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Kriminal...
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Horia Tecuceanu Wenn es sein muß: Doppelmord
Kriminalroman
Seit fünf Tagen ist die Lehrerin Marieta Stanciu nicht mehr zum Unterricht erschienen. Eine Krankmeldung liegt nicht vor. Cristina Damian, Schulsekretärin, beschließt, die Miliz zu benachrichtigen. Hauptmann Apostolescu, er hat gerade einen Fall abgeschlossen, nimmt die Anzeige entgegen und hofft auf eine harmlose Lösung. Doch trügerisch sind diese Hoffnungen. Beim gewaltsamen Öffnen der Wohnung bietet sich ihnen ein grauenhaftes Bild: Sowohl Marieta Stanciu als auch ihre siebzigjährige Mutter wurden mit einer Axt erschlagen; in der Wohnung herrscht Chaos. Hauptmann Apostolescu glaubt: Solch eine Tat kann nur von einem Wahnsinnigen verübt worden sein. Doch Apostolescu muß sich den Tatsachen stellen.
Horia Tecuceanu
Wenn es sein muß: Doppelmord
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Surprizele căpitanului Apostolescu Originalverlag: Editura Dacia, Cluj-Napoca, 1975 Aus dem Rumänischen von Joachim Uhlisch
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1982 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/124/82 • LSV 7254 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 528 0 DDR 2,50 M
Mein Dank gilt den Genossen Generalmajoren Octavian Pop, Stellvertreter des Generalinspekteurs der Miliz, und Nicolae Chiriac, Leiter der Kriminalabteilung, sowie Major Dumitru Taureci für die mir bei der Arbeit an diesem Buch gewährte Unterstützung. H. T. Anmerkung: Mit Ausnahme des romanhaften Stils und einiger erfundener Personen entstammt die Handlung des Buches einem authentischen Fall.
ERSTER TEIL
1 Während Dan die Fahndungsliste von Interpol durchblätterte, nahm ich mir die Post vor, die mir der Bote gebracht hatte. Dabei fiel mir ein Umschlag mit der Aufschrift des Gerichtsmedizinischen Instituts auf. Er enthielt das Autopsieergebnis einer Person, die Gegenstand einer meiner Fälle geworden war. Zwei Tage zuvor war ich gegen Mitternacht vom Dispatcherdienst des Rettungsamtes benachrichtigt worden, daß der Arzt eines Rettungswagens auf eine Person gestoßen war, die unter merkwürdigen Umständen gewaltsam zu Tode gekommen war. Da ich mich mit derartigen Fällen befasse, begab ich mich unverzüglich zur angegebenen Adresse und wollte sehen, worum es ging. Das Opfer, eine etwa sechzigjährige korpulente Frau, lag in einem zerwühlten Bett. Die Nähte des Nachthemdes waren stellenweise aufgeplatzt, und am Hals konnte man dunkle Spuren erkennen. Auf Grund der Leichenstarre und der Tatsache, daß die Spuren der Gewalteinwirkung noch keine dunkelblaue Färbung angenommen hatten, kam ich zu dem Schluß, daß das Opfer höchstens zwei Stunden vorher, also um zehn Uhr abends, erwürgt worden war. Nachdem ich Dan gebeten hatte, den Staatsanwalt und den Gerichtsmediziner zu benachrichtigen, ging ich an die Arbeit. 8
Die Person, die den Rettungswagen gerufen hatte, war eine junge Frau, die bei dem Opfer zur Untermiete wohnte. Wie sie mir berichtete, war sie gegen elf Uhr nach Hause gekommen und hatte die Wohnungsinhaberin ohnmächtig vorgefunden. Rasch hatte sie ihr Essig unter die Nase gehalten, doch als sie sah, daß sie sie nicht wieder zu Bewußtsein zu bringen vermochte, rief sie den Rettungswagen. Als der Staatsanwalt dem Gerichtsarzt mitgeteilt hatte, daß die Leiche abgeholt werden konnte, war es fast zwei Uhr nachts geworden. So war ich der Meinung, daß es sich nicht mehr lohnte, noch Leute aus dem Bett zu holen, deren einziges Vergehen darin bestand, daß sie mir möglicherweise ein paar für die Untersuchung nützliche Informationen liefern konnten. Ich wollte schon weggehen, da tauchte der dritte Mieter der Wohnung des Opfers auf. Er war jedoch so betrunken, daß ich ihm nicht begreiflich machen konnte, was ich in der Wohnung suchte. Da in solchen Fällen ausreichender Schlaf das einzige Heilmittel ist, zögerte ich nicht, ihm diesen unerläßlichen Rat zu geben. Am nächsten Tag, also gestern früh, ging ich wieder in die Wohnung des Opfers und machte mich an die Arbeit. Ich begann mit der Vernehmung der Hofbewohner, die mir ausnahmslos berichteten, daß der sonst rechtschaffene und gutmütige Ehemann eine große Schwäche für alkoholische Getränke hatte, was nicht gerade zur guten Laune der Verstorbenen beigetragen hatte. Genauer gesagt, jedesmal wenn der Ehemann in der Stadt ein Gläschen getrunken hatte – und das kam etwa alle vierzehn Tage einmal vor – eilte er nach Hause, um sich mit dem notwendigen Kleingeld zur Fortsetzung dieses Vergnügens auszustatten. Von diesem feierlichen Augenblick erhielten die Nachbarn sofort durch das Geschrei Kenntnis, das der durch das Widerstreben seiner verständnislosen Frau verärgerte Ehemann anstimmte. Eine derartige 9
Auseinandersetzung hatte es auch in der Nacht, als das Opfer aus dem Leben geschieden war, gegeben, und zwar genau während der Zehn-Uhr-Nachrichten. Als der Streit ein paar Minuten später abgeflaut war, wurde der Ehemann beobachtet, wie er das Haus zufrieden verließ. Da ich nunmehr recht gut informiert war, suchte ich auch den Ehemann auf. Ich konnte wohl sicher sein, daß Zeuge Nummer eins nicht mehr unter Alkoholeinfluß stand. Er empfing mich ganz verzweifelt, brach in Tränen aus und gab kurzerhand zu, daß er seine Frau umgebracht hatte. Auf Grund des Zustands, in dem er sich befunden hatte, konnte er nicht genau erklären, wie er dazu gekommen war, seiner Frau Gewalt anzutun. Das war nun jedoch auch von untergeordneter Bedeutung. Obwohl ich davon überzeugt war, daß seine Verzweiflung nicht gespielt war, blieb mir nichts weiter übrig, als ihn wegen Mordes festzunehmen. Da ich nicht ahnte, welche aufschlußreichen Tatsachen mir die Eilpost des Gerichtsmedizinischen Instituts liefern konnte, las ich das Ergebnis der Leichenuntersuchung gleichgültig. Als ich damit fertig war, verharrte ich noch einige Augenblicke. Dann entfuhr mir ein leiser Pfiff. „Was ist los, Chef?“ fragte Dan interessiert und verwundert und sah über den Rand der Interpolfahndungsliste zu mir herüber. „Wir müssen Dobre freilassen.“ „Wie bitte?“ „Er ist nicht schuldig.“ „Er hat doch aber ein Geständnis abgelegt.“ „Der Gerichtsarzt ist anderer Meinung.“ „Könntest du dich etwas deutlicher ausdrücken?“ „Ich werde mich bemühen. Der Tod ist gegen elf Uhr eingetreten, also eine Stunde, nachdem der Ehemann weggegangen war, um seinen übermäßigen Alkoholgenuß fortzusetzen.“ 10
„Die Feststellung des Zeitpunktes, wann der Tod eingetreten ist, ist nur ein Annäherungswert!“ gab Dan zu bedenken. Da er recht hatte, nickte ich zustimmend und fuhr fort: „Der Tod wurde nicht durch Ersticken, das heißt durch Erwürgen, herbeigeführt, sondern durch ein geplatztes Lungenödem.“ „Und was ist das?“ „Eine Art Herzinfarkt. Die Lungen können das Blut nicht mehr mit Sauerstoff versorgen, und das Herz stellt seine Tätigkeit ein. Die Nekropsie hat nachgewiesen, daß das Opfer dieses Leiden hatte, das, wie ich bereits sagte, dessen Tod herbeigeführt hat.“ „Das hätte ich nicht geglaubt.“ „Allerdings ist Dobre an diesem Ausgang nicht ganz unbeteiligt. Das Ödem ist nicht von ungefähr geplatzt, sondern infolge einer nervlichen Belastung durch den Ärger der Kranken.“ „Er kann also als moralischer Täter angesehen werden.“ „Ja, aber von der Sorte, die strafrechtlich nicht verfolgt werden kann. Obwohl Dobre das Ende seiner Frau beschleunigt hat, wurde der vorzeitige Tod ausschließlich durch das Leiden hervorgerufen. Wenn sie gesund gewesen wäre, hätte es diesen Fall für uns nicht gegeben.“ Als ich hörte, daß die Klinke heruntergedrückt wurde, verstummte ich und wartete ab, wer mich besuchen wollte. Dabei nahm ich die Haltung eines Professors an, der auf dem Höhepunkt seiner Vorlesung von einem ständig zu spät kommenden Studenten unterbrochen wird. „Hallo, was ist los! Ihr quatscht hier den ganzen Tag herum, und ich weiß nicht, wo mir der Kopf vor lauter Arbeit steht“, meinte Major Iancu, der Leiter des Sekretariats, und rümpfte kritisch die Nase. 11
„Wie wäre es, wenn du gleich zur Sache kommen würdest?“ fragte ich und sah auf das Stück Papier, das er wie einen Fächer schwenkte. „Eine Frau, eine Lehrerin, wird als vermißt gemeldet.“ „Wie ist sie denn verschwunden?“ „Nach Aussage der Schulsekretärin hat die Lehrerin am Donnerstag die Schule verlassen und ist nicht wieder gesehen worden.“ „Wenn heute Dienstag ist, so sind inzwischen bereits fünf Tage vergangen“, meinte Dan nachdenklich. „Vielleicht ist sie krank. Wohnt sie allein?“ fragte ich. „Sie wohnt mit ihrer Mutter zusammen. Es gäbe also jemand, der sie entschuldigen könnte.“ „Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn die Frau, die die Meldung gemacht hat, erst einmal in die Wohnung der Lehrerin gegangen wäre, ehe sie sich an uns wendet?“ wollte Dan wissen. „Nicu, dein kleiner Schönling da denkt wohl, ich bin erst seit gestern im Dienst?“ fragte Iancu und deutete mit beleidigter Miene auf meinen Mitarbeiter. „Ist jemand zur Wohnung der Vermißten gegangen?“ fragte ich. „Natürlich ist jemand zu ihr gegangen, und telefonisch haben wir es auch versucht. Es hat sich aber niemand gemeldet. Denkst du denn, ich hätte sonst die Meldung weitergegeben? Wir sind doch schließlich keine Laufburschen!“ sagte Iancu und warf mir das Blatt, das er bisher geschwenkt hatte, auf den Schreibtisch. Ich nahm das Blatt und las. Es war eine Telefonnotiz, auf der Name und Anschrift der anzeigenden Person wie der verschwundenen Lehrerin festgehalten waren. „Brauchst du noch etwas?“ fragte Iancu. Da ich mit dem Kopf schüttelte, wünschte er mir noch, daß es sich um einen blinden Alarm handeln möge, und wandte sich zur Tür. „Dan“, sagte ich, als wir wieder allein waren, „geh doch 12
schnell mal zur Wohnung der Lehrerin und informiere dich, worum es geht. Ich werde inzwischen veranlassen, daß Dobre freigelassen wird.“ Nachdem er seine Beine unter dem Schreibtisch hervorgezogen hatte, kam er zu mir und nahm die Telefonnotiz. Zunächst einmal entschloß ich mich, den Fall abzuschließen, dann ließ ich Dobre aus der Untersuchungshaft holen. Als ich ihm klarmachte, wie die Dinge liegen, und ihm mitteilte, daß er nicht vor Gericht gestellt würde, merkte ich, daß ich mich in ihm nicht getäuscht hatte. Statt sich zu freuen, machte er ein noch jämmerlicheres Gesicht als bei seiner Verhaftung. Sicherlich hätte er es lieber gehabt, seine Tat durch Entbehrungen im Gefängnis zu büßen. Als er weggehen wollte, war er so niedergeschmettert, daß ich befürchten mußte, er ließe sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen. Ich rief ihn zurück und machte ihm nochmals klar, daß seine Frau auf Grund ihrer Krankheit ohnehin vom Tode gezeichnet war und ebensogut durch eine belanglose Aufregung wie z. B. beim Rennen nach der Straßenbahn hätte sterben können. Er nickte verständnisvoll. Ich war mir allerdings nicht sicher, ihn vollständig überzeugt zu haben. So ganz zufrieden war ich also nicht mit mir. Als ich gerade aufstehen wollte, um die Akte im Sekretariat abzugeben, schrillte das Telefon. Es war Dan. Er verkündete mir, daß er mir einen Dienstwagen schicken würde. Ich sollte in die Wohnung der Lehrerin kommen. Während ich im Auto durch die Strada Dr. Davilla fuhr, fragte ich mich, ob ich meine gute Laune der Lösung des Falles Dobre oder möglicherweise der Aprilsonne verdankte. Voller Freude sah ich durch das Seitenfenster des Wagens die blühenden Bäume und die Fußgänger, die ganz per Taille oder gar nur im Hemd herumliefen. 13
Es wäre mir sicher nicht unangenehm gewesen, auch in Hemdsärmeln, die Hände tief in den Taschen vergraben und gänzlich unbeschwert, im Grünen spazierenzugehen. Als das Auto rechts in den Bulevardul Eroilor einbog, sagte ich mir voller Bedauern, daß solche Wünsche in meinem Beruf nicht zu verwirklichen sind. Ebenso wie den Ärzten, fehlte es auch uns nicht an Patienten. Mit einem Unterschied allerdings, daß unsere Patienten anders geartet sind. Unvergleichlich unangenehmer und anachronistischer in einer zivilisierten und von Menschlichkeit geprägten Gesellschaftsordnung. Nachdem das Auto in die Strada Dr. Marinescu eingebogen war und sich der Strada General Demostene näherte, betrachtete ich die Häuser, an denen wir vorbeifuhren, mit größerem Interesse. „Wir sind da, Genosse Hauptmann“, meinte Vartunian, unser Fahrer, und hielt vor der Haustür der Nummer 12. Ich stieg aus und besah mir das Gebäude. Es war ein zweistöckiges Haus mit einer rosafarbenen Rauhputzfassade. Die letzte Etage war Mansarde. Von der Straße war das Haus durch eine Betonmauer, die mit einem Maschendrahtzaun wechselte, abgetrennt. Zwischen der Mauer und dem Haus befand sich ein etwa zwei Meter breiter Streifen, der mit Blumenstecklingen bepflanzt war. Ich sah mir auch die Nachbarhäuser an. Das Eckhaus rechts an der Kreuzung hatte Arkaden und war vollständig mit dem zartgrünen Efeu des zeitigen Frühjahrs bewachsen. Links stand ein weiteres, allem Anschein nach erst kürzlich fertiggestelltes Haus. Gegenüber dem Haus, das mich interessierte, sah ich noch ein im Bau befindliches Haus. Drei Betondecken ohne Außenwände waren schon errichtet. Um das Haus herum herrschte das für das Baugeschehen typische Treiben. Förderbänder, Stapel mit Mauersteinen und Rutschen dehnten sich bis auf die Straßenmitte aus. 14
Ich wandte mich wieder dem rosafarbenen Haus zu und bemerkte eine angelehnte Metalltür. Als ich sie mit einem Finger aufstieß, gelangte ich auf den Hof. Ich war nicht weit gekommen, als Dan plötzlich vor mir stand. „Wie steht’s, Dan?“ „Wie es aussieht, stimmt hier etwas nicht.“ „Und zwar?“ „Die Türen sind verschlossen, und niemand meldet sich.“ „Und die übrigen Hausbewohner?“ Er machte eine Kehrtwendung und zeigte mir eine Betontreppe mit fünf Stufen. Am Ende befanden sich eine kleine Terrasse und zwei massive eichene Türen mit Spion. „Die rechte Tür ist der Eingang zum Erdgeschoß, wo die vermißte Person wohnt. Die andere Tür gehört zur ersten Etage. Der Mieter der ersten Etage hält sich im Ausland auf.“ „Und die zweite Etage?“ „Es ist eine Mansarde, die ein Sportlehrer bewohnt. An seiner Tür habe ich auch geklopft, aber es hat niemand geöffnet.“ „Hast du mit den Nachbarn gesprochen?“ fragte ich und ließ meinen Blick über die umliegenden Häuser schweifen. „Klar. Einige meinen, daß sich hier seit fast zwei Wochen nichts mehr getan hat. Andere sind bescheidener und sprechen nur von fünf bis sechs Tagen. Das ist ja auch nicht so wichtig. Komm, ich will dir etwas zeigen!“ Ich folgte ihm bis hinten auf den Hof. Nach etwa acht Metern erreichten wir den Dienstboteneingang. Ich erblickte eine Treppe aus Beton, die den Keller mit den Etagen verband. Nachdem wir ein paar Stufen bis zur Höhe des Erdgeschosses hinaufgestiegen waren, zeigte er mir rechts eine Tür und meinte: „Das ist der Nebeneingang zu der Wohnung der vermißten Lehrerin Marieta Stanciu.“ 15
Ich ging noch ein paar Schritte an einem Stapel neuer Baubretter vorbei, auf denen ein Beil und eine Säge lagen. Dann blieb ich vor einer Tür Stehen, die sich gegenüber der Wohnungstür befand. Sie war offen, und ich sah einen kleinen, fensterlosen Raum. Auf dem Küchentisch stand ein großer Teller mit rohen Bouletten. „Geh ruhig näher heran“, ermutigte mich Dan und zeigte auf den Teller. „Sie sind verdorben“, sagte ich und rümpfte die Nase. „Die liegen bestimmt schon ein paar Tage hier herum“, meinte er. „Ist es normal, daß eine Hausfrau Essen zubereitet, um es verderben zu lassen?“ „Wahrscheinlich ist etwas dazwischengekommen, was sie daran hinderte, ihre Tätigkeit zu beenden. Und für dieses ‚Etwas‘ sollten wir uns eben interessieren“, meinte ich zustimmend. „Wollen wir nicht nachsehen, was los ist?“ Ich war auch der Ansicht, daß wir keine andere Wahl hatten. Eilig ging ich über den Hof zu unserem Auto. Ich setzte mich an das Funksprechgerät und verlangte den diensthabenden Staatsanwalt. Ich war erfreut, als sich Mihai Lupu meldete. Er hatte nämlich schon bei anderen Gelegenheiten unter Beweis gestellt, daß er ein heller Kopf ist. Lupu unterbrach mich noch, ehe ich ausgeredet hatte, und wollte sich sofort zu mir auf den Weg machen. Als ich auf den Hof zurückkam, ging ich an einem großen dreiteiligen Fenster zur Straße hin vorbei und versuchte vergeblich hineinzuschauen. Es war von innen verhängt. Ich ging zur Terrasse zurück und mußte feststellen, daß die Gardine des Fensters der Wohnung, die mich interessierte, ebenfalls zugezogen war. „Was ist mit dem Fenster neben dem Dienstboteneingang?“ fragte ich, als mir einfiel, daß dort auch eins war. „Außer der Tatsache, daß sich dahinter eine Küche befindet, ist nichts interessant daran“, meinte Dan. Da ich bis zum Eintreffen des Staatsanwalts nichts 16
mehr zu tun hatte, setzte ich mich einfach in einen der beiden Korbsessel, die an einem Tisch aus dem gleichen Material auf der Terrasse standen. Dan nahm im anderen Sessel Platz. Wenige Minuten später hielt ein Auto vor dem Haus.
2 Das Tor ging auf, und ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann betrat den Hof. Er war mittelgroß, sehr beweglich, und seine Augen waren hinter einer dicken Hornbrille, die auf einer langen und schmalen Nase ruhte, verborgen. Es war Staatsanwalt Mihai Lupu. „Nun, Hauptmann, dann sag mir doch mal, worum es geht“, erkundigte er sich, nachdem wir uns die Hand geschüttelt hatten. Ich legte ihm den Tatbestand dar, der mich veranlaßt hatte, ihn zu rufen. „Hm, vielleicht hast du recht“, meinte er gelassen, nachdem er sich das Kinn mehrmals gerieben hatte. „Wenn wir aber vielleicht einen Schnitzer machen?“ gab er zu bedenken. „In Anbetracht der Umstände wäre ein weiteres Zögern ein größerer Fehler als eine möglicherweise grundlose Haussuchung.“ „Hast du einen Schlosser rufen lassen?“ wollte er wissen. „Unser Fahrer ist auf solche Sachen spezialisiert“, bemerkte Dan und ging auf die Straße. Als unser dunkler und temperamentvoller Feldwebel auf der Terrasse auftauchte, zeigte ich ihm die Wohnungstür der Lehrerin Marieta Stanciu. „Was meinen Sie zu dem Schloß? Kriegen Sie es auf, ohne es kaputtzumachen?“ 17
„Ich werde mich bemühen, allerdings ist es ein Sicherheitsschloß.“ „Ich verstehe. Kommen Sie mit, ich will Ihnen auch den Dienstboteneingang zeigen.“ „Das ist natürlich etwas ganz anderes“, meinte er, als wir vor dem Nebeneingang standen. „Das ist ein einfaches Schloß. Übrigens steckt der Schlüssel von innen.“ Ich sah ihm zu, wie er aus seiner Werkzeugtasche eine feine Zange holte. Alles andere war ein Kinderspiel. Er packte das Ende des Schlüssels mit der Zange. Die Verriegelung klickte metallisch. Als er beiseite ging, drückte ich die Klinke herunter und machte die Tür auf. Vor mir lag ein etwa sechs Quadratmeter großer Raum. An der rechten Wand befanden sich ein Waschbecken und ein Gasherd. Dann kam ein Gazefenster, durch das man auf den Hof sehen konnte. Links bemerkte ich die zweite Tür des Raumes. Ich ging um den Küchentisch herum und wollte zur gegenüberliegenden Tür. Doch nach ein paar Schritten blieb ich stehen. Zwischen der Wand mit dem Fenster und dem vom Tisch verdeckten Teil erblickte ich etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte. Zuerst ein paar Filzpantoffeln, dann, je weiter ich behutsam um den Tisch herumging, war auch der Rest zu sehen. Neben dem Gasherd lag zusammengekrümmt eine Frau. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Einen derartigen Schädelbruch hatte ich noch nie gesehen. Ich sah meine Begleiter an. Der Staatsanwalt, der hinter mir stand, hielt sich die Hand vor den Mund und keuchte. Dan, weiß wie eine Wand, sah mich entsetzt an. „Dan“, sagte ich und versuchte, das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken, „den Gerichtsarzt und den Offizier von der Kriminalistik!“ „So etwas habe ich mein Leben lang noch nicht gesehen“, stotterte Lupu, als Dan im Laufschritt davongeeilt war. 18
„Das Opfer muß etwa siebzig Jahre alt gewesen sein, kann also nicht die gesuchte Person sein“, sagte ich und versuchte, Ordnung in meinen für Bruchteile von Sekunden verwirrten Geist zu bringen. Obwohl ich weiche Knie hatte und meine Beine zitterten, schaffte ich es bis zur Tür, die ins Innere der Wohnung führte. Sie war nicht zu, sondern nur angelehnt. Ich stieß sie mit meinem Finger auf, um den ich ein Taschentuch gewickelt hatte. Ich trat in das Wohnzimmer. Rechts stand eine Tür offen, dahinter befanden sich ein kleiner Flur und die Wohnungstür, die den Zugang über die Terrasse, wo wir auf den Staatsanwalt gewartet hatten, ermöglichte. Ich ging um einen massiven Nußbaumtisch, auf dem ein Stapel Klassenarbeitshefte lag, zu den beiden Seitentüren. Die rechte Tür war offen. Ich warf einen Blick hinein, konnte aber nur die Umrisse von Möbeln erkennen. Der Raum war in Dunkel getaucht. Mit der Hand tastete ich die rechte Wand ab. Ich sah das Fenster, das zur Terrasse ging und vollständig zugezogen war. Der Raum war als Schlafzimmer eingerichtet. Außer der Unordnung und einem offenen Kleiderschrank fiel mir nichts Besonderes auf. Als ich mich nach links umdrehte, stieß ich fast mit Lupu zusammen, den ich nach dem Grausen, das mich beim Anblick der Ermordeten in der Küche gepackt hatte, fast vergessen hätte. Er trat einen Schritt zurück, damit ich zur zweiten Tür links gelangen konnte. Ich drückte die Klinke mit dem Taschentuch herunter und machte die Tür auf. Die gleiche Finsternis wie im vorigen Zimmer umfing mich. Ich tastete an der Wand nach dem Schalter und knipste das Licht an. Ich blieb an der Türschwelle stehen, spürte, wie Lupu hinter mir schwer und unregelmäßig atmete, und sah mir den Raum an. Es war auch ein Schlafzimmer. Ich ließ meinen Blick von rechts nach links über einen drei19
teiligen Kleiderschrank, einen Toilettentisch voll verschiedenartiger kosmetischer Erzeugnisse und ein darüberliegendes Fenster mit heruntergelassenen Jalousien schweifen. Es war ein dreiteiliges Fenster, das zur Straße ging. Ich sah mich noch weiter im Zimmer um und bemerkte an der linken Wand ein großes Bett, an dessen Seiten zwei Nachttischchen standen. Etwa einen Meter vom letzten Nachttisch entfernt befand sich noch eine andere Tür, die halb geöffnet war. Die Schranktüren standen offen, die Schubladen des Toilettentisches und der Nachttische waren herausgezogen und lagen neben ihrem Inhalt im Zimmer herum. Alles deutete auf eine rigorose, aber gründliche „Haussuchung“ hin. Hier war ganze Arbeit geleistet worden. Die „zimperliche“ Gestapo wäre vor Neid erblaßt. Auf dem linken Nachttisch stand eine Obstschale mit Äpfeln, am Bettgestell lehnten drei Reproduktionen nach Gemälden von Grigorescu. Ich sah mir die Wände an. Die rechteckigen Umrisse, die etwas heller als die Tapete waren, gaben mir Aufschluß, wo die Bilder gehangen hatten. Als mein Blick auf den beigefarbenen flauschigen Fußbodenbelag fiel, wurde mir klar, daß das noch nicht alles war. Vom Bett ging eine dicke Spur brauner Flecke aus und führte bis zu der halboffenen Tür. Sie veranlaßte mich, über die Schwelle zu gehen. Es war ein Badezimmer. Der weiß gekachelte Fußboden und die Badewanne waren ziemlich stark mit rostbraunen Streifen und Flecken beschmiert. Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, stand Lupu immer noch an der anderen Tür und starrte mich mit großen Augen fast wie hypnotisiert an. „Machen wir weiter, Mihai“, sagte ich mit erstickter Stimme und deutete auf das Bett, wo ich erst jetzt, nachdem ich aus dem Bad gekommen war, etwas wahrnahm, das den Umrissen eines menschlichen Körpers entsprach. 20
Lupu fuhr zusammen und nickte, nur widerwillig zustimmend. Als ich mich dem Bett näherte, zog er es vor, in einiger Entfernung hinter mir zu bleiben. Wahrscheinlich verspürte er das instinktive Bedürfnis, sich zu verstecken und sowenig wie möglich zu sehen. Ich hätte es auch lieber gehabt, wenn noch jemand vor mir gestanden hätte. Ich gab mir einen Ruck und hob das Kopfkissen hoch. Seine Rückseite sah ich nicht an, denn das helle Nachthemd, das darunter lag, sagte mir genug. Nachdem ich beide Gegenstände auf einen in der Nähe stehenden Hocker gelegt hatte, sah ich mir das Bett und die Frau an, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Kissen lag. Ich betrachtete ihren entblößten Rücken und den Unterrock, der bis zu den Oberschenkeln heruntergezogen war. Sie war auf die gleiche Weise wie die in der Küche aufgefundene Person umgebracht worden. Ich drehte mich zum Staatsanwalt um. Wenige Augenblicke lang sahen wir uns fest in die Augen in der eitlen Hoffnung, daß wir das apokalyptische Bild, das sich vor uns aufgetan hatte, wieder verscheuchen würden. Die Leute vom Rettungswagen waren unbemerkt durch das Wohnzimmer hereingekommen. Wie auf ein Zeichen liefen wir schnell zur Tür wie Schüler, wenn es zur Pause klingelt. „Eine üble Sache, Nicu“, sagte Hauptmann Maier von der Kriminalistik und deutete mit dem Finger über die Schulter auf die Küche. „Sei nicht voreilig mit deinem Urteil. Sieh dir das dort mal an“, sagte ich und zeigte mit der gleichen Geste auf das Schlafzimmer, aus dem wir gerade gekommen waren. „Gibt es etwa noch ein Opfer?“ fragte er ungläubig. Ich nickte widerwillig und fuhr fort: „Seid ihr in der Küche fertig?“ 21
„Erst mit dem Fotografieren. Solange der Gerichtsarzt das Opfer untersucht, suchen die Jungs weiter nach Spuren.“ „Gut, geht ins Schlafzimmer“, meinte ich. Gerade als ich in die Küche wollte, erschien Dan kreidebleich. Während meines Gesprächs mit Maier war er ins Schlafzimmer gegangen, wo die zweite Leiche lag. „Ich glaubte schon, daß ich in den drei Jahrzehnten meiner Tätigkeit die Grenzen der Willensäußerung von zweibeinigen Bestien herausbekommen habe, doch man lernt nie aus“, sagte Dr. Capolide und stand neben der am Herd zusammengekrümmten Frau auf. „Doktor, geh bitte noch hinüber, wenn du fertig bist“, sagte ich und deutete auf die Wohnzimmertür. „Du mußt noch ein Opfer untersuchen.“ Resigniert mit den Achseln zuckend, ging er weg und schwenkte seine Tasche. „Wie steht’s, Costică?“ wandte ich mich an einen der beiden Unteroffiziere, die mit Lupu jeden Quadratzentimeter untersuchten. „Wie immer, Genosse Hauptmann. Wir suchen angestrengt nach Fingerabdrücken, vielleicht finden wir auch die, die Sie brauchen“, erwiderte er und zeigte auf das im Waschbecken zurückgelassene Beil. Ich trat an das Waschbecken und besah mir das Beil. Es hatte einen kurzen Stiel wie ein Hackebeilchen. Dann holte ich meine Lupe heraus, und ohne es zu berühren, untersuchte ich es. Der metallene Teil war mit einer rotbraunen Flüssigkeit beschmiert. Dann fiel mein Blick auf die Schneide. Sie war etwa fünf Millimeter breit. Stellenweise waren rötliche Rostflecken darauf zu erkennen. Ich sah mir auch das über dem Waschbecken an einem Haken hängende Handtuch und die Seife in dem Drahtbehälter an. Auf beiden waren braune Flecken zu erkennen. Als ich die Lupe gerade wieder einstecken wollte, merk22
te ich, daß ich noch etwas Wichtiges vergessen hatte. Ich machte kehrt, eilte zum Dienstboteneingang, ging rasch über den Hof zur Terrasse um die Korbsessel und den Korbtisch herum. Ich beugte mich über das Schloß zur Wohnungstür der Opfer und untersuchte es mit der Lupe. Als ich mit dem Sicherheitsschloß fertig war, untersuchte ich die Türfüllungen. „Positiv?“ wollte Dan wissen, der hinter mir aufgetaucht war. Ich schüttelte den Kopf. Um mein Gewissen zu beruhigen, überprüfte ich auch noch die Fensterrahmen der beiden Schlafräume. „Hier brauchen wir nicht mehr nachzusehen. Das Gazefenster ist Sicherheit genug“, meinte Dan, während wir auf dem Rückweg zur Dienstbotentreppe unter dem Fenster der Küche vorbeigingen, in der wir das erste Opfer entdeckt hatten. „Wenn wir noch berücksichtigen, daß die Zugangstür an der Dienstbotentreppe von innen verschlossen war, so haben wir bereits jetzt eine erste Eingrenzung vorgenommen“, stimmte ich ihm zu. Als wir wieder ins Wohnzimmer kamen, waren Lupu, Maier und Capolide im Gespräch. „Bist du damit einverstanden, daß wir die Leichen abholen lassen?“ wollte der Gerichtsarzt wissen. „Ich bitte sehr darum. Ich möchte endlich mit der Arbeit anfangen. Sage mir aber erst, ob du schon zu einer Meinung gekommen bist.“ „Beide Frauen wurden mit dem Beil umgebracht.“ „Das habe ich auch gemerkt.“ „Der Doppelmord wurde vor mindestens zweiundsiebzig Stunden begangen. Nach der Brutalität zu urteilen, mit der der Täter auf die Opfer eingeschlagen hat, nehme ich an, daß es sich um einen Psychopathen handelt.“ „Warum?“ „Jedem der Opfer wurden viel mehr Schläge versetzt, 23
als zum Tode notwendig waren. Er hat dermaßen zugeschlagen, daß ich den Eindruck habe, er wurde von einem krankhaften Trieb beherrscht. Es wird wohl ein Sadist sein.“ „Dieser Hypothese werden wir auch nachgehen. Vielleicht kannst du schon mal Verbindung mit deinem Kollegen aus der Nervenklinik aufnehmen.“ „In Ordnung. Ich werde von dort eine Liste der entlassenen Patienten anfordern, die zu einer solchen Tat fähig wären“, versicherte mir Capolide.
3 Um zwei Uhr nachmittags, als nur noch Dan, Maier und ich im Hause waren, berieten wir über unsere ersten Erkenntnisse. „Was sagen die Spuren aus, Eugen?“ wandte ich mich an Maier. „Der Täter hat offensichtlich Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wo er notwendigerweise seine Visitenkarte hätte hinterlassen müssen – wie beispielsweise am Stiel des Beils –, haben wir nichts gefunden. Das heißt, daß er Handschuhe getragen hat.“ „Abgesehen von der Tatsache, daß der Mörder auf normalem Wege ohne Einbruch ins Haus gekommen ist, müssen wir die Art und Weise, mit der er durch die Wohnung gegangen ist, um auch das zweite Opfer niederzuschlagen, beachten. Wenn wir also annehmen, daß ihm die Wohnung nicht unbekannt war, können wir davon ausgehen, daß er das Haus bereits vor dem Gewaltakt aufgesucht hatte, als er noch keine Handschuhe tragen mußte.“ „Ich habe in dieser Wohnung alles abgenommen, was es an Fingerabdrücken gab. Wenn ich die Abdrücke der 24
Opfer herausgefunden habe, sprechen wir noch einmal darüber.“ „Wie ist denn der Überfall eigentlich vor sich gegangen?“ „Er begann im Schlafzimmer und endete in der Küche, wo der Täter seine Mordwaffe im Waschbecken ließ und sich die Hände gewaschen hat.“ Während wir ihm vom Schlafzimmer in die Küche folgten, bückte er sich mehrmals und zeigte uns ein paar kleine braune, mit Kreide markierte Flecke. Sie waren fast nicht mehr zu erkennen. Als wir in der Küche waren, meinte er: „Wenn der Weg der Mordwaffe hier endet, so ist eigentlich klar, daß die Blutspuren den Weg des Mörders nach Benutzung des Beils im Schlafzimmer zeigen. Sehen Sie die Dinge etwa anders?“ Ich machte eine verneinende Kopfbewegung und trat an den Gasherd. Auf einem Brenner stand ein Stieltöpfchen. Ich beugte mich darüber und roch an der Flüssigkeit, mit der das Töpfchen dreiviertel voll war. „Tee“, stellte ich fest. „Warum ist die Flamme eigentlich aus?“ fragte Dan und zeigte mir den geöffneten Hahn des entsprechenden Brenners. Einen Augenblick lang wußte ich nicht, worauf er hinauswollte, dann sah ich nach, ob der hintere Hahn, nämlich der Absperrhahn, nicht etwa zu war. Er war es nicht, denn es gab überhaupt keinen. Der Herd wurde mit einer Flasche betrieben, die allerdings fehlte. Als Dan bemerkte, daß ich das freie Ende des Gasschlauchs erstaunt betrachtete, entfuhr es ihm: „So ein Blutbad wegen einer Gasflasche?“ „Ausgeschlossen!“ wandte Maier ein. „Es handelt sich wohl mehr um den kindischen Versuch, die Untersuchungen auf eine falsche Fährte zu lenken. Die Schwere der Tat schließt mit Sicherheit das Motiv Raub aus.“ 25
„Eugen“, wandte ich ein, „wir dürfen aber schließlich nicht vergessen, daß das ganze Haus umgestülpt wurde. Der Verbrecher hat also etwas gesucht, das ihm nicht gehörte. Sonst hätte er ja gewußt, wo sich dieses ‚Etwas‘ befindet. Insofern dürfen wir das Tatmotiv Raub nicht ausschließen.“ Hauptmann Maier sah mich einen Augenblick lang verdutzt an und meinte dann: „Vielleicht war er auf der Suche nach einem Wertgegenstand, das gebe ich zu, aber daß das Ziel seines Handelns die Entwendung einer armseligen Gasflasche war, möchte ich eigentlich nicht annehmen! Ist es denn nicht möglich, daß sie gerade zum Umtauschen weggegeben war oder irgendeinem Bekannten geborgt worden war?“ „Nicht möglich, Genosse Hauptmann!“ unterbrach ihn Dan. „Sowohl die Betriebsbereitschaft des Herdes als auch das Stieltöpfchen darauf zeigen eindeutig, daß der Überfall zu einem Zeitpunkt erfolgte, als das Opfer gerade Tee kochte. Infolgedessen hätte die ‚Ausleihe‘, wie Sie es nennen, erst nach dem Überfall erfolgen können, als nur noch der Täter da war.“ Da sich der Disput der beiden noch lange ergebnislos hätte hinziehen können, bat ich Maier, die Mordwaffe ins Labor zu bringen und mir schnellstens zu berichten, was bei der Überprüfung der in der Wohnung abgenommenen Fingerabdrücke herausgekommen war. Während das Auto über den modernen Bulevard Ion Sulea fuhr und ich mir die Neubauten ansah, merkte ich, daß ich mich wieder richtig wohl fühlte. Nachdem ich die Wohnung in der Strada General Demostene verlassen hatte, hatte ich auch die verwirrenden Eindrücke von dort abgestreift. Ich befand mich wieder unter Menschen, die arbeiteten und sich des Lebens erfreuten. Sie, die sich geschäftig auf den Straßen drängten oder gemächlich spazierengingen, ahnten nichts davon, was am 26
Rande der Gesellschaft passieren konnte. Und das war eigentlich ganz gut so! Um diese Dinge kümmern wir uns, eine Handvoll Anonymer, die wir den Auftrag haben, die vielen Ehrbaren zu schützen und die Gewissenlosen zu isolieren, die die Grundwerte unseres Landes, die der menschlichen Gesellschaft, verachten. „Wir sind da, Chef!“ unterbrach Dan meine Meditation und zeigte mir das Punkthaus, vor dem wir hielten. Nachdem ich im Fahrstuhl auf den Knopf der neunten Etage gedrückt und dieser sich in Bewegung gesetzt hatte, atmete ich erleichtert auf. Da ich in den Zeitungen genug darüber gelesen hatte, wie die Fahrstühle in Neubauten funktionieren, wollte ich nicht unbedingt eine persönliche Erfahrung machen. Damit die Zeit nicht ganz und gar vertan war, mußte noch eine Bedingung erfüllt werden: Die gesuchte Person mußte zu Hause sein! Und sie war es auch. Kaum hatte Dan auf den Klingelknopf gedrückt, da ging auch schon die Tür auf. Eine etwa dreißigjährige Frau öffnete. Sie war klein und hatte einen mehr durchsichtigen als blauen Morgenrock an. Ihr Gesicht mit zwei kleinen rehbraunen Augen, einer langen und spitzen Nase, wie ein Mützenschirm über einem großen Mund, wurde von kastanienbraunem, glattem Haar eingerahmt. Ihr Haar mochte wohl noch länger als die Zöpfe unserer Vorfahren sein. Lächelnd machte sie uns die Tür auf. Als sie uns in Augenschein genommen hatte, wurde sie vorsichtiger und wollte uns einreden, wir hätten uns in der Wohnung geirrt. Ich ließ ihr jedoch keine Zeit, ihre schmalen Lippen zu öffnen. Rasch teilte ich ihr mit, wie wir hießen und womit wir uns befaßten. Letzteres weckte ihr Interesse, und sie bat uns einzutreten. Sie hatte eine Zweizimmerwohnung. Wir wurden in das linke Zimmer, eine Art Wohn- und Arbeitszimmer eingelassen und nahmen 27
in zwei Sesseln Platz. Sie selbst setzte sich auf ein Sofa, von dem uns ein runder Klubtisch trennte. „Haben Sie herausbekommen, was mit Marieta ist?“ fragte Cristina Damian überstürzt, als ich es mir gerade im Sessel bequem machen wollte. „Weshalb halten Sie die Abwesenheit Ihrer Kollegin, der Lehrerin Marieta Stanciu, für verdächtig?“ Ich drehte den Spieß mit berufsmäßiger Routine um. „Weil sie immer ein gewissenhafter Mensch war. Wenn sie einmal fehlen oder später kommen mußte, rief sie mich an. Sie gehört nicht zu denen, die ohne triftigen Grund fernbleiben. Wenn ich Sie umsonst bemüht habe, tut es mir sehr leid.“ „Sind Sie befreundet oder nur Kolleginnen?“ unterbrach Dan die Entschuldigungen. „In erster Linie befreundet.“ „Es besteht aber doch ein beträchtlicher Altersunterschied zwischen Ihnen“, bemerkte ich und dachte, daß ein Kompliment bei einer Frau nie schaden kann. „Das stimmt“, meinte sie dankbar und lächelte mich an, „doch das hinderte uns nicht daran, uns näher kennenzulernen und Freundschaft zu schließen. Sie ist ein sehr guter Mensch, und als ich vor drei Jahren als Sekretärin anfing, empfanden wir gleich Sympathie füreinander. Ich bin ihr dankbar für die offene und freundschaftliche Art, mit der sie mir gleich seit dem ersten Tag meiner Arbeit in der Schule begegnete. Im Gegensatz zu den anderen Lehrern, die mich von oben herab behandelten, weil ich nicht studiert hatte. Obwohl ich ein Fernstudium am Polytechnikum betreibe. Dieses Jahr lege ich mein Staatsexamen ab und fange in der Industrie an“, verkündete sie uns voller Stolz. „Besuchen Sie sich auch gegenseitig?“ wollte ich wissen. „Selbstverständlich! Wir gehen sogar miteinander einkaufen. Besonders in den beiden letzten Wochen, als Ma28
rieta zu Geld gekommen war. Gleich nach dem Dienst in der Schule gingen wir auf einen Einkaufsbummel.“ „Sie hat wohl im Lotto gewonnen?“ „Ach wo! Sie hat ihre Wohnung im ersten Stock verkauft.“ „Hat sie viel Geld dafür bekommen?“ „Achtzigtausend Lei, die Hälfte davon bekommt sie in zwei Monaten, wenn der Käufer, Ingenieur Cozma, wieder nach Rumänien kommt.“ „Wohin ist er gefahren?“ „Ich glaube nach Indien, er treibt geologische Erkundungen oder so etwas.“ „Wer bewohnt jetzt die Wohnung in der ersten Etage? Die Familie des neuen Eigentümers?“ „Oben wohnt niemand. Herr Cozma hat seine Familie mitgenommen. Nach dem Kauf der Wohnung hat er es lediglich bei der Renovierung belassen. Wie er sich äußerte, wollte er sich erst einrichten, wenn er wieder nach Rumänien zurückkehrt.“ „Das heißt also, daß Ihre Freundin immerhin etwa vierzigtausend Lei im Hause hat“, stellte Dan voller Bewunderung fest. „Ach wo! Nur ein paar hundert Lei. Seit sie die Anzahlung bekommen hat, war sie redlich bemüht, das Geld kleinzukriegen. Daran habe ich auch beträchtlichen Anteil“, sagte sie und sah zum drittenmal auf die Uhr. Anfangs hatte ich geglaubt, es sei eine Aufforderung, unseren Besuch abzukürzen, dann allerdings merkte ich, daß sie unruhig war. Als sie die Tür geöffnet hatte, hatte sie wohl jemand anders erwartet. „Hat sie denn schon soviel Geld ausgegeben?“ fragte ich und tat überrascht. Ich war es allerdings auch. „Wundert Sie das?“ fragte sie belustigt. „Wir Frauen sind doch Spezialisten auf diesem Gebiet.“ „Wirklich?“ meldete Dan seine Zweifel an. „Na ja, sie hat das Geld nicht zum Fenster hinausge29
worfen“, versicherte sie uns. „Sie hat sich nützliche Dinge gekauft. Ein Perserteppich und ein Kühlschrank haben allein schon über zwanzigtausend Lei gekostet.“ Als sie an unseren Mienen merkte, daß sie uns nicht sonderlich überzeugt hatte, fuhr sie mit ihren Erklärungen fort. „Marieta hat den Eindruck, daß ihre Verwandtschaft sie beerben will. Davon war sie nie begeistert. Aus diesem Grunde entschloß sie sich, die obere Wohnung zu verkaufen und sich einige Dinge zuzulegen, die sie schon immer gern haben wollte. Kann man ihr den Wunsch verübeln, die Früchte der Arbeit ihres ganzen Lebens zu genießen?“ Ich nickte zustimmend und nahm an, ich hätte das Motiv für den Doppelmord erfahren. Um den Täter zu ermitteln, brauchte ich nur noch festzustellen, welche Personen Kenntnis von dem vor zwei Wochen getätigten Kauf hatten. Diese Angelegenheit kam mir nicht kompliziert vor. Demzufolge entschloß ich mich, diesen Weg einzuschlagen. „Frau Damian, hat die Lehrerin Marieta Stanciu viele Verwandte?“ „Nur die Schwester ihrer Mutter, eine alte Frau, die in der Provinz lebt, ich glaube in Brăila. Sie hat wohl auch noch ein paar Vettern in Bukarest, hat aber keine Verbindung zu ihnen. Meinen Sie vielleicht, daß sie weggefahren ist, um ihre Verwandten zu besuchen?“ Ich nickte leicht mit dem Kopf, so daß sie glauben konnte, was sie wollte, und fragte weiter: „Könnten Sie mir die Personen nennen, die Frau Stanciu zu Hause besuchten?“ „Sicher. Nichts leichter als das“, meinte sie, wurde allerdings unterbrochen, als es klingelte. Sie sprang vom Sofa auf, warf eine Entschuldigung hin und stürzte auf den Flur. Während die Wohnungstür erst geöffnet und dann wieder geschlossen wurde, ver30
nahm ich Tuscheln. Dann kam die Dame des Hauses wieder in Begleitung eines Mannes, der einer Modezeitschrift „Der letzte Schrei“ entsprungen zu sein schien. Vielleicht war er auch der Dressman einer Konfektionsfirma und war in Arbeitskleidung von einer Modenschau weggegangen. Da mich des Rätsels Lösung überforderte, verschob ich die Angelegenheit auf eine Mondnacht meines Sommerurlaubs, den ich mit meiner Verlobten am Meer verbringen würde. „Gestatten Sie, daß ich sie miteinander bekannt mache: Ingenieur Johnny Ghiţă, mein künftiger Ehemann“, teilte sie uns mit. Dann wandte sie sich wieder dem Neuankömmling zu. „Die Herren sind Offiziere der Miliz.“ „Offiziere der Miliz?“ brachte er erstaunt hervor und spitzte seine Lippen. Er war groß und sah sehr gut aus. Allem Anschein nach war er nicht einmal 25 Jahre alt. Sein affektiertes Äußeres und sein einstudiertes Gehabe erinnerten an eine junge Geisha. Ich sagte mir, daß er Ähnlichkeit mit Elvis Presley hatte, obwohl ich nicht wußte, ob der Star sich auch so stark zu parfümieren pflegte. „Habe ich dir nicht gesagt, daß Marieta seit ein paar Tagen nicht mehr in der Schule war?“ „Und was hat die Miliz damit zu tun?“ fragte er und zündete sich eine Dunhill an. „Ja, das ist so üblich, Herr Ingenieur“, bemerkte ich. „Hinter einem unentschuldigten Fehlen oder Verschwinden können sich manchmal ernsthafte Dinge verbergen, für die sich die Miliz interessiert.“ Offensichtlich konnte ich ihn nicht sehr von meiner Aussage überzeugen, denn er sah sich belustigt die Tapete hinter mir an und paffte verträumt seine Zigarette. „Sie sind bei den Personen stehengeblieben, die Ihre Freundin besucht haben“, erinnerte ich die Dame des Hauses. 31
„Ja, richtig! Nun, außer Johnny und mir, der mich allerdings selten begleitet hat …“ „Na ja, die Gespräche zwischen zwei Frauen, von denen die eine schon lange nicht mehr ganz jung ist, sind nicht gerade verlockend“, unterbrach sie der Verlobte mit dem überlegenen Lächeln eines Akademikers. Da ich ihm nicht widersprechen konnte, bat ich Frau Damian um die weitere Aufzählung der Personen, die Zutritt zur Wohnung der beiden Opfer hatten. „Außer der Putzfrau Anica kam manchmal noch Herr Anton Costea, der die Mansarde in Marietas Haus bewohnt. Das sind sämtliche Personen, die ihr Haus aufsuchten.“ Ich sagte mir, daß ich eigentlich eine leichte Aufgabe hatte. Ich mußte nur meine beiden Gesprächspartner, den Lehrer aus der Mansarde und die Putzfrau durchleuchten. Und wenn ich dann noch bedachte, daß von den vier verdächtigen Personen nur zwei Männer waren, brauchte ich nicht einmal voll aufzudrehen, und schon war der Täter in meiner Hand. „Was für einen Familienstand hatte Frau Marieta Stanciu? War sie verwitwet?“ fragte ich. Mir wurde erst klar, daß ich zum erstenmal die Vergangenheit benutzt hatte, als sie zusammenzuckte und mich eindringlich ansah. „Sie ist geschieden. Ich verstehe nicht recht. Warum sagten Sie ‚hatte‘? Ist etwas passiert?“ Bisher war ich nur meiner beruflichen Pflicht nachgegangen, die darin besteht, möglichst viel zu erfahren und möglichst wenig zu sagen. In diesem Augenblick begann der unangenehmere Teil meines Auftrags. Ich mußte ihr die Wahrheit sagen. Eine häßliche Wahrheit, die behutsam angekündigt wird. Für derartige Situationen brauchte man ein Einfühlungsvermögen, das ich wohl nicht besaß. Ich entschloß mich zu einem Umweg. „Ihre Freundin befindet sich in ernstem Zustand.“ 32
„Ja, aber sie war doch vollkommen gesund.“ „Sie hatte einen Unfall“, sprang mir Dan hilfreich zur Seite. „Mein Gott! Und wo ist ihre Mutter, Frau Panaitescu?“ Ich sah sie an, ohne ihr eine Antwort zu geben. „Ist sie gestorben?“ fragte sie laut, mit erstickter Stimme. „Und Marieta?“ wollte sie weiter wissen, als sie sah, daß ich nickte. „Wie ist es passiert?“ fragte Johnny Ghiţă erstaunt, der offensichtlich nicht mehr in den höheren Sphären seiner Angelegenheiten schwebte. „Wir haben beide ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden.“ „Ermordet …“, wiederholte Frau Damian, als müßte sie erst den Sinn dieses Wortes begreifen. Da ich wußte, daß das einzige Mittel gegen schockierende Hiobsbotschaften darin bestand, den Betreffenden gleich abzulenken, fuhr ich mit meinen Fragen fort: „Frau Damian, jetzt, da Sie wissen, worum es geht, bitten wir Sie, uns bei der Ergreifung des Täters zu unterstützen.“ „Wie soll ich Ihnen helfen?“ unterbrach sie mich matt und mit Tränen in den Augen. „Wann hat sie sich von ihrem Mann getrennt?“ „Als ich an der Schule anfing. Ich glaube, es sind jetzt etwa zwei Jahre seit ihrer Scheidung.“ „Haben Sie ihren Mann gekannt?“ „Ja. Bis zur Rente war er auch Lehrer an unserer Schule.“ „Können Sie uns sagen, wo er wohnt?“ „In der Strada Italiană, die Nummer weiß ich allerdings nicht.“ „Hat der geschiedene Mann Ihres Wissens Frau Stanciu noch besucht?“ „Nein, und zwar weil er sich mit Marietas Mutter nicht verstanden hat. Übrigens war das auch der Grund 33
für ihre Trennung. Marieta hat aber die Verbindung mit ihm aufrechterhalten.“ „Wo wohnt die Putzfrau Anica?“ fragte Dan, als er seinen Notizblock, auf dem er das Gespräch mitstenografierte, durchgeblättert hatte. „Ich weiß es nicht! Ich habe sie noch nicht besucht“, versuchte sie zu scherzen. Sie rang sich aber nur ein müdes Lächeln ab. „Vielleicht ist der Täter ein Dieb, der wußte, daß im Haus zwei wehrlose alte Frauen sind. Und so hat er sie eben überfallen“, versuchte uns Herr Ghiţă einzureden. Ich machte eine verneinende Bewegung. „Es ist erwiesen, daß der Mörder zum Kreis der Personen gehört, die die Opfer besuchten.“ „Dann müßten Sie eigentlich auch den Typ oben in der Mansarde fragen. Sein dünkelhaftes Benehmen und sein dreistes Gesicht haben mir noch nie gefallen“, wollte uns Herr Ghiţă weiter behilflich sein. Dabei hatte er wohl aus meiner Feststellung nicht herausgehört, daß auch er zu den Verdächtigen gehörte. Ich verkniff mir die Bemerkung, daß mir sein Playboygehabe auch nicht gefiel. Es hatte ja keinen Sinn. Ich wollte die Antipathien und Sympathien, die die in eine kriminalistische Untersuchung verwickelten Personen in mir hervorriefen, nicht zur Geltung kommen lassen. „Frau Damian, bitte sagen Sie mir, wann Sie Marieta Stanciu zuletzt gesehen haben“, bat ich sie, während ich eine Kopfbewegung zu Herrn Ghiţă hin machte, um ihm kundzutun, daß ich ihm für seine wertvollen Hinweise dankbar war. „Donnerstag nachmittag gegen drei Uhr, als sie die Schule, verließ.“ „Wollten Sie sich an diesem Tage noch einmal treffen?“ „Ursprünglich ja. Wir hatten einen Tag zuvor abgesprochen, daß sie mich zu ihrer Schneiderin mitnimmt. 34
Als sie wegging, bat sie mich jedoch, diesen Weg zu verschieben, weil sie an diesem Tag sehr viel zu tun hatte.“ „Hat sie gesagt, was?“ wollte ich wissen. „Sie hatte eine Klassenarbeit schreiben lassen und mußte die Arbeiten am nächsten Tag zurückgeben. Das erfordert viel Zeit, wirklich. Wenn man noch bedenkt, daß sie einem Schüler noch Privatunterricht gab, ist es schon klar, daß sie nicht noch mit mir weggehen konnte.“ „Gab sie den Privatunterricht zu Hause?“ kam mir Dan mit seiner Frage zuvor. „Nur für einen Schüler, für Ilie Porumbaru aus der zwölften Klasse. Er ist ein hervorragender Schüler, um den sie sich schon seit der fünften Klasse gekümmert hat.“ „Frau Damian, was haben Sie am nächsten Tag, Freitag, gemacht, als Sie feststellten, daß Marieta Stanciu nicht in die Schule gekommen war?“ fragte ich. „Den ganzen Freitag habe ich im Ministerium auf verschiedenen Anleitungen zugebracht. Ich stellte erst am Sonnabend fest, daß Marieta nicht in der Schule gewesen war, als die Schüler auf mich einstürmten und wissen wollten, wie die Arbeiten ausgefallen waren. Ich wollte Marieta anrufen, aber es meldete sich niemand. Da ich noch andere Dinge zu erledigen hatte, gab ich es schließlich auf. Erst Montag früh, als ich merkte, daß Marieta immer noch nicht zur Schule kam und sich auch niemand am Telefon meldete, dachte ich, daß sie vielleicht krank oder der Apparat gestört war. Ich ging sofort bei ihr zu Hause vorbei, aber niemand machte auf. Am gleichen Tag ging ich noch zweimal umsonst hin. Nun begreife ich. Die Armen …“, sagte sie und vergrub ihr Gesicht schluchzend in ihren Händen. Ich wollte, daß sie sich beruhigte, und fragte Herrn Ghiţă, der sehr mit den Bügelfalten seiner Hose beschäftigt war: „Können Sie zur Aussage von Frau Damian noch etwas hinzufügen?“ 35
„Außer der Vermutung über den Typ aus der Mansarde eigentlich nichts.“ „Nehmen wir an, wir müßten uns noch einmal mit Ihnen unterhalten, wo können wir Sie erreichen?“ wollte Dan wissen. „Hm, warum wollen Sie sich denn noch einmal mit mir unterhalten? Ich habe Ihnen doch alles gesagt, was ich weiß. Ich war zwei- oder dreimal dort und kenne Frau Stancius Besucher nicht.“ „Unabhängig von der Tatsache, daß Sie alles gesagt haben, was Sie wissen, schließen wir die Möglichkeit eines neuen Gesprächs nicht aus, da Sie die Opfer gekannt haben und somit Zeuge sein können. Deshalb müssen wir wissen, wo wir Sie erreichen können“, erklärte ich ihm. Um Zeit zu gewinnen, drehte und wendete er sich auf dem Sofa, den Blick auf die Bügelfalten seiner Hose gerichtet. Ich muß gestehen, daß mir das Zögern des Dandys ebenso mißfiel wie er selbst. War er noch bis vor kurzem auf Grund der Tatsache, daß er zum Kreis der Besucher gehörte, nur einfach ein Verdächtiger unter anderen gewesen, so rückte er nunmehr eine Stufe höher und kam in die engere Wahl der Verdächtigen. Gerade wollte ich ihm auseinandersetzen, wie ich die Lage im Lichte seiner Ausflüchte sah, als die Dame des Hauses ärgerlich bemerkte: „Johnny, ich verstehe dich nicht! Warum sagst du nicht, daß du bei mir wohnst?“ „Weil wir noch nicht verheiratet sind. Ich wollte nicht, daß die Herren eine schlechte Meinung von dir bekommen“, versicherte er ihr und warf sich stolz in die Brust wie ein mittelalterlicher Ritter als Herzensbrecher. Da der Süße nicht den Eindruck auf mich machte, als kümmere er sich sehr um den Ruf einer Frau, sagte ich mir, daß es nicht schaden könnte, die Sache etwas voranzutreiben. „Haben Sie eine Aufenthaltserlaubnis?“ 36
„Ich glaubte, Sie seien mit einer anderen Absicht hierher gekommen“, warf die Dame des Hauses halb vorwurfsvoll, halb bittend ein. „Dieses Problem habe ich vernachlässigt, aber ich verspreche Ihnen, daß ich mich gleich morgen darum kümmere.“ Angesichts ihres flehenden Tones ließ ich davon ab. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Schließlich war ich nicht für Verstöße gegen die Meldeordnung zuständig. Ich wandte mich also einer anderen Sache zu. „Was machen Sie eigentlich von Beruf, Herr Ingenieur?“ „Ich bin Agronom.“ „Und wo arbeiten Sie?“ „Ich arbeite in der Werbeabteilung des UCECOM. Wissen Sie, ich wollte nicht aufs Land gehen, wohin ich gelenkt wurde“, fügte er ergänzend hinzu und rümpfte verächtlich die Nase. „Und woher stammen Sie? Aus Bukarest?“ „Nein, aus der Gemeinde Hălăuceşti bei Piatra Neamţ. Meine derzeitige Arbeit betrachte ich als etwas Provisorisches. Ich habe die Absicht, in einem Landmaschinenwerk anzufangen, doch dazu brauche ich einen festen Wohnsitz in der Hauptstadt.“ Endlich hatte ich die Beziehung zwischen meinen beiden Gesprächspartnern begriffen. Sie gehörte zu den Frauen, die um die Dreißig von Torschlußpanik gepackt werden. Er seinerseits nutzte dieses Gefühl mit dem Bestreben aus, eine möglichst bequeme Position zu bekommen. Wenn er sie erst erlangt hat, sucht er nach einer noch besseren. Gegebenenfalls würde er die erste Ehe lösen, zugunsten einer anderen, die seinem Streben nach Karriere noch mehr entgegenkommt. Nachdem ich das Wesen des Mannes durchschaut hatte, fiel mir ein, daß ich eigentlich meine Zeit damit vertat. Ich war schließlich nicht deshalb gekommen. „Wie ist Ihre Arbeitszeit?“ 37
„Von halb acht bis vier Uhr nachmittags“, gab er mir zur Antwort und erwartete vielleicht, daß ich ihn bedauerte, auf welche Weise er ein Drittel seiner kostbaren Zeit verbringen mußte. „Könnten Sie uns sagen, was Sie vergangenen Donnerstag nach Dienstschluß gemacht haben?“ fragte Dan, ohne von seinen Notizen aufzusehen. Nach der Art, wie sich Herr Johnny gebärdete, hätte man wohl annehmen können, daß Dan ihn in der Inkasprache gefragt hatte. Er sah meinen Mitarbeiter, der seine Notizen noch einmal sorgfältig durchlas, an, als wartete er noch auf die Übersetzung. Schlagfertig kam ihm Frau Damian wieder zu Hilfe, worüber ich allerdings nicht gerade erfreut war. „Er ist zerstreut wie alle Männer. Da wir den ganzen fraglichen Nachmittag zusammen waren, erlaube ich mir, Ihnen auf diese Frage zu antworten.“ Dan bekundete sein Einverständnis durch mehrmaliges Kopfnicken. Da der Befragte immer noch wie ein Ölgötze dasaß, blieb ihm keine andere Wahl. „Um vier Uhr nachmittags habe ich ihn vom Dienst abgeholt. Wir sind ins Restaurant ‚Pescarul‘ essen gegangen. Als wir fertig waren, sind wir gegenüber ins Kino ‚Scala‘ gegangen. Die Eintrittskarten hatte ich schon auf dem Weg zu seinem Büro gekauft. Als der Film gegen neun Uhr abends zu Ende war, sind wir nach Hause gegangen und haben noch etwas ferngesehen. Bis zum nächsten Morgen, als wir wieder zur Arbeit gingen, haben wir das Haus nicht mehr verlassen“, schloß sie ihre Aussage und lächelte Dan ironisch an, den sie aus dem Feld geschlagen zu haben glaubte. Wahrscheinlich auch deshalb, weil der Lange es nicht gewagt hatte, sie auch nur einen Augenblick lang anzusehen. Ich sagte mir, daß unter den gegebenen Umständen nicht mehr rauszuholen war. Wo gab es schließlich ein Alibi, das nicht von der befragten, sondern von einer 38
anderen Person erbracht wurde? Ich erhob mich also und bat die beiden um Entschuldigung für die Zeit, die wir ihnen geraubt hatten. Ehe ich in Begleitung von Frau Damian auf den Flur ging, drehte ich mich noch einmal zu Herrn Ghiţă um und bat ihn um die Adresse der Institution, der er das Recht zugebilligt hatte, sich seiner wertvollen, wenn auch nur vorübergehenden Dienste zu bedienen. Erst als er meine Neugierde befriedigt hatte, ging ich.
4 Als wir auf der Straße angelangt und ins Auto eingestiegen waren, war es drei Viertel sechs. Ich beriet mich mit Dan, und wir waren uns einig, daß noch Zeit genug war, um unsere Untersuchungen fortzusetzen. Obwohl wir noch nicht gegessen hatten, waren wir überhaupt nicht hungrig. Kein Wunder, denn wir hatten gesehen, auf welche Weise die beiden Frauen umgebracht worden waren. Ich ließ uns von Vartunian zum Gerichtsmedizinischen Institut fahren. Dr. Capolide war gerade mit der Untersuchung der beiden Leichen fertig. Das bedeutete aber noch längst nicht, daß er uns weiterhelfen konnte. Ausgangspunkt einer kriminalistischen Untersuchung ist immer die Festlegung des Zeitpunktes, an dem das Verbrechen begangen wurde. Der Gerichtsarzt teilte uns mit, daß der Doppelmord seiner Meinung nach vor vier bis fünf Tagen verübt worden war. Da es für uns äußerst wichtig ist, die Stunde und sogar die Minute des Mordes zu kennen, war unser Optimismus noch gedämpft. „Wie steht es mit der Liste der Psychopathen, die diese Tat zu vollbringen imstande wären?“ wollte ich wissen und stand verdrossen wieder auf. 39
„Die Liste habe ich angefordert. Ich hoffe, daß ich sie in etwa vier bis fünf Tagen bekomme.“ Als ich schon wieder an der Tür war, hielt er mich noch einen Augenblick zurück. „Hauptmann, da ist noch etwas, was Sie interessieren könnte. In der Wunde des Opfers aus der Küche befanden sich Spuren der Blutgruppe des Opfers aus dem Schlafzimmer …“ Ich nickte und ging. Capolides Feststellung kam zu spät. Die Reihenfolge der Ermordung der Opfer hatte ich mit Maier im einzelnen bereits bei der Untersuchung festgestellt. Auf dem Wege zur Wohnung der Ermordeten ging ich beim Milizrevier vorbei, das auch für die Strada General Demostene zuständig war. Ich sprach mit dem Leiter der Dienststelle und bat ihn, daß seine Leute mit allen Einwohnern dieser Straße Gespräche führen sollten. Schließlich konnte man ja nicht wissen … Ein aufmerksamer Zeuge, und vielleicht ist damit die Untersuchung schon fast gelaufen. Als ich die Anschrift von Marieta Stancius Ex-Ehemann hatte, ging ich wieder. Der Unteroffizier, der vor dem Hause Wache stand, meldete uns, daß niemand versucht hatte, in den Hof des Gebäudes einzudringen oder etwas über die Mieter in Erfahrung zu bringen. „Da sieht man es mal wieder! Da gibt es immer noch Leute, die daran glauben, daß Mörder unweigerlich wieder an den Ort ihres Verbrechens zurückkehren“, scherzte Dan etwas verbittert. Ohne darauf einzugehen, begab ich mich zum Dienstboteneingang. Wir machten einen Rundgang durch sämtliche Zimmer, ohne daß wir so recht wußten, was wir eigentlich suchten. Im Wohnzimmer machten wir halt. Geistesabwesend sah ich auf das Parkett, das unter unseren Schritten fürchterlich knarrte. Wir stellten uns zwei 40
Stühle an den großen eichenen Tisch. Einen Augenblick fragte ich mich, weshalb er so weit weg von der Zimmermitte stand, wo dieser Einrichtungsgegenstand normalerweise plaziert wird. Ich sagte mir jedoch, daß jedes Haus seine eigene Note hat, und hob einige Klassenarbeitshefte vom Fußboden auf. Zerstreut blätterte ich sie durch und stellte fest, daß sie korrigiert und mit Zensuren versehen waren. Während ich sehnsüchtig an die schönen Jahre dachte, als ich aufgeregt auf die Rückgabe der Klassenarbeiten gewartet hatte, rang ich mir ein Lächeln ab und warf die Hefte zu den anderen auf den Tisch., Meine Kindheit lag schon lange zurück, und nun beschäftigte ich mich mit Dingen, die genau das Gegenteil von Unschuld und Seelenfrieden waren. Plötzlich war mein Ausflug in die Schulzeit zu Ende. Wie aus einem tiefen Schlaf erwacht, begann mein Hirn wieder zu arbeiten. Ich nahm die Hefte, die ich eben auf den Tisch geworfen hatte, und sah nach dem Korrekturdatum. „Dan“, sagte ich und stand auf, „wir müssen den Zeitpunkt des Verbrechens feststellen!“ „Der Gerichtsarzt sagte doch, daß …“ „Das ist mir gleich! Vier bis fünf Tage, das ist der Zeitraum, in den der Mord eingeordnet werden muß … mit einer Eingrenzung von achtundvierzig Stunden! Mit einer derartigen Feststellung kann man keine Ermittlungen anstellen!“ erwiderte ich unwirsch, als sei er schuld daran, daß uns der Arzt nicht weiterhelfen konnte. „Wo sollen wir denn den Hebel ansetzen?“ „Am Anfang! Wann wurde die Lehrerin das letztemal gesehen?“ „Nach der Aussage der Sekretärin“, meinte er und blätterte in seinen Notizen, „um drei Uhr, als sie sich voneinander verabschiedeten.“ „Und wann hätte sie mit den korrigierten Arbeiten wieder in der Schule sein müssen?“ 41
„Am nächsten Tag um acht Uhr früh. Mit dieser Feststellung bist du aber auch noch nicht viel weiter. Zwischen drei Uhr nachmittags und acht Uhr früh liegen nämlich immerhin siebzehn Stunden.“ „Natürlich! Dann müssen wir eben in Etappen vorgehen. Diese Arbeiten wurden in dem von dir genannten Zeitraum korrigiert“, sagte ich und wies auf die Klassenarbeitshefte. „Was meinst du, wie lange könnte die Korrektur und die Zensierung von etwa dreißig Arbeiten dauern?“ „Schwer zu sagen. Ich bin kein Lehrer. Vielleicht drei Stunden …“ „Das dachte ich auch etwa. Ehe sie anfing zu korrigieren, hat sie sich vielleicht noch umgezogen und etwas gegessen. Nach einem Arbeitstag wäre das schließlich normal.“ „Jetzt begreife ich!“ taute Dan auf. „Gegen sieben Uhr abends waren die beiden also noch am Leben.“ „Genau“, pflichtete ich ihm bei und gab ihm ein Zeichen, mir ins Schlafzimmer des Opfers zu folgen. „Warum waren eigentlich die Jalousien heruntergelassen?“ fragte ich und deutete auf das Fenster. „Vielleicht wegen der grellen Sonne …“ „Denkste!“ unterbrach ich ihn. „Es war immerhin bereits sieben Uhr abends.“ „Na gut! Wir haben doch aber festgestellt, daß sie um diese Zeit noch am Leben waren. Was soll’s? Geht aus irgendeiner Tatsache hervor, daß die alte Panaitescu die Jalousien vielleicht nicht schon um elf Uhr früh heruntergelassen hat?“ „Dan, die Jalousien waren nur an den Fenstern der durchstöberten Räume heruntergelassen“, gab ich ihm zu bedenken und tat sehr erregt. „Also in den Räumen, die nach dem Mord nach dem Geld durchsucht wurden, das Frau Stanciu durch den Verkauf der oberen Wohnung erhalten hatte. Soll das nur ein Zufall sein?“ 42
„Chef, wir müssen systematisch vorgehen. Nimmst du an, daß der Täter die Jalousien heruntergelassen hat, damit er von Passanten von der Straße aus nicht gesehen werden konnte?“ „Allerdings!“ seufzte ich absichtlich. „Bei dir ist der Groschen gerade gefallen, als ich es schon aufgegeben hatte.“ „Ich wußte gleich, worauf du hinauswillst, nur nicht weshalb!“ gab er mir ärgerlich zur Antwort. „Innerhalb von vierundzwanzig Stunden können die beiden Frauen zu jedem beliebigen Zeitpunkt ermordet worden sein. So sieht es doch aus!“ „Komm mit!“ sagte ich und ging in die Küche. Als wir am Gasherd standen, zeigte ich ihm das Stieltöpfchen. „Willst du wissen, was drin ist?“ „Nein. Du hast gesagt Tee, und ich möchte meinem Vorgesetzten nicht widersprechen“, meinte er verdrossen. „Ich bin dir dankbar für das Vertrauen, das du mir entgegenbringst“, sagte ich scheinheilig. „Wird Tee zu jeder beliebigen Tageszeit getrunken?“ „Es kommt darauf an. Die Engländer frönen diesem Brauch traditionell um fünf Uhr nachmittags, die Russen, wenn sie frieren, und über zuwenig Frost kann sich der Norden nicht beklagen.“ „Wir sind hier aber in Rumänien!“ unterbrach ich ihn. „Wenn Kaffee zu jeder Tageszeit getrunken wird, wüßte ich nicht, weshalb es bei Tee anders sein sollte.“ „Scherz beiseite!“ „Hm, wenn das Opfer aus dem Schlafzimmer nicht viel anhatte, können wir annehmen, daß es schlief. Ebenso schlief auch seine Mutter, bis sie von einer Neuralgie geweckt wurde und aufstand, um sich zum Beispiel einen Kamillentee zu kochen.“ „Im Topf ist aber schwarzer Tee.“ „Wenn man nicht den richtigen Tee hat, nimmt man 43
eben anderen. Was tut der Mensch nicht in der Not“, bemerkte er boshaft. „Dan, nochmals, die Alte war angezogen, und wenn du einen Blick in ihr Schlafzimmer wirfst, wirst du feststellen, daß das Bett gemacht ist.“ „Du hast recht!“ rief er, nachdem er mich einen Augenblick lang überrascht angesehen hatte. „Diese Kleinigkeit ist mir ganz entgangen.“ Erleichtert atmete ich auf. Wenn Dans Gegenargumente erschöpft waren, durfte ich an die Richtigkeit meiner Vermutung glauben. Für jemanden, der mit einer Untersuchung betraut ist, gibt es nichts Schlimmeres als die Verfolgung einer Spur, an der er selbst Zweifel hat. „Gut, Dan, jetzt hör mir zu und paß gut auf. Um frisch zu bleiben, gehen alte Leute meistens zeitig schlafen, spätestens um zehn Uhr abends. Diese Zeit ist auch die Grenze für Besuch. Damit der Tee keine Schlafstörungen verursacht, wird er zwei bis drei Stunden vor dem Schlafengehen getrunken.“ „Dann können wir also von der Annahme ausgehen, daß der Überfall zwischen sieben und zehn Uhr abends stattgefunden hat“, schloß er. Ich stimmte dem zu. „Dabei ist noch die Zeit zu berücksichtigen, die der Täter benötigte, um den Gegenstand für sein abscheuliches Handeln zu suchen. Ich würde also sagen, daß die Opfer zu Beginn dieser Zeitspanne zwischen sieben und zehn Uhr abends ermordet wurden. Das ist aber für uns nicht mehr so entscheidend. Jedenfalls hielt sich der Täter zwischen sieben und zehn Uhr abends im Hause der Opfer auf. Alle Verdächtigen müssen uns also sagen, was sie Donnerstag abend zur fraglichen Zeit getan haben.“ Dieser Meinung war ich auch. Ich sah auf die Uhr. „Es ist acht Uhr. Wenn du nichts dagegen hast, gehen wir noch einen Schritt weiter.“ 44
Auf dem Hof grüßte ein Unteroffizier, den wir noch nicht kannten. Er meldete uns, daß er die Nachtwache übernommen hatte.
5 Als wir ins Auto einstiegen, gab Dan Vartunian die Adresse, die wir vom Polizeirevier erhalten hatten. Zehn Minuten später bog das Auto vom Bulevardul Republicii in die Strada Italiană ein und hielt ein paar Häuser weiter vor einem Achtgeschosser. Wir gingen in den Hausflur und sahen auf die Mietertafel. Dann fuhren wir mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Vor der Wohnung 23 angekommen, lasen wir den Namen, der unter dem Spion in ein Metallschild eingraviert war: „Viorel Stanciu – Oberarzt“. Bevor Dan auf den Klingelknopf gedrückt hatte, ging die Klinke herunter, und die Tür öffnete sich lautlos. Aus der Wohnung trat ein Mann, der gerade seinen marineblauen Trenchcoat zuknöpfte. Er hatte schlohweißes Haar, doch sein Gesicht, das zerfurcht war, wie die Rinde einer alten Eiche, machte einen männlichen und draufgängerischen Eindruck, vor allem wegen seiner großen gebogenen Nase und des hervorstehenden Kinns. Seiner steifen Haltung nach hätte ich geschworen, daß er ein General im Ruhestand war. Als sein überraschter Blick auf uns fiel, befürchtete ich, daß er uns für Einbrecher hielt und gleich um Hilfe rufen würde. „Guten Abend. Wir möchten zu Herrn Alexandru Stanciu“, brachte ich schnell hervor, um ihm keine Zeit zu lassen, uns diesen Streich zu spielen. Schließlich ist es nicht sehr angenehm, wenn einem etwa zehn aufge45
brachte Nachbarn an den Kragen gehen und man fieberhaft nach seinem Ausweis sucht, sofern sie einem dazu überhaupt noch Zeit lassen, und man sich eine Erklärung abringt, daß es sich um eine Verwechslung handelt. „Das bin ich. Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragte er und blieb für alle Fälle in der Tür stehen. Nachdem wir uns vorgestellt und er sich ob unserer Anwesenheit beruhigt hatte, sagte er uns, daß er eine Verabredung hatte. Er entschuldigte sich, daß er uns nicht hereinbitten konnte. Da mir sein Vorschlag, ihn zu begleiten und ihm unterwegs zu erzählen, was uns zu ihm führte, nicht sonderlich zusagte, erklärte ich ihm, daß wir ihn in einer Angelegenheit aufsuchten, die nicht auf der Straße besprochen werden konnte. Aus einem einfachen Grund, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß Dan seine Aussage im Gehen mitschrieb. „Na ja, dann kommen Sie eben herein“, erklärte er nicht sehr begeistert. Wir folgten ihm durch den Korridor, dessen Wände Kleiderhaken zierten, und gelangten in einen Raum mit drei Türen. Außer einem niedrigen runden Tisch, auf dem lauter ausländische Zeitschriften lagen, bestand die Einrichtung nur aus Sesseln und Stühlen. Zweifellos befanden wir uns in einem Wartezimmer. „Glauben Sie, daß unser Gespräch lange dauert?“ fragte er, ohne seinen Trenchcoat aufzuknöpfen. Mit einer Bewegung forderte er uns auf, in den Sesseln Platz zu nehmen. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie Ihren Mantel ausziehen“, erwiderte ich, ohne direkt zu werden. „Die Verabredung, von der ich Ihnen erzählt habe, findet um halb neun im ‚Capşa‘ statt. Eigentlich wollte ich zu Fuß hingehen. Da Sie auf Ihrer Absicht bestehen, werde ich eben mit dem O-Bus fahren. Das heißt, daß 46
ich höchstens zehn Minuten Zeit für Sie habe“, teilte mir unser Gastgeber mit. „Ich werde mich bemühen, Sie nicht mehr als nötig aufzuhalten“, sagte ich. Um sicherzugehen, daß ich meine Zusage auch hielt, fragte er mich einfach, was ich wollte. Ich entsprach seinem Wunsch. „Kennen Sie die Lehrerin Marieta Stanciu?“ „Selbstverständlich! Sie ist meine Frau!“ rief er überrascht. „Sind Sie nicht geschieden?“ „Nein, wir leben nur getrennt.“ „Wann haben Sie Ihre Frau zum letztenmal gesehen?“ fragte Dan. „Vor etwa zehn Tagen.“ „Unter welchen Umständen haben Sie sie das letztemal gesehen?“ „Glauben Sie nicht, daß Sie etwas indiskret sind?“ fragte er Dan ärgerlich. „Sie ist schließlich meine Frau, und ich kann mich mit ihr treffen, wann ich will! Oder brauche ich dazu etwa eine Genehmigung der Miliz?“ Ich wollte mich schon einschalten, um einen Streit zu vermeiden, doch er gebot mir gebieterisch Einhalt. „Herr Hauptmann, bitte reden Sie nicht mehr herum! Was ist mit meiner Frau?“ Ehe ich den Mund auftun konnte, fuhr er mit einem leichten Beben in der Stimme fort: „Ist ihr etwas zugestoßen?“ Ich machte eine bejahende Bewegung. „Ist sie tot?“ fragte er im Flüsterton. Als ich nochmals bejahte, begann sein Kinn wie bei einem Schüttelfrostanfall zu beben, seine Hände, die bisher auf den Armstützen des Sessels geruht hatten, rutschten herab, seine Schultern fielen nach vorn. Er richtete sich aber so schnell wieder auf, daß ich ihn mit einem Stehaufmännchen verglich. 47
Später, als sich sein Kinn wieder von der Brust gehoben hatte, sah ich seine Augen. Obwohl er nicht weinte, waren sie gerötet. „Dabei habe ich ihr gesagt, daß sie sich kein Auto kaufen soll. Das fehlte gerade noch! Im Alter noch fahren lernen …“, sagte er niedergeschlagen wie im Selbstgespräch. „Hat sie Ihnen gesagt, daß sie sich ein Auto kaufen wollte?“ fragte ich. „Ja, aber ich habe sie nicht ernst genommen. Ich glaubte, sie wollte einen Scherz machen. Hat sie sehr gelitten?“ Ich war fast geneigt zu verneinen, um ihn zu schonen. Doch ich ließ es sein. Was sollte ich erst Ausreden erfinden, wenn ich ihm schließlich doch die Wahrheit sagen mußte? „Ich weiß es wirklich nicht. Ihre Frau hatte keinen Verkehrsunfall, sondern sie wurde ermordet. Kaltblütig ermordet, ebenso wie ihre Mutter.“ Er sah mich lange und ruhig an, als hätte er mir gar nicht zugehört. Dann stammelte er fassungslos: „Ihre Mutter auch … ermordet … Marieta …“ Er nahm seine schlaff neben den Lehnen baumelnden Hände hoch, legte sie auf seinen Unterleib und bewegte sie verzweifelt hin und her. An seiner rechten Schläfe bemerkte ich eine Vene, die stark pulsierend hervortrat. Ich befürchtete etwas Schlimmes. Starke Erregungen sind nichts für ein Herz, das sechs Jahrzehnte lang geschlagen hat. Ich stellte fest, daß er eine Cholerikernatur war. Wenn es mir nicht gelang, ihn zu beschwichtigen und abzulenken, mußte ich vielleicht noch die Herzklinik anrufen. „Herr Stanciu, aus unseren Ermittlungen hat sich ergeben, daß der Mörder im Bekanntenkreis Ihrer Frau und Ihrer Schwiegermutter zu suchen ist.“ „Denken Sie etwa auch an mich?“ unterbrach er mich und zeigte so, daß er meine Ausführungen doch aufmerksam verfolgt hatte. 48
Ich verneinte diese Frage ehrlichen Herzens. Übrigens verdächtigte ich meine zum erstenmal verhörten Zeugen nie, daß sie in die betreffende Angelegenheit verwickelt sein könnten. Später allerdings, wenn ich sie beim Schwindeln erwischte, kam es schon vor, daß ich sie verdächtigte. „Bitte nennen Sie uns die Personen, die Ihre Frau besuchten“, forderte ich ihn auf. „Ich glaube nicht, daß ich Ihnen dabei behilflich sein kann. In den letzten zwei Jahren, seit ich zu meinem Bruder hierhergezogen bin, habe ich ihr Haus nicht mehr betreten.“ „Sie haben sich doch aber auch weiterhin mit Ihrer Frau getroffen.“ „Nur in der Stadt, so alle zwei bis drei Wochen, wenn wir ins Theater gingen oder sie zu mir kam. Ich habe mich sehr gut mit Marieta verstanden. Wäre sie nicht von ihrer Mutter beeinflußt worden, hätten wir auch jetzt noch zusammen gelebt.“ „Waren Sie lange verheiratet?“ „Zwanzig Jahre.“ „Bei einer Schwiegermutter, die ihrem Schwiegersohn die Hölle heiß macht, ist das nicht wenig“, bedauerte ich ihn in der Absicht, ihn aus der Reserve zu locken. „Da irren Sie sich. Wir haben uns ganz prima verstanden, bis ich in Rente ging. Als sie einen Monat später feststellte, daß meine Einkünfte um ein paar hundert Lei zurückgegangen waren, erzählte sie mir, daß sie an meiner Stelle, anstatt zu Hause herumzusitzen, lieber Nachhilfeunterricht geben würde. Darauf erwiderte ich, daß ich es an ihrer Stelle ebenso machen würde. Ich nahm an, daß sie das nur so dahingesagt hatte. Am nächsten Tag nahm mich jedoch Marieta in die Mangel, sicher von ihrer Mutter angestachelt. Ich erklärte ihr, daß ich nach fast vierzig Dienstjahren, in denen ich Zehntausenden Kindern Wissen vermittelt hatte, auch 49
ein Recht auf Ruhe hatte. Insbesondere da uns das Gehalt meiner Frau, meine eigene sowie die Rente meiner Schwiegermutter mehr als ausreichten. Marieta gab mir schließlich recht, und zwei bis drei Wochen lang glaubte ich, daß die Angelegenheit erledigt war. Danach machte meine Schwiegermutter versteckte Anspielungen über eine bestimmte Person, die sich darin gefiel, den ganzen Tag zu faulenzen. Zunächst überhörte ich es einfach, dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen und redete Fraktur mit ihr, worauf sie mich mit einem Wortschwall überschüttete. Als Marieta aus der Schule zurückkam, rief ihre Mutter sie schnell in die Küche, um sie aufzuhetzen. Dann wiederholte sie mir gegenüber rasch die Argumente meiner Schwiegermutter, zu denen sie noch ein paar eigene Ansichten hinzufügte. Möglicherweise waren ihr diese auch von ihrer Mutter in der Küche suggeriert worden. Kurzum, da es mir nicht paßt, wenn sich jemand in meine Angelegenheiten einmischt, meine Frau aufhetzt und so Zwietracht zwischen uns stiftet, packte ich meine Sachen und zog aus.“ Mein Trick verfing also besser, als ich vermutet hatte. Je mehr mir Herr Stanciu von seinen Familienstreitigkeiten erzählte, um so mehr beruhigte er sich. Obwohl er meine Zeit über Gebühr beanspruchte, unterbrach ich ihn nicht. Als er still war, machte er wieder ein freundliches Gesicht. Die Ader an der Schläfe, die mich in Unruhe versetzt hatte, war nicht mehr zu sehen. Seine Hände lagen auf den Sessellehnen. „Herr Stanciu, aus Ihrer Aussage ist zu schließen, daß Sie sich recht häufig mit Ihrer Frau getroffen haben. Ging aus der Unterhaltung mit ihr nicht hervor, mit wem sie verkehrte?“ „Ich konnte weder feststellen, daß sie irgendwo zu Besuch ging, noch, daß sich der Kreis der Personen, die zu meiner Zeit ins Haus kamen, vergrößert hatte.“ „Wer kam zu ihr nach Hause, als Sie noch zusammen 50
wohnten? Ich meine damit nicht nur die Leute, die man als ‚Besuch‘ bezeichnet“, erläuterte ich. „Hm, warten Sie mal …“, sagte er und stützte sich auf den Zeigefinger seiner linken Hand. „Anica, die Putzfrau, Tony, ein Student, der die Mansarde bewohnte und manchmal von uns aus telefonierte. Cristina, unsere Schulsekretärin. Das sind eigentlich alle. Nein, noch jemand. Ein Kind. Der Schüler Ilie Porumbaru, von dem Marieta behauptete, er würde ein Genie werden“, schloß er seine kurze Aufzählung. Da er mir meine Enttäuschung anmerkte, fühlte er sich noch zu einer Erklärung verpflichtet: „Ich weiß, daß es Ihnen komisch vorkommt, und doch war Marietas Welt so klein. Von meiner Schwiegermutter ganz zu schweigen. Sie grüßte kaum die Nachbarinnen vor lauter Angst, daß diese sie besuchen und ihr etwas stehlen könnten.“ „Sind Sie sicher, daß sie Ihnen nie etwas von anderen Personen erzählt hat?“ fragte Dan nicht sehr überzeugt. „Ganz sicher. Beide waren von dem Gedanken besessen, daß ihre Mitmenschen ihnen nachstellten und sie ausnutzen wollten. Hieraus ergibt sich auch die Isolierung, in der sie sich wohl fühlten. Der Gipfel war, daß sie auch mir diese Bedingung auferlegen wollten. Als ich das Gesicht sah, das meine Schwiegermutter zog, wenn ich meine Freunde und Kollegen nach Hause einlud, verlegte ich meinen Sitz. So trafen wir uns eben im ‚Capşa‘.“ „Wem gehört das Haus in der Strada General Demostene?“ wollte ich wissen. „Marietas Mutter, die es mir in der letzten Zeit jedesmal aufs Butterbrot geschmiert hat, wenn sich eine Gelegenheit bot. Und sie verstand es, solche Gelegenheiten zu schaffen. Das hat meinen Entschluß bestärkt auszuziehen.“ „Hat Ihre ehemalige Frau Geschwister?“ „Nein.“ 51
„Und Ihre Schwiegermutter?“ „Sie hat eine Schwester in der Provinz.“ „Hatten die beiden ein gutes Verhältnis zueinander? Besuchten oder schrieben sie sich?“ „Sie hatten kein besonders gutes Verhältnis. Meine Schwiegermutter hatte den Eindruck, daß ihre Schwester sie ausnutzen wollte.“ „Wissen Sie, ob es ein Testament gibt? Wenn ja, können Sie uns dann sagen, wer der Erbe ist?“ „Von einer derartigen Urkunde ist mir nichts bekannt. Wenn Marieta ein Testament gemacht hätte, hätte sie es mir sicher gesagt. Obwohl meine Schwiegermutter fast achtzig Jahre alt war, hing sie viel zu sehr am Leben, als daß sie daran gedacht hätte, einen Erben zu bestimmen.“ „Wer erbt Ihrer Meinung nach das hinterlassene Vermögen?“ „Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht! Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Hier bei meinem Bruder fühle ich mich sehr wohl.“ „Herr Stanciu, wann haben Sie sich das letztemal mit Ihrer Frau getroffen?“ wollte ich wissen. „Letzten Sonntag nicht, vorletzten Sonntag, das heißt vor etwa zehn Tagen.“ „Hat sie Ihnen gesagt, daß sie die obere Wohnung verkauft hat?“ „Ja, sie hat mich auch vor dem Verkauf konsultiert. Ich habe ihr zugeraten. Achtzigtausend Lei sind ein guter Preis.“ „Hat sie Ihnen gesagt, was sie mit dem Geld machen wollte?“ „Sie sagte mir, daß sie sich mit der Absicht trägt, ein Auto zu kaufen. Daraufhin riet ich ihr, bei Sinnen zu bleiben. Deshalb dachte ich auch gleich an einen Unfall, als … als Sie davon gesprochen haben, was passiert ist“, fuhr er nach kurzem Zögern fort. 52
Ich hatte alle Routinefragen gestellt, und nun war es an der Zeit, die meiner Meinung nach wichtigste Frage zu stellen. Ich war sicher, daß er nach Art eines pensionierten Generals aufstehen und mir in unzweideutiger Weise die Tür weisen würde. Es blieb mir aber nichts anderes übrig. „Herr Stanciu, was können Sie uns über das Wesen Ihrer Frau sagen?“ begann ich vorsichtig. „Ich verstehe Ihre Frage nicht“, sagte er und zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. „Wir schließen die Möglichkeit nicht aus, daß Ihre Frau einen Hausfreund hatte“, sagte ich schnell. Entgegen meiner Erwartung warf er mich nicht hinaus. „Obwohl uns die Frauen in dieser Hinsicht keinen Anlaß zur Gewißheit geben“, sagte er in ruhigem Ton, „so kann ich Ihnen bei Marieta mit Sicherheit sagen, daß Sie Ihre Zeit nicht mit der Suche nach einer solchen Person zu verschwenden brauchen.“ Ich sah auf die Uhr. „Oh, schon zehn Uhr. Unseretwegen haben Sie Ihre Verabredung verpaßt“, entschuldigte ich mich und stand auf. „Glauben Sie, daß das noch wichtig ist bei der Nachricht, die Sie mir überbracht haben?“ fragte er und schüttelte den Kopf traurig und resigniert. „Fast jeden Abend bin ich ins ‚Capşa‘ gegangen, um mich mit meinen Freunden zu treffen. Da ich in den letzten beiden Monaten kein einziges Mal gefehlt habe, hoffe ich, daß die Freunde dafür Verständnis haben“, meinte er und rang sich ein Lächeln ab. Als er uns bis zur Tür begleitete, äußerte er den Wunsch, seine Frau noch einmal zu sehen. Ich gab ihm die entsprechenden Hinweise. Als wir uns mit einem Händedruck voneinander verabschiedeten, fragte ich ihn noch, ob er wüßte, wo die Putzfrau Anica wohnt. Das konnte er mir allerdings auch nicht sagen. „Wollen wir schnell noch ins ‚Capşa‘ gehen?“ fragte Dan, als wir wieder im Auto waren. 53
„Ich glaube nicht, daß wir sein Alibi überprüfen müssen. Wenn es sich unbedingt notwendig macht, können wir es immer noch tun.“
6 Als wir uns am nächsten Morgen vor dem Grundstück in der Strada General Demostene eingefunden hatten, meldete uns der Unteroffizier, der die Wache über das Haus übernommen hatte, daß niemand versucht hatte, in das Haus einzudringen oder etwas über die Bewohner zu erfahren. „Wo steckt nur der Mieter aus der Mansarde?“ fragte Dan, während ich die Tür aufmachte und wir in die Küche gingen. „Warten wir’s ab. Junge Männer übernachten manchmal auch woanders.“ „Und wenn …?“ „Ohne Wenn und Aber. Es besteht kein Grund zum Verdacht. Nur weil wir ihn als Zeugen vernehmen wollen, können wir nicht gleich nach ihm fahnden lassen“, sagte ich und ging zum Telefon. Ich rief den Leiter des Milizreviers an. Dieser teilte mir mit, daß seine Leute keinen interessanten Zeugen ausfindig gemacht hatten. Er gab sich jedoch optimistisch, da erst ein Drittel der Häuser in der Straße, in der sich das Drama abgespielt hatte, überprüft worden war. Ich widersprach ihm nicht, war jedoch anderer Meinung. Mit derartigen Nachforschungen beginnt man in der unmittelbaren Nähe des Tatortes und beendet sie mit den entferntesten Häusern. Die Nachbarn, die die Opfer besser kannten, konnten die Anwesenheit eines Fremden eher bemerken als die Leute, die weit weg wohnten. 54
Ich hatte den Hörer gerade aufgelegt, als der Unteroffizier, der das Haus bewachte, hereinkam. „Eine Bürgerin will zu Frau Panaitescu“, meldete er. „Was haben Sie zu ihr gesagt?“ „Daß wir gerade die Einhaltung der Meldepflicht kontrollieren.“ „Sehr gut! Lassen Sie sie hereinkommen.“ Eine kleine dickliche, etwa fünfzigjährige Frau kam herein. Sie trug einfache Sachen in auffälligen Farben. „Guten Tag!“ grüßte sie, als sie das Wohnzimmer betrat, und sah uns erstaunt an. Wir erwiderten ihren Gruß mit einem Kopfnicken. „Wo sind die Damen?“ fragte sie und ließ ihren Blick hinter uns zu den Schlafzimmertüren schweifen. „Wer sind Sie?“ „Und wer sind Sie?“ fragte sie gleich zurück. „Verwandte der beiden Frauen“, antwortete Dan. „Ich kenne Sie aber gar nicht!“ „Sie kennen vielleicht nicht alle Verwandten …“ „Und ob ich sie kenne! In den fünfzehn Jahren, die ich hier schon arbeite, habe ich die ganze Verwandtschaft der Damen kennengelernt!“ „Sind Sie die Putzfrau Anica?“ fragte ich dazwischen. „Bin ich. Anica Traian. Was geht hier vor? Wer hat so ein Durcheinander angerichtet?“ fragte sie, als sie das Parkett und den Tisch mit den Klassenarbeitsheften sah. „Wieso?“ fragte ich vorsichtig. „Was, wieso?“ fragte sie mich wütend. „Wo ist der Teppich? Wer hat den Tisch beiseite geschoben?“ Ich wollte gerade noch etwas sagen, als sie sich umdrehte und auf den Flur stürzte. „Wohin wollen Sie?“ fragte ich, als ich merkte, daß sie die Klinke der Terrassentür herunterdrücken wollte. „Wer hat den Schlüssel abgezogen? Ich werde die Miliz rufen! Hier ist etwas faul!“ rief sie energisch, drehte sich um und stürmte zur Küchentür. 55
„Das können Sie sich sparen. Wir sind auch von der Miliz“, teilte ich ihr mit, um sie zu beschwichtigen. Sie drehte sich wieder um und fragte mich besorgt: „Wo sind die beiden Frauen? Warum sind sie nicht hier? Ist etwas mit ihnen passiert? Oh, sie sind überfallen worden!“ Um ihren Fragen, die sie energischer als ein Untersuchungsrichter stellte, ein Ende zu setzen, erzählte ich ihr, was sich zugetragen hatte. Sie weinte und jammerte wie ein Klageweib, wobei ihre Gefühle allerdings echt waren. Ich setzte sie auf einen Stuhl und wartete ein Weilchen. „Sind Sie jeden Tag hierhergekommen?“ fragte ich sie, als sie sich beruhigt hatte. Sie bejahte. „Ist es vorgekommen, daß Sie über Nacht geblieben sind?“ „Nein, nie. Ich habe ja auch noch meinen eigenen Haushalt. Bei den Herrschaften habe ich nur bis Mittag gearbeitet.“ „Wann haben Sie Frau Panaitescu und Frau Stanciu zum letztenmal gesehen?“ „Donnerstag nachmittag“, sagte sie mit gesenktem Kopf und wischte sich die Tränen mit einem zerknautschten Taschentuch aus den Augen. „Um welche Zeit?“ „Wie immer, um halb drei, wenn ich nach Hause gehe …“ „Waren beide Frauen da, als Sie gingen?“ „Frau Stanciu war noch nicht aus der Schule zurück. Nur Frau Panaitescu war da.“ „Sie haben sie also nach Donnerstag um halb drei nicht mehr gesehen?“ „Nein. Freitag morgen, als ich arbeiten kommen wollte, war niemand zu Hause.“ „Warum sind Sie nicht hineingegangen? Sie hatten doch einen Wohnungsschlüssel“, bluffte Dan. 56
„Woher sollte ich denn die Schlüssel haben? Nur Frau Stanciu hatte welche … Und wozu brauchte ich eigentlich Schlüssel. Frau Panaitescu war doch immer da.“ „Gab es nur ein Schlüsselbund für das ganze Haus?“ „Ja, nur eins. Das heißt ein Ring mit drei Schlüsseln, an dem eine schwarze Katze hing … aus Gummi oder so etwas. Ach ja, es gab noch ein Bund, an dem auch die Schrankschlüssel waren, aber es ist weg.“ „Wieso weg?“ „Weiß nicht. Die Schlüssel waren einfach nicht mehr da!“ „Schon lange?“ „Was weiß ich? Vielleicht seit drei oder vier Wochen …“ „Als Sie am Freitag kamen und festgestellt haben, daß niemand öffnet, was haben Sie da gemacht?“ „Was hätte ich tun sollen? Ich habe ein paar Stunden gewartet und dachte mir, daß Frau Panaitescu vielleicht in die Stadt gegangen ist. Als ich merkte, daß sie nicht kam, bin ich wieder nach Hause gegangen, um die Zeit nicht zu vertrödeln. Die nächsten Tage kam ich auch noch, aber es hat mir keiner aufgemacht.“ „Kam es Ihnen nicht seltsam vor, das Frau Panaitescu nicht aufgemacht hat? Sie sagten doch, daß sie immer zu Hause war.“ „Ja, seltsam kam es mir schon vor, aber was hätte ich tun sollen? Ich sagte mir, daß vielleicht die Verwandte aus Brăila gestorben ist und die beiden hingefahren sind.“ „Da Sie schon lange hierherkommen, würde ich Sie bitten, mir zu sagen, wer die beiden Frauen besuchte“, bat ich sie und war überzeugt, daß sie durch ihre tägliche Anwesenheit die berufenste Person war, mir die Bekannten der Ermordeten zu nennen. „Hm, soviel ich weiß, kam Frau Cristina Damian sehr oft. Manchmal auch ihr Mann, aber seltener. Dann kam Iliuţă, ein Schüler, dem Frau Marieta Privatunterricht 57
gab. Dann kam noch Herr Tony, der oben in der Mansarde wohnt.“ „Sonst noch jemand?“ „Eigentlich nicht“, meinte sie achselzuckend. „Haben die ehemaligen Mieter der ersten Etage die beiden Frauen besucht?“ „Bevor sie ausgezogen sind, kamen sie manchmal, aber selten. Seit ihrem Umzug sind sie nicht mehr vorbeigekommen.“ „Sind das alle Personen, die Sie gesehen haben?“ wollte ich wissen und wurde langsam verstimmt. „Ja, die beiden Frauen haben sehr zurückgezogen gelebt.“ „Kam Herr Stanciu oft?“ schaltete sich Dan ein. „Seit er vor etwa zwei Jahren ausgezogen ist, habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber ich weiß, daß Frau Marieta manchmal zu ihm hingegangen ist.“ „Wissen Sie, warum sich die beiden getrennt haben?“ „Ich würde sagen wegen Frau Mioara, die beiden waren sich nicht grün.“ „Als Sie Frau Panaitescu am Donnerstag das letztemal gesehen haben, hat sie Ihnen da gesagt, daß sie am Abend jemanden erwartete?“ fragte ich. „Gesagt hat sie mir nichts. Doch, ich glaube, sie hat etwas gesagt. Ja, jetzt hab ich’s. Sie sagte, daß sie mit zwei Tischlern gesprochen hat, die am Nachmittag kommen wollten, um ein paar Regale für die Speisekammer zu bauen.“ „Wann sollten die Tischler kommen?“ „Nach fünf, wenn Frau Marieta wieder aufgestanden war.“ „Wer sind die Leute? Wo wohnen sie?“ fragte Dan voller Optimismus wie ein Praktikant dazwischen, was er aber keineswegs war. „Das weiß ich nicht, ich habe sie nicht zu Gesicht be58
kommen. Frau Mioara sagte, glaub’ ich, daß es Zigeuner sind, aber ich bin mir nicht sicher.“ „Vor der Küchentür liegen ein paar Bretter“, fiel mir ein. „Waren sie schon da, als Sie gegangen sind?“ „Als ich am Donnerstag gegangen bin, lagen sie noch nicht da. Wo ist eigentlich der Teppich und der Kühlschrank?“ fragte sie plötzlich und sah sich suchend um. „Wollen Sie damit sagen, daß ein Teppich und ein Kühlschrank verschwunden sind?“ fragte ich ärgerlich. „Und ob! Was ist das überhaupt für ein Durcheinander? Als ich weggegangen bin, war alles in bester Ordnung, und jetzt?“ „Seien Sie bitte so nett, und begleiten Sie uns durch die Wohnung. Wenn Sie merken, daß Dinge anders sind, als sie sein müßten, oder bestimmte Gegenstände fehlen, so sagen Sie uns das bitte“, bat ich sie und stand auf. „Wo gehören der verschwundene Kühlschrank und der Teppich hin?“ „Der Teppich hat hier gelegen, der Kühlschrank hat dort gestanden“, sagte sie und deutete auf die Ecke, die durch die Wand der Terrasse und die Wand des Schlafzimmers von Mioara Panaitescu gebildet wurde. „Was war es für eine Marke?“ „Das weiß ich nicht, er war aber groß und schön.“ „War er angeschlossen?“ fragte ich und dachte an die verdorbenen Frikadellen. „Nein, es war nicht der richtige Strom.“ Ich ging zu Marieta Stancius Schlafzimmer und machte die Tür auf. „Jemand hat die Kleider aus dem Schrank genommen!“ rief sie. „Waren es viele?“ „Vier bis fünf auf einem Bügel. Frau Marieta hat ihre Scherze darüber gemacht. Sie sagte, daß sie am Anfang nichts auf die Bügel zu hängen hatte, und zum Schluß hatte gar nicht alles auf den Bügeln Platz.“ 59
Nachdem sie festgestellt hatte, daß die heruntergelassenen Jalousien und die abgenommenen Bilder nicht die richtige Stellung hatten, brachte ich sie in das andere Schlafzimmer. „Hier sind ja auch die Jalousien herunter!“ „Noch etwas?“ „Das Radio ist auch weg!“ rief sie und zeigte auf das Tischchen am Bett. „Sie hat es zusammen mit dem Kühlschrank gekauft.“ „Fehlen auch Kleidungsstücke?“ wollte ich wissen und sah zum Kleiderschrank, durch dessen offene Türen ein paar leere Kleiderbügel zu sehen waren. „Ja, Frau Panaitescus Kleider!“ „Hatten die beiden Frauen Feinde?“ fragte Dan, als wir ins Wohnzimmer zurückkamen. „Wen denn? Sie waren doch Seelen von Menschen.“ „Kam der Schüler Iliuţă, dem Frau Stanciu Privatstunden gab, an einem bestimmten Tag zum Unterricht?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen, er kam nachmittags, wenn ich nicht mehr da war.“ „Wie heißt der Mansardenmieter Tony noch?“ „Costea.“ „Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?“ „Donnerstag früh. Wenn ich zur Arbeit kam, ging er zum Dienst.“ „Hat er Ihre Herrschaften oft besucht?“ „Manchmal. Er kam meistens nur, wenn er telefonieren mußte oder wenn ihn jemand anrief.“ „Bekam Herr Costea Besuch?“ „Viele Männer habe ich nicht gesehen, aber eine Menge junge Mädchen. Manchmal haben sie auch telefoniert, und wenn sie wieder weg waren, haben die beiden Damen gelacht. Die Mädchen erzählten ihren Eltern nämlich, sie sind bei einer Schulfreundin, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten.“ 60
Nachdem ich Anica gebeten hatte, uns ihre Adresse zu hinterlassen, begleitete ich sie zur Tür. „Die Ärmsten! Meine Kinder werden entsetzt sein, wenn ich ihnen erzähle, was mit den beiden Frauen passiert ist.“ „Wie viele Kinder haben Sie?“ erkundigte ich mich höflich. „Vier, ein Mädchen und drei Jungen.“ „Sind sie schon groß?“ „Meine Tochter, die Jüngste, kommt jetzt aus der Schule. Zwei sind verheiratet und haben auch schon Kinder. Sie arbeiten beide im Elektromaschinenwerk und sind Bestarbeiter. Ich bin sehr froh darüber, daß ich so viel Freude an ihnen habe.“ „Und der andere Sohn? Sie haben doch von drei Söhnen gesprochen?“ half ich nach, als ich merkte, daß sie seufzte. „Manole ist auch ein guter Junge, aber er ist noch etwas kindlich. Vom Lernen hält er nichts.“ „Wo arbeitet er?“ „Er arbeitet noch nicht, er ist noch jung …“ „Sagten Sie nicht, daß Ihre Tochter das jüngste Kind ist?“ „Er ist auch noch jung. Er ist noch nicht einmal einundzwanzig.“ „Ist er krank?“ „Weshalb sollte er krank sein. Meine Kinder sind gesund.“ „Und wovon lebt er?“ „Er bekommt von mir, was er braucht. Schließlich bin ich doch seine Mutter.“ „Wäre es nicht besser, er würde Sie ernähren, als daß Sie in fremden Häusern arbeiten?“ fragte Dan weiter. „Er ist noch sehr kindlich. Wenn er zur Armee kommt, werden sie ihm schon etwas Verstand beibringen. Ich habe versucht, ihm ins Gewissen zu reden, aber der Schlingel hört ja nicht. Auch die beiden Damen haben ihn 61
ins Gebet genommen. Auf sie hat er aber auch nicht gehört.“ „Ist er auch hierhergekommen?“ unterbrach ich sie. „Manchmal.“ „Wohnt er bei Ihnen?“ Nachdem sie bejaht hatte, ließ ich sie gehen und bat sie, sich noch zu überlegen, ob sie nicht noch jemanden vergessen hatte, der die Wohnung der Opfer aufgesucht hatte. Während Dan sie hinausbegleitete, ließ ich mir Anicas Antwort durch den Kopf gehen. Die Sache mit dem „Schlingel“, der mit einundzwanzig Jahren so kindlich ist, daß er nicht arbeiten will, gefiel mir überhaupt nicht. Das „Kind“ gehörte zu denen, die uns die meiste Arbeit machen. Zuerst gefällt ihnen das Faulenzen, dann werden ihre Ansprüche größer, die natürlich nicht aus dem Geldbeutel der Eltern befriedigt werden können, und schließlich gehen sie auf die Suche nach unerlaubten Quellen. Zunächst betreiben sie kleine Gaunereien. Wenn sie dabei nicht rechtzeitig erwischt werden, bilden sie sich ein, sie seien schlimmer als Al Capone, Dillinger und Arsène Lupin zusammengenommen. Das ist der Scheideweg ihres Lebens. Wenn sie das Glück haben, daß wir sie vor einer schweren Straftat fassen, besteht die Möglichkeit, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Andernfalls werden sie unsere treuesten Kunden. Dann rief ich Cristina Damian an und bat sie, mir die Waren zu beschreiben, die sie und Frau Stanciu in der letzten Zeit gekauft hatten. Dabei teilte sie mir auch mit, wo die Ermordeten ihre persönlichen Dokumente aufbewahrten. „Was meinst du, Chef?“ fragte Dan, nachdem ich im Wohnzimmer in der Schublade eines Tisches die Rechnungen für den Kühlschrank und das Radio gefunden hatte. „In Anbetracht des Volumens und des Gewichts des Diebesgutes haben wir es nicht nur mit einem Mörder, 62
sondern mit einer Bande von zwei bis drei Mitgliedern zu tun.“ „Wobei einer davon ein guter Bekannter der Opfer war“, stimmte mir Dan zu. „Und die beiden Schlüsselsätze?“ „Um das Schlüsselbund, das bis zum Zeitpunkt des Mordes benutzt wurde, brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Mörder haben es mitgenommen, um die Aufdeckung ihrer Tat hinauszuzögern. Anders verhält es sich mit den Schlüsseln, die vor zwei bis drei Wochen verschwunden sind. Ihr mysteriöses Verschwinden kann auch darauf hindeuten, daß der Raub von langer Hand vorbereitet war.“ „Das stimmt auch mit dem Zeitpunkt des Wohnungsverkaufs überein.“ „Eben! Es ergibt sich aber noch etwas anderes“, fügte ich hinzu. „Die Banditen wußten zwar, daß das Geld eingenommen, nicht aber, daß es bereits wieder ausgegeben war.“ „Was darauf hindeutet, daß sie in der Woche vor der Tragödie mit den Opfern nicht mehr in Verbindung standen.“ Ich versicherte ihm, daß ich die Dinge ebenso wie er sah. Dann sagte er mir, daß es Zeit wurde, an meine Pflicht zu denken, und ging zum Telefon. Als ich die Verbindung mit unserem Diensthabenden hatte, bat ich meinen Kollegen, die Liste der gestohlenen Gegenstände aufzunehmen. Dann teilte ich ihm noch mit, daß er diese Liste unseren sämtlichen Mitarbeitern zugehen lassen sollte, damit eine eventuelle Veräußerung der Gegenstände überwacht werden konnte. Abschließend äußerte ich den Wunsch, mit dem Fahrer des Gütertaxis zu sprechen, der mir ein paar Angaben zum Transport der Gegenstände in der Nacht von Donnerstag zu Freitag machen könnte. „Da kommt doch nichts heraus“, bemerkte Dan, als ich den Hörer auflegte. 63
„Warum nicht?“ „Weil seit dem Raubüberfall sechs Tage vergangen sind. Diese Zeit reicht aus, um das Diebesgut abzusetzen.“ „Es gibt aber auch Gauner, die warten, bis die Ware ‚kalt‘ ist.“ „Hoffen wir’s“, meinte er skeptisch. „Hinsichtlich der zweiten Möglichkeit habe ich noch mehr Bedenken. Es erscheint mir absurd, daß erfahrene Verbrecher – das Fehlen von Spuren beweist, daß sie keine Stümper sind – sich eines so leicht zu ortenden Transportmittels bedienen.“ Damit erzählte er mir durchaus nichts Neues. Bei den Fällen, mit denen wir uns beschäftigen, darf man jedoch auch die geringfügigste Spur nicht außer acht lassen, denn aus allem kann sich etwas ergeben, insbesondere dann, wenn man gar nicht damit rechnet. „Ein vergeblicher Versuch schadet nichts.“ „Nützt aber auch nichts“, ergänzte er mich eilig. „Wir werden es ja sehen. Zunächst einmal müssen wir herausbekommen, was das ‚Kind‘ der Putzfrau für ein Bürschchen ist, und die Tischler kennenlernen, die das Regal für die Speisekammer bauen sollten.“ „Das ‚Kind‘ stellt uns nicht vor Probleme. Mit den Tischlern ist es allerdings nicht so einfach. Wie viele von dieser Zunft mag es wohl in Bukarest geben?“ fragte er treuherzig. „Keine Ahnung“, gab ich zu. „Warum ist denn ihre Zahl so wichtig?“ „Damit ich die Jahre ausrechnen kann, die wir brauchen, um die Gesuchten eventuell zu finden. Oder kennst du eine schnellere Methode?“ fragte er mich diesmal interessiert. „Aus Anicas Aussage geht hervor, daß die alte Panaitescu ihre Wohnung in der letzten Zeit nicht mehr verlassen hat. Wie konnte sie dann aber mit den Tischlern in Kontakt treten?“ 64
„Sie sind von selbst gekommen. Wahrscheinlich hat sie jemand geschickt.“ „Vielleicht hast du recht. Ich glaube aber was anderes, was ebenso plausibel ist und sich viel schneller überprüfen läßt als deine Idee.“ „Und zwar?“ „Ich glaube, daß die Zimmerer in der Brigade arbeiten, die das Haus gegenüber baut. Wenn das Opfer auf dem Hof war, hat es sie bei der Arbeit gesehen. Es rief sie also heran und fragte sie, ob sie das Regal bauen können.“ „Prima Idee, mein Lieber!“ meinte er begeistert. „Los, wir suchen sie!“ „Bestens! Diese Sache nehme ich in die Hand. Du nimmst Anicas ‚Kind‘ unter die Lupe. Wir können nicht beide der gleichen Spur nachgehen und die Zeit damit vertrödeln.“ Meine Entscheidung schmeckte dem Langen nicht so recht, doch er fügte sich schließlich.
7 Dan stieg ins Auto und fuhr mit Vartunian weg, ich ging auf die andere Straßenseite. Ich lief um ein Förderband, und während ich mich um ein paar Zementsäcke und einen Bretterstapel herumschlich, beobachtete ich das Treiben der Arbeiter auf dem Holzgerüst. Sicher hatte meine Behutsamkeit etwas mit der Redewendung „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“ zu tun. Ich war so vertieft in das geschäftige Treiben über mir, daß ich fast in einen Kalktrog getreten wäre, wenn nicht eine Stimme laut gerufen hätte: „Costică, bring mir ganz schnell den Betonierplan!“ Ein Kalkbad hätte meine gute Laune nicht gerade gesteigert. So war ich der rettenden Stimme dankbar und 65
wollte wissen, wem sie gehörte. Mein Blick heftete sich auf eine Baracke, deren einziges Fenster ohne Scheiben war. Daneben befand sich eine Tür, an die ein Stück Pappe gezweckt war. Als ich die daraufgemalten Buchstaben, die schon lange von Sonne und Regen ausgeblichen waren, entziffert hatte, sagte ich mir, daß sie auch den Hinweis „Bauleiter“ bedeuten konnten. Als ich die Tür aufmachte und hineinging, war ich von meinem Scharfsinn begeistert. Ich hatte einen Raum erwischt, der genau meiner Vermutung entsprach. Gerade sagte ich mir, daß Champollion nicht zu Ruhm gelangt wäre, wenn ich sein Zeitgenosse gewesen wäre, als mich der Mann, der geschäftig an einem Küchentisch voller Baupläne schrieb, aus meinen Gedanken riß. „Warum trödelst du denn so, Costică?“ fragte er laut, ohne von seinen Papieren aufzusehen. Es war ein stattlicher Mann mit dunklen Locken. Er trug ein kariertes Hemd, dessen aufgekrempelte Ärmel zwei kräftige behaarte Arme sehen ließen. Hin und wieder legte er den Füller auf den Tisch, um geschickt mit dem Rechenschieber zu arbeiten. Wahrscheinlich störte ihn meine Reglosigkeit, und so schaute er mich schließlich an. Er hatte eine merkwürdige Nase: Das Ding war eine Mischung zwischen der Nase eines Mulatten und der eines Boxers, der einem Anwärter auf einer Weltmeisterschaft als Schlagpartner dient. „Was wollen Sie denn?“ erkundigte er sich, offensichtlich ungehalten über meine Anwesenheit. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich möchte gern wissen, ob …“ „Seien Sie unbesorgt! Der Bau wird termingemäß fertig!“ unterbrach er mich so resolut, daß ich gleich merkte, daß ich unerwünscht war. „Etwas anderes hätte mich interessiert …“, hob ich wieder an und lächelte ihm freundschaftlich zu. 66
„Ich höre!“ schnitt er mir das Wort ab, ohne meine freundschaftliche Haltung im geringsten zu würdigen. „Ein paar Auskünfte über Ihre Arbeiter“, wurde ich deutlicher und zeigte ihm meinen Ausweis. Einige Sekunden lang sah er mich überrascht an, dann stand er vom Tisch auf und streckte mir die Hand hin. „Ingenieur Zaharia Tudorache. Ich glaubte schon, Sie sind einer der künftigen Wohnungsmieter. Den ganzen Tag schwirren die hier ’rum, bringen uns durcheinander und halten uns auf“, entschuldigte er sich. Er war nun viel wohlwollender und deutete auf einen Stuhl vor seinem Arbeitstisch. Obwohl ich es eilig hatte, schlug ich seine Einladung nicht aus. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung“, teilte er mir mit, nahm seinen Platz wieder ein und verschränkte seine Arme vor der Brust wie ein artiger Schüler. „Kollege Ingenieur, ich bin auf der Suche nach zwei Handwerkern, die eine Arbeit bei den Mietern im Haus gegenüber Ihrer Baustelle angenommen haben. Können Sie mir behilflich sein, sie zu finden?“ „Gern. Wie heißen sie denn?“ „Ihre Namen kenne ich nicht. Alles, was ich weiß, beschränkt sich auf ihren Beruf. Sie sind Zimmerer oder Tischler.“ „Ich habe ein Dutzend Tischler unter mir. Woher soll ich wissen, welche Sie suchen? Ich hole sie am besten zusammen, und Sie reden selbst mit ihnen.“ Ein derartiges Vorgehen hätte mir einen großartigen Erfolg beschert. Er hätte noch den von Louis de Funès in den Schatten gestellt, wenn dieser einen New-Yorker Polizisten spielt. Ich brauchte mich nur vor die zwölf Tischler hinzustellen und ihnen zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte! Zwei von ihnen wären herausgetreten, hätten die Tat zugegeben, und mit Tränen in den Augen hätten sie mich voller Reue aufgefordert, sie fest67
zunehmen. Nach ihrer „Feinfühligkeit“ bei der Ermordung der Opfer war von ihnen keine andere Reaktion zu erwarten. Möglicherweise waren meine Gedanken von meinem Gesicht besser abzulesen, als ich sie durch Worte hätte ausdrücken können. „Warum suchen Sie sie? Haben sie etwas ausgefressen?“ wollte der Bauleiter wissen. Ich schilderte ihm kurz den Sachverhalt. „Mein Gott! Wie ist denn so etwas möglich?“ brachte er heraus und schüttelte sich. Während mich der Ingenieur mit einer Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit ansah, zerbrach ich mir den Kopf, wie ich die Verdächtigen aufspüren konnte. „Es will mir einfach nicht in den Kopf, daß solche Strolche unter meinen Leuten sein sollen. Unmöglich!“ protestierte er und versuchte, den ehrenrührigen Verdacht, der über seinem Arbeitskollektiv schwebte, zu zerstreuen. „Kann schon sein“, räumte ich ein und suchte weiter nach einer Möglichkeit, aus der Sackgasse, in die ich geraten war, herauszukommen. „Wirklich …“ Er beendete seinen Satz nicht, weil gerade ein Bauarbeiter mit einem gelben Schutzhelm ins Büro kam. „Kollege Ingenieur, ich habe den Betonierungsplan mitgebracht“, verkündete der Neuankömmling und hielt dem Bauleiter ein Blatt Papier hin. „Gut, Costică“, meinte der Ingenieur und nahm ihm das Papier geistesabwesend aus der Hand. „Geh jetzt und kontrolliere, wie weit die Einschalung vorbereitet ist. Ich habe den Eindruck, daß der Plan nicht eingehalten wird.“ Als der Bauarbeiter wieder weg war, fragte er mich: „Was berechtigt Sie eigentlich zu der Vermutung, daß zwei meiner Leute in die Ungeheuerlichkeit, von der Sie berichtet haben, verwickelt sind?“ 68
Ich schilderte ihm meine Überlegung, die mich zu ihm geführt hatte. „Bukarest ist voller Baustellen, wo natürlich auch Tischler arbeiten. Man muß auch noch die Möglichkeit ins Auge fassen, daß die gesuchten Strolche keine feste Arbeitsstelle haben“, bemerkte er, offensichtlich befriedigt darüber, daß die Infamie, mit der ich seine Leute verdächtigte, der Grundlage entbehrte. „Die Bretter, die wir in der Wohnung der Opfer gefunden haben, sehen aus wie die Bretter von Ihrer Baustelle.“ „Ach was!“ unterbrach er mich mißbilligend. „Wenn sämtliches Bauholz genormt ist, ist es schließlich normal, daß alles gleich aussieht.“ „Die roten Streifen, die die Bretter auf Ihrer Baustelle haben, sehen so ähnlich aus wie die auf den Brettern im Haus gegenüber“, fuhr ich hartnäckig fort. „Das will ich erst sehen“, meinte er mit der ernsten Absicht, mich so schnell wie möglich abzuwimmeln. Als wir an den Brettern neben der Küchentür angelangt waren, blieb er stehen und untersuchte die roten Streifen, die auf ihre Enden gemalt waren. „Sie haben recht“, gab er mißmutig zu. „Die verwendete Farbe und auch die Pinselgröße deuten darauf hin, daß sie von unserer Baustelle stammen. Wie haben sie die nur herausgebracht? Vielleicht nach Feierabend … als der Nachtwächter da war.“ Eben sagte ich mir, daß sich wohl ein Gespräch mit dem Nachtwächter erforderlich machte, als er mich fragte: „Wem gehört das Werkzeug?“ Dabei deutete er auf das Beil und die Säge, die auf den Brettern lagen. „Ich nehme an, denen, die auch die Bretter hergebracht haben. Wann fängt der Nachtwächter seinen Dienst an?“ fragte ich und sah auf meine Uhr und überlegte, wieviel Stunden ich noch warten mußte. Ohne mir eine Antwort zu geben, ging der Ingenieur 69
auf das Werkzeug zu und nahm es an sich. Einige Augenblicke lang untersuchte er es, dann drehte er sich um und ging damit die Treppe hinunter. Als ich wieder neben ihm stand, fand ich die Sprache wieder. Ich wollte ihn gerade ermahnen, die Werkzeuge nicht zu sehr anzufassen, weil mir die Möglichkeit einfiel, deren Besitzer durch die geheiligte Daktyloskopie ausfindig zu machen. Er ließ mir aber keine Zeit, ihn darauf hinzuweisen, daß er mir die Abdrücke auf den Werkzeugen zerstört. „Verfluchtes Pack! Weshalb habe ich nicht gleich an die gedacht?“ wandte er sich hilfesuchend mit puterrotem Gesicht an mich. Da ich nicht wußte, was es mit seinem Wutausbruch auf sich hatte, sagte ich gar nichts dazu. Dreißig Sekunden später wollte er von mir gar keine Antwort mehr. Wahrscheinlich bewog ihn mein intelligenter Gesichtsausdruck dazu, der die Anstrengung widerspiegelte, mit der ich nachdachte und herausbekommen wollte, weshalb er so wütend war. „Sehen Sie hier!“ forderte er mich auf und zeigte mir den Stiel des Beils. Ich besah mir das Beil aus der Nähe. Auf dem Stiel entdeckte ich ein paar Geheimzeichen. „Sagen Ihnen die Kratzer etwas?“ fragte ich zweifelnd. „Na klar! Die Arbeiter, die in einer Truppe arbeiten, ritzen gewöhnlich ihre Namen in die Werkzeuge ein, damit sie nicht verlorengehen.“ „Entziffern Sie bitte den eingeritzten Namen!“ bat ich ihn eilig. „Vasile Manga!“ „Kennen Sie ihn?“ „Leider ja. Ein Tagedieb, der sich über die Arbeit seines Kollektivs lustig macht. Sobald er Lohn bekommt, versäuft er ihn in der Kneipe!“ „Warum schmeißen Sie ihn nicht ’raus?“ „Woher soll ich denn einen anderen Arbeiter kriegen?“ 70
Da ich ihm in dieser Angelegenheit bei allem Wohlwollen nicht dienlich sein konnte, sagte ich nichts dazu. „Wenn ich mich etwas mit Manga unterhalten würde, würde ich auch den Namen des anderen herausbekommen“, dachte ich laut. „Nicht nötig“, meinte der Ingenieur und sah sich den Griff der Säge an. „Er heißt Ghiţă Gogoaşă und ist ebenso ‚ordentlich‘ wie Manga.“ „Ich möchte mich gern mit den beiden unterhalten.“ „Ich auch, aber im Moment ist das nicht möglich. Seit einer Woche sind sie nicht mehr auf der Baustelle erschienen!“ „Können Sie mir ihre Adressen geben?“ fragte ich und ließ mir meine Enttäuschung nicht anmerken. Er nickte und schlug mir vor, ins Büro zurückzugehen. „Können Sie den genauen Tag sagen, an dem sie zu schwänzen angefangen haben?“ wollte ich wissen, nachdem ich mir die Adressen notiert hatte. „Aus der Anwesenheitsliste geht hervor, daß ihr letzter Arbeitstag Donnerstag war“, gab er mir zur Antwort, nachdem er ein längliches Heft durchgeblättert hatte. Ich bedankte mich bei ihm und ging zur Tür. „Kann ich das gestohlene Material wiederbekommen?“ fragte er, als ich die Baubude verlassen wollte. „Nur die Bretter. Das Werkzeug werde ich sicher noch brauchen.“ Als ich wieder auf der Straße war, fragte ich mich, mit welchem Bus ich ins Lizeanu-Viertel, wo die beiden Tischler wohnten, kommen würde. Glücklicherweise brauchte ich mir den Kopf nicht weiter zu zerbrechen, denn unser Auto fuhr gerade in die Strada General Demostene. „Was hast du getrieben, Dan?“ fragte ich ihn, als er die Wagentür aufmachte. 71
„Anicas ‚Schlingel‘ ist ein kleiner Faulpelz. Er hat schon zwei Vorstrafen. Drei Monate wegen Rowdytums und sechs Monate wegen Mittäterschaft bei Autoeinbrüchen. Von der letzten Strafe hat er nur acht Tage abgesessen. Amnestie.“ „Interessant“, kommentierte ich. „Hast du herausbekommen, was er in der Nacht von Donnerstag zu Freitag getrieben hat?“ „Er wurde vor zwei Tagen, also Montag morgen, aus der ‚Pension‘ entlassen.“ Da mein Interesse an seinen Nachforschungen schneller erloschen war, als er sie anstellen konnte, stieg ich ins Auto und sagte Vartunian, wohin er fahren sollte. Unterwegs erzählte ich Dan, was ich ohne ihn angestellt hatte und welches unser neues Ziel war. Eine Viertelstunde später fuhren wir in die Strada Lizeanu. Als wir die Eisenbahn erreicht hatten, bogen wir nach rechts ab. Wir fuhren am Colentina-Friedhof vorbei und hielten in der Nähe der Strada Maşina de Pîne rechts vor einem verwahrlosten Haus. Als wir auf einen Hof voller Unkraut und dreckiger Pfützen kamen, in denen sich ein paar kümmerliche Enten tummelten, wurden wir von einer Schar lärmender Kinder empfangen. Sie waren ebenso schmuck und sauber wie ihre gefiederten Gefährten, die durch die dreckigen Pfützen watschelten. Ich hatte meine Frage noch gar nicht richtig heraus, als ein halbes Dutzend Gören ihre Stimmen gemeinsam erhoben, um uns zu verkünden, daß ‚Onkel Gogoaşă‘ ausgeflogen war. Da es in meinem Beruf ziemlich selten vorkommt, daß man die Leute findet, die man dringend sucht, beherrschte ich mich und ließ mir meinen Unmut nicht anmerken. Es gehört sich nicht, daß ein Hüter des Gesetzes Kindern noch mehr Flüche beibringt. Ihren Fratzen war ohnehin schon anzusehen, daß ich dabei den kürzeren ziehen würde. 72
„Ist Onkel Gogoaşă schon lange weg?“ fragte ich. „Seit heute früh, Herr!“ verkündeten sie alle im Chor. „Hat er gesagt, wohin er geht?“ fragte Dan und versuchte sein Glück. „Wenn du mir Geld gibst, damit ich mir etwas kaufen kann, sag’ ich dir’s, Herr! Ich hab’s rausgekriegt, wo er ist“, schlug mir ein etwa fünfjähriges Mädchen vor. Unter den neidischen Blicken der anderen Kinder zog ich ein Dreileistück heraus und gab es ihr. Als sie es mit dem Geschick eines Taschenspielers genommen und mehrmals daraufgebissen hatte, offensichtlich um sich zu vergewissern, daß es auch Umlaufwert hatte, zeigte sie sich zufrieden. „Er ist bei Onkel Manga“, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf ein Häuschen in der Nähe. Wir gingen zum angegebenen Ort. Dabei sagte ich mir allerdings belustigt, daß ich eine Fehlinvestition gemacht hatte, denn ich wäre ohnehin nicht wieder gegangen, ohne auch dem anderen Tischler einen Besuch abzustatten. Ich war kurz vor der Haustür, als hinter mir ein Spektakel losging. Ohne mich umzudrehen, ging ich weiter. Weshalb sollte ich mich davon überzeugen, daß sich die Horde Kinder um mein Geldstück wie um einen Luftballon balgte. Da das zweite Haus keinen Zaun hatte, konnte ich mit einem Blick feststellen, daß mir der Anblick an sich nicht unbekannt war. Abgesehen von den Kindern und Enten glichen Architektur, Anlage und allgemeine Verwahrlosung der von Gogoaşăs Behausung. Ich ging auf dem Trampelpfad, der über einen Platz voller Unkraut führte, und kam vor der einzigen Tür des Hauses an. Ich brauchte allerdings unsere Ankunft nicht durch das sonst übliche Klopfen zu signalisieren, da ich Stimmen von der anderen Seite des Hauses vernahm. Wir gingen noch ein paar Schritte weiter und sahen zwei Männer in Nylonhemden. Einer trug ein zitronengelbes, 73
der andere ein orangefarbenes Hemd. Sie saßen sich im Schneidersitz auf der Erde gegenüber. Neben ihnen standen auf einem Küchenstuhl zwei Tonkrüge und eine Flasche Treberschnaps. Sie waren so mit sich beschäftigt, daß sie uns gar nicht bemerkten. Als wir vor ihnen standen, rief der im orangefarbenen Hemd, während er die Julius Cäsar zugeschriebene Geste vor der Rubikonüberquerung nachahmte: „Los, ich bin jetzt dran!“ „Guten Tag“, sagte ich. Sie sahen erstaunt von ihren Würfeln auf, die zwischen ein paar speckigen Geldscheinen gelandet waren. „Sind Sie die Herren Manga und Gogoaşă?“ erkundigte ich mich und fragte mich, ob die beiden nicht dem Würfelspiel frönten, einem vom Strafgesetz nicht tolerierten Vergnügen. „Das sind wir, Herr! Haben Sie was für uns zu tun?“ fragte mich der, der eine Menge Geld auf seinen Knien hatte, aufdringlich. Der andere im zitronengelben Hemd schien traurig und in Gedanken versunken zu sein. Beide waren nicht älter als dreißig. „Stehen Sie bitte auf. Wir haben etwas mit Ihnen zu bereden“, sagte Dan. „Sile, die haben’s aber eilig“, rief der Orangefarbene und raffte mit einer hastigen Bewegung das vor ihm liegende Geld zusammen. Sein Mitspieler, der kein Geld zusammenraffen konnte, beschränkte sich darauf, die Würfel zusammenzusuchen. Als er auf den Beinen war, ließ er die Würfel einfach im Mund verschwinden. „So, Kollegen, jetzt könnt ihr uns nichts mehr!“ versicherte er uns vergnügt, nachdem er noch einmal geschluckt hatte. Als Kind hatte ich auch einmal eine alte Schraubenmutter verschluckt. Im Gegensatz zu unserem „Freund“ hatte mir dieses Experiment überhaupt keinen Spaß gemacht, denn ich hatte mich tüchtig erschrocken. Da 74
die Reaktion des gelben Herrn ganz anders als meine eigene früher war, kam ich zu dem Schluß, daß er ein Experte auf dem Gebiet des Verbergens von Tatgegenständen sein mußte. Wäre mir in den Sinn gekommen, die beiden wegen verbotener Spiele zu beschuldigen, hätte ich schon aufgepaßt, daß ihr Treiben über das Versuchsstadium nicht hinausgegangen wäre. Schließlich waren Dan und ich nur Zuschauer, denn es lag uns fern, uns mit Kleinigkeiten abzugeben. „Wohl bekomm’s!“ wünschte ihm Dan schmunzelnd. „Wollen Sie eine Serviette, damit Sie sich die Gusche abwischen können?“ Wie sich die beiden so ansahen, war klar, daß sie sich erst jetzt über unsere Gelassenheit wunderten. „Was wollt ihr eigentlich von uns, Kollegen?“ fragte der im gelben Hemd. „Wer von euch ist Manga und wer Gogoaşă?“ erkundigte sich Dan. „Ich bin Gogoaşă, zu Befehl“, verkündete der Orangefarbene und nahm Haltung an wie bei der Armee. „Und ich bin Ghiţă Manga“, sagte der andere eilig und ahmte den anderen nach. „Arbeitet ihr denn nicht?“ wollte ich wissen. „Wieso denn nicht? Wir arbeiten auf dem Bau“, erwiderte Gogoaşă. „Und warum seid ihr jetzt zu Hause?“ „Ich kann nicht jeden Tag arbeiten, ich bin krank“, entgegnete Manga, legte seine Hand auf die Brust und hustete ein paarmal krampfhaft. „Sind Sie auch krank?“ fragte Dan den anderen. „Ich bin zu Hause geblieben und pflege meinen Freund“, antwortete Gogoaşă dreist. „Wart ihr gestern auf der Arbeit?“ „Versteht sich! Glauben Sie, wir lassen unsere Arbeitskollegen sitzen?“ Manga tat beleidigt über Dans Unterstellung. 75
„Warum schwänzt ihr die Arbeit schon fast eine Woche?“ fragte ich. Sie zogen ein Gesicht und wollten schon protestieren, ließen es aber doch. „Wer zwingt uns denn, jeden Tag zu arbeiten? Schließlich leben wir in einer Demokratie und arbeiten nur, wenn’s uns paßt!“ sagte Gogoaşă und zog unwillig an seiner Zigarette. „Was habt ihr im Haus gegenüber von eurer Baustelle gesucht?“ fragte ich und erklärte nicht erst, daß sich die Demokratie in wesentlichen Punkten von der Anarchie unterscheidet. Was nützte es, wenn Leute ihres Schlages fest davon überzeugt sind, daß die Zusammenfügung der Begriffe „Demos“ und „Kratos“ nur als Ablehnung der Gesetze und Normen der Gesellschaft aufzufassen sind? „In welchem Haus?“ ertönte es wie aus einem Munde. „Strada General Demostene zwölf“, wurde Dan deutlicher. „Sile, warst du in dem Haus, von dem der Kollege da redet?“ fragte der Orangefarbene seinen Freund. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich dort war“, versicherte Manga, während er ständig mit der Hand über sein elegantes Hemd strich. „Hören Sie, ich war überhaupt nicht dort“, betonte Gogoaşă treuherzig. „Seid ihr sicher, daß ihr nicht in dem Haus wart, das wir meinen“, fragte ich sie nochmals eindringlich. „Na, was denkt ihr denn? Dann würden wir’s euch doch sagen, Kollegen!“ „Vielleicht haben die beiden doch recht“, redete mir Dan zu. „Hm, ausgeschlossen ist es nicht“, gab ich zu und tat etwas verwirrt. „Wir müssen aber ganz sicher sein.“ „Das können Sie!“ meinte Manga sehr überzeugend. „Nun, dann werden wir die beiden eben bitten mit76
zukommen, damit sie uns vollständig davon überzeugen können, daß ihre Behauptung stimmt“, sagte ich zu Dan. „Wir kommen aber nicht mit! Wozu sollen wir mitkommen? Wir sind doch ehrliche Leute und keine Gauner!“ rief Gogoaşă erbost. „Sie dürfen uns gar nicht festnehmen, schließlich sind wir auch in der Gewerkschaft, unsere Mitgliedsbücher sind auch in Ordnung“, unterstützte ihn Manga. „Ihr werdet auch gar nicht verhaftet, sondern nur vorgeladen!“ schnitt ich beiden das Wort ab. „Ihr wollt uns nur reinlegen! Die Tricks ziehen aber nicht bei uns. Wenn ihr beweisen könntet, daß wir Dreck am Stecken haben, würde es mit der Masche gehen, aber so nicht! Beweise zählen, sonst nichts!“ sagte Gogoaşă und grinste mich unverschämt an. Ich muß gestehen, daß die Jungs Humor genug hatten, um den Späßen von Dick und Doof ernsthafte Konkurrenz zu machen. Leider war ich dienstlich bei ihnen und nicht, um mich zu amüsieren. „Bestens!“ sagte ich bestimmt und setzte ein ernstes Gesicht auf. „Ihr werdet des Diebstahls am sozialistischen Eigentum beschuldigt!“ „Was denn für ein Diebstahl?“ Manga tat verwundert. „Bretter!“ warf Dan ein. „Zum Teufel, ein neuer Trick!“ erwiderte Gogoaşă, ohne mit der Wimper zu zucken. „Los, wir gehen!“ legte ich fest, um nicht noch mehr Zeit mit ihrem Geschwätz zu verlieren. „Ohne uns!“ sagte Manga energisch. „Ohne euch geht es nicht! Es hätte ja keinen Zweck“, meinte ich und legte meine Hand auf Gogoaşăs Schulter. „Ich möchte mal sehen, wie ihr uns von hier aus unserem Viertel wegbringen wollt“, erkundigte sich Manga neugierig, nachdem Dan seine Hand ebenfalls auf seine Schulter gelegt hatte. 77
„Wie hättet ihr’s denn gern? Gestreift oder kariert?“ forschte ich die beiden aus. Sie gaben mir keine Antwort. Da sie aber unsere Hände auf ihren Schultern spürten, beruhigten sie sich. Vielleicht hatten sie gemerkt, daß wir nicht zum Scherzen aufgelegt waren. Wir gingen zur Straße. Bevor wir am Zaun waren, fiel mir noch etwas ein. Wenn ich das Problem an Ort und Stelle lösen konnte, wäre eine Menge Zeit gespart, was von Vorteil ist, wenn man einige verdächtige Übeltäter zu vernehmen hat. „Ich würde mir gern mal eure Wohnungen ansehen, aber ich habe keinen Haussuchungsbefehl. Meine Neugierde kann also nur befriedigt werden, wenn ihr mich dazu auffordert. Seid ihr einverstanden?“ Wie auch nicht anders zu erwarten, waren sie nicht sehr erbaut davon. So fuhr ich mit meiner Argumentation fort: „Wenn ihr euch weiter ablehnend verhaltet, heißt das, ihr habt etwas zu verbergen. Sollte es an dem sein, würde euch mein Kollege Gesellschaft leisten, während ich schnell zur Staatsanwaltschaft fahre und den Haussuchungsbefehl hole. Spätestens in einer halben Stunde könntet ihr die Haussuchung nicht mehr ablehnen. Glaubt ihr wirklich, daß euch die Verzögerung etwas nützt?“ „Erst das Papier und dann alles andere!“ meinte Gogoaşă unerbittlich. Wenn sie nicht einwilligten, konnten wir überhaupt nichts machen. Ich wollte Dan gerade sagen, was er in meiner Abwesenheit tun sollte, als ich bei Manga einen Sinneswandel bemerkte. „Mein Kollege paßt auf, daß bis zu meiner Rückkehr nichts aus euren Wohnungen verschwindet“, bemerkte ich. „Du, was ist schon dabei, wenn die mal reingucken?“ fragte Manga seinen Freund. 78
„Ich will aber nicht, basta!“ lautete Gogoaşăs Antwort. „Du blöder Zigeuner! In meine Wohnung dürfen Sie, ich bin eine ehrliche Haut. Sie merken doch, daß ich ein dufter Kumpel bin.“ Er drehte den Spieß listig um. Da ich eine unangenehme Überraschung vermeiden wollte, ließ ich mir von Manga das Einverständnis vor der Haussuchung schriftlich geben. Nachdem ich dessen schriftliches Einverständnis hatte, gab Gogoaşă auch nach. Als wir an die Arbeit gingen, war mir klar, daß der Kühlschrank nicht in ihren Wohnungen war, da er gar nicht durch die Türen gepaßt hätte. Eine Viertelstunde später kam ich zu dem Schluß, daß sich die anderen gestohlenen Gegenstände auch nicht in ihren Wohnungen befanden. Während wir mit dem Auto zur Dienststelle zurückfuhren, fragte ich mich, ob das Diebesgut nicht in der Nachbarschaft der Verdächtigen versteckt war. In dieser Gegend ist so etwas auch schon vorgekommen.
8 Als wir unser Ziel erreicht hatten, ließ ich Gogoaşă in der Obhut des diensthabenden Unteroffiziers auf dem Gang, während ich mit Manga in unser Büro ging. „Herr Manga“, hob ich an, nachdem er vor mir Platz genommen hatte, „Sie müssen mir einiges erklären.“ „Ja, Herr, ich sage alles, was Sie wollen“, machte er sich anheischig wie eine Prostituierte. „Bitte unterbrechen Sie mich nicht! Was haben Sie Donnerstag nachmittag gemacht?“ „Donnerstag nachmittag?“ wiederholte er und war sichtlich um Konzentration bemüht, „Um Ihnen etwas auf die Sprünge zu helfen, möchte 79
ich Sie daran erinnern, daß Donnerstag euer letzter Arbeitstag auf der Baustelle war.“ „Ah, jetzt dämmert mir’s! So um sechs Uhr abends, nach der Arbeit, bin ich mit meinem Freund Gogoaşă ein Bier trinken gegangen.“ „Wo?“ fragte Dan in seiner Eigenschaft als Stenograf. „In die Gaststätte ‚Mioriţa‘, Ecke Strada Mîntuleasa und Bulevard …“ „Wann seid ihr in die ‚Mioriţa‘ gegangen, und wann habt ihr sie wieder verlassen?“ „So gegen halb sieben sind wir reingegangen, und um acht sind wir wieder abgehauen.“ „Habt ihr einen Bekannten getroffen, der das bestätigen kann?“ „Weiß nicht. Doch, der Kellner Mǎrin kann’s bezeugen. Er hat uns bedient und uns dann rausgeschmissen.“ „Warum?“ „Er hat gesagt, es ist verboten, angesoffen in der Kneipe zu singen.“ „Das war um acht, nicht?“ erkundigte ich mich. „Ja, so etwa.“ „Gut, reden Sie weiter. Was habt ihr gemacht, als ihr aus der ‚Mioriţa‘ rausgeflogen seid?“ „Wir sind ins Restaurant ‚Odobeşti‘ in der Calea Moşilor gegangen. Es lag so am Weg.“ „Wann seid ihr dort hineingegangen?“ „Weiß nicht mehr, wir waren schon ganz schön voll.“ „Wenn Sie so betrunken waren, wie erinnern Sie sich dann, wann Sie genau aus der ‚Mioriţa‘ weg sind?“ „Gut, genau hab’ ich’s ja nicht gesagt. Ich hab’s so geschätzt, damit’s der Kollege da aufschreiben kann.“ Belustigt sah ich zu „dem Kollegen da“ hinüber und hatte den Eindruck, daß Dan für Mangas Hilfe nicht sehr dankbar war. „Halten wir also fest, daß ihr, nachdem ihr aus der ‚Mioriţa‘ rausgeflogen seid, direkt ins ‚Odobeşti‘ gegan80
gen seid, nicht wahr?“ fragte Dan zusammenfassend. „Ja, so ist’s.“ „Wie lange seid ihr im ‚Odobeşti‘ geblieben?“ fragte ich weiter. „Eine Flasche Wein haben wir niedergemacht, die zweite haben wir nicht mehr geschafft, dann haben sie uns ’rausgebracht. Na ja, ein paar Kollegen vom Überfallkommando haben uns abgeschleppt.“ „Warum?“ „Der Objektleiter hat angerufen und gesagt, wir machen Rabatz in der Kneipe, aber ich will Max heißen, wenn das wahr ist.“ „Wie lange hat euch die Miliz dabehalten?“ „Bis Freitag früh, dann haben sie uns laufenlassen. Wir sollen fünfhundert Piepen zahlen, weil wir randaliert haben. Vielleicht können Sie mal mit denen reden und sagen, daß wir arme Schlucker sind und so was nicht wieder machen.“ „Also, nachdem ihr die Baustelle um halb sechs Uhr abends verlassen habt und von der Miliz aufgegriffen worden seid, wart ihr nicht in der Wohnung, von der ich gesprochen habe. Ist es so?“ „Der Teufel soll mich holen, wenn’s anders ist.“ „Und wie kommen die Bretter von eurer Baustelle in die bewußte Wohnung?“ „Das können doch nur die wissen, die sie geklaut haben“, erwiderte er spontan. „Mit den Brettern wurden ein Beil und eine Säge dorthin gebracht, die – was für ein Zufall – ausgerechnet euch gehören.“ Nach kurzem Zögern sagte er: „Wer die Bretter geklaut hat, hat auch das Werkzeug mitgenommen, um uns anzuschmieren.“ „Wissen Sie, was Fingerabdrücke sind?“ „Ja, von den Fingern.“ „Genau“, meinte ich. „Auf den Werkzeugen wurden 81
nur eure Fingerabdrücke festgestellt. Das heißt, daß sie niemand außer euch angefaßt hat“, bluffte ich und machte ein ernstes Gesicht. Er hatte nun keine Gaunermiene mehr, wich meinem Blick aus und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Ich bin unschuldig“, stammelte er. „Sind Sie eigentlich vorbestraft?“ wollte Dan wissen. „Nein“, gab er so wenig überzeugend zur Antwort, daß Dan aufstand und aus dem Zimmer ging. „Warum haben Sie die beiden Frauen umgebracht?“ fragte ich unvermittelt, nachdem Dan die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Welche Frauen?“ schrie er entsetzt auf. „Lassen Sie das Theater! Sie wissen sehr wohl, wovon ich rede!“ fuhr ich ihn an. „Gott möge mich strafen, wenn …“ Als Dan wieder hereinkam, brach er ab. Ich nahm die beiden Karteikarten, die mein Mitarbeiter gebracht hatte, und sah sie mir an. Sowohl Manga als auch Gogoaşă hatten ein ganz schönes Strafregister, doch nur Gaunerei, kleinere Betrügereien, unlautere Geschäfte, Fahrraddiebstahl und Ausplünderung eines Betrunkenen. Angesichts der Entwicklung ihrer Straftaten war ich der Ansicht, daß Manga und Gogoaşă des Delikts, um das es ging, fähig waren. „Sagten Sie nicht eben, Sie hätten noch nicht mit der Miliz zu tun gehabt?“ fragte Dan, als er sich wieder setzte. Als sehr sensibles Wesen senkte Manga beschämt den Kopf. „Wissen Sie, wie die Ermordung von zwei Menschen bestraft wird?“ fragte ich ihn. Die Art und Weise, wie er zitterte und schwitzte, zeigte, daß ihm der Strafvollzug nicht gänzlich unbekannt war. „Ich schwöre, daß ich keine Schuld habe! Ich habe ihnen nichts getan! Ich habe nichts damit zu tun.“ 82
„Wer dann?“ „Ich weiß es nicht!“ Er schrie verzweifelt auf. „Ich gebe alles zu, aber das nicht. Es stimmt nicht!“ „Wir wollen jetzt systematisch vorgehen. Wart ihr beide im Haus der beiden Frauen oder nicht?“ „Wir waren drin“, gab er zu. „Gut, dann berichten Sie, wie ihr dorthin gekommen seid.“ „Die Alte hat uns gerufen. Ich habe mit Ghiţă an der Verschalung vor der Baustelle auf dem Bürgersteig gearbeitet, als die Alte uns rief. Nur Ghiţă ist reingegangen. Wir dachten, wir sollten ihr vielleicht ein Huhn schlachten oder so was. Als Ghiţă zurückkam, sagte er, daß wir für die Alte was bauen sollten, ein Regal. Wir sollten erst mal nach der Arbeit rüberkommen und mit ihrer Tochter handelseinig werden. Um halb sechs sind wir rübergegangen und sind uns einig geworden, die Sache für fünfhundert Piepen zu machen. Ich verlangte zweihundert Anzahlung, aber die Alte hat nicht mitgemacht. Sie sagte, sie gibt nichts, denn dann sieht sie uns vielleicht nicht wieder. Die jüngere Frau sagte dann, daß sie uns nur etwas gibt, wenn wir Material und Werkzeug bringen und sie sieht, daß wir ehrlich sind. Da anders nicht zu Geld zu kommen war, gingen wir auf die Baustelle zurück. Während ich mit dem Wächter schwatzte, um ihn abzulenken, stibitzte Ghiţă die Bretter. Als wir sie brachten, gaben uns die beiden Frauen das Geld, und wir gingen wieder. Ich schwöre Ihnen daß wir die beiden seither nicht mehr gesehen haben“, sagte er zum Schluß und weinte ziemlich überzeugend. „Wann seid ihr von dort weg?“ fragte Dan. „Ich glaube, es war fast sechs Uhr.“ „Durch welche Tür seid ihr ins Haus gekommen?“ fragte ich. „Durch den Hintereingang.“ „Wenn alles, was Sie uns jetzt gesagt haben, wahr ist, 83
warum haben Sie bestritten, die beiden Frauen gekannt zu haben?“ „Wir hatten Angst, daß Sie uns mitnehmen, weil wir die Bretter von der Baustelle geklaut haben.“ „Das stimmt nicht! Wenn Sie Ihre Lage nicht verschlimmern wollen, dann sagen Sie alles. Aber wirklich alles!“ redete ich ihm zu, denn ich war nicht recht davon überzeugt, daß das Theater, das uns die Verdächtigen vorspielten, nur auf der Angst vor der Verurteilung wegen Bretterdiebstahls beruhte. Die Art und Weise, wie er den Blick von mir abwandte, sagte mir, daß ich richtig getippt hatte. „Rücken Sie nun endlich mit der Sprache heraus?“ knurrte Dan ihn an. „Ich sage Ihnen ja alles“, räumte Manga ein. „Ich bin nämlich unschuldig! Ghiţă, der Teufel soll den alten Zigeuner holen, hat die Uhr geklaut. Mir hat er sie erst auf der Straße gezeigt.“ „Wo war die Uhr?“ „Im Wohnzimmer, auf dem Tisch.“ „Was für eine Uhr war es?“ „’ne Armbanduhr. Ghiţă hat gesagt, sie ist aus Gold, aber sie ist nur vergoldet. Wir haben nur zweihundert Piepen dafür gekriegt.“ „War außer den beiden Frauen noch jemand im Haus?“ „Haben wir nicht gesehen.“ „Haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen?“ „Nur Ghiţă, das Aas, ist schuldig. Ich habe nichts geklaut,“ „Das reicht! Dan, bring ihn hinaus und hol den anderen ’rein!“ Nachdem wir uns eine halbe Stunde lang mit Gogoaşă „unterhalten“ hatten, kamen wir zu dem Schluß, daß die Aussage der beiden Tagediebe mit zwei Ausnahmen übereinstimmten. Die erste war, daß Manga den Diebstahl ohne Wissen von Gogoaşă verübt hatte. Die zweite, 84
und das war für uns wichtig, bestand darin, daß Gogoaşă in dem Augenblick, als Manga die Uhr aus dem Wohnzimmer entwendete, in der Küche ein kurzes Klingeln vernommen hatte. „Wollen wir ihre Aussage überprüfen lassen?“ fragte Dan, als wir die Verdächtigen in die Untersuchungshaft geschickt hatten. Ich sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachmittags. „Ja, bei der Gelegenheit kommen wir wenigstens auch mal zum Essen“, meinte ich.
9 Um Viertel vier sahen wir klar. Unsere Gespräche in den Restaurants „Mioriţa“ und „Odobeşti“ sowie auf dem Milizrevier hatten uns davon überzeugt, daß die Verdächtigten gar nicht die notwendige Zeit gehabt hatten, den Doppelmord zu begehen. „Nun fangen wir wieder bei Null an“, bemerkte Dan, als wir ins Auto einstiegen. „Wäre es nicht angebracht, auch mit Herrn Johnny Ghiţă, dem Verlobten der Sekretärin, zu reden?“ „Ja, aber wir müßten ihn allein sprechen. Glaubst du, daß wir ihn auf seiner Arbeitsstelle antreffen?“ „Versuchen wir’s doch. Was machen wir mit den beiden Galgenvögeln?“ wollte Dan von mir wissen, als das Auto in Richtung auf das neue Ziel fuhr. „Wenn wir vom Würfeln und den paar gestohlenen Brettern absehen, was bleibt dann eigentlich unter dem Strich noch?“ „Die geklaute Uhr.“ „Hat jemand Anzeige erstattet?“ Wir blieben beide stumm, bis wir die Genossenschaft erreicht hatten. 85
Herrn Johnny Ghiţă, der noch arbeitete, forderten wir auf, zur Klärung eines Sachverhalts auf die Inspektion mitzukommen. Obwohl er nicht gerade begeistert war über unsere Aufmerksamkeit für seine Person, machte er keine Schwierigkeiten. „Herr Ghiţă“, begann ich, nachdem wir uns in unserem Büro niedergelassen hatten, „sagen Sie uns zunächst bitte, seit wann Sie bei Frau Damian wohnen.“ „Es läßt Ihnen wohl keine Ruhe, mir eine Strafe aufzubrummen, weil ich mich nicht angemeldet habe?“ fragte er mit einem sarkastischen Lächeln. „Für Strafen bin ich nicht zuständig! Bitte beantworten Sie meine Frage.“ Ich wurde etwas förmlicher. „Seit zwei Wochen.“ „Und wo haben Sie vorher gewohnt?“ „Bei Verwandten in Ploieşti. Ich hatte es aber satt, jeden Tag zu fahren.“ „Und die Anschrift?“ Ich war mir aber bewußt, daß ich in meiner Ermittlung zu weit ging. Der Geck vor mir reizte mich einfach. „Ist das so wichtig?“ fragte Ghiţă aufgeregt. „Wir stellen hier die Fragen!“ fuhr ihn Dan an. „Tatsächlich?“ fragte er mißtrauisch. „Ihren Personalausweis bitte!“ sagte ich. Erst wollte er sich sperren, überlegte es sich aber doch. Verächtlich zog er das Dokument aus der Brieftasche und warf es mir auf den Schreibtisch. „Strada Republicii dreihunderteinundzwanzig“, sagte ich zu Dan, legte den Ausweis auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände darüber. „Herr Ghiţă, sagen Sie uns doch bitte, was Sie Donnerstag nachmittag gemacht haben.“ „Habe ich Ihnen das nicht schon gestern erzählt?“ „Na, dann erzählen Sie es uns eben heute noch einmal!“ 86
„Ha, ha, ha! Die ewige Geschichte vom Alibi!“ rief er und lachte gezwungen. Als er jedoch merkte, daß ich nicht mit einstimmte, fragte er mich entrüstet: „Verdächtigen Sie mich etwa auch?“ „Ja!“ gab ich unumwunden zu. „Insbesondere auf Grund der Tatsache, daß Sie über den Verkauf der Wohnung durch die Ermordeten Bescheid wußten und zu dem Personenkreis gehören, der in ihrer Wohnung verkehrte.“ „Das ist ja gut! Ich bin über Ihre Verdächtigung empört!“ „Angesichts der Tatsache, daß zwei Personen aus Ihrem Bekanntenkreis umgebracht wurden, sollten Sie nicht gleich einschnappt sein, wenn Sie tatsächlich unschuldig sind.“ „Natürlich bin ich unschuldig!“ „Das wollen wir eben feststellen, doch Ihr widerspenstiges Verhalten hindert uns daran. Wenn Sie weiterhin so störrisch sind, führen wir unser Gespräch so lange, wie es zur Klärung des Sachverhalts erforderlich ist. Wenn es auch nicht so aussieht, so haben wir es längst nicht so eilig, wie Sie annehmen“, sagte ich und dachte genau das Gegenteil. Er hörte mir zu und fingerte nervös an seiner Brieftasche herum, die er noch in der Hand hatte. „Ich werde schließlich nicht dafür bezahlt, daß ich meine Zeit vertrödle wie andere“, sagte er und sah mich an. „Beeilen Sie sich mit Ihren Fragen, denn ich habe noch mehr zu tun.“ „Was haben Sie nach der Arbeit getan?“ „Wie bereits gesagt, ging ich um vier Uhr mit Cristina ins Restaurant ‚Pescarul‘ essen. Als wir mit dem Essen fertig waren, haben wir uns einen Film in der ‚Scala‘ angesehen.“ „Wann haben Sie das Restaurant verlassen, und wann sind Sie ins Kino ‚Scala‘ gegangen?“ unterbrach ihn Dan. 87
Ghiţă sah wieder auf seine Brieftasche, als hätten dort die Antworten auf die Fragen meines Kollegen gestanden. „Aus dem ‚Pescarul‘ sind wir um sechs Uhr abends wieder weggegangen“, bemerkte er. „Und wann sind Sie in die ‚Scala‘ gegangen?“ „Das weiß ich nicht mehr genau.“ „Sind Sie noch woanders hingegangen?“ „Nein, wir sind direkt ins Kino gegangen.“ „Da man vom ‚Pescarul‘ bis zur ‚Scala‘ höchstens eine Viertelstunde braucht, wenn man gemächlich schlendert, hieße das, daß Sie die vorletzte Vorstellung um halb sieben gesehen haben, nicht wahr?“ wollte Dan ihn aushorchen. „Ja, so müßte es gewesen sein.“ „Welchen Film haben Sie gesehen?“ fragte ich ihn wieder. „Und welchen Vorfilm?“ unterstützte mich Dan. Herr Ghiţă machte den Mund ein paarmal auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Gleichzeitig wanderte sein Blick von mir zu Dan, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Brieftasche. Er fingerte so nervös an ihr herum, daß sie mir richtig leid tat. Wenn ich nicht etwas unternahm, würde sie in den nächsten Minuten aus sämtlichen Nähten platzen. „Wir werden im Restaurant ‚Pescarul‘ Erkundigungen über Ihre Anwesenheit im Lokal zur fraglichen Zeit einholen“, sagte ich, ohne mich dabei an jemanden zu wenden. „Ich war weder im Restaurant noch im Kino“, brachte Ghiţă stockend hervor, schaute mich an und legte den Gegenstand, den ich bedauert hatte, auf den Schreibtisch. Er hatte gerötete Augen und sah mich flehend an. „Und wo waren Sie wirklich?“ fragte ich und nahm die Brieftasche an mich. „Bei einer Frau …“ 88
Ich lachte nicht laut los, sondern beherrschte mich. Die Würde meiner Institution zwingt mich, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Von zwei Verdächtigen, die danach befragt werden, was sie in der fraglichen Zeit getrieben haben, fühlt sich mindestens einer verpflichtet, uns die Geschichte mit einer Frau aufzutischen. Eine Frau, deren Name selbstverständlich nicht genannt werden darf. Eine Frage der Ehre und der Ritterlichkeit. „Name und Adresse der Dame“, wollte ich wissen, obwohl ich die Antwort bereits kannte. „Weiß ich nicht.“ „Wieso?“ fragte ich etwas verärgert, obwohl ich mich in Wirklichkeit über seine Antwort freute. Mir müßte doch auffallen, daß es von dem abgedroschenen „kann ich Ihnen nicht sagen“ zum „weiß ich nicht“ ein bedeutender Qualitätssprung ist, verglichen mit der monotonen Antwort, auf die ich gefaßt war. „Sie ist verheiratet und wollte mir nur ihren Vornamen verraten: Gina.“ „Aha!“ sagte ich voller Verständnis. „Und wo haben Sie sie kennengelernt?“ „Auf der Straße, als ich von der Arbeit kam.“ „War sie wenigstens hübsch?“ fragte ich und heuchelte Interesse für das Märchen, das er mir auftischte. „Eine außergewöhnliche Schönheit“, versicherte er mir mit dem Stolz des Eroberers. „War das eine Frau!“ „Und wie ging es dann weiter?“ schaltete sich Dan ein. „Was soll ich dazu sagen? Wir haben uns köstlich amüsiert“, verkündete er uns und sah verzückt lächelnd zur Decke. Wahrscheinlich dachte er an die Party, an die ich ihn erinnert hatte. „Sind Sie mit ihr zu einem Freund nach Hause gegangen?“ fragte ich und wollte ihn in eine bestimmte Richtung lenken. 89
„Nein, ich war bei ihr.“ „Gar nicht so schlecht, wenn man eine ganze Nacht mit so einer Frau verbringt.“ Dan tat neidisch. „Leider mußte ich vor Mitternacht gehen. Einerseits hatten wir Angst, daß ihr Mann von seiner Dienstreise zurückkam. Obwohl erst am nächsten Tag mit ihm zu rechnen war, kann man ja nie ganz sicher sein. Andererseits wollte ich mir auch keinen Ärger mit meiner Verlobten einhandeln. Was soll man da machen? So ist das Leben eben! Alles Schöne geht einmal vorüber!“ schloß er mit einer Geste philosophischer Ergebenheit. „Sind Sie in ein Restaurant gegangen, ehe Sie zu ihr nach Hause gingen?“ fragte ich in einem Ton, der ihm zeigen sollte, daß mich sein amouröses Abenteuer ziemlich belustigte. So wie er mich einen Moment lang ansah, wußte ich, daß er noch auf der Hut war. „Ich habe sie eingeladen, aber sie wollte nicht. Wissen Sie, als verheiratete Frau kann sie es sich nicht leisten, sich mit einem fremden Mann sehen zu lassen. So mußten wir uns eben mit dem begnügen, was wir im Selbstbedienungsladen ‚Unic‘ an Getränken bekamen. Wie ich Ihnen schon sagte, hat das aber die Freude über unser Kennenlernen nicht im geringsten getrübt.“ Die Tatsache, daß Herr Ghiţă die Falle mit dem Restaurant umgangen und einen Selbstbedienungsladen vorgeschoben hatte, wo es wegen der zahlreichen Kundschaft nicht möglich ist, seine Anwesenheit zu überprüfen, verdroß mich nicht sonderlich. „Wollen Sie sich denn nicht wieder mit ihr treffen? Wenn Sie sich gegenseitig so sympathisch waren, wäre es doch normal, daß Sie sich wiedersehen möchten.“ „Wir haben beschlossen, daß unser erstes Rendezvous auch das letzte bleiben sollte. Diese unvorgesehenen einmaligen Abenteuer sind viel schöner als die anderen, die als Verhältnis in schreckliche Langeweile ausarten. 90
Übrigens wäre alles ziemlich perspektivlos gewesen. Gina ist verheiratet, und ich heirate in ein paar Tagen“, betonte er. „Nun, da Sie bei besagter Frau waren, wissen Sie sicher auch, wo sie wohnt“, sagte ich und fuhr über die Brieftasche, die Herr Ghiţă im Stich gelassen hatte. „Ich weiß nur, daß sie im Viertel Drumul Taberei wohnt. Da die Neubauten alle ziemlich gleich aussehen, kann ich nicht sagen, in welches Haus wir gegangen sind.“ „Erinnern Sie sich wirklich nicht? Aufgang, Etage oder Wohnung?“ „Nur in der Etage bin ich mir sicher. Als wir im Fahrstuhl waren, sah ich, daß Gina auf den Knopf für die sechste Etage drückte. Ansonsten war ich von ihren Augen wie hypnotisiert. Sie waren so wunderbar blau wie der Ozean.“ „Wenn Sie mit dem Bus oder mit dem O-Bus gefahren sind, müßten Sie sich doch wenigstens an die Haltestelle erinnern, an der Sie ausgestiegen sind“, bemerkte ich gezielt. Er sah mich wieder kurz und lauernd an und meinte dann vertraulich: „Wenn man bei solchen Dingen nicht schnell ist, überlegt es sich die Partnerin vielleicht anders. Ich rief ein Taxi, die Adresse hat natürlich Gina angegeben.“ „Na klar, weil die Augen der Frau so schön waren, haben Sie nicht aufgepaßt, was sie zum Fahrer gesagt hat“, seufzte Dan gar nicht verdrossen. „In derartigen Situationen ist der Mangel an Aufmerksamkeit entschuldbar!“ gab er mit versteckter Ironie zu. Der Geck war froh, daß er uns ein schönes Märchen erzählt hatte, das überhaupt nicht nachzuprüfen war. Als er meine Fallen zu umgehen versuchte, tappte er prompt in die größte. 91
„Da Sie fast acht Stunden in der Gesellschaft von Frau Gina zugebracht haben, bin ich sicher, daß Sie eine genaue Beschreibung von ihr geben können.“ „Insbesondere, da eine wahre Schönheit, und so schätzen Sie sie als Kenner auf diesem Gebiet ja ein, sicher tiefe Spuren in einem Mann hinterläßt, ich meine im Gedächtnis!“ fühlte Dan sich verpflichtet hinzuzufügen, um Öl aufs Feuer zu gießen. „Das verstehe ich nicht. Wozu soll die Beschreibung Ginas gut sein, wenn Sie gar nicht wissen, wo sie wohnt. Besteht nicht halb Bukarest aus Frauen?“ „Taxifahrer haben ein außerordentlich gutes visuelles Gedächtnis. Wenn wir dem Taxibetrieb die Beschreibung von Frau Gina und von Ihnen liefern, werden wir zweifellos erfahren, wo Sie die Nacht von Donnerstag zu Freitag verbracht haben“, bemerkte ich und betrachtete zerstreut die Papiere in der Brieftasche, die ich hin und her bewegte. Dabei fiel mir ein glänzendes Papier auf. Behutsam zog ich an einer Ecke und sah, daß es ein Polaroidabzug war. Dann zog ich es ganz heraus und sah es mir an. Mein Gesprächspartner hatte seinen linken Arm um die Schulter einer Unbekannten gelegt. Auf dem rechten Arm hatte er ein etwa dreijähriges Kind. „Bis jetzt haben Sie zweimal versucht, uns hinters Licht zu führen, um es gelinde auszudrücken. Wollen Sie uns endlich die Wahrheit sagen, oder sollen wir Sie lieber wegen Doppelmordes festnehmen?“ fragte ich ihn, während ich das Bild immer noch zerstreut ansah. „Ich habe nichts damit zu tun … mit den Morden. Ich kann Ihnen aber trotzdem nicht sagen, wo ich war!“ Ich drehte das Foto um und las auf der Rückseite: „Papi, Mami und Cornel“. Es trug das Datum von vor sechs Tagen und war in Ploieşti gemacht worden. Ich legte es beiseite, nahm den Personalausweis, der noch auf dem Schreibtisch lag, und schlug die Seite mit den Adressenänderungen auf. 92
„Herr Ghiţă, Sie sind im Bezirk Neamţ geboren. Wieso sind Sie nach Ploieşti gezogen?“ fragte ich und sah ihn an. Er wiederum sah mich wie ein Ertrinkender kurz vor dem Untertauchen an. „Durch Heirat, was?“ Mit verstörter Miene pflichtete er mir bei. Der tadellose Kragen seines tadellosen Hemdes war schon tüchtig durchgeschwitzt. „Sind Sie von Ihrer Frau geschieden?“ fragte ich und zeigte mit dem Finger auf das Bild auf dem Schreibtisch. „Nein“, stotterte er kraftlos. „Und da wollten Sie eine neue Ehe eingehen?“ fragte ich zweifelnd. „Ich brauchte unbedingt den Zuzug nach Bukarest. Es gab keine andere Möglichkeit.“ „Und was sollte aus Ihrer Frau und Ihrem Kind in Ploieşti werden?“ „Hätte ich hier einen Wohnsitz und eine Arbeit gehabt, hätte ich schon eine Möglichkeit gefunden, die beiden nachkommen zu lassen.“ „Und was hätten Sie mit Cristina Damian gemacht?“ „Ich hätte mich scheiden lassen“, verkündete er und setzte wieder sein erhabenes Lächeln auf. Wahrscheinlich war er noch stolz auf seine faulen Tricks. Aufmerksam sah ich ihn an. Ich wollte mir das Gesicht des größten Dummkopfs, dem ich je begegnet war, einprägen. „Wissen Sie, daß Ihr Kuhhandel Bigamie ist und bis zu fünf Jahren Gefängnis einbringt?“ fragte ich, um herauszubekommen, ob sein Leichtsinn irgendwo Grenzen hatte. „Schon möglich, aber Sie können mir trotzdem nichts anhaben. Die Absicht ist nicht strafbar“, verkündete er mir sarkastisch grinsend. Ich sah meinen Mitarbeiter an, der über die Dreistig93
keit unseres Klienten nicht schlecht staunte, und sagte zu ihm: „Wenn die Trauung in einigen Tagen stattfinden sollte, heißt das, daß das Aufgebot bereits bestellt ist. Morgen früh gehst du zum Rat des Stadtbezirks vier, in dem Cristina Damian wohnt, und bittest darum, daß die Akten einbehalten werden als Beweis für die strafbare Handlung.“ „Die Absicht …“ „Der Versuch, Herr Ghiţă! Der Versuch wird ebenso wie die Übertretung selbst bestraft“, bluffte ich. Wie ich dann feststellte, hielt er sein überlegenes Getue nicht mehr durch. Von Panik gepackt, leckte er sich die Lippen wie eine Katze und keuchte fast asthmatisch. „Weshalb hat Cristina Damian Sie gedeckt, als sie sagte, Sie seien mit ihr ausgegangen?“ „Donnerstag nachmittag, als ich nach Ploieşti fuhr, sagte ich ihr, daß ich ein Glas Wein mit einer einflußreichen Persönlichkeit trinken wollte, die mir zu einem guten Posten verhelfen könnte“, sagte er mit dumpfer Stimme, während er sich den Schweiß mit einem Taschentuch abwischte. „Wäre es nicht besser gewesen, die Arbeitsstelle, die Ihnen zugeteilt wurde, anzunehmen?“ „Ich wollte doch nicht aufs Land“, seufzte er resigniert. „Warum haben Sie dann an einem Institut studiert, das Spezialisten für die Landwirtschaft ausbildet? Weshalb haben Sie den Platz eines Anwärters belegt, der sich in seinem Beruf gerne dort entfaltet hätte, wo er gebraucht wird?“ „Die Einsicht kommt leider immer zu spät …“, seufzte er wieder und rieb sich verzweifelt die Hände. Obwohl ich nicht behaupten konnte, daß mich seine Verzweiflung besonders beeindruckte, sagte ich mir, daß es auch nicht die ideale Lösung wäre, ihn ins Gefängnis zu stecken. 94
„Herr Ghiţă, entgegen den gesetzlichen Vorschriften bin ich bereit, Ihnen eine Chance zu geben.“ „Ja“, horchte er auf und sah mich an, wie ein Herzkranker Dr. Christian Barnard angesehen hatte, als man noch an Herztransplantationen glaubte. „Ich gebe Ihnen zweiundsiebzig Stunden Zeit, damit Sie sich bei der Arbeitsstelle einfinden, die Ihnen von Ihrem Ausbildungsinstitut zugewiesen wurde. Wenn ich in dieser Zeit per Post die Bestätigung Ihrer Einstellung bekomme, schicke ich Ihnen die beim Rat des Stadtbezirks eingereichten Unterlagen und vergesse, daß wir uns je getroffen haben.“ „Ich bin einverstanden!“ sagte er und strahlte. „Ich danke Ihnen ganz herzlich für …“ „Andernfalls schicke ich die Akte zur strafrechtlichen Verfolgung an die Staatsanwaltschaft“, fuhr ich in strengem Ton fort. „Nicht nötig! Sie werden sehen …“ „Sie können gehen“, sagte ich abschließend zu ihm und gab ihm Personalausweis und Brieftasche zurück. „Was sage ich nur zu Cristina?“ fragte er mich unterwürfig, während er sich eilig verbeugte wie ein Mohammedaner zur Stunde des Gebets. „Das ist Ihre Angelegenheit! Auf jeden Fall ist ein Verlobter, der es sich anders überlegt hat und sich aus dem Staube macht, besser, als wenn die Ehe wieder gelöst und der Mann wegen Bigamie eingesperrt wird. Die erste Möglichkeit kommt häufiger vor.“ Er nickte zustimmend und streckte mir schüchtern die Hand hin. Er befürchtete wohl, daß ich sie nicht ergriff. Ich tat es aber doch, obwohl er es nicht verdient hatte. „Einen Augenblick noch, Herr Ghiţă“, sagte ich, als er gerade das Büro verlassen wollte. „Etwas möchte ich Ihnen noch sagen. Die Geschichte, die Sie eingefädelt haben, wäre auch unabhängig von dem Zwischenfall, der uns zusammengeführt hat, herausgekommen. Das Stan95
desamt, bei dem Sie Ihr Aufgebot mit Cristina Damian bestellt haben, wäre verpflichtet gewesen, das Standesamt Ihres Geburtsortes zu benachrichtigen. So wäre sofort festgestellt worden, daß Sie eine zweite Ehe eingehen wollen. Vierundzwanzig Stunden später wäre es zur strafrechtlichen Verfolgung gekommen. Betrachten Sie sich als Glückspilz“, gab ich ihm noch mit auf den Weg, damit er nicht den Eindruck gewann, daß sein Plan vom Zufall vereitelt wurde, nämlich durch die Tatsache, daß wir auf ihn gestoßen waren, während wir eigentlich etwas ganz anderes suchten.
10 „Chef, hast du dich nicht etwas überstürzt?“ fragte Dan, als wir wieder allein waren. „Ghiţă ist nicht in Mordgeschichten verwickelt. So wie er zu Cristina Damian stand, mußte er wissen, daß die Ermordeten kein Bargeld im Hause hatten. Die Art und Weise, wie das Haus durchsucht wurde, beweist eigentlich klar, daß die Mörder nichts von den Einkäufen wußten, die in den letzten Tagen vor dem Überfall getätigt wurden.“ „Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir wieder bei Null angelangt“, stellte er fest, da er Ghiţă schließlich auch für unschuldig hielt. Anstatt ihm eine Antwort zu geben, fragte ich: „Was ist eigentlich mit dem Sohn der Putzfrau los?“ „In unserer Angelegenheit ist er unschuldig wie ein Neugeborenes. Zum Zeitpunkt des Überfalls war er hinter Gittern.“ „Wann ist er eingesperrt worden?“ „Acht Tage vorher.“ „Sehr interessant. Wie wäre es, wenn wir uns etwas mit ihm unterhalten würden?“ 96
„Glaubst du denn, daß …“ „Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir alles annehmen können. Hast du mit ihm gesprochen?“ „Nach den Angaben der Jungs vom Revier hielt ich es nicht mehr für nötig.“ „Also ein Grund mehr, daß wir ihn kennenlernen“, bestimmte ich und stand auf. Das Auto fuhr in Richtung Norden und ließ den Herăstrău-See und das Floreasca-Bad hinter sich. Wir fuhren auf die Şoseaua Pipera, bogen nach links ab und setzten unsere Fahrt auf der Strada Zăgazului fort. Nach etwa 100 Metern hielten wir vor einem gepflegten Häuschen. Hinter dem erst vor kurzem gestrichenen Holzzaun waren prächtige Blumen und eine üppige Vegetation zu sehen, die fachmännische Pflege erkennen ließen. Als ich die Tür öffnen wollte, hielt ich kurz inne. Auf einem Schild stand: „Vorsicht, bissiger Hund!“ Obwohl ich etwas für bellende Vierbeiner übrig habe, räume ich ein, daß es unter ihnen auch gefährliche Vertreter gibt. Also klopfte ich an die Tür, da ich mir meinen Anzug nicht unbedingt zerreißen lassen wollte. Er war schließlich mein persönliches Eigentum. „Guten Abend!“ begrüßte uns Anica kurze Zeit später, als sie uns die Tür aufmachte. „Kommen Sie bitte herein!“ „Ist er angebunden?“ fragte Dan vorsichtig und zeigte auf das Schild an der Tür. „Wer? Ach so!“ dämmerte es bei ihr. „Nein, der ist doch ganz lieb“, sagte sie und zeigte uns einen mickrigen Dackel, der uns ansah und blitzartig das Weite suchte. „Könnten wir mal mit Ihrem jüngsten Sohn sprechen?“ fragte ich, als wir vor der Veranda waren. „Wenn er nicht gerade weggegangen ist“, meinte sie und rief durch die offene Tür: „Ionel, Ionel!“ „Ja, gleich“, ertönte eine kräftige Stimme von drinnen. 97
„Was wollen Sie denn von ihm? Hat er wieder was angestellt?“ fragte sie besorgt, als sie uns durch die Veranda in ein Zimmer geführt hatte. „Nichts Besonderes. Wir wollen nur ein paar Auskünfte von ihm“, beruhigte ich sie und versuchte herauszubekommen, wozu das Zimmer, in dem wir uns aufhielten, diente. Es gelang mir nicht. Die Einrichtungsgegenstände waren im Stil, in der Farbe und im Zweck so zusammengewürfelt, daß ich mir wie in einem Gebrauchtwarenladen vorkam. Selbst die vier Stühle um den Tisch in der Mitte des Zimmers waren alle unterschiedlich, von einem weißen Korbstuhl bis hin zu einem geschnitzten und mit roter Seide bespannten Sessel im Henri-Quatre-Stil. Ich dachte weniger an Geschmacklosigkeit, sondern eher an Anicas bescheidene Mittel, die sie dazu gezwungen hatten, das Zimmer mit dem einzurichten, was ihr die ehemaligen Besitzer der Möbel bei jeder Renovierung der eigenen Wohnung vermachten. Als wir uns gesetzt hatten, wollte ich an dem weißen Flieder, der in einer Vase auf dem Tisch stand, riechen, doch ich hatte keine Gelegenheit mehr dazu. „Guten Abend“, begrüßte uns ein hochgewachsener Mann mit Jünglingsgesicht. Entsprechend der neuesten Mode trug er Hosen mit so breitem Schlag, daß sie wie zwei Abendkleider aussahen. Dazu trug er ein weißliches T-Shirt, von dessen Brust mich unter der Aufschrift „Jimi Hendrix“ ein langhaariger zottiger Höhlenmensch ansah. Obwohl dieser Typ eher ein Zeitgenosse unseres Neandertalers zu sein schien, hätte ich, wäre er mir nachts auf der Straße begegnet, schnell nach der Pistole gegriffen. Eine taktische Frage, denn so hätte ich schneller wegrennen und um Hilfe schreien können. Um mir weitere Alpträume zu ersparen, wandte ich meinen Blick schnell dem Gesicht meines Gesprächspartners zu. Er hatte einen nichtssa98
genden Gesichtsausdruck, fahle, grünliche Augen und blondes Haar mit Topfschnitt. Sein Pony fiel über die Stirn bis zu den Augenbrauen. Die Ohren waren unter struppigen Haaren versteckt, die schon lange keinen Kamm mehr gesehen hatten. „Ionel, die Herren sind von der Miliz und wollen mit dir reden“, erklärte ihm Anica. Er sah uns erstaunt an und verbeugte sich respektvoll. „Wissen Sie, ich habe gehalten, was ich bei der Entlassung versprochen habe. Seit zwei Tagen arbeite ich in dem Betrieb, in den ich eingewiesen wurde. Jetzt gibt es keinen Ärger mehr mit mir!“ versicherte er uns und fuhr mit der Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans. „Ich hab’ genug davon“, sagte er und zeigte uns stolz seinen Betriebsausweis wie Leutnant Columbo, ein Berufskollege von mir, der, da er von Anfang an weiß, wer der Täter ist, seine ganze Intelligenz darauf konzentriert, Beweise für die Schuld des Täters zusammenzutragen. Wenn ich einmal Zeit habe, werde ich ihn bitten, mir seinen Trick zu verraten. „In Ordnung, Ionel, setz dich“, sagte ich und gab ihm die Hand. „Wir wollten dich um ein paar Auskünfte bitten.“ „Ich werde alles sagen, was Sie wissen wollen“, machte er sich anheischig. „Wann warst du das letztemal bei Frau Panaitescu und Frau Stanciu zu Hause?“ „Etwa drei Tage bevor sie umgebracht wurden“, sagte er und verlor etwas von seiner bisherigen Sicherheit. „Glauben Sie denn, ich …?“ Ich beschwichtigte ihn durch Kopfschütteln. „Du hast also über den Verkauf der oberen Wohnung Bescheid gewußt?“ „Klar. Frau Stanciu hat es mir selbst erzählt, als wir zusammen in der Stadt waren und sie mir diese Kluft 99
hier gekauft hat“, sagte er und zeigte auf seine prächtige Hose. „Gut! Wenn du willst, daß wir Freunde werden, mußt du ganz ehrlich zu uns sein. Nenne mir alle Personen, denen du von den Frauen, bei denen deine Mutter arbeitete, erzählt hast.“ „Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Warum eigentlich?“ fragte er verwundert und schob seinen Pony über die Augenbrauen, woraus ich schloß, daß er die Stirn runzelte. „Ionel, überlege es dir bitte gut“, drang ich in ihn. „Von deiner Antwort hängt möglicherweise die Verhaftung der Täter ab …“ „Sag es ihnen, mein Junge“, schaltete sich Anica ein. „Du weißt doch, wie gern dich Frau Stanciu hatte, sie hat dir sogar Sachen gekauft.“ „Mutti, was soll ich denn sagen, wenn ich mit niemandem über sie gesprochen habe?“ antwortete er weinerlich. Ich war mir ziemlich sicher, daß er nicht versucht hatte, uns die Wahrheit zu verbergen. Da meine Annahme anscheinend falsch war, stand ich auf. Alle folgten meinem Beispiel. Ich ging zur Tür. Als ich schon fast draußen war, überlegte ich es mir anders. Ich drehte mich so brüsk um, daß Dan, der mir dicht folgte, mich beinahe umgerannt hätte. „Ionel, wer war in den acht Tagen Haft mit dir in der Zelle?“ „Die ersten drei Tage war ich mit dem Einbrecher Gică Gaură zusammen. Als dieser ausgebrochen war, kam Mitică, ein Briefträger, der Postanweisungen gefälscht hatte, zu mir.“ „Wann wurde Gică Gaură wieder geschnappt?“ „Ich weiß es nicht. Bis zu meiner Entlassung hatten sie ihn jedenfalls noch nicht wieder.“ „Ist der andere, der Briefträger, in der Zelle geblieben?“ 100
„Ja, er muß noch drei Jahre absitzen.“ „Bist du sicher, daß du zu Gică Gaură nichts über den Verkauf der Wohnung gesagt hast?“ „Ja! Das heißt, ich weiß nicht genau.“ Er wurde schwankend. „Wissen Sie, wir waren den ganzen Tag zusammen und haben über so viel geredet. Ich wüßte nicht, daß ich etwas gesagt habe. Warum sollte ich über andere lästern?“ „Wie hieß Gică weiter?“ Er konnte es mir nicht sagen, und so gingen wir wieder. „Soll ich Sie nach Hause fahren, Genosse Hauptmann?“ fragte Vartunian, als ich mich neben ihn setzte. Ohne ihm eine Antwort zu geben, griff ich nach dem Hörer des Funksprechgerätes. Ich bat die Zentrale, alles mitzuteilen, was über einen gewissen Gică Gaură bekannt war. Ich bekam die Auskunft, daß es sich um den rückfälligen Gheorghe Samoilă, der am 13. April ausgebrochen war, handelte. Falls ich das Allerneueste wissen wollte, sollte ich mit Major Ciocârdel, der mit dem Fall befaßt war, in Verbindung treten. Dan machte mich darauf aufmerksam, daß es bereits neun Uhr abends war, als ich schon wieder zum Funksprechgerät greifen wollte. „Soll ich Sie nach Hause fahren, Genosse Hauptmann?“ fragte Vartunian wieder mit einer so einschmeichelnden Stimme wie die Schlange, die Eva verführt hatte. „Wir fahren in die Strada General Demostene! Dan, ich glaube, wir sind auf der richtigen Fährte.“ „Besser konnten wir es gar nicht treffen! Er ist Profi, wußte, daß in der Wohnung der Opfer Geld ist, und brach genau zwei Tage vor dem Raubüberfall aus!“ meinte Dan aufgeregt. „Vartunian, was ist los?“ fragte ich den Fahrer, als ich 101
merkte, daß er meine Anweisungen nicht befolgte und nicht abfuhr. „Ich weiß nicht, was mit dem Auto los ist. Es will nicht anspringen. Ich glaube, ich muß es zur Durchsicht in die Werkstatt bringen …“ „Andermal! Jetzt tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!“ „Wäre es nicht besser, wenn Sie ein anderes Auto anfordern würden?“ „Das beste wäre, wenn das hier fahren würde. Ansonsten setze ich mich ans Steuer, und Sie schieben es bis an unser Ziel.“ Wenige Sekunden später setzte sich das Auto in Bewegung, Wahrscheinlich hatte er nicht begriffen, ob ich gescherzt hatte oder nicht. Ich drehte mich zu Dan um und bemerkte, daß er grinste. Wir hatten beide die Absicht des Fahrers durchschaut. Zugegeben, 13 Stunden am Steuer sind nicht leicht, aber daran konnten wir auch nichts ändern. In unserem Beruf gibt es eben keine feste Arbeitszeit! „Was wollen wir eigentlich dort?“ wollte Dan wissen und kurbelte das Fenster hoch. „Wir müssen eine Hypothese überprüfen. Ich will sichergehen, daß wir nicht eingeseift werden!“ Als wir an unserem Ziel angelangt waren, sagte ich zu Vartunian, er sollte seine Werkzeugtasche mitnehmen. Wir nahmen unsere Taschenlampen. Der Unteroffizier empfing uns mit folgender Meldung: „Genosse Hauptmann, der Leiter des Reviers läßt ausrichten, daß er morgen früh mit Ihnen sprechen möchte.“ „Noch etwas?“ „Nein. Der andere Mieter ist noch nicht wieder aufgetaucht.“ „Morgen kümmern wir uns um diesen Verschollenen“, sagte ich zu Dan, während wir uns zum Dienstboteneingang begaben. 102
Wir gingen an der Küchentür vorbei und hinauf in die erste Etage. „Machen Sie doch bitte die Tür auf“, sagte ich zu Vartunian. „Brauchen wir dazu nicht einen Staatsanwalt?“ fragte Dan hinter mir, während Vartunian seine Werkzeuge aus der Tasche holte. „Weshalb?“ „Hausfriedensbruch.“ „Nun übertreibe mal nicht! Solange die Wohnung nicht bewohnt ist, kann doch davon keine Rede sein.“ Als Vartunian die Tür aufgeschlossen hatte, betraten wir die Wohnung und besichtigten sie im Schein unserer Taschenlampen. Die Wohnung hatte die gleiche Einteilung wie die untere. Die Wände waren frisch getüncht, die Holzteile gestrichen und das Parkett vor kurzem abgezogen. Ansonsten stand nichts in der Wohnung. Nachdem wir wieder hinausgegangen waren und die Tür abgeschlossen hatten, gingen wir weiter hoch zur Mansarde. Auf dem Treppenabsatz waren zwei Türen. Da sich an der einen das Türschild des Sportlehrers Anton Costea befand, steuerte ich gleich auf die zweite zu. Sie war nicht verschlossen. Von der Schwelle aus konnte ich den ganzen Raum überblicken. Er war mit lauter altem Kram vollgestopft. Ich richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf den Fußboden. Der dicke Staub, der sich über Jahre auf den Dielen abgesetzt hatte, ließ den Schluß zu, daß diesen Abstellraum schon lange niemand mehr betreten hatte. Ich machte die Tür wieder zu und ging die Treppe hinunter. Ich hielt mich gar nicht erst im Erdgeschoß auf, sondern ging schnurstracks weiter. Nacheinander öffnete ich beide Kellertüren. Ein Raum war leer, im anderen waren Brennholz, ein Hackklotz mit einem Beil und ein Faß mit sauer eingelegtem Gemüse. Das war alles. „Was hast du eigentlich gesucht? Das Diebesgut?“ fragte Dan, als Vartunian abgefahren war. 103
„Ja. Mir ist die Idee gekommen, daß die Mörder in der leerstehenden Wohnung ein tolles Versteck für die Sachen hatten. Erst in ein paar Monaten, wenn der Mieter zurückkommt, hätten wir erfahren, daß der Raub vorgetäuscht war, um unsere Untersuchung auf eine falsche Spur zu lenken.“ „Bist du nun davon überzeugt, daß das Motiv doch Raub war?“ „Nein, Dan, das ist doch einfach absurd! Normale Menschen können doch nicht so sperrige Gegenstände wie den riesigen Kühlschrank klauen.“ „Wenn das vermutete Geld nicht zu finden war, haben sie eben das erste beste mitgenommen!“ „Wenn sie das Geld nicht gefunden haben, so hätten sie sich eben damit abfinden und so schnell wie möglich verschwinden müssen. Das viele sperrige Diebesgut hinauszubringen und abzutransportieren, mußte doch zeitaufwendig sein. Haben die Täter denn nicht befürchtet, daß ihr Treiben beobachtet werden konnte? Wie ist es nur möglich, daß sie ein derartiges Risiko eingingen?“ „Und trotzdem hat sie niemand gesehen.“ „Sie haben es einfach riskiert. Und wenn man dann noch bedenkt, wie sadistisch sie ihre Opfer getötet haben, kommt man zu dem Schluß, daß wir es mit ein paar Verrückten ohne jegliches menschliches Gefühl, mit Tötungsmaschinen zu tun haben. Wenn wir sie nicht ganz schnell schnappen, fürchte ich, daß sie ihr zerstörerisches Werk fortsetzen.“ „Morgen müssen wir einen Zahn zulegen“, pflichtete mir Dan verdrossen bei. Kurze Zeit später hielt das Auto vor meinem Haus, und ich stieg aus.
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11 Als ich früh um sieben in die Inspektion kam, ging ich schnurstracks zu Major Ciocârdel ins Büro. Ich klopfte gar nicht erst an. Hinter dem Schreibtisch erblickte ich in einer Wolke von Zigarettenrauch eine Glatze, die aussah wie das runde Knie eines schönen Frauenbeins. Als er von seinen Akten aufsah, schaute er mich mit seinen hellblauen Augen erstaunt an. „Was ist denn in dich gefahren, daß du schon so früh am Tage kommst?“ fragte er. „Ebenso könnte ich dich fragen, was du schon so zeitig machst.“ „Ich habe zu tun.“ „Ich auch.“ „Und was willst du dann hier?“ fragte der Spaßvogel wie immer bissig. „Was weißt du über Gheorghe Samoilă, auch Gică Gaură genannt?“ „Was hast du denn mit dem zu schaffen?“ „Ich glaube, er ist in einen Fall verwickelt, den ich ermitteln soll“, antwortete ich und setzte mich auf eine Ecke des Schreibtischs. „Das glaube ich kaum“, erwiderte er mir mit einem geheimnisvollen Lächeln, als ich von ihm wissen wollte, was der Verdächtige in der Nacht vom 18. zum 19. April gemacht hatte. „Ich bin nicht hier, um Meinungsforschung zu betreiben!“ warf ich ein. „Ich weiß, daß er ausgebrochen ist. Hast du ihn wieder?“ „Was willst du damit sagen?“ „Scherz beiseite, Fănică! Ich bin hinter ein paar sehr gefährlichen Verbrechern her“, ließ ich ihn wissen. „Na gut, dann sag ich dir’s eben“, entschloß er sich, als er sah, daß ich kein zufriedenes Gesicht machte. „Er ist am Abend des dreizehnten April, als er von der Arbeit 105
kam, ausgebrochen. Vier Tage später habe ich ihn in der Wohnung seiner Freundin festgenommen.“ Ich stand auf. „Wenn du mal bessere Laune hast, kannst du auf einen Schwatz bei mir vorbeikommen“, sagte Ciocârdel, während ich die Tür aufmachte. Ich ging hinaus, ohne ihm eine Antwort zu geben. „Dan“, sagte ich, als ich wieder in unser Büro ging, „die Spur, die von Anicas Sohn ausgeht, taugt nichts. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Komm, wir drehen noch eine Runde!“ Unser Auto hielt vor der I.-L.-Caragiale-Oberschule. Wir gingen die breiten Marmorstufen hinauf und gelangten ins Erdgeschoß. Die Treppe vor uns führte auf die einzelnen Etagen, rechts und links gingen zwei Gänge ab. Um keine Zeit zu verlieren, fragte Dan einen Schüler, und ein paar Sekunden später standen wir vor einer massiven eichenen Doppeltür, an der ein emailliertes Schild angebracht war, das uns darauf hinwies, daß sich das „Sekretariat“ dahinter befand. Dan klopfte an. Da niemand antwortete, klopfte er noch einmal stärker. Schließlich war eine weibliche Stimme zu vernehmen, und wir traten ein. Im Sekretariat waren zwei Frauen. Eine tippte am Fenster, durch das gerade eine Straßenbahn zu sehen war, die durch die Calea Dorobanţilor rumpelte. Die andere Frau, die mit dem Rücken zur Tür stand und ein Blatt Papier in der Hand hielt, diktierte der Schreibkraft etwas. Zuerst sah die Stenotypistin zur Tür, dann auch die andere Frau. Es war die Sekretärin Cristina Damian. Als sie uns erkannt hatte, begrüßte sie uns. „Gibt es etwas Neues, Herr Hauptmann?“ sagte sie und forderte uns auf, Platz zu nehmen. „Nichts Besonderes“, sagte ich, setzte mich aber nicht. 106
„Wir sind gekommen, um zwei Auskünfte von Ihnen einzuholen.“ „Bitte, ich stehe zu Ihrer Verfügung“, sagte sie bereitwillig. Ich stellte fest, daß sie ziemlich mitgenommen aussah und Augenränder hatte. „Können Sie uns sagen, an welcher Schule Herr Anton Costea, der Mieter der Mansarde von Frau Stanciu, arbeitet?“ fragte ich und dachte mir, daß Johnny Ghiţă sein Versprechen allem Anschein nach gehalten hatte. „Ja, an der zweiten Sportschule in der Strada Doctor Staicoviciu.“ Dan notierte es, und ich fragte weiter: „Könnte ich vielleicht mit dem Schüler sprechen, der bei Frau Stanciu Privatunterricht erhalten hat?“ „Augenblick bitte“, sagte sie, nahm ein Klassenbuch vom Tisch und blätterte darin. „Ja, heute vormittag hat er Unterricht.“ Sie sah auf die Uhr über der Tür und wandte sich an die Stenotypistin: „Elena, klingle zum Pausenende bitte etwas später. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir ihn noch in der Pause“, sagte sie zu uns und ging zur Tür. Als wir auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks angelangt waren, warf sie einen Blick in beide Richtungen des Ganges. Sie wandte sich nach rechts und steuerte auf eine Gruppe von Schülern zu, die schwatzten und gestikulierten. Wenige Schritte weiter war eine Tür zu sehen, an der „Lehrerzimmer“ stand. „Iliuţă, kommst du bitte mal her?“ fragte sie einen Jungen, der in der Gruppe stand. Dieser drehte sich um und kam auf uns zu. Er war groß, hager und brünett. Sein Haar war kurz geschnitten und hatte einen nicht sehr geraden Scheitel. Er war Brillenträger und mit einer blauen Schuluniform bekleidet. Als wir uns vorstellten, war er überhaupt nicht erstaunt. 107
„Ich hatte eigentlich schon gestern mit Ihnen gerechnet, als ich hörte, was mit Frau Stanciu passiert ist“, meinte er mit der unsicheren Stimme eines Jünglings. „Besser erst jetzt als nie“, bemerkte ich scherzhaft. „Allerdings“, sagte er und sah auf seine Uhr. „Aber Sie haben gerade einen schlechten Zeitpunkt erwischt. Ich muß wieder in den Unterricht. Warum klingelt es eigentlich nicht?“ fragte er und sah unsere Begleiterin an. Frau Damian konnte ihm keine Antwort mehr geben. Es klingelte laut, und die Schüler drängten zu den Türen der Klassenzimmer. „Was hast du jetzt?“ fragte ihn Cristina Damian. „Französisch bei Frau Angela Colomei.“ Die Sekretärin nickte und sah mich fragend an. Ich machte eine bejahende Bewegung. Inzwischen war es auf dem Gang leer geworden. Aus dem Lehrerzimmer kamen Männer und Frauen mit Klassenbüchern unter dem Arm. Hin und wieder tauchten Schüler auf, die sich verspätet hatten und im Laufschritt noch vor den Lehrern im Klassenzimmer sein wollten. „Frau Colomei“, sprach die Sekretärin eine etwa dreißigjährige blonde Frau mit ovalem Gesicht an, die an uns vorbeiging. Nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht hatten, trug ich meine Bitte vor. Sie war sofort einverstanden und meinte bedrückt: „Die Ärmsten, so ein tragisches Ende.“ „Hatten Sie ein enges Verhältnis zu Frau Stanciu?“ „Wir hatten keine Gelegenheit, uns näher kennenzulernen. Ich bin erst seit zwei Monaten an dieser Schule. Wir hatten auch nicht zur gleichen Zeit Unterricht. Zwei- oder dreimal haben wir während der Dienstbesprechung ein paar Worte miteinander gewechselt.“ Obwohl Frau Colomei hübsch war, ließ mein Interesse für sie sofort nach, als sie das gesagt hatte. Als sie wegging, sah ich mir für Bruchteile von Sekunden ihre 108
sich harmonisch wiegende Figur und ihre zarten Fesseln an. Dann wandte ich mich wieder unserer Begleiterin zu. „Frau Damian, gibt es einen Raum, in dem wir uns mit dem jungen Porumbaru unterhalten könnten?“ „Für den Rest der fünfzig Minuten können Sie hier bleiben“, meinte sie und ging zur Tür des Lehrerzimmers. Dort wies sie uns einen großen Tisch, der einem Billardtisch glich und um den viele Stühle standen, zu. „Du warst also nicht sehr überrascht über unser Erscheinen.“ Ich wandte mich an Porumbaru, nachdem uns die Sekretärin allein gelassen hatte. „Warum sollte ich überrascht sein?“ fragte er lächelnd. „Was weiß ich. Vielleicht doch, denn schließlich besucht dich die Miliz ja nicht jeden Tag.“ „Das stimmt auch wieder. Meinen letzten Kontakt mit der Miliz hatte ich vor vier Jahren, als ich meinen Personalausweis bekam.“ „Na und?“ fragte Dan. „Ich habe genug Kriminalromane gelesen, um zu wissen, daß bei einem schweren Verbrechen alle Personen befragt werden, die sachdienliche Hinweise geben können. Ist es nicht so?“ „Und du glaubst, daß du uns solche Auskünfte geben kannst?“ fragte ich. „Nein. Aber das konnten Sie ja nicht wissen, so daß Sie erst einmal Verbindung mit mir aufnehmen mußten.“ Als ich gehört hatte, daß ich es mit einem ausgezeichneten Schüler zu tun haben würde, dachte ich sofort an einen anderen Musterschüler, der einmal in meine Klasse gegangen war. Mein ehemaliger Klassenkamerad beherrschte den Lehrstoff so gut, daß er stets und ständig ganze Sätze auswendig konnte, wobei er Lehrbuch, Verfasser, Seite und Zeile aus dem Kopf wußte. Wenn man ihn danach fragte, konnte er auch noch das Erscheinungsjahr und den Preis des Buches nennen. Ansonsten 109
war er aber recht schwach. Wenn das Gespräch über den Lernstoff hinausging, war er so unwissend wie ein neugeborenes Kind. Ilie Porumbaru war von anderem Schlage. Von einem Schlage, der mir gut gefiel. „Optimismus ist ein seltenes und kostbares Gut, so daß ich dich bitte, ihn nicht schon zunichte zu machen, ehe er mich mit seinem vergänglichen Dasein erfreut hat“, bemerkte ich scherzhaft. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich wußte nicht, daß Sie zu denen gehören, die sich von Illusionen nähren“, antwortete er im selben Tone. „Es geht weniger um Illusionen als darum, daß man nie weiß, wie der Hase läuft.“ „Die Redewendung stimmt schon, gilt aber nur für den Jäger, denn durch die Natur der Sache kennt der Hase seine Absichten und in unserem Falle auch seine Möglichkeiten.“ „Einverstanden, unter einer Bedingung! Auf Grund seines Berufs kann sich der Jäger nicht nur mit Zusicherungen begnügen. Deshalb bittet er auch das Häschen, alles zu berichten, was es über seine ehemalige Lehrerin weiß. Es soll erst einmal sagen, welche anderen Schüler noch Privatunterricht bei Marieta Stanciu hatten!“ „Ich wüßte nicht, daß sie noch andere Schüler zu Hause unterrichtete. Von unserer Schule jedenfalls keinen.“ „Wie kommt es denn, daß du einen solchen Vorzug genossen hast?“ fragte Dan. „Sie kannte mich bereits seit der fünften Klasse. Aus ihren Bemerkungen, die sie gegenüber anderen Lehrern gemacht hat, ging hervor, daß ich es ihrer Meinung nach weit bringen würde. Etwa wie Nobel oder Einstein.“ „Hältst du ihre Voraussage für übertrieben?“ stellte ich ihn auf die Probe. „Nein, sie trifft schon den Kern“, bemerkte er mit abwesender Miene. 110
„Wie bitte?“ fragte Dan dazwischen. „Die Einschätzung von Frau Stanciu hat sich als sehr richtig erwiesen. Kann ich fortfahren, oder soll ich’s lieber lassen?“ fragte er ironisch. Ich gab ihm ein Zeichen, daß er weitermachen sollte, während ich mir allerdings sagte, daß ich ihn überschätzt hatte. „Wenn es in jeder Oberschule einen Schüler gibt, der so lernt wie ich, so heißt das auf Grund der Anzahl derartiger Schulen, daß der Gesellschaft jedes Jahr Tausende von Genies geliefert werden. Wenn ich Tausende sage, denke ich nur an unser Land. Wenn die Rechnung stimmen soll, müssen wir aber auch noch andere Länder dieser Erde einbeziehen. So könnte eine durchschnittliche Jahresquote von zirka einer halben Million Genies erreicht werden. Aber folgendes dürfen wir nicht vergessen“, sagte er und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Genies, wenn es als eines gilt, beträgt dreißig Jahre. Das bedeutet, daß die menschliche Gesellschaft jederzeit die Leistungen von fünfzehn Millionen derartiger Spitzenkönner in Anspruch nehmen kann. Ist das überhaupt möglich?“ „Meines Wissens ist bisher keine derartige Invasion von Genies bemerkt worden“, stellte ich belustigt fest. „Natürlich nicht! Weil nämlich wirklich überlegene Geister, zu denen ich mich auch rechne, es für besser halten, unseren Planeten nicht zu überschwemmen.“ „Glaubst du, daß eine Gelehrtenexplosion das ökologische Gleichgewicht stören könnte?“ „Ausgeschlossen wäre es nicht, wenn wir Alvin Toffler ernst nehmen, der nämlich ‚Der Schock der Zukunft‘ geschrieben hat.“ „Wird er ernst genommen?“ „Von mir nicht … Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zeigt, daß sich der Mensch stets an seine 111
Umwelt angepaßt hat, und ich wüßte nicht, weshalb er es in Zukunft nicht auch tun sollte. Wenn ich also auf das Hauptthema zurückkomme, so nehme ich an, daß Sie mit mir einer Meinung sind, daß die Nobel-Stiftung des Überflusses an Genies nicht mehr Herr wird und Pleite macht. Das heißt, niemand kann sich mehr seine Genialität bestätigen lassen! Anstatt ein Genie ohne Diplom und Preis zu werden, begnüge ich mich infolgedessen mit einem Studium an der Medizinischen Fakultät.“ Da ich nichts dazu sagte, fuhr er fort: „Wenn Sie der Ansicht sind, daß meine Ausführungen noch nicht genug bewiesen haben, wie genial ich bin, da ich sogar darauf verzichte, ein Genie zu werden, kann ich gern noch einmal von vorn anfangen.“ „Bitte nicht!“ protestierte ich entsetzt. „Wenn meine Vorgesetzten erfahren, mit welchen ‚Gelehrten‘ ich bei meinen Ermittlungen zu tun habe, ist es aus mit der Beförderung. Und das will ich nun auch wieder nicht, denn ich bin ohnehin schon der ‚älteste‘ Milizhauptmann der Republik.“ „Dabei sind Sie nicht viel älter als ich“, meinte der Schüler erstaunt. „Ich bin noch mal so alt wie du, also doch ‚etwas‘ älter als du. Wir wollen aber auf unser trauriges Thema zurückkommen. Warst du oft bei deiner Lehrerin zu Hause?“ „In der letzten Zeit zweimal wöchentlich.“ „An welchen Wochentagen?“ „Dienstags und donnerstags.“ Ich zuckte zusammen und horchte auf. Donnerstag abend waren die Opfer umgebracht worden. „Zu einer festgelegten Zeit oder nach Vereinbarung?“ „Im Prinzip um acht Uhr. Wenn etwas dazwischenkam, haben wir uns abgesprochen.“ „Wer hat dich reingelassen, als du Donnerstag zum Privatunterricht gegangen bist?“ fragte Dan mit gleichgültiger Miene. 112
„Das ist wohl eine kriminalistische Falle?“ fragte Porumbaru und lachte laut, wie es Jugendliche gern tun. „Erst ein Gespräch, das nichts mit dem Thema zu tun hat, damit der Beschuldigte abgelenkt wird, und dann langsam anpirschen.“ „Kommst du dir wie ein Beschuldigter vor?“ „Nach der eindeutigen Frage möchte ich nicht ausschließen, daß Sie auch diese Möglichkeit ins Auge fassen. Stimmt es?“ „Überhaupt nicht, Iliuţă. Der Beschuldigte ist eine Person, deren Schuld zweifelsfrei durch handfeste Beweise nachgewiesen ist. Dich halte ich nicht einmal für verdächtig. Für uns bist du lediglich ein Zeuge, also eine Person, deren Aussage bei der Vollstreckung einer juristischen Handlung von Nutzen sein kann. Leider gibt es auch Situationen, bei denen Zeugen, statt zu helfen, die Dinge noch komplizieren, sei es, daß sie etwas durcheinanderbringen, sei es durch Böswilligkeit. Da es in dem einen wie im anderen Falle ungewollte Schwierigkeiten geben kann, sind wir gezwungen, ein paar Routinefragen zu stellen. Durch diese Fragen können wir die Subjektivität des Zeugen feststellen“, erklärte ich ihm freundschaftlich. „Also bin ich für Sie nur ein kümmerlicher Zeuge. Sie haben mich desillusioniert, Herr Detektiv“, meinte er schmollend. „Ich bin Hauptmann …“ „Lassen wir Detektiv, das klingt besser.“ „Meinetwegen, wenn du es besser findest. Kommen wir auf unser Problem zurück. Was war Donnerstag abend los, als du zum Privatunterricht solltest?“ „Mutter fühlte sich nicht wohl, und ich mußte bei ihr bleiben. Ich habe bei Frau Stanciu angerufen, um ihr das mitzuteilen.“ „Wann hast du angerufen?“ „Um sechs oder Viertel sieben.“ 113
„Ist jemand ans Telefon gegangen?“ „Ja, Frau Stancius Mutter.“ „Worüber habt ihr gesprochen?“ „Ich habe Frau Stanciu verlangt. Frau Panaitescu sagte mir aber, ihre Tochter könnte nicht ans Telefon kommen. So habe ich sie eben gebeten, ihr etwas auszurichten.“ „Hat sie dir gesagt, warum?“ „Sie sagte wohl, ihre Tochter sei krank“, meinte er und runzelte nachdenklich die Stirn. „Ja, so war es!“ rief er triumphierend. „Sie sagte mir, ihre Tochter könnte nicht ans Telefon kommen, weil sie eingerieben wird.“ „Hat sie noch etwas gesagt?“ „Das war alles.“ „Bist du sicher, daß du dich nicht verwählt hast?“ „Glauben Sie denn, daß ich nach fast acht Jahren, seit ich zu meiner Lehrerin ins Haus komme, Frau Panaitescus Stimme mit einer anderen verwechsle?“ „Du brauchst nicht gleich beleidigt zu sein über meine Frage“, beschwichtigte ich ihn, als er mich vorwurfsvoll ansah. „Weißt du, ob sie an dem Tage, als du nicht zum Unterricht gehen konntest, jemanden erwartet hat?“ „Sie hatte mir nichts gesagt. Weshalb hätte sie mich auch über ihren Besuch informieren sollen?“ „Sage mir bitte noch, welche Leute du im Hause von Frau Stanciu getroffen hast.“ Seine Aufzählung brachte auch nicht mehr als die Aussagen der früher vernommenen Zeugen. Als wir aufstanden und uns verabschiedeten, klingelte es gerade zur Pause. Ehe wir die Schule verließen, gingen wir noch einmal bei Cristina Damian vorbei und teilten ihr mit, was Iliuţă berichtet hatte. Ich wollte ihr auch zwei Fragen stellen. Auf die erste antwortete sie, daß Marieta Stanciu keine Krankheiten gehabt hatte, auf die zweite, daß ihre Freundin ihres Wissens keinen Hausarzt hatte. 114
12 „Dănuţ“, sagte ich, als wir wieder im Auto waren, „mich setzt du am Milizrevier ab, und du fährst weiter. Ich will wissen, ob die Ermordeten in ärztlicher Behandlung waren. Frage bei der Abteilung Gesundheit des Stadtbezirks, bei der Poliklinik des Wohngebiets und beim Rettungsamt nach. Hausbesuche von Ärzten werden immer registriert.“ „Die Art und Weise, wie die Opfer umgelegt wurden, sieht nicht gerade nach einem Arzt aus.“ „Weißt du nicht mehr, daß wir einmal gegen einen Arzt ermittelt haben, der es noch schlimmer getrieben hatte? Wenn du damit fertig bist, fährst du schnell noch zur Schule, in der der Mieter der Mansarde arbeitet. Seine gar zu lange Abwesenheit kommt mir allmählich verdächtig vor.“ „Es spricht nichts dagegen, daß sie die Einreibung, von der der Bengel erzählt hat, selbst vorgenommen hat.“ „Aber auch nichts dagegen, daß es jemand anders gemacht hat! Es ist also besser, wenn wir auch diese Möglichkeit überprüfen“, sagte ich, als ich vor dem Revier ausstieg. „Hast du etwas für mich, Tudorică?“ fragte ich Udrea, den Leiter des Reviers. Er war ein stattlicher Mann mit ziemlich dunkler Gesichtsfarbe. Er nickte. Sein graumeliertes Haar trug er im Bürstenschnitt. „Meine Leute haben in der Nachbarschaft der Ermordeten ein paar Bürger herausgefunden, die etwas gesehen haben wollen“, sagte er zu mir und gab mir vier Seiten. Ich warf einen Blick darauf. Sie enthielten knappe Aussagen und die Adressen der Betreffenden. „Habt ihr mit allen gesprochen?“ fragte ich und stand auf. 115
„Nein. Wir haben noch nicht alle vernommen. Du weißt doch, wie das mit den Zeugen ist. Gerade dann, wenn man sie braucht, sind sie nicht zu Hause. Wenn wir noch etwas in Erfahrung bringen, sage ich dir Bescheid. Wie weit bist du denn mit deiner Ermittlung?“ „Ich stehe noch am Anfang. Ich verfolge alle Spuren, die ich finde. Und das sind nicht wenige! Ansonsten gibt es nichts Konkretes“, bemerkte ich gelangweilt und reichte ihm die Hand über den Schreibtisch. Nachdem mich der Dienstwagen des Reviers in der Strada General Demostene abgesetzt hatte, suchte ich die Personen auf, deren Adressen ich von Hauptmann Udrea erhalten hatte. Die Person, die die erste Aussage gemacht hatte, war gerade einkaufen. Ich hinterließ bei einer Nachbarin die Nachricht, daß ich wiederkomme. Dann suchte ich die nächste Person auf. Ein kleiner Mann öffnete, dessen lebendige und durchdringende Augen hinter einer Hornbrille verborgen waren. Dem äußeren Anschein nach war er nicht älter als 45 Jahre, doch aus unserem Gespräch ging hervor, daß er über 60 Jahre alt und bereits in Rente war. Er forderte mich auf, in einem kubistisch eingerichteten Salon Platz zu nehmen, und bot mir ein Glas echten Cotnari an, was ich allerdings ablehnte. „Herr Vintilă, kennen Sie Ihre Nachbarinnen aus der Nummer zwölf gut?“ „Nur vom Sehen. Wir haben uns auf der Straße gegrüßt.“ „Meinen Kollegen gegenüber haben Sie geäußert, daß Sie vor einer Woche, also Donnerstag abend, gesehen haben, wie eine Person vom Hof Ihrer Nachbarn ging. Bitte schildern Sie mir doch noch einmal genau, was Sie damals gesehen haben.“ „Ich kam von meiner Tochter, die kürzlich geheiratet hat.“ 116
„Wie spät war es ungefähr?“ „Gegen halb elf. Als ich an dem bewußten Haus vorbeikam, sah ich einen Mann vom Hof gehen. Er trug einen Radioapparat.“ „Kam er vom Hof, oder ging er zum Tor?“ „Er ging zur Straße.“ „In welche Richtung ging er? In Richtung Militärakademie?“ „Nein, er ging in meine Richtung. Die Straße hinunter in Richtung Botanischer Garten.“ „Dann sind Sie also nebeneinanderher gegangen?“ fragte ich. „Nein, ich war auf der anderen Straßenseite.“ „Können Sie diesen Mann beschreiben?“ Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Ich möchte Sie nicht irreführen, insbesondere da ich ihn nur mechanisch wahrgenommen habe und die Straße auch nicht gerade gut beleuchtet ist. Ich erinnere mich jedoch, daß er nicht allzuweit auf unserer Straße gegangen ist. Nach etwa zehn bis fünfzehn Metern bog er nach rechts ab, also auf der Strada Doctor Petrescu. In diesem Augenblick hatte ich ihn schon überholt und aus den Augen verloren.“ „Erinnern Sie sich noch, ob die Fenster des Hauses, aus dem er gekommen war, beleuchtet waren?“ Er runzelte die Stirn und ließ die Brille auf die Nasenspitze rutschen. „Nein, es brannte kein Licht. Aber ich erinnere mich ganz genau, daß die Tür zur Terrasse etwas geöffnet war“, sagte er einige Augenblicke später überzeugt. Obwohl es so aussah, als hätte er alles gesagt, was er wußte, trieb mich die sprichwörtliche Gier des Kommissars nach Informationen, ihn noch weiter auszufragen. „War er groß?“ fragte ich auf gut Glück. „Ach wo, er war so klein wie ich, aber viel dürrer.“ „Wie war er angezogen? Hatte er einen weißen Trenchcoat an?“ 117
Wieder ließ er die Brille auf die Nasenspitze rutschen und runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, daß er eine Baskenmütze aufhatte. Ich sagte mir, daß ein ordentlicher Mensch eigentlich nicht so einen Fetzen auf dem Kopf trägt.“ Die nächsten beiden Personen wohnten in der Strada Doctor Petrescu im gleichen Hause, doch in verschiedenen Etagen. Die beiden Zeuginnen waren noch jung, die eine war Schülerin, die andere Studentin. Beide hatten gegen halb elf einen vor ihrem Haus parkenden Lieferwagen bemerkt, das heißt wenige Meter von der Ecke Strada General Demostene entfernt. Sie konnten nicht sagen, wie lange das Auto an dieser Stelle gehalten hatte, und hatten auch weit und breit keine Menschenseele gesehen. Da weiter nichts aus ihnen herauszubekommen war, bat ich sie um die Beschreibung des Fahrzeugs. Die Schülerin war der Meinung, daß es ein grünliches Auto, möglicherweise ein Ford Mustang war. Die Studentin hingegen behauptete, daß es rot war, und erklärte ohne Zögern, daß es ein Cadillac war. Da mir die widersprüchlichen Aussagen über die Farbe des Autos nicht zusagten, gingen wir ein paarmal die Treppe ’rauf und ’runter, die ihre Zimmer voneinander trennte. Nachdem ich festgestellt hatte, daß sie nicht farbenblind waren, bat ich sie, mir das Fenster, durch das sie das Auto gesehen hatten, sowie dessen genauen Standort zu zeigen. Ich ging wieder und war davon überzeugt, daß in der Nacht von Donnerstag zu Freitag ein Lieferwagen in der Nähe der Wohnung der Ermordeten geparkt hatte. Da ich nicht an Zufälle glaube, insbesondere bei der Ausübung meines Berufes, sagte ich mir, daß die Zeuginnen das Fahrzeug gesehen hatten, mit dem das Diebesgut abtransportiert worden war. Die Farbe der Karosserie 118
und insbesondere die Fahrzeugmarke notierte ich mir lieber nicht, es wäre schade um das Papier gewesen. Als ich wieder zur vierten Zeugin ging, fragte ich mich, ob sie schon vom Markt zurück war. Als ich geklingelt hatte, stellte ich fest, daß mich das Glück doch nicht ganz im Stich ließ. Die Frau, die mir die Tür aufmachte, war etwa 60 Jahre alt und in ein so buntes Kleid gehüllt, daß jeder Pfingstochse vor Neid erblaßt wäre. Sie war verhutzelt, und ihr Gesicht hätte sich sehr für die Rolle einer Schwiegermutter geeignet: schmale Lippen, spitze Nase, kleine und strenge Augen. Die Haare hatte sie glatt gekämmt und oben auf dem Kopf zu einer Zwiebel zusammengesteckt. Als ich mich vorgestellt und ihr erklärt hatte, was ich wollte, ließ sie mich herein. Dann erklärte sie mir, daß sie etwas auf dem Herd hatte, und bat mich einen Augenblick in die Küche. Ich kam der Aufforderung nach und fand mich auf einem Hocker vor einem Herd wieder, auf dem alle möglichen Töpfe, Töpfchen und Pfannen standen, in denen etwas schmorte. „Frau Covrig“, hob ich an, um so schnell wie möglich wieder dem Dunst von Knoblauch, gebratenem Fleisch und sauer eingelegtem Kraut zu entkommen, „seien Sie doch bitte so nett und berichten Sie mir, was Sie im Haus gegenüber gesehen haben.“ „Aber gern“, erklärte sie zufrieden lächelnd, daß ich den Eindruck hatte, sie wollte sich ein paar Stunden lang mit mir unterhalten, bis sie ihr Essen fertig hatte. „Mein Herr, was sagen Sie denn zu dieser Tragödie? Und was für rechtschaffene Frauen das waren …“ „Haben Sie sie gekannt? Waren Sie befreundet?“ „Nein, persönlich habe ich sie nicht gekannt. Ich kann mir nur vorstellen, daß es zwei sehr ordentliche Frauen waren. Es ist ja bekannt, daß Banditen nur gute und eh119
renwerte Leute überfallen. Die sollten sich lieber gegenseitig den Schädel einschlagen, damit keiner von ihnen übrigbleibt.“ „Sie haben erklärt, daß sich vergangenen Donnerstag zwei Unbekannte auf dem Hof Ihrer Nachbarinnen aufhielten“, sagte ich, um sie daran zu hindern, mir noch einen Vortrag über ihre Theorien zu halten. „Wann haben Sie diese Leute gesehen?“ „Es muß so gegen sechs Uhr gewesen sein. Vielleicht kurz vor oder kurz nach sechs. Da es ein sehr schöner Nachmittag war, saß ich am Fenster, um den Duft des Flieders zu genießen, der gerade aufgeblüht war. Er roch so angenehm und durchdringend, daß ich gar nicht mehr von dem Duft weg wollte. Wer gesagt hat, daß Flieder einen wunderbaren göttlichen Duft ausströmt, hat ein wahres Wort gesprochen. Ja, auch Rosenduft …“ „Was haben die beiden gemacht, als Sie sie beobachtet haben?“ unterbrach ich sie, ohne meine Unhöflichkeit zu bedauern. Bei allem Wohlwollen, das ich ihr entgegenbringen wollte, hatte ich keine Geduld für ihr Geschwätz. Sie erzählte mir etwas von Flieder- und Rosenduft, während sie mich mit Kohl- und Knoblauchdünsten zu ersticken drohte. „Was sollten sie schon tun?“ fragte sie unwillig und strafte mich mit einem strengen Blick. „Kamen oder gingen sie?“ „Sie gingen die Stufen der Terrasse ’runter!“ sagte sie gereizt. Es störte mich nicht, daß sie beleidigt war. Da ich sie gereizt hatte, war ich wenigstens vor ihren Abschweifungen sicher. „Und als sie auf die Straße hinausgingen“, sprach sie weiter und lächelte wieder, „stiegen sie in ein Auto.“ „In was für ein Auto?“ fragte ich erstaunt. Diese Auskunft kam so unerwartet, daß ich nicht einmal seufzte, als sie wieder gut gelaunt war. 120
„In einen Lieferwagen, der vor dem Tor auf sie gewartet hat.“ Hatte ich ihr bis dahin ohne allzu großes Interesse zugehört, da ich annahm, sie sprach vom Besuch der Tischler, so hatte sieh das Blatt durch die Erwähnung des Lieferwagens plötzlich gewendet. „Könnten Sie mir eine Beschreibung der Leute geben?“ fragte ich, um ein Mißverständnis auszuschließen. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Einige Minuten später, als ich sie erneut unterbrechen mußte, wußte ich, daß ich die Männer, über die sie mir berichtete, schnell ausfindig machen mußte. „Wissen Sie noch, was das Auto für eine Farbe hatte?“ fragte ich und wollte sie nicht auch noch über den Fahrzeugtyp ausfragen. Ich wollte nicht unbedingt hören, es sei ein Porsche oder ein Rolls-Royce gewesen. Dieser Unsinn hatte mir schon bei den beiden Mädchen gereicht. „Warum brauchen Sie denn die Farbe des Autos?“ wollte sie wissen und strahlte wie ein Engel. „Sie wollen wohl herausbekommen, wem es gehört?“ „Ja, genau an so etwas dachte ich“, gestand ich, ohne rot zu werden. „Sie brauchen sich nicht weiter zu bemühen. Ich habe eine sehr ausgeprägte Beobachtungsgabe. Mir entgeht nichts und schon gar nicht Ungezogenheiten“, meinte sie und sah mich durchdringend an. Ich tat einfach so, als hätte ich ihre deutliche Anspielung nicht verstanden. „Schreiben Sie sich die Nummer des Autos auf!“ meinte sie mit der Nachsicht eines Monarchen. „Ich beglückwünsche Sie! Wie haben Sie sich denn die Autonummer so gut gemerkt?“ fragte ich und sah sie wie das Original der Mona Lisa im Louvre an. Ich war mir allerdings sicher, daß sie mir andere Zahlen nennen würde, wenn ich sie noch mal nach der Autonummer fragen würde. 121
„Es ist sehr einfach, ich spiele sehr eifrig Lotto!“ meinte sie voller Stolz, als verkündete sie mir, daß sie in der Fußballnationalmannschaft spielte. „Ich verstehe aber trotzdem nicht, welcher Zusammenhang zwischen Ihrer Leidenschaft und diesem Auto besteht“, gestand ich fast beschämt. „Ganz einfach, mein Herr! Ich trage auf meinen Lottoschein die Ziffern des ersten Autos ein, das ich einen Tag vor der Ziehung sehe. Ich würde Ihnen dieses System auch empfehlen. Es ist todsicher. Mit dieser Methode habe ich schon oft gewonnen.“ Die Methode, die sie mir empfahl, erschien mir so gut, daß ich dennoch bei den altbewährten Methoden blieb. „Wie kommt es, daß Sie sich die Autonummer, die Ihnen Glück bringen sollte, so spät aufgeschrieben haben? Haben Sie an diesem Tag nicht noch andere Autos gesehen? Oder hatten Sie vergessen, daß Donnerstag war?“ „O nein, mein Herr, ich vergesse nichts! An diesem Tag bin ich nicht aus dem Haus gegangen, weil mich der Hexenschuß wieder einmal gepackt hatte. Als die Schmerzen abends nachgelassen hatten, hielt ich nach dem Auto, das mir Glück bringen sollte, Ausschau.“ Ich war überzeugt, daß ihre Aussage als ziemlich sicher angesehen werden konnte. So bedankte ich mich bei ihr und ging wieder. Und zwar so schnell, daß ich ungehobelter Mensch sie nicht einmal mehr fragen konnte, ob ihre bewährte Methode die Kasse des Wettspielbetriebes bereits gesprengt hatte. Als ich wieder an der frischen Luft war, merkte ich erst, wie sehr ich von Frau Covrigs Essendüften eingenebelt worden war. Vom Geruch her hätte ich es mit jedem Werksküchenchef aufnehmen können. Ich wollte schon schnell nach Hause gehen, eine Dusche nehmen und mich umziehen, besann mich aber doch eines ande122
ren. Die Spur, auf die ich gestoßen war, lockte mich so sehr, daß ich mir keinen Aufschub gönnte. Ich sah ein Taxi und nahm es.
13 Als ich zur Inspektion zurückkam, ging ich gleich zur Verkehrspolizei. Ich gab dort die Zulassungsnummer ab, die ich von Frau Covrig bekommen hatte, und bat um die Adresse des Fahrzeughalters. Während einer der Männer im Zulassungsregister nachsah, rief ich in meinem Büro an. Da sich niemand meldete, sagte ich mir, daß Dan seinen Auftrag entweder noch nicht erledigt hatte oder in der Strada General Demostene auf mich wartete. Da mir keine der Möglichkeiten etwas nutzte, ging ich mit der gewünschten Adresse schnell nach unten und suchte einen Dienstwagen. Der Großhandelsbetrieb, der die Handelseinrichtungen belieferte, lag an der Bariera Vergului. Der Pförtner erklärte mir, wie ich in die betreffende Abteilung käme. Nachdem ich durch zahllose Gänge gelaufen war und unterwegs noch einige Angestellte gefragt hatte, gelangte ich schließlich ans Ziel. An der Tür, vor der ich stand, befand sich ein Schild mit der Aufschrift „Fahrdienstleiter“. Ich klopfte und wartete. Niemand meldete sich. Auch stärkeres Klopfen blieb ohne Erfolg. Ich dachte mir, daß vielleicht niemand da sei, und klinkte. Ein mittelgroßer Mann lag im offenen Fenster und schaute dem Verkehr auf der Şoseaua Mihai Bravu zu. Ich grüßte, aber er hörte es nicht. Es zog durch die offene Tür, und ich ließ die Tür zuschlagen. Der Knall tat seine Wirkung. Er fuhr zusammen und drehte sich zu mir um. Er hatte eine dunkle Gesichtsfarbe und eine beginnende Glatze. Das 123
schon lange nicht mehr geschnittene Haar unter seinen Segelohren war bereits angegraut. Er mochte etwa 35 Jahre alt sein. Sein blauer Anzug war abgewetzt und fleckig, seine Krawatte hing schlampig unter seinem offenen Hemdkragen. „Was wollen Sie?“ fragte er barsch. Seine Augen und Lider waren so gerötet, daß ich ihn wegen seiner Bindehautentzündung bedauerte. „Miliz“, sagte ich und wies mich aus. „Ich brauche eine Auskunft.“ „Gern, sicher“, stammelte er mit veränderter Stimme und kam mit fahrigen Bewegungen auf mich zu. „Bei mir gibt es keine Schwierigkeiten! Bei mir ist alles in Ordnung … Wie sich’s gehört!“ versicherte er und gab mir seine schweißige Hand. Obwohl der Abstand zu ihm ein Meter betrug, merkte ich, daß ich keine gute Diagnose gestellt hatte. Nach dem Kohlduft bei Frau Covrig fehlte mir gerade noch die Alkoholfahne dieses Säufers. „Sind Sie der Fahrdienstleiter?“ fragte ich und drehte meinen Kopf zur Seite. „Ja, das bin ich!“ teilte er mit dem Hochmut eines Cassius Clay vor dem Kampf mit George Foreman mit. „Was wollen Sie denn wissen?“ „Wer ist Ihr Stellvertreter?“ „Bitte?“ fragte er verdutzt. „Wer kann mir Auskünfte über Transporte in diesem Betrieb geben?“ „Na, wer denn wohl? Ich bin hier der Chef.“ „Mit Ihnen kann man nicht reden, Sie sind ja betrunken!“ „Was erlauben Sie sich?“ „Soll ich zum Direktor gehen?“ Ich schnitt ihm angewidert das Wort ab. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, senkte den Blick und schwankte zur Tür. 124
Wenige Minuten später ging die Tür wieder auf, und ein Mann in einem blauen Kittel kam herein. Er war blond und sah wie ein Jüngling aus. „Guten Tag. Wie ich höre, wollen Sie mit dem Fahrdienstleiter sprechen“, sagte er und blieb an der Tür stehen. Vorsichtig näherte ich mich ihm und gab ihm die Hand. Er roch nicht nach Alkohol. „Wer ist der Fahrer des Lieferwagens mit dieser Nummer?“ fragte ich, nachdem ich mich vorgestellt und ihm die Zulassung gegeben hatte. „Petre Petre. Was ist mit ihm? Hat er etwas verbockt?“ fragte der Mann besorgt. „Das möchte ich eben wissen. Ist er im Betrieb?“ „Ja. Soll ich ihn rufen?“ Ich bejahte; er ging hinaus. Er kam in Begleitung eines etwa fünfzigjährigen kleinen dicken Mannes wieder. Auf dem Kopf, der so rund wie eine Billardkugel war, trug dieser ein grünes Jägerhütchen. „Ich bin Petre Petre“, sagte er und sah mich erschrocken an. „Setzen wir uns doch“, schlug ich vor und zeigte auf die Stühle, die vor dem Schreibtisch des Typs standen, den ich an die frische Luft geschickt hatte. „Was haben Sie in der Strada General Demostene gemacht?“ fragte ich direkt. Zuerst riß er die Augen weit und verständnislos auf, dann rötete sich sein Gesicht noch stärker. „Strada General Demostene? Was sollte ich dort machen?“ fragte er erstaunt. „Leugnen ist zwecklos! Ich bin nicht zufällig hier. Sie sind von mehreren Zeugen gesehen worden“, übertrieb ich etwas, was in meinem Beruf schon mal passieren kann. Er sah nach unten und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als hätte er Hummeln unter dem Hintern. 125
„Liegt diese Straße in der Nähe der Militärakademie?“ wollte er wissen, während er seine Knie bewunderte. „Ja, so ungefähr“, bestätigte ich. „Ich bin ein armer Mann. Wenn Sie mich bestrafen wollen, dann tun Sie’s doch!“ Er rückte schließlich mit der Sprache heraus und sah mich resigniert an. „Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mir sagen, was Sie in der Nummer zwölf gemacht haben.“ „Was sollte ich dort suchen? Ich habe mir etwas dazuverdient, das ist alles. Nun haben Sie mich eben erwischt, Pech gehabt. Was soll ich jetzt noch sagen?“ „Wie sind Sie dorthin gekommen?“ „Ich habe Möbelstoff zum Einrichtungshaus an der Piaţa Amzei gefahren. Als ich die Ware abgeliefert hatte, schlug mir ein Bekannter vor, einen Teppich zu der Adresse zu bringen, die Sie genannt haben. Das Auto war ja schließlich leer.“ „Wer hat Ihnen den Teppichtransport vorgeschlagen?“ „Nae, ein Bekannter.“ „Wie heißt Nae weiter?“ „Seinen Nachnamen kenne ich nicht. Er arbeitet in der Möbelträgergruppe.“ „Wer hat Sie begleitet, als Sie den Teppich übernommen haben?“ „Die Frau, die ihn gekauft hat, Nae und ein anderer Kollege von ihm.“ „Was haben Sie gemacht, als Sie angekommen sind?“ „Was sollte ich schon tun? Ich habe gewartet, bis die Jungs den Teppich ins Haus gebracht hatten. Dann habe ich sie zur Piaţa Amzei gebracht und bin zum Betrieb zurückgefahren.“ „Sind Sie nicht mit ins Haus gegangen?“ „Was sollte ich drin? Zwei Leute reichten, um einen Teppich zu tragen, obwohl er sehr groß war.“ Die Sache mit dem Teppich wollte mir nicht so recht gefallen: wenn Anica den Teppich im Wohnzimmer ver126
mißt hatte, so hieß das, daß dieser sich mindestens einen Tag vor dem Verbrechen im Hause der Opfer befunden hatte. Die Behauptung des Fahrers lief darauf hinaus, daß die Putzfrau von der Existenz des Teppichs nichts wissen konnte. Ich sagte mir, daß diese Unklarheit beseitigt werden mußte. „Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Ich glaube, es war zwischen fünf und sechs Uhr abends.“ Diese Antwort brachte mich noch mehr aus dem Konzept. Ich nahm an, daß Frau Covrig Vormittag und Nachmittag verwechselt hatte. Das war aber nicht der Fall. „An welchem Tag haben Sie den Teppich vom Einrichtungshaus abgeholt?“ fragte ich und wollte die Sache anders anpacken. „Warten Sie mal“, meinte er und zählte an den Fingern ab. „Mittwoch war mein Auto zur Durchsicht. Dienstag, ja Dienstag war ich mit Nae dort.“ Ich drehte mich zum Fahrdienstleiter um, der uns schweigend zugehört hatte. „Wie lange war das Auto zur Durchsicht?“ „Es ist jetzt noch dort. Die Ölpumpe ist kaputt, es gibt keine neuen.“ „Donnerstag ist das Auto nicht aus der Werkstatt gekommen?“ „Wie denn? Die Pumpe ist seit Mittwoch früh ausgebaut.“ Jetzt war mir alles klar. Frau Covrig, die alles sieht, hört und sagt, hatte es geschafft, mich irrezuführen. Was ihrer Meinung nach am Donnerstag passiert war, hatte sich in Wirklichkeit zwei Tage früher zugetragen. „Wissen Sie zufällig, an welchem Tag die Lottoziehung ist?“ fragte ich den Fahrdienstleiter. „Mittwoch“, sagte er und sah mich argwöhnisch an. Wahrscheinlich nahm er an, daß ich nicht ganz richtig im Kopf war. „Und die Wettscheine werden natürlich dienstags 127
ausgefüllt“, meinte ich noch und begriff, daß die Zeugin, die sowohl an der Mittwochs- als auch an der Freitagsziehung teilnahm, die Tage durcheinandergebracht hatte. Ich wollte meine Gesprächspartner schon wieder ihrer Arbeit nachgehen lassen, als mir eine neue Hypothese einfiel. Wenn die Teppichträger vielleicht etwas in der Wohnung der Opfer liegengelassen hatten, eine Mütze zum Beispiel? Wäre es dann nicht normal, daß sie zurückkamen, um sie zu holen? „Ich möchte mit Ihrem Freund Nae sprechen“, sagte ich zum Fahrer. „Bitte kommen Sie mit, und zeigen Sie ihn mir.“ Als wir auf der Piaţa Amzei angekommen waren, zeigte mir der Fahrer des Lieferwagens vor der Zweigstelle der Sparkasse fünf bis sechs Männer, die wie die Kinder Abschlagen spielten. Als das Auto näher kam, zeigte er mir die beiden, die ihn zur Wohnung der Opfer begleitet hatten. Ich stieg allein aus und ging auf die Gruppe zu. Alle trugen diagonal über der Brust Gurte. Von weitem sahen sie wie die Patronengurte von Old Shatterhand aus. Als ich näher kam, brachen sie ihr Spielchen ab und erkundigten sich zuvorkommend, ob ich einen Umzug zu machen hätte. Ich zeigte meinen Ausweis und sagte zu denen, für die ich mich interessierte, daß ich mich mit ihnen unterhalten wollte. Die anderen waren urplötzlich verschwunden, da ich ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte. Wahrscheinlich hatte sie mein Erscheinen veranlaßt, lieber Versteck zu spielen. Ich verließ den Fahrer des Lieferwagens und nahm meine neuen Kunden im Dienstwagen mit. Nachdem ich mit den Möbelträgern in die Inspektion gegangen war und mich zehn Minuten mit ihnen unterhalten hatte, schlug ich ihnen vor, zusammen die Person aufzusuchen, die ihre Unschuld bestätigen sollte. 128
Eine Stunde später hatte ich Aufschluß. Vergangenen Donnerstag hatten sie einen Umzug für einen Bürger ins Viertel Baba Novac gemacht. Da die Familie, die ihr Alibi bestätigte, einen ziemlich vertrauenswürdigen Eindruck machte, gab es für mich keinen Grund mehr, sie als verdächtig festzuhalten. Um drei Uhr war ich zu Hause. Als erstes zog ich mich aus und stellte mich unter die Dusche. Ich hoffte, so den Überdruß, der sich in den letzten drei Tagen angestaut hatte, abwaschen zu können. Drei Tage, in denen ich nichts weiter als eine Steigerung meines Angstgefühls erreicht hatte, daß meine berufliche Unzulänglichkeit es den Tätern ermöglichen würde, ihrem Irrsinn weiterhin freien Lauf zu lassen. Als ich merkte, daß es mir nicht gelang, meinen Unmut mit dem heißen Wasserstrahl abzuspülen, drehte ich den Hahn zu. Erst dann hörte ich das Telefon klingeln. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, in meine Pantoffeln zu schlüpfen, griff nach meinem Bademantel und stürzte ans Telefon. Es war Dan. Er wollte wissen, was ich trieb. Ich betrachtete meine nackten Füße und die Pfütze auf dem Teppich. „Ich dusche mich gerade“, teilte ich ihm mit. „Hast du’s gut.“ „Hast du etwas erreicht?“ „In zehn Minuten bin ich bei dir.“ Ich legte auf und ging ins Bad zurück. Als Dan an der Tür klingelte, war ich schon angezogen. „Nun?“ fragte ich, als ich die Tür öffnete. „Am fraglichen Tag wurde kein Arzt in die Wohnung der Ermordeten bestellt.“ „Und um das festzustellen, hast du den ganzen Tag gebraucht?“ „Ach wo! Dazu habe ich höchstens eine Stunde gebraucht!“ 129
Fragend sah ich ihn an. Gelassen fuhr er dann fort: „Ich dachte mir, daß mein Gehalt ja sowieso läuft und es nicht schlecht wäre, wenn ich meine Suche nach nützlichen Bekanntschaften fortsetze.“ „Beeilung, Dan“, trieb ich ihn an. „Wie ich schon sagte“, fuhr er gleichmütig fort, „da ich einmal die beim Rettungsamt eingegangenen Anrufe vor mir hatte und der Anruf, der mich interessiert hätte, nicht dabei war, habe ich mir noch die anderen angesehen. Weißt du, was ich bei dieser Gelegenheit herausbekommen habe?“ Ich schwieg und warf ihm einen Blick zu, daß er gleich loslegte. „Am Tage des Verbrechens wurde von der Strada General Demostene zehn aus angerufen. Das ist das Haus rechts vom betreffenden Haus. Ich dachte mir, ich müßte mich mal mit dem Arzt unterhalten, der dorthin gefahren ist. Da er nicht im Dienst war, konnte ich ihn nur unter Schwierigkeiten erreichen.“ „Was hat er gesagt?“ fragte ich gereizt. „Der Patient war ein fünfjähriges Kind, das Grippe hatte. Er sagte mir, obwohl Grippe nichts Schlimmes ist, ergeben sich bei Kindern manchmal Komplikationen. Deshalb hatte er sich fast eine Stunde lang bei dem Kind aufgehalten.“ „Hat er dir sonst noch etwas gesagt?“ fragte ich. „Nein, ihm ist nichts aufgefallen, was für uns interessant sein könnte.“ Ich wollte mich schon erheben, als mir Dan ein Zeichen gab, daß ich ruhig sitzen bleiben sollte. „Das wundert mich übrigens auch gar nicht. Schließlich war er ja die ganze Zeit im Hause seines kleinen Patienten.“ „Und der Fahrer des Krankenwagens?“ schoß es mir durch den Kopf. „Genau! Daran dachte ich auch. Ich fuhr also wieder 130
zum Rettungsamt und wollte zu ihm, traf ihn aber nicht an. Er war gestern zur Nachtschicht, und heute hat er frei. Ich fragte nach seiner Adresse und fuhr zu ihm nach Hause. Er schlief gerade und war nicht sehr erbaut, als ich ihn weckte. Aber dann sind wir doch in gutem Einvernehmen wieder auseinandergegangen.“ „Was hat er gesagt, Dan?“ fragte ich aufgeregt. „Während er auf den Arzt wartete, beobachtete er, wie eine Frau den Hof des bewußten Hauses verließ.“ „Um welche Uhrzeit?“ „Ungefähr um halb neun. Sie verließ das Haus mit zwei Koffern und ging nach rechts. Da sie ihm den Rücken zugewandt hatte, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen. Alles, was er behalten hatte, war, daß die Frau etwas Schwarzes anhatte und die Koffer sehr schwer sein mußten. Das ist alles, was aus ihm herauszukriegen war. Also wie immer, cherchez la femme! Und was hast du gemacht?“ fragte er mich. Ich erzählte ihm, wie ich meine Zeit herumgebracht hatte. „Also ist die Frau mit den Koffern zu dem Lieferwagen, der auf sie gewartet hat, gegangen“, meinte er, als ich mit meinem Bericht fertig war. „Wie lange hat der Krankenwagen dort gestanden?“ „Er fuhr so gegen neun oder kurz nach neun weg.“ „Das paßt nicht ganz zusammen.“ „Warum nicht?“ „Weil der Fahrer gesehen hat, daß sie zurückgekommen ist, obwohl es bis zum Lieferwagen nur zwei Minuten waren. Oder glaubst du, daß …?“ „Na klar! Sie wollte lieber hinter der Ecke warten, bis der Krankenwagen wieder weg war. Warum sollte sie bei ihren Sicherheitsvorkehrungen auch riskieren, daß sie vom Fahrer eines Krankenwagens gesehen wurde?“ Ich zuckte mit den Achseln und schlug Dan vor, essen zu gehen. Ehe Dan zustimmen konnte, läutete das Tele131
fon. Es war unsere Zentrale. Sie teilte mir mit, daß eine Nachricht für mich eingegangen war. Der Unteroffizier, der vor dem Hause der Ermordeten Wache hielt, hatte über sein Funksprechgerät gemeldet, daß der Mieter der Mansarde zurückgekehrt war.
14 „Ist er oben?“ fragte ich den Unteroffizier, als ich auf den Hof kam. „Ja. Ich habe ihm gesagt, daß einer meiner Vorgesetzten etwas von ihm wissen möchte.“ „Weiß er, was passiert ist?“ „Er hat sich gewundert, daß ich seinen Ausweis verlangt habe, und wollte wissen, was ich hier suche. Ich sagte ihm, daß er das von Ihnen erfährt.“ „Gut. Wann ist er gekommen?“ „Etwa vor einer Stunde, also gegen drei Uhr“, meinte der Unteroffizier und sah auf die Uhr. Ich ging zur Dienstbotentreppe. Vom letzten Absatz aus ging ich an der Bodentür vorbei und blieb vor der zweiten Tür stehen. Die Tür ging auf, ehe ich überhaupt anklopfen konnte. Ich wunderte mich nicht darüber. Die Holztreppe knarrte mächtig unter unseren Schritten. „Ich glaube, ich muß Ihnen eine Strafe aufbrummen!“ verkündete mir ein etwa dreißigjähriger Mann. Er hatte ein längliches und stark gebräuntes Gesicht, kastanienbraunes Haar, braune Augen und die herben Züge eines Sportlers. Er war etwas größer als ich und ließ seine Zähne sehen, wenn er lächelte, wahrscheinlich um seine Goldkronen auf den Schneidezähnen zu zeigen. Da seine anderen Zähne gesund und kräftig waren, dachte ich mir, daß dieser Ersatz nicht einer Mode, sondern eher 132
einem wohlgezielten Faustschlag zu verdanken war. Die Form seiner Nase bestärkte mich in dieser Ansicht. Sie war platt und hatte keinen Knorpel. „Warum wollen Sie mich denn bestrafen?“ fragte ich, als ich nach seiner Aufforderung bei ihm eintrat. „Weil Ihr Zerberus mich im Hause festgehalten hat, ohne sich zu erkundigen, ob ich ein Anhänger von Ghandis Hungermethode bin“, meinte er lachend und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Tut mir leid. Ich werde mein möglichstes tun und Sie nicht länger als notwendig aufhalten“, verpflichtete ich mich, denn ich hatte selbst Hunger. Nachdem wir uns ausgewiesen hatten, nahm er zwei Hocker vom Schrank und stellte sie an den Tisch. „Bei mir hier ist es ziemlich eng“, entschuldigte er sich und fuhr sich schnell mit dem Daumen der rechten Hand über die Nase, während er so laut schnaubte, wie Louis Armstrong auf der Trompete blies. „Nehmen Sie bitte Platz.“ Er hatte nicht übertrieben. Der ganze Raum war höchstens sechs Quadratmeter groß. Kleiderschrank und Bettcouch ließen nur noch Platz für den Tisch, um den wir saßen. Als die Hocker am Tisch standen, konnte man sich im Zimmer nicht mehr rühren. Obwohl der zur Verfügung stehende Platz nicht größer war als der in städtischen Autobussen zur Spitzenzeit, verliehen das Äußere und die Anordnung der Einrichtung dem Raum fast etwas Behagliches. „Nun, Bälle können Sie hier nicht gerade veranstalten“, meinte ich scherzhaft, während er auf die Couch rutschte und versuchte, seine Beine unter den Tisch zu zwängen. „Und trotzdem veranstalte ich hier nicht, selten Tanzabende. Sicher, auf das Notwendigste beschränkt, die Tanzpartnerin und ich“, meinte er und zwinkerte mir zu. 133
„Da ich mich verpflichtet habe, Sie nicht lange aufzuhalten, schlage ich vor, gleich zur Sache zu kommen.“ Er war einverstanden, und mit ein paar Worten setzte ich ihm ohne Umschweife auseinander, was in der Wohnung seiner Wirtinnen vorgefallen war. Während ich ihm die Angelegenheit berichtete, sah ich ihn an, wie Insektenforscher seltene Schmetterlinge durch die Lupe betrachten. Sein Lächeln erstarrte, und sein Unterkiefer fiel herunter. Obwohl ich schon seit einigen Minuten aufgehört hatte zu reden, starrte er mich immer noch so an, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. „Ist das Ihr Ernst?“ fragte er im Flüsterton, nachdem er mit dem linken Daumen über seine Nase gefahren war. „Ja, leider.“ „Verfluchte Banditen!“ polterte er los. „Sie haben nur gewartet, bis ich weg war, um ihre Schandtat auszuführen. Wäre ich hiergewesen, hätte ich es ihnen schon besorgt!“ rief er und schlug sich mit der rechten Faust auf die linke Handfläche. „Ich hätte sie fertiggemacht!“ zischte er drohend durch die Zähne. „Wo waren Sie denn?“ unterbrach ihn Dan. „In Sibiu. Ha! Wenn ich zu Hause gewesen wäre!“ „Wann sind Sie weggefahren?“ „Freitag früh. Zum Teufel noch mal! Wenn ich die erwischt hätte, hätte ich Hackfleisch aus denen gemacht!“ „Waren Sie im Urlaub?“ „Nein, ich bin Boxer“, sagte er und sah Dan böse an. Wahrscheinlich war er verärgert über dessen lästige Zwischenfragen, die ihn daran hinderten, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. „Was haben denn die Idioten von unten gemacht?“ fragte er. „Was für Idioten?“ fragte ich erstaunt zurück. „Die in den ersten Stock gezogen sind!“ „Sie meinen die Familie, die die Wohnung unten gekauft hat?“ 134
Ich versuchte herauszubekommen, was er meinte. „Wer denn sonst?“ „Sie sind noch gar nicht eingezogen.“ „Das ist ja gut! Ich sehe sie hier mit ihrem Plunder rumlaufen, und Sie behaupten das Gegenteil, obwohl Sie noch nicht einmal hier wohnen! Was soll das?“ fragte er und schnaubte wieder durch die Nase, wobei er die Nasenlöcher abwechselnd mit dem Daumen zuhielt. Er wurde aschfahl, daß ich mir sagte, es wäre wohl besser, es in Güte mit ihm zu versuchen, sonst fühlte er sich vielleicht noch veranlaßt, meine Nase der seinen gleichzumachen. Diese Aussicht hielt ich absolut nicht für verlockend. „Herr Costea, ich weise Sie nochmals darauf hin, daß wir Milizoffiziere in Ausübung unseres Dienstes sind und es uns fernliegt, uns mit Ihnen zu streiten. Auf Grund meiner Erfahrung weiß ich, daß die Täter nur mit etwas Fingerspitzengefühl gefaßt werden können. Ich schlage Ihnen also ein ruhiges und freundschaftliches Gespräch vor“, sagte ich und merkte, daß er wieder wütend mit der rechten Faust auf seine linke Handfläche schlug. Er hörte auf, seine Handfläche zu mißhandeln, faltete die Hände, und mit flinken Bewegungen knackte er mit den Fingern. Als er damit fertig war, sah er mich verstört an und sagte: „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin ganz außer mir. Die Gleichgültigkeit der Idioten von unten bringt mich auf die Palme!“ „Gehen wir doch systematisch vor!“ unterbrach ich ihn, damit er nicht gleich wieder aus der Fassung geriet. „Der Vorwurf der Gleichgültigkeit, den Sie den Mietern der ersten Etage machen, könnte Ihnen auch gemacht werden.“ „Das stimmt nicht! Während ich mich ein paar hundert Kilometer entfernt vom Ort der Tragödie aufhielt, waren es bei denen nur ein paar Meter. Bei dieser Ent135
fernung kann man doch nicht behaupten, die Diebe nicht gehört zu haben. Selbst wenn sie aus Feigheit nichts dagegen unternehmen wollten, so hätten sie doch wenigstens so viel gesunden Menschenverstand aufbringen und die Miliz benachrichtigen können! Aber was ging es die Leute schon an!“ „Herr Costea, sagen Sie uns bitte, woher Sie wissen, daß sich die neuen Mieter während des Verbrechens im Haus aufgehalten haben?“ fragte ich, um herauszubekommen, weshalb er sich so darauf versteifte. „Ich habe doch gesehen, wie sie eingezogen sind!“ meinte er aufbrausend. Dann wurde er plötzlich schwankend: „Wollen Sie damit etwa sagen, daß sie ihre Möbel gebracht haben, aber noch gar nicht hier wohnen?“ „Wann haben Sie denn gesehen, daß sie ihre Möbel gebracht haben?“ fragte ich gereizt. „Etwa vor einer Woche. Ja, Donnerstag war’s, am Abend vor meiner Fahrt nach Sibiu.“ „Könnten Sie noch genau sagen, um welche Zeit Sie die neuen Mieter gesehen haben?“ „Sicher! Abends halb elf, als ich vom Training kam“, meinte er und fuhr sich wieder mit den Fingern über die Nase. „Schildern Sie uns die Einzelheiten genau“, bat ich ihn ruhig, obwohl ich aufs äußerste gespannt war. „Als ich auf den Hof kam, suchte ich mein Schlüsselbund, um die Hoftür aufzuschließen. Da ich in der einen Hand meinen Sportbeutel hatte, dauerte es ein bißchen. Ich hatte gerade den richtigen Schlüssel gefunden, als ein Lieferwagen vor der Tür hielt. Ich schenkte ihm keine Beachtung weiter und schloß die Tür zu. Als ich den Schlüssel gerade im Schloß herumgedreht hatte, stürzte eine Frau aus dem Auto und stieß an die Tür. Ich fragte, ob ich aufschließen sollte, was sie bejahte. Als ich aufgeschlossen hatte, ging ich über den Dienstboteneingang zu mir nach oben.“ 136
„Und die Frau?“ „Sie ging die Stufen zur Terrasse hoch. Es ist also richtig, wenn ich behaupte, daß der neue Mieter seine Sachen gebracht hat.“ „Das verstehe ich nicht. Weshalb sind Sie der Meinung, daß die Person, die Sie gesehen haben, der neue Mieter war? Ist es denn so ausgeschlossen, daß sie zu der Bande gehörte, die Ihre Wirtinnen umgebracht hat?“ „Ganz ausgeschlossen! Die beiden Alten wurden erst nach meiner Abreise umgebracht.“ „Wieso sind Sie sich dessen so sicher? Haben Sie denn noch mit ihnen gesprochen, als Sie vom Training kamen?“ „Nein, aber in ihrer Wohnung brannte noch Licht. Und wenn sie von den Verbrechern Donnerstag nacht umgebracht worden wären, hätte ich es ja wohl hören müssen. Abgesehen von meinem leichten Schlaf lasse ich jetzt im Frühjahr das Fenster nachts immer offen“, meinte er und fing wieder an, sich mit den Fingern über die Nase zu fahren. „Die Ermittlungen haben ergeben, daß keine Einrichtungsgegenstände in die erste Etage gebracht wurden.“ „Wollen Sie damit sagen, daß die Schweinerei an dem Abend passiert ist, als ich zu Hause war? Und die Frau, die ich gesehen habe?“ „War eine Komplizin. Der Überfall hatte bereits stattgefunden, als Sie nach Hause kamen. Nach dieser Feststellung sehen Sie doch wohl ein, wie wichtig es ist, daß wir die Frau ausfindig machen, die nach Ihnen den Hof betreten hat.“ „Wenn ich das geahnt hätte!“ brummte er und knirschte mit den Zähnen. „Bitte beschreiben Sie uns diese Frau!“ „Sie war mittelgroß, schlank und hatte etwas Schwarzes an. Ja, jetzt weiß ich es: einen Nylonmantel. Als sie auf den Hof kam, hörte ich das typische Rascheln. Auf 137
dem Kopf trug sie ein dunkles Kopftuch. Ich glaube, sie hatte schwarzes oder braunes Haar.“ „Wie sah ihr Gesicht aus?“ „Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht mehr. Außerdem war es dunkel.“ „Wie alt mag sie gewesen sein?“ „Schwer zu sagen. Vielleicht fünfundzwanzig oder auch vierzig. Ich habe sie mir wirklich nicht so genau angesehen.“ „Was können Sie uns über den Lieferwagen sagen? War außer dem Fahrer noch jemand im Führerhaus?“ „Ich weiß es nicht, ich habe nicht darauf geachtet.“ „Können Sie uns den Fahrzeugtyp nennen?“ „Ich glaube, es war ein ‚Carpaţi‘, die Farbe weiß ich nicht mehr.“ Ich sah Dan an und seufzte. Er hatte gemerkt, daß mich das Herantasten an die Antworten mitgenommen hatte. Er fragte nun weiter und wollte von Costea wissen, wie oft dieser seine Wirtinnen aufgesucht hatte. Schließlich erkundigte er sich noch nach den Personen, die Costea in der Wohnung der beiden Frauen gesehen hatte. Kein neuer Name kam zu den von den anderen Zeugen genannten hinzu. Während Dan von ihm etwas über seine Reise nach Sibiu wissen wollte, kam mir die Idee, ihn auf die Inspektion mitzunehmen und ihm unsere Fotoalben zu zeigen. Ich gab diesen Gedanken jedoch wieder auf. So wie er von den Faustschlägen schon bearbeitet worden war, hätte er es vielleicht fertiggebracht, mich noch mehr in die Irre zu führen und zu behaupten, daß zwei Drittel unserer abertausend „Künstler“ äußerlich der schwarz gekleideten Frau ähnelten. „Nun hören wir schon zum zweitenmal von dieser schwarz gekleideten Frau“, sagte Dan, als wir wieder draußen am Auto waren. 138
„Tja, interessant ist es schon, wenn ich auch nicht verstehe, wo sie zwei Stunden lang gewesen sein mag. Was zum Teufel hat sie nur in der Zwischenzeit gemacht, als sie der Fahrer des Krankenwagens weggehen und unser Boxer sie kommen sah?“ „Genosse Hauptmann Maier hat nach Ihnen gefragt“, unterbrach Vartunian seine Überlegungen und steckte seinen Kopf durch das Wagenfenster. „Was wollte er denn?“ „Sie möchten in der Inspektion bei ihm vorbeikommen.“
15 „Hast du was für mich?“ „Nichts Umwerfendes, aber vielleicht springt doch etwas heraus“, antwortete Maier. „Dann schieß mal los!“ ermunterte ich ihn und entnahm seinem Lächeln, daß er wieder einen seiner üblichen Späße auf Lager hatte. „Ich habe keine anderen Fingerabdrücke als die der Opfer und der Putzfrau gefunden.“ „Sehr interessant! Da kommt bestimmt viel ’raus“, meinte ich und lachte gezwungen. „Erinnerst du dich an die Obstschale? Die auf dem Nachttisch?“ fragte er. „Was ist damit?“ „Ein angebissener Apfel lag drin.“ „Spuren?“ fragte ich neugierig. „Ja, ein Fingerabdruck. Er ist unvollständig, ich hoffe aber, daß ich trotzdem etwas damit anfangen kann.“ „Wann kannst du etwas liefern?“ „In achtundvierzig Stunden, wenn mein Verfahren, den Abdruck sichtbar zu machen, gelingt.“ 139
„Brauchst du so lange, um uns mitzuteilen, daß der Abdruck von einer der Ermordeten stammt?“ fragte ich scherzhaft, aber auch etwas verdrossen. „Er ist weder von den Opfern noch von der Putzfrau.“ „Bist du unter die Astrologen gegangen? Woher willst du es denn wissen, wenn du noch nicht einmal das Bild hast?“ fragte ich ungehalten. „Junge“, wandte er sich an Dan, „warum erinnerst du deinen Sheriff nicht daran, daß er sein Beruhigungsmittel nimmt?“ Da er merkte, daß Dan auch nicht zum Scherzen aufgelegt war, fuhr er fort: „Der Gebißabdruck stammt nicht von den Ermordeten, aber auch nicht von Anica. Begreifst du jetzt?“ Ich hatte begriffen. Einer der am Massaker Beteiligten wußte nichts von der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Wenn ich also denjenigen herausfinden wollte, der sich zum Verzehr der „verbotenen Frucht“ hatte hinreißen lassen, brauchte ich ihn nur unter den Personen herauszufinden, die die Bibel oberflächlich gelesen und keinen allgemeinen Überblick mehr hatten. „Das hieße, daß wir sie zuerst kriegen müssen, um dann festzustellen, wer der Gierige war. Ginge es nicht umgekehrt?“ fragte ich, um ihm zu zeigen, daß ich auch geistreich sein konnte. Natürlich verstand er meinen Scharfsinn nicht. Er sah mich gleichgültig an, zog seinen dicken Bauch unter dem Schreibtisch vor und stand auf. Er wandte mir den Rücken zu und öffnete den Schrank. „Weißt du, Eugen, wegen deiner ‚wertvollen‘ Hinweise hättest du mich nicht extra per Funk zu rufen brauchen!“ sagte ich und wollte gehen. „Sachte, sachte! Das war doch nur die Vorrede.“ Ich drehte mich um und blieb an der Tür stehen. „Kennst du das Ding hier?“ fragte er und legte die Mordwaffe auf den Schreibtisch. 140
„Schon“, gab ich zu. „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Scharfsinn. Tritt näher. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Täter das Beil mitgebracht haben“, fuhr er fort, als ich zu ihm trat. „Sie haben wohl vor kurzem wieder einmal ‚Schuld und Sühne‘ gelesen?“ fragte Dan ironisch. „Ach wo. Dostojewski war noch nie mein Fall. Nicht einmal in jungen Jahren, als ich Anfänger war wie Sie, Leutnant!“ erwiderte Maier bissig. „Rück ’raus mit der Sprache, Eugen“, drang ich in ihn, damit sich das Gespräch nicht in die Länge zog. „Sieh dir das an“, meinte er und gab mir ein paar Farbfotos. „Was soll denn das sein?“ fragte ich, als ich sie angesehen hatte. „Das japanische Inselreich, von Skylab aus fotografiert?“ „Das sind Vergrößerungen aus diesem Bereich“, sagte er und zeigte mit der Fingerspitze auf die Schneide des Beils. „Das eine sind Rostflecke zum Zeitpunkt der Untersuchung des Beils und das andere dieselben Rostflecke heute, also achtundvierzig Stunden später.“ „Sie haben sich erheblich vergrößert“, meinte ich. Aus einer Schublade seines Schreibtischs holte er ein Beil ohne Stiel und gab es mir. Ich nahm es und betrachtete es. Seine Schneide war ebenfalls mit Rost überzogen, doch viel weniger als die Tatwaffe. „Ich habe ein Beil genommen, es geschärft und ins Wasser gelegt. Die Untersuchung hat ergeben, daß nur der frisch geschliffene Teil oxydiert ist.“ Ich bemühte mich zu verstehen, worauf er hinauswollte, und sah mir noch einmal die Fotos und die Schneiden der beiden Beile an. „Die Mordwaffe wurde also kurze Zeit vor dem Mord geschliffen“, meinte ich und verstand ihn endlich. „So wie sich die Oxydation auf der Testschneide aus141
gebreitet hat, glaube ich, daß das Beil an dem Tag geschärft wurde, als es als Tatwaffe verwendet wurde.“ „Diese Feststellung führt nicht notwendigerweise zu dem Schluß, daß die Täter das Beil mitgebracht haben“, sagte Dan hinter mir. „Als mir die Idee kam, die ich euch eben dargelegt habe“, sagte Maier und überhörte Dans Bemerkung einfach, „bin ich schnell mal zur Wohnung der Opfer gefahren. Ich ging in den Keller und untersuchte das Beil, mit dem Holz gespalten wurde. Wahrscheinlich wurde es nach dem Kauf nie wieder geschliffen. Also seit einigen Jahrzehnten.“ Ich hörte ihm zu und gab ihm recht. Hätte die Tatwaffe den Opfern gehört, so hätten sie sicher auch das Beil im Keller geschliffen. Insbesondere, da dieses auf Grund seines täglichen Gebrauchs zum Holzhacken in erster Linie eine solche Behandlung verdient hätte. „In Ordnung, Eugen! Du hast recht. Aber leider sind deine Festlegungen und der Gebißabdruck auf dem Apfel nicht sofort verwendbar …“, meinte ich bedauernd. „Ha, wenn du ein aufgewecktes Bürschchen bist, dann schon. Das Beil wurde von einem Fachmann mit der Schleifmaschine geschärft.“ Da ging mir plötzlich ein Seifensieder auf. „Dan“, sagte ich und sah auf die Uhr, „wir haben noch eine Stunde Zeit. Die müssen wir nutzen!“ Als ich zur Tür hinausstürzte, konnte ich gerade noch das zufriedene Lächeln auf dem Gesicht meines dicklichen Kollegen wahrnehmen. Wir fuhren rasch drei Scherenschleiferwerkstätten ohne Erfolg ab. Zehn vor acht landeten wir in der Calea Griviţei gegenüber dem Kino „Feroviar“ und hielten vor der vierten Scherenschleiferei. Ich wollte die Tür öffnen, aber sie war schon abgeschlossen. Ich guckte durch das Schaufenster und sah 142
einen jungen Mann mit dem Rücken zu mir stehen. Vor einer Spiegelscherbe rückte er den Knoten seiner Krawatte zurecht. Ich klopfte ans Fenster, aber er stellte sich taub. Als ich stärker klopfte, machte er mit dem Zeigefinger ein ablehnendes Zeichen, ohne uns überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Mein heftiges Klopfen brachte ihn schließlich dazu, sich uns zuzuwenden und an die Tür zu kommen. „Morgen wieder!“ rief er mir zu, während er auf die Öffnungszeiten seiner Werkstatt deutete. „Heute, heute!“ erwiderte Dan hinter mir und drückte seinen Ausweis an die Scheibe der Tür. „Es ist noch nicht acht“, sagte ich, während sich der Scherenschleifer beeilte, die Tür wieder aufzuschließen. „In der kurzen Zeit kann ich aber sowieso nichts mehr für Sie machen. Aber wenn Sie schon einmal hier sind, dann sagen Sie doch, was Sie wünschen“, meinte er und schickte sich in die vollendeten Tatsachen. Er war etwa 25 Jahre alt, brünett, behende und von kleiner Gestalt. Er trug einen dichten schwarzen Schnauzbart, der seinen Mund einrahmte und mit dem Spitzbart verbunden war. Dieser wiederum setzte sich in zwei Strähnen über den Unterkiefer bis zu den Koteletten fort. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er mit seinem Rasierapparat durch die kunstvollen Linien seines Kinnund Backenbartes jonglierte, aber ich kam zu keinem Schluß. Da er es offensichtlich eilig hatte, verschob ich des Rätsels Lösung auf später. „Wir bringen Ihnen keine Arbeit. Wir wollen Sie nur etwas fragen“, beruhigte ich ihn. „Ja, bitte. Ich bin zu acht Uhr verabredet“, entschuldigte er sich, als er merkte, daß ich ihn ertappt hatte, wie er nach der Uhr schielte. „Haben Sie diesen Gegenstand schon einmal gesehen?“ fragte ich und holte das Beil aus einem Plastbeutel. Er nahm es, sah es an, fuhr mit dem Finger über die 143
Schneide und meinte überheblich: „Meinen Sie denn, es gibt in Bukarest noch jemanden, der so … wie ich schleifen kann?“ „Haben Sie es geschliffen?“ fragte ich, um sicherzugehen. „Zigeunerpfusch gibt es bei mir nicht! Fassen Sie die Schneide an, und Sie werden sehen. Das ist echte Wertarbeit, keine Schluderei! So ein Handwerk lernt man nicht über Nacht, sondern es ist das Ergebnis der Erfahrungen von mehreren Generationen. Vielleicht haben Sie von dem Italiener Declesis gehört, dem berühmten Scherenschleifer der Wilkinson-Werke, die die besten Säbel der Welt hergestellt hatten. Ja, dieser großartige Mann war mein Urgroßvater. Gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle: Rino Declesis“, sagte er, nahm Haltung an und schlug die Hacken fast preußisch zusammen. Er überfiel mich so plötzlich, daß ich befürchtete, ich könnte ihn gar nicht mehr bremsen. Ich sagte mir, daß er ein bißchen verschroben war und ich besser täte, meinen Beruf woanders auszuüben. Gerade wollte ich das Beil wieder an mich nehmen, als er mir erzählte, daß er italienischer Abstammung sei. Diese Äußerung vereitelte meine Absicht, mich aus dem Staube zu machen. Wenn gar noch italienisches Blut in seinen Adern floß, dann war seine Redseligkeit von vornherein klar. Von dieser Seite her drohte also keine Gefahr, seine Abstammung war Garantie genug. „Hauptmann Apostolescu“, sagte ich und gab ihm die Hand. „Wenn Sie sicher sind, daß Sie dieses Beil hier geschärft haben, dann sagen Sie mir bitte, wer es gebracht hat“, überrumpelte ich ihn, um ihn daran zu hindern, mir noch einen Vortrag über seinen erlesenen Stammbaum zu halten. „Was ist eigentlich los? Hat sich der Kunde über meine Arbeit beschwert? Unmöglich! Ausgeschlossen! Zweihundert Jahre lang hat es bei meiner berühmten Familie keine Reklamationen gegeben.“ 144
„Herr Declesis, mit diesem Beil, das Sie geschärft haben, wurde jemand umgebracht!“ unterbrach ich ihn, damit er nicht wieder abschweifte. Ich stellte fest, daß ich mein Ziel sogar besser als beabsichtigt erreicht hatte. Mit einem Schlage wurde er gelb und starrer als ein Rentner aus dem Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud. „Herr Declesis, wer hat Ihnen dieses Beil gebracht?“ fragte ich ihn erneut, damit er wieder zu sich kam. Er starrte mich noch immer an und sagte kein Wort. „Wann haben Sie es gewetzt?“ fragte ich weiter. „L-letzte W-woche“, stotterte er geistesabwesend, als wäre er ein Medium im Trancezustand. „Bitte überlegen Sie, wer die Person war, die Ihnen das Beil zum Schärfen gebracht hat!“ fragte ich erneut. „Eine Dame. … na ja, eine Frau …“ „Wie hat sie ausgesehen?“ fragte Dan ungeduldig. „Sie war ungefähr vierzig Jahre alt und hatte einen schwarzen Regenmantel aus Nylon an“, sagte er und bekam langsam seine ursprüngliche dunkle Gesichtsfarbe wieder. Dan sah mich vielsagend an. Hauptmann Maiers Verdacht war also richtig. „Wie sah ihr Gesicht aus? Versuchen Sie, uns die Frau zu beschreiben“, redete ich ihm zu. „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht daran. Sie hatte so ein Gesicht, das man gleich wieder vergißt.“ „Augen und Haarfarbe?“ fragte ich, um ihm etwas auf die Sprünge zu helfen. „Sie hatte schwarze oder braune Augen, ihr Haar war vielleicht braun. Ich konnte es nicht erkennen, weil sie ein Kopftuch trug.“ „Ein schwarzes?“ „Ja, es war aus dem gleichen Material wie der Regenmantel.“ „Und die Nase, der Mund und die Stirn?“ bohrte Dan weiter. 145
„Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe es mir nicht gemerkt, basta.“ „Wenn Sie die Frau wiedersehen würden, würden Sie sie dann wiedererkennen?“ Nachdem er mit dem Kopf genickt hatte und die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen hatte, wußte ich, daß das Ergebnis einer eventuellen Gegenüberstellung bestenfalls so sicher wie die Wettervorhersage wäre. „War sie groß?“ wollte mein Mitarbeiter unbedingt wissen. „Etwa meine Größe.“ „War sie dick oder schlank?“ fragte ich weiter. „Ich würde sagen, sie war schlank.“ „Können Sie uns sagen, wann sie bei Ihnen war?“ „Sie war zweimal hier. Einmal am Mittwoch, als sie das Beil gebracht, und dann am nächsten Tag, Donnerstag, als sie es wieder geholt hat.“ „Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?“ „Worüber sollte ich mir ihr reden? Am Mittwoch, als sie das Beil brachte, sollte ich es gleich schärfen. Ich sagte ihr, daß ich an diesem Tag noch andere Arbeiten zu erledigen hatte und meine Kunden nicht warten lassen konnte. Was ein Declesis verspricht, das hält er auch!“ „Und am Donnerstag?“ unterbrach ich ihn schnell, damit er seinem Vorfahren Cicero nicht wieder Konkurrenz machte. „Am Donnerstag kam sie gegen zehn und holte es wieder ab.“ Mehr vermochten Dan und ich nicht aus ihm herauszubekommen. „Vartunian, fahren Sie uns irgendwohin, wo wir etwas essen können“, sagte ich, als wir hinten im Auto saßen. „Da haben wir nun eine erstklassige Personenbeschreibung!“ konstatierte Dan mürrisch. „Drei ganz nor146
male Menschen begegnen der Frau, und keiner ist imstande, sie zu beschreiben.“ Damit hatte er recht. Alles, was wir über die Komplizin der Verbrecher wußten, war, daß sie möglicherweise braunes oder dunkles Haar hatte und etwa ein Meter sechzig groß war. Selbst wenn noch hinzukam, daß sie gewöhnlich einen schwarzen Nylonmantel trug, reichten diese Kennzeichen nicht aus, um eine Fahndung einzuleiten. Ohne große Begeisterung machte ich mich mit dem Gedanken an ein Steak vertraut. Obwohl ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, war ich zu mißmutig, als daß mir nach einem Schmaus zumute war. Aber schließlich mußte ich ja etwas essen. Drei Tage lang hatte ich mich nur notdürftig ernährt.
16 Es war Freitag früh. Obwohl ich alles getan hatte, was man in meinem Beruf tun kann, mußte ich mir eingestehen, daß ich noch am selben Punkt war wie zu Beginn der Ermittlung. Die vier bis fünf Personen, die Zugang zur Wohnung der Ermordeten hatten, also die einzigen, die das scheußliche Verbrechen hätten begehen können, schieden aus. Als ich in mein Büro hochging, sagte ich mir aber, daß trotz dieser Überlegungen eine der Personen, die Zugang zur Wohnung der Ermordeten hatten, in den Raubmord verwickelt sein mußte. Die Ermittlungen hatten eindeutig ergeben, daß die Täter mit der Wohnung der Opfer sowie deren Gewohnheiten sehr vertraut waren. Als ich mein Büro betrat, wollte ich die Alibis der Personen aus der Umgebung der Opfer noch einmal überprüfen. Allerdings konnte ich diese Absicht nicht mehr in 147
die Tat umsetzen. Als ich hereinkam, empfing mich Dan folgendermaßen: „Chef, Frau Damian hat vor ein paar Minuten angerufen. Sie will dich sprechen.“ „In welcher Angelegenheit?“ „Das hat sie nicht gesagt. Da ich sehr zurückhaltend bin, habe ich nicht weiter danach gefragt.“ „Gib mir ihre Telefonnummer“, sagte ich und griff nach dem Telefon. Nachdem ich den Hörer einige Minuten lang ans Ohr gehalten hatte, legte ich wieder auf. Es war kein Zeichen da. „Dann fahren wir eben zu ihr hin!“ schlug ich vor. „Jetzt begreife ich, was es mit ihrem Anruf auf sich hat“, sagte er und stand von seinem Schreibtisch auf. „Was denn?“ „Wir haben eine Vermißtenanzeige bekommen. Ihr Herr Verlobter ist auf mysteriöse Weise verschwunden.“ Lächelnd ging ich zur Tür. Es wäre ganz lustig gewesen, wenn Dan recht behalten hätte. Schließlich hatte ich den Verlobten in die Flucht geschlagen. „Wissen Sie“, meinte die Schulsekretärin, als wir uns gesetzt hatten, „mir ist die ganze Zeit Ihre Frage nach Marietas Erkältung durch den Kopf gegangen.“ Ich ließ mir meine Enttäuschung nicht anmerken und bat sie weiterzureden. Wenn ich das Thema gestern noch für interessant gehalten hatte, weil ich die Möglichkeit eines Arztbesuchs bei den Opfern damit verknüpft sah, so ließ es mich heute nach Dans Nachforschungen ziemlich gleichgültig. Ich sah nicht ein, weshalb es für mich so wichtig war zu wissen, ob einer der Ermordeten erkältet war oder nicht, als die Morde begangen wurden. „Ich glaube, hier liegt eine Verwechslung vor. Entweder hat Ilie Porumbaru nicht richtig behalten, was ihm Marietas Mutter am Telefon sagte, oder sie hat sich nicht richtig ausgedrückt.“ 148
„Na und?“ fragte ich, um sie zu ermuntern, obwohl ich eine solche Aufmunterung eher gebraucht hätte als sie. „Ich glaube, es ging um eine Massage, nicht um eine Einreibung, wie Ilie sich ausgedrückt hat.“ „Gibt es Ihrer Meinung nach einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Begriffen?“ fragte ich und zog meine Beine unter dem Stuhl vor, um aufzustehen. „Nicht ich habe diesen Unterschied zu bewerten, sondern Sie!“ meinte sie gereizt. „Ich als Zeugin bin verpflichtet, alles zu sagen, was ich weiß. Ob meine Aussage von Interesse ist oder nicht, das ist Ihre Angelegenheit!“ Anfänglich war ich über ihre Gereiztheit erstaunt, dann aber wurde mir alles klar. Das Verschwinden ihres Verlobten und mein unbeabsichtigt gezeigtes Desinteresse erklärten mir ihre Verärgerung hinreichend. „Frau Damian“, sagte ich mit schüchterner Miene, „ich verstehe nicht so recht, was wir damit zu tun haben, ob Ihre Freundin sich massieren oder einreiben ließ. Drücken Sie sich bitte etwas deutlicher aus.“ „Haben Sie nicht darum gebeten, Ihnen sämtliche Personen zu nennen, die in Marietas Haus kamen?“ „Haben Sie etwa jemanden vergessen?“ fragte ich und horchte auf. „Ich bemühe mich gerade, es Ihnen zu sagen. Als ich mich nach unserem gestrigen Gespräch gefragt habe, weshalb sich Marieta so mir nichts, dir nichts einreiben ließ, da sagte ich mir, eine Massage wäre wohl plausibler.“ „Warum?“ dränge ich sie neugierig. „Weil mir Marieta schon vor einiger Zeit gesagt hatte, daß sie eine Masseuse hat.“ „Wann hat sie mit Ihnen über die Masseuse gesprochen? Ist es schon lange her?“ „Etwa vor einem halben Jahr.“ 149
„In welchem Zusammenhang?“ „Ich fragte sie damals, was sie nachmittags machen wollte. Unter anderem sagte sie mir, daß ihre Masseuse zu ihr ins Haus kommt. Als ich sie fragte, ob sie gut ist, bestätigte sie es. Ich weiß nicht, was mir so durch den Kopf ging, denn ich brauche eigentlich keine Massagen“, sagte sie und betrachtete ihren Oberkörper voller Bewunderung, „doch da kam mir in den Sinn, sie zu bitten, die Masseuse auch zu mir zu schicken.“ „Wie sieht sie aus?“ fragte Dan hastig dazwischen. „Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen. Marieta sagte mir am nächsten Tag, daß die Masseuse meinen Wunsch abgelehnt hatte. Sie hatte einfach zu viele Kundinnen und konnte mich nicht auch noch annehmen. Wir wollten eigentlich noch mal darüber sprechen, aber ich vergaß es dann. Wahrscheinlich auch, weil ich so etwas wirklich nicht brauche“, meinte sie und bewunderte ihren Körper wieder. Ich weiß nicht, wie es kam, aber meine Beine waren nicht mehr unter dem Stuhl, sondern ausgestreckt unter dem Tisch. Ich verspürte auch nicht mehr den Wunsch, schnell wieder aus dem Sekretariat zu verschwinden. Ich gestehe, daß mich die Aussage meiner Gesprächspartnerin ganz aus dem Häuschen brachte. Das war ja auch klar. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Blitzschnell sah ich Marieta Stanciu im Bett, so wie ich sie vorgefunden hatte. Nur die Anwesenheit einer Masseuse konnten ihre Lage und ihre spärliche Bekleidung erklären. Und ich Trottel hatte mir wer weiß was vorgestellt. „Frau Damian, ich halte Ihre Aussage über die Masseuse für außerordentlich wichtig. Bitte versuchen Sie, sich an alles zu erinnern, was Frau Stanciu über diese Frau erzählt hat“, bat ich sie. „Marieta sagte mir, daß sie sie vor etwa zwei Jahren am Meer kennengelernt hatte. Sie war sehr zufrieden mit dieser geschickten und tüchtigen Frau. Diese Eigen150
schaften waren auch die Erklärung für ihre gediegene Kundschaft.“ „Hat sie Ihnen gesagt, wie die Masseuse aussieht und wo sie wohnt?“ wollte Dan wissen. Darüber konnte Frau Damian keine Auskunft geben. „Die Masseuse war der Brückenkopf der Bande. Mit ihrer Hilfe konnten sich die Verbrecher in die Wohnung einschleichen. Die Stellung, in der die Opfer gefunden wurden, läßt keinen Zweifel daran, daß es ein Überraschungsangriff war. Wenn wir die Frau identifizieren, sind ihre Komplizen auch im Handumdrehen gefaßt!“ begeisterte sich Dan, während uns Vartunian zur angegebenen Adresse fuhr. Ich stimmte dem zu. Im Gegensatz zu den bisher verdächtigten Personen erfüllte die Masseuse durch ihren Beruf und ihre Beziehungen zu den Opfern alle wesentlichen Voraussetzungen. Als das Auto vor dem Hause anhielt, stieg ich aus und ging sofort auf den Hof, ohne auf das Schild mit dem Hinweis auf einen bissigen Hund zu achten. Anica Traian stand neben der Veranda und wusch in einem Zuber Wäsche. Ich grüßte und kam gleich zur Sache. „Ich habe erfahren, daß auch eine Masseuse zu Frau Stanciu kam. Was wissen Sie über diese Frau?“ „Oh, wie konnte ich sie nur vergessen! Das tut mir aber leid.“ „Macht nichts, das passiert schon mal. Wie hat sie ausgesehen?“ fragte ich und war gespannt, ob die Beschreibung mit der der anderen Zeugen übereinstimmte. „Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gesehen. Ich ging immer um drei, und sie kam erst gegen Abend. So sind wir uns eben nie begegnet.“ „Und woher wissen Sie dann, daß es sie überhaupt gibt?“ „Ich habe die beiden Frauen über sie reden hören.“ 151
„Und was haben sie über die Masseuse gesagt?“ „Daß sie eine sehr geschickte und tüchtige Frau ist. Frau Panaitescu sagte mir, daß ihre Tochter einmal bei der Masseuse zu Hause war und daß es dort sehr sauber und ordentlich sein soll.“ „Wo wohnt sie denn?“ „Das hat sie mir nicht gesagt.“ „Sagte sie etwas über ihren Familienstand? Ist sie verheiratet und hat sie Kinder?“ „Ja, sie ist verheiratet, und Frau Panaitescu hat mir wohl auch etwas von einem Kind erzählt, aber ich bin mir nicht ganz sicher.“ „Wissen Sie denn den Namen der Masseuse noch?“ „Nein.“ „Erinnern Sie sich noch an andere Einzelheiten aus den Gesprächen über die Masseuse?“ „Nein, ach doch! Frau Stanciu sagte, daß sie erst Geschäftsfrau war, ehe sie Masseuse wurde.“ „Geschäftsfrau? Was für ein Geschäft hat sie denn betrieben?“ „Das weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, ob sie mir das erzählt hat.“ „Wie alt war die Masseuse?“ „Frau Panaitescu sagte, sie ist noch jung.“ „Kam sie oft, um die Massagen zu machen?“ „Einmal in der Woche, donnerstags gegen Abend.“ Da ich nichts weiter aus ihr herausbekommen konnte, griff ich zur klassischen Floskel: „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann benachrichtigen Sie uns bitte.“ Als wir vor der Wohnung Nr. 23 standen, klingelten wir. „Zu wem möchten Sie?“ wollte ein etwa zwanzigjähriges Mädchen wissen. Sie hatte blondes Haar, das üppig über einen schwarzen Pullover fiel, und große blaue Augen. „Zu Herrn Stanciu, falls er zu Hause ist.“ Interessiert sah ich mir ihr wunderschönes ovales Gesicht und ihr 152
Stupsnäschen an, dessen Nasenlöcher mich zu fotografieren schienen. „Er ist da. Warten Sie bitte einen Augenblick“, sagte sie mit ihrer angenehmen Stimme und lächelte Dan über meine Schulter hinweg an. Sie ließ uns in die Diele, die wir schon von unserem ersten Besuch kannten, und wies auf die Sessel an der Wand. Als sie uns den Rücken zuwandte und zu einer der Türen ging, warf ich einen Blick auf ihre weiße Hose. Sie war so eng, daß man mühelos ihre vollendeten Körperformen ahnen konnte. Obwohl schon in der Bibel geschrieben steht, daß man dem Nächsten nichts neiden soll, gestehe ich, daß ich auf Dan wegen des Lächelns, das sie ihm geschenkt hatte, eifersüchtig war. „Onkel, zwei Herren wollen dich sprechen!“ vernahm ich ihre angenehme Stimme wieder, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Wenn ich gewußt hätte, daß ich so eine Schönheit treffe, wäre ich natürlich allein gekommen!“ flüsterte ich Dan zu. „Ich auch! Sogar nach dem Dienst!“ versicherte er mir und zwinkerte mir munter zu. Wenige Minuten später kam Herr Stanciu. Er trug einen Hausanzug und hatte eine Brille in der Hand. „Gibt es etwas Neues?“ fragte er, als wir ihn begrüßten. „Ja, schon.“ „Warum setzen Sie sich denn nicht?“ „Sehr nett, danke, aber wir haben nicht viel Zeit. Wir kommen übrigens nur wegen einer einzigen Frage. Ist Ihnen bekannt, daß eine Masseuse zu Ihrer Frau nach Hause kam?“ „Ja.“ „Haben Sie sie schon einmal gesehen?“ fragte ich zuversichtlich. „Nein, nie. Marieta hat sie erst engagiert, als ich schon ausgezogen war.“ 153
„Was hat Ihnen Ihre Frau über die Masseuse erzählt?“ „Haben Sie denn den Eindruck, daß sie etwas … damit zu tun hat?“ fragte er, offensichtlich verwundert über meine Hartnäckigkeit. „Diese Möglichkeit schließen wir nicht aus.“ „Ich verstehe. Sie wollen ihrer habhaft werden, bedauerlicherweise kann ich Ihnen dabei aber nicht behilflich sein. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist.“ „Das macht nichts, irgendwie werden wir sie schon finden“, meinte ich und verbarg meine Unzufriedenheit. „Wir würden Sie nur bitten, uns dabei zu helfen, sie aufzuspüren.“ „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, ich wüßte aber nicht, wie ich Ihnen helfen kann.“ „Das ist ganz einfach. Versuchen Sie, alles zu rekonstruieren, was Marieta Stanciu Ihnen über die Masseuse erzählt hat.“ „Sie sagte mir, daß sie sehr zufrieden mit ihr war und daß sie ihr fünfundzwanzig Lei pro Massage zahlte. Sie kam jeden Donnerstag um sechs Uhr abends. Das ist eigentlich alles, was ich noch weiß.“ Ich war der Meinung, daß er zuwenig behalten hatte, und half etwas nach. „Hat sie Ihnen erzählt, daß sie die Masseuse zu Hause besucht hatte?“ „Nein, davon hat sie mir nichts gesagt.“ „Hat sie Ihnen gesagt, wie die Masseuse heißt?“ „Ich weiß es nicht mehr.“ „Hat sie nicht den Namen irgendeiner Kundin der Masseuse erwähnt?“ „Schon möglich, aber ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch, daß viele Schauspielerinnen zu ihrem Kundenkreis gehörten, ich glaube aus dem ‚Savoy‘.“ Nachdem ich mich bei ihm bedankt hatte, gingen wir wieder. 154
17 Unser Auto passierte die Kreuzung am Bulevardul Magheru an der Universität, bog rechts in die Strada Academiei ein, fuhr links durch eine Passage und hielt vor dem Komödientheater. Als wir ausstiegen, überquerten wir die Calea Victoriei und gingen zum ‚Savoy‘. Wenige Minuten später waren wir im Büro des Theaterdirektors. „Sie haben es gut und schlecht zugleich getroffen“ meinte der Direktor, als wir ihm unser Anliegen erklärt hatten. „Gut, weil spätestens in fünf Minuten die Probe zu Ende ist, schlecht, weil heute nur eine Teilprobe stattfindet, also auch nur ein Teil der Schauspielerinnen da ist.“ „Macht nichts. Wir werden uns mit denen begnügen, die da sind. Wenn es notwendig ist, kommen wir eben noch mal wieder.“ Eine halbe Stunde später fuhren wir durch die Komödienpassage wieder zurück. Da jeweils zwei bis drei Schauspielerinnen sich von derselben Masseuse behandeln ließen, brachte unsere Befragung nur vier Adressen. „Dan, gib Vartunian die nächstgelegene Adresse“, sagte ich, als ich mich auf den weichen Sitz des Autos fallen ließ. Dan las eine Adresse aus seinem Notizbuch vor, rümpfte die Nase und meinte: „Ich glaube, damit vertun wir unsere Zeit bloß. Die Beschreibung der Frau, die wir suchen, ist so vage, daß wir nicht einmal wüßten, ob sie es ist, wenn wir sie vor uns hätten! Hinzu kommt noch, daß wir nur mit einem Teil der Schauspielerinnen des Revuetheaters gesprochen haben. Da haben wir die Bescherung.“ „Ich möchte dich zwar nicht ärgern, bin aber der Meinung, daß auch der Hinweis von Herrn Stanciu, daß 155
‚unsere‘ Masseuse unter ihren Kundinnen auch Schauspielerinnen aus dem ‚Savoy‘ hat, nicht unbedingt als genau anzusehen ist. Trotzdem müssen wir die Verdächtige auch unter diesen Umständen finden. Um dieses Ziel zu erreichen, bleibt uns nichts weiter übrig, als unseren Aktionsradius zu vergrößern.“ „Und wie?“ „Ganz einfach. Wenn wir davon ausgehen, daß die Mitarbeiter einer Zunft sich vielleicht untereinander kennen, lassen wir uns, wenn wir die Masseusen, deren Adressen wir haben, ausfragen, Angaben über andere Berufskolleginnen machen und so weiter.“ „Das heißt aber, daß deren Zahl in geometrischer Reihe wächst. Da wir aber konstant bleiben, kommen wir in zeitliche Schwierigkeiten.“ „Sollte sich deine Befürchtung bestätigen, dann bitten wir eben unsere Kollegen um Hilfe. Da wir keine Alternative haben, müssen wir das als beste Möglichkeit betrachten, die Verdächtige zu finden.“ „Dann stellen wir uns eben auf ein Windhundrennen ein. Und das Ergebnis … Reden wir nicht mehr davon!“ seufzte er verdrossen. „Gibt es einen besseren Weg?“ Die Antwort blieb er mir schuldig. Das Auto verließ die Şoseaua Mihai Bravu und bog nach rechts in eine aufgeweichte Straße ein, in der lauter Baumaterialreste lagen. Die Strada Ilarie Chendi verschwand fast unter den Zehngeschossern, die sie durchfurchten. Wir stiegen vor einem Einfamilienhaus, das nur aus einem Erdgeschoß bestand, aus. Früher mußte es einmal sehr schmuck gewesen sein. Jetzt jedoch, da es in die Riesenblocks, die es umgaben, eingezwängt war, paßte es ebensogut dazu wie ein Pekinese, der sich in eine Elefantenherde verirrt hatte und zertrampelt zu werden droht. 156
Als wir geklingelt hatten, machte die Person, zu der wir wollten, selbst auf. Sie war von mittlerer Statur, zierlich und hatte kastanienbraunes Haar. Sie trug eine Brille mit Bifokalgläsern. Wir stellten uns vor, und sie führte uns über einen dunklen Flur in ein Zimmer, dessen Fenster zur Straße ging. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragte sie freundlich, nachdem wir in einem Wohnzimmer mit mausgrauer Einrichtung Platz genommen hatten. Ihre ursprüngliche Farbe mußte einmal schwarz gewesen sein. Da sie merkte, wie vorsichtig wir ihrer Aufforderung Folge leisteten, sagte sie: „Entschuldigen Sie bitte den Staub in meiner Wohnung. Ich muß Ihnen aber ehrlich sagen, ich schaffe das Staubwischen einfach nicht mehr. Wenn ich bei dieser Bauerei wische, sieht es nach einer halben Stunde schon wieder wie vorher aus.“ „Das ist so in der Nähe einer Baustelle“, sagte ich und meinte, daß sie wohl recht hatte. Dann tat ich schüchtern und rückte nur zögernd mit der Sprache heraus: „Meine Dame, wir kommen in einer sehr unangenehmen Angelegenheit zu Ihnen. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Wissen Sie, jemand hat sich über Sie beschwert …“ Hatte die Frau am Anfang meiner Rede noch ermutigend gelächelt, so sah sie mich jetzt verärgert an. „Es ist Anzeige gegen Sie erstattet worden. Es wird behauptet, Sie hätten einen Wertgegenstand entwendet“, brachte ich schließlich sehr beschämt über meine Kühnheit hervor. „Was wollen Sie damit sagen? Das verstehe ich nicht. Wer nimmt sich heraus, mich eine Diebin zu nennen?“ rief sie und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. „Eine Ihrer Kundinnen“, sagte ich zögernd und wagte gar nicht, vom Teppich aufzusehen. „Eine meiner Kundinnen? Welche denn, mein Herr?“ erkundigte sie sich aufgebracht. 157
Scheu sah ich sie an, gab mir einen Ruck und sagte dann: „Frau Marieta Stanciu.“ „Marieta Stanciu? Wer ist denn das? Den Namen höre ich zum erstenmal! Was fällt einer Fremden ein, mich der Unehrlichkeit zu bezichtigen?“ fragte sie und sah Dan und mich erstaunt an. „Es handelt sich um Frau Stanciu, die in der Strada General Demostene wohnt!“ schaltete sich mein Mitarbeiter ein, der vielleicht nicht so sehr von der Unschuld unserer Gesprächspartnerin überzeugt war. „Ich sage es noch einmal. Ich habe keine Ahnung, von wem Sie sprechen. Bis Sie gekommen sind, wußte ich nicht einmal, daß es in Bukarest eine Strada General Demostene gibt. Wahrscheinlich ist alles eine Verwechslung“, meinte sie und lächelte tolerant. „Das denke ich auch, meine Dame“, lenkte ich ein. „Gibt es hier in der Nähe noch jemanden, der Massagen macht?“ Sie wußte niemanden in der Nähe. Trotzdem bat ich sie um die Namen der Masseusen, die sie kannte. Das brachte drei Adressen. „Tragen Sie ständig eine Brille?“ fragte ich in einem Ton, der ihr zeigen sollte, daß sich das Problem, dessentwegen wir gekommen waren, erledigt hatte. „Ja, es bleibt mir nichts weiter übrig. Ich hatte schon als Kind schlechte Augen“, sagte sie resigniert. „Ich will nicht indiskret sein, aber wieviel Dioptrien hat Ihre Bifokalbrille?“ „Plus drei Komma fünf unten und minus zwei Komma fünfundzwanzig oben. Weshalb sind Sie eigentlich so neugierig? Ah, jetzt verstehe ich, Sie denken, daß der Frau, die sich über mich beschwert hat, eine Brille, wie ich sie brauche, auch nicht schaden würde“, meinte sie scherzhaft. Ich lachte ebenfalls und stand freudig von meinem staubigen Stuhl auf. 158
Beim Abschied tat ich so reumütig, wie ich nur konnte, und entschuldigte mich wegen des unbegründeten Verdachts. Sie versicherte mir, daß sie so sympathischen Menschen wie uns gar nicht böse sein konnte. Schließlich war es einzig und allein die Schuld der Verrückten, die uns geschickt hatte. „Nehmen wir uns gleich die neuen Adressen vor?“ fragte Dan, als ich die Wagentür zugeschlagen hatte. „Erst wenn wir mit den Adressen aus dem ‚Savoy‘ fertig sind.“ Dan teilte Vartunian unser nächsten Ziel mit und fragte mich dann: „Chef, waren wir nicht etwas voreilig? Größe und Haarfarbe treffen genau das, was wir suchen.“ „Mit ihren schwachen Augen hätte sie ohne Brille nachts nicht auf dem Hof der Opfer herumlaufen oder mit dem Scherenschleifer sprechen können.“ „Und wenn sie nun aber die Brille getragen hat und die Zeugen es nur nicht gemerkt haben?“ „Auf gar keinen Fall! Erwiesenermaßen ist das einzige, woran sich ein Zeuge mit Sicherheit erinnert, die Brille des Betreffenden. Alles andere stimmt nur ungefähr.“ Kurze Zeit später hielt das Auto vor einem sechsstöckigen Gebäude in der Strada Vatra Luminoasă an. Die Person, die wir aufsuchen wollten, wohnte im dritten Stock. Vor der Wohnung angekommen, klingelten wir. Die Frau, die uns öffnete, war so groß und kräftig, daß sie gerade durch die Tür paßte. Sie hatte eine Schürze um, und ihre Fleischerarme waren bis zu den Ellenbogen mit Teig beschmiert. Sie war etwa 5o Jahre alt. Da sich ihre Augenbrauen und Wimpern kaum von ihrer Haut abhoben, nahm ich an, daß ihre blonden Haare echt waren. Auf meine Frage erwiderte sie mit deutschem Akzent, daß sie die betreffende Person sei. Sie bat uns einzutreten, doch wir lehnten ab. Wir 159
wußten Bescheid. Ich erzählte ihr, daß wir von einer Genossenschaft kamen, die einen Massagesalon einrichten wollte. Sie dankte für die Aufmerksamkeit und die Initiative des Vorstandes unserer Genossenschaft. Die Möglichkeit lockte sie jedoch nicht, da sie ihre Kundschaft bereits hatte. Ich bat sie, mir die Adressen von Berufskolleginnen zu geben, falls diese sich für unseren Vorschlag interessierten. Sie sagte, sie sei erst vor zwei Monaten aus Oradea in die Hauptstadt gezogen, und versicherte uns, daß sie bis jetzt noch keine Gelegenheit hatte, ihre Kolleginnen hier kennenzulernen. Unseren nächsten Besuch machten wir in einem Neubau auf dem Bulevardul Ilie Pintilie. Zu lange hielten wir uns dort nicht auf, denn auch nach mehrmaligem Klingeln öffnete niemand. „Was machen wir jetzt, Chef?“ wollte Dan wissen und zog genüßlich die angenehmen Essendüfte, die den umliegenden Wohnungen entwichen, ein. Ich sagte nichts und drückte nochmals auf den Klingelknopf. „Es ist übrigens zwei Uhr“, teilte er mir mit dem Gleichmut einer Zeitansage mit. „Wir fahren zur nächsten Adresse und kommen dann wieder zurück“, sagte ich und ging zum Fahrstuhl. Die Essendüfte, es roch nach Kohlrouladen und Kuchen, ließen auch mich nicht kalt, doch ich tat einfach so, als bemerkte ich sie nicht. Ich wollte den Verbrecher lieber erst fassen, als auf die Schnelle essen, mit dem Gedanken im Hinterkopf, daß er gerade in diesem Moment wieder etwas anrichten könnte. So verschob ich dieses Vergnügen, denn nach getaner Arbeit schmeckt’s noch mal so gut. Diese Erfahrung hatte ich schließlich schon gemacht. Wir fuhren über die Piaţa Victoriei, vorbei am Ministerrat, bogen nach rechts auf den Bulevardul 1. Mai ein. 160
Nach ein paar hundert Metern blinkte Vartunian nach links, fuhr noch ein kleines Stück und bog nochmals nach links ab. „Hier ist die Strada Maria Hagi Moscu, Genosse Hauptmann“, sagte er und verlangsamte das Tempo. „Welche Hausnummer ist es?“ „Die Schauspielerin, die uns die Adresse gegeben hat, wußte nicht genau, ob es die Fünf oder Fünfzehn ist“, meinte Dan zögernd. „Wir fangen mit der niedrigen Nummer an“, entschied ich und sah mir die Straße an, durch die wir fuhren. Es war eine ruhige Asphaltstraße mit Häusern, die höchstens ein Stockwerk hatten. Da es nur eine kurze Straße war, gelangten wir nach etwa fünfzig Metern zur angegebenen Hausnummer. Als wir aus dem Auto stiegen, mußten wir mißmutig feststellen, daß wir die Fassade der Musikinstrumentenfabrik „Doina“ bewundern durften. Ich gab Vartunian ein Zeichen, langsam hinter uns herzufahren. Dan und ich suchten nach der zweiten Hausnummer. Fünf Häuser weiter erblickten wir das emaillierte Täfelchen mit der Nummer 15. Es war an einer etwa mannshohen Mauer befestigt. Es waren drei Scharten wie kleine Fenster sowie eine kleine Tür eingelassen, die als Tor diente. Sowohl die Fensterchen als auch das Tor bestanden aus Brettern, die keinen Einblick hinter die Mauer erlaubten. Ich entdeckte den Klingelknopf und drückte darauf. „Ja, sofort. Ich komme gleich“, rief eine weibliche Stimme, als ich schon glaubte, wir seien jetzt vom Pech verfolgt. Eilige Schritte waren zu vernehmen, dann wurde ein Riegel zurückgeschoben. Als die Tür aufging, stand eine etwa vierzigjährige Frau mit hellrotem Haar und einem Hauskleid vor uns. 161
„Zu wem möchten Sie?“ fragte sie und sah uns erstaunt an. „Wir möchten mit Frau Silvia Tomescu sprechen“, sagte ich, während ich ihr längliches Gesicht mit gewöhnlichen Zügen und kleinen schwarzen Augen betrachtete. „Das bin ich“, bestätigte sie und sah uns fragend an. Ich griff in meine Trickkiste, zögerte einen Augenblick, sah ängstlich die Straße entlang, war froh, daß uns niemand sah, und sagte dann in vertraulichem Ton: „Meine Dame, es wurde eine Anzeige erstattet, daß Sie als Masseuse arbeiten, ohne daß Sie eine Zulassung für eine freiberufliche Tätigkeit besitzen. Stimmt das?“ Zuerst sah sie mich erschrocken an, dann wollte sie protestieren. Dazu ließ ich es gar nicht kommen. „Wir haben hinreichende Beweise, daß es an dem ist. Anstatt zu leugnen, wäre es vielleicht besser, wenn wir uns verständigen würden“, schlug ich vor und zwinkerte ihr komplizenhaft zu. Hinterher sagte Dan zu mir, ich hätte meine Rolle so gut gespielt, daß selbst der große Schauspieler Toma Caragiu neidisch auf diese Leistung gewesen wäre. Er würde sich sogar überwinden und mich bitten, ihm auch beizubringen, wie man am besten ein korruptes Element auf der Bühne darstellt. Wenn ich an das Ergebnis dachte, bin ich ohne Dünkel der Meinung, daß Dan mit seinem Lob nicht übertrieben hat. Die Frau vor mir erkannte meine „guten Absichten“, und anstatt zu protestieren, bat sie uns herein. Wir gaben der Versuchung nach und taten ihr den Gefallen. Etwa acht Meter hinter der furchterregenden Mauer befand sich ein kleines, mit roten Ziegeln gedecktes Haus, das nur ein Erdgeschoß hatte. Während Dan das Tor schloß und den Riegel vorschob, begleitete ich unsere Gastgeberin. Der ganze Hof 162
war asphaltiert. Wir gingen bis zu einer Bogentür, die nach mittelalterlichem Stil mit Eisenbeschlägen verziert war. Dieser Eindruck wurde durch eine schmiedeeiserne Lampe noch verstärkt, die auf einer Konsole über der Tür angebracht war. Wir traten durch die „mittelalterliche“ Tür und gelangten in einen kleinen Vorraum, der durch zwei seitliche Glastüren indirekt beleuchtet wurde. Die gegenüberliegende Wand hatte zwei Türen. „Sagen Sie mir jetzt bitte, worum es geht“, begann die Frau, nachdem wir uns auf die Stühle einer Wohnzimmereinrichtung im Folklorestil gesetzt hatten. „Wie wir Ihnen bereits gesagt haben, ist vor zwei Wochen Anzeige erstattet worden, weil Sie ohne Genehmigung als Masseuse arbeiten. Das ist zwar kein schwerwiegendes Delikt, Sie schädigen jedoch den Staat, da Sie keine Steuern zahlen. Obwohl die Steuer gering ist, können hohe Strafen verhängt werden, wenn die ungesetzliche Ausübung eines Berufs festgestellt wird.“ „Und was kann man da tun?“ wollte sie wissen und musterte mich, wahrscheinlich, um herauszubekommen, wie hoch meine Forderungen waren. „Normalerweise müßten wir ein Protokoll aufnehmen, aber wir sind ja Menschen. Wäre es nicht schade, wenn Sie eine Strafe von dreitausend bis viertausend Lei an den Staat zahlen müßten?“ fragte ich und übertrieb mit scheinheiliger Miene. „So viel?“ fragte sie erschrocken. „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. So schlimm wird es schon nicht werden“, versicherte ich sie meiner guten Absichten. „Lassen Sie sich eine Genehmigung über eine freie Ausübung Ihres Berufes ausstellen. Die kostet übrigens nicht viel. Die Strafe wird doch nicht eher wirksam, bis ich das Protokoll geschrieben habe, stimmt’s?“ suggerierte ich ihr. „Es wäre doch jammerschade, wenn wir eine Frau ins 163
Unglück stürzen, die von ihrer ehrlichen Arbeit lebt, nicht wahr?“ fragte ich meinen Mitarbeiter. Dan, der nichts von dem Märchen begriff, das ich unserer Gastgeberin erzählt hatte, sah mich an wie den ersten Botschafter vom Mars, der sein Beglaubigungsschreiben auf der Erde überreicht. Trotzdem war er schlau genug, mich nicht zu fragen, ob ich als Kind nicht zu heiß gebadet worden war. Obwohl verdutzt, war er geistesgegenwärtig genug und nickte zustimmend. Als ich mich wieder der Frau zuwandte, sah diese mich fragend an. Ich machte eine ermutigende Bewegung. Sofort stand sie auf und drehte sich um zur Kommode, die hinter ihr stand. Sie machte eine Tür auf und nahm aus einem Schubfach eine Handtasche heraus. „Bitte gehen Sie aber unbedingt noch heute wegen der Genehmigung zur Abteilung Finanzen, sonst machen Sie uns noch Ärger. Ich bin sicher, daß die Frau, die Sie angezeigt hat, wiederkommt. Es ist Ihnen doch klar, welche Schwierigkeiten uns alle erwarten, wenn Ihr Fall nicht in Ordnung gebracht wird?“ fragte ich sie und tat besorgt, während sie in ihrer Tasche kramte, zwei oder drei zusammengefaltete Hundertleischeine herauszog und vor mir auf den Tisch legte. Mit der Raffinesse eines Bestechlichen zog ich das Geld elegant an mich und deckte es diskret mit meinen übereinandergelegten Händen zu. Ich brauchte Dans Unterstützung und sah ihn deshalb an. Er war jetzt nicht mehr so verblüfft, sondern eher empört und widerstrebend. Als er meinen Blick sah, verschwanden die Falten von seiner Stirn. „Herr Inspektor, wie kann es nur so schlechte Menschen auf dieser Welt geben? Wie kann man nur eine so anständige Frau anzeigen?“ fragte er mich und demonstrierte, daß er meine Kriegslist endlich verstanden hatte. „Bosheit oder Neid? Vielleicht auch beides, wer weiß das schon?“ fragte ich mißbilligend. 164
„Sagen Sie mir bitte, wer mich angezeigt hat“, hob sie an. „Oh, nein. Das geht nicht! Unser Berufsgeheimnis verbietet es uns“, meinte ich ablehnend. „Weshalb wollen Sie mir nicht weiterhelfen?“ fragte sie eindringlich. „Ich möchte schon, aber ich darf nicht. Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß es eine Ihrer Kundinnen ist. Wie heißt es doch so schön: Herr bewahre mich vor Freunden …“, sagte ich und goß damit Öl aufs Feuer. „Um so mehr möchte ich wissen, wer es ist“, versteifte sie sich, streckte ihre Hände über den Tisch aus und legte sie auf meine Hände. Ihre Handflächen waren feucht. Dan als barmherzige Seele entrüstete sich: „Herr Inspektor, ich glaube, die Dame hat recht. Warum sollen wir eigentlich nicht helfen, ihre Feinde zu erkennen? Warum sollen wir ihr den Namen der Intrigantin nicht sagen?“ „Hm, vielleicht hast du recht.“ Ich ließ mich überzeugen: „Du kannst ihr den Namen verraten!“ Scheinbar mit der Befürchtung, daß ich es mir noch anders überlegen könnte, zog Dan schnell sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin herum. Als er auf der letzten Seite angelangt war, begann er wieder von vorn und blätterte nun jede Seite gemächlich einzeln um. Als er wieder am Ende des Heftes angekommen und der Meinung war, daß er die Masseuse genug auf die Folter gespannt hatte, hielt er inne, legte den Finger auf den unteren Teil einer beliebigen Seite und verkündete siegessicher: „Hurra, ich habe ihn gefunden!“ Er sah unsere Gastgeberin an und tat besorgt. „Sie müssen uns aber versprechen, daß Sie nicht verraten, woher Sie den Namen der Person haben, die Sie angezeigt hat!“ sagte er und zögerte wieder. „Ich verspreche es Ihnen!“ sagte sie und war aufs höchste gespannt. 165
„Marieta Stanciu.“ Aufmerksam beobachteten wir ihre Reaktion. Zunächst zuckten ihre Pupillen, dann wechselte die Farbe ihres Gesichts, erst wurde es olivgrün, dann puterrot und schließlich blaßgelb. „Die Kanaillen!“ zischte sie durch die Zähne. „Wenn sie wüßten, wie ich zu ihnen war …“ Dans Stoßseufzer beendete ihren Satz. Verwundert ließ sie ihren Blick von Dan zu mir wandern und versuchte unseren Sinneswandel zu begreifen. Vielleicht hatte sie nur bemerkt, daß wir nicht mehr die Miene der Komplizenschaft aufsetzten. Zu sehr hatten wir uns dazu zwingen müssen, als daß wir sie nicht wieder leichten Herzens ablegten.
18 „Seit wann sind Sie mit Marieta Stanciu bekannt?“ fragte ich und zog meine Hände unter ihren von dem Geld weg. „Etwa seit zwei Jahren, aber das hätte ich ihr wirklich nicht zugetraut“, sagte sie, während mich ihre Augen, die sich wie zwei Lamellen verengten, unentwegt musterten. „Sie haben Frau Stanciu massiert?“ „Ja, aber das ist es nicht allein, wir sind sogar befreundet. Deshalb überrascht mich ihre Anzeige.“ „Seit wann haben Sie sie nicht mehr gesehen?“ „Ich verstehe Sie nicht recht. Was hat unsere Freundschaft mit unserer ‚Abmachung‘ zu tun?“ fragte sie protestierend und wollte offensichtlich hinter unseren Sinneswandel kommen. „Wann haben Sie Marieta Stanciu das letztemal gesehen?“ wiederholte ich meine Frage, ohne auf ihre einzugehen. 166
„Ich sehe keinen Sinn in Ihrer Frage!“ sagte sie erregt. „Übrigens habe ich eine Menge zu tun. Entschuldigen Sie mich bitte“, verabschiedete sie uns, zog ihre Hand von den Hundertern zurück, die mein Wohlwollen erkaufen sollten. „Behalten Sie Ihr Geld! Wir sind Milizoffiziere!“ wurde ich deutlicher und hielt ihr meinen Ausweis über den Tisch hin. Sie sah mich erstaunt an und biß sich auf ihre schmalen Lippen. Ihr Gesicht, das bisher fahl war, wurde nun puterrot. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“ fragte sie mit erstickter Stimme, während sie flink nach dem Geld griff und es im Ausschnitt ihres Hauskleides verschwinden ließ. Ich war nicht einmal verärgert über ihr Verhalten. Ich brachte sogar Verständnis dafür auf. Wer will schon wegen versuchter Bestechung von zwei Milizoffizieren angeklagt werden? Eine „Kleinigkeit“, derentwegen man sich leicht eine Strafe bis zu fünf Jahren Gefängnis einhandeln kann. „Wann haben Sie Marieta Stanciu das letztemal gesehen?“ fragte ich nochmals. „Vor etwa einem Monat.“ „Waren Sie im letzten Monat nicht mehr bei ihr?“ fragte Dan und zückte Füller und Notizbuch. „Nein, ich wollte nicht mehr hingehen, obwohl sie mich sehr darum gebeten hatte.“ „Und Wie sind Sie zu diesem Entschluß gekommen?“ „Sie begann mich wie ein Dienstmädchen zu behandeln. Daher wollte ich meine Zeit nicht mehr mit ihr verschwenden. Ich bekam genug Aufträge, so daß ich mir meine Kundinnen wirklich aussuchen konnte. Wahrscheinlich hat sie mich deshalb angezeigt. Sie hat sich darüber geärgert, daß ich sie sitzenließ!“ Ich gebe zu, daß mich ihre Antwort völlig aus dem 167
Konzept brachte. Sollten unsere Hoffnungen und unsere ganze Mühe, sie zu überführen, zunichte sein? Obwohl ich meine Zeit auch sonst mitunter schon erfolglos vertan hatte, lockte mich der Gedanke nicht sehr, die Zahl meiner Fehlschläge noch zu vergrößern. „Wen haben Sie bei ihr angetroffen, als sie noch bei ihr verkehrten?“ fragte ich weiter, um herauszubekommen, wo ich den Hebel ansetzen mußte. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ „Welche Personen haben Sie bei Marieta Stanciu gesehen, als Sie sie massiert haben?“ „Niemanden. Wahrscheinlich hat sie gerade dann, wenn ich kam, keinen Besuch eingeladen. Das ist ja auch verständlich, denn eine Massage dauerte eine gute Stunde. Und so lange konnte sie ihren Besuch schließlich nicht warten lassen.“ „Sagen Sie mir bitte, was Sie am Donnerstag, dem neunzehnten April, gemacht haben“, fragte ich sie und wollte ein Alibi von ihr. „Was sollte ich schon gemacht haben? Das gleiche wie sonst auch, ich ging zu meinen Kundinnen, mit denen ich Massagen vereinbart hatte.“ „Wie viele Kundinnen besuchen Sie am Tag?“ „Fünf bis sechs.“ „Das ist nicht wenig!“ sagte ich voller Bewunderung. „Wenn man diese Zahl mit den sechs oder sieben Wochentagen multipliziert.“ „Ja, wirklich, ich arbeite sehr viel“, gab sie zu. „Und passiert es Ihnen nicht manchmal, daß Sie die Zeiten und die Kundinnen durcheinanderbringen?“ fragte ich neugierig. „Wenn man einen Terminkalender hat, kommen solche Pannen nicht vor“, teilte sie mir stolz mit. „Prima! Das ist Planung bei der Arbeit“, meinte Dan anerkennend und verschanzte sich hinter seinem Notizbuch. 168
„Dann sagen Sie mir doch bitte anhand Ihres Terminkalenders, wo Sie am Donnerstag zwischen sechs und zehn Uhr abends waren“, hakte ich ein und war der Meinung, daß ich an der richtigen Stelle angesetzt hatte. „Leider vermisse ich meinen Kalender seit drei Tagen. Vielleicht habe ich ihn bei einer Kundin liegengelassen. Wenn Sie meine Antwort für so wichtig halten, dann geben Sie mir bitte ein paar Tage Zeit, damit ich ihn suchen kann“, meinte sie wohlwollend. „Ich glaube, Sie können meine Frage auch ohne Ihren Terminkalender beantworten. Wenn Sie ihn seit drei Tagen vermissen, heißt das, daß Sie ein ziemlich gutes Gedächtnis haben und uns sagen können, bei welcher Kundin Sie an diesem Tag in der fraglichen Zeit waren.“ „Ich würde Ihnen gern eine Antwort geben, sehe mich aber außerstande. Vor etwa zehn Tagen habe ich ein paar alte Kundinnen aufgegeben und neue angenommen. Ich habe mich aber immer noch nicht an den anderen Rhythmus gewöhnt, und ehe ich Sie auf eine falsche Fährte setze, lasse ich es lieber.“ „Woher wissen Sie, daß Sie uns auf eine falsche Fährte setzen?“ fragte ich schnell zurück. „Natürlich denke ich an eine solche Möglichkeit. Schließlich fragen Sie mich ja nicht zum Spaß“, erwiderte sie prompt. Ich muß gestehen, daß mir meine Gesprächspartnerin immer mehr mißfiel. Nach dem ersten Teil unseres Gesprächs, bei dem ich ihr entlockt hatte, daß sie das Opfer kannte, war sie äußerst hartnäckig. Sie igelte sich ein und wich unerschütterlich allen Fragen aus, die ihren Argwohn hervorriefen. Oder sah es nur so aus? „Hatten Sie schon einmal mit der Miliz zu tun?“ fragte ich direkt. Bruchteile von Sekunden zögerte sie, dann bejahte sie. „Ja, vor etwa zehn Jahren wurde ich zu sechs Monaten Haft verurteilt. Ich hatte einen, von einem Unbekannten 169
auf der Straße gekauften Ring weiterverkauft. Erst nachträglich stellte sich heraus, daß er nicht aus Gold war, wie ich angenommen hatte.“ Langsam wurde mir einiges klar. Eine kleine Gaunerin, dazu ein paar Monate Lehre und Erfahrungsaustausch in einem Gefängnis waren die Erklärung für ihr Geschick und ihre Ruhe. Wenn ich bei ihr von professioneller Sachkenntnis ausging, so mußte ich um so mehr ihre mögliche Verwicklung in „unsere“ Angelegenheit in Betracht ziehen. Schweigend sah ich mir ihr Gesicht genauer an und stellte fest, daß es ebenso ausdrucksvoll wie das einer Sphinx war. Ich kannte diese Art Menschen und sagte mir, daß es nicht der Mühe wert war, meine Überredungskünste anzuwenden. Überzeugungsarbeit ist nur sinnvoll bei Personen mit einem normalen Gefühlsleben. Diese Frau machte einen eiskalten Eindruck. Ich betrachtete ihre Hände, die über ihrer auf dem Tisch liegenden Handtasche gefaltet waren. Als mein Blick auf den Gegenstand fiel, auf dem ihre Hände ruhten, stellte sich mir eine Frage. Wenn Männer ihre Kalender in der Brieftasche tragen, wo bewahren Frauen sie dann auf? „Bitte breiten Sie den Inhalt Ihrer Handtasche auf dem Tisch aus!“ „Wieso denn?“ fragte sie erstaunt. „Ihr Terminkalender ist in Ihrer Tasche. Ich habe ihn gesehen, als Sie das Geld herausgeholt haben“, bluffte ich. Sie zuckte mit den Mundwinkeln, und ironisch lächelnd kam sie meiner Aufforderung nach. Ein einziger Blick genügte, um festzustellen, daß ich mich getäuscht hatte. „Sie dachten wohl, ich will meinen Kalender vor Ihnen verstecken?“ fragte sie und verstaute alle auf dem Tisch ausgebreiteten Gegenstände wieder in der Tasche. 170
„Weshalb weigern Sie sich zu sagen, wo Sie sich am neunzehnten April aufgehalten haben?“ „Tut mir leid, wenn Sie diesen Eindruck von mir haben, aber ich erinnere mich einfach nicht mehr daran. Lassen Sie mir etwas Zeit zum Überlegen, und ich gebe Ihnen eine Antwort.“ Um ehrlich zu sein, außer der Tatsache, daß mir ihr Gesicht nicht gefiel, konnte ich nichts gegen sie vorbringen. Vielleicht erinnerte sie sich wirklich nicht daran, was sie an diesem Tag gemacht hatte. Ich habe genug Menschen kennengelernt, die mir nicht sagen konnten, was sie vor ein paar Stunden gemacht hatten, geschweige denn vor acht Tagen. Eine derartige Gedächtnisschwäche war noch längst kein Verdachtsmoment und schon gar kein Grund für eine Strafanzeige. Die Möglichkeit, daß sie in die Wohnung der Ermordeten auf Grund ihrer Beziehungen zu diesen eingedrungen war, wurde durch die Aussagen der Zeugen widerlegt. Die Frau, die am Haus gesehen, worden war, hatte schwarzes oder kastanienbraunes Haar. Die Frau vor uns hatte rotes Haar. Eine Verwechslung kam da kaum in Betracht. Ich wollte sie schon fragen, ob sich ihrer Meinung nach Marieta Stanciu nicht eine andere Masseuse nehmen konnte, als ich plötzlich stutzig wurde. Ich stutzte, weil ich ganz unvermittelt das Gefühl hatte, einen sehr vertrauten Gegenstand zu erblicken. Blitzartig fiel mir wieder ein, was Anica Traian mir gesagt hatte. Der Stuhl schien unter mir zu schwanken. „Augenblick mal!“ sagte ich, sprang vom Stuhl auf und nahm ihr das Schlüsselbund ab, das sie gerade wieder in die Tasche stecken wollte. Es hatte zusammen mit den anderen Gegenständen auf dem Tisch gelegen. Ich untersuchte die Schlüssel. Ein Sicherheitsschlüssel und zwei gewöhnliche Eisenschlüssel waren an einem Ring, an dem noch ein schwarzes Figürchen aus Plast von der Größe einer 1-Leu-Münze hing. Es sollte 171
den Kater Herkules darstellen, der den sympathischen und pfiffigen Hund Pif ständig ärgert. Dan vergaß gleich sein Notizbuch und starrte abwechselnd die Schlüssel und mich an. „Gehören die Schlüssel Ihnen?“ fragte ich. „Klar, sonst wären sie ja nicht in meiner Tasche“, gab sie gelangweilt zur Antwort. „Zu welcher Tür gehören sie?“ fragte ich und zeigte mit dem Finger reihum auf die Türen in unserer Nähe. „Sie gehören zur Wohnung meiner Schwester.“ „Ist sie in Urlaub gefahren?“ „Nein, sie ist sehr zerstreut und läßt vorsichtshalber immer ein Schlüsselbund bei mir.“ Es bestand kein Grund, an ihrer Aussage zu zweifeln. Trotzdem war es ein zu großer Zufall. Sowohl die Anzahl der Schlüssel als auch der Kater, den ich zum erstenmal als Anhänger sah, zwangen mich zu einer gründlichen Untersuchung. „Sind Sie mit einer Haussuchung einverstanden?“ fragte ich die Frau. „Höre ich recht? Ziehen Sie meine Ehrlichkeit in Zweifel?“ fragte sie gekränkt. „Nein, mein Herr. Damit bin ich nicht einverstanden. Sie haben kein Recht, in meiner Wohnung herumzuschnüffeln.“ Damit sagte sie mir nichts Neues. Ich wußte, daß das, was ich vorgeschlagen hatte, nur mit Genehmigung des Staatsanwalts oder mit dem Einverständnis des Betreffenden erfolgen konnte. Es war also klar, auf welche Weise ich meine Neugier befriedigen konnte. Diese Neugierde plagte mich besonders nach der Ablehnung. Ehrliche Leute, die nichts zu verbergen haben, widersetzen sich diesem Vorschlag nie. „Dan, leiste der Dame Gesellschaft, bis ich wieder zurück bin!“ teilte ich meinem Kollegen mit und ging durch die „mittelalterliche“ Tür hinaus. Ich warf mich ins Auto und sagte Vartunian, wohin er 172
mich fahren sollte und daß ich es eilig hätte. Er begriff so gut, daß er die Räder durchdrehen ließ, und ein paar Minuten später waren wir da. Ich nahm meine Nase von der Windschutzscheibe und raste wie ein Wirbelwind an dem Unteroffizier vorbei, der das Haus der Opfer bewachte. Wegen des Anlaufs, den ich genommen hatte, schoß ich wie gewöhnlich an der Terrasse vorbei. Ich hielt an und ging wieder zurück. Ich sagte mir, daß der Augenblick gekommen war, an dem ich zum Glückspilz werden konnte. Und so wurde ich dann auch einer. Zwei der beschlagnahmten Schlüssel der Frau, die in Dans Gesellschaft geblieben war, paßten auf Anhieb so gut in die Schlösser der Wohnungstür, daß ich gleich auf den Flur gelangte. Ich ging jedoch nicht hinein. Ich zog die Tür wieder zu und schloß sie ab. Zu einem Stoßseufzer der Erleichterung hatte ich keine Zeit. Obwohl ich in Mathematik keine Leuchte bin, stellte ich fest, daß drei minus zwei wie auch immer eins ergeben, das heißt, ein eiserner Schlüssel war übrig. Ich blieb auf der Terrasse stehen und fragte mich, wo das Schloß für den dritten Schlüssel versteckt sein mochte. Glücklicherweise brauchte ich meine kleinen grauen Zellen nicht zu sehr anzustrengen. Der Unteroffizier, der am Tor lehnte und überlegte, was ich vorhatte, brachte mich darauf. Ich ging die Betonstufen hinunter und gab ihm ein Zeichen, daß er sich eine andere Stütze suchen sollte. Ich steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn um, hatte aber keine Zeit, mir zu gratulieren. Ich stürzte mich ins Auto und gab Vartunian das Fahrtziel an. Obwohl mir die Art und Weise, wie er Jackie Stewart Konkurrenz machte, nicht gefiel, sagte ich ihm, er sollte das Gaspedal nicht schonen. Es war acht vor halb vier. Wenn ich mich nicht beeilte, war alles umsonst. Gerade als ich vor Staatsanwalt Lupus Büro stand, machte dieser die Tür hinter sich zu und wollte gehen. Seinen Hut hatte er wie Maurice Chevalier aufgesetzt. Er machte 173
einen sehr zufriedenen Eindruck. Als er mich sah, war er erfreut und lächelte. „Ich gehe jetzt“, erklärte er mir, als er mir die Hand schüttelte. „Zum Essen.“ „Ja, und dann besuche ich Nora. Ich will mal sehen, wie sie sich in der neuen Wohnung eingerichtet hat.“ Obwohl ich wußte, daß er auf pünktliches Essen Wert legte und daß er seine Tochter liebte, sagte ich ihm gleich, daß ich noch etwas mit ihm besprechen wollte. Als er wieder in seinem Zimmer war, lächelte er nicht mehr, aber das nahm ich in Kauf. „Faß dich bitte kurz“, forderte er mich auf und sah auf die Uhr. Um ihm entgegenzukommen, schilderte ich ihm mein Anliegen schnell. „Ausgezeichnet! Du hast also wieder jemanden aufgespürt, der Zugang zur Wohnung der Opfer hatte. Na, dann beschäftige dich mal mit dieser Person!“ unterbrach er mich gewitzt. „Hm, kann ich nicht.“ „Das ist ja gut! Wer hindert dich denn daran?“ „Die betreffende Person selbst. Sie will nicht, daß wir eine Haussuchung bei ihr machen.“ „Daran tut sie gut. Das ist schließlich auch ihr Recht.“ „Das sagte ich mir auch, und deshalb bin ich hier.“ „Und womit begründest du deine Forderung nach Haussuchung?“ „Sie weigert sich zu erklären, was sie zum Zeitpunkt des Überfalls gemacht hat.“ „Das reicht nicht aus!“ meinte er und wollte schon aufstehen. Ich gab ihm ein Zeichen, daß er sich wieder setzen sollte. „Mihai, wenn du mich dauernd unterbrichst, bist du nicht mal zum Abendessen zu Hause!“ Mein Hinweis stimmte ihn nachdenklich, und das nutzte ich aus. 174
Als ich ihm die Sache mit den Schlüsseln erzählt hatte, griff er zum Telefon und teilte seiner Frau mit, daß sie allein essen müsse.
19 Wir machten die „mittelalterliche“ Tür auf und gingen ins Haus. Frau Tomescu und Dan saßen noch so da, wie ich sie verlassen hatte. „Frau Tomescu“, fragte Lupu, nachdem er sich vorgestellt hatte, „sagen Sie mir bitte, woher haben Sie die Schlüssel, die Ihnen der Hauptmann eben weggenommen hat?“ „Ich habe sie gefunden.“ „Sie sagten doch aber, sie gehörten Ihrer Schwester“, wandte ich ein. „Ich habe es verwechselt. Die hier gehören ihr“, sagte sie und zog ein Schlüsselbund mit ein paar Schlüsseln aus der Handtasche. „Gut“, meinte der Staatsanwalt. „Kommen wir auf die Schlüssel zurück, um die es geht. Wo haben Sie sie gefunden?“ „Bei Marieta auf dem Hof.“ „Wann?“ „Etwa vor einem Monat. Als ich aus dem Haus ging, war es dunkel, und an der Hoftür bin ich daraufgetreten. Ich hob sie auf und steckte sie ein. Bei der nächsten Massage wollte ich Marieta fragen, ob sie weiß, wer die Schlüssel verloren hat.“ „Sie haben sie aber immer noch.“ „Ja, weil ich seit diesem Abend nicht mehr bei ihr war. Warum sind irgendwelche Schlüssel eigentlich so wichtig?“ „Weil es die Schlüssel zu Frau Stancius Wohnung sind.“ 175
„Das tut mir leid. Hätte ich das gewußt, hätte ich sie ihr gebracht oder vielleicht jemanden vorbeigeschickt.“ Ich muß gestehen, daß mich die neue Version der Masseuse mißmutig stimmte. Ihr Bericht stimmte genau mit der Aussage der Putzfrau überein, so daß das wesentliche Verdachtsmoment nicht mehr existierte. Lupu sah mich fragend an. Mit einer schwachen Bewegung bestätigte ich ihm, daß die Aussage stimmen könnte. Mißbilligend schüttelte er den Kopf und fragte weiter: „Was haben Sie am Donnerstag, dem neunzehnten April, zwischen sechs und zehn Uhr abends gemacht?“ „Ich war bei einer Kundin.“ „Name und Anschrift der Kundin?“ „Frau Lidia Zimnicaru, Bulevardul Constructorilor zwei.“ Erneut sah mich der Staatsanwalt fragend an. Leider konnte ich meine Bewunderung für das wieder vorhandene Gedächtnis der Verdächtigen nicht zum Ausdruck bringen, weil sich Dan einschaltete, der bis dahin nur in seinem Notizbuch herumgeblättert hatte. „Das stimmt aber nicht! Nach der Aussage von Anica Traian waren an dem verlorengegangenen Schlüsselbund noch ein paar Schrankschlüssel. Diese Schlüssel hier sind also zweifellos die Schlüssel, die Frau Stanciu bis zum Abend des neunzehnten April benutzt hat.“ Ich spürte, wie mein Optimismus gleich Phönix wiedererstand, der größer wurde und bei seinem Flug zum Zenit durch die Decke drang. Meine Genugtuung war so groß, daß ich beinahe einen Lobgesang auf den angestimmt hätte, der das Mitstenografieren bei polizeilichen Ermittlungen zur Pflicht erhoben hatte. „Was haben Sie dazu zu sagen?“ wollte Lupu wissen. „Das muß ein Irrtum sein …“ „Und wer hat sich geirrt?“ „Natürlich dieser Herr“, erwiderte sie und zeigte auf Dan. „Ich habe die Schlüssel gefunden. Glauben Sie denn, 176
wenn es anders gewesen wäre, hätte ich Angst, es zuzugeben?“ fragte sie gleichgültig. „Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb Sie soviel Aufhebens um ein paar Schlüssel machen. Oder … wurde im Haus etwas gestohlen, und Marieta hat Sie zu mir geschickt? Wenn es sich so verhält, ist das Ganze nur eine Intrige!“ „Von wem?“ fragte Lupu ärgerlich. „Sicher von Marieta.“ „Was für ein Interesse sollte sie daran haben?“ „Sie will mir eins auswischen, weil ich nicht mehr zu ihr kommen wollte.“ „Warum wollen Sie Frau Stanciu eigentlich nicht mehr massieren?“ „Sie wurde immer unzufriedener. Sie war der Meinung, ich würde sie für ihre fünfundzwanzig Lei pro Massage nicht genug massieren. Und daß ich oberflächlich arbeite. Da wir sogar befreundet waren, habe ich mich bei ihr mehr als bei anderen Kundinnen angestrengt und mich ganz schön mit ihr abgerackert. Vielleicht hat sie jetzt, wenn sie eine andere Masseuse hat, gemerkt, wie gewissenhaft ich gearbeitet habe. Vielleicht hofft sie, daß ich nach diesem Trick zu ihr gehe, sie um Hilfe bitte und sie wieder massiere. Ihre Wohnung werde ich aber nicht mehr betreten, auch wenn ich unter Druck gesetzt werde!“ verkündete Silvia Tomescu. Ich gebe zu, daß sie sehr überzeugend wirkte. So überzeugend, daß ich fast aufgesprungen, ihr die Hand geküßt und sie um Entschuldigung wegen meiner eilfertigen und gewagten Verdächtigung gebeten hätte. Jedoch zügelte ich meinen Übermut, denn mir fiel ein, daß ich nicht dafür bezahlt werde, mich von Märchen beeindrucken zu lassen, auch wenn sie noch so überzeugend klingen. „Marieta Stanciu wurde in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden!“ sagte Lupu. „Ach, die Ärmsten“, rief sie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. 177
„Warum die Ärmsten und nicht die Ärmste?“ hakte ich gleich ein. Sie hob den Kopf und starrte uns fassungslos an. „Na ja, wenn Marieta umgebracht wurde, ihre Mutter ging doch nie aus dem Haus. Oder war sie vielleicht doch weg? Dann hätte sie noch Glück gehabt. Sie war wirklich eine hochanständige Frau“, sagte Silvia Tomescu, während sich ihre Miene etwas aufzuhellen schien. War ich ein Idiot, oder war sie unschuldig? Da keine der beiden Möglichkeiten auszuschließen war, wollte ich endlich klar Schiff machen. „Genosse Staatsanwalt, damit wir Frau Tomescu nicht noch mehr Zeit stehlen, schlage ich vor, die Sache in Form einer Hausdurchsuchung zu klären“, sagte ich. „Einverstanden“, sagte Lupu so überzeugend, daß ich wohl annehmen konnte, er hätte es lieber gehabt, wenn ich fünf Minuten später vor seinem Büro gestanden hätte. „Ich weiß nicht, was Sie bei mir zu finden glauben. Aber richten Sie mir bitte keine Unordnung an. Und beeilen Sie sich, wenn es geht. Ihretwegen habe ich schon eine Kundin sitzenlassen, und bis heute abend muß ich noch zu zwei weiteren Kundinnen.“ Ich hörte gar nicht mehr zu, sondern öffnete die Glastür und ging in den anderen Raum. Es war ein Schlafzimmer. Ich blieb an der Tür stehen und verschaffte mir einen Überblick. Vorn war ein Fenster, durch das die Hofmauer zu sehen war. Dann sah ich mir nacheinander die Liege, den großen Kleiderschrank, die Frisierkommode, das Tischchen, auf dem ein Radio stand, die vierarmige Lampe und den Plüschteppich an. Einzig und allein das Radio erregte meine Aufmerksamkeit. Ich trat näher heran, um nach der Marke zu sehen. Da es nicht das war, was mich interessierte, wandte ich mich Lupu zu, der an der Türschwelle stehengeblieben war. Ich ging auf den Flur, und ehe ich die Glastür wieder zumachte, 178
warf ich noch einen Blick auf das Ganze. Ich hatte das Gefühl, daß etwas nicht stimmte, konnte aber nicht, sagen, was. Ich beruhigte mich damit, daß es eines meiner blöden Gefühle sei, von denen ich eine ganze Menge besitze. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, wußte ich plötzlich, was mir im Schlafzimmer nicht gefallen hatte. Also ging ich wieder zurück. Mitten im Zimmer blieb ich stehen und betrachtete aufmerksam den Teppich. Er gefiel mir nicht. Und wenn er mir, der ich ein ästhetisches Empfinden wie ein Dinosaurier aus dem Naturkundemuseum habe, nicht zusagte, mußte schon etwas dran sein. Ich brauchte nicht lange, um dahinterzukommen. Das orientalische Muster des Teppichs war wider die Gewohnheit asymmetrisch. Es war wie ein Fuchs ohne Schwanz. Ich drehte mich zu Lupu um. Dieser stand wieder in der Tür und warf mir einen Blick zu, der soviel heißen sollte wie: Nicu, was zum Teufel trödelst du noch herum, wenn du mich schon mal in diese unnütze Geschichte reingezogen hast. Inzwischen standen Dan und Frau Tomescu hinter ihm. Ich sah ihr in die Augen, aber diese sahen so unschuldig drein, daß ich nichts von ihnen ablesen konnte. Ich mußte mich da schon auf meinen Spürsinn verlassen. Ich trat an die rechte Wand und hob den Teppichrand an. Ich stellte fest, daß das Schmuckstück nagelneu war und jemand den Frevel begangen hatte, ihn genau in der Mitte zu zerschneiden, so daß eine Hälfte des symmetrischen Musters fehlte. Mir wurde alles klar. Zwischen dem Teppich und einem 10-Lei-Schein, der genau in der Mitte, wo sich das Staatswappen befindet, durchgeschnitten war, gab es keinen Unterschied. „Warum haben Sie etwas von dem Teppich abgeschnitten?“ fragte ich und sah die Hauswirtin an. „Anders hätte er nicht ’reingepaßt“, erwiderte sie und war erstaunt über die dumme Frage. „Woher haben Sie den Teppich?“ 179
„Ich habe ihn von einer ehemaligen Kundin, Frau Grossu, gekauft.“ „Die Anschrift bitte.“ „Wissen Sie, Frau Grossu ist ausgewandert“, teilte sie mir mit, nachdem sich Dan die Adresse aufgeschrieben hatte. „Schon lange?“ „Ich glaube, ungefähr vor drei Wochen.“ „Haben Sie auch die andere Hälfte des Teppichs?“ „Natürlich, er liegt im anderen Zimmer.“ „Sieh zu, daß du Frau Damian und Anica findest. Wenn du es schaffst, bring sie gleich mit!“ beauftragte ich Dan, als dieser wieder auf dem Flur war. Ich öffnete die beiden Türen gegenüber der Wohnzimmertür, durch die Dan gerade hinausgegangen war. Sie führten in die Küche und ins Bad. Ich konnte nichts Besonderes entdecken und ging zur zweiten Glastür. Ich kam in ein blaues Kinderzimmer. „Wer wohnt hier?“ erkundigte ich mich. „Meine Söhne.“ „Sind sie schon groß?“ fragte Lupu. „Einer ist elf, der andere zwölf.“ „Wo sind Ihre Söhne?“ „Ich habe sie in den Ferien zu Verwandten aufs Land geschickt.“ Als erstes heftete ich natürlich meinen Blick auf den Fußboden. Die zweite Hälfte des Teppichs war jedenfalls da. Durch das Fenster sah ich einen Lagerschuppen. Ich schloß die Glastür wieder und ging auf den Flur zurück. „Den Hof möchte ich auch sehen. Bitte kommen Sie mit“, sagte ich und ging zur Tür. Draußen wandte ich mich nach rechts. Hinter dem Haus sah ich zum Fenster des blauen Zimmers hinauf. Darunter war horizontal die Falltür eines Kellers. Dorthin ging ich und machte die Tür auf. Darunter befanden sich Stufen aus Ziegelsteinen. Ich stieg acht oder zehn Stufen hinab und blieb vor 180
einer viereckigen Öffnung stehen. Es war dort drin so dunkel wie in einer Höhle. Ich holte die Taschenlampe heraus. Vor mir befand sich nur ein Türrahmen ohne Tür. An der rechten Wand entdeckte ich einen Lichtschalter. Ich betätigte ihn, mußte aber doch wieder auf die Dienste meiner Taschenlampe zurückgreifen. Der Lichtkegel fiel in einer Entfernung von drei bis vier Metern auf eine Ziegelwand, die mit einer dicken Dreckschicht überzogen war. Ich ging noch einen Schritt weiter und richtete den Lichtkegel nach rechts auf zehn bis zwölf leere Käsefässer. Sie waren übereinandergestapelt, die Metallbänder waren von den Dauben heruntergerutscht. Sie verdeckten mehr als die Hälfte der Wand und standen wohl schon jahrelang dort herum. Die Besitzerin hatte sicher noch nichts von der Rückführung von Altstoffen und Verpackungsmaterial gehört. Dann sah ich mir die linke Wand an. Sie war fast gänzlich von einem Regal mit leeren verstaubten Flaschen aller Art verdeckt. Der Fußboden bestand aus festgestampfter Erde. Die Decke wurde von drei Eisenträgern gestützt. Eine Fassung ohne Glühbirne hing an zwei Drähten von der Decke herab. Ohne großes Bedauern stellte ich fest, daß der Keller nicht der Mühe wert war, und verließ ihn. Wieder auf dem Hof, begegnete ich dem fragenden Blick des Staatsanwalts und antwortete ihm stumm, daß ich noch nicht gefunden hatte, was ich suchte. Auf dem hinteren Teil des Hofs befand sich ein Holzbau, der so rund wie ein Pilz und mit Dachpappe gedeckt war. Da es der einzige Ort war, der meiner Meinung nach noch besichtigt werden mußte, wollte ich dies auch tun. Ich ging hin und machte die Tür auf. Es war ein fensterloser Schuppen für Holz. Ehe ich zu meiner Taschenlampe griff, drehte ich an dem am Türrahmen befestigten Schalter, und wie schon in der Bibel steht, geschah das Wunder. Obwohl die sparsame Birne auch 181
nur einen Schein wie eine Kerze abgab, war ich’s zufrieden. Was soll’s, das ist eben mein großer Fehler, ich bin zu bescheiden! Das Innere des Schuppens war etwa 20 Quadratmeter groß. Der Boden war festgetreten und mit Sägespänen bedeckt. Links ein beträchtlicher Kohlehaufen, rechts ein hoher Stapel Brennholz, und in der Mitte stand ein großer Hackklotz wie ein Thron. Ich sah zur Decke, die von Holzbalken getragen wurde. Da ich nichts Besonderes entdecken konnte, wollte ich schon wieder zur Tür, ging aber trotzdem noch nicht wieder hinaus. Mein Instinkt war stärker. Da ich wußte, daß Lupu mich gleich packen und auffressen würde wie sein vierbeiniger Namensvetter, besah ich mir noch das Beil. Mit flinker Hand hatte die Dame des Hauses das Holz achtlos auf den Stiel des Beils gepackt. Ohne dieses Instrument ist nun mal kein Holz zu spalten. Ich brauchte infolgedessen nicht lange zu überlegen, wie ich Frau Tomescu einen Gefallen tun konnte. Anstatt das Beil unter dem Stapel vorzuziehen, stellte ich mich wie ein Tölpel an und riß den darüberliegenden Holzstapel ein. Als er mir nur noch bis zu den Schultern reichte, warf ich vor lauter Angst, alles wieder aufschichten zu müssen, einen Blick über das noch geschichtete Holz und fand meine Vermutung bestätigt. Sofort holte ich die Rechnungen, die ich in der Wohnung der Ermordeten gefunden hatte, aus der Tasche und verglich die Seriennummern des Kühlschranks und des Radioapparates, die zwischen zwei Koffern und ein paar Bündeln aus über Kreuz verschnürten Bettüchern oder Tischdecken standen. Da ich nach dieser Überprüfung ziemlich sicher war, daß ich den Stapel nicht wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen brauchte, freute ich mich schon, daß ich nicht noch Überstunden machen mußte. Doch zum Verschnaufen sollte ich nicht kommen. 182
„Nicu, was machst du denn dort?“ wollte Lupu auf der anderen Seite des Stapels wissen. „Komm her und sieh dir das an!“ bat ich ihn. Er leistete nur dem zweiten Teil meiner Bitte Folge und reckte seinen Kopf über den Stapel. Dabei ließ er seinen Blick über die Gegenstände wandern, die mich umgaben. Dann rannte er zur Tür, als hätte er die Milch auf dem Herd vergessen. Einen Augenblick später kam er in Begleitung unserer ehrenwerten Hauswirtin zurück. „Warum haben Sie diese Gegenstände versteckt?“ fragte ich sie und deutete auf die Reste des eingerissenen Stapels. Dabei muß ich zu meiner Schande gestehen, daß ich keinerlei Reue empfand. „Aus persönlichen Gründen“, teilte sie uns gelassen mit. „Eben die möchten wir wissen!“ verkündete ihr der Staatsanwalt mit einer Eindringlichkeit, die den Leuten seines Standes eigen ist, obwohl er wissen müßte, daß Frauen ihre kleinen Geheimnisse haben, die wir Männer einfach zu respektieren haben. „Ich habe sie von der Frau gekauft, von der ich auch den Teppich habe“, rückte sie mit der Sprache heraus und deutete mit dem Kopf auf das Haus. „Von Frau Grossu?“ „Ja.“ „Und warum haben Sie sie versteckt?“ „Weil Frau Grossu diese Gegenstände an drei oder vier Personen verkauft hat, denen sie gesagt hat, sie könnten sie am Tage ihrer Ausreise abholen. Sie ist aber zwei Tage früher als besprochen abgereist. Mir hat sie aber genau gesagt, wann ich die Gegenstände abholen konnte, damit ich nicht mit den anderen zusammentreffe.“ „Und Sie haben sie versteckt, bis sich die anderen Käufer, die an der Nase herumgeführt wurden, beruhigt hatten, nicht wahr?“ schlußfolgerte ich. 183
„Genau“, bestätigte sie und schien über meinen Scharfsinn überrascht. „Wahrscheinlich haben Sie das alles mit dem Teppich zusammen vor drei Wochen hergebracht?“ erkundigte ich mich, um mein Ansehen bei ihr etwas zu heben. Sie gab mir sofort recht. Als ich Schritte auf dem Hof vernahm, ging ich hinaus, um zu sehen, wer gekommen war. Es war Dan mit den beiden Frauen, die er holen sollte. Um ihre und insbesondere unsere Zeit nicht zu sehr zu beanspruchen, zeigte ich ihnen zunächst die Teppichhälften im Hause und dann die Gegenstände im Schuppen. Natürlich zeigte ich ihnen auch die Kleidung, Wäsche, Nippes, die Porzellanservice und die Bestecks, die wahllos in Koffer und Decken gestopft waren. Als ich damit fertig war, dankte ich den beiden Frauen für ihre Mitarbeit und sagte Vartunian, er sollte sie mit dem Auto zurückbringen. Als ich wieder auf dem Flur war, saßen Frau Tomescu und meine Kollegen um den Tisch herum. „Haben Sie gehört, was die Zeuginnen gesagt haben?“ fragte Lupu endlich und brach die patriarchalische Ruhe im Zimmer. „Die irren sich! Wie ich Ihnen gesagt habe, gehören die Sachen nicht Marieta, sondern ich habe sie von Frau Grossu erhalten.“ „Verlassen Sie sich bloß nicht darauf, daß die Frau, von der Sie die fraglichen Gegenstände bekommen zu haben behaupten, aus Rumänien ausgewandert ist. Für uns ist es nicht schwierig, sie zu finden und über Interpol verhören zu lassen!“ warnte Lupu sie. Während Lupu weiterredete, sah ich mich gelangweilt um. Auf der Anrichte entdeckte ich eine große graue Tasche aus Kunststoff, eine Art Beutel. Da ich mit meiner Rede noch nicht dran war, stand ich auf und sah sie mir an, obwohl es kaum lohnte. 184
Ich öffnete sie und erblickte ein weißes zusammengelegtes Tuch. Ich zog es heraus und stellte fest, daß es ein Kittel wie für Sprechstundenhilfen war. Unten in der Tasche befanden sich ein paar Fläschchen mit Glyzerin und Spiritus. Dazwischen entdeckte ich ein schmieriges Heftchen ohne Deckblätter. Ich blätterte es durch und ging an meinen Platz zurück. „Wo waren Sie am Donnerstag, dem neunzehnten April, zwischen sechs und zehn Uhr abends?“ fragte ich, so, als hätte ich diese Frage zum erstenmal gestellt. „Das habe ich Ihnen doch schon gesagt“, antwortete Frau Tomescu in mitleidigem Ton wegen meines schlechten Gedächtnisses. „Ich war bei Frau Zimnicaru.“ „In Ihrem Terminkalender steht aber, daß Sie zwischen drei und fünf Uhr nachmittags bei Frau Zimnicaru waren. In der Zeit, um die es uns geht, waren Sie bei Marieta Stanciu. Geben Sie es zu?“ „Nein, ich habe es in meinem Kalender nach der Terminverlegung für einige Kundinnen beziehungsweise nach dem Wegfall meiner Besuche bei Marieta Stanciu nur noch nicht geändert.“ Sie behauptete das alles mit so viel Echtheit und Sicherheit, daß es fast den Anschein hatte, ich hätte das Verbrechen in der Strada General Demostene verübt und nicht sie. Ich spürte, wie meine Leber aufs Dreifache anschwoll, was immer dann passiert, wenn mich jemand für ganz besonders dumm hält. „Also“, sagte ich, um die Sache zu beenden, wobei ich mich beherrschte, wie es sich für einen Inspektor gehört, „den Kühlschrank und die übrigen Gegenstände haben Sie von der Frau gekauft, die unser Land verlassen hat. Und die Schlüssel haben Sie gefunden. Ist das richtig?“ „Ja.“ Ich sah Lupu an, der seinerseits die Masseuse böse ansah. Er machte ein Gesicht wie ein Magenkranker. 185
„Genosse Staatsanwalt, auf Grund der erbrachten Beweise und des Verhaltens der verdächtigen Person beantrage ich deren Verhaftung wegen Mittäterschaft am Doppelmord in der Strada General Demostene“, sagte ich. „Ich protestiere! Das Ganze ist nur eine Intrige!“ „Einverstanden!“ sagte Lupu, ohne zu bemerken, daß Frau Tomescu zum erstenmal ihre unerschütterliche Ruhe verloren hatte. Als wir auf den Hof kamen, war Vartunian mit dem Auto noch nicht wieder zurück. Sicher war er unterwegs noch etwas essen gegangen. Ich weiß nicht, ob ich rein zufällig an diese Möglichkeit dachte oder weil es bereits sieben Uhr abends war und ich mir fünf Stunden vorher etwas Ähnliches vorgenommen hatte. Ich hatte keine Zeit mehr, Vartunian um seinen Einfall zu beneiden, denn Lupu nahm uns im Auto der Staatsanwaltschaft mit. Wir saßen in unserem Büro. Fünf Stunden lang versuchten wir nun schon, Frau Tomescu die Wahrheit zu entlocken. Wir waren total erschöpft, Silvia Tomescu hingegen war frisch wie zu Beginn. Sie wolle nicht um ein Jota von ihrer Aussage abweichen. Sie behauptete steif und starr, daß wir uns zu einer Intrige gegen sie hergaben. Die in ihrem Hause gefundenen Corpora delicti waren gekauft, und die Schlüssel hatte sie auf dem Hof der Ermordeten gefunden. Bei der Fabrikationsnummer des Radios und des Kühlschranks handelte es sich ihrer Meinung nach einfach um einen Zufall. Obwohl die erbrachten Beweise ausreichend waren, konnte ich sie erst unter Anklage stellen, wenn sie geständig wurde und uns sagte, wer ihre Komplizen waren. In meinem Beruf kann ein Fall erst dann als geklärt angesehen werden, wenn alle an einem Verbrechen Beteiligten überführt sind. Das wußte sie. Sie war sich dar186
über im klaren, daß, wenn sie den Mund hielt, wir in der Klemme saßen. Und sie blieb stumm wie ein Fisch. Ich sah meine Kollegen an. Sowohl Lupu als auch Dan hatten vor Müdigkeit gerötete Augen. So abgespannt, wie ich war, sah ich bestimmt auch nicht besser aus als sie. Verglichen mit unserer Müdigkeit wirkte Frau Silvia wie eine Zehntausendmeterläuferin vor dem Start. Ich sagte mir, daß es besser wäre, Schluß zu machen. Ich ließ den diensthabenden Unteroffizier rufen und schickte sie wieder in die Untersuchungshaft. „Da haben wir’s nun. Wir glaubten, wenn wir die Masseuse geschnappt haben, dann ist auch gleich die übrige Bande in unserer Hand“, brummte Dan, stand auf und reckte sich. „Nicu, was machen wir bloß, wenn sie weiter so stumm bleibt?“ fragte Lupu und gähnte. Eigentlich wollte ich ihm sagen, daß ich das auch wissen möchte, aber ehe ich es tun konnte, wurde ich ebenfalls vom Gähnen angesteckt. „Wir beginnen mit den Zeugen. Dann versuchen wir, die Komplizen herauszubekommen“, gab ich mit vorgehaltener Hand von mir, um meinen Kollegen zu zeigen, daß ich sie nicht verschlingen wollte. „Und wenn sie ihre Komplizen einfach nicht angibt?“ fragte der Staatsanwalt verdrossen. „Wir sehen uns unter ihren Bekannten um und versuchen herauszufinden, was für Beziehungen sie hat. Bei derartigen Überfällen tut man sich nicht mit den ersten besten zusammen, sondern nur mit Komplizen, die man gut kennt.“ Da meine beiden Kollegen zu abgespannt waren, um mir noch zu widersprechen, standen wir auf und gingen. Als unser Dienstwagen uns nach Hause brachte, sagte ich Dan noch, was er am nächsten Morgen zuerst tun sollte.
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20 Um acht Uhr früh wurden vier Frauen, die ähnlich aussahen wie Silvia Tomescu, zusammen mit dieser in einen Raum gebracht, in dem der Sportlehrer, der Fahrer des Krankenwagens und der Scherenschleifer, der das Beil geschärft hatte, saßen. Die Sache ist organisiert und läuft wie eine Modenschau ab, wobei allerdings zwei Unterschiede bestehen: ohne Musik, und anstelle des Modells gibt das Publikum das Mannequin an. Wie ich mir auch schon ausgerechnet hatte, war das Ergebnis „ausgezeichnet“. Um uns so gut wie möglich zu unterstützen, verständigten sich die Zeugen nicht einmal paarweise untereinander, um die Person anzugeben, die ihrer Ansicht nach der ähnelte, die sie unter den für uns wichtigen Umständen gesehen hatten. Damit die Verwirrung noch größer wurde, gehörten alle drei der von ihnen bezeichneten Frauen zu der Gruppe, in die wir auch die Verdächtige gesteckt hatten. Nach Ansicht der Zeugen hätten wir Silvia Tomescu freilassen und diejenigen verhaften müssen, die bei der Gegenüberstellung neben ihr gestanden hatten. Schließlich beendeten wir den Spuk und gingen verdrossen wieder in unser Büro zurück. „Dan, sag mir bloß, was wir jetzt machen sollen!“ sagte ich und ließ mich auf den Stuhl hinter meinem Schreibtisch plumpsen. „Wir vernehmen sämtliche Nachbarn Silvia Tomescus, um ihre Beziehungen herauszubekommen“, knurrte er. Da ich auch schon daran gedacht hatte, erklärte ich mich damit einverstanden. Als ich mich gerade erheben wollte, überlegte ich es mir aber anders, „Dan, rufe in der U-Haft an. Sie sollen die Tomescu bringen.“ „Schon wieder?“ fragte er verwundert. „Ja, schon wieder.“ 188
Wenige Minuten später betraten Silvia Tomescu und der Unteroffizier das Zimmer. Ich wartete, bis der Unteroffizier wieder draußen war und ließ die Tomescu vor meinem Schreibtisch Platz nehmen. „Sie müssen uns endlich die Wahrheit sagen!“ drang ich in sie. „Das habe ich schon die ganze Zeit getan. Wenn Sie aber annehmen, daß ich das zugebe, was Sie wollen, nur um Ihnen einen Gefällen zu tun, dann irren Sie sich! Ich bin unschuldig!“ teilte sie mir mit, allerdings nicht mehr so überzeugend wie am vergangenen Abend. „Alle Zeugen haben Sie bei der Gegenüberstellung erkannt“, bluffte ich gelassen. Ihre kleinen dunklen Augen musterten mich mißtrauisch. Ich hatte den Eindruck, daß ihr Sarkasmus und ihre Hartnäckigkeit, die sie bisher gezeigt hatte, zu wanken begannen und der Unsicherheit Raum ließen, wie eine Kompaßnadel, die von einer anderen magnetischen Quelle als dem Pol unserer Erde beeinflußt wird. Ihr aufmerksamer und durchdringender Blick fixierte nicht mehr meine Augen, sondern irrte umher. Als ich mich fragte, ob ihr verändertes Verhalten nur ein äußerer Eindruck war, klappte sie auch schon wie ein Taschenmesser zusammen. Ihr Kinn fiel auf die Brust, ihre Schultern fielen zusammen mit ihren Händen, die sie bisher auf den Rand meines Schreibtischs gelegt hatte, nach vorn, Ihre Verwandlung in wenigen Augenblicken, insbesondere aber die Art und Weise, wie sie ihre Hände herabhängen ließ, die ziemlich dicht über dem Teppich baumelten, ließ mich an unsere Vorfahren vor Zehntausenden von Generationen denken. „Ich gebe es zu. Ich habe sie umgebracht“, stammelte sie. Ich muß sagen, daß mich der Beginn des Geständnisses in Unruhe versetzte. Er beunruhigte mich sogar sehr, denn ich sah eine Reihe von Verwicklungen voraus, auf 189
die ich gern verzichtet hätte. Entweder wollte sie ihre Komplizen decken, oder sie war eine Psychopathin, die ein Geständnis erfunden hatte. Wenn die erste Variante keine besonderen Probleme aufwarf, dann die zweite um so mehr! Ich hatte schon einmal mit einem Idioten zu tun, der behauptete, daß er die von mir untersuchte Schandtat begangen hatte. Anstatt meine ganze Aufmerksamkeit auf die Verfolgung des Täters zu konzentrieren, verschwendete ich eine Menge Zeit auf die Beweisführung, daß sich der Verrückte die ganze Sache eingeredet hatte und es unbedingt für nötig hielt, die vermeintliche Tat im Gefängnis zu büßen. So etwas hätte mir wirklich nicht in den Kram gepaßt. „Fahren Sie bitte fort“, sagte ich und verbarg natürlich die Panik, die mich gepackt hatte. „Ich habe sie umgebracht, weil sie üble Weibsbilder waren.“ „So doch nicht! Wir müssen systematisch vorgehen“, sagte ich, um sie bei der Lüge zu ertappen, ehe sie mich irreführte. „Berichten Sie uns, was Sie an dem bewußten Tag von früh an gemacht haben.“ Sie zählte drei Kundinnen auf, die sie massiert hatte, und kam dann zur vierten: „Als ich bei Frau Zimnicaru fertig war, ging ich zu Marieta. Sie war meine letzte Kundin an diesem Tag.“ „Wann sind Sie losgegangen?“ „Wie immer gegen fünf oder drei Viertel fünf.“ „Wann waren Sie bei Frau Stanciu?“ „Um sechs.“ „Brauchten Sie mehr als eine Stunde, um in die Strada General Demostene zu gelangen?“ fragte Dan. „Nein, ich brauchte nur eine halbe Stunde.“ „Und was haben Sie bis um sechs Uhr gemacht?“ „Ich bin noch etwas durch das Viertel geschlendert.“ „Warum eigentlich? Hätten Sie denn nicht früher zu 190
Ihrer Kundin gehen können? Dann wären Sie früher fertig gewesen.“ „Marieta legte großen Wert auf Pünktlichkeit. Ich durfte weder zu früh noch zu spät kommen.“ „Wer hat Ihnen aufgemacht?“ fragte ich, nachdem mir Dan ein Zeichen gegeben hatte, daß er mit den Antworten zufrieden war. „Marieta.“ „Erzählen Sie mir alles, was passiert ist, nachdem sie Sie hereingelassen hat.“ „Ich ging ins Schlafzimmer. Während sich Marieta zur Massage auszog und ich meinen Kittel überstreifte, kam auch noch ihre Mutter herein, um uns zuzusehen. Wie immer, wenn ich zu den beiden kam, haben wir über alles mögliche geredet. An diesem Tag hat sie mir etwas sehr Häßliches erzählt. Deshalb habe ich sie auch umgebracht“, berichtete sie zähneknirschend. „Und was hat sie Ihnen denn erzählt?“ „Daß zwei Schülerinnen etwas Unmoralisches getan hatten und sie es am nächsten Tag, also am Freitag, der Miliz melden wollte. Dann hat sich auch ihre Mutter eingemischt und ihr zugeredet, keine Gnade walten zu lassen. In diesem Augenblick verspürte ich einen tödlichen Haß auf sie. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber in diesem Augenblick bäumte sich alles in mir auf, in meiner Seele als Mutter. Auf jeden Fall wollte ich den beiden unschuldigen Mädchen den Ärger ersparen, indem ich die beiden Frauen umbrachte.“ „Moment mal! Das verstehe ich nicht! Weshalb hat Sie als Mutter die Tatsache empört, daß die Lehrerin die beiden Schülerinnen wieder auf den richtigen Weg bringen wollte. Sonst wären sie doch vielleicht an den Rand der Gesellschaft geraten. Sie als Mutter verurteilen diese Handlungsweise, anstatt diese zu unterstützen, aus der doch das hohe Berufsethos eines Lehrers spricht?“ fragte ich und versuchte sie zu begreifen. 191
Sie hob den Kopf und sah mich an, als wollte sie herausbekommen, was mir nicht gefallen hatte. „Sie haben mich nicht verstanden. Mich hat nicht die Tatsache geärgert, daß sie die beiden bei der Miliz anzeigen wollte, sondern der Ton.“ Sie drehte den Spieß wieder um. „Lassen wir das. Berichten Sie weiter.“ „Als sich Marieta mit dem Gesicht nach unten gelegt hatte, damit ich mit der Massage beginnen konnte, bat sie ihre Mutter, uns einen Tee zu machen. Wenn die Alte nicht hinausgegangen wäre, wäre überhaupt nichts passiert“, sagte sie und zuckte mit den Achseln, als wollte sie mir versichern, daß allein Mioara Panaitescu an den Ereignissen schuld war. „Reden Sie weiter!“ herrschte ich sie an. „Als die Alte aus dem Zimmer ging, nutzte ich es aus, daß Marieta mit dem Gesicht auf dem Kissen lag, zog meine Handschuhe an und holte das Beil aus der Tasche. Nachdem ich zugeschlagen hatte, ging ich in die Küche und …“ „Halt! Sagen Sie, wo, wie und wie oft Sie zugeschlagen haben!“ unterbrach ich sie barsch, weil ich sie irreleiten und bei der Lüge erwischen wollte. Sie antwortete mit einer Genauigkeit, aus der hervorging, daß sie wußte, wovon sie sprach. Das hinderte mich allerdings nicht daran, weiterhin Vorbehalte über den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage zu haben. „Sie sind also in die Küche gegangen. Und dann?“ redete ich ihr zu und wollte sie so schnell wie möglich beim Schwindeln ertappen. „Da ich auf Strümpfen ging, hörte sie mich erst, als ich schon in der Küche war und die Tür hinter mir geschlossen hatte.“ „Was machte Frau Panaitescu, als Sie in die Küche kamen?“ „Sie stand gerade am Fenster und wollte es sicher öff192
nen. Als sie hörte, daß die Tür zuging, drehte sie sich um und sah mich an. Sie hat einen mächtigen Schreck gekriegt“, sagte sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln, das gleich wieder verschwand. „Vielleicht hatte sie an meinem Gesicht gesehen, daß Überschwenglichkeit nicht recht am Platze war. Zuerst sah sie mich erstaunt an“, sagte die Tomescu und setzte wieder ihr reuevolles Gesicht auf, „dann bekam sie große Augen, und ihr Blick war auf das Beil geheftet.“ Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen. Ich sah eine alte und wehrlose Frau auf die blutbefleckte Schneide des Beils starren, wohl wissend, daß dies auch ihr Los war. Ein Schauer lief mir über den Rücken. „Ich ließ ihr keine Zeit, um Hilfe zu rufen.“ Mein Beruf zwingt mich dazu, mir auch die schauerlichsten Berichte anzuhören. Obwohl ich das Gefühl hatte, einen endlosen quälenden Alptraum zu durchleben, tat ich meine Pflicht. Ich nahm sämtliche Einzelheiten zur Kenntnis. Als sie ihren Bericht so natürlich wie eine Mutter, die ihrem Kind ein schönes Märchen zum Einschlafen erzählt, beendet hatte, mußte ich überrascht feststellen, daß meine Vermutungen falsch waren. Ihre Antworten auf meine Stichfragen bewiesen unzweideutig, daß sie den schrecklichen Doppelmord begangen hatte. „Was haben Sie gemacht, nachdem Sie das Beil ins Waschbecken gelegt und sich die Hände gewaschen hatten?“ fragte ich mit einer Stimme, die mir eigentlich gar nicht gehörte. Eine Stimme, die mit Schmirgelpapier angerauht zu sein schien. „Ich sah nach Marieta. Sie lag noch so da wie vorher.“ „Natürlich!“ sagte Dan heiser, ohne sie anzusehen. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf sein Notizbuch, in dem er die Aussage mitstenografiert hatte, und bemerkte, daß seine rechte Hand ganz weiß war. Der Abscheu übertrug sich auf den Füller, den er mit den Fingern zu zerquetschen versuchte. 193
„Sie hat aber noch gewimmert“, fuhr sie gleichmütig fort. „Deswegen drückte ich ihr einen Kittel und ein Kissen auf den Kopf.“ „Weshalb? Konnten Sie das Stöhnen nicht mehr ertragen?“ „Das störte mich nicht“, sagte sie und wunderte sich über die dumme Frage. „Ich hatte Angst, daß man draußen etwas hören konnte und mich jemand erwischte.“ Ich ließ mir meinen Ärger nicht anmerken und ließ sie weiterreden. „Als ich sah, daß alles in Ordnung war, stieg ich auf einen Stuhl und nahm zwei Koffer vom Kleiderschrank. Nachdem ich sie mit Kleidungsstücken vollgepackt hatte, fuhr ich nach Hause.“ „Womit?“ „Mit dem O-Bus. Nachdem ich die Koffer zu Hause ausgepackt hatte, kam ich zurück.“ „Wann haben Sie die Wohnung der Ermordeten verlassen, und wann sind Sie zurückgekommen?“ „Ich ging gegen halb neun los und kam etwa eine halbe Stunde später zurück. Ich habe mich nirgends aufgehalten. Als ich zurückkam, packte ich die Koffer wieder voll.“ Während sie berichtete, was sie in die Koffer eingepackt hatte, fragte ich mich, warum sie nichts von ihren Komplizen erzählte. Nach der Tötung der beiden Frauen hätte sie diese eigentlich ins Haus lassen müssen. Sie erwähnte sie aber mit keinem Wort. „Sprechen Sie über Ihre Komplizen!“ unterbrach ich sie. „Was für Komplizen?“ fragte sie erstaunt. „Sie wissen schon, welche!“ erwiderte Dan ungehalten. „Ich war allein und hatte keine Komplizen.“ Sie will sie also decken. Gut, wir werden sie auch so dahin bringen, daß sie sie nicht mehr verleugnet, sagte 194
ich mir und forderte sie auf zu erzählen, was sie gemacht hatte, nachdem sie die Koffer zum zweitenmal vollgepackt hatte. „Ich ging kurz nach neun weg. Die Koffer waren sehr schwer, so daß ich sie kaum tragen konnte. Als ich an der Ecke war, bat ich ein junges Mädchen, mir beim Tragen zu helfen. Wir gingen beide gemeinsam bis zur Militärakademie.“ „Name und Adresse des Mädchens?“ fragte Dan. „Ich weiß es nicht. Ich habe sie zum erstenmal gesehen.“ „Wie sah sie aus? Beschreiben Sie sie!“ bohrte Dan weiter. „In der Dunkelheit konnte ich sie nicht genau erkennen“, sagte sie, nachdem sie uns eine mehr als vage Beschreibung gegeben hatte. „Gut, reden Sie weiter.“ „Als ich zu der Straße kam, die zur Şoseaua Panduri noch führt, sah ich einen parkenden Lieferwagen. Ich ging zu dem Auto hin und bat den Fahrer, mir die Koffer nach Hause zu fahren. Er war einverstanden, sagte aber, daß ich noch etwas warten müßte, da ihm das Benzin ausgegangen sei. Ich sagte ihm, daß ich es nicht eilig hätte und verstaute die Koffer im Lieferwagen. Nachdem ich dem Mädchen, das mir geholfen hatte, zehn Lei gegeben hatte, stieg ich ins Fahrerhaus und setzte mich neben den Fahrer. Etwa nach einer halben Stunde fuhr ein anderes Auto vorbei und gab meinem Fahrer ein paar Liter Benzin. So konnte das Auto wenigstens bis zur Tankstelle am Nordbahnhof zum Tanken fahren. Unterwegs sagte ich dem Fahrer, daß ich noch ein paar Sachen zu fahren hätte. Er erklärte sich dazu bereit. So fuhren wir, nachdem ich die Koffer zu Hause abgeladen hatte, zu Marietas Wohnung zurück.“ „Haben Sie bei Ihren Touren zwischen Ihrer Wohnung und der der Opfer jemanden getroffen?“ 195
„Ja, als ich mit dem Lieferwagen kam, bin ich einem großen blonden Herrn begegnet, der gerade Marietas Hoftor zuschließen wollte. Ich glaube, das war der Mieter aus der Mansarde.“ „Wer hat Ihnen geholfen, die Sachen aus dem Haus zu holen? Der Fahrer?“ „Nein, ich habe alles allein geschleppt.“ „Etwa auch den Kühlschrank?“ fragte Dan sarkastisch. „Klar. Ich war nicht so dumm, den Fahrer mit ins Haus zu bringen. Den Kühlschrank habe ich bis zur Flurtür geschoben, und von dort aus haben wir ihn zusammen zum Auto gebracht.“ „War das die letzte Tour, die Sie gemacht haben?“ „Ja.“ „Wie heißt der Fahrer?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich ihn nicht kenne.“ „Bei uns verfangen solche Mätzchen nicht!“ sagte ich barsch. „Wollen Sie uns denn weismachen, daß Sie den Wohnzimmertisch, der über zwei Zentner wiegt, hochgehoben, daß sie den Perserteppich von über zwölf Quadratmetern geschleppt und ein Ungeheuer von Kühlschrank durch das ganze Haus spazierengetragen haben? Wer sind Ihre Komplizen?“ „Ich hatte keinen einzigen Komplizen“, flüsterte sie, von meinem Zornesausbruch eingeschüchtert. „Wer ist der Fahrer? Wie heißt er, und wo wohnt er?“ unterbrach Dan sie. „Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe ihn an diesem Abend das erstemal gesehen.“ Ich muß zugeben, daß mich ihr Verhalten allmählich nachdenklich stimmte. Von dem Augenblick an, als ich sie durch die Beweise ihrer Schuld gezwungen hatte, hatte sie frei von der Leber weg geredet. Und sie hatte ihre grausige Tat mit der Ungezwungenheit und dem Stolz des ersten Menschen geschildert, der auf dem 196
Mond spazierengegangen ist und bei seiner Rückkehr erzählt, was er auf dem Erdtrabanten alles gesehen hat. Nun, dieses Verhalten stand in krassem Widerspruch zu dem Versuch, ihre Komplizen herauszuhalten. Der ertappte Täter nennt seine Komplizen immer, oft erwähnt er auch noch vermeintliche Mittäter, nur um ungeschoren davonzukommen. Die vor mir sitzende Person war ganz anders als die Leute ihres Schlages. „Warum haben Sie die Gegenstände im Holzschuppen versteckt?“ fragte ich. „Ich wollte nicht, daß sie jemand bei mir im Hause sieht. Man hätte sich sicher gefragt, woher ich das Geld habe, um mir so viele Sachen auf einmal zu kaufen.“ „Der Teppich war aber zu sehen“, meinte Dan. „Mit dem Teppich ist das was anderes. Da sieht man nicht, ob er ein Jahr oder zehn Jahre alt ist. Wenn man ihn gut pflegt, sieht er auch später noch aus wie neu.“ „Dachten Sie nicht daran, daß Sie sich wegen Ihrer Tat verantworten müssen?“ „Nein, ich war mir ganz sicher, daß man mich nicht kriegt. Niemand kannte mich, und ich hatte Handschuhe an. Übrigens, da ich dem Herrn aus der Mansarde am Tor begegnet war und ich befürchtete, daß er Ihnen meine Beschreibung gibt, habe ich mir sogar die Haare färben lassen. Ich möchte nur wissen, wie Sie mich gekriegt haben.“ Obwohl sie mich fragend ansah, bin ich die Antwort darauf schuldig geblieben. Ich hatte wirklich die Nase voll von diesen Verrückten, die sich in ihrer Ignoranz einbilden, den Stein der Weisen zur Durchführung eines perfekten Verbrechens gefunden zu haben. Wie genial sie ihre Fäden auch spinnen, sie landen doch immer wie die Eierdiebe vor den Gerichtsorganen. Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Hauptmann Maier hereinkam. „Nicu, ich habe was für dich!“ verkündete er gutgelaunt. 197
Fast wie von einem Reflex getrieben, sah ich auf die Uhr. Es war Viertel drei. Ich bot ihm einen Stuhl an und sagte zu Dan: „In die U-Haft mit ihr! Heute nachmittag machen wir mit dem Verhör weiter.“ Mein Kollege stand auf und rief den Unteroffizier auf dem Gang. „Was gibt’s?“ fragte ich, als die Masseuse wieder weg war. „Du kannst mir gratulieren! Es ist mir gelungen, den Fingerabdruck auf dem Apfel sichtbar zu machen. Nicht vollständig, so daß man genau sagen könnte, von wem er stammt, aber doch immerhin so, daß die Zahl der Verdächtigen auf ein vernünftiges Maß reduziert wird. Für alle Fälle habe ich den Abdruck in der Daktyloskopie abgegeben.“ „Und?“ Er warf mir ein Blatt Papier auf den Tisch. „Wenn der Inhaber dieses Abdrucks bereits mit uns zu tun hatte, gehört er zu diesen zweiundvierzig Männern und Frauen.“ Ich warf einen Blick auf die Namenliste. „Ich glaube schon, daß wir diese ‚ehrenwerten‘ Leute unter die Lupe nehmen sollten. Man weiß ja nie, vielleicht machen auch wir mal einen guten Fang.“ „Man weiß es doch!“ sagte ich, machte mit dem Füller einen Kreis um einen Namen auf der Liste und gab sie ihm zurück. „Du bist wohl Doktor Allwissend?“ fragte er überrascht. „Die Frau, die du eben gesehen hast, ist Silvia Tomescu. Kapierst du?“ Er begriff erst, als ich ihm erzählte, wie wir sie durch die klassische Ermittlung geschnappt hatten. „Herzlichen Glückwunsch. Du mußt aber zugeben, daß die Kriminalistik auch bestens gearbeitet hat“, meinte er voller Stolz. „Wenn ihr sie nicht gekriegt hättet, dann hätten wir sie euch frei Haus geliefert.“ 198
„Die Überprüfung von über vierzig Leuten hätte viel Lauferei bedeutet“, bemerkte Dan und sah sich die Deckenleuchte genau an. Dabei verhehlte er seine Ironie nicht. „Na und, was hast du denn sonst schon zu tun? Glaubst du etwa, du kriegst dein Geld fürs Rumlungern oder Saufen?“ fragte Maier ärgerlich und sah ihn wütend an. Da ich Hunger hatte wie ein Schiffbrüchiger auf einer öden Insel nach einem Monat Fastenzeit, unterbrach ich die beiden, obwohl erst fünf Tage seit Beginn der Ermittlung vergangen waren. „Eugen, hilf mir bitte. Heute nachmittag gegen fünf möchte ich den Doppelmord rekonstruieren. Wie sieht es aus, hast du Zeit?“ „Ja“, antwortete er, nachdem er Dan nochmals einen strafenden Blick zugeworfen hatte. Ich gab ihm die Adresse der Masseuse und die Schlüssel der beiden Wohnungen. Dann riet ich ihm, die Hilfe der Putzfrau der beiden Opfer in Anspruch zu nehmen. Ehe wir essen gingen, rief ich Staatsanwalt Lupu an und berichtete ihm über den Stand der Ermittlungen sowie über das, was ich weiterhin zu unternehmen gedachte. Er war damit einverstanden, daß wir uns im Hause der Ermordeten trafen.
21 Wir fuhren zur vereinbarten Zeit in die Wohnung der Ermordeten. Silvia Tomescu nahmen wir mit. Der Staatsanwalt wartete auf der Terrasse. Dan paßte auf die Hauptdarstellerin der Tragödie auf, Lupu und ich machten einen Rundgang durchs Haus. Maier und seine Leute hatten das Diebesgut nach Anicas Anweisungen wieder an den ursprünglichen Platz ge199
stellt. So wie die Putzfrau die Wohnung vor neun Tagen hinterlassen hatte, als sie Mioara Panaitescu zum letztenmal lebend gesehen hatte. „Ich glaube, so ist es in Ordnung!“ meinte Lupu. „Fangen wir an“, sagte ich und holte die Täterin herein. Ich erklärte ihr, was wir von ihr wollten. Sie tat uns auch den Gefallen, sogar noch mehr. Sie bemühte sich, sich genauso zu bewegen wie am Tage des Massakers. Sie verhielt sich wie ein Schüler, der sein ganzes Wissen hervorholt, um die beste Zensur zu bekommen. Sie zeigte uns, wie sie die beiden Frauen nacheinander umgebracht hatte. Dann ging sie zum zweiten Teil der Handlung, der Plünderung über. Ich gestehe, daß sie uns ganz schön verblüffte. Sie stellte unter Beweis, daß sie den Kühlschrank bis zur Terrasse geschoben hatte, wo ihr der Fahrer dann half, ihn bis zum Lieferwagen zu bringen. Sie zeigte auch, daß sie den Teppich hinausgebracht hatte, indem sie ihn zusammengerollt und nacheinander die Beine des massiven Tisches angehoben hatte. Entgegen ihrem Aussehen mußte sie über gehörige Kräfte verfügen. Als die Vorstellung beendet war, setzten wir uns an den Tisch im Wohnzimmer. „Warum haben Sie die beiden Frauen umgebracht?“ wollte Lupu wissen. „Ich habe mich vergessen, als sie sagte, daß sie die beiden Schülerinnen meldet.“ „Lügen Sie doch nicht!“ unterbrach ich sie. „Die Tatsache, daß Sie das Beil dabeihatten, beweist doch zur Genüge, daß Sie die Tat vorsätzlich begangen haben.“ „Ich hatte es nicht dabei! Ich habe es dort gefunden.“ Sie machte einen linkischen Versuch, sich zu verteidigen. „Stimmt nicht! Sie haben es am Tage des Mordes vom Scherenschleifer geholt.“ 200
Sie ließ den Kopf hängen und erwiderte nichts darauf. „Haben Sie sie umgebracht, um an das Geld für den Wohnungsverkauf heranzukommen?“ fragte Lupu. „Ja, ich habe es aber nicht gefunden. So habe ich eben die wertvolleren Sachen mitgenommen.“ „Weshalb haben Sie die Wohnungsschlüssel in der Handtasche herumgetragen?“ „Ich wollte noch einmal vorbeikommen und etwas abholen. Da ich aber zuviel zu tun hatte, verschob ich es. Ein paar Tage später, als ich mir extra Zeit dafür genommen und den Termin für eine Kundin verlegt hatte, sah ich einen Milizionär vor der Hoftür und wußte, daß ich nicht mehr hineinkommen würde.“ Ich sah sie an und sagte mir, daß sie einfach toll war. Ein solcher Fall war mir noch nicht begegnet. Mehr als vier Stunden war sie zwischen den beiden mit dem Tode ringenden Frauen herumgelaufen, plünderte mit einer verblüffenden Ruhe, behielt die Schlüssel und nahm sich noch die Zeit, ihren Raubzug fortzusetzen. Woher nahm ein einziger Mensch so viel Grausamkeit und Habgier? Noch dazu eine Frau! Anstatt zu versuchen, die abscheuliche Tat zu vergessen, war sie ständig von dem Wunsch besessen, sich die Apokalypse ihrer Opfer wieder vor Augen zu führen. Ich betrachtete ihren Gesichtsausdruck. Wie bei einer schwarzen Katze in der Dunkelheit! Mit Ausnahme der schmalen Lippen, die ein Hinweis auf eine angeborene Härte sein sollte, dem ich aber keinen Glauben schenke, war an ihrem Gesicht nichts bemerkenswert. Ansonsten hatte sie eine Unschuldsmiene, die Künstlern für sakrale Malereien als Modell dienen könnte. Da die Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit für begangene Taten Angelegenheit des Psychiaters ist, konzentrierte ich mich wieder auf meine Probleme. „Wer war der Fahrer, der Ihnen geholfen hat?“ fragte ich, da ich die Möglichkeit einer Komplizenschaft noch 201
nicht ausschloß. Sie blieb bei der ursprünglichen Aussage und behauptete, daß sie ihn nicht kannte. „Sie sagten doch, daß der Lieferwagen kein Benzin mehr hatte, als Sie ihn sahen, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete sie und sah mich unschuldig an. „Warum haben Sie denn ein Auto ohne Benzin genommen? Damit haben Sie doch wertvolle Zeit verloren. Warum haben Sie es nicht mit einem anderen Auto versucht?“ „Ich sah, daß es keine Bukarester Nummer hatte und sagte mir, daß das günstiger ist. Hätte ich ein Auto aus Bukarest genommen, so hätte die Gefahr bestanden, daß Sie mich ausfindig gemacht hätten und zu mir nach Hause gekommen wären. Für diesen Fall habe ich übrigens die Sachen im Schuppen hinter dem Holz versteckt.“ „Aus welchem Bezirk war das Auto?“ „Ich weiß es nicht. Alles, was ich behalten habe, ist, daß es kein ‚B‘, sondern zwei andere Buchstaben hatte.“ „Sie sagten, daß Sie ins Fahrerhaus des Lieferwagens gestiegen sind und gewartet haben, bis ein Fahrzeug kam, das dem Fahrer ein paar Liter abgab?“ Sie nickte. „Es war ein Bus.“ „Was für ein Bus? Ein städtischer Linienbus?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe nicht darauf geachtet.“ „Hatte er eine rote Karosserie?“ „Nein.“ „Waren Fahrgäste drin?“ „Nein, nur der Fahrer. Ich kann Ihnen nur sagen, daß der Busfahrer den Fahrer des Lieferwagens gekannt hat.“ „Ja und?“ „Als sie aufeinander zugingen, sah ich, wie sie sich umarmten und freundschaftlich miteinander redeten.“ „Kommen Sie mit!“ befahl ich ihr und stand auf. Im Schlafzimmer, wo Marieta Stanciu umgebracht worden war, deutete ich auf den Fußbodenbelag: „Erklären Sie mir, woher die Blutflecke auf dem Teppich, auf den Mo202
saikfliesen und in der Badewanne stammen. Sie haben sich doch die Hände in der Küche gewaschen, nachdem Sie das zweite Opfer umgebracht hatten?“ Sie überlegte einen Augenblick, dann meinte sie sachlich: „Ja, ich erinnere mich. Als ich nach der ersten Tour mit dem Koffer in Marietas Haus zurückkam, sagte ich mir, daß ich die Decke nicht vergessen durfte.“ „Welche Decke?“ „Die hier“, sagte sie und zeigte mir auf dem Bett eine beigefarbene Wolldecke mit breiten braunen Streifen, die auf der Liste des Diebesgutes stand und die Maier im Hause der Beschuldigten beschlagnahmt hatte. „Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Decke und den Flecken?“ wollte ich wissen. „Sie war auf dem Bett, auf dem Marieta gelegen hatte. Ich mußte sie vorziehen und waschen.“ Der Reihe nach sah ich meine Kollegen an. Sie waren ebenso erschüttert wie ich. Mir fehlten einfach die Worte über ihre grausige Erklärung. So ging ich wieder ins Wohnzimmer. Da es schon acht Uhr vorbei war, beriet ich mich mit Lupu. Wir entschlossen uns, die Untersuchung später fortzusetzen. Nachdem wir die Täterin mit einem Fahrzeug der Miliz wieder in die Untersuchungshaft bringen ließen, blieben wir noch kurz zusammen, um unser weiteres Vorgehen zu beraten. „Ihr müßt den Fahrer finden“, meinte der Staatsanwalt. „Selbst wenn er vielleicht kein Mittäter ist, brauchen wir ihn als Zeugen.“ Dieser Meinung schloß ich mich an. „Aber wie nur?“ fragte Dan entsetzt. „Sollen wir die Fahrer von Hunderttausenden von Lieferwagen überprüfen?“ „Natürlich nicht. Einfacher scheint es mir, den Busfahrer zu finden. Wenn wir die städtischen Verkehrsbetriebe ausklammern, dann können wir die Betriebe, die 203
Busse haben, an den Fingern abzählen. Dan, morgen bittest du die Verkehrspolizei um Mithilfe!“ „Morgen ist Sonntag.“ „Gut, dann eben am Montag.“ „Wann gibst du mir die Unterlagen für die Anklage?“ wollte der Staatsanwalt wissen. „Wenn ich alles ermittelt habe.“ „Was soll das heißen?“ fragte er und sah mich gereizt an. „Unser oberstes Ziel war es, die Täterin zu fassen und sie daran zu hindern, noch einmal zuzuschlagen. Da wir diese Phase erreicht haben, sehe ich keinen Grund zur Eile. Sie ist ein zu seltener Vogel, als daß ich ihn so mir nichts, dir nichts in den Käfig sperre. Ich möchte ihn lieber wie ein gewissenhafter Ornithologe erforschen.“ Lupu sah mich scharf an und versuchte vergeblich, meine Gedanken zu erraten, denn entgegen meinen Zusicherungen hatte ich überhaupt keine konkreten Vorstellungen. „Sieh aber zu, daß etwas dabei herauskommt!“ meinte er. Am nächsten Tag, es war zwar Sonntag, bestellte ich mir einen Dienstwagen. Ich setzte mich auf den Vordersitz, schlug Silvia Tomescus Terminkalender auf und gab dem Fahrer die erste Adresse an. Fünf Stunden später, als ich die Hälfte der Kundinnen der Masseuse aufgesucht hatte, war ich zufrieden. Als ich die Bilanz meiner sonntäglichen Rundfahrt zog, kam ich zu der Feststellung, daß die Beschuldigte bei allen Frauen, die sich von ihr massieren ließen, sehr geschätzt war. Keine der befragten Personen hatte bemerkt, daß ein Gegenstand aus dem Hause fehlte oder daß sie etwas für dunkle Zwecke auskundschaften wollte. Kurzum, sie hatte ausgezeichnete Referenzen. Meine Gespräche mit zwei Zeuginnen ließen mich zu 204
dem Schluß gelangen, daß die Morde zwei bis drei Wochen vorher geplant worden waren. Eine der Zeuginnen berichtete mir, daß sie vor zwei Wochen den Wunsch geäußert hatte, sich einen Kühlschrank zuzulegen. Daraufhin hatte sich die Beschuldigte erbötig gemacht, ihr einen zu beschaffen. Als sie den Typ wissen wollte, sagte ihr die Masseuse, daß sie das Modell und die technischen Einzelheiten nicht kenne, weil sie ihn erst von einer Verwandten aus der Provinz bekommen solle. Sie versicherte jedoch, daß er nagelneu sei. Die zweite Zeugin, eine Lehrerin an der Schule, die die Söhne der Beschuldigten besuchten, berichtete mir, daß die Masseuse sich angeboten hatte, ihr eine goldene „Doxa“-Uhr zu besorgen, als sie vor etwa drei Wochen darüber geklagt hatte, daß ihre Uhr nachging. Die Masseuse sagte noch, eine ehemalige Kundin wollte ihr die Uhr aus der Schweiz schicken. Vor etwa acht Tagen habe Frau Tomescu sie in der Schule unter dem Vorwand aufgesucht, sie wolle wissen, wie ihre Kinder lernten, und habe ihr die versprochene Uhr angeboten. Als die Lehrerin nach dem Preis fragte, wollte Silvia Tomescu nichts dafür haben. Die Lehrerin lehnte die Uhr als Geschenk jedoch ab, daraufhin verlangte die Masseuse nur einen lächerlichen Preis. Unter diesen Umständen wollte die Lehrerin die Uhr erst kaufen, wenn sie vom Gebrauchtwarenhandel geschätzt wurde. Von Stund an hatte sie die Masseuse nicht mehr gesehen. Da die Uhr bei der Beschuldigten zu Hause gefunden worden war und zum Diebesgut gehörte, hatte ich völlige Gewißheit darüber, daß die abscheuliche Tat vorsätzlich geplant war. Während ich zurückfuhr, sagte ich mir, daß jede Kundin von Silvia Tomescu in der Gefahr geschwebt hatte, abgeschlachtet zu werden. Allerdings kam ich auch noch zu der Erkenntnis, daß meine Annahme nicht ganz richtig 205
war. Alle befragten Frauen versicherten mir, daß ihre Familien die Masseuse kannten. So war sich diese darüber im klaren, daß ihr Überfall rasch aufgedeckt werden würde. Im Gegensatz zu der ungünstigen Ausgangssituation in den anderen Häusern waren in der Strada General Demostene alle Voraussetzungen gegeben, ihrer Grausamkeit freien Lauf zu lassen, ohne ihren Kopf zu riskieren. Obwohl mich mein Beruf schon seit langem zwingt, im Morast einiger meiner Artgenossen herumzuwühlen, hatte ich bis zu diesem Fall noch nie mit so idealen Bedingungen für die Verübung eines perfekten Verbrechens zu tun gehabt.
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ZWEITER TEIL
22 „Warum hast du mich denn nicht geholt?“ fragte Dan am nächsten Morgen, als ich ihm über das Ergebnis meiner zusätzlichen Nachforschungen berichtete. „Wenn es etwas Wichtiges gewesen wäre, hätte ich dich nicht geschont. So aber … Es war doch schließlich Sonntag, da wollte ich dich in Ruhe lassen. Hast du von der Verkehrspolizei den Fahrer des Busses ermitteln lassen?“ Als Antwort nickte er lebhaft. „Sie sagten mir, daß das bis zu zwei Wochen dauern kann. Was machen wir da?“ „Was schlägst du vor?“ „Wir machen die Unterlagen zur Überstellung ans Gericht fertig.“ „Und wenn der Fahrer ein Mittäter war?“ „Dann reichen wir für ihn eine Schuldfeststellung nach. Wie dem auch sei, die Hauptschuldige ist Silvia Tomescu. Sie kennen wir, und mit ihr beschäftigen wir uns auch in erster Linie.“ Er hatte wohl recht. Wenn man bedenkt, wie lange der Staatsanwalt zur Prüfung der Akte braucht und wie lange das gerichtspsychiatrische Gutachten dauert, das feststellen soll, ob die Täterin vor Gericht gestellt oder 207
direkt in ein Krankenhaus für Geistesgestörte eingeliefert wird, so hätten wir eine beträchtliche Atempause. „In Ordnung, Dan. Na, dann los!“ Ich hatte mir gerade wieder eine alte Akte vorgenommen, als ich unterbrochen wurde. „Chef, was machen wir eigentlich mit den Kindern?“ „Mit welchen Kindern?“ „Mit den Kindern der Täterin.“ „Was ist denn mit ihnen? Ah, du denkst wohl, daß die Tomescu nach ihrer Tat keine Möglichkeit mehr haben wird, sie großzuziehen?“ Er bejahte. „Wir werden bei der zuständigen Behörde einen Antrag stellen, daß sie sich um die Erziehung kümmert.“ „Hat sie nicht von Verwandten gesprochen?“ „Du hast recht. Vielleicht will sie einen Vormund benennen. Ruf doch an, daß die Tomescu hochgebracht wird.“ Als sie ins Büro kam, stellte ich fest, daß sie sich seit dem letzten Gespräch grundlegend verändert hatte. Ihr Zynismus und ihre auffallende Hartnäckigkeit waren der Apathie gewichen. Ich ließ sie näher treten und forderte sie auf, Platz zu nehmen. „Frau Tomescu, wissen Sie, was Sie für Ihre Tat erwartet?“ Sie zuckte kurz mit den Achseln, schlug die Augen nieder und nickte apathisch. „Da Sie minderjährige Kinder haben, müssen wir festlegen, wer ihre Erziehung übernimmt und sich um sie kümmert. Möchten Sie, daß der Staat diese Aufgabe übernimmt, oder wollen Sie einen Vormund bestimmen?“ Als sie mich ansah, standen Tränen in ihren Augen. „Lieben Sie sie sehr?“ fragte ich mitleidig. „Ja, über alles in der Welt“, brachte sie kurz hervor und brach in Tränen aus. 208
„Da kann man nichts machen. Sie haben sich das alles selbst eingebrockt.“ „Ich habe alles nur für die Kinder getan.“ „Wieso denn?“ unterbrach ich sie ärgerlich. „Ich wollte für ihre Zukunft sorgen, für den Fall, daß ich nicht mehr arbeiten kann.“ „Warum sollten Sie mit Ihren neununddreißig Jahren nicht mehr arbeiten können?“ „In letzter Zeit habe ich mich schwach und kraftlos gefühlt.“ „Nach dem Kraftakt beim Überfall und dem Raub kann man wohl nicht davon sprechen, daß sie krank und schwächlich ist“, bemerkte Dan ironisch. „Wollen Sie mir weismachen, daß der Diebstahl von Kleidern, Schuhen, Kosmetikartikeln und anderen Dingen der Ausstattung und materiellen Sicherung Ihrer Kinder diente?“ fragte ich unwirsch. Wieder senkte sie den Kopf und gab keine Antwort. „Die Tat ist nun einmal begangen, derartige Gespräche haben keinen Sinn mehr. Was machen wir also mit den Kindern? Sollen wir sie in ein Heim schicken?“ „Lassen Sie sie bitte bei meiner Schwester. Sie steht sehr gut da und hat sie sehr gern.“ „Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß der Vormund auch moralisch einwandfrei sein muß!“ „Sie ist eine anständige und ordentliche Frau. Sie hatte nie etwas mit dem Gericht zu tun.“ „Wenn Ihre Schwester damit einverstanden ist, beantragen wir, daß sie die Vormundschaft übernimmt.“ „Sie ist bestimmt einverstanden. Sie ist kinderlos und mag meine Kinder sehr.“ „Geben Sie mir bitte ihre Adresse.“ Nachdem Dan sich die Adresse notiert hatte, wollte ich aufstehen und den Unteroffizier, rufen, der auf dem Gang wartete, doch ich ließ es. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß die Angelegenheit erst halb erledigt war. 209
„Über den Verbleib der Kinder kann von einem Elternteil nur dann entschieden werden, wenn es das andere nicht mehr gibt. Ist das bei Ihnen der Fall?“ fragte ich. Sie sah mich so intelligent an, daß ich meine Frage wiederholte. „Sind Sie Witwe? Ist Ihr Mann tot?“ Sie machte eine verneinende Bewegung. „Wo können wir Ihren Mann finden?“ wollte Dan wissen. Sie zuckte mit den Achseln. „Zahlt er denn keinen Unterhalt für die Kinder? Sagen Sie uns, wo er arbeitet, wir finden ihn dann schon“, erbot sich Dan. „Sind Sie geschieden?“ fragte ich, als ich merkte, daß sie keine Anstalten machte zu antworten. Sie schüttelte mit dem Kopf und starrte wieder auf den Teppich. Ich muß zugeben, daß mich dieses Verhalten langsam auf die Palme brachte. „Silvia Tomescu, nehmen Sie den Kopf hoch und antworten Sie auf meine Frage!“ forderte ich sie in einem für meine Verhältnisse sehr offiziellen Ton auf. Sie zuckte zusammen und sah mich ängstlich an. „Was ist mit Ihrem Mann?“ „Er ist in Haft. Ich wollte Ihnen nichts davon sagen, weil ich mir dachte, daß es einen schlechten Eindruck macht“, stammelte sie ungeschickt. „Warum sitzt er?“ fragte ich und dachte: eine ehrenwerte Familie! „Gefährdung der Staatssicherheit“, antwortete sie entschuldigend. „Schon lange?“ „Seit etwa vier Jahren.“ „Zu wieviel Jahren wurde er verurteilt?“ „Ich weiß nicht genau, ich glaube zu fünfzehn Jahren.“ 210
„Wie bitte?“ fragte Dan erstaunt. „Was soll denn das heißen, ‚ich glaube‘? Waren Sie bei der Verurteilung nicht dabei?“ wollte ich weiter wissen. „Nein.“ „Warum eigentlich nicht, waren Sie mit ihm verkracht?“ fragte ich scherzhaft. „Mich hat niemand benachrichtigt, wann und wo ich hinkommen sollte.“ „Hat er Ihnen nicht aus dem Gefängnis geschrieben?“ „Ich habe keine Nachricht erhalten.“ „Ist denn so etwas möglich?“ fragte Dan und sah mich erstaunt an. Verblüfft schüttelte ich den Kopf. Ich hörte zum erstenmal von einer derartigen Verurteilung ohne Familienangehörige. „Wissen Sie, in welcher Haftanstalt er ist?“ „Woher soll ich das wissen?“ Zunächst sagte ich mir, daß ich meine Zeit nicht mit einem Problem vertun sollte, das mich nichts anging, da ich ohnehin genug Fälle zu bearbeiten hatte. Ich kam dann aber zu dem Schluß, daß mir wohl nichts anderes übrigblieb. Wenn der Vater bald entlassen wurde, ging die Vormundschaft über die Kinder natürlich an ihn über. Ansonsten müßte eben die Schwester der Täterin die Erziehung der minderjährigen Kinder übernehmen. Da ich dem Gericht nur eine Möglichkeit vorschlagen konnte, entschied ich, die beste herauszufinden. „Wie heißt Ihr Mann?“ fragte ich, während ich in meinem Schreibtischkalender herumblätterte. „Niculae … Niculae Tomescu.“ Ich nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer, die ich im Kalender gefunden hatte. „Hallo, ist dort die operative Abteilung? Guten Tag, hier ist Hauptmann Apostolescu von der Kriminalpolizei. Mich interessiert ein Bürger namens Niculae Tomescu. Ja, danke, ich warte. – Sind Sie ganz sicher?“ fragte ich eine Minute später. „Danke“, sagte ich und legte auf. 211
„Den gibt’s wohl gar nicht?“ fragte Dan. „Nein, aber vielleicht ist er bei uns registriert“, meinte ich und griff wieder zum Telefon. Auch hier das gleiche Ergebnis. Die gesuchte Person taucht zwar bei uns auf, allerdings vor etwa sechs Jahren, als sie zu drei Monaten Haft wegen Fleischschieberei verurteilt wurde. Tomescu wurde nach Verbüßung der halben Strafe freigelassen. Seither hatten wir nichts mehr mit ihm zu tun. „Wie Sie mitbekommen haben werden, erscheint Ihr Mann weder im Register des Staatssicherheitsdienstes noch in dem der Miliz. Wo hält er sich auf?“ fragte ich wieder. „Wenn es die nicht wissen, die ihn verhaftet haben, woher soll ich es dann wissen?“ Ich muß gestehen, daß mich diese zwielichtige Situation immer neugieriger machte. Ein derartiger Fall war bei mir noch nicht vorgekommen. „Dann fangen wir eben von vorn an“, meinte ich. „Erzählen Sie uns alles, was Sie über die Verhaftung Ihres Mannes wissen!“ „Vor vier Jahren, am vierten November früh, hielt vor unserem Haus ein Auto. Vier Männer fielen über uns her. Zwei von ihnen zerrten mich auf den Hof, die beiden anderen durchsuchten das Haus.“ „Und was machte Ihr Mann?“ „Ich weiß nicht. Er blieb mit den anderen im Haus.“ „Gut, reden Sie weiter.“ „Etwa eine Viertelstunde später kamen sie wieder ’raus. Einer von ihnen hatte meinen Mann am Arm gepackt, der andere zeigte den Männern, die mit mir auf dem Hof geblieben waren, einen Plastbeutel mit zwei Pistolen und einen Packen Flugblätter …“ Während sie eine Pause machte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, überlegte ich, daß schon viele Jahre vergangen waren, daß sich solche Vorfälle, wie sie 212
in den fünfziger Jahren üblich waren, nicht mehr ereignet hatten. „Als ich sah, daß sie ihn ins Auto stießen, fragte ich, wohin sie ihn bringen wollten. Einer von ihnen sagte mir, ich sollte mir meinen Mann gut ansehen, denn ich würde ihn nie wiedersehen. Und so war es auch. Ich habe ihn nicht wiedergesehen“, sagte sie und fing an zu weinen. „Haben Sie nicht versucht, sich nach ihm zu erkundigen?“ fragte Dan und wollte herausbekommen, ob sich eine Frau mit dieser Aussicht einfach abfindet. „Ich habe einen Bekannten mit guten Beziehungen darum gebeten, aber er konnte auch nichts in Erfahrung bringen.“ „Wie heißt dieser Bekannte?“ „Nicolae Vornicu.“ „Wo wohnt er?“ „Im Haus mir gegenüber, in der Nummer sechsunddreißig.“ „Erklären Sie mir doch“, verlangte Dan, nachdem er die Adresse notiert hatte, „wie die vier Männer Sie überfallen konnten, wenn Sie eine Hoftür und einen Zaun wie bei einer Festung haben.“ „Die Hoftür war noch offen, weil mein Neffe, der damals noch bei uns wohnte, gerade hinausgegangen war.“ „Wann fand die Haussuchung statt?“ „Unmittelbar nachdem mein Neffe das Haus verlassen hatte, also kurz nach halb sechs. Um diese Zeit ging Vasile jeden Tag aus dem Haus.“ „Wenn Sie nicht zur Gerichtsverhandlung Ihres Mannes waren und auch keine Nachricht von ihm erhalten haben, woher wissen Sie dann, daß er zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde?“ fragte ich sie. „Ungefähr ein Jahr nach Niculaes Festnahme kam einer von denen bei mir vorbei, die ihn abgeholt hatten, und teilte mir mit, daß er zu fünfzehn Jahren verurteilt worden ist.“ 213
„Was hat er Ihnen gesagt?“ „Nichts. Er sagte, er sei nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es den Kindern geht.“ „Hat er seinen Namen genannt?“ „Nein.“ „Auch nicht, wo er arbeitet?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Hat er Sie nochmals besucht, nachdem er sich nach den Kindern erkundigt hatte?“ „Nein, nicht mehr.“ „Gut“, meinte ich, obwohl ich das Gegenteil dachte, „dann müssen wir uns eben um Ihren Mann kümmern.“ „Merkwürdige Angelegenheit“, murmelte Dan ratlos, als wir wieder allein waren. „Faul würde ich sogar sagen! Was mich am meisten stört, ist die Tatsache, daß Niculae Tomescus Familie keinerlei Mitteilung über sein Schicksal erhalten hat. Wie ist es überhaupt möglich, daß die Gesetze der Republik mißachtet wurden? Los, wir müssen dahinterkommen!“ meinte ich entschlossen.
23 Das Auto fuhr in die Strada Hagi Moscu. Nach etwa fünfzehn Metern hielt es am rechten Bürgersteig. Gegenüber befand sich das Haus Nr. 36. Drei Häuser weiter war eine Lottoannahmestelle, genau an der Ecke der Kreuzung mit dem Bulevardul Banu Manta. Das Haus, das wir suchten, war ein hübsches kleines Häuschen mit nur einem Erdgeschoß. Rechts davon war eine Tür mit Eisengittern, dahinter ein kleiner geteerter Hof. Ich klingelte. Ein kräftiger Mann von etwa 60 Jahren ohne Kopfbedeckung machte auf und musterte uns. 214
„Was wünschen die Herren?“ „Wir möchten mit Herrn Niculae Vornicu sprechen“, erwiderte ich. „Das bin ich!“ sagte er und kam uns die fünf bis sechs Meter, die ihn vom Tor trennten, entgegen. Während er den Schlüssel ins Torschloß steckte, betrachtete ich ihn. Er hatte angegrautes gescheiteltes Haar. Zwischen seinen Wangen befand sich eine große Nase, an deren Wurzel zwei blaue Augen leuchteten. „Wir sind von der Miliz und möchten ein paar Auskünfte über eine Bekannte von Ihnen“, sagte ich, als er das Tor weit öffnete. „Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, gern. Kommen Sie doch bitte herein“, forderte er uns mit starkem moldauischem Akzent auf. Wir gingen durch mehrere Gänge hinter ihm her und kamen in ein komfortables Schlafzimmer im Stil der Jahrhundertwende. Durch eine Glastür gelangten wir in einen Raum, der als Arbeitszimmer und Empfangsraum diente. Durch das breite Fenster waren die Straße und unser Auto zu sehen, auf das Vartunian gut aufpaßte, indem er über das Lenkrad gebeugt schlief. Wir setzten uns auf zwei Sessel an einen runden Tisch, unser Gastgeber auf ein kleines Sofa. Alles war mit gelbem Plüsch bezogen. „Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so herumgeführt habe, aber das Schloß am Haupteingang ist kaputt“, entschuldigte er sich. „Womit kann ich dienen?“ „Sagen Sie uns bitte, was Sie über Silvia Tomescu wissen.“ „Sie sind …?“ „Hauptmann Apostolescu und Leutnant Simionescu von der Miliz“, sagte ich. „Sie kommen gerade richtig, Herr Apostolescu. Ich wollte mich schon erkundigen, was in Niculaes Haus vorgeht. Seit zwei Tagen geht dort die Miliz ein und aus. 215
Abgesehen davon, daß ich Trauzeuge des Ehepaars Tomescu war, bin ich auch noch Straßenbeauftragter. Daher verstehen Sie vielleicht, daß ich neugierig bin.“ Ich befriedigte seine Neugier und betrachtete dabei sein graues Hemd ohne Krawatte, über dem er eine schwarze Wollweste trug. Während ich berichtete, spiegelte sich sein Gemütszustand in seinen Augen wider. Seine Schelmenhaftigkeit ging über in Erstaunen, Ungläubigkeit und Entsetzen. Als ich schließlich mit meinem Bericht fertig war, drückte seine Miene eine Mischung zwischen Verwirrung und Abscheu aus. „Ist das Ihr Ernst? Dazu soll sie imstande gewesen sein?“ Obwohl ich von seinem Gesicht ablesen konnte, daß er alles für einen üblen Scherz hielt, mußte ich seine Frage bejahen. Da mir gar nicht gefallen wollte, wie seine rote Gesichtsfarbe der Blässe wich, wechselte ich schnell das Thema. „Herr Vornicu, entschuldigen Sie bitte meine Neugierde, aber was sind Sie von Beruf?“ „Ich war Inspektor im Volksbildungsministerium, jetzt bin ich Rentner.“ „Es heißt, gleich und gleich gesellt sich gern“, sagte ich und sah bedeutungsvoll auf das hinter ihm stehende Bücherregal voller Lederbände. „Es sieht so aus, als ob bei Ihrer Verbindung mit Familie Tomescu die Ausnahme die Regel bestätigt.“ „Sie denken da an unsere unterschiedliche soziale Stellung?“ „Ja. Wie sind Sie denn Trauzeuge geworden?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Ich höre sie mir gern an.“ „Vor vielen Jahren habe ich die beiden kennengelernt, als sie an der Straßenecke einen Gemüseladen eröffnet hatten. Dort, wo jetzt die Lottoannahmestelle ist. 216
Da ich immer bei ihnen einkaufte, freundeten wir uns etwas an. Fünf bis sechs Jahre später kauften sie das Haus Nummer fünfzehn. Da sie nicht das ganze Geld auftreiben konnten, baten sie mich, für die Differenz zu bürgen, was ich auch gemacht habe. Nachdem sie in meine Nähe gezogen waren, wurde unser Verhältnis immer enger, und wir besuchten uns auch gegenseitig. Er war ein sehr tüchtiger Mann und noch dazu Moldauer, so daß ich ihm den Wunsch nicht abschlagen konnte, ihr Trauzeuge zu werden. So kamen wir uns halt näher.“ „Was können Sie uns über das Verhältnis der beiden Ehegatten sagen?“ „Sie hatten häufig Streit, oft auch in meiner Gegenwart.“ „Wissen Sie noch, warum?“ „Niculae beklagte sich oft über Silvia. Er sagte, daß sie, anstatt zu sparen und das Geschäft voranzubringen, das Geld in Modesalons vergeudete. Manchmal nahm sie sogar Geld aus der Ladenkasse. Aus Furcht darüber, daß Silvia seine Taschen durchwühlte, kam er abends nach Geschäftsschluß gewöhnlich bei mir vorbei, um die Tageseinnahmen bei mir zu deponieren.“ „Gab es schon immer Spannungen zwischen den beiden, oder hatte sich ihr Verhältnis in der letzten Zeit verschlechtert?“ „Ich glaube, die Zwietracht wurde größer, nachdem sie das Haus gekauft hatten. Genauer gesagt, nach Abschluß des Kaufvertrages. Entgegen meinem Rat hat Niculae den Kaufvertrag nur auf seinen Namen ausfertigen lassen. Wie ich es schon vorausgesehen hatte, wurmte das Silvia.“ „Weshalb hat er es so gemacht?“ „Er behauptete, Silvia sei ein unmöglicher Mensch, und früher oder später müßte er sich ohnehin scheiden lassen. Deshalb wollte er sowenig Umstände wie möglich haben.“ 217
„Herr Vornicu“, ich kam auf das ursprüngliche Thema zurück, „was ist Ihnen über die Verhaftung Niculae Tomescus bekannt?“ „Ich erinnere mich, daß ich am vierten November, um sechs Uhr früh, von einem heftigen Klopfen an der Tür geweckt wurde. Es war Silvia. Als ich ihr schlaftrunken öffnete, sah ich, wie sie zu Tode erschrocken weinte. Als ich sie um eine Erklärung bat, sagte sie mir, daß, nachdem ihr Neffe Vasile aus dem Hause gegangen war, vier Unbekannte über sie hergefallen seien. Zwei hatten sie auf den Hof gezerrt, die anderen durchsuchten die Wohnung. Als sie das Haus wieder verließen, hatte einer Niculae am Kragen gepackt, der andere zeigte den Männern, die draußen geblieben waren und auf Silvia aufpaßten, ein paar Pistolen. Da sie sah, wie Niculae in ein auf der Straße wartendes Auto gestoßen wurde, fragte sie, wohin sie ihren Mann bringen würden. Einer der Unbekannten drohte ihr, daß man sie auch mitnehmen würde, wenn sie nicht den Mund hielt. Können Sie sich vorstellen, wie perplex ich war? Ich konnte einfach nicht verstehen, was passiert war. Ich kannte Niculae seit fünfzehn Jahren und wußte, daß das Geschäft sein einziges Anliegen war. Und nun erfuhr ich so mir nichts, dir nichts, daß er wegen unerlaubten Waffenbesitzes verhaftet worden war. Ich zog mich schnell an. Zusammen gingen wir zu ihr nach Hause, um uns den Schaden anzusehen.“ „Einen Augenblick mal!“ unterbrach ich ihn. „Da mich diese Seite Ihres Berichts ganz besonders interessiert, bitte ich Sie, wirklich nichts wegzulassen. Versuchen Sie, sich an alles zu erinnern und alles wiederzugeben, was Sie bemerkt haben, als Sie in die Wohnung von Familie Tomescu kamen.“ Einen Augenblick lang sah er mich verstört an, dann berichtete er: „Als ich ins Wohnzimmer kam, sah ich, wie sich die beiden Kinder weinend anzogen. Silvia sagte 218
zu ihnen, sie sollten aufhören zu flennen und schnell zur Schule gehen, sonst würde sie sie noch versohlen. Dann zeigte sie mir das vordere Zimmer, also ihr Schlafzimmer.“ „Sind Sie hineingegangen?“ „Nein. Ich war nur an der Türschwelle. Überall herrschte schreckliche Unordnung. Wäsche war im ganzen Zimmer verstreut. Schubladen mitsamt dem Inhalt auf den Teppich gestülpt. Alles zeugte von einer rücksichtslosen Durchsuchung.“ „Sah es im Wohnzimmer auch so aus?“ „Im Wohnzimmer?“ fragte Vornicu in Gedanken. „Nein, da habe ich keine Unordnung bemerkt.“ „Und im Zimmer zum Hof?“ „Wo ihr Neffe wohnte? Ich weiß nicht. Dort bin ich nicht drin gewesen.“ „Sprechen Sie weiter“, forderte ich ihn auf. „Nun, das ist eigentlich alles. Da ich nicht mehr wußte, was ich dort noch machen sollte, ging ich wieder. Während sie mich bis zur Tür brachte, beruhigte ich sie, denn sie war ganz aufgelöst. Ich versprach ihr, mich um ihren Mann zu kümmern. Das wollte ich auch tun, konnte allerdings nichts herausbekommen.“ „Und wo haben Sie sich erkundigt?“ „Ich bat ein paar meiner Freunde, und zwar Anwälte, herauszufinden, durch welches Gericht Tomescu verurteilt werden sollte. Doch auch sie bekamen nichts heraus. Fest stand jedenfalls, daß er nicht in der Hauptstadt verurteilt wurde.“ „Kam Ihnen das Ganze nicht etwas seltsam vor?“ „Was soll ich dazu sagen?“ fragte er verlegen. „Als Silvia mir sagte, daß er wegen Gefährdung der Staatssicherheit verhaftet wurde und es riskant ist, sich da einzumischen, machte ich mir nichts aus ihrer Warnung und bemühte mich weiterhin, herauszubekommen, wo er ist. Später merkte ich, daß sie recht hatte.“ 219
„Wie kommen Sie eigentlich darauf?“ fragte ich verwundert. „Wer kann einen Verwandten oder Freund daran hindern, sich um das Schicksal eines Menschen zu kümmern, unabhängig davon, weshalb er gesucht, verhaftet oder verurteilt wurde? Sie sind doch ein gebildeter Mann.“ „Das habe ich ja alles gewußt. Ein paar Monate später, ich glaube, es war im Frühjahr nach der Verhaftung, ließ sie mich von einem ihrer Jungen holen. Als ich zu ihr kam, führte sie mich auf den Hof und sagte mir, ich sollte mir den Zaun des rechten Nachbargrundstücks einmal genau ansehen. Hinter dem Zaun bemerkte ich zwei Männer, die uns beobachteten. Als ich mit Silvia wieder im Haus war, erklärte sie mir, daß sie ständig von den Sicherheitsorganen überwacht wurde und sie nur meinetwegen Unannehmlichkeiten hatte, weil ich mich nicht an die Warnung der Männer hielt, die ihren Mann verhaftet hatten. Da damals viele Gerüchte über Leute kursierten, die ihre Nasen in Dinge steckten, die sie nichts angingen, möchte ich Sie fragen, was Sie an meiner Stelle gemacht hätten“, sagte er und sprach weiter, ohne meine Antwort abzuwarten. „Schließlich war es Silvias Angelegenheit, herauszubekommen, wo ihr Mann ist. Wenn sie es trotzdem nicht tat, dann deshalb, weil sie besser als jeder andere wußte, weshalb Niculae verhaftet worden war. Außerdem bestätigte sich meine Annahme ein paar Monate später.“ „Inwiefern?“ „Silvia sagte mir, daß er zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Eine derartige Strafe gibt es schließlich nicht umsonst!“ „Wann hatten Sie das letztemal mit Niculae Tomescu gesprochen?“ „Am zweiten November, einem Sonntag.“ „Erinnern Sie sich noch, worüber Sie gesprochen haben?“ 220
„Schwer zu sagen. Es ist immerhin vier Jahre her“, sagte er und zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich haben wir wie immer über die Schwierigkeiten bei der Warenbeschaffung gesprochen. Doch, jetzt fällt es mir ein!“ Ich nickte und ermunterte ihn zum Weitersprechen. „Er erzählte mir, daß Zoiţa Vlase bei ihm war, die Alte, die ihn mit Hühnern belieferte. Er sollte Geld für sie aufbewahren. Etwa zwanzigtausend Lei.“ „Hörst du? Da soll noch einer sagen, die Geflügelhändler haben kein Geld!“ rief Dan scherzhaft. „Und ob sie’s haben!“ pflichtete ihm unser Gastgeber bei. „Zoiţa hatte das Geld aber nicht durch den Geflügelhandel, sondern durch den Verkauf eines Hauses auf dem Land.“ „Das verstehe ich nicht. Weshalb wollte sie das Geld ausgerechnet bei Niculae Tomescu lassen?“ fuhr ich mit meiner Befragung fort. „Aus zweierlei Gründen: Zunächst einmal galt Niculae in unserem Viertel als sehr anständiger Mann. Auch ich kann nur versichern, daß man Vertrauen zu ihm haben konnte. Zum zweiten war Zoiţas Sohn ein solcher Taugenichts, daß er es fertiggebracht hätte, ihr das ganze Geld wegzunehmen.“ „Hat Tomescu das Geld von der Alten entgegengenommen?“ „Als er mit mir sprach, hatte er es noch nicht. Die Alte sagte ihm, sie wollte am nächsten Tag, also am Montag kommen. Er wiederum wollte dann bei mir vorbeikommen und das Geld bei mir deponieren.“ „Das ist ja wirklich eine Verkettung“, meinte ich lachend. „Dem möchte ich nicht widersprechen“, sagte er und lachte auf die moldauische Art, indem er den Kopf in den Nacken warf. „Die Alte hatte Angst, daß sie von ihrem Sohn bestohlen wird, und Niculae, daß sich seine 221
Frau an dem fremden Geld vergreift. Darüber hatten wir bei unserer letzten Begegnung gesprochen. Zwei Tage später hörte ich dann von seiner Verhaftung.“ „Sie können also nicht sagen, ob er das Geld von der Alten bekommen hat“, stellte ich fest. „Natürlich nicht.“ „Haben Sie eine Ahnung, wo Zoiţa Vlase wohnt?“ „Ja, auf dem Bulevardul Nicolae Titulescu, aber ich weiß nicht, welche Nummer. Sie werden es aber leicht finden, weil sie im verkommensten Haus der Straße wohnt.“ „Können Sie uns etwas über den derzeitigen Wohnsitz von Vasile Tomescu, dem Neffen von Niculae Tomescu, sagen?“ „Wohin er gezogen ist, weiß ich nicht. Er arbeitet jedenfalls als Verkäufer in einem staatlichen Gemüseladen auf dem Markt Piaţa Amzei.“ „Wissen Sie sonst noch etwas im Zusammenhang mit Niculae Tomescus Verhaftung?“ fragte ich, bevor ich aufstand. „Vor einem Jahr fragte ich Radu, einen der Söhne Niculaes, ob es was Neues von seinem Vater gibt. Der sagte mir, seine Mutter hatte erzählt, Vater kommt erst am ‚Sanktnimmerleinstag‘ wieder. Das sage ich Ihnen im Scherz, denn man kann nicht immer glauben, was Kinder erzählen.“
24 Dank Vartunians Umsichtigkeit waren wir, wenige Minuten nachdem wir Vornicus Wohnung verlassen hatten, vor dem Hause der Frau, die zu vernehmen ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Wir kamen auf einen Hof, der so groß wie der einer 222
Herberge war. An drei Seiten war er von kleinen verfallenen Buden gesäumt. Wir erkundigten uns bei einem Lausejungen, der auf einem Zaun saß und seine Holzflinte furchterregender als John Wayne in seinen bekannten Filmen schwang. Dann gingen wir zu einer der Hütten. Die Frau, die uns die Tür aufmachte, war klein, schmächtig und mochte über siebzig Jahre alt sein. „Sind Sie Zoiţa Vlase?“ fragte ich. Sie bejahte, und als wir ihr gesagt hatten, womit wir uns beschäftigen, ließ sie uns ’rein. Sie bewohnte eine kleine Kammer, deren Einrichtung ebenso ärmlich war wie die Sachen, die sie auf dem Leibe trug. „Kennen Sie Niculae Tomescu?“ fragte ich, nachdem wir auf zwei Küchenstühlen Platz genommen hatten, die ihrem Äußeren nach schon vor dem Unabhängigkeitskrieg ausrangiert worden waren. „Ja, den kenne ich. Er war doch Händler an der Ecke.“ „Haben Sie Geld bei ihm gelassen?“ „Ja, ich habe ihm Geld gegeben. Mein ganzes Hab und Gut. Er soll zur Hölle damit fahren! Er hat eine arme Alte geprellt.“ „Wieviel haben Sie ihm denn gegeben?“ fragte Dan und unterbrach ihr Gejammer. „Alles, was ich für das Häuschen auf dem Land gekriegt habe, einundzwanzig Mille.“ „Wissen Sie noch, an welchem Tag Sie ihm das Geld gegeben haben?“ „Ich weiß es nicht mehr, ich bin doch alt und kann mir nichts mehr merken.“ „Warum haben Sie es der Miliz nicht gemeldet?“ „Seine Frau sagte mir, wenn ich’s melde, kriegt er noch mehr Zuchthaus. Ich habe ihr gesagt, daß mich das nicht interessiert, weil ich alt bin und kein Geld weiter habe. Dann sagte sie, daß, wenn ich’s nicht melde, sie sich abrackert, um mir das Geld zurückzugeben. Nichts hat sie mir zurückgegeben. Hören Sie, keinen roten Hel223
ler habe ich von ihr gesehen. Wie oft bin ich zu ihr nach meinem Geld gerannt, aber jedesmal sagte sie mir, daß nicht einmal die Kinder was zu essen haben. Ihr Mann hatte ihr nichts hinterlassen. Und so hat sie mich immer wieder vertröstet, bis mein Geld futsch war“, sagte die Alte unter Tränen. „Hat Ihnen Niculae Tomescu eine Quittung für Ihr Geld gegeben?“ fragte Dan. „Was soll ich mit so einem Wisch, wenn ich sowieso nicht lesen kann? Herr Kommissar, lassen Sie mich bloß nicht im Stich, ich bin arm und alt“, flehte sie mich an und ergriff meine Hand mit ihren runzligen, abgearbeiteten Händen. Um sie zu beschwichtigen, versprach ich ihr beim Weggehen, daß ich versuchen wollte, ihr zu helfen. Dann tat es mir aber gleich wieder leid, daß ich falsche Hoffnungen in ihr geweckt hatte. „Können wir denn etwas für sie tun?“ fragte mich Dan, als wir auf die Straße gingen. Er hatte wohl meine Gedanken erraten. „Ich glaube nicht“, brummte ich, verstimmt über den Kummer der Alten. „Das Gesetz sagt eindeutig, daß eine Schuld durch einen Beleg nachgewiesen werden muß.“ „Einverstanden, aber es gibt doch einen Zeugen!“ „Herr Vornicu hat nicht gesehen, ob die Alte Niculae Tomescu das Geld gegeben hat. Er wußte nur von der Absicht, und das ist etwas ganz anderes.“ „Dürfen wir denn zusehen, wie eine arme Frau um die Ersparnisse ihres ganzen Lebens gebracht wird?“ fragte er und sah mich zweifelnd an. „Beim gegenwärtigen Stand, wo wir nicht einmal wissen, wo sich Niculae Tomescu versteckt hält, läßt sich nichts machen. Wenn wir ihn gefunden haben, reden wir wieder darüber!“ Ich schnitt ihm das Wort ab, da ich keine Lust hatte, mich von unseren Ermittlungen abbringen zu lassen. 224
Auf der Piaţa Amzei angekommen, statteten wir dem Verkaufsstellenleiter des Gemüseladens einen Besuch ab. Wenige Minuten später lernten wir auch den Neffen des Vermißten kennen. Er war ein gutaussehender junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren. Er war groß, dunkel und machte einen aufgeweckten Eindruck. Nachdem sich der Verkaufsstellenleiter taktvoll mit der Entschuldigung zurückgezogen hatte, er hätte noch auf dem Markt zu tun, stellten wir uns vor und baten den jungen Mann, Platz zu nehmen. Er kam unserer Aufforderung nach, machte jedoch einen erschrockenen Eindruck. Wahrscheinlich dachte er, wir sind von der Wirtschaftsmiliz, die kleinen Schiebereien im Handel nachgeht. Um ihn nicht länger auf die Folter zu spannen, sagten wir ihm, womit wir uns befaßten. „Was wissen Sie über Ihren Onkel Niculae Tomescu?“ „Ich weiß, daß er vor ein paar Jahren von der Staatssicherheit verhaftet wurde.“ „Glauben Sie, daß die Staatssicherheit Grund hatte, ihn festzunehmen?“ „Ich weiß nur, daß er ein anständiger Mensch war. Aber wenn sie ihn verhaftet haben, dann wird es schon seinen Grund haben. Vielleicht war er doch nicht so, wie ich ihn kannte“, fügte er schnell vorsichtig hinzu. „Berichten Sie uns, unter welchen Umständen er festgenommen wurde.“ „Als ich zur Arbeit gegangen war, sind vier Genossen von der Staatssicherheit ins Haus eingedrungen. Nach einer Haussuchung haben sie meinen Onkel abgeführt.“ „Wenn Sie auf der Arbeit waren, woher wissen Sie dann, wieviel Männer ins Haus eingedrungen waren und was sie dort gemacht haben?“ „Warum soll ich es nicht wissen, meine Tante hat es mir ja erzählt.“ 225
„Sind Sie schon lange aus dem Haus Ihres Onkels ausgezogen?“ „Vor etwa einem halben Jahr. Ich habe geheiratet und wollte meine Frau nicht mit dorthin bringen.“ „In welchem Zimmer haben Sie gewohnt, als Niculae Tomescu verhaftet wurde?“ „Im linken, wenn man ins Haus kommt.“ „Das ist doch das Zimmer mit dem Fenster zum Hof?“ „Ja.“ „Wann sind Sie an dem Tag, als Ihr Onkel verhaftet wurde, aus dem Haus gegangen?“ „Um drei Viertel sechs.“ „Und wann sind Sie wieder nach Hause gekommen?“ „Wie immer um fünf Uhr nachmittags.“ „Wurde Ihr Zimmer auch durchsucht?“ „Nein, alles war noch so, wie ich es früh hinterlassen hatte. Auch mein Bett war noch ungemacht.“ „Wann haben Sie Ihren Onkel zum letztenmal gesehen?“ „Einen Tag vor seiner Verhaftung.“ „Unter welchen Umständen?“ „Als ich um fünf Uhr abends von der Arbeit kam, sortierte er Äpfel für den Laden. Ich habe ihm dabei geholfen.“ „Worüber haben Sie gesprochen?“ „Er sagte mir, daß er abends bei Onkel Ştefan zum zwanzigsten Hochzeitstag eingeladen war. Ich fragte ihn, ob Tante Silvia auch hinginge. Darauf antwortete er, daß sie zwar auch eingeladen ist, er sie aber nicht mitnimmt, da sie ihm nur die Laune verdirbt.“ „Haben sich die beiden oft gestritten?“ „Fast immer. Es war aber nicht seine Schuld. Sie hat immer auf ihm herumgehackt. Manchmal hat sie sogar auf ihn eingeschlagen!“ „Hat sie ihm auch mal gedroht, daß sie ihn umbringt?“ 226
„Nicht nur einmal! Auch zu mir hat sie gesagt, daß sie mich umbringen will.“ „Hatte sie etwas gegen Sie?“ „Nach der Verhaftung sagte sie mir, ich sollte ausziehen, denn ich habe dort nichts mehr verloren. Als ich ihr antwortete, daß ich schließlich im Hause meines Onkels wohne, meinte sie, daß es jetzt ihr Haus sei und ich mich aus dem Staub machen soll. Ich versuchte, ihr aus dem Wege zu gehen, aber das war nicht so einfach. Besonders in der letzten Zeit lauerte sie mir immer auf, wenn ich nach Hause kam, und stänkerte mit mir herum. Wenn ich mich in mein Zimmer verkroch und nicht darauf einging, drohte sie mir, die Scheiben einzuschlagen. Ja“, meinte er und lachte verlegen, „ich war schon bei allen Glasern bekannt wie ein bunter Hund. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als auszuziehen.“ „Wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie nach der Verhaftung Ihres Onkels noch fast drei Jahre im Hause Ihres Onkels gewohnt?“ Er bejahte. „Haben Sie in dieser Zeit bemerkt, daß Ihre Tante Männerbesuch hatte? Wissen Sie, was ich meine?“ „Ich habe viele Leute zu ihr gehen sehen, aber es waren keine Liebhaber. Nach den Worten meines Onkels war sie eine kalte Frau. Eine, die keinen Mann braucht. Ich würde sagen, daß die Leute in anderen Angelegenheiten kamen. Auf jeden Fall war es nicht das, was Sie denken!“ versicherte er mir im Brustton der Überzeugung. „Haben Sie nach Niculae Tomescus Verhaftung noch mit Ihrer Tante über sein Verschwinden gesprochen?“ „Ja, besonders am Anfang, als man noch mit ihr reden konnte.“ „Was hat sie zu Ihnen gesagt?“ „Zuerst, daß er zu zehn Jahren, und dann, daß er zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde. Letztes Jahr sag227
te sie mir, daß er amnestiert wurde und jeden Tag nach Hause kommen kann. Ich glaube aber, daß sie das nur gesagt hat, um mich ins Bockshorn zu jagen. Damit ich ausziehe.“ „Wieso ins Bockshorn jagen?“ „Sie sagte mir, daß sie dem Onkel ins Zuchthaus geschrieben hat, daß sie mein Zimmer vermieten will, weil sie wenig Geld hat, ich aber nicht ausziehen will. Er hat ihr geantwortet, daß er, wenn er nach Hause kommt und mich noch sieht, Hackfleisch aus mir macht. Natürlich habe ich sie ausgelacht, weil ich wußte, daß es eine Lüge war. Mein Onkel mochte mich nämlich, und so etwas konnte er unmöglich geschrieben haben. Um mir zu beweisen, daß sie die Wahrheit gesagt hatte, schickte sie einen ihrer Jungen mit einem Zettel zu mir, den sie angeblich gerade bekommen hatte. Als ich ihn gelesen hatte, gab ich ihn dem Kind wieder und sagte, es sollte seiner Mutter ausrichten, daß der Schwindel bei mir nicht ankommt.“ „Erinnern Sie sich noch, was auf dem Zettel stand?“ wollte ich wissen. „Natürlich! Ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir. Es war ein Stück von einem älteren Brief. Auf der Rückseite stand noch etwas drauf, ich weiß aber nicht mehr, was. Auf dem Zettel stand, daran erinnere ich mich genau: ‚Liebe Kinder, Papa wünscht euch alles Gute und küßt euch ganz lieb.‘ Darunter war Onkel Niculaes Unterschrift.“ „Haben Sie nach der Verhaftung Ihres Onkels nicht mit seinen Kindern gesprochen? Haben Sie nicht versucht herauszubekommen, wie die Haussuchung beziehungsweise die Verhaftung ihres Vaters vor sich gegangen ist?“ „Selbstverständlich! Beide Kinder sagten mir, daß sie nichts wissen, weil sie geschlafen haben. Sie haben erst davon erfahren, als ihre Mutter sie geweckt und ihnen 228
gesagt hatte, sie sollten sich anziehen und zur Schule gehen.“ „Wissen Sie, wann Ihr Onkel von der Feier zurückkam, zu der er eingeladen war?“ „Ja, denn der Hund hat gebellt und mich geweckt. Da ich wissen wollte, wie lange ich noch schlafen konnte, habe ich auf die Uhr gesehen. Es war fünf vor zwei.“ „Wie heißt und wo wohnt die Familie, bei der er eingeladen war?“ „Gut, danke“, sagte ich, nachdem sich Dan alles aufgeschrieben hatte. Als wir uns von ihm verabschiedeten und gerade gehen wollten, kam mir noch eine Idee, die einfach keinen Aufschub duldete. „Sagen Sie bitte, haben Sie an den Tagen nach der Verhaftung Ihres Onkels Veränderungen im Haus oder auf dem Hof bemerkt?“ „Ich verstehe nicht, was Sie meinen“, sagte er und machte eine Kopfbewegung. „Haben Sie gesehen, daß Möbel umgeräumt wurden, oder haben Sie Baumaterial wie Ziegelsteine, Kalk, Zement, Kies, Bretter und so weiter bemerkt?“ „Nein, überhaupt nichts!“ antwortete er erstaunt. „Wenn es solches Material gegeben hätte, hätten Sie es dann bemerkt?“ „Aber sicher! Damals bin ich durch das ganze Haus gekommen, da ich fürs Holzspalten und Heizen zuständig war!“ antwortete er scherzhaft. „Wann wurde der Hof geteert?“ fragte ich weiter. Ich bin eben hartnäckig. Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, rate ich niemandem, mich davon abzubringen. Meine kleinen grauen Zellen arbeiten nämlich nach dem System der Selbsterleuchtung. „Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Zehn Jahre lang habe ich dort gewohnt und kenne ihn nur so.“ 229
Ich bedankte mich bei ihm und entließ ihn. „Die Sache ist ziemlich verzwickt, Chef“, bemerkte Dan, als wir das Büro des Verkaufsstellenleiters verließen. „Da wir zufällig dafür bezahlt werden, zu entwirren, was andere verbockt haben, müssen wir eben unsere Pflicht tun.“ Nachmittags um drei verließen wir Ştefan Tomescus Wohnung. Das war der Onkel des Mannes, aus dessen Verhaftung ein Verschwinden geworden war. Mein letzter Gesprächspartner hatte mir lediglich bestätigt, daß Niculae Tomescu am Abend vor der „Verhaftung“ bei ihm gewesen war und bis Mitternacht mitgefeiert hatte. Als er ging, hatte er noch gesagt, daß er noch auf den Markt gehen müsse, um Ware für sein Geschäft zu besorgen. Ştefan Tomescu hatte noch erzählt, daß sich sein Neffe oft beklagt hatte, daß Silvia in die Ladenkasse gegriffen oder Schulden gemacht hatte, die er dann bezahlen mußte, um sich vor den Gläubigern nicht lächerlich zu machen. Der Streit zwischen den Eheleuten wurde also im wesentlichen durch die Art und Weise, wie Silvia Tomescu das Geld vergeudete, hervorgerufen. „Gehen wir essen, Chef?“ erkundigte sich Dan und grinste mich an wie der Vertreter eines amerikanischen Meinungsforschungsinstituts vor den Präsidentschaftswahlen. „Klar gehen wir essen, und zwar dann, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind!“ stimmte ich ihm zu. Als er daraufhin ein Gesicht zog, als hätte er eine Rolle Stacheldraht verschluckt, tat ich einfach so, als merkte ich es gar nicht, und wies den Fahrer an, uns in die Strada Hagi Moscu zu fahren.
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25 Vor dem Hause der Masseuse angekommen, stiegen wir aus und schickten Vartunian essen. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Dan war immer noch eingeschnappt, daß ich seinen berechtigten Vorschlag abgelehnt hatte, und wühlte in seinen Taschen nach den Türschlüsseln herum. Ich winkte ab, so daß er sich nicht weiter zu bemühen brauchte. „Wir fangen bei den Nachbarn an“, entschied ich und ging zum rechten Haus, der Nummer siebzehn. Da die Hoftür offenstand, gingen wir einfach hinein. Das Gebäude bestand nur aus einem Hochparterre mit Zugang über eine Außentreppe. Wir stiegen die sieben oder acht ausgetretenen Stufen hinauf und erreichten die Wohnungstür. Nachdem ich geklingelt hatte, erschien der Wohnungsinhaber. Er hieß Virgil Niculcea und hatte wohl noch fünf Jahre bis zur Rente. Ich erklärte ihm mein Anliegen, und er berichtete mir alles, was er wußte. Zu meinem Ärger war das aber nicht allzuviel. Ihm war bekannt, daß sich seine Nachbarn viel gestritten hatten. Nach Herrn Tomescus Verhaftung hatte er keinerlei Veränderungen auf dessen Hof bemerkt. Als er uns wieder zur Tür begleitete, wollte er noch wissen, ob es wahr sei, daß sich Herr Tomescu im Gefängnis aufgehängt habe. Um ihm keine falsche Auskunft zu geben, antwortete ich ihm gar nicht. Das hinderte mich nicht daran, ihn zu fragen, woher er die Nachricht über den Selbstmord seines Nachbarn hatte. Daraufhin sagte er uns, daß es ihm Silvia Tomescu vor etwa zwei Jahren erzählt hatte. „Sie ist ja ganz gut informiert für eine Frau, die nicht einmal weiß, wo ihr Mann ist“, bemerkte Dan, als wir wieder auf der Straße waren. „Das stimmt schon, aber was nützt es uns, wenn sie uns gegenüber so zurückhaltend ist. Wenn ihre Ver231
schwiegenheit die anderen Evastöchter anstecken würde, könnte man den Geräuschpegel auf dem Erdball erheblich senken“, meinte ich, als wir den Hof der Nummer dreizehn betraten. Wir waren gerade an der Veranda des Hauses, als wir hinter uns Schritte hörten. „Zu wem wollen Sie?“ fragte ein junger Mann. „Wohnen Sie hier?“ fragte ich ihn. Als er bejahte, zeigte ich ihm meinen Ausweis. Er hieß Jean Matei. Ich erklärte ihm, daß ich eine Auskunft über seine Nachbarn aus der Nummer fünfzehn wollte. Schnell schloß er die Verandatür auf und ließ uns ins Haus. Als wir uns setzten, kam auch Mateis Frau, die unsere Stimmen gehört hatte. „Was können Sie uns über die Familie Tomescu berichten?“ fragte ich zunächst. „Was ist denn eigentlich los? Warum ist denn dauernd die Miliz auf Silvias Hof?“ fragte mich seine Frau. Obwohl es nicht unsere Art ist, auf Fragen zu antworten, tat ich ihr den Gefallen und erzählte ihr, wie ihre Nachbarin unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Als ich meinen Bericht beendet hatte, waren beide kreidebleich und sahen einander bestürzt an. „Und du hast ihr noch geholfen“, brachte die Frau hervor und sah ihren Mann an. „Wobei denn?“ fragte ich. „Etwa vor einer Woche, gegen elf Uhr nachts, als ich aus der Fabrik kam. Ich bin nämlich Dreher im ‚Vulcan‘-Werk. Als ich auf den Hof wollte, hielt nebenan ein Lieferwagen, und Frau Silvia bat mich, ihr zu helfen, ein paar Sachen abzuladen. Ein Kühlschrank war auch dabei.“ „Wie sah der Fahrer aus?“ fragte Dan dazwischen. „An sein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur daran, daß er klein war und eine Baskenmütze aufhatte.“ Dan versuchte noch, ihm weitere Einzelheiten zu ent232
locken, doch viel war nicht zu machen. Der Zeuge meinte, nach einem Arbeitstag sei er zu abgespannt, um noch auf Einzelheiten wie zum Beispiel eine Autonummer zu achten. „Haben Sie Niculae Tomescu gekannt?“ „Natürlich, er war ein tüchtiger Mann. Meine Frau und ich waren sehr erstaunt, als wir von seiner Verhaftung erfahren haben.“ „Haben Sie gesehen, wie er verhaftet wurde?“ „Nein, wir haben es erst am nächsten Tag von den Nachbarn gehört.“ „Wurde Ihnen auch etwas vom Grund seiner Verhaftung gesagt?“ „Es hieß, daß er sich gegen die Staatssicherheit vergangen hatte.“ „Halten Sie das für wahrscheinlich?“ „Sonst wäre er ja nicht verhaftet worden“, erwiderte Matei. „Wenn es sich aber nur um eine Täuschung handelt?“ wollte ich wissen. „Nein, nein, davon kann keine Rede sein! Er wurde schon verhaftet“, meinte Mateis Frau ganz überzeugt. „Und woher wissen Sie denn das?“ fragte ich und wunderte mich, daß sie so fest davon überzeugt war. „Eine Woche nach seiner Verhaftung habe ich bei einem aufschlußreichen Gespräch zugehört.“ „Und wo?“ fragte ich. „Im Tabakwarenladen, der damals an der Ecke war. Wissen Sie, dort, wo jetzt die Lottoannahmestelle ist.“ Ich nickte zustimmend und verbarg meine Ungeduld. „Neben dem Tabakwarenladen war der Gemüseladen von Familie Tomescu, nur durch eine Bretterwand getrennt. Eigentlich war das Ganze ein Raum, der in zwei Teile geteilt war, einen für Tomescus Laden, der andere …“ „Ich verstehe schon!“ unterbrach ich sie. „Sie waren also im Tabakwarenladen. Und dann?“ 233
„Ich wollte gerade Streichhölzer kaufen, als Frau Silvia hereinstürmte und mit Herrn Mitică Albu, dem Tabakwarenhändler, ein Theater machte. Sie wünschte ihn zur Hölle, weil er ihren Mann an den Staatssicherheitsdienst verpfiffen hatte.“ „Und was erwiderte Herr Albu?“ „Wenn sie Streit wollte, sollte sie sich jemand anders suchen, er hätte keine Zeit für solchen Unsinn!“ „Und daraufhin ging Silvia wieder und schlug die Tür hinter sich zu?“ fragte ich und gab meiner Vermutung Ausdruck. „Genauso war es. Woher wissen Sie das?“ Sie sah mich voller Bewunderung an. In meiner Bescheidenheit erzählte ich ihr nicht, daß ich schon immer ein kleines Genie war. Dann fuhr ich fort: „Gab es oft Streit bei den Tomescus?“ „In welcher Familie gibt es keine Meinungsverschiedenheiten?“ fragte Matei gedankenverloren wie ein Philosoph. „Auch Morddrohungen?“ fragte ich zweifelnd. „Davon ist mir nichts bekannt.“ „Mir auch nicht“, versicherte uns seine Frau. „Kamen nach der Verhaftung ihres Mannes viele Männer zu Frau Tomescu nach Hause?“ „Nicht nur Männer, auch Frauen“, antwortete Frau Matei. „Das ist übrigens auch normal, wenn man bedenkt, daß Frau Silvia als ehemalige Krankenschwester außer Massagen auch Spritzen gab.“ „Waren unter den Leuten, die Frau Tomescu besuchten, auch welche, die Sie kannten?“ Die Frau schüttelte den Kopf, doch nach kurzem Überlegen meinte Matei: „Früher, etwa vor drei Jahren habe ich Herrn Tănase mit einem großen Karton unter dem Arm hineingehen sehen.“ „Wissen Sie, wo er wohnt?“ fragte Dan. „An der Ecke gegenüber der Lottoannahmestelle.“ 234
„Sind Sie im allgemeinen gut mit den Tomescus ausgekommen?“ „Ja, wie es so unter Nachbarn ist. Wir haben uns aber nicht gegenseitig besucht. Wir kauften oft in ihrem Laden und grüßten uns auf der Straße.“ „Ein einziges Mal hatte ich einen kleinen Streit mit Frau Tomescu. Ihr Hund ist auf die Straße gelaufen und hat unser Kind gebissen. Da wir aber wußten, was für ein gutes Tier Marinică war, machten wir kein Aufhebens darum. Ein paar Tage später rief mir dann Frau Silvia über den Zaun zu, ich hätte ihren Hund vergiftet. Da ich mich nicht mit ihr herumstreiten wollte, tat ich so, als hätte ich es gar nicht gehört“, meinte Frau Matei. „Haben Sie bemerkt, ob vor vier Jahren nach Niculae Tomescus Verhaftung auf dem Hof umgebaut oder gegraben wurde?“ Beide schüttelten mit dem Kopf. Ich sah auf die Uhr. Es war vier. Da die Gastgeber nichts dafür konnten, daß man in meinem Beruf manchmal auch Mahlzeiten auslassen muß, sagte ich mir, daß es an der Zeit war, wenigstens sie essen zu lassen. „Können Sie uns noch etwas über Familie Tomescu sagen?“ fragte ich, während ich aufstand. „Ich weiß nicht, ob Sie das interessiert …“, meinte die Frau. „Frau Silvia hat mich gefragt, ob ich einen Teppich kaufen will.“ „Wann?“ „Vor etwa einer Woche.“ Ich entschuldigte mich wegen der Störung und wünschte den beiden guten Appetit. Mir allerdings lief schon das Wasser im Munde zusammen. „Dan, los, wir reden noch mit den anderen Leuten, die hier wohnen!“ sagte ich und zeigte auf das Gebäude gegenüber dem Haus der Tomescus. Die Frau, die uns aufmachte, trug ein sehr schönes 235
buntes Hauskleid. Sie war nicht sehr groß, hatte rotes Haar, blaue Augen, eine Stupsnase und sinnliche Lippen. Sie war nicht älter als dreißig und attraktiv. Wir stellten uns unter den Protesten eines Hündchens, einer Mischung zwischen einem Spitz und einem Pekinesen, der zwischen meinen Beinen herumquirlte, vor. Trotz des Lärms, den der kleine Rowdy vollführte, bekam ich mit, daß unsere Gastgeberin Mia Mavrodin hieß. „Frau Mavrodin“, fragte ich, als wir in einem kubistisch eingerichteten Wohnzimmer Platz genommen hatten, „was können Sie uns über Ihre Nachbarn berichten, die gegenüber wohnen?“ „Meinen Sie Familie Tomescu?“ „Genau.“ „Ich weiß, daß sie früher einen Gemüseladen hatten. Ich habe öfters bei ihnen eingekauft. Ein paar Monate nach der Verhaftung von Herrn Tomescu wurde der Laden aber zugemacht. Was soll ich Ihnen noch sagen?“ fragte sie und lächelte mich kokett an. Ich bat sie, mir etwas über das Verhältnis der beiden Eheleute zueinander zu sagen. Ein Weilchen sah sie mich fast verlegen an und antwortete dann: „Sie haben sich ziemlich oft gestritten. Manchmal sogar im Laden.“ „Haben Sie herausbekommen, weshalb?“ „Ja, Herr Tomescu warf seiner Frau vor, Geld aus der Ladenkasse zu nehmen. Sie hingegen behauptete, er würde Geld nehmen und es seinem Bruder geben.“ „Was wissen Sie über Niculae Tomescus Verhaftung?“ „Was die ganze Straße weiß! Eines Morgens wurde er wegen Gefährdung der Staatssicherheit abgeholt.“ „Wie verhielt sich Niculae Tomescus Frau nach der Verhaftung?“ „Woher soll ich das wissen?“ fragte sie achselzuckend. „Wie jede Frau, die mit zwei Kindern zurückbleibt. Sie 236
war vergrämt. Ein paar Monate später bemerkte ich, daß sie Trauerkleidung trug. Da fragte ich einfach eins der Kinder, ob es Nachricht von ihrem Vater gab. So erfuhr ich, daß man ihn erschossen hatte.“ Ich muß schon zugeben, daß ihre Aussage mein Interesse weckte. Ich hätte ganz gern gewußt, ob er sich zuerst erhängt hatte und dann erschossen wurde oder umgekehrt. Also konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, weitere nützliche Kenntnisse zu erwerben. „Sagen Sie mir doch bitte so genau wir möglich, welche Antwort das Kind Ihnen gegeben hat“, bat ich sie, als der Hund, gelangweilt über meine Gleichgültigkeit, die ich ihm entgegenbrachte, auf meine Knie sprang. „Es sagte mir, daß seine Mutter jemandem tausend Lei gegeben hatte, um dem Vater bei der Flucht aus dem Gefängnis zu helfen. Tomescu ist aber auf der Flucht erschossen worden“, antwortete sie und sah mich verzückt an, weil ich mit dem Kläffer spielte und ihn kraulte. „Popey, belästige den Onkel nicht! Komm zu Mami!“ rief sie, aber der hörte nicht auf seine „Mami“. „Sie müssen ein sehr guter Mensch sein“, meinte Frau Mavrodin, als sie merkte, daß ich das Tier nicht gleich von meinen Knien stieß. „Wen Tiere gern haben, den haben auch die Menschen gern!“ stellte sie weise fest. Wenn sie allerdings diejenigen nach ihrer Meinung gefragt hätte, die ich schon hinter schwedische Gardinen gebracht hatte, wäre sie sicher nicht bei ihrer guten Meinung von mir geblieben. Doch ich sagte nichts. „Ich habe Tiere nun mal gern“, bemerkte ich. „Auch die Tomescus hatten einen schönen Hund, aber jemand hat ihn vergiftet. Nur ein roher Mensch kann ein so treues Tier umbringen.“ Sie seufzte. „Er soll aber Kinder gebissen haben“, gab ich zu bedenken und dachte an das, was Frau Matei gesagt hatte. „Wie sollte sich das arme Tier auch zur Wehr setzen, 237
wenn ihm die Lausejungen auf der Straße Blechbüchsen an den Schwanz gebunden haben? Es hat sich eben auf seine Weise gewehrt. Daß der Hund umgebracht wurde, geht sicher auf das Konto eines Nachbarn, den sein Geheul störte. Anstatt ihn zu vergiften, hätte er ihm lieber etwas zu fressen geben sollen. Das arme Tier war ja so ausgehungert.“ „Da haben Sie allerdings recht, meine Dame. Leider gibt es immer noch schlechte Menschen auf dieser Welt“, pflichtete ich ihr bei, setzte das Hündchen auf den Teppich und stand auf. Um halb fünf stand unser Auto vor dem Haus mit den Festungsmauern. Ich wollte Vartunian eigentlich ein Zeichen geben, daß er geduldig warten sollte, doch ich unterließ es. Mit dem Kopf auf dem Lenkrad war er so in Gedanken über unseren Auftrag vertieft, daß er mich sowieso nicht wahrnahm. „Was gibt es Schöneres auf der Welt als ein Nickerchen nach einem guten Essen!“ bemerkte Dan, ohne mich anzusehen, nachdem auch er einen Blick auf das Auto geworfen hatte. „Was würden andere darum geben, wenn sie unseren Beruf hätten … und so ihre schlanke Linie behalten!“ entgegnete ich, um ihn etwas zu ärgern. „Genau. Noch ein paar Tage nach der Methode von Hauptmann Apostolescu, und ich sehe auch ohne Einbalsamierung aus wie die Mumie des Ramses. Übrigens, wenn du dein System patentieren lassen willst, könnte ich dir mit einem Gutachten dienen. Du mußt dich allerdings beeilen, sonst muß ich es ‚post mortem‘ machen.“ „Wie geht’s denn den jungen Herren? Sie haben meine Straße wohl in Ihr Herz geschlossen?“ rief uns Vornicu von der anderen Straßenseite aus leutselig zu. „Wir versuchen, unsere Pflicht zu tun“, sagte ich und ging zu ihm hinüber. „Mein Kollege sagte mir auch ge238
rade, daß wir hier eine sehr dankbare Arbeit haben“, meinte ich und sah Dan ernst an, der wie beim Kaugummikauen schluckte. „Gut, daß wir Sie treffen! Wissen Sie, wo hier ein gewisser Tănase wohnt?“ „Der Polsterer? Natürlich weiß ich es. Schließlich bin ich ja nicht umsonst schon zwanzig Jahre lang Straßenbeauftragter!“ bemerkte er scherzhaft. „Dort“, sagte er und zeigte auf ein einstöckiges Haus an der Ecke gegenüber der Lottoannahmestelle. Ich begnügte mich mit seinen Erklärungen und schlug das Angebot des freundlichen Moldauers ab, uns zu begleiten. So verabschiedeten wir uns von ihm. An dem bezeichneten Gebäude angelangt, machten wir das Türchen in einem Lattenzaun auf und betraten den Hof. Wir fanden die Treppe, von der Vornicu gesprochen hatte, und gingen ein paar Stufen zum Souterrain hinab. Dort kamen wir an eine Tür, durch die lautstark Volksmusiktakte drangen. Ich mußte mehrmals und immer lauter an die Tür klopfen, bis diese endlich aufging. Der Typ, der seinen Kopf durch den Türspalt zwängte, hatte zerzaustes Haar und vom Schlaf verquollene Augen. „Was wollen Sie?“ brachte er schlaftrunken hervor. „Wir wollen zu Herrn Tănase!“ sagte Dan. „Das bin ich! Was ist los? Warum lassen Sie die Leute denn nicht schlafen?“ fragte er schließlich. „Wir möchten uns etwas mit Ihnen unterhalten. Miliz!“ Vor Staunen bekam er Kulleraugen und machte sie im Tempo eines Maschinengewehrs auf und zu. „Kommen Sie bitte herein“, forderte er uns schließlich auf und öffnete die Tür weit. Er war etwa 30 Jahre alt, klein und brünett. Hemd und Hose waren zerknittert und nicht gerade sauber. Ein Fuß war barfuß, am anderen trug er einen Strumpf, allerdings mit Lüftung für den großen Zeh. 239
„Machen Sie doch bitte das Radio aus“, bat ich ihn, um die unfaire Konkurrenz des Orchesters auszuschalten. Ich kam mir wie beim Rundtanz sonntags im Dorf vor. Er kam meiner Bitte nach. In dem kleinen Zimmer roch es feucht und nach abgestandenem Wein. Die allgemeine Unordnung deutete darauf hin, daß der Bewohner Junggeselle und dem Alkohol nicht abhold war. „Wissen Sie, nach der Arbeit habe ich einen Schluck mit ein paar Freunden getrunken“, wollte er uns erklären und hüllte uns in Alkoholdunst. „Ich hatte mich eben hingelegt, um mich etwas auszuruhen …“ Da ich meinen Auftrag noch nicht erledigt hatte, unser Gastgeber aber eine Alkoholfahne aushauchte, die eine Division Soldaten niedergestreckt hätte, sagte ich mir, daß ich so schnell wie möglich wieder an die frische Luft mußte. „Welche Verbindungen haben Sie zu Silvia Tomescu?“ fragte ich hastig. „Silvia Tomescu? Ich weiß nicht, von wem Sie reden!“ „Reden Sie nicht herum! Sie wissen genau, daß wir von der Nachbarin aus der Nummer fünfzehn sprechen!“ half Dan nach. „Ach, die!“ dämmerte es ihm. „Genau! Sagen Sie uns, seit wann Sie mit ihr schlafen!“ „Ich … mit der? Ich soll was mit dem häßlichen Frauenzimmer haben?“ protestierte er aufs heftigste beleidigt. „Warum verkehren Sie dann bei ihr?“ fragte ich und benutzte absichtlich das Präsens. „Sie verwechseln mich wohl mit jemand anderem. Vor drei oder vier Jahren war ich ein einziges Mal geschäftlich bei dieser Frau. Das ist alles. Seither war ich nicht mehr dort, wozu auch!“ „Und was für Geschäfte hatten Sie bei ihr zu erledigen?“ erkundigte sich Dan. 240
„Ich habe eine Couch repariert“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Das heißt, ich habe sie neu bezogen.“ „War das alles?“ fragte Dan weiter und rümpfte enttäuscht die Nase. „Ich schwöre Ihnen, das ist alles, was ich bei ihr gemacht habe.“ „Haben Sie die Arbeit vor oder nach der Verhaftung des Mannes Ihrer Kundin ausgeführt?“ wollte ich wissen. „Danach. Ich erinnere mich, daß mich die Frau gedrängt hat, die Arbeit bis zum Abend zu beenden, denn ihr Mann sollte entlassen werden und nichts davon merken. Im Haus sollte alles ordentlich sein.“ Ich beobachtete, daß er schon wieder herumdruckste, und wollte natürlich wissen, was er verheimlichen wollte. „Herr Tănase, Sie sind doch nicht ehrlich“, sagte ich. Er wollte protestieren, doch dazu ließ ich es nicht kommen. „Wenn sich das herausstellt, und ich sage Ihnen, daß die Wahrheit immer ans Tageslicht kommt, dann werden Sie wegen falscher Aussage bestraft. Überlegen Sie etwas“, redete ich ihm zu, „Sie kommen in Teufels Küche, wenn Sie eine Verbrecherin decken.“ „Verbrecherin?“ fragte er verwirrt. „Ja, Sie haben richtig gehört!“ bestätigte Dan. „Das ist doch nicht wahr, nicht möglich …“ „Überlassen Sie uns das Urteil über die Taten. Beschränken Sie sich nur auf Ihre Aussage!“ „Was soll ich Ihnen sagen? Sie ließ mich zu sich kommen und bat mich, ihre Couch aufzuarbeiten. Als wir uns über den Preis geeinigt hatten, trennte ich die Couch auf. Unterdessen ging sie Möbelstoff kaufen. Der alte Stoff war eigentlich noch gut, und wenn sie ihn abgewaschen hätte, wäre er wieder wie neu gewesen. Als ich den Stoff abhatte und die Füllung herausnahm, ‚kam 241
sie wieder zurück. Sie zeigte mir den Stoff, den sie gekauft hatte. Er war scheußlich, doch ich sagte ihr, er sei sehr schön. Weshalb sollte ich ein Spaßverderber sein, wenn ihr Geschmack nun einmal so war?“ bemerkte er und machte uns zu Mitwissern seines diplomatischen Verhaltens. Ich machte eine zustimmende Bewegung und forderte ihn gleichzeitig auf, mit seinem Bericht fortzufahren. „Während ich die Füllung von den Federn trennte, merkte ich, daß sie an manchen Stellen rot war. Als ich näher hinsah, stellte ich fest, daß es Blutflecken waren. Da sagte die Frau, die mir die ganze Zeit bei der Arbeit zugeguckt hatte, ich sollte warten, da ein Teil der Füllung auch ausgewechselt werden sollte. Nach ein paar Minuten kam sie mit einem Kissenbezug voll sauberer Füllung zurück. Sie gab sie mir und sagte, das sei bei einer Abtreibung, die sie bei einer Patientin vorgenommen hatte, passiert. Ihr Mann sollte nichts davon erfahren, da er sonst Krach schlägt. Ich fragte dann, wann ihr Mann entlassen wird. Sie sagte, am gleichen Tag abends um sieben.“ „In welchem Bereich war die Füllung mit Blut getränkt?“ „Unten, etwa dort, wo bei einem im Bett liegenden Menschen die Beine anfangen.“ „Warum wollten Sie eigentlich verschweigen, daß das Bett mit Blut beschmiert war?“ forschte ich ihn aus wie ein Finanzrevisor. „Weil mich die Kundin gebeten hatte, den Mund zu halten. Ich bin ein gewissenhafter Mensch und will niemandem schaden. Und was ging es mich eigentlich an, daß sie bei einer Frau eine Abtreibung vorgenommen hatte? Na ja, unter uns gesagt, ich habe bei meiner Frau auch schon mal was wegmachen lassen. Das ist schon lange her, als sie noch nicht mit dem blöden Schuster durchgebrannt war. Wenn Sie mich jetzt nicht wieder 242
darauf gebracht hätten, hätte ich die ganze Geschichte glatt vergessen.“ Wenn der Mann nicht so schrecklich nach Suff gerochen hätte, wäre er mir vielleicht sogar sympathisch gewesen. Besonders gefielen mir seine linkischen Versuche, mit dem rechten Fuß, durch dessen Strumpf der große Zeh hervorlugte, den nackten linken Fuß zu bedecken. Da hätte Charlie Chaplin wirklich noch einen erstklassigen Trick lernen können! „Sagen Sie, haben Sie die ganze Couchfüllung ausgewechselt?“ „Ach wo! Womit denn auch? Ich hatte doch nur zwei Kilo Füllung. Ich habe sie nur oben ausgewechselt, wo man es am meisten sieht.“ „Waren die Holzteile der Couch auch fleckig?“ „Ja, aber ich habe die Stellen abgehobelt.“ Mir tat es jetzt beinahe leid um die Manöver, die er mit dem nackten Fuß vollführte. Wenn er sich noch einen Schnupfen holte, wäre er imstande, sich mit heißem Pflaumenschnaps zu kurieren. „Ziehen Sie sich bitte an. Wir machen einen kleinen Spaziergang.“ „Wohin denn?“ fragte er erschrocken. „Ziehen Sie sich an, und nehmen Sie Ihr Werkzeug mit. Keine Angst, Sie dürfen gleich wieder nach Hause!“ beschwichtigte ihn Dan. Eine Viertelstunde später betraten wir das Wohnzimmer der Masseuse. Mit dem Polsterer gingen wir zuerst ins Kinderzimmer nach links. „Ist das die Couch, die Sie aufgearbeitet haben?“ fragte ich, um seine Glaubwürdigkeit zu testen, und zeigte ihm das blaugestrichene Bett. „Nein! Es war eine mit Furnier.“ „Ist sie das?“ Ich zeigte ihm die Couch in dem Zimmer, dessen Fenster zur Straße ging. 243
„Ja, die ist es!“ sagte er, nachdem er die seidene Bettdecke weggenommen und sich den Stoff angesehen hatte. „In Ordnung. Entfernen Sie bitte den Stoff!“ „Soll ich die Couch etwa kaputtmachen?“ Er protestierte erstaunt. Ich erklärte ihm, daß wir keine andere Wahl hätten und ich die volle Verantwortung für die Beschädigung der Einrichtung übernähme. Als der Stoff ein paar Minuten später ab war, ging ich näher heran und untersuchte die Füllung. Ich zog die obere Schicht ab und entnahm ein paar Proben, die ich in einen Plastbeutel steckte. „Gut, wir können wieder gehen!“ entschied ich und war der Meinung, daß ich mein Ziel erreicht hatte. „Morgen früh kannst du vorbeikommen und das Ergebnis abholen“, meinte Leutnant Şerban Cocea, der Leiter unseres Chemielabors, nachdem ich ihm erklärt hatte, was er mit der Füllung in dem Beutel machen sollte. „Prima! Ich warte am besten gleich darauf“, bemerkte ich und stellte mich einfach dumm. „Meinetwegen! Komm in zwei Stunden wieder.“ Er gab nach und seufzte verdrossen. „Hurra, dann können wir eine Pause machen und endlich ein Steak mit Pommes frites essen“, meinte Dan, wobei sich seine Miene zusehends erhellte. „Einverstanden!“ erklärte ich ohne Zögern. „Wie steht’s Şerban?“ fragte ich, nachdem mein Hunger gestillt war. „Das Blut ist vier bis fünf Jahre alt. Deshalb kann ich dir auch nicht allzuviel dazu sagen“, äußerte er sich vorsichtig, ohne mir gleich die gelbe Karte zu zeigen. „Was ist es für Blut? Menstruationsblut oder arterielles?“ 244
„Arterielles.“ „Blutgruppe?“ „Kann nicht mehr bestimmt werden. Das Blut ist zu alt.“ „Vielen Dank. Jedenfalls hast du mir das wichtigste gesagt.“ „Los, an die Arbeit!“ sagte Dan voller Eifer, als wir das Labor verlassen hatten. „Es ist gleich neun Uhr abends“, bemerkte ich. „Da wir nicht so gut wie Katzen sehen können, verschieben wir es lieber auf morgen.“
26 Am nächsten Morgen begab ich mich zur Inspektion. Als ich mich am Abend von Dan verabschiedet hatte, waren wir so verblieben, daß es nicht schaden könnte, wenn wir uns noch einmal mit Silvia Tomescu unterhalten würden, bevor wir uns Aufschluß über das Verschwinden ihres Mannes verschafften. „Soll ich sie holen lassen?“ fragte Dan, als ich ins Büro kam. Ich war einverstanden. Bevor ich die Nummer der U-Haft gewählt hatte, klopfte es an der Tür. „Guten Morgen!“ grüßte uns ein Unteroffizier der Verkehrspolizei. „Ich soll den Kraftfahrer Gheorghe Rădoi zu Ihnen bringen.“ Dan und ich sahen uns fragend an. „Wer mag das wohl sein?“ „Ich weiß es nicht. Oberst Iordache hat mir den Befehl gegeben, ihn herzubringen, und ich führe ihn nur aus“, meinte der Unteroffizier und zuckte mit den Achseln wie ein Schüler, der ohne Hausaufgaben erwischt wird. 245
„Bringen Sie ihn, vielleicht können wir etwas mit ihm anfangen“, bemerkte ich scherzhaft. Der Mann, der ins Büro kam, war korpulent, etwa 45 Jahre alt und hatte helle Augen. Als er sein Jägerhütchen abgenommen hatte und es verlegen in den Händen hin und her drehte, sah ich, daß er eine Glatze wie eine Billardkugel hatte. „Was führt Sie zu uns?“ „Wissen Sie, ich bin der Busfahrer …“ „Nehmen Sie Platz“, forderte ich ihn auf und erinnerte mich, daß ich eine Anfrage an die Verkehrspolizei gerichtet hatte. „Sie sind also der Fahrer, der dem Lieferwagen am neunzehnten April nachts vor der Militärakademie mit Benzin ausgeholfen hat?“ Er bejahte und blinzelte nervös. „Wer war der Fahrer, dem Sie ausgeholfen haben?“ „Ich weiß es nicht. Er winkte mir und bat mich um ein paar Liter Benzin. Das war alles. Wir Fahrer helfen uns immer gegenseitig.“ „Sind Sie sicher, daß Sie ihn nicht kennen?“ fragte Dan dazwischen. „Klar, was hätte ich davon, wenn ich Ihnen nicht sage …“ „Ich will Sie jetzt nicht danach fragen, woher Sie so viel Benzin haben, daß Sie anderen noch etwas abgeben können, aber vielleicht überlege ich es mir doch noch anders! Darüber wollen wir aber nicht sprechen“, sagte ich nachsichtig. „Als Sie sich mit dem Fahrer des Lieferwagens getroffen haben, war noch jemand dabei. Begreifen Sie?“ Er nickte. „Die gewisse Person hat uns berichtet, daß Sie sich umarmt und geduzt haben“, meinte ich. Er war still und sah nach unten. „Genosse Hauptmann, vielleicht hat er Gedächtnisschwund. Wollen wir ihn nicht so lange in U-Haft neh246
men, bis sich sein Gedächtnis wieder einfindet? Dort hat er doch Zeit zum Überlegen“, sagte Dan wohlwollend. „Ich sage Ihnen die Wahrheit!“ schoß es aus dem Fahrer heraus. „Wissen Sie, die Hilfsbereitschaft der Fahrer …“ „Die Masche kennen wir!“ Ich schnitt ihm das Wort ab. „Wie heißt er, und wo arbeitet er?“ „Er heißt Ilie Gogu und arbeitet beim Versorgungskontor in Cluj.“ „Woher kennen Sie ihn?“ „Na ja, wir waren Kollegen. Ich habe nämlich auch in Cluj gearbeitet, bevor ich hierhergezogen bin.“ „Wann haben Sie sich getroffen?“ „Gegen zehn Uhr.“ „Wer war in seinem Auto?“ „Ich glaube, es war eine Frau. Das Fahrerhaus war nicht beleuchtet, und die Straße auch nicht.“ „Sie können jetzt gehen“, sagte Dan zu ihm, als ich ihn zustimmend ansah. „Wenn Sie nicht die Wahrheit gesagt haben, kommen Sie wieder, und dann lassen wir Sie nicht so schnell wieder laufen!“ „Ich habe Ihnen aber wirklich die Wahrheit gesagt“, meinte er, stand auf und ging zur Tür. Ehe er auf die Klinke drückte, drehte er sich noch einmal um und fragte: „Was hat er denn angestellt, daß Sie ihn suchen? Ein Unfall, was?“ „Wir wollen eine Auskunft von ihm“, beruhigte ich ihn, obwohl ich mir nicht sicher war, daß die Rolle als Fahrer des Lieferwagens ihm nur die Eigenschaft eines Zeugen sicherte. „Dan, laß die Beschuldigte kommen“, sagte ich, als wir wieder allein waren. Während er in der U-Haft anrief, setzte ich mich telefonisch mit der Verkehrspolizei in Verbindung. Als die Tomescu unser Büro betrat, stellte ich fest, 247
daß sie noch apathischer und verunsicherter geworden war. Die Gewissensbisse raubten ihr wohl den Schlaf. „Ich möchte mit Ihnen über die Lage Ihres Mannes sprechen“, begann ich. „Bitte schildern Sie uns noch einmal, wie er festgenommen wurde.“ Sie wiederholte ihre Geschichte, ohne auch nur um ein Jota von der früheren Aussage abzuweichen. „Erzählen Sie uns jetzt bitte, was sich einen Tag vor der Verhaftung abgespielt hat.“ „Ich war bis sieben Uhr abends im Laden, schloß ihn dann ab und ging nach Hause. Eine Stunde später sagte Niculae, daß er zum Markt fahren wollte, um Ware für den nächsten Tag einzukaufen. Auf meine Frage, weshalb er schon so zeitig ging, antwortete er, daß er vorher noch bei seinem Onkel vorbeigehen wollte.“ „Wie heißt der Onkel?“ „Ştefan Tomescu.“ Der Name war mir bekannt, denn wir hatten den Onkel schon ausgefragt. „Um zwei Uhr nachts kam er wieder und legte sich schlafen“, fuhr sie fort. „Wie ich Ihnen schon sagte, sind dann am nächsten Tag die Genossen bei uns aufgetaucht und haben ihn verhaftet.“ „Haben Sie mit Ihrem Mann gesprochen, als er nach Hause kam?“ „Nein, obwohl er spät kam und nach Alkohol roch, sagte ich nichts zu ihm, weil ich Angst hatte, daß die Kinder wach werden.“ „Kam Ihnen nicht der Gedanke, daß er die Nacht bei einer Frau verbracht haben könnte?“ fragte ich vorsichtig. „Ich bin nicht eifersüchtig wie andere Frauen. Wäre er zu einer anderen gegangen, um so besser für mich. Dann hätte er mich wenigstens in Ruhe gelassen.“ Ich sagte mir, daß ihre Überlegung mit der Aussage des Neffen ihres Mannes übereinstimmte. Sie war frigid. 248
„Was haben Sie gemacht, nachdem Sie Ihren Trauzeugen Niculae Vornicu in Ihr Haus geholt hatten?“ „Ich ging ins Geschäft und habe bis um fünf Uhr nachmittags gearbeitet. Dann machte ich den Laden zu und ging nach Hause.“ „Sind Sie danach noch einmal in die Stadt gegangen?“ „Nein, nach der Unordnung, die die Genossen im Haus angerichtet hatten, räumte ich erst einmal auf und kümmerte mich um die Kinder.“ „Wann kam Ihr Neffe Vasile nach Hause?“ „Wie immer kurz nach fünf.“ „Wenn ich mich recht an unser letztes Gespräch erinnere, haben Sie nichts unternommen, um herauszubekommen, was mit Ihrem Mann passiert ist. Sie hatten Angst, es könnte Ihnen ebenso ergehen, nicht wahr?“ Sie stimmte mir zu. „Unter diesen Umständen ist es ja normal, daß sie das Strafmaß und den Aufenthaltsort ihres Mannes nicht kannte“, meinte Dan entschuldigend und erwies sich wie immer als guter und hilfsbereiter Mensch. „So ist es“, bestätigte sie. „Wenn Sie jetzt vielleicht auch von mir denken, daß das schlecht von mir war, so blieb mir aber nichts anderes übrig. Einesteils hätte ich ihn mit einer Nachfrage auch nicht aus dem Gefängnis geholt, andererseits hätte ich meine Freiheit aufs Spiel gesetzt. Ich konnte doch meine Kinder nicht im Stich lassen.“ Ich gab ihr ein Zeichen, daß das Verhör zu Ende war. Als sie aufstand, fragte ich streng. „Wie konnten Sie dann aber den Ausbruch organisieren, bei dem er von den Gefängniswärtern erschossen wurde?“ Sie setzte sich wieder, wich aber meinem Blick aus. „Woher wissen Sie denn überhaupt, daß er zu fünfzehn Jahren verurteilt wurde?“ „Wie haben Sie erfahren, daß er sich im Gefängnis erhängt hat?“ fragte Dan weiter. 249
Sie sah uns forschend an und erklärte verlegen: „Ich hatte Angst vor dem Klatsch der Nachbarn. Ich wollte nicht, daß das Gerücht aufkam, ich hätte meinen Mann im Stich gelassen. Wenn ich gefragt wurde, ob ich Nachricht von ihm habe, erzählte ich alles mögliche, damit sie mich in Ruhe ließen.“ Eigentlich hätte ich meine Wut zeigen müssen, doch ich beherrschte mich. Mir fiel rechtzeitig ein, daß mir schon öfter Täter begegnet waren, die Fallen umgangen, Antworten und Erklärungen gefunden hatten, mit denen sie mir wieder entwischt waren. Letztlich hatte ich sie aber doch dorthin gebracht, wo sie hingehörten. „Waren Sie noch im Bett, als die vier Männer kamen, die Ihren Mann verhaftet haben?“ „Ja. Wir wurden wach, als sie mit Fäusten an die Tür schlugen und schrien, daß wir aufmachen sollten, sonst schlagen sie die Tür ein.“ „Wer hat aufgemacht?“ „Ich. Weil ich nur den Morgenrock überziehen mußte. Niculae kam vor Schreck nicht einmal in die Hose.“ „Haben die Männer gleich, als sie reinkamen, mit der Haussuchung begonnen, oder haben sie erst erklärt, was sie wollten?“ „Ich weiß es nicht mehr. Mich haben sie jedenfalls gleich auf den Hof gezerrt.“ „Hat das Ganze lange gedauert?“ „Das kann ich nicht mehr sagen. Da ich dünn angezogen und es draußen kalt war, kam es mir wie eine Ewigkeit vor“, redete sie sich heraus. „Wie erklären Sie sich die Tatsache, daß die Männer nur Ihr Schlafzimmer durchsucht haben?“ „Woher soll ich das denn wissen?“ fragte sie verwundert. „Weil sie das, was sie suchten, bereits in unserem Schlafzimmer fanden, haben sie ihre Zeit vielleicht nicht mehr mit den anderen Räumen vertun wollen.“ Ich nickte und schloß mich zum Schein ihrer Logik 250
an. Ich machte eine größere Pause, damit sie den Eindruck gewinnen sollte, als hätte ich mich damit zufriedengegeben. Dann fragte ich weiter: „Wenn Sie aus dem Haus gezerrt wurden, warum nicht auch die Kinder?“ Verwirrt sah sie mich an. Schamhaft, wie ich es ihr überhaupt nicht zugetraut hätte, zog sie ihren Rock über die Knie. „Wahrscheinlich haben sie gesehen, daß die Kinder schliefen, und es tat ihnen leid, sie zu wecken“, antwortete sie nach langem Zögern. „Ist denn das die Möglichkeit? Vier Männer dringen in ein Haus ein, zerschlagen fast die Tür, und die Kinder schlafen trotzdem weiter? Kommt Ihnen das nicht etwas unglaubhaft vor?“ „Was soll ich dazu noch sagen? So ist alles vor sich gegangen. Ich habe die Kinder erst geweckt, als ich weggegangen bin, um unseren Bekannten zu holen.“ „Was haben Sie mit den zwanzigtausend Lei gemacht, die Ihr Mann von Zoiţa Vlase bekommen hatte?“ „Keinen Heller habe ich nach Niculaes Verhaftung vorgefunden!“ „Und weshalb haben Sie dann der Alten versprochen, ihr das Geld zurückzugeben?“ „Ich hatte Angst, daß Niculae noch eine zusätzliche Strafe bekommt, wenn die Alte es bei der Miliz meldet.“ „Hören Sie“, sagte ich und machte eine Pause, „warum haben Sie Ihren Mann umgebracht?“ „Ich? Bei allen meinen Sünden! Wie können Sie mir nur so etwas zutrauen? Ich soll den Vater meiner Kinder umgebracht haben?“ protestierte sie und schluchzte ziemlich überzeugend. „Machen Sie uns doch nichts vor, und antworten Sie!“ „Das ist nicht wahr! Nicht ich habe ihn umgebracht, sondern die, die ihn verhaftet haben. Jetzt wollen Sie mir die Schuld in die Schuhe schieben für das, was die angerichtet haben!“ ereiferte sie sich. 251
„Hör dir nur diese Unverschämtheit an!“ meinte Dan aufgebracht. Ich gab ihm ein Zeichen, daß er ruhig bleiben sollte, und fuhr fort: „Es nützt nichts, wenn Sie leugnen. Wir wissen, daß Sie Ihren Mann umgebracht haben. Warum haben Sie es getan?“ „Sie lügen! Ich habe ihn nicht umgebracht!“ schrie sie außer sich. „Warum war denn dann das Bett Ihres Mannes voller Blut?“ „Ach, das hat Ihnen wohl der Polsterer erzählt …“ Ihr ging ein Licht auf. „Das ist bei einer Ausschabung passiert … Nach der Abtreibung hatte die Patientin einen Blutsturz.“ „Wie heißt die Frau, bei der Sie die Ausschabung vorgenommen haben?“ „Ich bin doch nicht so dumm und sage es Ihnen. Ich will mich doch nicht noch mehr belasten!“ „Und wenn ich Ihnen nun sage, daß wir herausbekommen haben, von wem das Blut auf dem Bett ist? Es ist nämlich arterielles Blut und nicht von irgendeiner Abtreibung!“ „Das stimmt nicht! Das ist eine Lü…“, widersprach sie erregt. „Jetzt reicht’s uns aber!“ bremste ich sie und gab Dan ein Zeichen, sie dem Unteroffizier von der U-Haft wieder zu übergeben. „Die ist ganz schön unverschämt!“ brummte Dan wütend. „Gehen wir wieder an unsere Arbeit!“ sagte ich verärgert und sprang von meinem Stuhl auf. Während Dan aufschloß, sah ich geistesabwesend auf das Schildchen am Tor mit der Aufschrift „Vorsicht, bissiger Hund“. „Wo fangen wir an?“ Dan riß mich aus meinen Gedan252
ken, als wir auf den Hof gingen. „Dort, wo wir gerade sind“, sagte ich und betrachtete den Belag des Hofes aufmerksam. Lange ließ ich meinen Blick nicht dort verweilen. Das einheitliche Aussehen der Teerdecke ließ den sicheren Schluß zu, daß nach dem Verguß nicht mehr gegraben oder der Belag erneuert wurde. Hinter dem Haus sah ich mir die Kellertreppe an und ging in den Schuppen, in dem das Diebesgut aufbewahrt worden war. Von der Schwelle aus ließ ich meinen Blick über das Dach und die Bretterwände schweifen. Aber auch damit hielt ich mich nicht lange auf. Die Bretterwände waren so dünn, daß sie meine Aufmerksamkeit nicht auf sich zogen. Übrigens gebe ich zu, daß ich mit einer vorgefaßten Meinung gekommen war. Dan und ich konzentrierten uns ganz und gar auf den festgestampften Boden voller Holzspäne. Nachdem wir den Boden einschließlich des Teils, auf dem das Brennholz und die Kohlen gestapelt waren, Stück für Stück untersucht hatten, gingen wir wieder auf den Hof. Da ich nun schon einmal am Keller war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal hineinzugehen. Ich knipste die Taschenlampe an und sah mir besonders die Backsteinwände und die Treppenstufen an. „Jetzt können wir die Wohnung unter die Lupe nehmen!“ entschied ich, als ich wieder auf dem Hof war. Im Haus untersuchten wir über zwei Stunden lang jeden Quadratzentimeter Oberfläche vom Blechdach bis zu den Fußbodendielen der Wohnung. Weder in den Wänden noch unter dem Fußboden fanden wir ein Versteck. Entmutigt ließen wir uns in dem Zimmer nieder, in dem die vom Tapezierer zerlegte Couch stand. Ich setzte mich auf eine Ecke der Couch, Dan auf die Frisierkommode. In Gedanken versunken sahen wir uns wie durch eine Scheibe an, ohne uns gegenseitig wahrzunehmen. 253
„Wenn wir Tomescus Leiche nicht finden, stehen wir wieder da wie vorher, ehe wir von seinem seltsamen Verschwinden erfahren haben“, murmelte Dan. Ich nickte. Um jemanden des Mordes anzuklagen, bedarf es zuallererst des Corpus delicti, also der Leiche des Opfers. „Wir müssen sie unbedingt finden, Dan.“ „Und wenn unsere Einbildung uns nun einen Streich spielt. Außer unseren Vermutungen besteht der einzige gegenständliche Beweis nur aus den Blutspuren in der Sprungfedermatratze der Couch, und auch das kann in Zweifel gezogen werden! Solange die Blutgruppe anhand der Reste nicht festgestellt werden kann, ist nicht nachzuweisen, daß das Blut von dem Vermißten stammt!“ sagte er und spielte gelangweilt mit ein paar Fläschchen aus der Schublade der Frisierkommode, auf der er saß. „Dan, ich möchte, daß auch du davon überzeugt bist, daß wir nicht irregehen. Obwohl wir die Schuld nicht beweisen können, verfügen wir über Informationen, die unsere Annahme bestätigen und rechtfertigen. Erstens, obwohl die Initiatoren der Haussuchung nach Silvia Tomescus Angaben einen Höllenlärm veranstaltet haben, haben die Nachbarn nichts gehört, und die Kinder haben weitergeschlafen. Zweitens, die ganze Geschichte hat sich zwischen drei Viertel sechs, als der Neffe des Vermißten aus dem Haus ging, und sechs abgespielt, als Niculae Vornicu von der Tomescu. aus dem Bett geholt wurde. Wenn die Unbekannten, die Niculae Tomescu mitgenommen haben, fünf Minuten nachdem der Neffe weggegangen war, ins Haus eindrangen, so bleiben der Tatverdächtigen noch fünf Minuten, um sich anzuziehen und die Kinder zu wecken, und weitere fünf Minuten, um zu ihren Bekannten zu gehen und über den Vorfall zu berichten. Daraus ergibt sich ein zeitliches Problem. Wann fand denn nun eigentlich die Haussuchung statt? Selbst wenn das Corpus delicti gleich gefunden worden 254
wäre, hätte die Durchsuchung trotzdem noch fortgesetzt werden müssen, um festzustellen, ob es nicht noch andere, ähnliche Dinge gab. Falls du vergessen haben solltest, daß ein derartiger Vorgang seinen Abschluß mit einem Protokoll findet, erinnere ich dich hiermit daran! Ebenso möchte ich auf die Tatsache hinweisen, daß selbst eine oberflächliche Haussuchung mindestens eine halbe Stunde dauert. Na?“ Dan pflichtete mir bei, dann fuhr ich fort: „Drittens, und das ist das wichtigste: Wenn der Vorgang weder bei uns noch beim Staatssicherheitsdienst registriert wurde, ist doch sonnenklar, daß es ihn überhaupt nicht gegeben hat! Viertens, und nun kannst du noch die anderen Dinge hinzufügen wie zum Beispiel, daß Niculae Tomescu und Zoiţa Vlases Geld verschwunden sind, und eventuell die Blutspuren an der Matratze“, sagte ich und klopfte mit der Hand auf die Couch. Dan war sehr damit beschäftigt, die Fläschchen mit der einen Hand in die Luft zu werfen und mit der anderen wieder aufzufangen. Herablassend meinte er: „Wenn Bobby Fischer erfahren würde, welche Schwierigkeiten und Umstände unsere Richter machen, würde er vor Neid seine Fäuste auffressen. Glaubst du, daß du ihnen Mutmaßungen statt handfester Beweise präsentieren kannst?“ „Sag mal, wirst du nun eigentlich für Zirkusnummern bezahlt? Laß doch endlich die verfluchten Fläschchen in Ruhe!“ sagte ich, stand auf und riß sie ihm wütend aus der Hand. „He, setzt du dich etwa über Kritik von unten nach oben hinweg?“ fragte er erstaunt und sah mich mit seinen pfiffigen blauen Augen scharf an. „Dan, wir müssen die Leiche finden, ich bin fest davon überzeugt, daß Tomescu umgebracht wurde“, sagte ich und fand wieder zu mir selbst. „Wo sollen wir sie denn finden? Wie du gesehen hast, kann sie nicht im Hause sein. Wenn sie die Leiche weg255
geschafft hat, sehe ich nach vier Jahren keine Möglichkeit mehr, sie wiederzufinden.“ „Wohin sollte sie ihren Mann denn gebracht haben? Und wie denn? Der Mord geschah zwischen zwei Uhr nachts, als Tomescu nach Hause kam, und sechs Uhr morgens, als sie Vornicu mitbrachte. Um diese Zeit sind die Straßen leer, eine Streife wäre leicht auf sie aufmerksam geworden.“ „Und wenn sie ihn in einen Teppich gewickelt hat?“ „Das wäre doch noch auffälliger gewesen. Um diese Zeit werden Teppiche weder gekauft noch zur Reinigung gebracht. Wenn wir an diese Möglichkeit denken, stellt sich die Frage, wer ihr dabei geholfen hat.“ „Ein Komplize, vielleicht ein Liebhaber. Solche Fälle hat es doch schon gegeben!“ „Das paßt nicht so recht zu ihrem Naturell, und ihr Vorgehen in der Strada General Demostene deutet darauf hin, daß sie lieber allein ‚arbeitet‘.“ „Was sie nicht daran gehindert hat, einen wenn vielleicht auch unfreiwilligen Komplizen zu finden. Nennen wir es ruhig unfreiwillig, denn wir haben noch keinen Aufschluß über die Rolle des Lieferwagenfahrers.“ „Nehmen wir an, du hast recht. Wie hat sie dann die Leiche beiseite geschafft?“ „Der Ermordete wurde zunächst einmal zum Tor gebracht, und dann ist der Komplize bis vors Haus gefahren. Beide paßten auf, daß niemand kam, und ab ins Auto mit der Leiche. Dann eine vorher ausgehobene Grube, ein alter Brunnen, ein See oder was weiß ich …“ Ich sah ihn an und malte mir die Szene aus. „Wenn dir die Geschichte mit dem Geliebten als Komplize nicht gefällt, dann nimm an, es sei ein bezahlter Komplize gewesen. Schließlich hatte sie ja Zoiţa Vlases Geld“, meinte er mit dem Gleichmut eines Busfahrers, der von der Haltestelle abfährt, obwohl Fahrgäste einsteigen wollen und der Bus noch leer ist. 256
„Deine Variante gefällt mir nicht, Dan“, bemerkte ich. „Du hast dir die ungünstigste ausgesucht! Wenn wir ihr nachgehen, müssen wir die Ermittlung einstellen. Wir dürfen aber nicht aufgeben!“ „Chef, es geht doch nicht darum, ob uns etwas gefällt oder nicht. Eine begangene Tat ist eben eine begangene Tat. Wenn der Ermordete aus dem Haus geschleppt wurde, bleibt uns eben nichts anderes übrig, als die Liste der in der betreffenden Zeit nicht identifizierten Leichen durchzugehen. Diese Spur könnte zum Ergebnis führen, allerdings nur dann, wenn der Ermordete in Sichtweite gelassen wurde. Das kommt mir aber wenig wahrscheinlich vor. Ich würde sagen, daß wir auf jeden Fall Nachforschungen anstellen sollten.“ „Einverstanden, aber erst später“, sagte ich, ehe ich richtig einverstanden war. Ich merkte nämlich, daß sich mein siebenter Sinn zu Wort meldete. „Ich glaube, der Ermordete ist hier.“ „Also fangen wir wieder von vorn an?“ fragte er und stöhnte. „Sie hatte doch gar keine Zeit, die Leiche wegzubringen.“ „Gibt’s für diese Behauptung irgendwelche Argumente?“ „Tomescu konnte erst ermordet werden, nachdem er eingeschlafen war. Wenn er wach gewesen wäre, hätte er sich doch nicht wie eine Fliege erschlagen lassen.“ „Alles andere ist absurd. Aber was hat es damit auf sich?“ „Also nach halb drei, na gut, sagen wir um drei.“ „Nehmen wir an um drei Uhr.“ „Wie lange hat wohl das Opfer dort gelegen, wenn man die Menge Blut berücksichtigt, die in die Couch geflossen ist?“ „Schwer zu sagen. Wir haben es hier mit der Funktion einer Funktion zu tun. Weder wissen wir etwas über die 257
Waffe noch über die Wunde. Wenn seine Halsschlagader getroffen wurde, reichte eine halbe Stunde. Wenn er erstochen wurde und der Tod oder die Blutgerinnung sich verzögerten, kann es sogar achtundvierzig Stunden gedauert haben. Also?“ fragte er achselzuckend. „Bei der Mordwaffe tippe ich auf ein Beil. In der Strada General Demostene ist sie äußerst geschickt damit umgegangen.“ „Ausgeschlossen! Der Mittelpunkt des Flecks liegt im zweiten Drittel. Wir sollten lieber von einem Stich in den Unterleib ausgehen!“ meinte er voller Überzeugung. Diese Einzelheit war mir entgangen. Obwohl ich Niculae Tomescu nie gesehen hatte, stellte ich ihn mir nur in der Lage vor, in der sich die Lehrerin Marieta Stanciu befunden hatte. So logisch Dans Idee auch sein mochte, sie stimmte nicht mit meiner Vorstellung überein. „Hilf mir bitte die Couch umdrehen“, sagte ich zu ihm, stand auf und zog die Couch aus. Als ich sie so weit umgedreht hatte, daß ich die zur Wand stehende Seite ansehen konnte, gab ich Dan zu verstehen, daß er das gleiche tun sollte. „Begreifst du nun?“ „Du hast recht! Die Couch hat zwei Seitenwände. Wenn sie verkehrt ’rum steht, ist der untere Teil die Stelle, auf der der Kopf lag“, stimmte er mir zu. „In Ordnung. Wenn wir nun annehmen, daß Niculae Tomescu die gleichen Schläge wie den beiden anderen Opfern versetzt wurden, wie lange hat er dann im Bett gelegen?“ „Mindestens zwei Stunden.“ „Sehr gut. Das würde ich auch sagen. Also wurde Tomescu früh um drei umgebracht und lag bis um fünf im Bett.“ „Um fünf Uhr steht der Neffe auf und geht um drei Viertel sechs weg. Zwischen drei Viertel und um sechs findet die angebliche Haussuchung statt, werden die Kin258
der geweckt und Vornicu geholt, nicht wahr?“ schlußfolgerte Dan und nahm meine Überlegung vorweg. „Genau! Also blieb ihr überhaupt keine Zeit, ihr Opfer wegzubringen.“ „So wie du das Mosaik zusammengesetzt hast, hätte sie die Leiche vor fünf Uhr noch weniger wegschaffen können, weil sie den Neffen womöglich geweckt hätte. Die Überlegung ist richtig, das gebe ich zu. Etwas fehlt allerdings, das muß ich dir schon sagen. Und dadurch stürzt vielleicht dein ganzes Gebäude ein.“ „Irrtum, Dan! Vasile Tomescu konnte gar nicht ihr Komplize sein! Der Streit, der sich zwischen ihnen unmittelbar nach der ‚Verhaftung‘ entspann, schließt die Möglichkeit einer vorherigen Absprache, wie sie Banditen vor ihrer Tat treffen, aus. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß der Neffe keinerlei Nutzen aus dem Verschwinden des Ermordeten gezogen hätte, im Gegenteil.“ „Angenommen, deine Vermutung ist richtig, dann ergibt sich, daß das Opfer noch bis drei Viertel sechs, bis der Neffe ging, im Bett gelegen hat. Und dann?“ „In der darauffolgenden Viertelstunde, bis sie Vornicu geholt hat, hat sie ihn irgendwo verstaut. Vielleicht im Keller, im Schuppen oder in einem Kleiderschrank.“ „Sie hatte also höchstens drei Tage Zeit, ihn endgültig wegzuschaffen.“ „Ausgeschlossen! Nachdem sie die ganze Straße durch ihre erfundene Geschichte auf sich aufmerksam gemacht hatte, konnte sie sich nicht mehr erlauben, sich mit einem großen Koffer oder Bündel sehen zu lassen.“ „Na gut, dann ist er eben hier. Aber wo?“ Darauf konnte ich ihm auch keine Antwort geben. Zum x-ten Male versuchte ich, mich in die Täterin zu versetzen. Dabei wollte ich herausbekommen, wie ich an ihrer Stelle vorgegangen wäre. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mir das Gehirn zermarterte, während ich mit 259
den Ampullen herumspielte, die ich Dan weggenommen hatte. Ich sah ihn nicht mehr an. Er allerdings beobachtete mich belustigt. Um mich nicht geschlagen zu geben, tat ich ganz ernsthaft so, als wollte ich die Aufschriften auf den Ampullen entziffern. „Morphium!“ rief ich plötzlich und sprang auf. „Wo hast du die denn gefunden?“ Zunächst erstarb sein Lächeln, dann fuhr er hoch und zog die Schubladen der Frisierkommode heraus. Die dritte Schublade nahm er ganz heraus und stellte sie auf den Tisch. Außer den Spritzen und Medikamenten ohne besondere Einnahmevorschrift zählte ich 62 Ampullen Morphium. Meine Nase hatte großes Glück, daß sie für meine Zähne unerreichbar war. Sonst hätte ich sie mir vor lauter Wut sicher abgebissen. Nach so viel Kopfzerbrechen fehlte mir nur noch ein Rauschgiftfall! „Eigenbedarf oder Handel?“ fragte Dan. So gütig, wie ich ihn ansah, kapierte er, daß er mich besser in Ruhe ließ. Und das tat er auch, aber nicht lange. „Dann müssen wir uns eben einen Spürhund zulegen.“ „Gratuliere!“ rief ich verächtlich. „Hast du schon einmal gehört, daß ein Polizeihund vier Jahre alte Spuren wittert?“ Hm, ein Hund! dachte ich verärgert. Was für eine Frage! Hund? Hund, Hund … Plötzlich kam Bewegung in mein Gehirn. „Was ist denn jetzt los?“ fragte Dan, wahrscheinlich weil er eine Veränderung in meinem Gesicht bemerkte. „Dan, bleib hier! Ich bin gleich wieder da“, sagte ich und stürzte zur Tür hinaus. Ich ging über die Straße und klingelte bei Mia Mavrodin. Als sie aufmachte, war sie offensichtlich sehr erfreut über meinen Besuch. Ihr Pekinesenspitz auch, denn er 260
sprang an mir hoch und wedelte mit dem Schwanz. Ich merkte nicht einmal gleich, daß ihre Augenlider blauer als ihre Augen waren, was ihr gar nicht so schlecht stand, und daß sie einen ziemlich durchsichtigen Morgenrock trug, durch den sich ihre Figur sehr gut abzeichnete. Zugegeben, ihre Figur erfüllte schon die Bedingungen für einen Miß-Universum-Wettbewerb. „Frau Mavrodin, entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie schon wieder störe.“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich freue mich sehr über Ihren Besuch. Bitte treten Sie doch näher“, unterbrach sie mich strahlend und machte die Tür weit auf. „Ich bin untröstlich, daß ich mich nicht länger bei Ihnen aufhalten kann. Ich bin nämlich in großer Eile. Der Dienst, wissen sie …“ „Und dabei habe ich eine Flasche ‚Metaxa‘ bekommen“, meinte sie enttäuscht. „Sie sind zu liebenswürdig. Das nächste Mal mit dem größten Vergnügen“, sagte ich, um sie nicht mit einer glatten Ablehnung vor den Kopf zu stoßen. Da mein Versprechen ihre gute Laune wiederhergestellt hatte, kam ich zur Sache. „Könnten Sie mir sagen, wann der Hund von Familie Tomescu vergiftet wurde?“ „Etwa eine Woche nach Herrn Tomescus Verhaftung.“ „Hat der Hund viel gebellt und geheult?“ „Nein, es war ein ganz artiger Hund. Er fing an zu heulen, weil er vernachlässigt wurde. Das arme Tier war ja ganz ausgehungert.“ „Hat er vor der Verhaftung Ihres Nachbarn auch vor Hunger geheult?“ „Nein, überhaupt nie!“ Da ich herausbekommen hatte, was ich wissen wollte, bedankte ich mich bei ihr und ging wieder. Als ich wieder auf der Straße war, stattete ich der 261
Nachbarin noch einen Besuch ab, deren Kind von dem Hund gebissen worden war. Ich stellte ihr die gleichen Fragen wie Frau Mavrodin. Ihre Antworten stimmten mit denen der Schönen aus dem Haus gegenüber überein. Als ich wieder in Tomescus Haus war, sagte ich zu Dan, er sollte abschließen und mitkommen. Vasile Tomescu stand vor einer Tonne und verkaufte gerade Obst. Ich nahm ihn beiseite und erklärte ihm, was ich von ihm wissen wollte. „Ja, das stimmt. Nach der Verhaftung meines Onkels wollte der Hund nicht mehr fressen, und nachts heulte er zum Steinerweichen. Deshalb haben ihn die Nachbarn sicher auch vergiftet.“ „Hat er vorher auch schon geheult?“ „Nie so wie in seinen letzten Tagen.“ „Heulte er auf dem ganzen Hof, oder zog er eine bestimmte Stelle vor?“ „Es ging wie mit dem Teufel zu. Er schien es mit mir zu haben. Er stemmte sich unter mein Fenster und heulte, bis ich wach war. Ich verscheuchte ihn, doch er kam wieder. Wenn ihn mein Onkel nicht so gern gehabt hätte, hätte bestimmt ich ihn vergiftet. Sie können sich vielleicht ausmalen, was es bedeutet, wenn man nach einem Arbeitstag nicht schlafen darf.“ „Saß er genau unter Ihrem Fenster?“ „Ja, auf der Falltür zum Keller. Wahrscheinlich hat ihm die Nässe nicht gefallen.“ Ich hatte alles erfahren, was ich wissen wollte.
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27 Bevor ich in den Keller ging, schraubte ich noch schnell eine Birne aus einer Lampe in der Wohnung heraus. Nachdem Dan sie in die an der Decke hängende Fassung geschraubt hatte, betätigte ich den Schalter, und der Keller war viel besser beleuchtet, als wir es mit unseren Taschenlampen vermocht hätten. Dann machten wir uns an die Arbeit. Wir begannen mit der linken Wand. Ich besah mir das Regal mit leeren Flaschen und untersuchte die Haken, mit denen es an der Wand befestigt war. „Dem Rost und Schimmel nach zu urteilen wurden sie jahrzehntelang nicht angerührt“, meinte Dan. Der Meinung war ich auch und drehte mich zur Wand gegenüber der Tür um. Ich sah mir die Ziegelsteine genau an. Die einheitliche Färbung des Mörtels schloß die Möglichkeit, daß in den letzten Jahrzehnten daran herumgemauert wurde, aus. Dann ging ich zur rechten Wand und sah mir die leeren Bottiche an, von denen sie gestützt wurde. „Wir müssen sie einfach auf die andere Seite räumen“, schlug ich vor und faßte den obersten Bottich an. Nachdem wir die Bottiche auf die andere Seite gebracht hatten, sah ich mir die Ziegelsteine der Wand an. Wie an den zuvor untersuchten Steinen waren keinerlei Veränderungen festzustellen. Dann besah ich mir den Fuß des Mauerwerks. Der Boden war mit Hobelspänen bedeckt, die ich mit dem Schuh beiseite stieß. „Dan, im Schuppen stehen an den Kohlen zwei Schaufeln“, sagte ich. Dan drehte sich um und ging zur Kellertreppe. Als er eine Minute später mit den Geräten wiederkam, zogen wir unsere Jacken aus und fingen an zu graben. Als wir einen halben Meter tief waren, merkte ich, wie die Schaufel auf etwas Hartes stieß. Ich grub vorsichti263
ger weiter und erblickte einen vergilbten Fußknochen, dann den ganzen Knochen des Beins eines Erwachsenen. Ich hörte auf, denn ich wußte Bescheid. Als ich wieder auf der Straße war, machte ich die Autotür auf. Ohne mich bei Vartunian zu entschuldigen, daß ich ihn aus dem Schlaf riß, benachrichtigte ich per Funk den Staatsanwalt, den Gerichtsmediziner und die Miliz. Die Benachrichtigten kamen in der umgekehrten Reihenfolge meiner Benachrichtigung. Nachdem ich den Unteroffizieren vom Revier erklärt hatte, was sie tun sollten, exhumierten sie die Überreste des Ermordeten. Dann kam Dr. Capolide. Als ich ihn ins Bild gesetzt hatte, ging er in den Keller, um der Arbeit der Unteroffiziere beizuwohnen. Kurz darauf traf auch Staatsanwalt Lupu ein. „Du hast dir richtig angewöhnt, mich noch fünf vor halb vier kurz vor Dienstschluß mit Arbeit zu belästigen“, meinte er und machte ein Gesicht, als hätte er einen Liter Essig geschluckt. „Das habe ich durch Hartnäckigkeit und Gleichmut erreicht, obwohl ich kein Yogaanhänger bin“, sagte ich freundlich lächelnd. „Weshalb hast du mich denn jetzt gerufen? Leidest du wieder an Hirngespinsten?“ fragte er mich unwirsch. „Na, so etwa. Komm, wir gehen ins Haus und unterhalten uns etwas“, schlug ich vor. „Ich höre!“ meinte er in einem Ton, der darauf hinweisen sollte, daß er nicht zum Scherzen aufgelegt war. Dann setzten wir uns an den Wohnzimmertisch. Ich berichtete ihm alles von dem Zeitpunkt an, als wir festlegen wollten, wer die Vormundschaft über die Kinder übernehmen sollte. Dann erzählte ich ihm noch das Märchen von Tomescus Verhaftung und schloß meinen Bericht mit dem Hinweis, womit Dr. Capolide und die Unteroffiziere vom Revier gerade beschäftigt waren. 264
Während ich sprach, spiegelte Lupus hageres Gesicht, über das seine lange dünne Nase wie ein Leuchtturm wachte, nacheinander wider, was ihm bei meinem Bericht durch den Kopf ging. Anfangs war er ungeduldig und versuchte mehrmals vergeblich, mich zu unterbrechen, dann horchte er auf und wurde schließlich gereizt. Als ich fertig war, schien er mehr k. o. zu sein, als wenn ihm Joe Frazier mit der Rechten einen Kinnhaken verpaßt hätte. Wir waren nun beide still, doch aus unterschiedlichen Gründen. Ich hatte Sendeschluß, er aber konnte sein Programm noch nicht beginnen, weil er anscheinend nicht mehr wußte, wo er die Gebrauchsanweisung für seine Stimmbänder gelassen hatte. „Phantastisch“, stellte er ein oder zwei Minuten später fest und starrte mich entsetzt an. „Bei dieser Grausamkeit müssen wir in Betracht ziehen, mit welcher Kaltblütigkeit sie die gräßliche Tat vertuscht hat. Wenn ihr beim Doppelmord in der Strada General Demostene in erster Linie ein günstiger Umstand zu Hilfe kam, nämlich der, daß niemand sie kannte, so hat sie diesen beim Mord an ihrem Mann konstruiert. Zunächst verbreitete sie das Gerücht von der Verhaftung Niculae Tomescus, dann erhielt sie es weiter aufrecht durch die Nachricht von der Ermordung ihres Mannes im Gefängnis und durch den Streit, den sie mit dem Tabakwarenhändler in der Nachbarschaft vom Zaune brach, der ihn denunziert haben sollte. Durch dieses Gerede überzeugte sie die ganze Straße von ihrer Version. Und das ist ihr so gut gelungen, daß alle Nachbarn an die Verhaftung Tomescus glaubten, obwohl niemand dabei war. Unter diesen Umständen ist es normal, daß niemand auf den Gedanken kam, Tomescu könnte in Wirklichkeit verschwunden sein.“ „Ich nehme nicht an, daß sich die Jungs von der Staatssicherheit besonders freuen werden, wenn sie er265
fahren, wie sie mit Dreck beworfen wurden“, bemerkte Dan. „Da die Tätigkeit der Sicherheitsorgane nicht zum erstenmal verunglimpft wird, werden sie über diese niederträchtige Verleumdung mit einem Achselzucken hinweggehen.“ „Ich möchte den Ermordeten sehen“, stammelte Lupu, dem der Schreck noch in den Gliedern saß. Ich glaube allerdings, daß es ihm lieber gewesen wäre, ich hätte einen schlechten Witz gemacht. Diesen Gefallen konnte ich ihm allerdings nicht tun. Ich stand auf und bat ihn, mir zu folgen. Als wir in den Keller gingen, waren die Bottiche, die wir an das Regal an der linken Wand gestellt hatten, mit dem Boden vom Sockel der gegenüberliegenden Mauer bedeckt. Die Unteroffiziere hatten sich bis zur Treppe zurückgezogen. Dr. Capolide stand auf einem Haufen Erde und betrachtete einen Schädel. Nach der Art, wie er ihn untersuchte, und wenn er noch „to be or not to be, that is the question“ gesagt hätte, hätte ich schwören können, daß er den ersten Vers aus Hamlets Monolog zitierte. Ich ging mit Lupu an das Erdloch und besah mir das Skelett, das darin lag. „Die Leiche wurde kniend mit dem Kopf nach unten hineingeworfen, deshalb sind die Beine auch höher als die Schultern“, stellte Capolide hinter uns fest. „Todesursache?“ fragte ich und drehte mich zu ihm um. Er seufzte und gab mir ein Zeichen, daß ich näher kommen sollte. „Schädelbruch!“ sagte er und zeigte mir über dem rechten Ohr einen etwa fünfzehn Zentimeter langen und sieben Zentimeter breiten Riß. „Herbeigeführt durch mehrere Hiebe mit einem scharfen, schweren Gegenstand. Genauer gesagt: mit einem Beil.“ „Fällt dir in diesem Zusammenhang ein kürzlich bekannt gewordener Fall ein?“ wollte Lupu wissen. 266
„Willst du es unbedingt noch mal hören?“ fragte Capolide ärgerlich. „Wie lange mag der Mord zurückliegen?“ fragte ich aus taktischen Gründen, um einen Streit zwischen den beiden zu verhindern. „Etwa fünf Jahre. Ein genaueres Datum kann ich dir erst nach der wissenschaftlichen Untersuchung geben.“ Das reichte mir. Fünf Jahre konnten vier Jahre sein. Das hieß, daß ich es mit dem Skelett der „verhafteten“ Person und nicht mit einem irgendwann von irgendwem begangenen Mord zu tun hatte! „Wann wollen Sie mit dem Verhör beginnen?“ fragte ich Lupu. „So eine Frage! Jetzt gleich! Auf geht’s“ rief er, so, als wäre ich der Täter.
28 Abends um halb sechs saß die Täterin vor uns. Obwohl sie sehr abgespannt war, hatte sie große Pupillen. Nun, nachdem wir die Morphiumampullen entdeckt hatten, wußten wir, welches der wahre Grund für ihre Angstzustände war. Die Entzugserscheinungen infolge der Haft zeitigten ihre Wirkung. „Sie können sich doch sicher denken, weshalb wir Sie kommen lassen?“ wandte sich der Staatsanwalt an sie. „Nein“, sagte sie achselzuckend. „Wo ist Ihr Mann?“ „Ich weiß es nicht. Er wurde vor fast vier Jahren verhaftet, und seitdem …“ Ich saß artig da und ließ sie das Märchen erzählen, das sie Dan und mir schon einmal aufgetischt hatte. Sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie wiederholte ihre Geschichte wortwörtlich mit der gleichen Satzmelodie und 267
Mimik. Wenn renommierte Hersteller von Tonbandgeräten bessere und echte High-Fidelity-Geräte herstellen wollen, wäre ich gern bereit, Ihnen dabei behilflich zu sein. Ich würde ihnen vorschlagen, sich die Leistung unserer Kundin anzuhören. „Lügen Sie doch nicht!“ sagte Dan und unterbrach meine Meditationen. Das wirkte sich negativ auf meine gute Absicht aus, einen Beitrag zur Revolutionierung der Aufnahme und Wiedergabetechnik mit Magnetband zu leisten. „Ich lüge ja gar nicht. Ich habe Ihnen nur haarklein erzählt, was an dem Tag passiert ist, als Niculae verhaftet wurde.“ „Die Wahrheit will ich wissen!“ sagte Lupu in strengem Ton. „Ich habe sie Ihnen doch erzählt.“ „Sie haben uns alles mögliche erzählt, nur nicht die Wahrheit!“ sagte auch ich. „Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe doch alles gesagt“, schrie sie und fing an zu weinen. „Lassen Sie das Geflenne! Wo ist Ihr Mann?“ wiederholte Lupu seine Frage unerbittlich. „Ich weiß es nicht.“ „Warum haben Sie ihn umgebracht?“ „Ich? Bei allen meinen Sünden, wie können Sie so etwas nur behaupten?“ fragte sie empört und verzweifelt zugleich. „Lassen Sie das Theater!“ Ich wies sie zurecht. „Sie wissen so gut wie wir, daß Niculae Tomescu im Keller Ihres Hauses liegt!“ Mein genauer Hinweis darauf, wo sie den Ermordeten verscharrt hatte, zerstörte sie am Boden. Zunächst starrte sie mich verdattert an, dann fiel sie in sich zusammen wie ein leerer Sack. Ihr Kinn fiel auf die Brust, und dann begann sie wie im Delirium tremens zu zittern. Nervös schluchzend wand sie ihre Hände verzweifelt im Schoß. 268
„Ja, es stimmt, ich habe ihn umgebracht, ich gebe es zu“, sagte sie kurz und abgehackt. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, es tut mir leid, ich bedaure es aufrichtig.“ Da ich wußte, daß sie es ebenso aufrichtig bedauerte wie die Katze, wenn diese einen Kanarienvogel verspeist hat, ging ich gar nicht erst darauf ein. „Wie haben Sie Ihren Mann umgebracht? Erzählen Sie uns alles, was in der fraglichen Nacht passiert ist!“ „Geben Sie mir bitte einen Schluck Wasser.“ Dan stand auf und ging hinaus. Als er ihr das Glas brachte, trank sie es mit einem Zug aus. Dann gab sie es zurück und berichtete mit gleichbleibender Stimme und geistesabwesender Miene. „Wie ich Ihnen schon sagte, kam er in der Nacht gegen zwei Uhr nach Hause. Als er sich ausgezogen und neben mich ins Bett gelegt hatte, merkte ich, daß er nach Alkohol roch. Ich fragte ihn, ob er nach Ware auf dem Markt gewesen war, doch er erwiderte nur, ich sollte ihn in Ruhe lassen, er wollte schlafen. Seine Gleichgültigkeit brachte mich so auf die Palme, daß ich ihn umbringen wollte. Als er ein paar Minuten später eingeschlafen war, stahl ich mich aus dem Bett und ging auf den Hof, wo ich eine Stunde lang blieb. Ich kam mit dem Beil in der Hand wieder zurück und schlug zu.“ „Mit dem Beil, das Sie vier Jahre später in der Strada General Demostene liegengelassen haben?“ „Ja.“ „Was haben Sie gemacht, nachdem Sie ihn umgebracht hatten?“ fragte ich sie barsch. „Ich bin wieder ins Bett gegangen und habe überlegt, wie ich ihn wegbringen kann.“ „Was, Sie sind wieder ins Bett gegangen? Die ganze Bettcouch mußte doch …?“ fragte Lupu außer sich, beendete jedoch seinen Satz nicht, sondern sah Dan und mich bestürzt an. 269
Ich glaube, wir sollten ihm helfen, die Lage zu verstehen. Aber auch uns hatte es die Sprache verschlagen. „Nein, nicht das ganze Bett!“ widersprach sie gleichmütig. „Sprechen Sie weiter!“ forderte Lupu sie auf und schüttelte sich voller Entsetzen. Offensichtlich wollte er den Alptraum, in den sie uns versetzt hatte, abschütteln. „Ich blieb im Bett liegen, bis mein Neffe zur Arbeit gegangen war. Als ich hörte, daß er das Tor zugeschlagen hatte, stülpte ich das Zimmer um, um den Eindruck zu erwecken, daß eine Haussuchung stattgefunden hatte. Dann weckte ich die Kinder.“ „Moment mal! Sie haben uns noch nicht gesagt, wo Sie die Leiche Ihres Mannes gelassen haben!“ unterbrach ich sie, weil mir dieser Teil der Angelegenheit immer noch unklar war. „Wo hätte ich ihn schon lassen sollen?“ fragte sie erstaunt. „Ich ließ ihn im Bett liegen und deckte ihn mit der Bettdecke zu.“ „Wollen Sie etwa sagen, daß Ihr Mann immer noch im Bett lag, als Sie Herrn Vornicu geholt haben?“ fragte ich in der stillen Hoffnung, sie würde es verneinen. Mit einem Kopfnicken machte sie meine Hoffnung zunichte. „Was wäre denn passiert, wenn Herr Vornicu ans Bett gegangen und den Bettzipfel hochgehoben hätte, anstatt nur von der Tür aus einen Blick ins Zimmer zu werfen?“ fragte Lupu mit fester Stimme. „Was wäre schon passiert? Nichts! Herr Vornicu hätte niemandem mehr erzählen können, was er gesehen hat!“ antwortete ich ihm gereizt. „Wie können Sie so etwas nur sagen!“ wandte sie nicht sehr überzeugend ein. „Eins verstehe ich nicht. Warum haben Sie Herrn Vornicu geholt, bevor Sie Ihren Mann versteckt hatten?“ fragte Lupu weiter. 270
„Abgesehen von der Tatsache, daß ich mir noch nicht schlüssig war, was ich mit ihm machen sollte, waren die Kinder ja auch noch zu Hause. Um die Sache so glaubhaft wie möglich darzustellen, brauchte ich ihn als Zeugen. Er war als seriöser Mann bekannt, und wie es sich zeigte, hat seine Aussage der Version von der Haussuchung und Niculaes Verhaftung durch den Staatssicherheitsdienst Nachdruck verliehen.“ „Sie haben also die Kinder geweckt. Und?“ „Nachdem ich Ihnen erzählt hatte, daß ihr Vater verhaftet worden war, sagte ich ihnen, sie sollten sich anziehen und zur Schule gehen.“ „Haben Sie ihnen auch das Durcheinander im Schlafzimmer gezeigt?“ fragte Dan. „Das war nicht mehr nötig. Sie hatten die Unordnung bereits gesehen, als ich sie weckte.“ „Was soll das heißen?“ fragte ich in dem Wunsche, meine Vorstellungskraft funktioniere nicht mehr richtig. „Die Kinder schliefen also mit im Schlafzimmer, als Sie Ihren Mann umgebracht haben?“ Als sie nickte, hatte ich das Gefühl, ein Schnellzug sei über mich hinweggerast. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um wieder zu mir zu kommen. „Und die Kinder sind nicht wach geworden, als …?“ fragte ich stotternd und spürte, daß meine Zunge trocken wie Löschpapier wurde. „Nein, sie schliefen sehr fest“, sagte sie sicher. „Sie hatten sie betäubt!“ zischte ich. „Nein, warum hätte ich ihnen ein Schlafmittel geben sollen?“ „Halten Sie sich bitte vor Augen, daß der Mord nicht im Affekt, in einer momentanen Verwirrung des Geistes geschah, wie die Beschuldigte behauptet, um ihre Schuld zu mindern, sondern vorsätzlich“, sagte ich zu Lupu. „Das ist nicht wahr!“ protestierte sie. Ohne ihr Gehör zu schenken, fuhr ich fort. „Sowohl das 271
Licht im Schlafzimmer, das sie für ihren gezielten Angriff unbedingt brauchte, als auch die mehrfachen Schläge, die sie dem Opfer beigebracht hatte, hätten die Kinder eigentlich wach machen müssen. Da sie dieses Risiko vorausgesehen hatte, gab sie ihnen mehrere Stunden vor ihrer Mordtat vor dem Schlafengehen ein Schlafmittel.“ „Ich habe ihnen wirklich nichts gegeben.“ „Was haben Sie gemacht, als Herr Vornicu wieder weg war?“ unterbrach Lupu sie barsch. „Ich ging in den Laden, wo ich wieder wie sonst verkaufte. Gegen elf Uhr hörte ich einen Zigeuner auf der Straße rufen: ‚Hacke Holz, hacke Holz!‘ Ich holte ihn und sagte ihm, daß er mir eine Kartoffelmiete ausheben sollte. Nachdem wir uns über den Lohn geeinigt hatten, nahm ich ihn mit nach Hause in den Keller und sagte ihm, was er zu machen hatte. Als er nach einer halben Stunde fertig war, ging ich wieder ins Geschäft und verkaufte weiter. Da ich wußte, daß mein Neffe abends um fünf nach Hause kam, machte ich den Laden eine Stunde früher zu und ging nach Hause. Können Sie mir noch ein Glas Wasser geben?“ Sie trank das Wasser, das ihr Dan brachte, und sprach dann ohne Aufforderung weiter: „Als ich wieder nach Hause kam, schleppte ich Niculae über den Hof bis in den Keller. Als ich ihn vergraben hatte, stellte ich alte Bottiche drüber. Ich hatte Angst, daß Vasile den aufgescharrten Boden sieht“, schloß sie ihren Bericht und setzte eine reuige Miene auf. „Wo waren Ihre Kinder an diesem Nachmittag?“ „Bei meiner Schwester. Ich hatte ihnen gesagt, daß sie nach dem Unterricht zu meiner Schwester gehen und dort bleiben sollten, bis ich sie abholte. Um sieben Uhr abends holte ich sie nach Hause.“ „Wie ging das Geschäft an diesem Tag?“ fragte ich, um in Erfahrung zu bringen, was sie nach ihrer schrecklichen Tat empfunden hatte. 272
„Schlecht, wie immer“, sagte sie und machte eine unzufriedene Bewegung, die im Gegensatz zu der Reue, die sie vorher zur Schau gestellt hatte, stand. „Deshalb habe ich das Geschäft ein paar Monate später auch aufgegeben und nur noch Massagen gemacht. Die Warenbeschaffung wurde immer schwieriger. Die meiste Ware war verdorben, ehe ich sie verkaufen konnte. Die Gläubiger verlangten mehr, als ich einnahm, denn ich war gezwungen, die Ware bei den Bauern mit Aufpreis zu kaufen. Gerade an dem Tag kam einer und verlangte siebenhundert Lei für Eier. Ich mußte ihn mit nach Hause nehmen, im Laden war einfach nicht mehr soviel Geld.“ „Um welche Zeit haben Sie ihn mit nach Hause genommen?“ fragte Lupu. „Gegen halb eins, vielleicht war es auch schon eins.“ „Haben Sie ihn mit ins Haus genommen, oder hat er draußen auf Sie gewartet, bis Sie ihm das Geld brachten?“ „Ich hatte ihm schon im Geschäft von Niculaes Verhaftung erzählt und mir gedacht, daß es nicht schaden könnte, ihm zu zeigen, was für eine Unordnung die Staatssicherheitsleute im Haus angerichtet hatten.“ „Haben Sie ihn ins Schlafzimmer gelassen?“ „Nein, er war nur an der Tür wie Vornicu.“ „War er lange bei Ihnen?“ „Nur so lange, wie ich brauchte, um das Geld aus Niculaes Jacke, die über der Stuhllehne hing, zu nehmen.“ „Und dann?“ „Gingen wir wieder. Ich ins Geschäft und er an seine Arbeit.“ „Wie heißt und wo wohnt die Person, die zu Ihnen gekommen ist?“ fragte Dan. „Sind Sie bis nachmittags um vier, als Sie die Spuren Ihres Verbrechens verwischt haben, noch einmal nach Hause gegangen?“ fragte ich, nachdem sie Dans Fragen beantwortet hatte. 273
„Nein, ich hielt mich nur im Laden auf.“ „Ihr Mann hat also von drei Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags im Bett gelegen? Das heißt dreizehn Stunden, nicht wahr?“ fragte der Staatsanwalt, offensichtlich in der Hoffnung, daß sie verneinte. Wie wir, so hätte auch er gewünscht, daß das bisher Gehörte nur ein Alptraum war. „Ja, so ist es. Ich dachte mir, daß ich ihn nur so ohne Risiko beseitigen konnte“, sagte sie gehässig. Als sie merkte, daß das nicht zu ihrer aufgesetzten Reue paßte, wurde sie wieder reuig. „Ich weiß nicht, was mich in dieser Nacht überkam. Ich war sonst immer ein guter und besonnener Mensch. Ich glaube, ich habe ihn vor Eifersucht umgebracht.“ Ich merkte gleich, daß ihr Getue ihr mildernde Umstände wie bei einem Lustmord verschaffen sollte. Ich tat so, als hätte ich ihre Begründung gar nicht gehört, und fragte weiter: „Was haben Sie mit dem Geld gemacht, das Niculae bei sich hatte?“ „Was für Geld?“ „Die einundzwanzigtausend Lei.“ „Die habe ich mit den Kindern verbraucht. Was hätte ich denn tun sollen, so mutterseelenallein und ohne Unterstützung?“ „Also um des Geldes willen haben Sie ihn umgebracht?“ „Das stimmt nicht. Bis zum Abend, als ich die Jacke vom Stuhl nahm, hatte ich von dem Geld überhaupt keine Ahnung.“ „Sie lügen!“ fuhr Dan sie böse an. „Sagten Sie nicht eben noch, daß Sie das Geld, das Sie dem Gläubiger nachmittags zu Hause gaben, aus der Jackentasche Ihres Mannes genommen haben?“ Ohne ihr Zeit zum Widerspruch zu lassen, wandte ich mich an Lupu. „Genosse Staatsanwalt, wahrscheinlich hat die Täterin, nachdem Niculae Tomescu eingeschlafen 274
war, dessen Taschen durchwühlt. Als sie so die Summe fand, die der Ermordete von Zoiţa Vlase erhalten hatte, ging sie auf den Hof, um zu überlegen, wie sie sich das Geld am besten unter den Nagel reißen konnte. Das Ergebnis dieser ‚reiflichen‘ Überlegung ist uns bekannt. Ebenso wie im Fall Strada General Demostene ist die einzige Triebfeder ihres Handelns die Bereicherung!“ „Das stimmt überhaupt nicht“, widersprach sie schrill. „Jetzt kann ich Ihnen ja sagen, weshalb ich Marieta Stanciu umgebracht habe. Weil sie mich erpreßt hat. Das ist es! Erpreßt hat sie mich!“ „Werden Sie deutlicher, und schreien Sie nicht so herum!“ sagte ich und war verwirrt über die plötzliche Wende. „Während ich Marieta massierte, unterhielten wir uns immer und sprachen über unsere Probleme. Einmal, ich glaube, es war im letzten Jahr, vertraute sie mir auch intime Dinge an. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, aber plötzlich erzählte ich ihr, was ich mit meinem Mann gemacht hatte. Von Stund an hat sie mich erpreßt!“ „In welcher Form denn?“ „Sie bezahlte mir die Massagen nicht mehr und verlangte, daß ich sie immer häufiger massierte. Sie werden verstehen, daß ich mich so nicht mehr anderen Kundinnen widmen konnte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.“ Zu meiner Rechten konnte sich Dan das Lachen nicht verkneifen. Ärgerlich drehte ich mich zu ihm um und wollte ihn schon bitten, einen passenderen Augenblick für sein Gelächter zu finden. Ich rief ihn aber doch nicht zur Ordnung. Offensichtlich war sein nervöses Lachen Ergebnis der Anstrengungen, die wir unternommen hatten, um die Täterin zu überführen. Als er Lupus grimmige Miene sah, beherrschte er sich und sagte: „Genosse Staatsanwalt, die neue Ausrede der Täterin ist haltlos und steht in krassem Widerspruch zur 275
Wirklichkeit.“ Er reichte ihm ein Heftchen und fuhr fort: „Hier haben Sie das Notizheft, in das die Täterin die Namen der Kundinnen und die Uhrzeiten vermerkt hat. Wenn Sie sich das ansehen, werden Sie feststellen, daß die ermordete Marieta Stanciu einmal wöchentlich, und zwar donnerstags, dran war. Die Behauptung der Täterin, daß sie durch Erpressung zu mehr Massagen gezwungen wurde, kann nicht ernst genommen werden. Sie hätte gar keine Zeit dazu gehabt, wenn sie mit den Terminen der anderen Kundinnen nicht in Konflikt geraten wollte. Über derartige Versäumnisse hat sich aber keine ihrer Kundinnen in den Gesprächen mit uns beklagt“, sagte er und blätterte in dem Heftchen. „Selbst wenn wir den Mord als Notwendigkeit ansehen würden, wie es die Täterin darzustellen versucht, so bleibt dessen Absicht einzig und allein der Raub! Raub und nochmals Raub! Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie in ihrer Gier noch die Grundmauern des Hauses in der Strada General Demostene mitgenommen. Der Mord an Niculae Tomescu ist nicht auf einen Wutanfall, wie es die Täterin darstellt, zurückzuführen, sondern entsprang dem Wunsch, ihn auszurauben. Soll die Tatsache, daß sie den Mord gerade in der Nacht beging, als das Opfer unvorsichtigerweise einen größeren Geldbetrag bei sich hatte, als reiner Zufall betrachtet werden?“ Ich sah, wie Lupu zustimmend nickte, und wandte mich wieder der Täterin zu. Als diese Dans Argumente vernahm, wurde sie wieder ganz kleinlaut. „Wie hoch war Ihr monatliches Einkommen als Masseuse?“ „Etwas mehr als hundert Lei pro Tag, das heißt ungefähr viertausend im Monat. Eigentlich hatte ich einen ausreichenden Monatsverdienst und hatte es nicht nötig, mich zu bereichern, wie Sie es behaupten!“ „Ja, wirklich“, sagte ich und tat schwankend. „In Anbetracht Ihrer Einkünfte und der bescheidenen Ausga276
ben für den Haushalt und die Kinder hätten Sie doch eigentlich sehr gut damit auskommen können.“ Sie stimmte mir eilig zu. „Wie hoch sind eigentlich Ihre Ersparnisse, die Sie zu Hause oder auf der Sparkasse haben?“ „Wirklich nur die paar hundert Lei, die in meiner Handtasche waren.“ „Können Sie mir dann sagen, wie Sie viertausend Lei im Monat ausgegeben haben?“ „Nun, für Essen und Kleidung für die Kinder.“ „Da kommen Sie doch nicht auf viertausend Lei. Da Ihre Ausgaben für den Unterhalt Ihrer Familie die Hälfte des monatlichen Einkommens nicht überschritten, stellt sich die Frage, was Sie mit dem restlichen Geld gemacht haben.“ „Zum Sparen kam ich nicht. Das ganze Einkommen habe ich für die Kinder ausgegeben. Ich wollte ihnen alles bieten, damit sie groß werden und gesund bleiben.“ „Wieviel haben Sie für eine Ampulle Morphium bezahlt?“ unterbrach ich ihr Gefasel. Sie sah mich mit großen runden Augen wie die Kuh vorm neuen Scheunentor an. Da mich Lupu ebenso fragend wie die Täterin ansah, zog ich die konfiszierten Ampullen aus der Schreibtischschublade und reichte sie ihm. „Haben Sie damit Handel getrieben?“ fragte Dan. Sie senkte den Kopf und gab keine Antwort. „Haben Sie sich gespritzt?“ wollte der Staatsanwalt wissen. Da sie sich an das Sprichwort „Schweigen ist Gold …“ hielt, stand ich auf und ging um den Schreibtisch herum zu ihr. „Krempeln Sie den Ärmel hoch, und lassen Sie Ihren rechten Arm sehen!“ Widerwillig kam sie meiner Aufforderung nach. Am Unterarm bemerkte ich ein paar Einstiche. Es war zu sehen, daß sie Morphium nahm. 277
„Dazu brauchten Sie also Geld!“ bemerkte der Staatsanwalt. „Wie haben Sie sich das Morphium verschafft?“ fragte ich und setzte mich wieder. „Über einen Bekannten, einen ehemaligen Kunden unseres Geschäfts.“ „Das genügt“, sagte ich, zum Staatsanwalt gewandt. „Haben Sie noch Fragen?“ Er verneinte. So sagte ich zu Dan, daß er sie wieder in die Haft schicken sollte. Als wir allein waren, meinte Lupu nachdenklich: „Also hat sie die Morde unter dem Einfluß von Drogen begangen!“ „Weit gefehlt!“ wandte ich ein. „Da Drogen, insbesondere Morphium, Beruhigungsmittel sind, leisten sie bestialischen Straftaten keinen Vorschub. Natürlich mit Ausnahme von LSD, das ein Halluzinogen par excellence ist. Sie hat also ihre Taten nicht unter dem direkten Einfluß von Drogen, sondern wegen ihrer Drogenabhängigkeit begangen. Um an Stoff heranzukommen, brauchte sie Geld, um sich aber immer mehr Geld zu beschaffen, wurde sie zum Raub beziehungsweise zum Mord getrieben. So verhält es sich!“ „Entweder – oder! Ist die Droge nun schuld daran oder nicht? Was soll denn das?“ „Mihai, ich will einen qualitativen Unterschied herausstellen. Wenn du als Vertreter der Staatsanwaltschaft vor den Richtern einräumst, daß die Täterin unter Einfluß von Rauschgift gehandelt hat, könnte sie wegen Unzurechnungsfähigkeit mildernde Umstände bekommen, und die stehen ihr nicht zu. Ihre Taten hat sie ganz bewußt, vorsätzlich und kaltblütig begangen.“ „Und wie kaltblütig!“ warf Dan ein. „Die Grausamkeit und Selbstsicherheit der Täterin stellen den vierfachen Mord in Truman Capotes Buch ‚Kaltblütig‘ noch in den Schatten.“ 278
„Das stimmt schon“, gab Lupu zu, „die beiden Wahnwitzigen, die die Familie Clutter umgebracht haben, waren in ihrer Handlungsweise nicht nur weniger brutal, sondern haben den Tatort auch fluchtartig verlassen. Ganz im Gegensatz zu ‚unserer‘ Masseuse, die zwischen den Ermordeten herumspazierte wie ein Rentner an einem schönen Frühlingstag im Herăstrăupark.“ „Sie muß geisteskrank sein“, meinte Dan voller Ekel. „Das glaube ich nicht“, sagte ich. „Die Art und Weise, wie sie ihre Taten ausgetüftelt und vertuscht hat, beweist meiner Meinung nach das Gegenteil. Wie es in solchen Fällen üblich ist, werden wir natürlich ein gerichtspsychiatrisches Gutachten einholen, bevor wir sie vor Gericht stellen.“ „Vorher, das heißt morgen früh, werden wir den Mord in der Strada Maria Hagi Moscu rekonstruieren“, sagte Lupu, als er aufstand. Und während er sich von uns verabschiedete, klopfte es an der Tür.
29 Als Dan „Herein!“ gerufen hatte, kamen ein Milizionär und ein Mann in Zivil in schäbigen Sachen und mit einer Baskenmütze in der Hand herein. „Genosse Hauptmann, bitte Meldung machen zu dürfen“, sagte der Unteroffizier und nahm Haltung an. „Bitte“, sagte ich und musterte den Unbekannten. Er war klein und so schmächtig, daß er ein ideales Modell zum Studium des menschlichen Skeletts für Medizinstudenten im ersten Studienjahr abgegeben hätte. Er hatte ein längliches ausgemergeltes Gesicht. Sein ungepflegtes rotes Haar paßte so gut zu seinem sommersprossigen Gesicht, daß ich unwillkürlich an die Bewohner der irischen Insel denken mußte. Als ich mich mit 279
einem Blick davon überzeugt hatte, daß er nirgends eine Maschinenpistole, Höllenmaschine oder Bazookabombe versteckt haben konnte, wurde ich ruhiger. „Ich bin der Fahrer des Funkstreifenwagens Nummer einhundertundsechs. Auf einer Streifenfahrt wurde ich über Funk von einem Kollegen, der das Haus Nummer fünfzehn in der Strada Maria Hagi Moscu bewacht, dorthin gerufen. Als ich dort ankam, bat mich der Unteroffizier, der mich gerufen hatte, diesen Mann mitzunehmen. Weiterhin möchte ich im Auftrag meiner Kollegen melden, daß er hier“, und dabei deutete er auf den Rothaarigen, der unseren abgenutzten und staubigen Teppich eingehend betrachtete und dabei immer häufiger von einem Bein aufs andere trat, „einen verdächtigen Eindruck gemacht hat. Er klingelte an dem bewachten Haus, und als mein Kollege ihn fragte, zu wem er wollte, ist er einfach abgehauen.“ „Geben Sie uns eine Erklärung für Ihr Verhalten“, forderte ich den Unbekannten auf, nachdem ich den Unteroffizier entlassen hatte. „Na ja, es war wohl ein Mißverständnis. Ich habe mich in der Adresse geirrt. Ich suchte jemand anders“, redete er sich heraus und drehte seine Mütze in den Händen wie einen Rosenkranz. „Zu wem wollten Sie denn?“ fragte ich. „Zu einer Frau, einer Bekannten.“ „Und wie heißt sie?“ „Silvia. Frau Silvia.“ „Dann haben Sie sich ja gar nicht in der Adresse geirrt!“ bemerkte ich und amüsierte mich gar nicht mehr über sein linkisches Gehabe. „Das dachte ich mir auch“, meinte er verwirrt und vermied es, mich anzusehen. „Dann erklären Sie uns bitte einmal, warum Sie das Weite gesucht haben.“ „Weil ich Angst hatte, daß mich der Unteroffizier ver280
prügelt! Die Frau, die mich eingeladen hat, sagte mir nämlich, daß sie allein wohnt. Verstehen Sie mich jetzt?“ Zugegebenermaßen verstand ich ihn überhaupt nicht. Daher bat ich ihn dann sogleich, mich nicht länger im dunkeln tappen zu lassen. „Frau Silvia hat mir nämlich gesagt, daß sie mit einem von der Miliz verheiratet ist, aber in Scheidung lebt. Als ich sah, wer die Tür aufmachte, dachte ich mir, es ist wohl besser, wenn ich wieder verdufte. Ich konnte ihm doch nicht sagen, daß ich zu seiner Frau wollte.“ „Und woher kennen Sie Frau Silvia?“ „Ich habe sie einmal … auf der Straße getroffen“, stammelte er. „Wann und bei welcher Gelegenheit?“ wollte Dan wissen. „Wissen Sie, ich habe ihr einen Gefallen getan …“, meinte er erschrocken. „Was für einen Gefallen?“ erkundigte sich Lupu, der nun plötzlich nicht mehr gehen wollte und sich wieder hinsetzte. „Legen Sie Ihre Mütze auf den Schreibtisch, setzen Sie sich und sehen Sie mich an!“ sagte ich gebieterisch. Er gehorchte, und ich sagte ihm eindringlich: „Sagen Sie uns ja die Wahrheit! Zuerst wollen wir Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihre Tätigkeit wissen!“ Als er die Fragen beantwortete, fiel ich fast vom Stuhl. Bei dem Rothaarigen handelte es sich genau um die Person, nach der ich mich am Vormittag bei der Miliz in Cluj erkundigt hatte. Das war also der Fahrer des Lieferwagens, der die gestohlenen Gegenstände aus der Strada General Demostene abtransportiert hatte. Der einzige unter uns, den das nicht rührte, war der Staatsanwalt. Und mit Recht, denn er konnte ja mit dem Namen Ilie Gogu nichts anfangen. „Gogu“, fragte ich und sah ihm in die kleinen, etwas schielenden Augen, „bestand der Gefallen, den Sie Frau Silvia getan haben, etwa im Transport von Hausrat?“ 281
„Nein.“ „Den Sie vor etwa zehn Tagen nachts aus der Strada General Demostene abgeholt haben?“ fragte ich einfach weiter, ohne auf seine Einwände einzugehen. Der Staatsanwalt zuckte zusammen und horchte auf. Gogu schüttelte mit dem Kopf und wurde zusehends rot. „Der Teufel soll mich holen, aber ich weiß nicht, wovon Sie reden!“ meinte Gogu. „Was haben Sie am neunzehnten April gegen zehn Uhr abends gemacht?“ wollte ich wissen. „Am neunzehnten April? Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe Material aus Cluj gebracht und es bei unserem Stützpunkt in Bukarest abgeliefert.“ „Und plötzlich standen Sie ohne Benzin da.“ „Ja, genau. Jetzt fällt mir auch die Fuhre mit den Gegenständen, von denen Sie gesprochen haben, wieder ein“, gab er zu und freute sich wie ein Wilderer, der mit Wild im Sack erwischt wird. „Ja, es stimmt! Ich habe eine kleine Fuhre nebenbei gemacht, es war ein Nebenverdienst. Welcher Fahrer macht das nicht, wenn er die Gelegenheit dazu hat? Wenn Sie mich bestrafen wollen, dann tun Sie’s doch. Aber ich sage Ihnen, ich bin ein armer Mann.“ Ich hob die Hand, wie es Verkehrspolizisten tun, um ein Auto zu stoppen, das zu schnell gefahren ist. Ich bat ihn, mir zu berichten, was in der Zeit, als er die Frau getroffen und sich wieder von ihr verabschiedet hatte, passiert war. Zehn Minuten später wußte ich, daß sein Bericht mit dem der Täterin identisch war. „Haben Sie den Tisch angehoben, als Sie den Teppich aus dem Wohnzimmer geholt haben?“ fragte ich ihn mit berufsmäßiger Routine aus. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich bin überhaupt nicht ins Haus gegangen.“ „Worüber haben Sie sich die Fahrt über mit ihr unterhalten?“ 282
„Sie erzählte mir, daß sie eine böse Schwiegermutter und einen versoffenen Mann hat, der sie immer schlägt. Sie sei froh, daß sie ihre Sachen gepackt hat und aus diesem Hexenkessel weg ist.“ „Es war also nur eine Gelegenheitsfahrt?“ Er bestätigte es. „Was wollten Sie denn bei der Frau zu Hause, und warum wollten Sie türmen?“ fragte ich schnell, um ihn zu packen. „Wir hatten ausgemacht, daß ich noch mal zu ihr nach Hause komme, denn sie ist allein und hat niemanden. Als ich aber den Genossen am Hoftor sah, habe ich mir gesagt, es ist besser, ich mach’ ’ne Mücke. Wer weiß, vielleicht hat sie sich wieder mit ihrem Mann vertragen.“ „Warum sollten Sie noch mal bei ihr vorbeikommen?“ fragte Lupu ärgerlich. „Wie soll ich Ihnen das erklären? An dem Abend, als ich die Sachen zu ihr nach Hause gebracht habe, konnte ich nicht … Wissen Sie, ich war mit meiner Frau im Auto aus Cluj gekommen. Gleich als wir in Bukarest ankamen, habe ich sie bei meinen Schwiegereltern abgesetzt. Erst dann habe ich die Ware abgeliefert. Es dauerte alles ziemlich lange, das Abliefern, dann ging mir noch das Benzin aus, und schließlich noch die Tour mit den Sachen für die Frau. Da ist es schon spät geworden. Meine Frau hat so schon Krach geschlagen, weil ich mich verspätet habe. Und wenn ich dann noch bei der Frau geblieben wäre … Deshalb wollte ich sie besuchen, wenn ich allein nach Bukarest komme. Vor ein paar Tagen war ich schon einmal bei ihr, aber sie war nicht zu Hause, und heute war ihr Mann da.“ Während mich der erste Teil des Berichts durch Gogus Redeweise und Gestik belustigte, weil mich der Mann an den Schauspieler Jerry Lewis erinnerte, stimmten mich seine weiteren Ausführungen nachdenklich. Ich mußte an 283
etwas anderes denken, was überhaupt nicht mehr amüsant war. „Und wann waren Sie wieder bei ihr zu Hause?“ fragte Dan. Er hatte sie Samstagabend zwei Stunden nach ihrer Verhaftung aufsuchen wollen. „Gogu, erklären Sie uns bitte, warum Sie noch einmal zu ihr kommen sollten“, sagte ich. „Na ja, so als Mann.“ „Haben Sie ihr vorgeschlagen, sich noch einmal zu treffen?“ „Hm, eigentlich mehr sie.“ „Und wie?“ „Während ich ihr die Sachen nach Hause fuhr, sagte sie, daß sie seit mehr als einem Jahr nichts mehr mit ihrem Mann gehabt hatte. Er ließ sie links liegen. Wir haben uns im Auto geküßt“, antwortete er. „Haben Sie die Initiative ergriffen?“ fragte ich, weil mir der Grund für seinen Erfolg nicht so recht klar war. „Nein, sie. Sie hat zu mir gesagt, daß sie mich gut findet und wir doch feste Freunde werden sollten. Ach, was soll’s. Sie hat mir rundheraus gesagt, daß sie mit mir ins Bett gehen will.“ „Und sind Sie an dem Abend mit ihr ins Bett gegangen?“ „Nein. Sie wollte schon, aber ich durfte mich nicht noch mehr verspäten. Da hätte ich Krach mit meiner Alten gekriegt, die ist schrecklich eifersüchtig.“ „Hat Sie Frau Silvia gedrängt, die Nacht über bei ihr zu bleiben?“ „Ja, aber als ich ihr erklärt hatte, wie der Hase läuft, hat sie nachgegeben. Ich sollte eben bei ihr vorbeikommen, wenn ich wieder in Bukarest bin. Sie werden entschuldigen, daß ich so neugierig bin. Ich möchte sagen, Sie haben mich doch nicht hierhergebracht, weil ich eine Fuhre auf eigene Rechnung gemacht habe. Sie wollen ’ne Menge über die Frau wissen, stimmt’s?“ 284
Das mußte ich allerdings zugeben. „Waren die Sachen, die ich für sie gefahren habe, etwa geklaut?“ fragte er und lief rot an. „So etwa.“ „Ha, jetzt kapiere ich. Ich habe mich schon gewundert, wie spendabel sie war.“ „In welcher Hinsicht?“ „Na ja, als ich mich verabschiedete, sagte sie mir, wenn ich sie das nächste Mal besuchen komme, schenkt sie mir die Gasflasche. Sie sprach davon, daß sie noch zwei hat und gar nicht so viele braucht.“ „Hat sie Ihnen noch etwas zu Ihrem nächsten Besuch gesagt?“ „Ja, daß wir dann ordentlich loslegen werden und daß mich niemand reinkommen sehen soll. Wissen Sie, sie lag in Scheidung und hatte Angst, daß ihr Mann erfährt, daß sie Männerbesuch kriegt. Dann kriegt sie nämlich die Kinder beim Prozeß nicht.“ „Hat sie Sie gebeten, ohne Lieferwagen zu kommen?“ „Stimmt. Woher wissen Sie denn das?“ fragte er verblüfft. „Ein Vöglein, das gerade vorbeiflog, hat euer Gespräch belauscht und mir alles erzählt. Dan, geh mit dem Kollegen nach nebenan und laß ihn seine Aussage unterschreiben.“ „Kann ich dann gehen?“ fragte er ängstlich. „Ja.“ „Und was ist mit meinem Nebengeschäft?“ „Wenn so was noch mal vorkommt, sind Sie dran! Dann kommt auch das von heute zur Sprache!“ Dankbar machte er gleich ein paar Bücklinge. „Nicu, glaubst du, daß sie den Fahrer auch umbringen wollte?“ fragte Lupu, als wir beide allein waren. „Natürlich, Mihai. Eine Frau, die jahrelang frigid war, entflammt nicht so mir nichts, dir nichts, noch dazu bei so einem Prachtkerl wie Ilie Gogu! Ganz sicher hatte sie 285
die Absicht, den Fahrer umzubringen. Er war nämlich ihrer Meinung nach die einzige Person, die, wenn sie von dem Blutbad in der Strada General Demostene erfahren hätte, uns die Adresse, wohin die Sachen gebracht wurden, hätte geben können.“ „Wenn es eine akute Gefahr war, warum hat sie ihn dann wieder gehen lassen?“ „Aus zweierlei Gründen. Erstens war die Gefahr zunächst einmal nicht so groß. Da der Fahrer die Hauptstadt am nächsten Tag wieder verlassen wollte, hätte er gar nicht erfahren können, was in der Wohnung passiert war, aus der er das Diebesgut abtransportiert hatte. Was übrigens auch der Fall war. Zweitens war sie sich darüber im klaren, daß, wenn sie ihn gleich in der ersten Nacht umbrachte, sie alles aufs Spiel gesetzt hätte. Der Lieferwagen ohne Fahrer vor ihrem Haus hätte sie sehr verdächtig gemacht. Darauf konnte sie sich nicht einlassen.“ „Ja, ich glaube, du hast recht“, stimmte mir Lupu zu. „Das ist auch die Erklärung für ihr Versprechen, ihm eine Gasflasche zu schenken.“ „Natürlich. Der Wert der Flasche war ein sicherer Köder, um das nächste Opfer in die Falle zu locken.“ „Wäre es jetzt, wo wir mit diesem schmutzigen Fall fertig sind, nicht angebracht, uns einen guten Kognak zu gönnen“, lockte uns Dan, der wieder ins Büro zurückgekommen war. Ich sah auf die Uhr. Es war drei Viertel elf. „Ohne mich!“ sagte Lupu gleich. „Ich möchte mir keinen Ärger mit meiner Frau einhandeln.“ „Ich passe auch, es ist schon spät.“
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EPILOG
Auf Grund des psychopathologischen Gutachtens wurde festgestellt, daß die Angeklagte für die von ihr verübten Taten voll verantwortlich ist. Das Strafgericht der Hauptstadt verurteilte die Angeklagte S. T. am 24. September zu lebenslanger Zwangsarbeit. Da die Berufung abgewiesen wurde, wurde das Urteil rechtskräftig.
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