Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 648 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Das unbesiegbare Raumschiff von Falk‐Ingo Klee
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 648 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Das unbesiegbare Raumschiff von Falk‐Ingo Klee
Die Arsenaljyk II erscheint
Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher‐Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn ihm wurde die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten dieses Raumsektors. Doch Atlan gibt nicht auf! Um sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, scheut der Arkonide kein Risiko. Mit den Solanern folgt er einer Spur, die das Generationenschiff gegen Ende des Jahres 3807 Terrazeit schließlich nach Bars‐2‐Bars führt, die aus zwei miteinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel. Die Verhältnisse dort sind mehr als verwirrend. Doch die Solaner tun ihr Bestes, die Verhältnisse zu ordnen, indem sie die Völker der künstlichen Doppelgalaxis, die einander erbittert bekämpfen, zum Frieden bewegen und die Galaxien selbst wieder zu trennen versuchen. Inzwischen schreibt man an Bord der SOL den April des Jahres 3808, und Anti‐ES hat, aus der Namenlosen Zone heraus agierend, in der Zwischenzeit eine ganze Schar von Helfern aufgeboten, um die Pläne der Solaner zu durchkreuzen. Der größte Trumpf des Gegners ist DAS UNBESIEGBARE RAUMSCHIFF …
Die Hauptpersonen des Romans: Breckcrown Hayes ‐ Seine SOL ergreift die Flucht vor dem unbesiegbaren Raumschiff. Parzelle ‐ Ein unvermuteter Besucher bei Freund und Feind. Atlan ‐ Der Arkonide dringt in die ARSENALJYK II ein. Tyari, Sternfeuer, Nockemann und Blödel ‐ Einige von Atlans Begleitern. Sanny, Kik und Mjailam ‐ Die Arsenalmitglieder werden gefangen.
1. Wer ziellos umherirrt, weiß nicht, was er sucht; wer umherirrt, hat die Orientierung verloren, und wer im Dunkeln tappt, hat sowohl ein Ziel als auch eine Vermutung. Die Verantwortlichen auf der SOL vermochten nicht zu sagen, welche Definition für ihre Bemühungen zutreffend war. Sie kannten ihren Gegner. Er war mächtig sogar, und mehr als einmal hatte er sie an den Rand des Unterganges gebracht, aber die Solaner unter der Führung von Atlan und Hayes hatten sich als Kämpfer besonderen Formats erwiesen. Nach wie vor kreuzte das Generationenschiff in der Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars, also in jener Sterneninsel, die gewaltsam verzahnt worden war. Konkrete Anhaltspunkte, die auf Aktionen von Anti‐ ES hindeuteten, gab es nicht, auch die geheimnisvolle ARSENALJYK II konnte nicht ausgemacht werden, dennoch war allein der Gedanke daran bedrohlich, daß sie existierte. Nicht nur innerhalb der Bevölkerung herrschte eine gewisse Gereiztheit, sondern auch die Schiffsführung reagierte nervös. Alle wußten um die möglichen Gefahren, doch sie waren nicht greifbar. Man konnte sich nur auf einen Angriff einstellen. Welcher Art er war, vermochte selbst SENECA nicht zu sagen. Er war diese Unsicherheit, die an den Nerven zerrte, und die offensichtlich sinnlosen Manöver der SOL waren durchaus nicht dazu angetan, Zuversicht zu wecken.
In Ermangelung eines konkreten Zieles hatten sich der Arkonide und der High Sideryt dazu entschlossen, den Arsenalplaneten anzufliegen. Vielleicht fand man einen Hinweis, der weiterhalf. Die kombinierte Datums‐/Zeitanzeige sprang um: 7. April 3808, 6.13.00 Uhr. Just in diesem Augenblick verließ die SOL den Linearraum und fiel unweit des Arsenalplaneten in das Einstein‐ Universum zurück. Gleich darauf schrillte der Ortungsalarm durch den Hantelraumer. In der Nähe des Himmelskörpers tauchte ein großes Schiff auf, das rund drei Kilometer lang war. Es sah aus wie eine Art riesiger Gummihammer, dessen unteres Griffstück diskusförmig ausgebeult war. Der Flugkörper wirkte unheimlich und bedrohlich. Da die in Wöbbeking‐NarʹBon aufgenommene SZ‐2 fehlte, war der unbekannte Raumer nur unwesentlich kleiner als der Verbund aus SZ‐1 und Mittelteil. Niemand glaubte daran, daß das Zusammentreffen mit diesem Koloß ein Zufall war. Einem solchen Schiffstyp war man bisher noch nicht begegnet, und so zweifelte keiner daran, daß es sich um die angekündigte ARSENALJYK II handeln mußte. Breckcrown Hayes zögerte keine Sekunde und gab Gefechtsalarm. Das durchdringende Jaulen der Sirenen drang bis in den letzten Winkel der Rest‐SOL. Gedankenschnell bauten sich die Schirmfelder auf, Schotten knallten zu, die Waffen in den Geschützkuppeln wurden ausgerichtet, gleichzeitig wurden die NUG‐Kraftwerke hochgefahren. Die Männer und Frauen der Freiwache ließen alles stehen und liegen und rannten davon, um ihre vorgesehenen Positionen einzunehmen, Raumfahrer hasteten zu den Hangars, um die Beiboote zu bemannen. An strategisch wichtigen Punkten wurden Roboter zusammengezogen, Ärzte und Medos standen bereit, um bei Bedarf sofort Erste Hilfe zu leisten. Die unvollständige SOL hatte sich in eine fliegende Festung verwandelt, doch unbesiegbar war sie deshalb nicht. Konnte sie
gegen die ARSENALJYK II bestehen? Es waren nicht wenige, die sich diese bange Frage stellten. * Atlan erwachte, als die künstliche Beleuchtung seiner Unterkunft mit spärlichem Schimmer den beginnenden neuen Tag ankündigte. Ein Blick auf das Chronometer zeigte ihm, daß der siebte April gerade erst vier Stunden alt war. Er hatte nicht mehr als fünf Stunden geschlafen, fühlte sich dank seines Zellaktivators aber erfrischt und ausgeruht. Eigentlich hätte er aufstehen und in der Zentrale nach dem Rechten sehen können, doch er beschloß, noch ein Weilchen liegenzubleiben. Solche Augenblicke der Muße, in der er in Ruhe über alles nachdenken konnte, hatte es in der letzten Zeit nicht oft gegeben. Seine Gedanken kehrten zurück an jenen Tag im Dezember des vergangenen Jahres, als es gelungen war, Anti‐Homunk zu töten. Zweifellos war das ein Erfolg gewesen, aber die Frau, die er liebte – Barleona – hatte das mit ihrem Leben bezahlt. Damit nicht genug, war die SOL auch noch mit unbekanntem Ziel abgestrahlt worden – nach Bars‐2‐Bars wie sich später herausstellte. Hier traf man auf die Anterferranter und die Beneterlogen, zwei Völker, die im Prinzip dasselbe wollten, nämlich die Trennung der Galaxien Bars und Farynt, die sich jedoch dessen ungeachtet feindselig gegenüberstehen. Dank Tyaris Wirkung auf die Anterferranter und auch seiner, Atlans Ausstrahlung, kam es zu einem friedlichen Kontakt mit ihnen. Dann stieß man auf die Prezzarerhalter und schließlich auf das Prezzar‐Mydonium. Es handelt sich dabei um die Zentrale der Prezzarerhalter, alter Beneterlogen, deren erklärtes Ziel es war, Prezzar zu finden, das Instinktwesen der Galaxis Farynt. Es gelang,
die Prezzarerhalter dahingehend zu beeinflussen, daß sie Verhandlungen mit den Anterferrantern aufnahmen, denn beiden Parteien war ja an der Auflösung von Bars‐2‐Bars gelegen. Daß Tyari von Tyar, der Intelligenz von Bars, geschickt worden war, hatte sich schon vorher herauskristallisiert, doch dann tauchte Mjailam auf, aggressiv und wissensdurstig. Die Vermutung, daß Prezzar ihn erzeugt hatte, bestätigte sich später, gleichzeitig stellte sich aber auch heraus, daß Tyari und Mjailam keine direkten Gegenspieler waren. Tyar und Prezzar wollten auch die Verzahnung der Sterneninseln lösen. Damit stand fest, daß eine Macht für die Entstehung der kreuzförmigen Doppelgalaxis verantwortlich war – Hidden‐X. Es hatte sie erschaffen, um einen Übergang in die Namenlose Zone zu beziehen, doch nun benutzte Anti‐ES diesen Nabel, um umgekehrt von dort aus in das Normaluniversum hineinwirken zu können. Es wurde immer deutlicher, welche Gefahren hier auf die Solaner lauerten. Wahrscheinlich war Bars‐2‐Bars der einzige Ort des Universum, der es Anti‐ES ermöglichte, aus der Namenlose Zone heraus einzugreifen. Es würde daher alles tun, um sich dieses Tor zu einer anderen Dimension offenzuhalten, doch die Anwesenheit der SOL und die Aktivitäten ihrer Bewohner brachten das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht durcheinander. Schon waren die Völker von Bars und Farynt fast geeint, die sich tausend Jahre lang bekriegt hatten. Und nicht nur das: Sie hatten den gemeinsamen Feind erkannt und unterstützten die Solaner. Störfaktor Nummer eins war für Anti‐ES der Arkonide und die Besatzung des Hantelraumers. Daß der Wesenheit besonders daran lag, ihn und die SOL auszuschalten, bewiesen die Anstrengungen, die sie unternahm. Waren schon vorher die Gyranter aufgetreten, um erneut Zwietracht unter den sich einigenden Parteien zu säen, so griffen die äußerlich völlig menschenähnlichen Lebewesen die SOL schließlich ganz massiert mit einer Flotte an. Die Verbände der von Anti‐ES
rekrutierten Schergen konnten geschlagen werden, doch die wirkliche Falle zeigte sich erst dann: Das Generationenschiff sollte in die Namenlose Zone entführt werden, was quasi in letzter Sekunde verhindert werden konnte. Eine Atempause wurde den Solanern und ihren Führern nicht gegönnt, denn es stellte sich heraus, daß Anti‐ES Mylotta konditioniert und ein geheimnisvolles Arsenal geschaffen hatte, zu dem auch Mjailam, Tyari, Sanny, Kik und Twoxl gehörten. Bevor man Mylottas habhaft werden konnte, gelang es diesem, sich in SENECA zu verbergen und dessen Plasma zu lähmen. Zwar verschwand er mit Mjailams Hilfe von der SOL, aber damit war die Gefahr durchaus nicht beseitigt. Vor einem Monat war er, Atlan, von dem von Anti‐ES beherrschten Gespann Mylotta/Mjailam auf den Arsenalplaneten entführt worden. Die Kämpfe, die er dort bestehen mußte, überlebte er nur, weil Ticker und mit ihm ein Teil der Flora und Fauna auf seiner Seite stand. Die Natur hatte in dem adlerartigen Vogel ihren Gemeinschaftsinstinkt vereinigt, und ihm die Fähigkeit der Mimikry verliehen. Geradezu unglaublich war jedoch, daß er Atlans Gedanken instinktiv erfassen und in logische Handlungen umsetzen konnte. Daß es so war, bewies die Reaktion des Vogels in brenzligen Situationen, ganz deutlich wurde das jedoch, als er Tyari zu ihm brachte. Anfangs fühlte sich die Frau noch dem Arsenal zugehörig, doch dann konnte sie sich endgültig vom Zwang der Penetranz befreien. Es gelang ihnen, sich Asgards zu bemächtigen. Das Kunstgeschöpf, das Pseudo‐Lebewesen, Transportmittel und Raumschiff in einem war, wehrte sich dagegen, denn es wurde wie die anderen von der Penetranz kontrolliert. Dann befreiten es die positiven Ausstrahlungen Atlans und Tyaris von dem unseligen Zwang. Die Versuche Mylottas und Mjailams, die Flucht zu verhindern, scheiterten an Ticker, der sich als Psi‐Neutralisator erwies. Und
nicht nur das: Er machte auch einen Brocken eingeschmuggelter Jenseitsmaterie unschädlich, der nach der Einschleusung Asgards die SOL vernichten sollte. Als die Vermißten endlich zur SOL stießen, befand sich der Raumer in einer prekären Lage, denn die Gyranter gingen aufs Ganze und setzten eine ultimative Waffe ein, den Distanzdehner. Die alles durchdringende, von keinem Schutzschirm abzuhaltende Strahlung erfaßte auch die SOL, doch es geschah – nichts. Im Gegensatz dazu hatten die zu Hilfe geeilten Völker von Bars‐2‐Bars teilweise erhebliche Verluste erlitten. Dennoch wurden die Gyranter vernichtend geschlagen, doch als durchschlagender Erfolg wurde das nicht gewertet. Noch bestand die durch Jenseitsmaterie geschützte ARSENALJYK I – und es gab noch das Arsenal, das von der Penetranz gesteuert wurde. Der nächste Angriff ließ nicht lange auf sich warten. Überfallartig tauchte das zweckentfremdete Beiboot auf und eröffnete sofort das Feuer. Trotz einer entsprechenden Taktik, bei der die SZ‐2 abkoppelte, erzielte der im Verhältnis zum Mutterschiff winzige Raumer deutliche Wirkungstreffer. Weit schwerwiegender war dagegen, daß Mylotta und Mjailam – unsichtbar – in die SOL gelangten und schwere Schäden anrichteten. Durch Tickers Hilfe gelang es Atlan, Mylotta zu stellen. Er kam bei einem Feuerwechsel ums Leben, dagegen konnte Mjailam, der sich der SZ‐2 bemächtigt hatte, entkommen. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse begann man mit der Suche nach Twoxl‐7 und versicherte sich der Unterstützung der Prezzarerhalter bei der Aushebung von EGEN. Zwar scheiterte die SOL am Arsenalplaneten, aber Twoxl konnte befreit werden, zudem fiel dem Arkoniden die Jenseitsmaterie der ARSENALJYK I alias BANANE in die Hände. In gewisser Weise hatte man auch Erfolg, was EGEN betraf, doch dieser Teil von Anti‐ES vermochte sich in die Namenlose Zone abzusetzen. Nun befand sich die SOL wieder im Anflug auf den Arsenalplaneten …
* Unzählige Augenpaare beobachteten gebannt Bildschirme, Anzeigen und Kontrollen, die die rechnergestützte Abbildung des fremden Raumschiffs wiedergaben und Daten darüber lieferten. Bis jetzt gab es keine Anzeichen dafür, daß der mächtige Flugkörper sich mit der Rest‐SOL anlegen wollte, im Gegenteil, es hatte den Anschein, als würde man sie völlig ignorieren. »Mir ist die Sache nicht geheuer«, sagte Hayes unbehaglich. »Ich glaube, Anti‐ES heckt eine neue Teufelei aus.« »Es ist nicht die Art dieser Wesenheit, sich eine Gelegenheit entgehen zu lassen«, stimmte der Arkonide zu. »Wenn …« Abrupt brach er ab und starrte entgeistert auf die Gestalt, die aus dem Nichts heraus plötzlich neben seinem Sessel aufgetaucht war. Instinktiv griff er nach seinem Strahler, zögerte jedoch, ihn zu aktivieren, denn der Fremde war unbewaffnet. Er war humanoid, etwa 1,20 groß und sehr schlank, fast dürr. Bekleidet war er mit einer einteiligen Kombination aus plastikähnlichem Material. Es war durchsichtig und schmiegte sich eng an den Körper an, lediglich ein handbreiter Brustring und ein slipförmiger Ausschnitt, der den Unterleib bedeckte, waren in grellem Rot gehalten und nicht transparent. Sah man einmal vom Kopf ab, der mit kurzen blonden Haaren bedeckt war, die sich wie ein Pilzhut an den Schädel schmiegten, war die gelblich‐weiße Haut des Hominiden völlig unbehaart. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos und zeigte keine Besonderheiten, die blauen Kulleraugen vermittelten kindliche Naivität. Du solltest dich davon nicht täuschen lassen, warnte der Logiksektor. Oft trügt der erste Eindruck! Keine Sorge, gab Atlan lautlos zurück. Wer es fertigbringt, trotz eingeschalteter HÜ‐ und Paratronschirme hier aufzutauchen, kann
nicht harmlos sein »Wer bist du?« wandte er sich an den Unbekannten. Mehrere Solaner waren aufmerksam geworden, darunter auch Hayes und einige Stabsspezialisten. Sie hatten ihre Waffen gezogen. Nach wie vor schien sich alles auf den Raumer dort draußen zu konzentrieren, und so fiel es kaum auf, als der High Sideryt einen besonders markierten Knopf tief in die Halterung drückte. Scheinbar zufällig verließen Medos und Kampfroboter ihre Positionen und näherten sich dem Hominiden. »Ich bin Parzelle, der Unscheinbare«, sagte das Wesen im Idiom der Solaner und entblößte dabei sein makelloses Gebiß. Der Name sagte dem Aktivatorträger nichts. Die einzige Information, die verwertbar war, war die, daß Parzelle sich als maskulin empfand. Mittlerweile waren die Automaten nähergekommen. Es war nicht mehr zu übersehen, wem ihre Aufmerksamkeit galt, doch der Eindringling zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht. »Ich weiß jetzt zwar, wie du heißt, doch meine Frage hast du damit nicht beantwortet«, setzte Atlan nach. »Ich komme im Auftrag Termentiers, ich bin sein Beauftragter.« »Du sprichst in Rätseln. Wer oder was ist Termentier, welchen Auftrag hast du?« Der Arkonide gab einen Schuß ins Blaue ab. »Kommst du vielleicht von der ARSENALJYK II? Ist dein Herr Anti‐ ES?« Der Hominide tat so, als hätte er nichts gehört. »Oder bist du ein Abgesandter von Wöbbeking‐NarʹBon?« »Ich bin nicht der, für den du mich hältst«, erwiderte der Eindringling mit seiner dunklen, sanft klingenden Stimme. »Sondern?« »Habe ich mich nicht vorgestellt?« »Warum verschweigst du deine Herkunft?« »Das Wasser der ewigen Gezeiten hat es weggespült«, lautete die sphinxhafte Antwort.
Parzelle gibt sich geheimnisvoll, doch er weiß mehr, als er zugeben will, stellte der Extrasinn fest. »Du weißt, wer ich bin?« erkundigte sich der Unsterbliche. »Natürlich, Atlan, sonst wäre ich nicht hier.« Der Arkonide suchte Blickkontakt mit Sternfeuer und Tyari, doch beide schüttelten nahezu unmerklich den Kopf. Es überraschte ihn nicht sonderlich, daß der »Unscheinbare« telepathisch nicht ausspähbar war. Er wurde abgelenkt, weil Nockemann und Blödel die Zentrale betraten. Der Wissenschaftler wirkte griesgrämig, seinem Assistenten war eine Gemütsbewegung natürlich nicht anzusehen. Gravitätisch stolzierte er auf seinen kurzen Beinen heran und trug würdevoll eine Art Tablett, auf dem der kopfgroße Klumpen Jenseitsmaterie lag, den Atlan erbeutet hatte. »Leider haben wir nichts herausfinden können!« trompetete die mobile Laborpositronik schon von weitem. »Kannst du nicht einmal den Mund halten?« grollte Hage Nockemann. »Deine Wichtigtuerei ist ja schon krankhaft.« Erregt zwirbelte er seinen Bart. »Wir hatten verabredet, daß ich das Ergebnis der Untersuchung bekanntgebe.« »Aber wir haben doch gar kein Ergebnis anzubieten«, widersprach Blödel. »Eben doch!« »Chef, spanne mich nicht auf die Folter. Was hast du entdeckt?« »Nichts.« »Aber dann habe ich doch recht.« »Eben nicht!« »Ei der Daus, er kehrt den Schelm heraus.« »Hier wird weder gefegt noch gereimt, du Dummkopf, hier geht es um Prinzipien«, zeterte der Galakto‐Genetiker. »Auch ein negatives Ergebnis ist ein Ergebnis, und es steht mir als deinem Vorgesetzten zu, das zu verkünden.« »Ihr Herren wißt an allem was zu mäkeln«, beschwerte sich Blödel.
»Ich habe dir verboten, diese verdammten Faust‐Zitate zu benutzen. Wenn du so weitermachst, ist bald dein Ende nahe, du Quadratnull.« »Hört, hört!« Blödels Kichern klang wie das Knarren einer alten Holztür. »Null hoch null ist …« »Das absolute Nichts, kurz Blödel genannt«, fauchte der Wissenschaftler. Dann bemerkte er den ungebetenen Gast. »Nanu, wen haben wir denn da?« Seine Neugier als Wissenschaftler war geweckt. Ohne seinen positronischen Mitarbeiter weiter zu beachten, ging er auf den kleinwüchsigen Humanoiden zu, verhielt dann aber im Schritt und wandte sich an Atlan. »Wer hat uns denn diesen kleinen Besucher geschickt? Anti‐ES?« Der Arkonide verzog das Gesicht. »Vielleicht wüßten wir mehr, wenn euer Auftritt weniger spektakulär gewesen wäre.« »Genau meine Rede. Pausenlos predige ich Blödel, daß er sich nicht so aufdringlich zeigen soll, aber du kennst ihn ja.« Er musterte den Fremden ungeniert. »Ich könnte mir denken, daß ein Translator angebracht wäre.« »Er spricht unsere Sprache«, stellte der Arkonide richtig. »Um so besser, dann kann ich ihn ja gleich befragen.« Nockemanns Blick wurde durchdringend. »Wie heißt du, wer bist du, in wessen Auftrag handelst du?« »Er nennt sich Parzelle, der Unscheinbare, und bezeichnet sich als Beauftragter Termentiers.« Verblüfft blickte der Scientologe den Aktivatorträger an. »Warum hast du mir das nicht vorher gesagt? Welche Informationen besitzt du noch über ihn?« »Von einigen rätselhaften Aussprüchen abgesehen, haben wir beide den gleichen Kenntnisstand.« »Hm«, machte Nockemann. Er wirkte nachdenklich, doch als sein Blick auf einen der Bildschirme fiel, zuckte er regelrecht zusammen.
»Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Dort draußen treibt sich ein fremdes Riesenschiff herum, bei dem es sich möglicherweise um die ARSENALJYK II handelt, und ihr macht Konservation. Warum hat niemand Blödel und mir Bescheid gesagt?« »Der Gefechtsalarm gilt für alle, Sondereinladungen ergehen nicht«, antwortete Hayes sarkastisch. »Oder willst du etwa behaupten, daß du nichts gehört hast?« »Schon, aber wenn ich jedesmal alles hinwerfen würde, könnte ich kein Experiment mehr zu Ende bringen.« Nockemann beugte sich vor und flüsterte: »Was machen wir mit diesem Parzelle? Soll ich ihn mir einmal vornehmen?« »Ich weiß nicht, ob du Erfolg haben wirst«, gab der Aktivatorträger ebenso leise zurück. »Sternfeuer und Tyari haben nichts feststellen können.« »Harte Nüsse sind meine Spezialität, wie du weißt. Ich habe da auch schon eine Idee.« Der Wissenschaftler richtete sich auf und fuhr sich über das strähnige Haar. »Blödel, komm, es gibt Arbeit für uns.« »Welcher Schwierigkeitsgrad?« »Woher soll ich das wissen? Wir haben ja noch nicht einmal angefangen.« »Hoffentlich haben wir mehr Erfolg als mit der Jenseitsmaterie«, unkte die mobile Laborpositronik. »Hör auf, Pessimismus zu verbreiten und hefte dich an meine Fersen. Die Pflicht ruft!« Der Roboter schloß zu seinem Herrn auf. Eilig verließ das ungleiche Paar die Zentrale. Der Beauftragte Termentiers hatte von den beiden kaum Notiz genommen, dafür interessierte er sich ganz offensichtlich für die Jenseitsmaterie, die er eingehend betrachtete. »Weißt du, was das ist?« erkundigte sich Hayes. Der Unscheinbare lächelte, schwieg jedoch und ging auf die
umstehenden Roboter zu. Eine wuchtige Kampfmaschine versuchte, ihn festzuhalten, doch der Hominide zog seinen Arm scheinbar mühelos aus der stählernen Klaue und schob das tonnenschwere Ungestüm einfach zur Seite. Atlan schluckte, und auch der High Sideryt hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. Beide waren sich fast sicher, daß es sich nicht um eine Machtdemonstration handelte – Parzelle machte einfach nur von seinen Möglichkeiten Gebrauch. »Würdet ihr mir bitte Platz machen?« fragte der Unscheinbare in seiner zurückhaltenden Art. Niemand zweifelte daran, daß er in der Lage war, seinen Willen durchzusetzen, dennoch war es bezeichnend, daß er höflich darum bat, passieren zu dürfen. Parzelle wirkte nicht nur geheimnisvoll, ihn umgab trotz seiner Bescheidenheit ein merkwürdiges Flair, eine Aura der Überlegenheit, die einfach zu ihm zu gehören schien. Mit einem Kopfnicken bedeutete Breckcrown Hayes den Robotern, den Weg freizugeben. Die Maschinen wichen zurück. Der Humanoide bedankte sich artig und spazierte unbekümmert davon, um die Zentrale zu inspizieren. Tyari stand auf und hockte sich auf die Lehne von Atlans Sessel. Ein warmes Leuchten erfüllte die Augen des Arkoniden, als ihre Hand die seine ergriff. Für ein paar Sekunden genoß er den direkten Kontakt zur geliebten Frau, dann gewann sein analytischer Verstand wieder die Oberhand und rief ihn in die Realität zurück. Wie die Instrumente übermittelten, hatte die ARSENALJYK II einen entgegengesetzten Kurs eingeschlagen und beschleunigte. Ein plausibler Grund für das Desinteresse an der SOL war zwar nicht zu erkennen, doch die Solaner waren froh, in dieser Situation ungeschoren zu bleiben. Man hatte ja noch das Problem mit dem mysteriösen Parzelle. »Ich glaube, der Unscheinbare bildet keine Gefahr«, sagte Tyari halblaut. »Hast du doch noch seine Gedanken erfassen können?«
»Nein aber Ticker verhält sich völlig neutral.« Der Arkonide drehte sich um. Wie so oft saß der adlerähnliche Vogel auf der Rückenlehne seines Sitzes und hatte den Kopf unter die Flügel gesteckt. Deutlicher konnte das Tier nicht zeigen, daß es den Beauftragten Termentiers als harmlos einstufte. Atlan entspannte sich innerlich. Bisher hatte er sich auf Tickers Instinkt stets verlassen können, und er sah keine Veranlassung, Parzelle als Bösewicht zu betrachten. Ich bin mir ziemlich sicher, daß er nicht von Anti‐ES geschickt wurde, bestätigte der Logiksektor. Er ist aber auch kein Abgesandter Wöbbeking‐NarʹBons, denn er würde sich sonst anders verhalten. Wer ist er dann? fragte der Aktivatorträger gedanklich. Der Extrasinn schwieg. * Die ARSENALJYK II war von den Ortungsschirmen verschwunden. Hayes hatte den Vollalarm aufgehoben, jedoch erhöhte Bereitschaft angeordnet. Zum Schutz ihrer Defensivsysteme flog die SOL den Arsenalplaneten an. Die anfängliche Vorsicht erwies sich als überflüssig. Der Energieschirm existierte nicht mehr, der Himmelskörper war verlassen. Eine Handvoll Beiboote übernahm die Nahaufklärung, aber sie konnten auch nichts anderes melden als das, was bereits vom Raum aus festgestellt worden war – diese Welt gehörte wieder ihren ursprünglichen Bewohnern, den Tieren und Pflanzen. Atlan wurde fast ein wenig melancholisch. Ein Teil von Flora und Fauna hatte ihn im Kampf gegen die Penetranz und das Arsenal unterstützt und ihm den Vogel als Helfer zur Seite gestellt. Nun, da hier wieder Ruhe und Frieden eingekehrt waren, hieß es Abschied nehmen von Ticker, um ihn in seine gewohnte Umgebung
zu entlassen. Schon wollte er eine Transmitterverbindung zu einer dicht über der Oberfläche kreisenden Space‐Jet schalten lassen, als der Vogel heftig mit den Flügeln schlug und sich auf der Schulter des Arkoniden niederließ. Was der Unsterbliche bereits zu ahnen begann, bestätigte Tyari: Ticker wollte bei ihm bleiben. Dankbar streichelte er den Kopf seines gefiederten Freundes, der ihm in den letzten Tagen und Wochen mehr und mehr ans Herz gewachsen war. Der Vogel blickte ihn unverwandt an. Atlan wußte, daß er seine Gedanken aufnehmen und verstehen konnte. Die verschworene Gemeinschaft der Solaner war im Kampf gegen Anti‐ES um ein wertvolles Mitglied erweitert worden. Ein vielstimmiger erstaunter Ausruf ließ ihn herumfahren. Der Platz, an dem Parzelle noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte, war leer. Termentiers Beauftragter war so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. 2. Das Zusammentreffen mit der SOL beunruhigte die aus Gyrantern bestehende Besatzung der ARSENALJYK II überhaupt nicht. Das lag nicht nur daran, daß sie kontrolliert und gelenkt wurden, sondern es war mehr noch das Bewußtsein der eigenen Stärke. Die Anti‐ES hörigen Ebenbilder der Menschen hatten dieses Schiff zwar nicht gebaut, aber sie bedienten es und kannten die Vorzüge. Sah man einmal von den ausgereiften technischen Systemen, den starken Geschützen und den ausgezeichneten Schutzschirmen ab, so verfügte der langgestreckte Raumer zusätzlich noch über eine Waffe, die ihresgleichen suchte. Dabei handelte es sich um einen Partikelstromwerfer, der überlichtschnell Partikelströme verschoß, die zugleich aus reiner Normalenergie, Hyperenergie, aufgeladenen Antimaterieteilchen
und Anti‐Photonen bestanden. Diese einmalige Konstruktion konnte sogar die geheimnisvolle Jenseitsmaterie zerstören, und damit war Anti‐ES nicht nur der SOL überlegen, sondern besaß zugleich auch eine Waffe, gegen die selbst ein so mächtiges Wesen wie Wöbbeking‐NarʹBon auf die Dauer nicht bestehen konnte. Wahrhaft teuflisch war, daß der Partikelstromwerfer auch nach dem Umkehrprinzip arbeiten konnte. Das »Kommando« hatte ein Triumvirat – Erv Breus, Lakoh Mantei und Visor Aargusth. Letzterer befand sich im Leitstand, der im tonnenförmigen Körper an der Spitze der ARSENALJYK II untergebracht war, die beiden anderen hielten sich in der eigentlichen Zentrale auf. Sie war Teil der oberen Polkuppel, die zu jenem elliptischen Gebilde gehörte, das sich am Ende der Konstruktion unmittelbar vor der trichterartigen Triebwerkssektion befand. In der Zentrale hielten sich fast einhundert Gyranter auf, außerdem Mjailam, Sanny und Kik als Rest des Arsenals. Breus und Mantei saßen auf einer Art Podest, doch die Fäden zog in Wahrheit die Penetranz, eine Art biologischer Roboter ohne eigene Intelligenz und wesentliches Bewußtsein, also eine organische Marionette von Anti‐ES. Der eiförmige Körper der Penetranz war etwa einen Meter hoch und maß sechzig Zentimeter im Durchmesser. Mit keinerlei Extremitäten ausgestattet, schwebte sie stets über dem Boden und war von jeglicher Gravitation unabhängig. Die glatte Oberfläche war mit dünnen, fünf Zentimeter langen Haaren bedeckt, die leuchteten. Wellenförmige, unregelmäßige Lichtbewegungen liefen über die Außenhaut, so daß die Färbung und damit auch der Flaum ständig zwischen dunkelblau und violett varierte. Den Mangel, nicht selbst handeln zu können, machte die Penetranz mehr als wett, denn sie konnte jedes Wesen, das einmal in ihrer Nähe war, kontrollieren und lenken, auch wenn es später weit entfernt war. Daß es Ausnahmen gab, hatte sich beispielsweise bei
Atlan gezeigt, doch es war wohl eher einer der regelbestätigenden Sonderfälle. Jedes einzelne Körperhaar der Penetranz vermochte ein Lebewesen zu steuern, im Prinzip konnte also die gesamte Bevölkerung der SOL unterjocht werden und die Besatzung einiger anderer Großraumschiffe dazu. Wer von ihr beherrscht wurde, verlor die Fähigkeit, nach eigenem Willen zu handeln. Er war auch in anderer Hinsicht hilflos, denn er konnte von der Penetranz an beliebige Orte versetzt und auch zurückgeholt werden. Materie war für das eiförmige Pseudolebewesen kein Hindernis, wohl aber Paratronschirme, die es nur schwer, meist jedoch gar nicht durchdringen konnte, dagegen war es gegen Beschuß gefeit. Anders als auf der SOL reagierte man hier auf das Auftauchen des Gegners eher lässig. Auf der ARSENALJYK II begnügte man sich mit der Aktivierung der Schutzschirme, man beobachtete argwöhnisch, aber ohne Furcht. Es gab kein Unbehagen, keine Hektik, keinen Alarm. Die drei führenden Gyranter hatten die entsprechenden Befehle erteilt. Da die Penetranz nicht korrigierend eingriff, war es letztendlich ihre Entscheidung. Natürlich hatte sie in die ARSENALJYK II ebensoviel Vertrauen wie ihr Herr. Der Auftrag war klar umrissen: Die Rest‐SOL sollte vernichtet werden und die Junk‐Station, damit also auch Prezzar und Tyar. Nur die Eigenintelligenzen der beiden Galaxien konnten die Auflösung von Bars‐2‐Bars erreichen, doch wenn sie erst einmal ausgelöscht waren, würde die Verzahnung von Bars und Farynt enger als je zuvor. Die Penetranz hatte das Dreigestirn der Gyranter darüber informiert, daß es gegen die Solaner ging, aber keine Einzelheiten verlauten lassen. Verschwiegen hatte sie auch, daß sie und das Schiff sich völlig selbst überlassen waren – aus welchen Gründen auch immer. Anti‐ES pflegte für das, was es vorhatte oder zu tun gedachte, keine Begründung zu liefern.
Ob die Penetranz über eigene Sinnesorgane verfügte oder die Geknechteten als Auge und Ohr mißbrauchte, war unbekannt, ihre Umgebung machte sich auch keine Gedanken darüber. In dieser Beziehung zeigten die Gyranter eine gewisse Stupidität und bedingt durch die Beeinflussung keinerlei Neigungen, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit ausdruckslosem Gesicht betrachtete der schlitzäugige Mantei das Abbild der Rest‐SOL, die auf einem großen Panoramaschirm detailgetreu wiedergegeben wurde. Er war ein reichdekorierter Militär, der üblicherweise als Flottenchef fungierte. Breus war Offizier im gleichen Rang, hatte sich aber weniger als Haudegen und Praktiker einen Namen gemacht als vielmehr als glänzender Stratege. Innerhalb dieser Troika war Aargusth der einzige Zivilist, aber nicht weniger hochkarätig als die beiden anderen. Er war einer der führenden Wissenschaftler der Gyranter und ein Technokrat reinsten Wassers. Nicht nur die ARSENALJYK II mit ihrem Partikelstromwerfer war außergewöhnlich, Anti‐ES hatte auch bei seinem Hilfsvolk auf die Besten zurückgegriffen, um Pannen und Mißerfolge von Anfang an auszuschließen. »Wir können die Solaner hier und jetzt vernichten«, ließ sich Lakoh Mantei vernehmen. »Sie haben keine Chance, wenn wir sofort das Feuer eröffnen«, pflichtete der dunkelhäutige Breus bei. »Nein, kein Angriff«, übermittelte die Penetranz mental. »Unsere Feinde sollen nur erschreckt werden. Die Zerstörung der SOL ist für später geplant.« Die beiden Raumfahrer begehrten nicht auf. Natürlich brannten sie darauf, den verhaßten Gegner zu vernichten, aber sie wußten, daß es sinnlos war, sich gegen einen Befehl aufzulehnen. Widerspruch wurde durch geistigen Zwang unterdrückt. »Wenn die Solaner besiegt sind, wartet noch eine weitere Aufgabe auf uns.« Auch das zwangsrekrutierte Arsenal konnte die mentale Stimme
der Penetranz vernehmen. Mjailam, Sanny und Kik reagierten auf diese Ankündigung relativ gleichgültig, nicht dagegen die Offiziere. Sie wurden hellhörig, verkniffen sich jedoch eine entsprechende Frage. »Die Junk‐Station muß vernichtet werden, und damit zugleich Tyar und Prezzar.« Mantei und Breus nickten gelassen, aber Mjailam wurde unruhig, der inkarnierte Instinkt Prezzars. Er beugte sich innerlich auf, versuchte, die geistige Fessel zu sprengen, doch ein zwingender Impuls der Penetranz brachte ihn augenblicklich zu Räson. »Beschleunigt! Wir wechseln über in den Hyperraum!« * Die Manöver der ARSENALJYK II waren zur Zufriedenheit der Penetranz ausgefallen. Die Besatzung war derart mit dem Schiff vertraut, als hätte sie nie woanders Dienst getan. »Zurück zum Arsenalplaneten!« Das Zusammenspiel zwischen den Gyrantern und der ihnen anvertrauten Technik funktionierte ausgezeichnet. Mit flammenden Triebwerken nahm der Raumer Fahrt auf und wurde schneller. Ohne Vorwarnung tauchte plötzlich ein kleinwüchsiger Humanoider in der Zentrale auf. Er materialisierte nicht nach Art eines Teleporters, er war auf einmal da. Die Gyranter waren vor Überraschung wie gelähmt, nicht dagegen das Pseudolebewesen, das ein direkter Ableger von Anti‐ES war. »Greift zu den Waffen!« Die mit Mentalempfängern ausgerüsteten Roboter schienen auf einen solchen Befehl nur gewartet zu haben. Mit angeschlagenen Waffenarmen kamen sie drohend näher. Die mächtige Impulsfolge brachte auch die Gyranter in die Wirklichkeit zurück. Die Starre fiel von ihnen ab, alle Männer und
Frauen zogen ihre Strahler und richteten sie auf die schmächtige Gestalt in der durchsichtigen Kombination. Dem freundlich wirkenden Blondschopf war weder Unruhe noch Furcht anzusehen, er stand einfach da und blickte den herankommenden Automaten gelassen entgegen. »Stop!« Abrupt verhielten die Maschinen. Auf einmal schien es in dem gewaltigen Raum vor Spannung zu knistern, Aggressivität erfüllte den geistigen Äther. Und dann schlug die Penetranz zu, unbarmherzig und mit der geballten Kraft ihres von Anti‐ES verliehenen psionischen Arsenals. Die Wucht der zwingenden Impulse war so stark, daß die indirekten Ausstrahlungen sogar die kontrollierten Gyranter erfaßte und sie taumeln ließ. Die abbrandende Flut des suggestiven Mentalpotentials bereitete ihnen fast körperliche Qualen. Ein Hypno‐Bombardement von ungeheurer Intensität prasselte auf die anwesenden Lebewesen hernieder, dabei bekamen sie nur einen Bruchteil dessen ab, was gezielt auf den Fremden gerichtet wurde. Der allerdings zeigte keine Wirkung. Er lächelte sogar. Die Penetranz erkannte, daß diesem Zwerg so nicht beizukommen war und brach den erfolglosen Versuch ab. Atlan hatte den Impulsen auch widerstanden, doch ihm haftete so etwas wie die Aura der Kosmokraten an, dagegen wirkte der Eindringling eher gewöhnlich. Daß er es nicht war, bewies sein Auftauchen, doch wo war er einzuordnen? Eine gewisse Unruhe erfaßte das eiförmige Wesen. ,Wer bist du?ʹ »Ich bin Parzelle, der Unscheinbare«, sagte der Hellhäutige in der Sprache der Gyranter und zeigte damit, daß er durchaus für Mentalschwingungen empfänglich war, obwohl er den Unterwerfungsimpulsen getrotzt hatte. ,Und wer hat dich geschickt?ʹ »Geschickt?« ,In wessen Auftrag handelst du?ʹ »Ich bin der Beauftragte Termentiers.«
Die Namen und Angaben sagten der Penetranz nichts. In ihrer Hilflosigkeit rief sie geistig nach Anti‐ES, doch die Wesenheit meldete sich nicht. Unmut kam nicht auf, dazu waren die Bindungen zu stark, doch irgendwie fühlte sich der organische Ableger von Anti‐ES überfordert. Ihm fehlten ganz einfach die Informationen, wie eine solche Situation zu bewältigen war. Daß Anti‐ES hinter Parzelle steckte, war ausgeschlossen, also mußte ihn die Gegenseite geschickt haben. Wie sie das bewerkstelligt hatte, ließ die Penetranz dahingestellt – der Unscheinbare war ein Feind. »Tötet ihn!« Die vernichtenden Strahlen von Dutzenden Waffen konzentrierten sich auf den Beauftragten Termentiers. Das Energiegewitter blieb ohne Wirkung, es sah aus, als würde der Kleine in einer feurigen Blase stecken, hervorgerufen durch den Beschuß. Ein Individualschirm technischer Schutzeinrichtungen. Verwirrt befahl die Penetranz, das Feuer einzustellen. »Setzt ihn fest!« Roboter und Gyranter kreisten den Hominiden ein und griffen nach ihm, doch sie machten die gleichen Erfahrungen wie die Leute auf der SOL: Man konnte ihn weder festhalten noch überwältigen. Noch immer freundlich und als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, einer solchen Übermacht zu trotzen, marschierte Parzelle an seinen Widersachern vorbei und nahm die technische Einrichtung in Augenschein. Völlig perplex folgte ihm die Penetranz, während der Kleine höflich grüßend, aber ohne eine Frage zu stellen, von Pult zu Pult ging. Ob ihn etwas besonders interessierte, war nicht zu erkennen, denn er hielt sich nirgends lange auf. Die Gyranter betrachteten ihn mit einer gewissen Scheu und zogen instinktiv die Köpfe ein, wenn der Humanoide sich ihnen näherte. Daß ein Fremder sich hier so frei und ungezwungen bewegen
konnte, verunsicherte sie ziemlich. ,Was willst du von uns?ʹ »Nichts, ich informiere mich nur.« ,Zu welchem Zweck?ʹ »Es dient der Erweiterung des Wissens«, sagte Parzelle freundlich. Mit dieser diplomatischen Antwort konnte das Pseudolebewesen nichts anfangen. »Du hast gesagt, daß du der Beauftragte Termentiers bist, also interessiert sich dein Herr für die ARSENALJYK II. Warum, wer ist er?« Der Unscheinbare lächelte, schwieg jedoch. Bevor die Penetranz eine weitere Frage stellen konnte, verschwand er. Gleich darauf stieß das exotische Schiff in den Hyperraum vor und raste in jener unbegreiflichen Dimension seinem Ziel entgegen, dem Arsenalplaneten. Viel Zeit, um sich noch gedanklich mit dem geheimnisvollen Unbekannten zu beschäftigen, blieb nicht, denn ein festumrissener Auftrag war zu erfüllen. * Da waren sie wieder, die schwachen Gedanken der Jenseitsmaterie, doch Atlan empfing sie ganz deutlich. Sie teilte ihm etwas mit: Aufgrund der veränderten Umstände werde ich in dieser besonderen Form nicht mehr lange existieren und mich in normales Nickel verwandeln. Wenn du mich nutzen willst, mußt du dich beeilen. Wieviel Zeit bleibt noch? Nicht mehr viel! Nachdenklich ließ sich der Arkonide zurücksinken. Natürlich war er für den Hinweis der Jenseitsmaterie dankbar, aber daß er gewissermaßen in Zugzwang gebracht wurde, paßte ihm nicht sonderlich. Er hätte sie lieber bei Bedarf und ganz gezielt eingesetzt,
doch unter diesen Umständen blieb ihm gar keine andere Wahl. Er mußte die Jenseitsmaterie bei der nächstbesten Gelegenheit verwenden, wenn er ihre fast wunderbaren Eigenschaften nicht ungenutzt lassen wollte – und das hatte er nicht vor. Das Schrillen des Ortungsalarms riß ihn aus seinen Überlegungen. Er brauchte die Anzeigen nicht lange zu studieren, denn die Wiedergabe auf einem Bildschirm zeigte deutlich, mit wem man es zu tun hatte: Die ARSENALJYK II war zurückgekehrt. Breckcrown Hayes war auf dem Posten. Der Ortungsalarm war noch nicht verhallt, als der Gefechtsalarm durch das Schiff dröhnte. Und diesmal hatte er durchaus seine Berechtigung. Wie ein verfremdeter, gigantischer Greif stürzte sich der langgestreckte Raumer auf die SOL und griff an. Schon erschütterten die ersten Treffer den Verbund aus Mittelteil und SZ‐1. Und dann schlug die SOL zurück. Einhundert Transformkanonen mit einer Abstrahlleistung von je 6.000 Gigatonnen TNT traten in Tätigkeit. Dabei wurden die Geschosse entmaterialisiert, mit Überlichtgeschwindigkeit abgestrahlt und erreichten das Zielgebiet als 5‐D‐Impuls. Dort wurden sie nach Art eines Fiktivtransmitters ohne Gegenstation wiederverstofflicht und explodierten sofort. In den Schirmen der ARSENALJYK II tobte ein Energiegewitter von unvorstellbaren Ausmaßen, doch die Defensivsysteme hielten stand. Nun ging es Schlag auf Schlag. Die ARSENALJYK II tauchte nach unten weg und feuerte eine Breitseite ab, die ausschließlich das röhrenartige Mutterschiff traf. Die HÜ‐ und Paratronschirme flackerten und zeigten Wirkung. Gedankenschnell erreichte die Belastung einhundertvierundsiebzig Prozent. Fast zwei Sekunden lang blieb die Anzeige auf dieser Marke stehen, und schon erfolgte der nächste Angriff. Einhundertvierundachtzig Prozent! Die Schutzschirme wurden an einigen Stellen instabil, Schauern aus Energie und Strahlen trafen die Hülle aus beschußverdichtetem Ynkelonium‐Terkonit‐Verbundstahl, dessen Schmelzpunkt bei
100.000 Grad Celsius lag. Das Schiff wurde nach unten weggedrückt, tosend arbeiteten die Triebwerke dagegen an. Das schrille Kreischen von überbeanspruchtem Material mischte sich mit dem Brüllen der überbelasteten Meiler. Die Andruckabsorber waren für Sekundenbruchteile überfordert, das Licht flackerte. Niemand hörte das Ächzen und Knacken der Verstrebungen und statischen Elemente, selbst das Jaulen der Sirenen ging in dem infernalischen Lärm fast unter. »Vakuumeinbruch in Sektor 7, Vakuumeinbruch in Sektor 7!« plärrte eine Automatenstimme. »Sicherheitsmannschaften für diesen Bezirk sofort zur Einsatzstelle. Es dürfen nur die folgende Ebenen und Korridore …« Die Waffentechniker in den Geschützkuppeln hatten auf Salventakt umgeschaltet. Verbissen nahmen sie den Gegner unter Feuer, wieder und wieder, erzielten auch Treffer auf Treffer, doch der exotische Raumer zeigte kaum Wirkung. »Feuer in den Außenbezirken der Astronomischen Abteilung. Alle Betroffenen ziehen sich auf Deck 3 zurück und benutzen den Antigrav. Niemand darf mehr passieren, Rettungskommandos sind unterwegs.« Cara Dozʹ Gesicht war schweißüberströmt. Sie setzte ihr ganzes Können ein, um das Schiff durch ihre Steuerkünste vor den Angriffen zu schützen und gleichzeitig den Verteidigern der SOL Gelegenheit zu geben, die Transformkanonen so wirkungsvoll wie möglich einzusetzen. Bis jetzt hatte sie den unvollständigen Hantelraumer mit geradezu abenteuerlichen Manövern vor dem Schlimmsten bewahren können, aber auf die Dauer gesehen war selbst diese begnadete Emotionautin überfordert, das Schiff zu retten. Ein Stoß von solcher Heftigkeit erschütterte die SOL, daß sie aus der Bahn geworfen wurde und vom Kurs abkam. Die Beleuchtung erlosch, Schirme und Monitoren wurden dunkel. Titanenfäuste preßten die Solaner in die Haltegurte und raubten ihnen fast das
Bewußtsein. Knallend zerplatzten Abdeckungen, Geräte wurden aus den Halterungen gerissen und davongewirbelt, irgendwo ging ein Instrumentenpult zu Bruch. Zahlreiche Medos und andere Roboter verloren den Halt und sausten über den geneigten Boden, verkeilten sich ineinander, prallten gegen Sitzverankerungen und zertrümmerten Konsolen und andere Anlagen. Die Notbeleuchtung ging an. Erst jetzt war das Ausmaß der Zerstörung zu übersehen. Die Zentrale glich einem Schlachtfeld. An einigen Stellen waren Leitungen und Anschlüsse durchtrennt worden, die fahlen Blitze von Kurzschlüssen ließen Funken sprühen, Lichtflammen schossen empor. Flammen züngelten aus Datensichtgeräten und Verteilern. Schwarzer stinkender Qualm breitete sich aus, es roch nach Ozon und verschmorter Isolierung. Rasselnd erhöhte die Lufterneuerungsanlage ihre Umwälzleistung. Aus den Tiefen des Schiffes war ein durchdringendes Heulen zu hören, untermalt von einem unheilvollen Rumoren, der Raumer stampfte und schlingerte wie ein Ozeanriese bei schwerer See. Mit schreckgeweiteten Augen betrachteten die Solaner in der Zentrale das Chaos um sie herum. Einige waren leicht verletzt wie Hayes. Der linke Ärmel seiner Kombination war aufgerissen, aus einer Schnittwunde am Kinn tropfte Blut. Auch Atlan hatte eine Blessur davongetragen. Ein schweres Steckmodul war für den schmerzhaften Bluterguß an seinem rechten Schienbein verantwortlich. Daß es woanders nicht viel besser aussah, bewiesen die pausenlos eingehenden Meldungen: Leck am Außenschott des Beiboothangars SZ‐1/1, Ausfall einer Wasseraufbereitungsanlage, Brand in einem Ersatzteildepot, Notabschaltung von NUG‐Kraftwerk MT‐4, da einer der acht Schwarzschildreaktoren außer Kontrolle zu geraten drohte, Überschwemmung einer automatischen Produktionsanlage infolge geplatzter Versorgungsleitungen und, und, und. Die Materialschäden waren kaum zu übersehen, schlimmer war jedoch,
daß es eine ganze Anzahl von Verletzten gegeben hatte, darunter auch einige Schwerverletzte. Glücklicherweise war nicht ein einziger Toter zu beklagen, dennoch war die Lage der Solaner um Atlan und Hayes alles andere als rosig. Unbeeindruckt gingen die intakt gebliebenen Medos, Wartungsroboter und Feuerlöschautomaten daran, ihre Pflicht zu tun, doch der nächste Angriff der ARSENALJYK II ließ nicht auf sich warten. Der Aggressor ignorierte das wütende Abwehrfeuer einfach, das ihm entgegenschlug. Er hielt es nicht einmal für erforderlich, Positionswechsel vorzunehmen. Wieder bewegte sich eine Feuerwalze auf die SOL zu, wieder schien der Raum zu brennen. Das sonst so mächtige Schiff, Stolz aller Solaner, versuchte zu fliehen, doch die Tod und Verderben bringenden Strahlen trafen mit robotischer Präzision. Der angeschlagene Raumer schüttelte sich wie ein waidwundes Tier … * Breus und Mantei strahlten. Sie wußten, daß die SOL es mit einer erdrückenden Übermacht gyrantischer Schiffe aufgenommen und sie in die Flucht geschlagen hatte, aber diesmal stand der Kampf unter anderen Vorzeichen. Die Solaner konnten der ARSENALJYK II nicht Paroli bieten, sie gerieten mehr und mehr auf die Verliererstraße. Der gewiefte Stratege Erv Breus hatte anfangs darauf gedrungen, daß man vorsichtig taktierte, um die eigene Stärke und die des Gegners auszuloten. Er wollte angesichts der negativen Erfahrungen kein Risiko eingehen. Die Penetranz war von der Unbesiegbarkeit des dreitausend Meter langen Flugkörpers überzeugt, doch sie ließ ihn gewähren. Möglicherweise war sie durch das unerwartete Auftauchen Parzelies noch ein wenig verwirrt, vielleicht war sie
auch verunsichert, weil sie in einer solchen Situation auf sich allein gestellt gewesen war. Als sich immer deutlicher zeigte, wer die besseren Trümpfe besaß, gab Breus seine Zurückhaltung auf und überließ Lakoh Mantei völlig das Kommando. Der war nun in seinem Element. In dem Bewußtsein, unangreifbar zu sein, befahl er die totale Offensive. Daß sich die anderen verbissen wehrten und aus allen Rohren feuerten, entlockte ihm angesichts der eigenen Überlegenheit nur ein müdes Lächeln. Sanny und Kik hatten alles mitbekommen, und sie wußten, daß es gegen Atlan und die SOL ging. Beide litten stumm, doch es war eine Art gedrosselter Schmerz, keine direkte Qual, eher ein dumpfes Unbehagen, oberflächliches Mitleid und keine wirkliche Anteilnahme. Die Penetranztreue überwog, die Abhängigkeit von ihr und die völlige Beherrschung durch sie filterte die Gefühle. Nur der Gehorsam galt, und hinter dem Befehl, Anti‐ES zu dienen, hatte alles andere zurückzustehen. Geradezu vorbildlich verhielten sich in dieser Hinsicht die beeinflußten Gyranter. Sie taten alles, um der SOL und ihrer Besatzung den Garaus zu machen. Die eigenen Niederlagen waren nicht vergessen, sie haßten dieses Volk regelrecht, das ihnen äußerlich so ähnlich war, doch nicht Emotionen bestimmten ihr Handeln, sondern Anti‐ES. »Angreifen, pausenlos angreifen! Und bring immer den Partikelstromwerfer zum Einsatz, Visor!« Manteis Begeisterung und seine Siegeszuversicht übertrugen sich auf seine Untergebenen. Zwar waren sie diszipliniert genug, nicht in einen Freudentaumel zu verfallen, was die Penetranz ohnehin nicht zugelassen hätte, aber ihre Augen leuchteten. Deutlich war zu erkennen, daß die SOL angeschlagen war. Farbige Schlieren durchzogen ihre Schutzschirme und zeigten deutliche Anzeichen der Instabilität, die kinetische Energie der Treffer erschütterte den Raumer und machte ihn fast zum Spielball
entfesselter Kräfte. »Gleich haben wir es geschafft!« brüllte Mantei. »Feuert, was das Zeug hält! Der Sieg ist unser!« * »Wir können der ARSENALJYK II nicht länger standhalten.« Breckcrown Hayesʹ Stirn war umwölkt, seine Miene drückte Besorgnis aus. »Wir müssen uns absetzen.« »Ja, im Augenblick bleibt uns nur der Rückzug«, pflichtete Atlan bei. Wie vornehm ihr euch ausdrückt, spottete der Extrasinn. Die SOL muß fliehen, daran ändern auch beschönigende Worte nichts. Du vergißt, daß uns die sechzig Transformkanonen der SZ‐2 fehlen, gab der Arkonide unwillig zurück. Anti‐ES setzt nicht nur ein neues Schiff ein, sondern auch andere Waffen. So schlau bin ich auch, aber weißt du ein Mittel dagegen? dachte der Aktivatorträger. Mein Metier ist es, alles logisch zu erfassen und entsprechend auszuwerten, für Waffentechnik und Erfindungen bin ich nicht zuständig, kam es spitz zurück. Der High Sideryt hatte die nötigen Anordnungen bereits getroffen. Cara Doz flog nach wie vor Ausweichmanöver, steuerte dann einen Kollisionskurs und zog die SOL steil empor. Wieder wurde das Schiff getroffen, Vibrationen griffen von der Außenhülle auf Stützelemente und Zwischendecks über, doch die unerwartete Bahnänderung ließ den Großteil der Salve wirkungslos im All verpuffen. Die Emotionautin gab Gegenschub. Das Schiff schüttelte sich und bockte wie ein störrisches Pferd, als die Fahrt so abrupt aufgehoben wurde. Sie zwang es in eine enge Parabel und beschleunigte mit
Höchstwerten. Zwar wurde die Leistung von Kreuzern, Korvetten und Space‐Jets nicht ganz erreicht, die es auf 800 km/sec² brachten, aber der gegnerische Raumer fiel in dieser Phase deutlich zurück. Die NUG‐Strahltriebwerke waren auf Vollast geschaltet worden, und auch die NUG‐Versorgungskraftwerke arbeiteten auf der höchsten Stufe. Ihre Leistung gaben sie vor allem an die energieverzehrenden Schutzschirme ab. Die anderen Großverbraucher, die Geschütze, wurden nur noch sporadisch eingesetzt. Natürlich wußten die Verantwortlichen, daß der Gegner durch die Transformkanonen weder zu beeindrucken noch aufzuhalten war, doch nun zeigte sich eine kleinere Einheit sogar als überlegen und lehrte sie das Fürchten. Mit dem ihnen eigenen Selbstverständnis wurde aus der Flucht der Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, und so gab man nicht einfach auf, sondern lieferte dem Feind ein Rückzugsgefecht. Ziel der SOL war eine nahe Sonne, in deren Korona sie sich nach dem Willen, von Atlan und Hayes verbergen sollte, doch zu ihrem Leidwesen nahm der exotische Flugkörper die Verfolgung auf. Das brachte den Arkoniden auf einen verrückten Gedanken. Schon reifte in seinem Kopf ein abenteuerlicher Plan heran … * Die Scientologen hatten sich in ihr Labor zurückgezogen. Zu erforschen gab es nichts, denn die Apparatur, die in Blödels Röhrenleib verborgen war und Aufschluß über Parzelles Körper geben sollte, war nicht zum Einsatz gekommen, denn der Unscheinbare hatte sich schon wieder abgesetzt. Natürlich hatte sich der Galakto‐Genetiker darüber geärgert, aber er hoffte, daß er noch einmal eine Chance bekam. Dessen ungeachtet, daß die Solaner ums Überleben kämpften und
ihr Schiff schwere Treffer erhielt, hatte es sich Nockemann in einem Sessel bequem gemacht, um sein in letzter Zeit erworbenes technisches Wissen – speziell über die SOL – zu überprüfen. Sein Assistent diente ihm dabei als Abfragepartner. »In einem Fall wie diesem wäre unser Platz eigentlich an der Seite Atlans«, meinte der Roboter. »Was soll ich in der Zentrale? Helfen kann ich nicht, für eine Amme ist Atlan zu erwachsen, und Leute, die herumstehen und dummes Zeug reden, gibt es auf diesem Schiff mehr als genug. Warum soll ein Wissenschaftler meines Formats die Schar dieser Bordnarren noch vergrößern?« Der Solaner zwirbelte aufgebracht seinen Bart. »Los, mach weiter!« »Wie du meinst, Chef. Also: Es gibt fünf Aggregatzustände. Wie werden sie genannt?« »Fest, flüssig, gasförmig, Plasma, NU‐Gas, kurz NUG«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Sehr gut, Chef«, lobte die mobile Positronik. »Was versteht man unter NU‐Gas?« »Es sind künstlich zusammengeballte, positive Positronen.« »Richtig. NUG‐Kraftwerke und NUG‐Triebwerke benötigen das NU‐Gas als Energie. Nun haben diese Positronen aber die unangenehme Eigenschaft, sich explosionsartig nach allen Seiten auszudehnen. Wie wurde dieses Problem gelöst?« »NU‐Gas wird durch hochgespannte Energiefelder so stark komprimiert, daß es zum festen Körper wird. Eine Treibstoffkugel wiegt bei der hier herrschenden Schwerkraft 200.000 Tonnen, hat jedoch nur ein Volumen von 5,8 Kubikmetern. Die Lagerung erfolgt in Räumen, in denen Schwerelosigkeit herrscht, die Kugeln werden von Fesselfeldern auch bei Gewaltmanövern versorgt, um zu verhindern, daß die Kugeln bei Ausfall oder Störung der Antigrav‐ Generatoren Decks und Wände durchschlagen.« »Ausgezeichnet, Chef, sogar die möglichen Gefahren hast du aufgezeigt.«
»Hör auf, dich als Lehrer aufzuspielen! Ich weiß selbst, daß ich gut bin!« wies ihn Nockemann zurecht. »Das werden wir gleich herausfinden. Kommen wir zu den Normaltriebwerken für den Flug bis zur einfachen Lichtgeschwindigkeit. Es handelt sich dabei um die Protonenstrahltriebwerke mit Antimaterieeffekt. Was weißt du darüber?« »Alles«, behauptete der Genetiker kühn. »Jede der beiden SOL‐ Zellen besitzt 24 NUG‐Protonenstrahltriebwerke, das Mittelstück 12. Das einzelne Triebwerk ist identisch mit einem NUG‐ Schwarzschildreaktor, der die Aufgabe hat, die aus dem Treibstoffvorrat herausschießenden Positivprotonen nutzbar zu machen. Waagrecht hinter dem NUG‐Schwarzschildreaktor befindet sich eine solche Energie‐Kugel aus Protonen, die von einem Fesselfeld gehalten und eingeengt wird. Sie wird von einer Ynkelonium‐Terkonit‐Schale umschlossen, die zwölf Meter durchmißt.« »Wie heißt dieser Hochenergieschirm?« Hage Nockemann blickte anklagend zur Decke. »Es ist das Waringsche Koma‐Verdichtungsfeld. Darf ich nun fortfahren?« »Ich bitte darum, Chef.« »Wenn man in diesem Feld durch entsprechende Schaltungen eine Strukturöffnung in der Größe von 70 nm schaltet, so entweichen zahllose Protonen in einer gezielten Richtung, doch sie erreichen nicht den nebenstehenden Reaktor, weil sie sich blitzschnell in alle Richtungen verteilen. Man muß sie also energetisch einengen und leiten, so daß es zum gepulsten Protonenstrahl kommt. Hier kommt wieder das Waringsche Koma‐Verdichtungsfeld zum Einsatz, das den gesamten Reaktor und das schlauchförmige Einschußfeld für den gepulsten Strahl gewissermaßen abriegelt.« »Und weiter?« »Nun sei doch nicht so ungeduldig.« Der Wissenschaftler kratzte
sich am Kopf. »Man wird doch noch mal nachdenken dürfen.« »Warum rufst du die Daten nicht einfach ab, Chef?« »Weil ich ein Mensch bin und keine Positronik.« »Mich hautʹs um. Darauf wäre ich nie gekommen.« »Werde nicht frech, du Hohlkopf, sonst fristest du dein kümmerliches Dasein in Zukunft wieder als Laborpositronik, hast du das verstanden?« »Du siehst mich zerknirscht, Chef. Kannst du mir noch einmal verzeihen? Ich sage auch vor.« »Unsinn, Blödel, wir sind doch keine Kinder«, sagte der Genetiker bereits halbwegs versöhnt. »Warte, ich glaube, jetzt habe ich es. Der Treibstoff wird zerstrahlt und löst sich innerhalb des Schwarzschildreaktors in fünfzig Prozent reine Gammastrahlung und in fünfzig Prozent Anti‐Protonen auf. Unter dem Einfluß eines Reflektor‐Schwerefelds kommt es dann zum Antimaterieeffekt, der eine hundertprozentige Leistungsausbeute des Treibstoffs ermöglicht.« »Sehr souverän, Chef. Kommen wir nun zu den beiden anderen in der SOL installierten Triebwerksarten.« »Da sind zum einen die Waringschen‐Ultrakompakt‐ Kompensatoren für den normalen Überlichtflug innerhalb einer Galaxis. Mit diesen Konvertern kann der Linearraum bezwungen werden, also die neutrale Zone zwischen der vierten und der fünften Dimension. Die Geschwindigkeit, die dabei erreicht werden kann, beträgt viertausend bis millionenfach Überlicht. Bei Flügen von Galaxis zu Galaxis wird der Dimesexta‐Antrieb benutzt, der Geschwindigkeiten von millionenfach bis milliardenfach Überlicht ermöglicht. Das Schiff bewegt sich dabei in der sogenannten Dakkarzone, dem Bereich zwischen der fünften und der sechsten Dimension.« »Eine reife Leistung. Was kannst du mir nun im Detail über die Ultrakomp‐Aggregate sagen?« »Ja, also die Waringschen‐Ultrakompakt‐Kompensatoren sind – äh
– ich meine, jede Kugelzelle besitzt davon sechs, das Mittelschiff vier. Die Reichweite pro Konverter beträgt 2,5 Millionen Lichtjahre, mithin gesamt 25… ach, Unsinn, 40 Millionen Lichtjahre«, stotterte Nockemann. Der Interkom‐Anschluß sprach an. Der Solaner empfand das als erlösend und ging sofort auf Empfang. Atlan meldete sich. »Hage, ich habe vor, der ARSENALJYK II einen Besuch abzustatten. Hast du Interesse, mich zu begleiten, Blödel natürlich eingeschlossen? Tyari, Sternfeuer und Twoxl sind mit von der Partie. Es liegt mir fern, dich zu bedrängen oder zu beeinflussen, denn das Unternehmen ist äußerst riskant, aber ihr als Scientologen würdet das Team ideal ergänzen und komplettieren. Laß dir die Sache mal durch den Kopf gehen und sage mir innerhalb der nächsten halben Stunde, wie du dich entschieden hast.« »Da gibt es nichts zu überlegen«, sprudelte der Galakto‐Genetiker hervor. »Du kannst auf uns zählen, wir sind schon unterwegs. Bis gleich.« Nockemann schaltete ab und sprang auf. Seine Situation über die Antriebssysteme der SOL waren noch nicht so weit gediehen, daß er die Wirkungsweise der Waring‐Konverter und des Sextadimtriebwerks erklären konnte, und so war er froh, Blödels bohrenden Fragen entkommen zu können, ohne preisgeben zu müssen, daß sein Wissen lückenhaft war. Erst später ging ihm auf, auf was er sich da eingelassen hatte. Der Arkonide wollte sich in die Höhle des Löwen wagen, sich an Bord jenes Schiffes begeben, dem sogar die SOL unterlegen war. Da er ein Freiwilligenkommando zusammengestellt hatte, bedeutete das, daß der Einsatz des Generationenschiffs nicht geplant war. Da logischerweise eine Transmitterverbindung ausschied, mußte er auf Beiboote zurückgreifen. Und genau das hatte Atlan vor. 3.
Die beiden Space‐Jets waren startklar. Auf Geheiß des Aktivatorträgers hatte sich die Jenseitsmaterie schützend um die Flugkörper gelegt, den verbleibenden Rest hatte Blödel in seinem Körper aufgenommen, der auch Wuschel als Unterkunft diente. Pilot der RAKETE, die Atlan unterstand, war Uster Brick, die WINDHUND wurde von Prospov Delta gesteuert und von Ingra Scanmerock befehligt. Beide waren alte Hasen. Vor allem die Kommandantin zeichnete sich durch Umsicht und Besonnenheit aus, aber auch durch Tatkraft. Zur Besatzung der WINDHUND gehörten unter anderem Sternfeuer und Twoxl, von deren gemeinsamer geistiger Ausstrahlung der Arkonide sich einiges erhoffte – das gleiche galt für die positive Wirkung, die von ihm und Tyari ausging. Aufgrund des enormen Risikos hatte Atlan den Stoßtrupp bewußt so klein wie möglich gehalten. Nicht mehr als eine Handvoll Männer und Frauen begleiteten ihn und sein Team auf diesem Flug. Hayes und sein Extrasinn hatten vergeblich versucht, ihn von dieser Wahnsinnsidee abzubringen, aber er war entschlossen, das Äußerste zu wagen. Um die Ortungsgefahr so gering wie möglich zu halten, war verabredet worden, daß zwischen den Beibooten und dem Mutterschiff auf jeglichen Funkverkehr verzichtet wurde. Lediglich im Notfall sollte ein Rafferimpuls gesendet werden. Als einzige Sicherheitsmaßnahme blieben die Transmitter der SOL ständig auf Empfang geschaltet, doch ob diese einzige Rettungsmöglichkeit nicht nur theoretischer Natur war, vermochte niemand zu sagen. Es war und blieb ein Himmelfahrtskommando. Die Startfreigabe erteilte der High Sideryt persönlich. Die Hangarluft wurde abgesaugt, dann glitten die mächtigen Schottflügel zurück. Sofort schoben sich Filter vor die Optiken, dennoch tauchte wabernde Lohe die Zentralen der Space‐Jets in feuriges Licht. Fast sah es so aus, als würden Protuberanzen nach
den Beibooten greifen, um sie zu verschlingen, Flammen schienen gierig an der Hülle des Hantelraumers emporzuzüngeln. Sanft hoben die diskusförmigen Einheiten ab und schwebten aus dem Hangar. Mit mäßiger Geschwindigkeit passierten sie nacheinander die geschaltete Strukturlücke in den Schirmfeldern und tauchten ein in die atomare Glut. Schneller werdend, mit aktivierten Schutzschirmen, durchstießen sie die Sonnenkorona – hochverdünnte ionisierte Gase mit einer Temperatur von einer Million Kelvin. Und dann lag der unendlich scheinende Raum vor ihnen. Sofort wurden die Defensivsysteme abgeschaltet, behutsam und mit minimalem Energieaufwand suchten die Orter jenen Teil des Alls ab, der zwischen dem Stern und dem Gestirn des Arsenalplaneten lag. Beide Raumer blieben dicht beisammen, so daß eine Verständigung über Normalrichtfunk ohne verräterische Streuimpulse möglich war, doch auch darauf verzichtete Atlan einstweilen. Alles war geplant und abgesprochen, und da man mit Tyari und Sternfeuer über zwei Telepathinnen verfügte, war man nicht unbedingt auf die Technik angewiesen. Die Triebwerke waren so eingepegelt worden, daß ihr Schub gerade ausreichend war, um die Anziehungskraft der nahen Sonne zu überwinden. Es sollte alles vermieden werden, um die ARSENALJYK II auf die Beiboote aufmerksam zu machen. Die Geschützstände waren unbesetzt. Sie konnten per Knopfdruck in Betrieb genommen werden, und auch um die Steuerung kümmerte sich im Notfall eine Automatik. Der Arkonide gab sich nicht der Illusion hin, daß er mit den winzigen Raumschiffen gegenüber der SOL im Vorteil war. Zwar waren sie schneller und wendiger, wurden auch durch die Jenseitsmaterie geschützt, aber den Analysen zufolge verfügte das von Anti‐ES geschickte Schiff über eine Waffe, die geeignet war, sogar die sonst unbezwingbare Jenseitsmaterie zu überwinden. SENECA selbst hatte die Auswertung vorgenommen und eine Multifunktionsstrahlung aus
vier unterschiedlichen, teils gegensätzlichen und sich normalerweise ausschließenden Komponenten ermittelt. Die Zusammensetzung war bekannt – Normalenergie, Hyperenergie, aufgeladene Antimaterieteilchen und Anti‐Photonen, doch selbst die Hyperinpotronik vermochte nicht nachzuvollziehen, wie eine solche Waffe aufgebaut war. Zwar hatte man schmerzlich erfahren, wie sie wirkte, doch experimentell erlebte man einen Reinfall. Man war weder in der Lage, so etwas zu konstruieren noch war es möglich, sich dagegen zu schützen. Natürlich wußte der Aktivatorträger davon, und dennoch rechnete er sich Chancen aus. Vorsichtshalber hatte man die Positroniken so programmiert, daß sie mit einem einzigen Handgriff die Kontrolle übernahmen und die Space‐Jets zu Vollrobots wurden, um der menschlichen Besatzung die Flucht per Transmitter zu ermöglichen, aber eine Lebensversicherung war das nicht. Und auch die Schutzanzüge, die alle angelegt hatten, waren im Ernstfall mehr von symbolischem Wert. Ein wahres Photonenbombardement traf die Beiboote, ohne ihnen jedoch etwas anhaben zu können. Die Sonnenaktivität war dafür verantwortlich. Protuberanzen schossen wie feurige Lanzen ins schwarze All, Eruptionen, heftige Strahlungsausbrüche wurden ebenso ausgemacht wie Korona‐Radiostrahlung. Plötzlich sprachen die Orter an. Auf den Schirm der beiden solanischen Einheiten erschien das Echo der ARSENALJYK II. Da die Anlagen nur mit einem Minimum an Energie beschickt wurden, war die Wiedergabe nicht so deutlich wie gewohnt, doch die Geräte erfüllten ihren Zweck auch so. Mit mäßiger Geschwindigkeit und desaktivierten Schutzschirmen hielt der exotische Raumer auf den Stern zu, in dessen äußeren Schichten sich die SOL verbarg. »Wir folgen, Uster.« Der Pilot der RAKETE nickte nur und änderte die Flugbahn geringfügig ab, gleichzeitig korrigierte er die Schubwerte etwas nach oben. Die seitlich versetzt fliegende WINDHUND vollzog das
Manöver nach, ohne daß es einer besonderen Anweisung bedurft hätte. Mit wachem Blick beobachtete der Arkonide die Monitoren. Die automatische Kursfortschreibung zeigte optisch an, daß die Schiffe – ausgehend von den bisherigen Werten – dicht über der Sonnenkorona aufeinandertreffen würden. Das würde in acht Minuten und siebzehn Sekunden der Fall sein. Die graphische Auswertung der Bahndaten der ARSENALJYK II ergab, daß der langgestreckte Flugkörper sich anschickte, den Stern zu umrunden. Das deutete darauf hin, daß die Gegenseite das Generationenschiff aufzuspüren versuchte, bisher aber noch keinen Erfolg gehabt hatte, denn sonst wäre man wohl zielstrebiger vorgegangen. Unaufhörlich verringerte sich der Abstand. Nichts deutete darauf hin, daß die Space‐Jets entdeckt worden waren, aber selbst die Mutigsten waren verstummt. Während sich die Sekunden dehnten, schien die Geschwindigkeit zu wachsen. Auf beiden Schiffen war es mucksmäuschenstill, selbst die Aggregate flüsterten nur, als wüßten sie um die drohende Gefahr. Daß der Gegner bisher auf die Beiboote noch nicht aufmerksam geworden war, lag wohl zum Teil an der erhöhten Sonnenaktivität. Die Strahlenschauer des Gestirns waren intensiver als die gesteuert freigesetzten Energien der Flugkörper, überlagerten und verfälschten sie. Dennoch waren sie anzumessen, wenn man sich darauf konzentrierte und das entsprechende Instrumentarium gezielt einsetzte. Daß das nicht geschah, lag daran, daß niemand einen solch aberwitzigen Vorstoß in Betracht zog. Das Mutterschiff hatte sich als unterlegen gezeigt und fliehen müssen – wer rechnete schon damit, daß sich der Feind erdreisten würde, es mit winzigen Einheiten zu versuchen, die nicht die Spur einer Chance hatten? Auf den ersten Blick wirkte der Aktivatorträger tatsächlich wie ein potentieller Selbstmörder, doch eben darauf basierte sein Plan, daß er jeglicher Logik widersprach. Eine solche Verrücktheit war einfach
nicht zu erwarten. Die Triebwerke waren abgeschaltet worden, um die Ortungsgefahr zu verringern. Antriebslos drifteten die RAKETE und die WINDHUND auf die ARSENALJYK II zu, dabei war ihre Geschwindigkeit immer noch hoch genug, daß sie nicht ein Opfer der Gravitationskräfte der nahen Sonne wurden. Schon füllte der exotische Flugkörper das ganze Bild aus, der Weltraum war nicht mehr zu sehen. Atlan erhob sich. Die anderen folgten seinem Beispiel und standen ebenfalls auf. Zu besprechen gab es nichts mehr, jedes Detail war vorher erläutert und festgelegt worden. Gemeinsam begaben sie sich zur Schleuse. * Uster Brick und Prospov Delta hatten tatsächlich das Kunststück fertiggebracht, mit minimalen Korrekturschüben Kurs und Geschwindigkeit der Space‐Jets so anzugleichen, daß sie in nur siebzig Metern Abstand parallel zur ARSENALJYKII dahinflogen. Bis auf die beiden Piloten und Ingra Scanmerock waren alle Besatzungsmitglieder ausgestiegen. Die Zurückgebliebenen konnten noch beobachten, daß sie sich an den Händen faßten und eine Kette bildeten, deren Spitze Blödel übernahm. Er war auch der einzige, der sein Rückentriebwerk aktivierte. Dann, von einem Augenblick auf den anderen, war die kleine Gruppe optisch nicht mehr auszumachen. Wie ein filigranes Netz hatte sich die Jenseitsmaterie über das Team gesenkt. Es wurde dadurch nicht nur geschützt, sondern für andere auch unsichtbar. Wie das exotische Material das zustande brachte, blieb so rätselhaft wie alles, was mit der Jenseitsmaterie zusammenhing. Der Roboter betätigte sich als Schlepper und zog die anderen hinter sich her. Die geringe Distanz wurde rasch überwunden, sanft
setzten die Männer und Frauen nacheinander auf der Außenhaut der Heckkuppel auf. Nun kam Wuschel zum Einsatz. Die mobile Laborpositronik öffnete eine Klappe ihres Körpers und ließ den Bakwer hinaus. Der sank auf die glatte Oberfläche der schimmernden Schiffshülle herab und verharrte dort. Aus den unergründlichen Tiefen seines Metallleibs förderte Blödel einen kleinen Projektor zutage und schaltete ihn ein. Um den Allesfresser herum entstand ein halbkugeliges Energiefeld, das kaum größer war als Wuschel. Sofort machte sich das Pelzwesen an die Arbeit und fraß ein winziges Loch in die ARSENALJYK II. Der Roboter schaltete eine Strukturlücke und führte eine dünne körpereigene Sonde hindurch, die Meßfühler und Hohlkörper zugleich war. Einige Sekunden lang stand der selbsternannte Scientologe reglos da, dann vergrößerte er den Radius des Schirmfelds. Für den Bakwer war es das Zeichen, erneut tätig zu werden. Mit seinen unbegreiflichen Freßwerkzeugen vergrößerte er die Öffnung, in gleichem Maß ließ Blödel die Energiekuppel wachsen, bis sie zwei Meter hoch war und denselben Durchmesser hatte. Atlan nickte. Nockemanns Assistent nahm an dem Portable einige Justierungen vor und steckte ein Zusatzmodul auf. Ein zweiter Schirm entstand und wölbte sich – fast doppelt so groß – über die andere Kuppel. Der Arkonide betätigte einen Kodegeber. In dem äußeren Feld entstand ein Spalt, der ausreichte, um ihn hindurchzulassen. Die Strukturlücke schloß sich wieder, dafür bildete sich im inneren Schirm ein Durchlaß. Als der Aktivatorträger ihn passiert hatte, wurde die transparente Halbkugel wieder undurchdringlich. Was wie eine Spielerei aussah, war Voraussetzung für das Gelingen des ganzen Unternehmens. Ein Loch in der Schiffshülle führte zum Druckabfall innerhalb des Raumes, und ganz sicher gab es auch in der ARSENALJYK II Leckwarner, die sofort darauf ansprachen und die Besatzung alarmiert hätten. Um das zu
vermeiden, war man gezwungen, so zeitraubend vorzugehen. Blödel hatte zuerst die Zusammensetzung der Atmosphäre analysiert, aus mitgeführten Gasvorräten ein entsprechendes Luftgemisch hergestellt und durch die Sonde in die Energiekuppel gepreßt. So konnte das Feld wachsen, ohne daß es zu einer Druckverringerung kam, dabei erfüllte der zweite Schirm die Funktion einer Schleuse. Mit einem Handscheinwerfer leuchtete Atlan in das finstere Loch. Technische Geräte konnte er nicht erkennen, nur einige großvolumige Behälter, die Containern ähnelten, wie sie auch auf der SOL Verwendung fanden. Offensichtlich handelte es sich um eine Halle, der Boden war gut zehn Meter entfernt. Da er vor dem Einsatz seines Flugaggregats zurückschreckte, der Höhenunterschied aber ohne Hilfsmittel nicht zu überwinden war, verfiel er darauf, den Schwerkraftregler zu benutzen. Er pegelte ihn auf andere Gravitationsverhältnisse ein und ließ sich in die Tiefe fallen. Mit verminderter Geschwindigkeit sank er nach unten, landete wohlbehalten auf den Füßen und federte sich ab. Reflexhaft griff er zur Waffe, ließ sie dann aber stecken. Blödel war in der Lage, fremde Roboter zu orten, und mit Tyari und Sternfeuer hatte er zwei Telepathinnen dabei, die ihn warnten, wenn Gefahr drohte. Daß die Jenseitsmaterie sie unsichtbar gemacht hatte, wußte er nicht nur von der Kommandantin, der WINDHUND, die ihn über Helmfunk mit einem Satz informiert hatte, sondern auch von Nockemanns Assistent. Er vermochte es nicht, das Team optisch auszumachen und bediente sich anderer Wahrnehmungssysteme. Der Aktivatorträger lauschte. Die Außenmikrophone übertrugen nur die typischen Hintergrundgeräusche eines Raumschiffs und keine verdächtigen Laute. Seinen Anzeigen entnahm er, daß die Atmosphäre bis auf unwesentliche Abweichungen identisch mit der gewohnten Luft war. Er klappte den Helm zurück. Sie konnten sich somit akustisch verständigen und waren nicht auf die verräterischen Radiowellen angewiesen.
Hage Nockemann blickte durch die Öffnung nach unten. Ohne zu zögern, folgte der Atlans Beispiel und schlug ebenfalls den Helm zurück. »Benutze deinen Schwerkraftregler als Antigrav und sage es auch den anderen«, rief der Arkonide halblaut. Der Kopf des Scientologen verschwand, mit den Beinen voran schob er sich durch das Loch. Sich mit den Händen am Rand festkrallend, baumelte er wie eine reife Frucht unter der Decke und ließ dann los. Mit mäßiger Geschwindigkeit trudelte er zu Boden. Er kam mit den Füßen auf, verlor jedoch den Halt und stürzte. Atlan half dem ächzenden Genetiker wieder auf die Beine. »Von akrobatischen Einlagen war aber nicht die Rede«, brummte der Solaner und rieb sich das schmerzende linke Knie. »Bist du verletzt?« »Nein, aber lädiert.« Der Wissenschaftler wollte sich noch weiter auslassen, doch der Unsterbliche ließ ihn einfach stehen und fing Tyari auf, dann Sternfeuer. Twoxl und die anderen Männer und Fragen folgten, zuletzt kam Blödel, der Wuschel wieder in sich aufgenommen hatte. Mehrere Solaner hatten ihre Handscheinwerfer eingeschaltet. Wann immer ein Lichtstrahl eine der Gestalten traf, war ein Schimmer zu erkennen – hellgrün und hellrosa – Jenseitsmaterie. Atlan registrierte es, machte sich aber weiter keine Gedanken darüber. Er beschäftigte sich mit ganz anderen Problemen. Bisher war alles nach Plan gegangen, aber der gefährlichste Teil der selbstgestellten Aufgabe lag noch vor ihnen. Die vier von der Penetranz rekrutierten Solaner wollte er finden und zurückbringen, ebenso Mjailam, der nach seinem Dafürhalten positiv war, wie sich bei dessen Zusammenarbeit mit Tyari auch gezeigt hatte. Und dann war ihm daran gelegen, die Position der Angreifer zu schwächen, ihre Kampfkraft zu mindern und – falls möglich – ihre gefährlichste Waffe auszuschalten, die SENECA als »Partikelstromwerfer«
bezeichnet hatte. Diese Aktion wird für dich und deine Begleiter mit einem Fiasko enden! Atlan lächelte freudlos. Selbst die pessimistische Beurteilung seines Logiksektors konnte ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen. * Die zur Verfügung stehenden Lampen reichten nicht aus, um den Raum auch nur annähernd auszuleuchten. Die Halle mußte von beachtlicher Größe sein. Dutzende von Behältern lagerten hier, keiner kleiner als fünf mal vier Meter und mit einem Fassungsvermögen von fünfzig Kubikmetern. Die farbigen Container waren an ihren Stirnseiten mit fremdartigen Zeichen und Symbolen versehen, und obwohl sie geordnet in Reihen standen, wirkte die Halle im Licht der starken Handscheinwerfer unübersichtlich. Im Gänsemarsch bewegte sich der Trupp durch einen Gang zwischen den Behälterreihen, der breit genug war, um einen Shift hindurchzulassen. Atlan ging an der Spitze, und wie er hatten seine Begleiter ihre Strahler gezogen, ausgenommen die Scientologen. Niemand sprach ein Wort, alle konzentrierten sich auf ihre Umgebung. Tyari huschte nach vorn und schloß zum Arkoniden auf. »Hast du etwas herausgefunden?« »Die Besatzung des Schiffes besteht aus Gyrantern«, gab sie ebenso leise zurück. »Sie sind beeinflußt.« »Sieh da, alte Bekannte. Anti‐ES scheint mit Vorliebe auf unsere Ebenbilder zurückzugreifen.« Der Aktivatorträger blickte die geliebte Frau forschend an. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?« »Ich weiß es selbst erst seit wenigen Minuten. Sie sind telepathisch
kaum auszuspähen, es existiert so etwas wie eine Barriere. Nur selten kommt ein gezielter Gedanke durch. Sternfeuer geht es nicht besser als mir. Auch sie empfängt nur eine Art mentales Rauschen ohne konkrete Informationen.« »Es könnten entsprechende Abwehrfelder existieren, möglicherweise hat Anti‐ES unsere Widersacher auch mentalstabilisiert …« Tyari schüttelte entschieden den Kopf. »Weder noch. Ich habe nachgedacht und glaube, ein bekanntes Muster zu erkennen.« Sie holte tief Luft. »Wenn ich mich nicht irre, befindet sich die Penetranz an Bord, die mich seinerzeit unterjocht und dem Arsenal einverleibt hat.« Also doch! Atlan ließ den Vorwurf seines Extrasinns unbeantwortet. Einbezogen hatte er diese Überlegung schon in seine Planung, aber daß er nun damit konfrontiert wurde, behagte ihm ganz und gar nicht. Er erhoffte sich etwas von der positiven Ausstrahlung, die von Tyari und ihm und der Kombination Sternfeuer/Twoxl ausging, doch eine Garantie dafür gab es nicht. Gesichert war nur, daß er selbst der Penetranz zu trotzen vermochte, alles andere war Theorie. »Wir müssen mit größter Vorsicht vorgehen.« Besorgt musterte er die Frau, die ihm äußerlich so ähnlich war. »Hast du Angst?« »Wäre ich dann mitgekommen?« Atlan ergriff ihre Rechte und drückte sie liebevoll. Tyari schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und hauchte einen Kuß auf seine Wange. Nockemann, der hinter ihnen ging, räusperte sich demonstrativ. Ein wenig verlegen drehte sich der Aktivatorträger um. »Ja, Hage, was gibt es?« »Ich störe euch wirklich nur ungern, aber darf ich euch daran erinnern, daß wir hier auf der ARSENALJYK II sind?« »Das habe ich in keinem Augenblick vergessen«, sagte der Arkonide ärgerlich.
»Prima, denn hier ist ja wohl auch nicht der Ort für Liebesbeweise.«
Der Galakto‐Genetiker strahlte. »Dann möchte ich einige Fragen an die Dame deines Herzen richten, die mit Gefühlen nichts zu tun haben.« »Bravo, Chef – man muß immer der Realität ins Auge sehen.« Der Roboter hatte alles mitbekommen und mischte sich unbekümmert ein. »Wie sagte man früher doch so treffend: Ein treuer Hund, ein braves Pferd sind mehr als tausend Weiber wert.« »Das ist völliger Quatsch«, erregte sich der Wissenschaftler. »Du weißt genau, daß es diese Tiere auf der SOL nicht gibt. Und von zwischenmenschlichen Beziehung hast du sowieso nicht die geringste Ahnung.« »Kann denn Liebe Sünde sein?« summte Blödel mit seiner männlich wirkenden knarrenden Stimme. »Jetzt reißt euch gefälligst zusammen!« herrschte der Arkonide die Scientologen an. »Das hier ist kein Spaziergang. Wir befinden uns auf der ARSENALJYK II, also in der Höhle des Löwen.« »Das sagte ich schon«, gab Nockemann beleidigt zurück. »Tyari, was ist mit Sanny und den anderen? Kannst du wenigstens ihre Gedanken espern?« »Bisher ist mir das noch nicht gelungen, Hage«, lautete die betrübte Antwort. Der Vormarsch geriet ins Stocken, weil sich der Gang gabelte. Atlan leuchtete nach beiden Seiten. Rechts wuchs in wenigen Schritten Entfernung eine Containerwand in die Höhe, links zeichneten sich in der dunklen Fläche die Umrisse einer scheunentorgroßen Öffnung ab, in einem Abstand von etwa zwanzig Metern. Da sie ja nicht gekommen waren, um in einer Halle umherzuirren oder Versteck zu spielen, ergab sich die Richtung von selbst. Der Aktivatorträger hielt auf den gewaltigen Durchlaß zu. Er hatte gehofft, daß es eine Lichtschranke oder einen anderen automatischen Öffnungsmechanismus gab, doch die mächtigen Flügel reagierten nicht auf die Annäherung des Trupps. Ein wenig ratlos standen die Solaner vor dem Schott. Ganz offensichtlich besaß
es eine Verriegelung, die verhinderte, daß Unbefugte den Raum betraten. Versuchte man nun, die positronische Sperre gewaltsam zu beseitigen, so mußte man damit rechnen, daß irgendwo Alarm ausgelöst wurde, und daran war der Einsatzgruppe nun ganz und gar nicht gelegen. Mit Wuschel besaßen sie eine Art Universalwaffe, doch auch davor schreckte der Unsterbliche zurück. Ein Loch, das groß genug war, um einen ausgewachsenen Solaner hindurchzulassen, war zu auffällig. Und nach einem anderen Ausgang zu suchen, hatte wenig Sinn, denn sie waren bestimmt in gleicher Weise gesichert. »Ich könnte versuchen, den Kode herauszufinden, um das Schloß positronisch zu knacken«, bot Blödel an. »Und wenn du keinen Erfolg hast und die Manipulation gemeldet wird?« Atlan schüttelte den Kopf. »Nein, das ist mir zu riskant. Ich habe eine bessere Idee. Du wirst es mit Hochspannung versuchen. Ein elektrischer Defekt ist nie ganz auszuschließen und dürfte kaum Argwohn hervorrufen.« Der Roboter machte sich sofort an die Arbeit. Dank seines umfangreichen körpereigenen Instrumentariums bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten, die Ladung eines Energieblocks auf 15.000 Volt hochzuspannen. Mit seinen eingebauten Meßfühlern ermittelte er den Sitz der Steuerkomponente, legte eine Elektrode an und schickte einen Stromstoß hindurch. Der grelle Blitz eines Kurzschlusses tauchte die Halle für Sekundenbruchteile in eine Lichtflut, die selbst durch die geschlossenen Augenlider drang, es roch nach Ozon. Die mobile Laborpositronik verlor keine Zeit. Rasch verstaute sie die wenigen Utensilien wieder in ihrem Metallleib und wandte sich dem mächtigen Schott zu, das immer noch geschlossen war. »Nun machen wir die Probe aufs Exempel!« Er griff nach einer Flügelhälfte und versuchte, sie aufzustemmen. Anfangs sah es so aus, als würde selbst er mit seinen übermenschlichen Kräften keinen Erfolg haben, dann bewegte sich
das Tor und glitt langsam in die Wand zurück. Auf den Gesichtern der Männer und Frauen zeichnete sich Erleichterung ab. Atlan eilte zu dem sich vergrößernden Spalt und spähte nach draußen. Der riesige Flur war leer. Schnell schlüpfte er durch die Öffnung hindurch und machte Platz für seine nachdrängenden Begleiter. Während sich der Arkonide bereits nach einem geeigneten Versteck oder Fluchtweg umsah, schob Blödel das Schott wieder zu, um keinen Hinweis darauf zu geben, daß es benutzt worden war. Der Flur hatte die Form einer durchschnittenen Röhre, war gut und gerne zwanzig Meter breit und mehr als halb so hoch. Er war ganz in Weiß gehalten und wirkte durch das Licht der unter der Decke angebrachten Lumineszenzplatten kalkig, kalt und abstoßend. An beiden Seiten gab es eierschalfarbene Transportbänder von knapp zwei Metern Breite, in der Mitte des Ganges war ein dünnes Kabel in den unelastischen Bodenbelag eingelassen – wahrscheinlich Induktionsschleifen oder Steuerungselemente für automatisch arbeitende Be‐ und Entladeeinrichtungen. Daß dieser Sektor der Lagerung von Vorräten und anderen Gütern diente, stand für alle außer Zweifel – allein die Dimensionen sprachen schon dafür. In die schmucklosen glatten Wände waren in regelmäßigen Abständen Nischen eingelassen. Sie waren leer, halbrund und mochten eine Grundfläche von zwölf bis vierzehn Quadratmetern haben. Welchem Zweck sie erfüllten – ob Ausweichbucht, Standplatz von Automaten oder mobilen Kontrolleinrichtungen – ließ sich nicht sagen, es war auch nicht von Belang. Der Aktivatorträger deutete mit der Waffe auf einen schmalen Zubringer. Auch der Strahler schimmerte in den charakteristischen Farben Hellgrün and Hellrosa, und das bedeutete, daß die Jenseitsmaterie »mitdachte«, also auch das mitgeführte Material in ihren Schutz einbezog. Im Sprinttempo rannte, das Häufchen Verwegener unter Atlans Führung auf den etwa einhundertzwanzig Meter entfernten
Korridor zu. Wie immer, wenn körperliche Leistung gefordert war, fiel Hage Nockemann zurück, doch Blödel blieb an seiner Seite. Gerade, als die Scientologen in die Abzweigung einbogen, tauchte eine Roboteskorte auf. Offensichtlich handelte es sich dabei um gyrantische Modelle, denn sie ähnelten den auf der SOL gebräuchlichen Typen. Während alle anderen versuchten, sich so klein wie möglich zu machen, lehnte der Genetiker erschöpft an der Wand, sein Brustkorb hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Geistesgegenwärtig hielt sein Mitarbeiter ihm den Mund zu, damit das Japsen nach Luft sie nicht verriet. Bange Sekunden vergingen. Blödel konnte den Arkoniden und seine Begleiter nicht mehr sehen, aber waren sie auch für die gyrantischen Maschinen unsichtbar? Waren sie, wie das Gros der solanischen Automaten, optisch orientiert, hatte ihr lichtempfindliches System ähnlichen Standard? Oder verfügten sie über Zusatzeinrichtungen, wie sie sonst nur bei Spezialrobotern üblich waren? Die Erleichterung war fast greifbar, als der Trupp achtlos vorbeimarschierte. Damit stand fest, daß die Jenseitsmaterie sie so vorzüglich tarnte, daß sie selbst eine Begegnung mit den üblichen Automaten nicht zu fürchten brauchten. Trotz dieser Erkenntnis wollte der Aktivatorträger das Schicksal nicht herausfordern, denn in seinem langen Leben hatte er gelernt, wie oft der Zufall Regie führte. Wann immer es sich vermeiden ließ, würde er den Gyrantern und ihren positronischen Helfern aus dem Weg gehen. Gemessen an seinen Ausdehnungen mußte dieser Flur ziemlich bedeutungslos sein, zumindest, was den Transport von Waren betraf. Zwei Personen konnten gerade nebeneinander gehen, und die hochgestreckte Hand erreichte fast die lichtspendenden Quadrate unter der nun waagrechten Decke. Einladender als die Transportröhre wirkte dieser Flur auch nicht – er war in tristem Grau gehalten. Eine farbige Markierungsplakette mit undeutbaren
Schnörkeln war der einzige bunte Tupfer. Das Gebot der Zweckmäßigkeit war nicht zu übersehen, und im Gegensatz zur exotischen Form der ARSENALJYK II wirkte sie vom inneren Aufbau her eher sachlich und nüchtern. Die Technik zählt, nicht die Konstruktion eines Korridors, meldete sich mahnend der Extrasinn. Laß dich nicht durch Äußerlichkeiten beeindrucken. Habe ich das je getan? dachte der Arkonide. Der Logiksektor schwieg. Wieder hatte Atlan die Spitze übernommen und führte seine Leute, ohne selbst zu wissen, wo das Ziel lag und wie sie dorthin gelangen sollten. Er verließ sich auf seine Erfahrung. Jedes Volk, das nach den Sternen griff und Raumfahrt betrieb, mußte sich den Naturgesetzen beugen, und Mathematik und Physik erlaubten nur eine Art von Logik. Es war fast zwingend, daß sich diese Erkenntnisse auch in anderer Form und in anderen Bereichen manifestierten, allerdings gab es hier eine Unbekannte, die nicht auszurechnen war: Anti‐ES. Der Aktivatorträger war sich fast sicher, daß die Gyranter nicht die Erbauer der ARSENALJYK II waren, wenngleich sie auch die Besatzung stellten. Für sie waren die kugelförmigen Achtteiler üblich, und auch als Konstrukteure des Partikelstromwerfers kamen sie nicht in Frage, denn sonst hätten sie eine solche Waffe wohl schon früher eingesetzt. Stand ein weiteres, bisher unbekanntes Volk genialer Techniker in den Diensten von Anti‐ES – ähnlich wie die von Anti‐Homunk gesteuerten Vei‐Munater? Atlan seufzte lautlos. Es war müßig, sich jetzt darüber Gedanken zu machen, denn die selbstgestellte Aufgabe war schwer genug. Zu seinem Leidwesen vermochten ihm weder Sternfeuer noch Tyari bisher entscheidende Hinweise zu geben, er war also auf sich selbst gestellt. Der Korridor mündete in einen Verteiler, der von zusätzlich angebrachten Spots in grünliches Licht getaucht wurde. Allein die Beleuchtung ließ schon erkennen, daß hier eine Trennung
verschiedener Bereiche vorgenommen wurde. Elf Abzweigungen in unterschiedlich gehaltenen Pastelltönen boten sich zur Benutzung an. Alle waren mit farbigen Tafeln und einer Art Text versehen, doch die Symbole waren zu fremd, um ihren Sinn auch nur erahnen zu lassen. Nun war guter Rat teuer. Während die Männer und Frauen noch leise darüber diskutierten, welchen Gang sie nehmen sollten, tauchten plötzlich drei Gyranter auf. »Pst!« machte Atlan und legte einen Finger auf den Mund. Augenblicklich verstummten die Gespräche. Sie alle wußten, wie die Gyranter aussahen, dennoch waren einige ziemlich perplex, wie ähnlich sie ihnen waren – man hätte sie auf Anhieb für Artgenossen gehalten. Instinktiv versuchten zwei Männer, in Deckung zu gehen, doch dann fiel ihnen ein, daß sie ja unsichtbar waren. Die Handlanger des Bösen gingen so dicht an ihnen vorüber, daß jeder sie mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. Unwillkürlich hielten alle den Atem an, aber die Gyranter bemerkten sie nicht. In ein Gespräch vertieft, schlenderten sie an der Gruppe vorbei und verschwanden in einem himmelblauen Flur. Erleichtert atmeten die Solaner auf. Wieder hatte sich die geheimnisvolle Jenseitsmaterie bewährt. »Ich habe ihre Gedanken zum Teil erfassen können, weil sie im Augenblick nicht völlig von der Penetranz kontrolliert werden«, raunte Tyari. Die Männer und Frauen drängten sich zusammen, um ja nichts von dem zu verpassen, was die Telepathin in Erfahrung gebracht hatte. »Alle Mitglieder des Arsenals haben sich zurückgezogen. Im Gegensatz zu den Wohnräumen der Besatzung befinden sich ihre Unterkünfte nicht im vorderen Schiffsteil, sondern in der Nähe der Zentrale.« »Und wo ist die Zentrale?« erkundigte sich der Aktivatorträger. »Genau weiß ich das auch nicht, aber sie muß über den lindgrünen
Flur zu erreichen sein.« »Konntest du etwas über den Partikelstromwerfer herausfinden?« »Nur bedingt. Die Gyranter sind davon überzeugt, daß diese Waffe der SOL und damit auch uns den Garaus machen wird. Das Herzstück der technischen Anlage befindet sich in dem Zylinderstück.« »Das würde bedeuten, daß wir das gesamte Schiff durchqueren müßten, um den Partikelstromwerfer auszuschalten«, sinnierte Atlan. »Das ist purer Wahnsinn«, sagte Blödel respektlos. »Wenn wir entdeckt werden, ist uns der Rückweg abgeschnitten, und wir sitzen in der Falle.« Sternfeuer meldete sich zu Wort. »Daß wir ein hohes Risiko eingehen würden, wußten wir schon, bevor die Beiboote ablegten, trotzdem ist keiner in der Runde, der den Heldentod sterben will. Wir wollen die SOL retten und heil zu ihr zurückkehren.« Die anderen nickten beifällig. Sie fuhr fort: »Ich schlage vor, zur Zentrale vorzustoßen und uns dort umzusehen. Eventuell gelingt es Tyari oder mir, weitere Informationen zu bekommen, die uns weiterhelfen.« »Das klingt nicht übel.« Nockemann zwirbelte seinen Bart. »Vielleicht können wir noch nebenbei etwas Sabotage betreiben und nach Schwachpunkten Ausschau halten. Breckcrown hätte bestimmt nichts dagegen, wenn wir die ARSENALJYK II wenigstens für kurze Zeit aus dem Verkehr ziehen würden.« »Gut, also auf zur Zentrale.« Atlan setzte sich in Bewegung und hielt auf den lindgrünen Gang zu, seine Begleiter folgten ihm. Auch hier war die Umgebung nüchtern und sachlich, aber keine Spur von Technik – zumindest nichts, was ins Auge stach. Keine Schaltkästen oder Energieverteiler, keine Nischen mit Robotern, nicht einmal Interkom‐Anschlüsse. Der Flur war mit sechs Metern breiter als der in Grau gehaltene
Korridor, auch etwas höher, doch daß ihm eine besondere Bedeutung zukam, war nicht zu erkennen. Er war nicht auffällig markiert oder besonders gekennzeichnet, spezielle Sicherungen und Schutzvorrichtungen vermochte der Roboter nicht auszumachen. Kein Wunder, spottete der Logiksektor, die Besatzung wird ja kontrolliert und kann nicht aufbegehren. Das dachte ich mir, gab der Arkonide ätzend zurück. Meine Überlegung galt mehr einer Sicherheitszelle. Du solltest allmählich begriffen haben, daß Humanität für Anti‐ES ein Fremdwort ist. Es schützt das Schiff, nicht die Mannschaft – beides sind nur Werkzeuge, aber das Material ist wertvoller als die leicht zu ersetzenden Lebewesen. Die negative Wesenheit setzt die Prioritäten völlig anders als wir. Leider hast du recht, dachte der Aktivatorträger. Der bis dahin schnurgerade Gang machte einen scharfen Knick nach links. Abrupt stoppte Atlan. Ein kastenförmiger Roboter kam ihnen entgegen, der mehrere Zentimeter über dem Boden schwebte. Außer einem schüsselförmigen Aufsatz war alles an ihm eckig und kantig. Extremitäten waren nicht zu erkennen, dafür verfügte er über zwei zwei Meter breite flache Ausleger, die fast zentimetergenau an die Flurwände heranreichten. Es war also nicht möglich, auszuweichen. Die Oberfläche des Automaten sah aus, als wäre sie mit lila Plüsch überzogen. Vom Aussehen her wirkte die Konstruktion recht primitiv, doch hochwertige positronische Elemente konnten unter jeder noch so lächerlichen Verkleidung stecken – das beste Beispiel dafür war Blödel. Orientierte sich die Maschine nur mittels optischer Systeme, oder besaß sie noch zusätzliche Wahrnehmungseinrichtungen, die die kleine Gruppe entlarven konnten? Welche Funktion erfüllte der Robot? Eine Umkehr war nicht unbedingt erforderlich, denn ein kleiner Sprung genügte, um über die niedrigen Seitenteile hinwegzusetzen – die Frage war nur, ob sie dabei bemerkt wurden
oder nicht. Angesichts dessen, daß sie praktisch noch nichts erreicht hatten, erschien es Atlan als zu riskant, das Wagnis einzugehen, entdeckt zu werden. Er wandte sich um, um das Zeichen zum Rückzug zu geben, doch die mobile Laborpositronik machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Anstatt sich in Sicherheit zu bringen, marschierte der metallene Scientologe unbekümmert an ihm vorbei. Vergeblich versuchte sein Herr und Meister, ihn durch Grimassen und Drohgebärden zurückzuhalten. Blödel tat, als würde er es nicht sehen. Obwohl der fremde Roboter sich nur mit mäßiger Geschwindigkeit vorwärts bewegte, verkürzte sich die Distanz zueinander zusehends, weil Blödel schnell ausschritt. Fast hatte es den Anschein, als fürchtete er, im letzten Augenblick noch zurückgehalten zu werden. Der Wissenschaftler schwitzte Blut und Wasser. Immer wieder drehte er den Kopf und blickte hinter sich, darauf gefaßt, daß auch hinter ihrem Rücken Automaten auftauchten und sie in die Zange nahmen. Er hielt das Vorgehen seines Assistenten für eine unverzeihliche Dummheit, die sie alle das Leben kosten konnte. Und dann geschah etwas, womit eigentlich niemand gerechnet hatte: Der lila Kasten fuhr gedankenschnell einen Ausleger ein, ließ Blödel passieren und setzte seinen Weg mit ausgefahrenem Seitenteil fort. Die mobile Laborpositronik blieb dagegen stehen und winkte lässig. Nicht nur Nockemann zeigte sich erleichtert, sondern auch Atlan und seine anderen Begleiter. Schon wollten sie Blödels Beispiel folgen, als die Maschine plötzlich zu Boden sank und dort bewegungslos verharrte. Wieder stockte dem Galakto‐Genetiker der Atem, er verwünschte seinen Mitarbeiter innerlich. Daß der Roboter sich selbst abgeschaltet hatte, lag auf der Hand. Wahrscheinlich wurde seine Steuerungskomponente von zwei unabhängigen Informationssektoren beschickt, die widersprüchliche
Wahrnehmungen gemacht hatten. Optisch war die mobile Laborpositronik nicht auszumachen, aber die Zahl der Geräte war Legion, die Hindernisse auf die unterschiedlichste Art und Weise registrierten. Die Reaktion des Kastens hatte bewiesen, daß Blödel bemerkt worden war. Wie, konnte dahingestellt bleiben, weitaus wichtiger war, ob das lila Ungetüm eine Meldung abgesetzt hatte. War das der Fall, mußten sie damit rechnen, daß ihnen die Tarnung durch die Jenseitsmaterie nichts mehr nützen würde. In Anbetracht dessen, daß sie sich quasi auf feindlichem Gebiet bewegten und Glück kein Verbündeter, sondern eine launische Diva ist, unterstellte der Arkonide einen negativen Verlauf, was die Begegnung mit der Maschine betraf. Er entschloß sich daher zur Vorwärtsverteidigung, hob den rechten Arm und deutete nach vorn. In die Menschen kam Bewegung. Mit raumgreifenden Schritten folgten sie Atlan, der vorausging und leichtfüßig über das Hindernis hinwegsetzte. Als er Blödel erreichte, warf er ihm einen bösen Blick zu und zischte: »Ich hoffe, daß das die erste und zugleich auch letzte Dummheit von dir heute war. Ab sofort hältst du dich zurück.« Die mobile Positronik marschierte neben dem Aktivatorträger her. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß von dem lila Kasten eine Gefahr ausgeht. Es handelt sich um einen simplen Reinigungsrobot.« »Der sich desaktiviert hat, ja. Und warum tut das eine Maschine, wenn kein technischer Defekt dafür verantwortlich ist?« Atlan sprach leise, aber sein Unmut war deutlich herauszuhören. »Die Gyranter werden ihre Speicher untersuchen und feststellen, daß ein Unsichtbarer durch das Schiff geistert.« »Warum sollte es nicht ein Abgesandter von Anti‐ES sein?« »Werde nicht albern. Konzentriere dich jetzt lieber auf die Umgebung und schweige endlich.« Stumm schritten sie nebeneinander her – der Zehntausendjährige und der Roboter. Beide verfügten über ein immenses Wissen, beide
konnten für sich in Anspruch nehmen, die SOL schon oft gerettet zu haben, dennoch hatte der Arkonide Blödel einiges voraus – die Erfahrung, und er war ein Lebewesen. Das giftgrüne doppelflügelige Schott war fast so breit wie der Gang und erinnerte von seinen Umrissen her an ein romanisches Kirchenportal. Es war glatt und schmucklos, Öffnungsmechanismen waren nicht zu erkennen. Atlan verhielt im Schritt, auch die mobile Laborpositronik und die anderen blieben stehen. Wenn Tyari recht hatte, mußte sich hinter dem wuchtigen Tor die Zentrale befinden, also jener Ort, wo alle Fäden zusammenliefen. Daß sie ungesehen in die Kommandokanzel gelangten, ermöglichte die Jenseitsmaterie, das Problem war, daß sie das Schott passieren mußten. Egal, ob es auf ihre Annäherung reagierte oder ob sie sich gewaltsam Zutritt verschaffen mußten – es würde Aufmerksamkeit erregen, wenn sich die Flügelhälften scheinbar grundlos öffneten. Gewiß, technische Pannen waren nie ganz auszuschließen, aber daß in kurzer Zeit zweimal die positronischen Schottsysteme verrückt spielten oder ausfielen, mußte selbst die beeinflußten Gyranter stutzig machen. Und dann war da ja auch noch der Reinigungsrobot, der sich selbst desaktiviert hatte. Nein, eine solche Anhäufung von Zufällen war völlig ausgeschlossen. Während der Arkonide noch angestrengt überlegte, wie sie es anstellen sollten, in die Zentrale einzudringen, ohne sich zu verraten, meldete sich unvermittelte sein Logiksektor. Was würdest du davon halten, wenn sich ein abgeschalteter Roboter plötzlich wieder in Bewegung setzt? Die Frage seines Extrasinns verblüffte Atlan, gleichzeitig ärgerte er sich jedoch darüber, denn er erkannte keinen Sinn darin – zumindest nicht in dieser Situation. Findest du es nicht selbst unpassend, mich jetzt und hier mit solch lächerlichen Fragen zu konfrontieren? Nein. Ich warte noch auf deine Antwort!
Es ist unmöglich, daß sich eine desaktivierte Maschine selbst wieder aktiviert, dachte der Arkonide. Er machte aus seinem Zorn keinen Hehl, als er anfügte: Bist du nun zufrieden? Das hängt von dir ab. Von mir? Warum sollte eine Unmöglichkeit nicht Realität werden? Es liegt nur an dir. Auf einmal begriff der Aktivatorträger, worauf sein Logiksektor anspielte. Es gab eine Möglichkeit, nicht nur unauffällig in den Kommandoraum zu gelangen, sondern zugleich bot sich die Gelegenheit, die Gegenseite abzulenken und zu verwirren. Mit Verschwörermiene erteilte er leise die entsprechenden Anweisungen. * Der Reinigungsrobot entpuppte sich als relatives Leichtgewicht von etwa zweieinhalb Zentnern. Atlan und seine Begleiter hatten daher keine Mühe, den Automaten anzuheben und nach vorn zu tragen. Als sie noch einen Schritt vom Schott entfernt waren, glitten die Flügelhälften automatisch zurück. Zwei, drei Gyranter, die sich in der Nähe des Portals aufhielten, blickten zum Durchlaß, gleich darauf zeichnete sich auf ihren Gesichtern Überraschung ab. In dem Bewußtsein, unsichtbar zu sein, gingen die Mitglieder des solanischen Trupps noch einige Meter, setzten ihre Last dann ab und huschten zur Seite. Das Schott hatte sich wieder geschlossen. Ein erstaunter Ausruf alarmierte andere Gyranter. Mehrere Männer und Frauen in ockerfarbenen Kombinationen eilten herbei und umstanden die bewegungslose Maschine. Sie wirkten erstaunt und ratlos zugleich, Wortfetzen schwirrten durch die Luft. Wer immer es ermöglichen konnte, warf einen Blick auf die aufgeregt
diskutierende Gruppe und den Robot. Schließlich gingen zwei der Fremden in die Hocke und machten sich an dem schüsselförmigen Aufsatz des Automaten zu schaffen. Daß die ungeteilte Aufmerksamkeit der meisten Gyranter dem Robot galt, kam dem Arkoniden natürlich sehr gelegen. Er hatte so Zeit, sich in aller Ruhe umzusehen. Der Raum war von beeindruckender Größe, schätzungsweise einhundert Gyranter hielten sich hier auf. Zwei von ihnen saßen auf einer Art Podest. Nicht nur die bevorzugte Position, die es ermöglichte, die gesamte Zentrale zu überblicken, wies darauf hin, daß es sich um hochstehende Persönlichkeiten handeln mußte, auch ihre Uniformkombis signalisierten das. Farbenprächtige Paspelierungen und bunte Abzeichen auf weißem Grund machten die beiden Männer fast zu Paradiesvögeln inmitten der Schar unauffällig gekleideter Artgenossen. In ihrer Nähe schwebte die Penetranz, jener eiförmige Körper ohne Extremitäten, der so harmlos aussah und doch so gefährlich war. Wellenförmige, unregelmäßige Lichtbewegungen liefen über die Außenhaut, so daß die Färbung und damit auch der Flaum ständig zwischen dunkelblau und violett variierte. Das gewaltige Rund wurde optisch unterteilt durch kreisförmig zusammenstehende Pulte, in deren Zentrum ein Multifunktionsturm einen Verbund aus Displays, Kontrollgeräten und Anzeigen bildete. Wahrscheinlich handelte es sich um sogenannte Tätigkeitsinseln, wo Techniker und Ingenieure einer Fachrichtung und tangierender Disziplinen zusammenarbeiteten. Riesige Panoramabildschirme ermöglichten fast eine 360‐Grad‐ Rundumsicht und zeigten, was sich außerhalb des Schiffes tat. Im Moment gaben sie nur die Schwärze des Weltalls und einen Ausschnitt der nahen Sonne wieder. Vergeblich versuchte der Aktivatorträger zu ergründen, welches Zentrum für die Funktion der ARSENALJYK II und des Partikelstromwerfers am wichtigsten war. Man konnte nicht sagen,
daß die Anordnung unorthodox war, aber sie folgte anderen Kriterien als den gewohnten. Durch Zeichen bedeutete Atlan den Mitgliedern seines Stoßtrupps, daß sie sich verteilen und die verschiedenen Tätigkeitsinseln unter die Lupe nehmen sollten, er selbst wollte die Instrumente auf dem Podest in Augenschein nehmen. Unterschwellig verspürte er so etwas wie ein mentales Rauschen, ungezielt und nebulös. Da er kein Telepath war, mußte es sich um Ausstrahlungen der Penetranz handeln. Möglicherweise war das so eine Art Grundschwingung die verhinderte, daß die beeinflußten Gyranter gegen ihr Schicksal aufbegehrten. Während der Unsterbliche seinem Ziel zustrebte, beobachtete er nicht nur seine Umgebung, sondern hatte auch ein wachsames Auge auf Blödel, der zusammen mit Nockemann um eine der runden Konsolenanordnungen herumschlich. Plötzlich stutzte er. Täuschte er sich, oder waren die charakteristischen Farben der Jenseitsmaterie blasser geworden? Alarmiert sah er nach den anderen – bei ihnen zeigte sich der gleiche Effekt. Das bedeutete, daß sich die Jenseitsmaterie verbrauchte und sie bald nicht mehr zu schützen vermochte. Du hast richtig kombiniert! Ihr müßt euch beeilen, viel Zeit bleibt nicht mehr! Dem Rat seines Logiksektors folgend, schritt Atlan schneller aus. Schon setzte er einen Fuß auf die unterste Stufe des Aufgangs und schickte sich an, auf die Plattform des Podests zu gelangen, als ihn ein geistiger Impuls erreichte, der alle Pläne über den Haufen warf. »Es sind Fremde in der Nähe – hier in der Zentrale. Es sind Solaner, und Atlan ist bei ihnen.« Der Arkonide unterdrückte eine Verwünschung. Die Penetranz hatte sie aufgespürt. Ob das mit der Schwächung der Jenseitsmaterie zusammenhing, vermochte er nicht zu sagen, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Die Gyranter waren aufgesprungen und hatten ihre Strahler
gezogen, die überall im Raum anwesenden Roboter drehten sich mit angeschlagenen Waffenarmen im Kreis. Noch konnten sie kein Ziel ausmachen, doch der Arkonide war sicher, daß sich das bald ändern würde. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er, daß sich seine Begleiter bemühten, auf kürzestem Weg zum Schott zu gelangen. Angesichts der drohenden Gefahr war es das einzig richtige. Wenn es der Gegenseite gelang, ihnen diesen Fluchtweg zu verbauen, saßen sie in der Falle, und damit war ihr Schicksal besiegelt. Wie ein Blitz durchzuckte Atlan der Gedanke, einen der hochdekorierten Gyranter als Geisel zu nehmen, doch er verwarf diesen Einfall sofort wieder. Die Penetranz würde keine Rücksicht darauf nehmen und die versklavten Intelligenzen trotzdem auf sie hetzen. Beeinflußt, wie sie waren, würden sie den Tod eines ihrer Führer billigend in Kauf nehmen. Der Aktivatorträger stieß sich von der Treppe ab und rannte auf seine Begleiter zu. Auf einmal schien es in dem gewaltigen Raum vor Spannung zu knistern, Aggressivität erfüllte den geistigen Äther. Und dann schlug die Penetranz zu, unbarmherzig und mit der geballten Kraft ihres psionischen Arsenals. Atlan erschauerte unter der Wucht der zwingenden Impulse, aber er setzte sein geistiges Potential dagegen. Auf einmal spürte er Tyari, deren Ausstrahlung ihn erreichte. Ohnehin gefeit gegen den Angriff des Handlangers von Anti‐ES, ging er mit der geliebten Frau eine Ego‐Verbindung ein, die wie ein mentales Bollwerk wirkte und die Schwingungen der Penetranz einfach abprallen ließ. Damit nicht genug, fühlte er, daß ihn neue, zusätzliche Kraft durchströmte, die die geistige Vereinigung von Sternfeuer und Twoxl bewirkte. Die negativen Impulse würden zurückgedrängt und auf ein erträgliches Minimum reduziert. Während die kontrollierten Gyranter selbst durch die indirekten Ausstrahlungen der eiförmigen Kreatur fast außer Gefecht gesetzt wurden und Mühe hatten, ihre Bewegungen zu koordinieren,
unterlagen die Solaner keinerlei Beeinträchtigung mehr. Was Atlan erhofft hatte, war eingetreten: Seine Begleiter blieben unbeeinflußt dank positiver Gefühle. Aber war es wirklich so einfach? Sollte das zarte Pflänzchen, das Liebe heißt, tatsächlich über das Unkraut Haß und Macht triumphieren, das wild auf jedem Acker wuchert? Für philosophische Betrachtungen war im Augenblick weder die Zeit noch der richtige Ort. Die Penetranz mußte erkannt haben, daß ihre Bemühungen ohne Ergebnis blieben, denn das Hypno‐ Bombardement verebbte. »Laßt sie nicht hinaus!« Die Gyranter waren noch immer handlungsunfähig, nicht jedoch die bewaffneten Automaten. Zielstrebig bewegten sie sich auf den Durchlaß zu, vor dem mittlerweile auch die Mitglieder der kleinen Gruppe Verwegener angekommen waren. Im Sprinttempo jagte der Aktivatorträger darauf zu und zog seine Waffe. »Zerstört die Verriegelung!« rief er und feuerte mitten im Lauf seinen Strahler mehrmals auf die Penetranz ab. Das eiförmige Produkt von Anti‐ES widerstand den vernichtenden Energien ohne erkennbare Beeinträchtigung, dafür nahmen die Roboter Atlan aufs Korn. Geistesgegenwärtig hatte dieser jedoch die Position gewechselt, so daß die tödlichen Strahlen ihn um mehrere Meter verfehlten. Er rannte weiter. Seine Begleiter hatten damit begonnen, das Schott unter Beschuß zu nehmen. Zwangsläufig verrieten sie dadurch ihre Position, doch das war nicht zu ändern. »Tötet sie!« Die aufpeitschenden Impulse rüttelten auch die Besatzung auf. Zusammen mit den Maschinen rückten sie vor und feuerten aus allen Rohren. Während den Robotern wütendes Abwehrfeuer entgegenschlug, wurden gegen die Gyranter Paralysatoren eingesetzt. Schon gingen die ersten zu Boden, doch die anderen gingen unbeirrt weiter. Daß die Solaner noch keine Ausfälle zu verzeichnen hatten, lag an
den wunderbaren Fähigkeiten der Jenseitsmaterie. Sie machte nicht nur unsichtbar, sondern schützte auch wie ein Individualschirm, trotzdem wurde es allmählich brenzlig. Von der Seite aus visierte Atlan einen Automaten an und betätigte den Auslöser. Tyari hatte sich dasselbe Ziel ausgesucht. Gleich zweimal getroffen, begann das Synthowesen zu taumeln, armlange Flammen schlugen aus dem aufgerissenen Leib, Explosionen zerfetzten die Brustverkleidung. Das Steuerzentrum mußte in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Wie ein Kreisel drehte sich der Metallkoloß um seine eigene Achse und gab Salve auf Salve ab. Einem anderen Robot wurde der Kopf weggefetzt, drei Gyranter wurden an Schultern und Armen getroffen. Aufschreiend brachen sie zusammen. Durch einen ungezielten Feuerstoß wurde ein Multifunktionsturm demoliert. Datensichtschirme gingen zu Bruch, Abdeckungen zerplatzten, Gehäuseteile wurden abgesprengt und sausten als Querschläger durch die Luft, die weitere Verwüstungen anrichteten. Die Blitze von Kurzschlüssen zuckten aus den zerstörten Geräten, Funken brannten Löcher in Kunststoff und Plastik. Übelriechender Qualm breitete sich aus, der nicht nur die Sicht nahm, sondern auch in den Augen brannte. Der Boden erzitterte, als die Kolosse fast gleichzeitig wie gefällte Bäume umfielen. Aus ihren Körpern züngelten Flammen in stechenden Gelb‐ und Blautonen. Grellackierte Maschinen tauchten aus unsichtbaren Verstecken auf und kurvten um die Brandherde herum. Sie versprühten Berge von Schaum, um das Feuer zu ersticken, erschwerten dabei jedoch ihren bewaffneten Vettern und den Raumfahrern den Vormarsch. Die Besatzung war merklich irritiert, und der Aktivatorträger nutzte die Verwirrung, um zu seinen Begleitern zu gelangen. Einen weiteren Automaten ereilte das Schicksal, eine Handvoll Gyranter wurde paralysiert, dennoch war es nur eine Frage der Zeit, wann sie der Übermacht unterliegen mußten. Die Penetranz schien das Chaos völlig unbeeindruckt zu lassen
»Es sind unsere Feinde! Tötet sie! Sie dürfen diesen Raum nicht lebend verlassen!« Die mentalen Schwingungen waren von solcher Intensität, daß die Solaner unwillkürlich fröstelten. »Was ist denn mit dem verdammten Schott?« zürnte der Arkonide. Noch bevor er eine Antwort bekam, erhielt er einen Treffer am Oberkörper. Die Jenseitsmaterie neutralisierte die Energien, ihm war, als hätte er lediglich einen Schlag gegen die Brust erhalten, aber die Luft schien für Sekunden aus flüssigem Blei zu bestehen. Atlan schloß den Mund und hielt den Atem an, dann war die Hitzewelle wieder verebbt. Endlich reagierte das Schott. Unendlich langsam, wie es schien, glitten die mächtigen Flügelhälften auseinander. Atlan faßte eine neben ihm stehende Frau am Arm und schob sie durch den sich verbreiternden Spalt. »Beeilt euch!« zischte er, als Tyari und die Scientologen zögerten, den anderen zu folgen. »Ich gebe euch Rückendeckung!« Wieder hüllte ihn feurige Lohe ein, Elmsfeuer tanzten auf Kopf und Schultern, sein Körper schien zu glühen. Wieder bewahrte ihn die Jenseitsmaterie davor, zerstrahlt zu werden, doch sie schützte ihn nicht vor den intensiven Impulsen. Pausenlos erreichten ihn die mentalen Ausstrahlungen der Penetranz, aufpeitschend und zwingend. Rücksichtslos hetzte sie die versklavten Gyranter und die Maschinen auf die kleine Gruppe, die sie geistig nicht zu unterwerfen vermochte. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich der Arkonide, daß seine Begleiter den Raum verlassen hatten, dann zog er einige winzige Sprengkapseln aus der Tasche und machte sie scharf. Im Sprinttempo folgte er seinen Gefährten und schleuderte die brisanten Ladungen hinter sich in die Zentrale zurück. Ein Pulk von Robotern, der ihnen dicht auf den Fersen war und fast die Schwelle erreicht hatte, vermochte es nicht mehr, sich in
Sicherheit zu bringen. Mehrere Detonationen erschütterten diesen Sektor, einige Roboter explodierten, doch auch der Rest wurde außer Gefecht gesetzt. Deformierte und zerrissene Metalleiber versperrten den Durchlaß, Teile davon wurden auf den Gang geschleudert, fetter schwarzer Qualm wogte durch die Öffnung. »Hoffentlich hält sie das ein wenig auf«, stieß Atlan hervor, als er sich umgesehen und Nockemann erreicht hatte. »Einen kleinen Vorsprung können wir gut gebrauchen.« »Ein großer wäre mir lieber!« keuchte der Genetiker. Der Arkonide lief schweigend weiter. Sie waren auf der Flucht, daran bestand kein Zweifel, dennoch hatte er nicht vor, die ARSENALJYK II einfach zu verlassen. Zwar war es ihm und seinen Teammitgliedern nicht gelungen, den Partikelstromwerfer auszuschalten oder die Position der Gegenseite entscheidend zu schwächen, aber er wollte wenigstens Sanny, Kik sowie die vier Solaner und möglichst auch Mjailam aus der Gewalt der Penetranz befreien. Ob ihnen das gelang und wie sie es anstellen sollten, wußte er im Augenblick nicht, doch er würde nichts unversucht lassen, wenigstens dieses Ziel zu erreichen. Den Knick hatten sie längst hinter sich gelassen, der in grünliches Licht getauchte Verteiler war fast erreicht. Sternfeuer, die an der Spitze lief, verlangsamte ihre Schritte und deutete fragend auf den in Grau gehaltenen Korridor, durch den sie gekommen waren. Atlan winkte ab und stürmte nach vorn. Rasch spähte er in die verschiedenen Abzweigungen. Niemand kam ihnen entgegen und versuchte, sie in die Zange zu nehmen. Acht Flure hatte er schon kontrolliert. Ruhiger geworden, wandte er sich einem rosafarbenen Gang zu – und prallte entsetzt zurück. Aus dem Nichts heraus tauchten plötzlich Sanny, Kik und Mjailam vor ihm auf. Alle drei waren bewaffnet und richteten ihre Strahler auf ihn. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. Klar war, daß die Penetranz dafür verantwortlich war, aber konnten ihn die letzten
Mitglieder des Arsenals sehen oder aufspüren? Würden sie wirklich auf ihn und die andern schießen, oder konnte die positive Ausstrahlung die mentale Steuerung neutralisieren? Bot die Jenseitsmaterie überhaupt noch Schutz? Der Aktivatorträger stand da wie angewurzelt. Mit dem Daumennagel stellte er seinen Kombistrahler auf Paralysebeschuß um. Langsam hob er den linken Fuß und bewegte ihn nach hinten. »Was ist denn?« Das war Blödels Stimme. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Atlan erkennen, daß der Roboter rechts neben ihm auftauchte und abrupt stehen blieb. Der Arkonide hätte ihm am liebsten in seine Einzelteile zerlegt, als die Molaatin mit monotoner Stimme sagte: »Keine Dummheiten, Blödel! Atlan, laß die Waffen fallen!« Blitzschnell überlegte der Unsterbliche. Zumindest Sanny besaß die Fähigkeit sie auszumachen, wahrscheinlich aber war es so, daß die beiden anderen es auch konnten. Daß sie nicht sofort das Feuer eröffnet hatten, konnte zwei Gründe haben: Vielleicht war die Penetranz unsicher geworden, ob das Arsenal einen Tötungsbefehl auch wirklich ausführte und hatte das Trio nur eingesetzt, um die solanische Gruppe aufzuhalten, bis Gyranter und Roboter heran waren, oder – und diese Überlegung war geradezu aberwitzig – die Aura, die von ihm und Tyari sowie von Sternfeuer und Twoxl ausging, zeigte bereits Wirkung und ließ einen Mord nicht mehr zu. Wie groß war das Risiko, wenn er der Aufforderung nicht nachkam? Das Risiko ist unkalkulierbar!, warnte der Extrasinn. Es gibt nämlich noch eine dritte Version ohne Kompromisse, und deshalb solltest du der Aufforderung nachkommen. Der Logiksektor hatte sich kaum artikuliert, als Sanny ohne jegliche Warnung ihren Strahler auslöste. Reflexhaft ließ Atlan sich fallen, doch ohne die schützende Jenseitsmaterie wäre er ein toter Mann gewesen. Die Hitze nahm ihm fast den Atem, seine Haut brannte, und ihm wurde schmerzhaft bewußt, daß sich die wunderbare Substanz verbrauchte.
Er registrierte es fast nebenbei. Kaum, daß er den Boden berührte, rollte er sich ab, wälzte sich zur Seite und brachte seinen Strahler in Anschlag, ließ ihn jedoch sofort wieder sinken. Die drei waren entwaffnet worden – von Blödel, der die Mordwerkzeuge triumphierend hin und her schwenkte und in jener Klappe seines Körpers verschwinden ließ, die Wuschel als Unterkunft diente. Wahrscheinlich hatte er seine Teleskoparme ausgefahren und just in dem Augenblick zugegriffen, als die Molaatin feuerte. Von der Reaktionsgeschwindigkeit her war ein Roboter jedem Lebewesen ohnehin überlegen, um wieviel mehr mußte das für Beeinflußte gelten? Jedenfalls hatte er seinen Fehler wieder gutgemacht. »Danke, Blödel.« Atlan kam federnd auf die Beine, trat hinter die drei und versuchte, sie zum Verteiler zu drängen. Während Sanny und Kik sich nur widerwillig in Bewegung setzten, wehrte Mjailam sich heftig. Erst als die mobile Laborpositronik sich seiner annahm, ihn quasi an sich fesselte und einfach davontrug, gab das Wesen, das Prezzar geschaffen hatte, seinen Widerstand auf. Der Zwischenfall war nicht unbemerkt geblieben. Männer und Frauen mit schußbereiten Waffen kamen ihnen entgegen, an ihrer Seite Tyari. Ihr erster Blick galt dem geliebten Mann, erst dann betrachtete sie die anderen. Sie war nicht wenig erstaunt, als sie erkannte, um wen es sich handelte. Spontan eilte sie auf Mjailam zu und griff nach seiner Hand. Der körperliche Kontakt schien widerstreitende Gefühle in ihm auszulösen. Er versuchte, sich der Berührung zu entziehen, gleich darauf klemmte er sich förmlich an sie. »Sanny, Kik!« Ein halbes Dutzend Menschen umringten die beiden. Sie ließen keine Regung erkennen, weder Freude noch Haß. Stumm und hölzern wie Marionetten gingen sie weiter, flankiert von den Solanern. Plötzlich wurde die Gruppe unter Feuer genommen. Vier
Gyranter preschten aus einer anderen Abzweigung nach vorn und griffen rücksichtslos an. Wieder bewährte sich die Jenseitsmaterie, aber sie vermochte es nicht, die Energien vollständig zu neutralisieren. »Aktiviert eure Schutzschirme und nehmt die drei in die Mitte!« rief der Arkonide. »Hage, Blödel, ihr kommt mit mir!« Im Schutz seines Individualschirms rannte der Aktivatorträger an den anderen vorbei. Schon berührte sein Zeigefinger den Auslöser, als er erkannte, daß die vermeintlichen Gyranter in Wahrheit die vier Solaner waren, die in die Gewalt der Penetranz geraten waren. »Dan, Cilly, Gorgej und Gene – erkennt ihr uns nicht?« Die Nennung ihrer Namen schien etwas an die Oberfläche ihres Bewußtseins zu spülen, das verschüttet gewesen war. Wie auf Kommando stellten sie den Beschuß ein und hoben lauschend die Köpfe. Geistesgegenwärtig stürmte Atlan auf sie zu, dicht gefolgt von dem Roboter. Bevor die wie in Trance verharrenden Männer und Frauen wußten, wie ihnen geschah, hatten ihnen die zwei die Strahler entrissen und sie entwaffnet. Zeit, um sich über diesen Erfolg zu freuen, blieb ihnen nicht. Von zwei Seiten rückten Roboter und Gyranter heran. »Los, wir nehmen den grauen Gang!« Nun, da er zumindest sein Teilziel erreicht hatte, nämlich die Entführten der SOL zurückzubringen, sah Atlan keine Veranlassung mehr, sich noch länger auf der ARSENALJYK II aufzuhalten, zumal die Situation immer brenzliger wurde. Die Angreifer kamen rasch näher, schon erhielt der Arkonide, der die Rückendeckung übernommen hatte, den ersten Treffer. Sein Schutzschirm leuchtete auf, hielt jedoch stand. Mit dem Fuß beförderte er die den vier Solanern abgenommenen Waffen in Richtung der anstürmenden Automaten und feuerte seinen Strahler darauf ab. Ein greller Lichtblitz von ungeheurer Intensität erfüllte den Verteiler und die angrenzenden Flure, dann erschütterte eine heftige
Explosion diesen Abschnitt. Mehrere schwächere Detonationen folgten, eine Druckwelle raste durch die Korridore, die Atlan fast von den Beinen riß. Der orgelnde Sog riß Trümmerstücke von Robotern mit sich, Fetzen von losgerissener Wandverkleidung und Reste zerstörter Leuchtplatten. Pausenlos prasselten die Teile auf den Arkoniden hernieder, sein Individualschirm glühte unter dem Bombardement regelrecht auf. Gebückt kämpfte sich Atlan voran und folgte seinen Begleitern, die einen deutlichen Vorsprung gewonnen hatten. Schon drangen die ersten in den riesigen Gang ein, der zu der Halle führte, durch die sie ins Schiff gelangt waren. * So problemlos, wie der Aktivatorträger sich das gedacht hatte, verlief der Rücktransport der Beeinflußten nicht. Kaum, daß er als letzter die kalkige Röhre erreichte, wurde Mjailam renitent, schlug um sich und entriß einer Solanerin den Strahler, gleichzeitig griffen Sanny und Kik ihre Begleiter an. Blödel, der vorausgeeilt war, konnte ebensowenig eingreifen wie Atlan. In dem allgemeinen Durcheinander waren es Tyari und Nockemann die die Nerven behielten. Der Genetiker fiel Mjailam in den Arm und verhinderte so in letzter Sekunde, daß der tödliche Strahl einen der ungeschützten befreiten Solaner traf, statt dessen verpufften die vernichtenden Energien nutzlos. Bevor er ein zweites Mal den Auslöser betätigen konnte, schlug ihm Tyari mit ihrer Waffe auf die Hand. Aufheulend ließ Mjailam den Strahler fallen und versetzte der Frau einen Hieb, der sie zurücktaumeln ließ. Blitzschnell bückte sich das von Prezzar geschaffene Wesen nach der Waffe, doch der Wissenschaftler war auf der Hut, sonst jeglicher Gewalt abhold, trat er ihn mit aller Kraft in den verlängerten Rücken, so daß Mjailam das Gleichgewicht
verlor und der Länge nach hinschlug. Dann war auch der Roboter heran. Obwohl Mjailam sich heftig zur Wehr setzte und sich wie ein tobsüchtiger gebärdete, kam er gegen die übermenschlichen Kräfte Blödels nicht an. Wie Sanny und Kik, die man mittlerweile ebenfalls wieder unter Kontrolle hatte, verfiel er in einen apathischen Zustand. »Paßt auf!« rief Sternfeuer mit sich überschlagender Stimme. »Zur Seite!« Alarmiert blickte der Aktivatorträger sich um. Eine gewaltige Schwebeplattform raste auf sie zu. Sie war unbemannt, doch das machte die Gefahr nicht geringer. Schiebend und stoßend drängte er zusammen mit seinen Gefährten die lethargischen Gestalten auf das rechte Transportband. Cilly, eine bullige Frau von einunddreißig Jahren, kam zu Fall und blieb einfach liegen. Vergeblich versuchte Hage Nockemann, den schwergewichtigen Körper in Sicherheit zu bringen. Sternfeuer kam ihm zu Hilfe. Ächzend zogen und zerrten die beiden nicht sonderlich kräftigen Solaner an der Kombination von Cilly. Mit letzter Anstrengung gelang es ihnen, sie einen halben Meter fortzubewegen. Und dann war das Transportgerät heran. Dem schnauzbärtigen Galakto‐Genetiker gefror fast das Blut in den Adern, als die mächtige Plattform mit über sechzig Stundenkilometern haarscharf an der Frau vorbeisauste. Er hatte sich von diesem Schreck noch nicht erholt, als sich plötzlich das eierschalfarbene Transportband in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung setzte und dabei eine erhebliche Geschwindigkeit entwickelte. Etliche verloren den Halt, rissen andere mit sich und purzelten vom Band oder versuchten vergeblich, sich aus dem Knäuel von Leibern und Extremitäten zu befreien. Daß Nockemann auf den Beinen blieb, verdankte er Blödel, der ihn festhielt. Auch Atlan gelang es, das Gleichgewicht zu bewahren. Mit grimmiger Miene nahm er den Rollsteig unter Beschuß. Dunkler
Rauch stieg auf, das Material wurde ionisiert, trotzdem blieb eine Reaktion aus. Und dann, als selbst der Arkonide nicht mehr an einen Erfolg glaubte, stoppte das Transportband so abrupt, als wäre eine Notschaltung aktiviert worden. Da niemand darauf gefaßt war, riß es außer dem Roboter selbst die Standfestesten von den Beinen. Das Durcheinander wurde noch größer. Es war die mobile Laborpositronik, die die nahende Gefahr zuerst erkannte. Wieder kam eine Plattform angerast, und sie nahm die volle Breite des Ganges ein. Die nächste Nische, in die sie sich flüchten konnten, war gut zwanzig Meter entfernt. Selbst wenn alle auf der Stelle losgerannt wären, es wäre fraglich gewesen, ob es alle geschafft hätten, sich in Sicherheit zu bringen. In seiner Not schickte Blödel Wuschel los. Er war der einzige, der sie jetzt noch retten konnte. Sofort machte sich der Bakwer über das in die Gangmitte eingelassene dünne Kabel her und fraß davon einige Zentimeter mitsamt dem Bodenbelag. Einen Herzschlag lang sah es so aus, als würde der Erfolg ausbleiben, doch dann bremste die wuchtige Transporteinheit ab und kam einen knappen Meter vor der Bruchstelle und damit auch vor dem ersten Solaner zum Stillstand. »Teufel, ich dachte schon, mein letztes Stündchen hätte geschlagen.« Hage Nockemann hatte weiche Knie, und trotz der im Anzug eingebauten Klimaanlage hatten sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. »Die Penetranz schreckt wirklich vor nichts zurück.« »Wenn nichts mehr helfen kann, setzt man einfach Wuschel an«, reimte der Allesfresser, bevor er wieder im röhrenförmigen Leib von Nockemanns Assistent verschwand. Atlans Begleiter waren hartgesottene Kämpfer, dennoch war den meisten das Blut aus dem Gesicht gewichen, einige hatten Mühe, ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. Allein die Vorstellung daran, von einer Antigravplattform regelrecht geköpft oder zerschmettert zu werden, verursachte eine Gänsehaut.
»Ich höre Stiefelgetrappel«, meldete Blödel. Die Verständigung erfolgte über Funk. So sehr sich der Aktivatorträger auch anstrengte, er hörte nichts. Kein Laut drang über die Außenmikrophone an sein Ohr, dennoch war er sicher, daß der Scientologe sich nicht irrte, schließlich gab es gute Gründe dafür, daß Roboter mit empfindlicheren Wahrnehmungssystemen ausgerüstet waren als ihre Erbauer. »Machen wir, daß wir wegkommen!« sagte Atlan. Wieder wurden die befreiten Solaner und der Rest des Arsenals in die Mitte genommen. Besonders sorgfältig achtete man auf Mjailam, der von Tyari und der mobilen Laborpositronik flankiert wurde. Noch einmal sollte es ihm nicht gelingen, sich einer Waffe zu bemächtigen, gleichzeitig baute der Arkonide darauf, daß die Nähe und die Berührung von und durch Tyari den verhängnisvollen Einfluß der Penetranz mäßigte und abbaute. Verständlicherweise war den Mitgliedern des Trupps daran gelegen, so schnell wie möglich in die Halle und damit zu den Raumern zu gelangen, doch als sie ihre vier beeinflußten Artgenosse zu größerer Eile antrieben, begehrten Dan, Cilly, Gorgej und Gene auf. Sie wurden aggressiv und handgreiflich. Allen war bewußt, daß die Penetranztreue dafür verantwortlich war, aber man war gewarnt und ging kein Risiko mehr ein. Obwohl es sie seelisch schmerzte, wandten sie Zwang an und führten die vier regelrecht ab. Wer immer sich dem Griff zu entwinden versuchte, wurde um eine schmerzhafte Erfahrung reicher. Atlan ließ sich von Blödel den Allesfresser geben und eilte, ihn auf den Händen tragend, voraus zum Schott. Einer Erklärung bedurfte es nicht, der Bakwer verstand auf Anhieb, was von ihm verlangt wurde. Sogleich verankerte er sich auf undefinierbare Weise an den Flügelhälften und begann, sich das Material an jener Stelle einzuverleiben, wo die positronische Verriegelung sitzen mußte. Der Erfolg war verblüffend: Wie von Geisterhand bewegt, glitten die beiden Teile zurück, gleichzeitig ging in dem Lagerraum Licht
an. Der Arkonide warf nur einen kurzen Blick hinein und sah sich nach den anderen um. Anscheinend kamen sie inzwischen mit den Beeinflußten ganz gut zurecht, denn sie näherten sich mit raschen Schritten. Die Farben der Jenseitsmaterie waren blaß geworden, doch die eigenen Schutzschirme machten dieses Manko wett. Glücklicherweise war von den Verfolgern noch nichts zu sehen. Als der letzte Solaner die Schwelle passiert hatte, wurde das Schott wieder zugeschoben und beide Flügel von innen miteinander verschweißt. Das übernahmen die Scientologen. Der Aktivatorträger hatte wieder die Spitze übernommen und führte seine Leute, Sanny, Kik und die anderen durch die Containerreihen. Jetzt mußte alles schnell gehen, denn der Gegner saß ihnen auf den Fersen und wußte, wohin sie sich zurückgezogen hatten. Das zu einer Sperre umfunktionierte Portal würde Gyrantern und Robotern Widerstand entgegensetzen, sie aufhalten, aber nicht stoppen. Die Zeit, die die Gegenseite benötigte, um das Schott aufzubrechen, mußte ihnen genügen, um die ARSENALJYK II zu verlassen und möglichst die RAKETE und die WINDHUND zu erreichen. Den Gedanken, den schützenden Energieschirm zu entfernen, der das Loch verschloß, verwarf er sogleich wieder. Die Öffnung, die Wuschel in die Außenhaut gefressen hatte, würde relativ schnell bemerkt werden. Das würde ihren Fluchtweg sofort verraten, und das Vakuum konnte die Roboter ohnehin nicht davon abhalten, in die Halle einzudringen. Blieb das Leck aber abgedichtet, so mußten die Penetranz und ihre Sklaven annehmen, daß sie sich in dem Raum verbergen und ihnen irgendwo auflauerten. Unangefochten erreichten sie die Stelle, wo sie in das Raumschiff eingedrungen waren. Keuchend hastete Nockemann heran, Blödel im Schlepp. »Und nun?« japste der Genetiker. »Da wir unsere Freunde mangels eigener Ausrüstung
transportieren müssen, benutzen wir die Flugaggregate«, erklärte Atlan. »Um die verräterische Strahlung zu kaschieren, werde ich meine Waffe auslösen. Blödel, du übernimmst Mjailam, Tyari, du kümmerst dich um Sanny und Sternfeuer um Kik.« Er teilte noch die anderen ein und sagte dann: »Hage, du machst den Anfang. Ab mit dir!« Während der Arkonide seinen Strahler ins Leere abfeuerte, aktivierte der Wissenschaftler sein Rückentriebwerk. In der Aufregung erwischte er die falsche Einstellung und schoß wie eine Rakete nach oben, konnte seinen Fehler aber noch rechtzeitig korrigieren und segelte fast gekonnt durch die Öffnung. Der Roboter stieß ein »Mein Gott, Chef!« aus und folgte dem Genetiker mitsamt Mjailam. Er hatte keine Mühe mit der Technik und schwebte elegant aufwärts zur Hallendecke und durch das Loch. Schon startete der nächste. Das Geräusch der Flugaggregate und das Fauchen des Kombistrahlers wurde übertönt von wütenden Rufen und heftigen Schlägen gegen das Schott. Für ein paar Sekunden herrschte Ruhe, dann war der verhaltene Donner einer schwachen Explosion zu hören. »Schneller!« Der Aufforderung hätte es nicht bedurft. In rascher Folge hoben die Solaner ab und verschwanden nach draußen, Atlan machte den Schluß. Kurz unter der Decke schaltete er seine Waffe aus und steckte sie weg. Blödel hatte eine zusätzliche Energieblase errichtet, die mit seinem Körper verbunden war und atembare Luft enthielt. In ihr hatten jene sieben Personen Platz gefunden, die von der Penetranz rekrutiert worden waren und über keinen Schutzanzug verfügten. Atlans erster Blick galt den beiden Beibooten. Nach wie vor drifteten sie in gefährlich geringem Abstand neben der ARSENALJYK II her. Allein ihre Anwesenheit genügte, um alle an dem Kommandounternehmen beteiligten Männer und Frauen
aufatmen zu lassen, und der Aktivatorträger bildete da keine Ausnahme, wenngleich ihm bewußt war, daß sie noch nicht gewonnen hatten. Noch waren sie nicht an Bord der SOL. Sowohl Sternfeuer als auch Tyari gaben ihm durch Zeichen zu verstehen, das Helmfunkgerät zu desaktivieren. Ein wenig verwundert kam der Aktivatorträger dem nach und näherte sich den Frauen. Beide preßten ihre Helmscheibe gegen die seine, so daß eine akustische Verständigung ohne technische Hilfsmittel möglich war. »Es sieht nicht gut aus«, vernahm er von der schlanken Mutantin. »Die SOL befindet sich auf der Flucht, weil die ARSENALJYK II sie aufgespürt hat.« Diese Information konnte nur von den beiden Piloten Uster Brick und Prospov Delta und der Kommandantin der WINDHUND stammen. Zweifellos hatten sie mitbekommen, daß sie wieder aufgetaucht waren, dazu noch in größerer Zahl. Und da es sich um erfahrene Leute handelte, hatten die drei darauf verzichtet, die Hiobsbotschaft über Funk durchzugeben, sondern auf die Telepathinnen vertraut – wie sich zeigte, mit Recht. »Immerhin bleiben uns noch die Transmitter, um zur SOL zurückzugelangen.« Atlan gab sich zuversichtlich. »Wir sind nur in dieser Beziehung auf die Space‐Jets angewiesen. Und die sechzig, siebzig Meter sollten wir doch wohl schaffen, um sie zu erreichen.« Tyari schüttelte den Kopf, ihre ausdrucksvollen Augen blickten den geliebten Mann traurig an. »Die Transmitterverbindung funktioniert nicht einwandfrei und wird zeitweise nachhaltig gestört. Ingra Scanmerock vermutet, daß der Partikelstromwerfer dafür verantwortlich ist, allerdings läßt sich das anhand der Daten nicht überzeugend belegen. Trotzdem – oder gerade deshalb – rät sie davon ab, die Transmitter zu benutzen.« Vor Atlans geistigem Auge tauchte ein Gesicht auf. Nein, es war eine Maske, eine Plastikmaske, und dahinter verbarg sich Alaska Saedelaere, ein Mitstreiter von seinem alten Freund Perry Rhodan.
Niemand hatte Alaska helfen können – kein Medo, kein Chirurg, kein Mutant. Nach einem Transmitterunfall hatte sich ein Cappin‐ Fragment mit seinem Antlitz verbunden, und wer es sah, wurde wahnsinnig. Notgedrungen war er zum Mann mit der Maske geworden – und vereinsamt. Das Feuer, das die Kosmokraten in ihm entfacht hatten, war keineswegs erloschen. Immer deutlicher wurde dem Arkoniden bewußt, daß es sein Schicksal war, Freunde und Gefährten zu verlieren, um auf seine ihm zugedachte Aufgabe vorbereitet zu werden, aber ein Lebewesen dachte eben anders – und wenn es mehr als zehntausend Jahre alt war. Wäre es nur um ihn gegangen, hätte es der Aktivatorträger auf sich genommen, gleich Saedelaere zu leiden, aber Tyari, Sternfeuer, Sanny, Hage und all den anderen konnte er ein Leben nach einem – möglichen – Transmitterunfall nicht zumuten. Schon gar nicht eine wie auch immer geartete Existenz, wenn sie nicht wie vorgesehen materialisierten, sondern in eine unbegreifliche Dimension abgestrahlt wurden. Nein, ihnen blieb nur die Flucht mit den Beibooten. Der Arkonide blickte zur vorher so nahen Sonne. Sie war nur noch ein Stern, der auf Ballgröße geschrumpft war. Und irgendwo, winzigklein, war die SOL. 4. Es sah wirklich nicht gut aus für den Hantelraumer und seine vieltausendköpfige Besatzung. Seit sie von der ARSENALJYK II aufgespürt und gezwungen worden war, die Sonnenkorona zu verlassen, befand sich die SOL auf der Flucht. Das so mächtige Schiff war zum Hasen geworden, der nicht so sehr den Jäger fürchtete als vielmehr seine Waffe. Gegen den Partikelstromwerfer hatten die Solaner kein Mittel gefunden. Was die Triebwerkleistung anging, war das Generationenschiff
dem Angreifer mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. So gesehen, hatte man durchaus die Möglichkeit, sich abzusetzen, aber das hätte bedeutet, Atlan und seine Begleiter ihrem Schicksal zu überlassen. Davon wollte Hayes jedoch nichts wissen. Daraus resultierend, ergab sich die paradoxe Situation, daß die SOL in der Nähe der ARSENALJYK II bleiben mußte, während deren Besatzung wiederum danach trachtete, ihr den Garaus zu machen. Und es war nicht nur der High Sideryt, der Kopf und Kragen riskierte. Das Schicksal der Solaner wäre ohnehin schon längst besiegelt gewesen, wenn nicht – wieder einmal – Cara Doz alle Register ihres Könnens gezogen hätte. Was die Emotionautin da mit dem Verbund aus SZ‐1 und Mittelteil anstellte, war atemberaubend und tollkühn zugleich. Diese Manöver konnten auch die Brick‐Zwillinge nicht nachvollziehen, obwohl sie als Meister ihres Faches galten. Dennoch war abzusehen, daß es letztendlich nur zwei Alternativen gab: Flucht oder Untergang. Selbst eine Könnerin wie Cara Doz konnte auf die Dauer nicht die waffentechnische Überlegenheit der Gegenseite wettmachen und Schutzschirmkapazität durch fliegerisches Geschick ersetzen. Immer wieder und immer häufiger blickte Breckcrown Hayes auf das große Chronometer. Es war abgemacht, daß Atlan einen Rafferimpuls absetzte, wenn er wieder an Bord der Space‐Jet war, aber bisher war das vereinbarte Funksignal nicht eingetroffen, und auch Ingra Scanmerock hatte sich nicht gemeldet. Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Sessellehne und nagte an seiner Unterlippe. Was war mit Atlan und den anderen? Ein Wirkungstreffer erschütterte die Rest‐SOL. Hayes wurde nach vorn in die Gurte geschleudert und gleich darauf wie eine Puppe in den Sitz gepreßt, ein eiserner Ring schien sich um seinen Brustkorb zu legen, das Blut rauschte in seinen Ohren. Vor seinen Augen verschwamm die Umgebung, gleich darauf wurde das Bild wieder klar. Das Schiff hatte seine Lage verändert, der Boden neigte sich um
mehr als zwanzig Grad. Wie durch Watte drangen die unterschiedlichsten Geräusche zu seinem Gehör durch. Das schrille Jaulen der Sirenen mischte sich mit dem Heulen überlasteter Aggregate, dumpfe Brummtöne und helles Singen gingen von Maschinerie und Energieerzeugern aus, Knallen, Ächzen, Knacken und Splittern, Dröhnen und Zischen verbanden sich zu einem apokalyptischen Kreszendo des überbeanspruchten Materials In raschem Wechsel ging die Beleuchtung an und aus, verschiedene Geräte stellten funkensprühend ihren Dienst ein, krachend flog ein Verbund aus Meßgeräten auseinander. Kurzschlüsse tauchten die Zentrale in ein Gewitter aus grellweißen und stechend blauen Blitzen. Aus einer nachgeschalteten Analysepositronik schlugen schwefelgelbe Flammen. Über Rundruf und Lautsprecher wurden Anweisungen und Schäden durchgegeben, Rettungsmannschaften und Reparaturtrupps angefordert, Sektoren evakuiert oder zur gefährlichen Zone erklärt. Die Hiobsbotschaften schienen nicht abreißen zu wollen, aber wirklich hellhörig wurde der narbengesichtige Solaner, als sich SENECA meldete. »Unter den gegebenen Umständen ist die bisherige Strategie nicht mehr zu verantworten. Die SOL kann der Vernichtung nur entgehen, wenn sie sich zurückzieht – zumindest vorübergehend.« Breckcrown Hayes war wie vor den Kopf geschlagen. Wie ein Echo hallten die Worte der Biopositronik in ihm nach. Seine Stimme klang rauh, als er fragte: »Welche Alternative hast du anzubieten?« »Keine.« »Und was ist mit den beiden Space‐Jets? Wir können Atlan und die anderen doch nicht einfach im Stich lassen!« erregte sich der High Sideryt. SENECAS wohlmodulierte Stimme klang sachlich wie immer, als er erwiderte:
»Wenn die SOL nicht mehr existiert, sind auch die Beiboote verloren.« Hayes verbarg das Gesicht in den Händen. Natürlich hatte die Bio‐ Positronik recht, aber es widerstrebte ihm, so zu handeln. In gewisser Weise hatte er dem Arkoniden gegenüber ein Versprechen abgegeben, und er war ein Mann, der zu seinem Wort stand, auf der anderen Seite war er für das Wohl von Zehntausenden Solanern und anderen Intelligenzen verantwortlich. Er seufzte unhörbar. In Situationen wie diesen empfand er sein Amt als schwere Last. Gewiß, er hatte Fachleute und Berater, da waren die Stabsspezialisten und SENECA, er konnte auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen und logistische Auswertungen zurückgreifen, doch letztendlich blieb es seine Entscheidung, für die nur er einzustehen hatte. Angesichts der besonderen Umstände hatte er keine andere Wahl. Gerade wollte er schweren Herzens den Rückzug anordnen, als Curie van Herling sich aufgeregt meldete. »Soeben ging der vereinbarte Rafferimpuls ein. Die RAKETE und die WINDHUND sind zum Rückflug gestartet. Die Mannschaft ist vollzählig an Bord.« Erleichtert ließ sich Hayes zurücksinken. Atlan und seine Begleiter lebten also noch – und es hatte keine Verluste gegeben. Daß es dem Stoßtrupp nicht gelungen war, den Partikelstromwerfer auszuschalten, hatte man schmerzlich erfahren, und ob überhaupt ein Erfolg zu verzeichnen war, ging aus der Nachricht nicht hervor, doch das war im Moment auch nicht so wichtig. Wichtig war, daß keine Toten zu beklagen waren. Der Mann mit dem von SOL‐Würmern zerfressenen Gesicht wandte sich an SENECA. »Hält die SOL noch durch, bis die Space‐Jets eingeschleust sind?« »Nein«, lautete die kategorische Antwort. Wie zur Bestätigung wurde das Generationenschiff erneut getroffen, doch dank Cara Dozʹ Steuerkünsten blieb die Schirmfeldbelastung knapp unter der kritischen Marke.
»Du solltest wirklich nicht länger zögern, Breckcrown. Wir müssen uns absetzen.« Gallatan Herts wirkte verdrießlich. »Ich will nicht unterstellen, daß das Schiff vernichtet wird, aber wenn wir noch ein, zwei Wirkungstreffer erhalten, ist die SOL nur noch ein besseres Wrack.« Wieder war es Curie van Herling, die dem High Sideryt positives berichten konnte. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen strahlten. »Die SZ‐2 ist wieder aufgetaucht!« jubelte sie. »Sie hält auf uns zu!« »Du spinnst ja!« sagte Hayes im Brustton der Überzeugung und drückte damit aus, was alle dachten. »Sieh selbst!« Das Bild auf dem Schirm wechselte und zeigte eine mächtige Kugel, die rasch größer wurde. Die Hülle schimmerte in den charakteristischen Farben der Jenseitsmaterie, dennoch gab es keinen Zweifel: Es war die SOL‐Zelle 2. Ihr Anblick verschlug selbst dem Geschwätzigsten die Sprache. Es war Hayes, der als erster seine Fassung zurück gewann. »Also hat uns Wöbbeking‐NarʹBon doch noch einmal geholfen.« Er sprach den Namen des mächtigen Wesens beinahe andächtig aus, doch gleich darauf zeigte sich wieder der Pragmatiker. »Besteht Funkverbindung zur SZ‐2?« Die Stabsspezialistin blickte auf ihre Anzeigen und nickte. »Umlegen, Curie!« Das Abbild von Solania von Terra stabilisierte sich. Sie lächelte. »Es ist ein schönes Gefühl, euch zu sehen und wieder nach Hause zu kommen«, sagte sie anstelle einer Begrüßung. »Wie es aussieht, könnt ihr Hilfe gebrauchen, stimmtʹs?« »Weiß Gott. Die ARSENALJYK II hat uns ganz schön zugesetzt. Ihr ist mit unseren Waffen nicht beizukommen.« »Wir haben später sicherlich noch ausreichend Gelegenheit, uns ausführlich zu unterhalten. Jetzt werden wir uns erst einmal um unseren gemeinsamen Feind kümmern.«
Die Frau winkte verabschiedend und trennte die Verbindung. Wieder kam die SZ‐2 ins Bild. Wie ein beweglicher Schild warf sie sich dem exotischen Raumer entgegen und schob sich zwischen die ARSENALJYK II und die Rest‐SOL, so daß die Strahlen des Partikelstromwerfers den Verbund aus SZ‐1 und Mittelteil nicht mehr erreichten. Die Jenseitsmaterie schützte die SOL‐Zelle 2 vor der Vernichtung, doch sie verbrauchte sich auch schnell durch das Bombardement der Partikelströme. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die SZ‐2 flüchten mußte. »Wir koppeln an«, entschied Breckcrown Hayes. Cara Doz reagierte sofort und änderte den Kurs. Anfangs verringerte sich der Abstand zwischen der unvollständigen Hantel und der Kugel rapide, dann wurde die Geschwindigkeit gedrosselt und fast völlig aufgehoben. Menschen und Positroniken arbeiteten eng zusammen, um sicherzustellen, daß die oft praktizierte und geübte Abkoppelung auch unter solch widrigen Umständen reibungslos funktionierte. Was sich da im All tat, war auf der RAKETE und der WINDHUND natürlich nicht unbemerkt geblieben, und Atlan nutzte die Gunst der Stunde, um sich und seine Leute in Sicherheit zu bringen. Mit maximaler Beschleunigung – abgeschirmt durch die SZ‐2 – rasten die Beiboote auf das Mutterschiff zu. Der Funkspruch des Arkoniden erreichte Hayes während des Anflanschmanövers. »Du hast uns ja ganz schön auf die Folter gespannt. Wir haben schon das Schlimmste befürchtet.« Der Solaner wirkte ernst, doch seine Erleichterung war unverkennbar. »Jedenfalls bin ich froh, daß ihr komplett zurückkehrt.« »Sogar sehr komplett.« »Wie soll ich das verstehen?« »Nun, bei uns sind Dan, Cilly, Gorgej und Gene. Und nicht zu vergessen Sanny, Kik und Mjailam.« »Das erwähnst du so ganz nebenbei?« Hayes geriet fast aus dem Häuschen. »Dann war die Aktion ja ein voller Erfolg.«
»Menschlich gesehen sicherlich, aber ich hatte mir noch vorgenommen, auch technisch einiges zu bewirken und den Partikelstromwerfer auszuschalten. Das ist leider nicht gelungen, da die Penetranz uns aufgespürt hat.« »Die Penetranz ist an Bord der ARSENALJYK II?« »Ja. Und ihre Helfer kennst du auch – es sind Gyranter.« Der Arkonide blickte kurz zur Seite. »Ich bekomme gerade ein Zeichen von Uster. Er würde es begrüßen, wenn wir uns einschleusen könnten.« »Nur zu.« * Kurz bevor die Jenseitsmaterie verbraucht war, war das Koppelmanöver beendet, die Beiboote befanden sich auch wieder an Bord. Nun gab es nichts mehr, was die Schiffsführung noch in diesem Sektor hielt. Mit Höchstwerten beschleunigte der nunmehr komplette Generationenraumer und setzte sich ab. Die Penetranz, die sich schon als sicheren Sieger gesehen hatte, gab nicht auf. Die ARSENALJYK II verfolgte die SOL, doch statt aufzuholen, vergrößerte sich der Abstand immer mehr. Als die Geschwindigkeit hoch genug war, wechselte sie in den Linearraum über und flog mit millionenfacher Lichtgeschwindigkeit weiter. Erst als sie mehr als hundert Lichtjahre zurückgelegt hatten, fiel der Hantelraumer in den Normalraum zurück. Als sich nach einer halben Stunde immer noch keine Spur von der ARSENALJYK II zeigte, war man sicher, den Gegner endgültig abgeschüttelt zu haben. Natürlich gab es viel zu erzählen, aber besonders gespannt war man auf den Bericht von Solania. Zu aller Leidwesen konnte sie mit keinen konkreten Fakten aufwarten. Was sich nach außen hin wie eine Sonne dargestellt hatte – in Wirklichkeit war es ja Wöbbeking‐
NarʹBon‐ entpuppte sich nach dem Eindringen der SZ‐2 als ein undefinierbares Medium, das nicht zu analysieren war, zumal Taster und Orter streikten. Ein Phänomen besonderer Art hatten alle Besatzungsmitglieder der SZ‐2 an sich beobachtet: Obwohl sie ihren gewohnten Tagesrhythmus mit Schlaf‐ und Wachphasen beibehielten und Uhren und Kalender reibungslos funktionierten, kamen ihnen die zehn Tage subjektiv gesehen wie ein einziger vor. Wenn Wöbbeking dahinter steckte, so war rätselhaft, wie er das angestellt hatte. Geistige Beeinflussung, Suggestion? Das kannte man von seinem Gegenspieler Anti‐ES, aber Wöbbeking‐NarʹBon hatte davon noch nie Gebrauch gemacht. Die Reinkarnationserlebnisse Atlans waren in eine ganz andere Kategorie einzuordnen. Was also war es? Niemand in der großen Runde, die sich in der Zentrale eingefunden hatte, wußte darauf eine Antwort. Sanny, Kik und Mjailam waren mit von der Partie. Räumlich von der Penetranz getrennt und ausschließlich den positiven Ausstrahlungen von Atlan‐Tyari und Sternfeuer‐Twoxl ausgesetzt, hatten sie sich wie die anderen Beeinflußten schnell wieder erholt und normalisiert. Völlig überraschend tauchte Parzelle auf. Freundlich nickend spazierte er an einigen Solanern vorbei auf Atlan zu. »Nehmt euch in acht vor ihm!« rief die Molaatin aufgeregt. »Ich habe ihn auf der ARSENALJYK II gesehen. Er nennt sich Parzelle, der Unscheinbare und gibt sich als der Beauftragte eines mysteriösen Termentier aus. Er ist weder durch Roboter noch Waffen aufzuhalten und hat auch der Penetranz getrotzt.« Der Arkonide machte eine beschwichtigende Handbewegung und wandte sich an den Hominiden. »Du warst auf der ARSENAJYK II?« »Ja, bevor du mit deinen Leuten dort warst.« »Du weißt davon?« fragte Atlan erstaunt. »Woher?« Der Kleine lächelte nur und war so plötzlich verschwunden, wie
er gekommen war. »Allmählich wird mit der Bursche unheimlich«, brummte Hayes. »Er ist gefährlich«, setzte Sanny nach. Als sie die skeptischen Gesichter sah, fügte sie unsicher geworden hinzu: »Ich kann ihn nicht berechnen, er entzieht sich mir. Er hat den Impulsen der Penetranz widerstanden und dem Beschuß der Roboter. Kein Lebewesen vermag das.« »Ich vermag ihn auch noch nicht zu durchschauen, aber daß er eine von Anti‐ES geschickte Kreatur ist, können wir wohl ausschließen. Wie es aussieht, scheint er die Funktion eines Beobachters zu erfüllen, der allerdings nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist«, sagte der Aktivatorträger. »Ich halte ihn für harmlos.« »Wie kannst du dir so sicher sein? Nur weil er auf der ARSENALJYK II angegriffen wurde und jetzt ein paar Worte mit dir gewechselt hat?« »Du solltest mich eigentlich besser kennen, Sanny.« Atlan drohte ihr schelmisch mit dem Zeigefinger. »Ich hatte schon einmal die Gelegenheit, mich mit Parzelle zu unterhalten – hier auf der SOL.« Die anderen nickten beifällig. Ein wenig verwirrt schwieg die Molaatin. Offenbar hatte sie die Zeit, als sie ein zwangsrekrutiertes Mitglied des Arsenals war, noch nicht völlig verkraftet. Hinzu kam, daß sie ja nicht wissen konnte, daß der Unscheinbare dem Generationenschiff schon einmal einen Besuch abgestattet hatte. »Ähem.« Blödel räusperte sich. »Um noch einmal auf die ARSENALJYK II zurückzukommen …« »Gib zu, daß du wieder eine Dummheit begangen hast«, schnappte Nockemann. »Aber das war endgültig deine letzte, du Metallnarr. Ich werde …« »Nicht so hastig, Chef«, unterbrach der Roboter. »Ich gebe zu, daß ich eigenmächtig gehandelt habe, aber es geschah nur zum Wohl der SOL und ihrer Bewohner.« »Halte dich nicht lange mit Vorreden auf und komm endlich zur
Sache«, zeterte der Wissenschafter. »Wuschel war mein Verbündeter. In meinem Auftrag hat er einen leistungsstarken Hyperimpulssender so versteckt, daß man ihn nur zufällig finden kann. Wir sind daher in der Lage, das Schiff nach wie vor zu orten.« »Ausgezeichnet, Blödel.« Beifallheischend blickte der Genetiker sich um. »Ist er nicht ein ausgezeichneter Assistent? Ja, wir Scientologen verfügen nicht nur über ein enormes Wissen, sondern denken auch mit.« »Aber Chef, Wuschel und ich …« »Ihr beiden entwickelt euch unter meiner Führung zu einem immer besser harmonisierenden Gespann.« Nockemann tätschelte den Kopf des Roboters. »Und nun komm, mein Guter. Wenn dieser Parzelle noch einmal auftaucht, müssen wir gerüstet sein.« Seite an Seite verließ das ungleiche Gespann die Zentrale. Wieder war es Sanny, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Die ARSENALJYK II hat noch ein zweites Ziel. Die Penetranz will Prezzar und Tyar vernichten. Das soll in der Junk‐Station geschehen.« Tyari sprang entsetzt auf, Mjailam, der ebenfalls wieder normal, aber geschwächt war, stöhnte abgrundtief. »Es stimmt, beide sollen vernichtet werden«, bestätigte Mjailam. Verzweifelt preßte er die Hände gegen den Kopf. »Meine Erinnerung … Wie konnte ich das nur vergessen.« »Wir müssen Tyar und Prezzar helfen.« So aufgeregt hatte man Tyari niemals zuvor erlebt. »Atlan, Breckcrown, ihr dürft nicht zulassen, daß die Penetranz ihren Plan in die Tat umsetzen kann. Alles wäre umsonst gewesen, und die Folgen wären schrecklich. Ich flehe euch an – greift ein.« In diesem Moment meldete sich ein bekanntes Wesen bei den Solanern – Wöbbeking‐NarʹBon. Ich kann mich dem, was Bars‐2‐Bars darstellt, nicht mehr lange entziehen. Ich werde mich zeigen und stellen müssen.
Tiefe Niedergeschlagenheit klang aus diesen Worten, fast so etwas wie Resignation. »Du darfst nicht aufgeben, nicht jetzt«, sagte der Arkonide eindringlich. »Können wir dir helfen?« Eine Antwort blieb aus, Wöbbeking‐NarʹBon meldete sich nicht mehr. Bedrückendes Schweigen herrschte in der Runde, jeder hing seinen mehr oder weniger trübseligen Gedanken nach. Was, wenn Wöbbeking wirklich aufgeben mußte? Verständlicherweise bewegte Tyari und Prezzar mehr das Schicksal ihrer Schöpfer, von dem auch das Wohl und Wehe zweier Galaxien und ihrer dort lebenden Völker abhing. Die Frau, die man für eine Arkonidin halten konnte, unternahm einen neuerlichen Vorstoß. »Wir müssen versuchen, der Penetranz zuvorzukommen«, sagte sie beschwörend. »Es geht um mehr als nur um Tyar und Prezzar.« »Es muß verhindert werden, daß sie vernichtet werden«, drängte Mjailam. »Laßt uns starten.« »Wo befindet sich denn die Junk‐Station?« erkundigte sich der Aktivatorträger. Fragend blickte Tyari Mjailam, Sanny und Kik an, doch sie wußten keine Antwort. »Wir werden sie schon finden, da bin ich mir ganz sicher. Aber wir müssen schnell handeln.« »Ihr wißt, daß das auch meine Meinung ist«, erwiderte Atlan bedächtig. »Ich handele auch lieber selbst, als etwas dem Zufall zu überlassen, aber manchmal sind einem die Hände gebunden – so wie in diesem Fall. Wir können es nicht noch einmal wagen, gegen die schier unbesiegbare ARSENALJYK II anzutreten.« »Ich helfe, wo ich helfen kann, doch Atlan hat recht.« Man merkte, daß sich der High Sideryt ebenso wie der Aktivatorträger die Entscheidung nicht leicht gemacht hatte. »Das Risiko ist zu groß, wir sind hoffnungslos unterlegen.« Tyari und Mjailam machten aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl.
»Aber die SOL ist doch jetzt wieder komplett«, begehrte Mjailam auf. »Ihr könntet es doch wenigstens versuchen.« »Bitte!« Tyaris Blick war ein einziges Flehen. »Bitte laßt uns nicht im Stich.« Nicht nur die Stabsspezialisten fühlten sich unbehaglich, sondern auch Hayes und vor allem Atlan. Es bedrückte ihn, der geliebten Frau den Wunsch abschlagen zu müssen, er machte ein Wechselbad der Gefühle durch. War sein Nein nicht doch zu vorschnell gewesen? War seine Ablehnung nicht zu schroff? Konnte er die Frau, die er mit allen Fasern seines Herzens liebte, einfach so zurückstoßen? Hatte er die kalte Logik nicht zu sehr über den zwischenmenschlichen Beziehungen angesiedelt? Hatte er nicht zu sehr als Taktiker gesprochen, als Unsterblicher, der wußte, daß ihn andere immer nur ein Stückchen auf seinem langen Weg begleiten konnten? Du darfst jetzt nicht wankelmütig werden! warnte der Extrasinn. Vergiß nicht, daß die Existenz der SOL auf dem Spiel steht. Daß du dem Kopf und nicht dem Herz den Vorzug gibst, überrascht mich nicht, gab der Arkonide gedanklich zurück. Tyari soll eine Chance bekommen. Laut sagte er: »Lyta, ich möchte wissen, was SENECA davon hält, wenn wir zugunsten von Tyar und Mjailam eingreifen.« Die Stabsspezialistin nickte bestätigend und nahm sogleich den Dialog mit der Bio‐Positronik auf. Tyari lächelte ihm zu. Sanny beugte sich zu dem Aktivatorträger hinüber. »Ich habe die Erfolgsaussichten der SOL berechnet. Das Resultat ist niederschmetternd.« Da hast du es, triumphierte der Logiksektor. Atlan verzichtete auf eine Erwiderung. Noch stand SENECAS Ergebnis aus, aber viel Hoffnung, daß es positiver aussah, hatte er nicht. Die Prognosen der Paramathematikerin hatten sich in der Vergangenheit immer als zutreffend erwiesen.
»Die Aussichten, daß die SOL aus einem Kampf mit der ARSENALJYK II als Sieger hervorgeht, beurteilte SENECA mit 1,734 Prozent«, gab Lyta Kunduran bekannt. Auf Tyaris Gesicht spiegelten sich Trauer und Enttäuschung wider. Hayes bedachte sie mit einem Blick, der Mitgefühl und Bedauern ausdrückte, aber angesichts der eindeutigen Aussagen mußte er bei seiner ablehnenden Haltung bleiben. »Ich kann euch beiden nachfühlen, was dieses Ergebnis für euch bedeuten muß, aber bei einer Quote von 100 zu 1,7 würde es bedeuten, die Besatzung der SOL ganz bewußt in den Tod zu schicken. Ihr müßt verstehen, daß ich unter diesen Umständen meine Entscheidung nicht revidieren kann.« »Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Breckcrown.« Atlan vermied es, die geliebte Frau anzusehen. »Ich bin mit dir einer Meinung.« Er stand auf und legte Tyari tröstend einen Arm um die Schulter. »Es tut mir leid.« Die Ortungsabteilung meldete sich. Curie van Herling nahm das Gespräch entgegen. »Ja, was gibt es?« »Wir haben die ARSENALJYK II angepeilt. Sie nimmt Fahrt auf und verläßt ihre Position.« »Danke. Bleibt wachsam und verliert sie nicht aus den Augen.« Die Solanerin trennte die Verbindung und sah fragend zu Hayes. »Curie, ich möchte, daß du dich selbst darum kümmerst.« Die Frau nickte stumm und entfernte sich. Allen war klar, daß das Ziel des exotischen Raumers mit der Penetranz an Bord nur die geheimnisvolle Junk‐Station sein konnte – wo immer sie sich auch befand. Nachdem es mißlungen war, die SOL zu vernichten, würde man wohl nun darangehen, Tyar und Prezzar den Garaus zu machen. Tyari erhob sich. Sie schniefte, ihre Augen schimmerten verdächtig, als sie sich an den Arkoniden wandte und ihm einen zarten Kuß auf die Wange drückte.
»Ich muß dich verlassen, Atlan, und Mjailam wird mit mir gehen. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander, trotz aller Gefahren, aber nun heißt es Abschied nehmen. Du wirst mir sehr fehlen, doch vielleicht begegnen wir uns noch einmal. Ich wünsche es mir jedenfalls.« Der Aktivatorträger war wie vom Donner gerührt. »Ich bitte euch, Mjailam und mir ein Beiboot zu überlassen. Eine Space‐Jet würde uns genügen.« »Aber das ist Wahnsinn«, brach es aus Atlan heraus. »Selbst die SOL hat kaum die Spur einer Chance. Was du vorhast, ist Selbstmord.« »Tyar schwebt in Gefahr, vernichtet zu werden. Ich muß gehen.« Der Arkonide verstellte ihr den Weg, faßte sie an den Armen und hielt sie fest. Seine Züge wurden weich, der Blick zärtlich. »Tyari, Liebes, bedeutet dir denn unsere Beziehung so wenig?« Er hakte sie unter. »Laß uns darüber reden, unter vier Augen. Du bist erregt, willst spontan und impulsiv helfen. Ich verstehe das, aber dieser gefühlsbetonte Eifer ist ein schlechter Ratgeber, er macht blind. Du brauchst ein wenig Abstand.« »Mein Entschluß steht unumstößlich fest.« Sie löste sich von ihm und trat neben Mjailam, der ebenfalls aufgestanden war. »Breckcrown, hilfst du uns, oder verweigerst du auch deine Unterstützung?« Mit schleppenden Schritten kehrte Atlan zu seinem Platz zurück und ließ sich in den Sessel sinken. Er fühlte sich müde und ausgelaugt und unendlich alt. Blicklos starrte er vor sich hin. »Was ist nun mit dem Beiboot?« Hayes fühlte sich unbehaglich. Er war geradezu erleichtert, als die Scientologen auftauchten und es ermöglichten, seine Entscheidung ein wenig hinauszuzögern. »Wir beide sind zur Stelle, jetzt fehlt nur noch Parzelle«, grölte Blödel. Mit breitem Grinsen folgte Nockemann einem Assistenten, der
albern tänzelnd auf die Versammlung zusteuerte. »Wir beide sind zur Stelle, jetzt fehlt nur noch Parzelle …« Abrupt brach der Roboter ab. Als hätte er gehört, daß man ihn rief, stand plötzlich der Unscheinbare vor der mobilen Laborpositronik und lächelte freundlich nach allen Seiten. * Der Arkonide war älter als zehntausend Jahre. Ob es seinem Naturell entsprach oder ob äußere Umstände ihn dazu gemacht hatten – Tatsache war, daß er ein Kämpfer war, ein gewiefter Taktiker und glänzender Stratege dazu. Der Schatz seiner Erfahrung war riesig, doch er hatte sich nicht zu einem philosophierenden Weisen entwickelt, sondern war Realist geblieben. Gefühle waren ihm nicht fremd, aber er war nicht der Typ, der, von Weltschmerz und Selbstmitleid gequält, alle Brücken hinter sich abbrach und sich in ein Schneckenhaus zurückzog, um in selbstgewählter Isolation seine Wunden zu lecken und zu sich selbst zurückzufinden. Nein, er war seelisch belastbarer als die meisten seiner sterblichen Zeitgenossen, dennoch war er in dieser Hinsicht kein Neutrum, keine Maschine. Lieben und geliebt zu werden – das wohnte jedem Lebewesen inne, das über eine gewisse Intelligenz verfügte. Wer wollte es ihm übelnehmen, daß er menschliche Züge zeigte und litt, still litt? Es war noch nicht lange her, daß die Frau umgekommen war, der er sein Herz geschenkt und eine tiefe Zuneigung zu ihr entwickelt hatte – Iray Vouster alias Barleona. Ganz gewiß war er kein Playboy oder Schürzenjäger, aber Tyari hatte es vermocht, die Lücke auszufüllen, die Barleona hinterlassen hatte. Zweifellos liebte er sie, doch ihre Bindung an Tyar war stärker als das, was sie beide verband. Sie würde umkommen wie Iray, und er konnte es nicht verhindern. War es ein Wunder, daß er mit dem Schicksal haderte? »Atlan!«
Er schreckte aus seinem selbstversunkenen Grübeln hoch, erregt und hoffnungsfroh zugleich. Das war Tyaris Stimme, sie war unverkennbar. Hatte sie es doch anders überlegt? Er blickte auf, sah die geliebte Frau – und Parzelle. Er kannte die SOL, und er war auf der ARSENALJYK II gewesen. Was lag näher, als ihn zu fragen? »Ich würde gerne deine Meinung hören zu einem Problem, das uns beschäftigt. Es geht um …« »Mir sind die Fakten bekannt«, sagte der Beauftragte Termentiers in seiner höflichen Art. »Die Entscheidung ist dir überlassen.« »Nach Lage der Dinge wäre es unverantwortlich, erneut gegen die ARSENALJYK II anzutreten.« »Was macht dich in dieser Einschätzung so sicher?« »Wir haben im Kampf gegen die ARSENALJYK II bittere Erfahrungen sammeln müssen, und wir haben unsere Chancen hochrechnen lassen. Sie betragen nicht einmal zwei Prozent.« »Kannst du dir nicht vorstellen, daß ohne ein Eingreifen alle verloren sind? Wöbbeking‐NarʹBon, Tyar, Prezzar und alles, was auf der SOL ist – mit zwei Ausnahmen, eine davon bin ich.« »Es ist wirklich erstaunlich, wie gut du informiert bist.« Der Arkonide blickte Parzelle durchdringend an. »Wer ist die andere Ausnahme?« »Du bist es nicht.« Nachdenklich betrachtete er den Hominiden und registrierte, daß Blödel ihn umkreiste wie ein Raubtier seine Beute, doch das schien den Kleinen nicht zu stören. Zwei Personen, die auf der SOL weilten, würden der Vernichtung entgehen. Parzelle hatte sich selbst genannt, wer war der oder die andere? Tyari oder Mjailam? Es mußte sich um eine außergewöhnliche Persönlichkeit handeln, aber mußte es unbedingt ein humanoides Lebewesen sein? Kam nicht auch Ticker in Frage? Oder Kik? Oder Twoxl? Vielleicht aber auch Sanny, die als Paramathematikerin Situationen und Ereignisse vorausberechnen konnte? Was machte den Unscheinbaren überhaupt so sicher, daß
seine Untergangsprophezeiung eintraf? »Du sagst uns allen den Tod voraus …« »Bis auf zwei Ausnahmen«, stellte Parzelle freundlich richtig. »Gut, aber woher beziehst du dieses Wissen?« »Die Hohen Mächte haben Anti‐ES in diesem Augenblick für einhundert Stunden die völlige Freiheit gegeben.« Diese Ankündigung löste unter den Versammelten Betroffenheit und Bestürzung aus, doch bevor sie weitere Fragen stellen konnten, war der Beauftragte Termentiers verschwunden. Niemand zweifelte an der Richtigkeit der Aussage. Völlige Freiheit für Anti‐ES – das bedeutete, daß die negative Wesenheit nicht mehr gezwungen war, durch Nabel aus der Namenlosen Zone heraus zu agieren, sondern selbst eingreifen konnte. Allein der Gedanke daran ließ die Männer und Frauen um Atlan erschauern. »Unter diesen Umständen revidiere ich meine Entscheidung von vorhin!« sagte Hayes mit fester Stimme. Er nickte dem Arkoniden zu. »Ich denke, das ist in deinem Sinne.« »Ja, das ist es.« Überglücklich eilte Tyari auf den geliebten Mann zu und schmiegte sich in seine Arme. »Du wirst sehen, daß wir es schaffen«, flüsterte sie. »Du und ich gemeinsam.« Stumm strich ihr der Aktivatorträger über das Haar. Er teilte ihren Optimismus nicht, schwieg jedoch, um sie nicht unnötig zu ängstigen. Seltsamerweise kamen unter den Stabsspezialisten keine Diskussionen auf. Mit seltener Einmütigkeit standen sie hinter Atlan und dem High Sideryt, trotz SENECAS deprimierender Prognose das Wagnis auf sich zu nehmen, sich erneut auf eine Auseinandersetzung mit der schier unbezwingbaren ARSENALJYK II einzulassen. Über Rundruf informierte Hayes die Bevölkerung des Generationenschiffes und erteilte die Order, die laufenden
Reparaturarbeiten vorrangig zu behandeln. Wenn es gegen einen solch übermächtigen Feind ging, mußte sich die SOL in einer optimalen Verfassung befinden, und das bedeutete, daß zumindest die gravierendsten Schäden behoben sein mußten. Wie die Ortungsabteilung unter dem Kommando von Curie van Herling herausgefunden hatte, war die ARSENALJYK II mittlerweile an ihrem Ziel angekommen, denn sie führte nur noch Manöver auf engstem Raum aus. Diese Beobachtung war nur möglich, weil der von Wuschel versteckte Hyperimpulssender nach wie vor arbeitete und Signale aussandte, an denen sich die Solaner orientieren konnten. Der High Sideryt gab Anweisung, diesen Punkt anzufliegen. Während die Startvorbereitungen liefen, tauchten die Scientologen bei Atlan auf. Nockemann machte ein bekümmertes Gesicht. »Was bedrückt dich denn, Hage? Ist es der bevorstehende Flug oder die Ankündigung Parzelles?« erkundigte sich der Arkonide. »Weder noch. Es ist dieser Bursche selbst, der mir Kummer bereitet.« »Und warum?« »Nun, wir wollten doch herausfinden, was es mit diesem Unscheinbaren wirklich auf sich hat, ich meine, ob es sich um ein Lebewesen oder einen Androiden handelt.« Der Genetiker zwirbelte seinen Bart. »Zu diesem Zweck haben wir Blödel präpariert und ein winziges Röntgengerät eingebaut, das mit einem Rechner gekoppelt ist. Man nennt eine solche Kombination einen ›Computer‐ Tomographen‹, und dieser Computer‐Tomograph ermöglicht sogenanntes Schichtenröntgen, zerlegt also das Untersuchungsobjekt gewissermaßen in einzelne Scheiben, die auf einem Monitor sichtbar gemacht werden. Ein uraltes Verfahren, um von außen ohne Operation einen Blick in den Körper werfen zu können, aber bewährt und narrensicher.« »Ist Blödel deshalb um Parzelle herumgetanzt?« »Ja, doch leider war unsere Mühe umsonst. Meines Wissens hat
diese Methode noch nie versagt – jetzt zum ersten Mal.« »Sind die Aufnahmen unbrauchbar?« »Was heißt unbrauchbar?« erregte sich der Wissenschaftler. »Die Aufzeichnung müßte innere Organe zeigen oder – im anderen Fall – ein künstliches Skelett, Chips und technischen Kram, aber nichts dergleichen. Nebelige, verwischte Konturen ohne jegliche Aussagekraft.« »Ein Defekt des Gerätes ist ausgeschlossen?« »Natürlich, wir sind ja keine Anfänger.« Unwillig schüttelte er den Kopf und hob dozierend den rechten Zeigefinger. »Röntgenstrahlen sind kurzwellige unsichtbare elektromagnetische Strahlen und zeichnen sich dadurch aus, daß sie in Materie je nach Dichte derselben absorbiert werden. Knochen absorbieren stärker als Haut wie überhaupt alle Stoffe mit großem Atomgewicht – beispielsweise Blei.« »Vielleicht ist der seltsame Bursche ein in Blei verpackter Zwerg«, witzelte der Roboter. »Das würde nicht nur seine Größe erklären, sondern auch das Versagen der Untersuchungsmethode. Ab einer gewissen Stärke ist Blei von den Strahlen nicht mehr zu durchdringen.« »Werde nicht albern«, knurrte Nockemann. »Wir haben gehört, daß er auf der ARSENALJYK II unter Feuer genommen wurde. Der Schmelzpunkt von Blei liegt bei 327 Grad. Unser guter Parzelle wäre nicht nur verflüssigt worden, sondern sogar verdampft.« »Also sozusagen verduftet, wie er es stets zu tun pflegt«, kalauerte Blödel. Hage Nockemann warf seinem Assistenten einen vernichtenden Blick zu. »Los, komm mit ins Labor. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen, um hinter sein Geheimnis zu kommen.« Trotzig stampfte der Galakto‐Genetiker mit dem Fuß auf. »Ich werde ihn schon noch entlarven, egal, ob Mensch, Roboter oder Ungeheuer.« »Wer angibt, hat mehr vom Leben«, mokierte sich Blödel.
»Und das sagt mir ausgerechnet ein Spinner wie du.« Die Stimme des Wissenschaftlers klang verächtlich. »Von wegen Bleizwerg.« Hocherhobenen Hauptes rauschte er davon und ließ seinen Mitarbeiter einfach stehen. »Selber Doofmann«, brummte der Roboter und trabte hinter seinem Herrn und Meister her. 5. Die SOL fiel in das Einsteinuniversum zurück. Sofort nahmen die Orter und Taster ihre Arbeit auf, Daten und Analysen wurden erstellt. Man war auf ein kleines Sonnensystem gestoßen, das sich an der äußeren Schnittstelle zwischen Bars und Farynt befand, aber noch zur Galaxis Bars gezählt werden mußte, deren Zentrum etwa 13.000 Lichtjahre entfernt war. Die Distanz zu Anterf wurde mit 24.360 Lichtjahren angegeben. Bei dem Zentralgestirn handelte es sich um eine kleine rote Sonne mit einem Durchmesser von 576.000 Kilometern. Die drei marsähnlichen Trabanten bewegten sich auf eng beieinanderliegenden Umlaufbahnen. Alle besaßen eine dünne, für kurze Zeit atembare Atmosphäre, die mittleren Temperaturen betrugen beim inneren Planeten 32 Grad, beim zweiten elf und beim äußeren minus vier Grad. In gleicher Reihenfolge wurde ein Durchmesser von 8.400 km, 7.500 und 8.800 km ermittelt. Es waren öde, unbesiedelte Brocken, für das Vorhandensein technischer Anlagen gab es keine Anzeichen. Insgesamt gesehen wirkte das ganze System unscheinbar und absolut bedeutungslos, nichts deutete darauf hin, daß sich hier die geheimnisvolle Junk‐ Station befinden sollte, dennoch tauften die Solaner den Stern »Junk« und bezeichneten seine Begleiter von innen nach außen mit Junk I, II und III.
Noch außerhalb der äußersten Planetenbahn kam der gefechtsbereite Hantelraumer relativ gesehen zum Stillstand. Ein besonderes Augenmerk hatte man natürlich auf die ARSENALJYK II, die sich in einer Umlaufbahn um Junk befand. Plötzlich verließ sie den Orbit und tauchte in die dünne Korona der roten Sonne ein. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß unser Gegner die SOL fürchtet und versucht, sich vor uns zu verbergen«, gab Hayes seinem Erstaunen Ausdruck. »Dabei sind wir es doch, die vor der ARSENALJYK II einen Heidenrespekt haben und nicht umgekehrt.« »Ich gestehe, daß ich auch überrascht bin.« Atlan fuhr sich unbehaglich über das Kinn. »Ich habe mit allem gerechnet, nur nicht damit. Es muß etwas zu bedeuten haben, daß wir nicht angegriffen werden.« »Wahrscheinlich war die Penetranz nicht darauf gefaßt, daß wir hier auftauchen«, vermutete Gallatan Herts. »Nun hat sie sich erst einmal zurückgezogen, um neue Instruktionen einzuholen.« »Oder um die SOL in eine Falle zu locken«, entgegnete Tyari. Ein freudloses Lächeln umspielte die Mundwinkel des High Sideryt. »Egal, was die Gegenseite im Schilde führt – wir dringen nicht weiter vor und behalten unsere Position bei. Der Alarm bleibt bestehen.« »Und wie lange willst du warten?« erkundigte sich Herts, der als Leiter der Hauptzentrale fungierte. »Bis die ARSENALJYK II reagiert. Ewig wird sie ja nicht an Ort und Stelle bleiben, schließlich ist sie ein Raumschiff und kein Sonnensatellit.« Nachdenkliches Schweigen breitete sich aus. Zur Passivität gezwungen zu sein, gefiel weder den Solanern noch dem Arkoniden, doch ein Vorstoß war zu riskant und konnte das Ende bedeuten. Führte das Arsenal, das nunmehr nur noch aus der Penetranz und den unterjochten Gyrantern bestand, etwas im
Schild, oder hatte man tatsächlich durch die Anwesenheit der SOL eine Situation geschaffen, die die Penetranz zwang, abzuwarten und neue Anweisungen einzuholen? Oder sollten sie nur verunsichert werden? Was, wenn man den Hyperimpulssender doch entdeckt und ihn dazu benutzt hatte, sie hierherzulocken? Immer stärker wurden die Zweifel, ob dieses Sonnensystem wirklich ein solches Geheimnis barg, wie es die Junk‐Station sein mußte. Waren sie auf eine falsche Fährte geführt worden, sollten sie nur abgelenkt werden? Befanden sich Tyar und Prezzar möglicherweise ganz woanders, an einem Ort, den Atlan und die Solaner nicht kannten, wo man beide ungestört eliminieren konnte? Das wiederum stand in Gegensatz zu dem, was Mjailam und die anderen von der Penetranz erfahren hatten, als sie noch Mitglieder des Arsenals waren. Und Parzelles Äußerungen und Andeutungen wären in diesem Fall nicht nur sinnlos gewesen, sondern ein ganz bewußtes Täuschungsmanöver. Das mochte selbst der kritische Logiksektor nicht unterstellen. Waren sie demnach doch richtig hier? Denk einmal zurück. Anti‐ES hat sich nicht nur durch Machthunger und besondere Skrupellosigkeit ausgezeichnet, sondern sich auch als ein Meister des Verstellens und Tarnens entpuppt, erinnerte der Extrasinn. Es kann kein Zweifel sein, daß die ARSENALJYK II hier ist. Du hältst also die Existenz einer geheimen Station für möglich? fragte der Aktivatorträger lautlos. Kann ein Versteck unauffälliger sein! Und warum haben wir dann noch nichts entdeckt, nicht einmal eine Spur von Technik ausgemacht? dachte der Arkonide. Es müßten sich … Der durch das Schiff gellende Ortungsalarm riß ihn brutal aus dem geistigen Zwiegespräch. Reflexhaft drehte er den Kopf und blickte auf den Schirm. Er wußte sofort, daß das aufgefangene Echo Wöbbeking‐NarʹBon sein mußte, doch er war in einer
charakteristischen Weise aufgebläht, wie man ihn damals auf Chail erstmals gesehen hatte. »Die ›Grüne Sichel von NarʹBon‹«, flüsterte Atlan. ENDE Die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Atlan und den Solanern auf der einen und Anti‐ES und seinen Kräften auf der anderen Seite strebt unaufhaltsam dem Höhepunkt zu. Auf der Seite des Positiven sind alle Kräfte gefordert, denn es geht um die FREIHEIT FÜR BARS‐2‐BARS … FREIHEIT FÜR BARS‐2‐BARS – unter diesem Titel erscheint auch Atlan‐ Band 649, der von Peter Griese geschrieben wurde.