", bat sie, nachdem sie auf dem Sofa Platz genommen hatte. Ihre ernste Miene beunruhigte ihn, doch er setzte sich gehorsam zu ihr. Wahrscheinlich war es ihr unangenehm, an ihre kurze Ehe erinnert zu werden. Und an die Gefühle, die sie ihm, Josh, entgegengebracht hatte. Er streckte die Hand nach dem Umschlag aus. "Soll ich die Papiere unterzeichnen?" Sie reichte ihm den dicken Briefumschlag. "Ja, wenn es dir nichts ausmacht." Josh musterte das dicke Paket mit finsterer Miene, bevor er schweren Herzens den Papierstapel herauszog. Auch ein Kugelschreiber fiel auf den Tisch. "Du hast an alles gedacht", sagte er. "Das hoffe ich zumindest." Er nahm die Dokumente in die Hand und überflog das Deckblatt, "Das sind ja gar nicht die Scheidungsunterlagen", sagte er erstaunt. "Es geht um eine Firmenübernahme." Josh sah Wendy fragend an. "Das verstehe ich nicht." Sie griff nach dem Kugelschreiber und drückte ihn Josh in die Hand. "Ich habe die Dokumente ausarbeiten lassen. Wenn du unterschreibst, bist du geschäftsführender Direktor. Ich habe nämlich beschlossen, mich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. Es ist mir lieber, zu Hause zu bleiben und das Kinderzimmer einzurichten. Falls du nichts
dagegen hast. Natürlich müssen wir zuerst ein passendes Haus finden,
in dem unsere Kinder viel Platz haben."
Josh sah sie völlig verblüfft an. "Wie?"
Sie lächelte. Und diesmal war es das liebevolle Lächeln, das er sich
die ganze Zeit so sehr gewünscht hatte. Ihm wurde ganz warm ums
Herz.
Wendy umfasste zärtlich sein Gesicht und flüsterte: "Wenn ich schon
das Baby bekomme, Liebling, dann ist es nur recht und billig, dass du
dich selbst um die Firma kümmerst." Sie küsste ihn liebevoll. "Findest
du nicht auch?"
Josh schluckte. Er wagte sein Glück kaum zu fassen. Hatte er sich
auch wirklich nicht verhört? "Sag das noch mal! Du bist schwanger?"
fragte er ungläubig.
Sie nickte. "Freust du dich?"
"Ob ich mich freue?" Er sprang auf und hob Wendy hoch, außer sich
vor Glück. Al krächzte erschrocken und brachte sich schnell in
Sicherheit.
Wendy lachte vergnügt und legte Josh die Arme um den Nacken. "Ja.
Sag schon."
"Freust du dich denn?" flüsterte er an ihrem Mund.
Sie nickte und küsste ihn schnell. "Ich bin überglücklich, Josh." In
ihren Augen schimmerten Tränen.
"Ich auch, mein Schatz." Er trug sie zur Treppe. "Ich liebe dich,
Wendy."
Sie schmiegte sich zärtlich an ihn. "Ich weiß." Wieder küsste sie ihn
flüchtig. "Übrigens habe ich Daddy gefeuert."
Josh blieb stehen und sah sie verblüfft an. "Das schaffst du nie im
Leben."
"Doch. Aber ich habe ihn großzügig abgefunden. Vielleicht gewöhnt
er sich ja ans Golfspielen."
Josh lachte. Es wurde immer besser! Plötzlich blieb er mitten auf der
Treppe stehen. "Sag mal, Wendy, fühlst du dich ... ich meine, können
wir ...?"
Sie streichelte zärtlich seine Wange. "Klar können wir. Am liebsten
Tag und Nacht. Was meinst du, warum ich nichts zum Anziehen
mitgebracht habe?"
"Josh liebt Wendy", krächzte Al, die ihnen nach geflogen war.
Wendy sah die Krähe an. Dann wandte sie sich wieder Josh zu. "Das gefällt mir, Liebling." Josh küsste sie. "Dir wird noch viel mehr gefallen", sagte er zärtlich. "Das verspreche ich dir." Acht Monate später, nachdem sie längst das passende Haus für ihre kleine Familie gefunden und eingerichtet hatten, wurde Josh erneut daran erinnert, dass die Liebe das größte Geschenk auf Erden war. Ohne Wendy mit ihrer Fröhlichkeit und Herzenswärme hätte er das niemals begriffen. Alle Reichtümer der Welt konnten nicht mit der strahlenden Schönheit seiner Frau konkurrieren, als sie ihm voller Glück ihren neugeborenen Sohn in die Arme legte.
-ENDE