Fischer Weltgeschichte Band 35
Das Zwanzigste Jahrhundert II Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945–1982 Herausgegeben...
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Fischer Weltgeschichte Band 35
Das Zwanzigste Jahrhundert II Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945–1982 Herausgegeben von Wolfgang Benz und Hermann Graml unter Mitarbeit von Wolfgang Benz Hermann Graml, Klaus-Dietmar Henke Wilfried Loth, Heiner Raulff Gert Robel, Hans Woller
Mit dem Band 35 der Fischer Weltgeschichte wird eine Gesamtdarstellung der historischen Entwicklung von Europa seit 1945 bis zur Gegenwart – wenn man so will: eine Fortsetzung des Bandes 34 – vorgelegt. Die Herausgeber sind sich ebenso wie der Verlag darüber im klaren, daß dieser Band – er war wie auch der die Fischer Weltgeschichte abschließende Band 36 in der ursprünglichen Konzeption nicht vorgesehen, gleichwohl notwendig geworden – ein Wagnis ist, weil die Methoden der Geschichtswissenschaft bei zunehmender Nähe zur Gegenwart nur partiell greifen und deswegen andere zusätzlich in Anspruch genommen wurden. In diesem Band wird die europäische Geschichte von 1945 bis heute aufgearbeitet. Er beginnt mit einem Kapitel über die politischen Blockbildungen im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg, an das sich je zwei Kapitel über die Entwicklungen in West- und Osteuropa anschließen und eines über den schwierigen Gang der europäischen Entspannung bis hin zur Krise dieser Politik. Im Ganzen liegt hiermit eine Darstellung vor, wie es sie bislang bei aller Knappheit in diesem Umfang noch nicht gab – ein Handbuch für Leser, die sich wissenschaftlich mit der angebotenen Materie zu befassen haben, und für solche, die etwa ihre tägliche Zeitungslektüre mit zusätzlichen Informationen über die großen politischen Zusammenhänge ergänzen wollen. Wie alle Bände der Fischer Weltgeschichte ist auch dieser in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Anmerkungen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Die Herausgeber dieses Buches Wolfgang Benz
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1941 in Ellwangen/Jagst geboren, Dr. phil., Historiker, von 1969 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, jetzt Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. Einheit der Nation. Diskussion und Konzeptionen zur Deutschlandpolitik der großen Parteien seit 1945 (1978, zusammen mit Günter Plum und Werner Röder); Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen. Zur Geschichte des Grundgesetzes (1979); Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration (1994; Fischer Taschenbuch Bd. 12504); Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen (überarb. Neuausgabe 1995; Fischer Taschenbuch Bd. 12784); Lexikon des Deutschen Widerstandes (1994; hrsg. zusammen mit Walter H. Pehle; als Fischer Taschenbuch [2001], Bd. 15083); Auf dem Weg zum Bürgerkrieg? Rechtsextremismus und Gewalt gegen Fremde in Deutschland (2001, Fischer Taschenbuch Bd. 15218) sowie Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration (2003; hrsg. zusammen mit Claudia Curio und Andrea Hammel).
Hermann Graml 1928 in Miltenberg/Main geboren, Historiker, bis 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Zuletzt Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Außenpolitik der Zwischenkriegszeit, Widerstand im Dritten Reich, nationalsozialistische Judenverfolgung, u.a. Der 9. November 1938. »Reichskristallnacht« (1953 81962); Europa zwischen den Kriegen (1969, 51982); Europa (1972); als Herausgeber zus. mit Wolfgang Benz: Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen von Curt Geyer (1976); Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert (1976); Sommer 1939. Die Großmächte und der europäische Krieg (1979); Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten (1994, Fischer Taschenbuch Bd. 12236). Beide sind Herausgeber des Bandes 36 der Fischer Weltgeschichte Weltprobleme zwischen den Machtblöcken (= Das Zwanzigste Jahrhundert III). Die Mitarbeiter dieses Bandes Wolfgang Benz/Hermann Graml siehe S. 2 Klaus-Dietmar Henke, geboren 1947 bei Dresden, studierte Geschichte bei Karl Bosl und Helmut Krausnick in München; 1974 M.A., 1977 Promotion zum Dr. phil. Danach Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule der Bundeswehr in München. Seit 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Veröffentlichte neben
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Aufsätzen zur Politik der französischen Militärregierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Studie: Politische Säuberung unter französischer Besatzung (Stuttgart 1981). Wilfried Loth, geboren 1948, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Saarbrücken und Paris, 1974 Promotion zum Dr. phil., 1974–1980 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachrichtung Geschichte der Universität Saarbrücken, 1978–1979 Gastprofessor am FriedrichMeinecke Institut der Freien Universität Berlin, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Saarbrücken. Veröffentlichungen: Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940–1950 (Stuttgart 1977); Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955 (München 1980,4. Aufl. 1983); Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands (Düsseldorf 1984); zahlreiche Aufsätze zur französischen Zeitgeschichte und zu Problemen der internationalen Politik im 20. Jahrhundert. Heiner Raulff, geboren 1946, studierte Romanistik und Geschichte in Hamburg, Freiburg im Breisgau, Paris. Promotion zum Dr. phil. 1976, im Schuldienst seit 1972, Vorsitzender des Arbeitskreises Neuere und Zeitgeschichte im Historischen Verein für Mittelbaden. Zwischen Machtpolitik und Imperialismus. Die deutsche Frankreichpolitik 1904/06 (Düsseldorf 1976). Aufsätze zur badischen Geschichte, Übersetzungen französischsprachiger historischer Literatur. Gert Robel, geboren 1927 in Kötzschenbroda, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Osteuropa-Institutes München, Redakteur der Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München, Reihe Geschichte. Habilitation 1981, Privatdozent der Universität Innsbruck. Arbeiten zur neueren und neuesten Geschichte Ost- und Südeuropas, besonders Rußlands und der Sowjetunion, u.a. Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion – Antifa (München 1974). Hans Woller, 1952 in Aldersbach/Niederbayern geboren, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte. Veröffentlichungen u.a.: Die Loritz-Partei. Geschichte, Struktur und Politik der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) 1945–1955 (Stuttgart 1982); Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947–1949 (Reprint), Bd. 1–6, München/ Wien 1977 (Bearbeiter zusammen mit Christoph Weisz). Vorwort
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Reichlich vier Jahre nahm die Realisierung des Konzepts zum nunmehr endlich vorgelegten Band 35 der Fischer Weltgeschichte in Anspruch. Mehrmals geriet das Projekt unter ungünstige Sterne: Verabredungen zur Mitarbeit wurden aus sehr unterschiedlichen Gründen – einige von präsumptiven Autoren, andere von den Herausgebern – mit der steten Folge neuer Verzögerungen annulliert. Wir danken den Kollegen, die erhebliche Wartezeiten ertragen (und zur Aktualisierung ihrer Manuskripte genutzt) haben, ebenso herzlich wie denen, die während verschiedener Phasen des Unternehmens in die Bresche sprangen. Die Konzeption blieb dabei unverändert, das zweite Kapitel erhielt allerdings infolge der notwendig gewordenen Arbeitsteiligkeit einen noch größeren Umfang, als er ursprünglich geplant war. Das bedarf sicher keiner Rechtfertigung, allenfalls des Hinweises, daß in der Wiederaufbauphase Westeuropas auch die konstitutiven Entscheidungen zur europäischen Integration fielen; zudem bestand für die Autoren dieses Kapitels auch die Pflicht, Handlungsabläufe und Entwicklungslinien von der jeweiligen Ausgangssituation des Landes im Zweiten Weltkrieg her zu beschreiben und zu erklären. Seit Ende der 40er Jahre besteht keine Kongruenz mehr zwischen »Westeuropa« als politischem Begriff und Westeuropa als geographischem Terminus. Der politischen Zuordnung nach fiel so das halbe Deutschland nach Osteuropa, und Griechenland wurde zum Nachbarn des in doppelter Beziehung westeuropäischen Staats Portugal: Ironie der Nomenklatur, aber schwer vermeidbare Ordnungskategorie für die Gliederung des Stoffs »Europa nach dem Zweiten Weltkrieg« in Kapitel. Auf Wunsch der Herausgeber und des Verlages wurden für die Schreibweise ost- und südosteuropäischer Eigennamen statt der wissenschaftlichen Transliteration des kyrillischen Alphabets die gängigen Umschreibungen, wie sie auch die Tagespresse benutzt, die also allgemeinverständlich sind, verwendet. Der Autor des dritten und fünften Kapitels stimmte diesem Oktroi blutenden Herzens zu, wofür ihm aufrichtig gedankt sei. Das Register erstellte (wie schon beim Band 36 der Fischer Weltgeschichte) Margit Ketterle. Dank gilt wiederum Dr. Walter H. Pehle, dem nimmermüden Lektor und versierten Berater, vor allem für seine Geduld, die erheblich strapaziert werden mußte. W.B. – H.G. Einleitung Abschied vom alten Europa Von Wolfgang Benz und Hermann Graml
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»Dieser edle Kontinent, der letzten Endes die schönsten und kultiviertesten Gebiete der Erde umschließt und sich eines gemäßigten und ausgeglichenen Klimas erfreut, ist die Heimat aller großen Stammvölker der Welt. Er ist die Quelle des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Er war in alter und neuer Zeit der Ursprung fast jeglicher Kultur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Wenn Europa einmal einträchtig sein gemeinsames Erbe verwalten würde, dann könnten seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner ein Glück, einen Wohlstand und einen Ruhm ohne Grenzen genießen.« Diese Sätze wurden keineswegs von einem idealistischen Visionär im fortschrittsgläubigen vorigen Jahrhundert formuliert. Sie stehen am Beginn der Rede, die Winston Churchill im September 1946 in der Zürcher Universität hielt. Angesichts der Tragödie zweier im Herzen Europas entstandener, von Deutschland ausgelöster Weltkriege hielt der ehemalige britische Kriegspremier ein Plädoyer für Vereinigte Staaten von Europa, gegründet auf der Partnerschaft von Frankreich und Deutschland. »Großbritannien, das British Commonwealth of Nations, das mächtige Amerika und, ich hoffe es zuversichtlich, Sowjetrußland – denn dann wäre wahrhaftig alles gut – müssen die Freunde und Förderer des neuen Europa sein und für sein Recht auf Leben und Wohlstand eintreten.« Churchills Appell – eineinhalb Jahre nach dem alliierten Sieg über »Großdeutschland«, das Europa im Zeichen der nationalsozialistischen Ideologie zu formieren und hegemonialisieren getrachtet hatte – klang mehr nach einem Rückgriff in die politische Ideengeschichte als nach einem realisierbaren Programm. Europa als Einheit existierte seit Jahrhunderten als abstrakte Idee, der im Konkreten machtpolitische Interessen der einzelnen europäischen Staaten und wechselnde Hegemonien gegenüberstanden, die schließlich allenfalls in einem System des »Europäischen Gleichgewichts« aufgehoben oder doch ausbalanciert waren. An seine Stelle war im 19. Jahrhundert, dem Saeculum der Nationalstaaten, das »Europäische Konzert« getreten, die gemeinsame Hegemonie der Großmächte über die kleineren Staaten. Europa war kein Gegenstand der Außenpolitik, allenfalls eine Formel, die kulturelle und angenommene moralische Überlegenheit gegenüber der übrigen Welt ausdrückte. Die wichtigsten Instrumente der Außenpolitik waren Bündnisse und Allianzen, notfalls Koalitionskriege zur Aufrechterhaltung einer gewissen Balance. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war diese Ordnung freilich erschüttert: Koloniale Expansion wie innereuropäische Interessengegensätze zerstörten das Gleichgewicht innerhalb weniger Jahrzehnte. Die europäischen Krisen der Jahrhundertwende – sichtbar im Konflikt zwischen St. Petersburg und Wien um das türkische Erbe, in Deutschlands Großmachtambitionen, in der entgegengesetzten Entwicklung der Gesellschafts- und Herrschaftssysteme der »Westmächte« gegenüber den »Mittelmächten« – führten zum Zerfall des
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europäischen Staatensystems, zum ersten deutschen Hegemonialkrieg, der sich zum Weltkrieg ausweitete, und in der Folge zum Verlust der europäischen Hegemonie in der Welt. Dem Ersten Weltkrieg folgten kein Friede und keine stabile Ordnung in Europa. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten auf eine Führungsrolle verzichtet und Europa bald wieder den Rücken gekehrt, sie blieben dem Völkerbund fern und ratifizierten den Versailler Vertrag ebensowenig wie den Bündnisvertrag mit Frankreich und Großbritannien, der als Garantie der politischen Nachkriegsordnung Europas fungieren sollte. Sowjetrußland stand dem Völkerbund nicht weniger feindselig gegenüber als den Westmächten, das Deutsche Reich blieb (bis zum Herbst 1926) ohnehin ausgeschlossen. Die Versuche zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Europa und der Welt durch die Pariser Friedensverträge und die Gründung des Völkerbunds schwankten zwischen dem Experiment einer kollektiven Friedensordnung und herkömmlicher Machtpolitik. Es waren Versuche, die in ihrem Gegeneinander verhängnisvolle Konstellationen ergaben: die Isolation Sowjetrußlands (die freilich zum guten Teil auch selbstgewählt war), vollständige Unzufriedenheit und totales Unverständnis für die neue Ordnung im Deutschen Reich und ähnlich starke Revisionsbedürfnisse in Polen, in Ungarn, in Italien, aber auch in Moskau, wo der weltrevolutionäre Anspruch mit dem Wunsch nach Rückgewinnung des Baltikums und der an Polen verlorenen Territorien korrespondierte. Frankreich, das dem Ordnungsfaktor Völkerbund weniger Vertrauen schenkte als Großbritannien, setzte aus Sicherheitsbedürfnissen von Anfang an dem parlamentarisch organisierten System der kollektiven Friedenssicherung das alte Instrumentarium der Allianzverträge entgegen, mit dem eine französische Hegemonie restauriert werden sollte. Ergebnis dieser Politik war die »Kleine Entente« von 1920 (Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien), die 1921 durch ein rumänisch-polnisches Bündnis und wenig später durch ein polnischtschechoslowakisches Neutralitätsabkommen ergänzt wurde. Die Verträge mit Polen (1921) und mit der Tschechoslowakei (1924) schlössen den Kreis des französischen Sicherheitssystems und isolierten – in Verbindung mit den französischen Reparationsforderungen – das Deutsche Reich. In der »Baltischen Entente«, Freundschaftsverträgen Polens mit Lettland, Estland und Finnland, suchten die Ostsee-Randstaaten Rußlands Sicherheit gegenüber der Sowjetmacht, aber auch vor dem Deutschen Reich. Aus polnischer Sicht diente das Bündnis gleichzeitig der Verhinderung einer »kleinen Föderation« der drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, und der Isolierung Litauens (wegen des Konflikts um das Wilna-Gebiet), das sowohl mit Sowjetrußland als auch mit Deutschland (trotz des Irredenta-problems im Memelland) leidlich gute Beziehungen pflegte. In das Konzept der französischen Außenpolitik paßte der baltische Bund als Bestandteil des cordon sanitaire zwischen Deutschland und Sowjetrußland.
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Berlin reagierte auf die außenpolitische Isolation durch die Separatverständigung mit Sowjetrußland im Rapallovertrag. Jede Außenpolitik in Europa war damit durch den Gegensatz zwischen der reaktionären Revisionspolitik in Berlin und dem restaurativen Sicherheitsstreben in Paris konstelliert. Die Konferenz von Locarno erschien vorübergehend als Wendepunkt, als Wegstein zur Konsolidierung Europas und zur Annäherung zwischen Frankreich und seinem östlichen Nachbarn. Deutschlands Anerkennung seiner Westgrenze – also der deutsche Verzicht auf Elsaß und Lothringen – wurde von Frankreich nicht nur durch die Aufgabe der Politik der Faustpfänder und Pressionen im Rheinland belohnt, die Westmächte nahmen auch stillschweigend die deutsche Weigerung hin, die Grenzen in Osteuropa als endgültig zu akzeptieren. Damit aber waren die Ergebnisse von Locarno nicht mehr als eine Atempause auf dem Weg zum neuen europäischen Krieg, der abermals zum Weltkrieg wurde. Zwanzig Jahre nach den Pariser Friedenskonferenzen waren sechs europäische Staaten schon wieder von der politischen Landkarte verschwunden. Sie waren zerschlagen, annektiert, dem Deutschen Reich als »Nebenländer« angegliedert oder als kümmerliche Reste zu Satelliten der neuen Hegemonialmacht Deutschland herabgesunken. Im März 1938 war Österreich ans Deutsche Reich angeschlossen worden, im Oktober des gleichen Jahres folgte das Sudetenland, im März 1939 wurde die Rest-Tschechoslowakei vollends zertrümmert: das »Protektorat Böhmen und Mähren« kam als quasikoloniales Gebilde unter die direkte, die Slowakei als scheinbar unabhängiger Staat unter die indirekte Herrschaft Berlins. Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 mit seinen geheimen Zusatzprotokollen revidierten die beiden Hauptverlierer des Ersten Weltkrieges auf ihre Weise die europäische Friedensordnung und teilten Ostmitteleuropa in ihre Interessensphären auf. Dem deutschen Blitzkrieg folgte die vierte Teilung Polens, wenig später die Verwandlung Estlands, Lettlands und Litauens in Sowjetrepubliken – eine Neuordnung der Verhältnisse, die wieder nur bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 Bestand haben sollte. In der Zwischenkriegszeit hatte es aber auch Stimmen gegeben, die nach einer Einigung Europas riefen. Graf Coudenhove-Kalergi gründete 1923 in Wien die »Paneuropa-Union«, die bald Landesgruppen in zahlreichen Ländern hatte und Paneuropäische Kongresse in Wien (1926), Berlin (1930) und Basel (1932) veranstaltete. Die Paneuropa-Bewegung fand viele Anhänger, in Deutschland vor allem bei den Parteien der bürgerlichen Mitte und auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie; ihr Programm war aber mehr leidenschaftliche Deklamation als politischer Entwurf, der den Realitäten entsprochen hätte. In Coudenhove- Kalergis »Paneuropäischem Manifest«, einem mit heißem Herzen geschriebenen Dokument, mischten sich alte und neue Ängste, die Furcht vor russischem Imperialismus, amerikanischem Wirtschaftspotential und das Trauma eines europäischen Vernichtungskrieges. Heilmittel sollte der
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Zusammenschluß der kontinentaleuropäischen Staaten zu einem Zweckverband sein, mit eigener Schiedsgerichtsbarkeit, einer Zollunion und fundamentiert durch ein Defensivbündnis gegen Rußland: »Paneuropa umfaßt die Halbinsel zwischen Rußland, dem Atlantischen und dem Mittelländischen Meer; dazu Island und die Kolonien der europäischen Staaten. Die große europäische Kolonie, die zwischen Tripolis und Kongo, Marokko und Angola halb Afrika umfaßt, könnte bei rationeller Bewirtschaftung Europa mit Rohstoffen versorgen. Rußland und England sind Paneuropas Nachbarn. Diese beiden Weltreiche sind auch ohne Europa lebensfähig – während die übrigen Staaten dieses Erdteils durch ihre geographische Lage zur Schicksalsgemeinschaft verbunden sind; verurteilt, entweder gemeinsam zugrunde zu gehen oder gemeinsam aufzuerstehen.« Neben der privaten Europapropaganda, wie sie auch vom »Bund für europäische Cooperation« (unter dem Vorsitz des Franzosen Emile Borel), dem »Europäischen Kulturbund« des Prinzen Rohan in Wien oder der »Union Douanière Européenne« (treibende Kraft war der französische Linksrepublikaner Yves Le Trocquer) betrieben wurde, gab es namentlich in Frankreich auch Ansätze einer offiziellen Europapolitik. Ministerpräsident Herriot hatte 1925 vor dem französischen Parlament für ein vereintes Europa plädiert. Als Aristide Briand 1929 in der 10. Völkerbundversammlung »eine Art föderatives Band« der europäischen Nationen vorschlug, beauftragten ihn immerhin 27 Vertreter europäischer Regierungen, ein Programm auszuarbeiten. Wie gering die Möglichkeiten in der politischen Praxis waren, zeigt die Lektüre des Memorandums der französischen Regierung über die Organisation einer europäischen Bundesordnung, das Briand am 1. Mai 1930 vorlegte. Die Rücksicht auf den Völkerbund schien jeden Gedanken an eine politisch handlungsfähige und entsprechend strukturierte Organisation, die über eine unverbindliche Solidaritätserklärung hinausgehen würde, zu verbieten. »Der europäische Verband würde weit davon entfernt sein«, schrieb Briand, »eine neue Instanz für die Regelung von Rechtsstreitigkeiten zu bilden; er könnte in derlei Angelegenheiten höchstens gebeten werden, in rein beratender Weise seine guten Dienste zu leisten, wäre aber nicht befugt, Einzelfragen sachlich zu behandeln, für deren Regelung die Völkerbundsatzung oder die Verträge ein besonderes Verfahren des Völkerbundes oder irgendein anderes ausdrücklich bestimmtes Verfahren vorgeschlagen haben.« Ebensowenig schien Briand die Bildung von Zollunionen erlaubt, da »unvereinbar mit den Grundsätzen des Völkerbundes, denn dieser ist eng verknüpft mit dem Begriff Universalität, die sein Ziel und sein Zweck bleibt, auch wenn er Teilfragen betreibt oder fördert«. Der Versuch des französischen Staatsmanns, ohne Antasten des status quo Wege zur europäischen Integration zu finden, hatte allenfalls die Qualität eines moralischen Appells, der im gleichen Atemzug sämtliche Bedenken und alle Hemmnisse hervorhob und als unüberwindlich erklärte. Der Weg zu Europas Einheit müsse mit politischen Schritten begangen werden, denn wirtschaftliche
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Probleme waren nach Briands Vorstellung strikt den politischen unterzuordnen: »Da jede Fortschrittsmöglichkeit auf dem Wege der wirtschaftlichen Einigung streng durch die Sicherheitsfragen bestimmt wird und diese Frage selbst eng mit der des erreichbaren Fortschritts auf dem Wege der politischen Einigung zusammenhängt, müßte die Aufbaubestrebung, die Europa seine organische Struktur geben soll, zunächst auf dem politischen Gebiet einsetzen.« Aber genauso entschieden hatte Briand die politischen Hindernisse auf dem Weg nach Europa als unantastbar erklärt: »Endlich muß die uns vorliegende Frage mit aller Deutlichkeit dem leitenden Gedanken unterstellt werden, daß die Einführung des erstrebten Bundesverhältnisses zwischen europäischen Regierungen keinesfalls und in keinem Maße irgendwie eins der souveränen Rechte beeinträchtigen kann, das den Mitgliedstaaten eines solchen Verbandes zusteht .... Die Verständigung zwischen europäischen Staaten muß auf dem Boden unbedingter Souveränität und völliger politischer Unabhängigkeit erfolgen.« Als Substanz des Briand-Plans blieb so lediglich der Wunsch eines »allgemeinen, wenn auch noch so elementaren Vertrages zur Aufstellung des Grundsatzes der moralischen Union Europas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität«. Trotzdem gab es eine gelinde Europa-Euphorie in jenem Jahr 1930. Die französische Zeitschrift »Revue des Vivants« veranstaltete einen Wettbewerb, bei dem über 500 Europapläne eingesandt wurden (die fünf schönsten wurden dem Völkerbund zugeleitet). Die Internationale Juristische Union präsentierte einen »Entwurf für eine Internationale Europäische Union«. Im Anschluß an die 11. Versammlung des Völkerbundes im September 1930 entstand eine »Studienkommission für eine Europäische Union« – anstelle des »Europäischen Rats«, den Briand gefordert hatte und der an britischen Bedenken gescheitert war. Mehr oder weniger unabhängig von den zögernden Regierungen gab es Einigungsbestrebungen, die, ökonomische Interessen artikulierend, pragmatischere Ansätze einer europäischen Politik zeigten. Während der Verhandlungen über die 1926 gegründete Internationale Rohstahlgemeinschaft hatte der luxemburgische Industrielle Mayrisch ein Deutsch-Französisches Studienkomitee (»Comité Franco-Allemand d’Information et de Documentation«) aus der Taufe gehoben, in dem maßgebliche Wirtschaftsführer, Politiker und Wissenschaftler sich zu verständigen suchten. Im Rahmen der Internationalen Handelskammer gab es unter Leitung des französischen Industriellen Henri de Peyerimhoff ein Europa-Komitee, das sich um die Verbesserung der internationalen Handelsbedingungen bemühte. Die Mitteleuropäischen Wirtschaftstagungen, die zwischen 1926 und 1931 alljährlich stattfanden und von freihändlerischen Politikern und Wirtschaftsfachleuten fast aller europäischen Staaten besucht wurden, beschäftigten sich mit Handels-, Verkehrs-, Agrarproblemen. Diese Aktivitäten, die auf deutscher Seite zuletzt von der deutschen Schwerindustrie und dem Auswärtigen Amt gefördert wurden, waren in erster Linie der Durchsetzung ökonomischer Interessen
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gewidmet; sie fanden aber immerhin in europäischem Rahmen statt. Die Weltwirtschaftskrise beendete aber so ziemlich alle Versuche, auf wirtschaftlichem Gebiet dem vagen Fernziel eines einigeren Europa näherzukommen. In der wohl bedeutendsten kulturphilosophischen Analyse der Zeit zwischen den Kriegen, dem 1930 erstmals in Buchform erschienenen Essay »Der Aufstand der Massen«, zeichnete José Ortega y Gasset das Bild einer undisziplinierten und moralisch desorientierten europäischen Völkerfamilie, vergleichbar einer außer Rand und Band geratenen Schulbubenschar: »Es ist ein klägliches Schauspiel, das die minderjährigen europäischen Nationen heute bieten. Angesichts von Europas sogenanntem Untergang und seiner Abdankung in der Weltwirtschaft müssen Nationen und Natiönchen umherspringen, Faxen machen, sich auf den Kopf stellen oder sich recken und brüsten und als erwachsene Leute aufspielen, die ihr Schicksal selbst in der Hand halten. Daher die ›Nationalismen‹, die überall wie Pilze aus der Erde schießen.« Aber anders als Oswald Spengler in seinem monströs-effektvoll betitelten düsteren Historiengemälde glaubte der Spanier nicht an den Untergang des Abendlands, sondern an die Zukunft Europas, an die Überwindung der Nationalismen in einem europäischen Nationalstaat. Zwischen Ortegas Vision eines integrierten Europa und den ersten Schritten ihrer Verwirklichung lag aber die bislang größte Katastrophe der Weltgeschichte, der Zusammenprall der Nationalstaaten und Ideologien im Zweiten Weltkrieg. Ihm folgte die Spaltung der Welt – die Ortega nicht für möglich gehalten hatte – entlang einer Demarkationslinie durch die Mitte Europas. Die Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland förderte noch einmal Pläne und Konzepte zu Zusammenschlüssen, etwa der Balkanstaaten unter französischem Schutz (Donauföderation). Auch die Idee des Außenministers der polnischen Exilregierung, August Zaleski, ein durch Ostpreußen erweitertes Polen mit der Slowakei, Ungarn und Österreich zu einem Bund zusammenzuschließen, fand in Paris Liebhaber, und in London wurde Ende 1939 unter dem Eindruck der politischen Emigration aus Mittelund Ostmitteleuropa über solche Föderationspläne ebenfalls diskutiert. Während die deutsche Wehrmacht auf dem Weg zu einer »pax germanica«, der angestrebten Herrschaft über den ganzen Kontinent, die Reste des europäischen Ordnungssystems zertrümmerte, kamen sich Großbritannien und Frankreich im Winter 1939/40 für eine kurze Spanne näher als je in ihrer neueren Geschichte. Die Notwendigkeit zur Koordinierung der Kriegsanstrengungen hatte sich zur Idee einer politischen anglo-französischen Union verdichtet, über die im Frühjahr 1940 – bis zum Zusammenbruch Frankreichs im Juni – auf beiden Seiten des Kanals lebhaft debattiert wurde. Mit der Ausweitung des europäischen Krieges von 1939 zum Weltkrieg ab 1941 waren auch die letzten Reste der in Versailles, St. Germain, Trianon, Neuilly und Sèvres verhandelten europäischen Ordnung Makulatur geworden. Unter
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den Kriegszielen der Anti- Hitler-Koalition war das Problem der Grenzen und Kräfteverhältnisse in Europa ein Programmpunkt unter anderen, und je länger auf den Schlachtfeldern gekämpft wurde, desto deutlicher wurde erkennbar, daß nach dem Krieg die Europäer nicht mehr allein über ihre Geschicke bestimmen würden. Ohne nennenswerten Einfluß der Résistance in den von Deutschland okkupierten Ländern, der Exilregierungen oder gar irgendwelcher Massenbewegungen machten die drei großen Mächte USA, Sowjetunion und Großbritannien unter sich ab, wie Europa nach Kriegsende aussehen sollte. Die Atlantik-Charta, jenes Dokument, das Roosevelt und Churchill im August 1941 an Bord eines amerikanischen Kriegsschiffes vor der Küste Neufundlands ausgearbeitet hatten, umschrieb die Absichten und Ziele einer globalen Friedensordnung, wie sie im Frühjahr 1945 in San Francisco mit der Gründung der Vereinten Nationen realisiert werden sollten. Die neue Staatenorganisation trat zwar formal die Nachfolge des Genfer Völkerbunds an, aber schon vor Gründung stand fest, daß sie nicht von europäischen Traditionen bestimmt sein und daß, anders als im Völkerbund, Europa nicht das Zentrum ihrer Tätigkeit bilden würde. Mit welch zweifelhaftem Erfolg auch immer die UNO bisher ihrem Auftrag gerecht werden konnte, mit welchen Konstruktionsfehlern sie auch behaftet sein mag, sie ist auf keinen Fall eine europäische Interessenvertretung, wie sie der Völkerbund der Zwischenkriegszeit im wesentlichen gewesen war. Bei allem Mißtrauen zwischen Moskau auf der einen und Washington und London auf der anderen Seite herrschte auf den Konferenzen der »Großen Drei« von Teheran bis Potsdam über die Aufteilung Europas in Interessensphären grundsätzlich Übereinstimmung. Im November 1943 konzedierten Roosevelt und Churchill in Teheran Stalin die »Curzon- Linie« als künftige polnischsowjetische Grenze, d.h. man einigte sich im Prinzip auf die Abtretung Ostpolens an die Sowjetunion und eine entsprechende Entschädigung Polens durch deutsche Territorien im Westen. Anfang 1944 war die Ost-WestDemarkationslinie in Mitteleuropa im Verlauf der Beratungen über die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen festgelegt worden. Im Herbst 1944 hatten sich Großbritannien und die Sowjetunion über ihren künftigen »Einfluß« in Südosteuropa verständigt. Konkret bedeutete dies, daß mit Ausnahme Jugoslawiens (wo London und Moskau gleichberechtigt Einfluß ausüben wollten) und Griechenlands, das zum britischen Interessengebiet deklariert wurde, ganz Südosteuropa dem sowjetischen Machtbereich zugesprochen wurde, was immer das später bedeuten mochte. Bei der Konferenz in Jalta im Februar 1945 wurden diese Regeln schon beachtet, analog dazu machten die beiden Westmächte erste Schritte, die (bürgerliche) polnische Exilregierung in London zugunsten des unter sowjetischem Einfluß stehenden »Lubliner Komitees« als provisorischer Regierung Polens fallen zu lassen. Einem machtpolitischen Minimalkonsens innerhalb der Kriegskoalition zuliebe hatten die beiden Westmächte also
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geraume Zeit vor Kriegsende der Teilung Europas in zwei Interessensphären zugestimmt, freilich nicht ohne einiges Wenn und Aber. Die Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945 brachte gegenüber den Vereinbarungen der beiden letzten Kriegsjahre nichts Neues mehr. Die Zugeständnisse an Stalin, mit welchen Vorbehalten und wie freudig oder widerwillig sie von den Westmächten auch gemacht worden waren, bildeten doch Indizien dafür, daß jede Nachkriegsordnung in Europa entscheidend von Faktoren außerhalb Europas bestimmt sein würde. Die alliierten Kriegskonferenzen bis hin zum Potsdamer Treffen hatten ohne die ehemalige europäische Großmacht Frankreich stattgefunden; de Gaulle wurde erst zu später Stunde und gegen den Widerstand Stalins in den Kreis der Sieger aufgenommen. Aber auch die Schwäche der britischen Großmacht sollte sich in den ersten Nachkriegsjahren bald zeigen. Der neue Begriff »Supermacht«, mit dem seit dem Zweiten Weltkrieg das überwältigende Machtpotential der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion umschrieben wird, illustriert nicht nur die relative Ohnmacht der bisherigen Großmächte, sondern auch den Verlust an Bedeutung, den Europa in der Welt erlitten hat. Der verwüstete Kontinent wurde in der zweiten Nachkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts zum Objekt politischer, ökonomischer und ideologischer Interessen der beiden Weltmächte und fiel – beinahe zwangsläufig – je zur Hälfte einem »westlichen« und einem »östlichen« Machtblock zu. Das geschah freilich nicht über Nacht und in Westeuropa auch nicht unter Zwang. Das Bewußtsein der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Schwäche und die Furcht vor kommunistischer Aggression (ob dazu realer Anlaß bestand, ist eine andere Frage) führten zur freiwilligen Anlehnung und Schutzsuche bei Amerika. Den Lockungen des Marshall-Plans standen der Wunsch und das Bedürfnis der westeuropäischen Staaten nach der Führungsrolle Amerikas mit mindestens gleicher Intensität gegenüber. Das galt auch für Großbritannien und Frankreich, die ihren traditionellen Großmachtanspruch (und zwar mit amerikanischer Unterstützung) aufrechtzuerhalten suchten, nur dauerte es länger, bis die amerikanische Suprematie offenbar wurde. Großbritannien war auch in den Nachkriegsjahren keineswegs nur Juniorpartner Washingtons gewesen, soweit es um europäische Angelegenheiten ging. Im Gegenteil, manche Entscheidung in der Deutschlandpolitik, die von Washington auszugehen schien, war in Wirklichkeit in London vorbereitet und formuliert worden. Frankreich hatte sich noch beim Versuch, seinen Kolonialbesitz in Südostasien zu retten, der Hilfe der USA erfreuen können, aber spätestens 1956, als Amerika das anachronistische SuezAbenteuer Großbritanniens und Frankreichs stoppte, war auch in London und Paris das Übergewicht der amerikanischen Ordnungsmacht erkannt und anerkannt worden. Die Teilung der Welt stimulierte die Integration Europas, freilich auf andere Weise, als dies die Propagandisten der Europaidee zwischen den Kriegen oder auch noch Churchill im Jahre 1946 erträumt und erhofft hatten. Die Integration
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vollzieht sich innerhalb zweier säuberlich gegeneinander abgegrenzter Systeme, die man – oberflächlich genug und immer nur halb richtig – als einerseits kapitalistisch, andererseits sozialistisch, als westlich oder östlich, frei oder unfrei, demokratisch oder volksdemokratisch zu bezeichnen sich angewöhnt hat und deren Gravitationszentren mehr oder weniger weitab von der geographischen Mitte Europas liegen. Die Integrationsprozesse dauern an, es gibt im östlichen wie im westlichen Europa Akzelerationserscheinungen und Stagnationen; der Zeit des Kalten Krieges folgte eine Periode der Entspannung. Die dauernde friedliche Koexistenz beider Hälften Europas bleibt das erstrebenswerte Ziel. 1. Europa nach 1945: Die Formation der Blöcke Von Wilfried Loth I. Die Folgen des Krieges Kann man nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch von einer Geschichte Europas sprechen? Zeitgenössische Beobachter der Nachkriegszeit glaubten die Frage vielfach verneinen zu müssen. Die Länder des alten Kontinents waren nicht in der Lage gewesen, der Expansion des Deutschen Reiches 1939/40 Widerstand zu leisten, und sie hatten sich auch nicht mehr aus eigener Kraft vom nationalsozialistischen Imperium zu befreien vermocht; Großbritannien hatte über ein Jahr allein verzweifelt dagegen angekämpft, ein Satellit der deutschen Weltmacht zu werden. Erst nachdem Hitler 1941 die Sowjetunion angegriffen hatte und die USA nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor in den Krieg gegen die Achsenmächte eingetreten waren, war das deutsche Imperium über Europa ins Wanken geraten. Die Sowjetunion hatte die Hauptlast des Krieges auf dem Kontinent getragen (und dafür mit 20 Millionen Toten bezahlt), die USA hatten mit Krediten und Materiallieferungen den weitaus größten Teil der alliierten Kriegsanstrengungen finanziert; es war daher ganz unvermeidlich, daß die beiden bisherigen »Flügelmächte« des alten Kontinents nach dem Sieg über die Achsenmächte ein weitaus stärkeres Gewicht in der Weltpolitik besaßen als die europäischen Länder – die USA freilich noch erheblich stärker als die Sowjetunion – und daß sie insbesondere auch bei der künftigen Entwicklung Europas entscheidend mitzureden hatten. Die Verluste des Krieges hatten bislang unbekannte Dimensionen erreicht1. Nächst der Sowjetunion hatte die ost- und südosteuropäische Region die meisten Todesopfer zu beklagen: 7,5 Millionen, davon allein 4 Millionen ermordeter Juden, insgesamt knapp 9% der Bevölkerung. Deutschland (in den Grenzen von 1937 gerechnet) verlor 5,5 Millionen Menschen, etwa 8% der Bevölkerung. Die übrigen Länder Europas, von den Kriegshandlungen weniger stark betroffen, zählten zusammen weitere 4 Millionen Tote; insgesamt beliefen sich die Verluste an Menschenleben auf das Drei- bis Vierfache der Opfer des Ersten Weltkrieges. An die 50 Millionen Menschen hatten im kontinentaleuropäischen Raum
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zeitweise oder für immer ihre Heimat verloren: Soldaten, Kriegsgefangene, Opfer der nationalsozialistischen »Entmischungspolitik« in Osteuropa, Lothringen und Südtirol (2,8 Millionen), Evakuierte (allein 6,2 Millionen in Deutschland), bei Kriegsende Flüchtlinge und Vertriebene aus den östlich der Oder-Neiße-Linie und in der Tschechoslowakei gelegenen deutschen Siedlungsgebieten (von denen 12 Millionen in die vier Besatzungszonen Deutschlands gelangten), Flüchtlinge und Deportierte der baltischen Völker und in die bis dahin reichsdeutschen Gebiete umgesiedelte Polen (2 Millionen). Was an menschlichen Bindungen und sozialen Gemeinschaftsformen verlorengegangen war, zählte keine Statistik. Von den neutralen Ländern und Großbritannien abgesehen, waren nahezu alle europäischen Großstädte zerstört. Besonders groß waren die Schäden im osteuropäischen Raum, wo sowohl die russischen wie die deutschen Truppen auf ihren Rückzügen nach dem Prinzip der »verbrannten Erde« gehandelt hatten, in Italien, Jugoslawien und Griechenland, in den Niederlanden, wo man Dämme und Deiche gesprengt hatte, in Nordfrankreich, wo nach der alliierten Invasion vom Juni 1944 erbittert gekämpft worden war, schließlich in Deutschland selbst, dessen Städte und Industrieanlagen zu Zielpunkten massiver Bombenangriffe geworden waren. Volkswirtschaftlich noch weit größer war der Schaden, den die Zerstörung der Verkehrswege angerichtet hatte. In Frankreich waren Eisenbahnen und Handelsflotte nur noch zu 35% betriebsfähig, in Deutschland war der Eisenbahnverkehr praktisch zum Erliegen gekommen, in Belgien und Holland das Kanalsystem zusammengebrochen. Der Mangel an Menschen, Maschinen und Verkehrsverbindungen führte zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. In ganz Europa (wiederum: ohne die Sowjetunion) wurden 1946/47 nur etwa 66% des Vorkriegsvolumens an Fleisch und tierischen Fetten produziert, 70% an Getreide, 75% der landwirtschaftlichen Erzeugnisse überhaupt; und auch diese Zahlen wurden nur dank der britischen Produktionssteigerung erreicht; in Frankreich und Deutschland war die Getreideproduktion auf 59 bzw. 64% des Standes von 1938 zurückgegangen. Schätzungsweise 100 Millionen Menschen mußten von 1500 und weniger Kalorien pro Tag leben. Hunger, Kälte, elementare Not bestimmten den Alltag der europäischen Bevölkerung. Verläßliche Zahlen über den Stand der industriellen Gesamtproduktion Europas bei Kriegsende gibt es nicht. In Frankreich erreichte die Produktion 1945 etwa 35% des Standes von 1938 (der seinerseits noch 20% unter dem Stand von 1929, vor Einbruch der Weltwirtschaftskrise, gelegen hatte); die neutralen und weniger zerstörten Länder erreichten etwas mehr, Deutschland, Österreich und Griechenland weit weniger. Noch Ende 1946 belief sich die industrielle Produktion in Frankreich und den Beneluxländern auf nur 89% des Vorkriegsstandes, in Ost-, Südost- und Südeuropa auf rund 60%, in Deutschland auf 40%. Die Industrieproduktion der USA hatte sich im gleichen Zeitraum 1938– 46 mehr als verdreifacht und bestritt nun mehr als die Hälfte des Welt-
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Produktionsvolumens. Der Pro-Kopf-Anteil am Nationaleinkommen war von 1938 bis 1946 in Süd- und Osteuropa von 120 $ auf 90 $ im Jahr gesunken, in Frankreich und den Beneluxländern von 290 $ auf 260 $, in Großbritannien, der Schweiz und den skandinavischen Ländern war er von 420 $ auf 580 $ mäßig gestiegen, während er sich in den USA von 550 $ auf 1260 $ mehr als verdoppelt hatte. Entsprechend hatten sich die terms of trade für die europäische Wirtschaft verschlechtert, und da die europäischen Investitionen in Übersee unterdessen größtenteils zur Finanzierung des Krieges veräußert, die europäischen Dienstleistungen (insbesondere in der Schiffahrt) eingestellt waren, entstand ein Defizit in der europäischen Gesamtzahlungsbilanz, das 1947 die stattliche Höhe von 7,5 Milliarden $ erreichte; die USA erzielten im gleichen Jahr einen Überschuß von 10 Milliarden. Kriegs- und Kriegsfolgekosten hatten die öffentlichen Finanzen zerrüttet und inflationäre Entwicklungen ausgelöst. In Deutschland war siebenmal soviel Geld in Umlauf wie vor dem Krieg, in Frankreich waren die Preise um das Vierfache gestiegen, in Griechenland und Ungarn brachen die Währungen zusammen, Belgien und Norwegen entgingen dem Zusammenbruch nur durch eine Abwertung. Nicht nur die Besiegten, auch die Sieger hatten für den Krieg empfindlich zu zahlen. Der wirtschaftliche und politische Substanzverlust der europäischen Nationen beschleunigte zudem den Emanzipationsprozeß der bis dahin von Europa abhängigen kolonialen Länder2. Großbritannien hatte 1941 Indien die Unabhängigkeit für die Nachkriegszeit zusichern müssen, um einen Übergang des Subkontinents in das Lager der Achsenmächte zu verhindern; 1947 wurde sie realisiert, ebenso die Unabhängigkeit für Burma und (schon 1946) Ceylon; die Commonwealth-Länder Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland, die schon während des Ersten Weltkrieges die Bindungen an das »Mutterland« weitgehend gelockert hatten, gingen nun vollends eigene Wege. General de Gaulles Komitee des »Freien Frankreich« hatte 1941 in Konkurrenz zum VichyRegime den Mandatsgebieten Syrien und Libanon die Unabhängigkeit versprechen und für die übrigen Kolonialgebiete »Reformen« ankündigen müssen; in Marokko und Tunesien verlangten 1944 einheimische Bewegungen einen unabhängigen Status; in Algerien kam es 1945 zu blutigen Auseinandersetzungen; in Indochina erklärte die Vietminh-Bewegung nach der Niederlage der japanischen Besatzungsmacht das Land für unabhängig vom französischen Imperium. In gleicher Weise nutzte die indonesische Nationalbewegung die japanische Kapitulation dazu, die Unabhängigkeit des Inselreiches von den früheren niederländischen Kolonialherren zu proklamieren. Frankreich und Holland versuchten zwar, irre kolonialen Positionen durch Nachbildungen des britischen Commonwealth-Modells zu restaurieren, und auch in Großbritannien fehlte es nicht an Widerstand zumindest gegen die radikalen Unabhängigkeitsbewegungen; das Ergebnis dieser Versuche, die imperiale Machtstellung aufrechtzuerhalten, waren jedoch nur langwierige bewaffnete Kämpfe in den Kolonialgebieten, die um so weniger gewonnen
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werden konnten, als die beiden neuen Weltmächte – die USA noch mehr als die UdSSR – ihrerseits die Befreiung der Kolonialgebiete Afrikas und Asiens von europäischer Vorherrschaft auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Statt, wie man in Europa gehofft hatte, die europäischen Länder durch das überseeische Potential wieder zu stärken, trug das Beharren auf kolonialen Herrschaftsansprüchen so dazu bei, Europa weiter zu schwächen – wirtschaftlich, militärisch und moralisch. Und doch war die Schwäche Europas nur relativ, in vielen Bereichen nur von vorübergehender Natur. Die Wirtschaft lavierte zwar am Rande des Zusammenbruchs, die industriellen Produktionsanlagen waren jedoch bei weitem nicht so zerstört, wie der Eindruck der Ruinen und Trümmerberge zunächst vermuten ließ. Im Ruhrgebiet, dessen Kohlebergwerke nach Kriegsende täglich nur noch 25000 Tonnen statt 400000 vor dem Kriege förderten, waren doch nur 15–20% des Maschinenbestandes in einem irreparablen Zustand; der Wert der deutschen Industrieanlagen insgesamt lag 1946 höher als ein Jahrzehnt zuvor. Die Zerstörung von Anlagen erwies sich sogar vielfach als produktionsfördernd, erlaubte sie doch, technologische Innovationen schneller durchzusetzen, als das unter normalen Umständen möglich gewesen wäre. Die Massen der Flüchtlinge und Vertriebenen schufen zwar Versorgungs- und Integrationsprobleme, ermöglichten aber auch, insofern sie eine Reservearmee oft hochqualifizierter Arbeitskräfte darstellten, hohe Investitionsraten, auch durch die Aufrechterhaltung eines niedrigen Lohnniveaus. Die beiden neuen Weltmächte, die jetzt in Europa mitzureden hatten, waren an einer raschen Stabilisierung des alten Kontinents interessiert – die USA, weil sie befürchteten, ohne potente europäische Handelspartner und Absatzmärkte nach dem Ende des Krieges in eine massive Überproduktionskrise zu geraten, die Sowjetunion, weil sie die geschwächten europäischen Staaten nicht in Abhängigkeit von der ökonomischen Führungsmacht USA geraten lassen wollte. Die USA suchten daher sogleich nach Kriegsende die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Europäer durch Kredite und Hilfslieferungen zu überbrücken (wobei sie allerdings zunächst die europäische Hilfsbedürftigkeit noch zu gering einschätzten); die Sowjetführung bemühte sich – anders als dies westliche Beobachter erwartet hatten und vielfach bis heute behaupten –, die europäische Bevölkerung, soweit sie über die kommunistischen Parteien beeinflußbar war, zu Konsumverzicht und raschem Wiederaufbau zu mobilisieren3. Waren erst einmal die Verkehrsverbindungen wiederhergestellt und die politischen Organisationsprobleme einigermaßen bereinigt, so mußte die Produktion relativ schnell wieder in Gang kommen. In der Tat erlebten die europäischen Volkswirtschaften dann in der zweiten Hälfte der 40er Jahre überall einen ziemlich gleichmäßigen Wiederaufstieg – nahezu unabhängig davon, welche ordnungspolitischen Konzepte in den einzelnen Ländern verfolgt wurden.
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Tatsächlich war mit dem Zweiten Weltkrieg nicht die europäische Geschichte an ihren Endpunkt gelangt, sondern die Geschichte des Gleichgewichtssystems europäischer Mächte, wie es sich seit der Renaissance herausgebildet und bei allen Modifikationen im einzelnen grundsätzlich immer wieder durchgesetzt hatte. Dieses System war brüchig geworden, seit die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz und die Entwicklung der Waffentechnik die Autonomie der bisherigen Großmächte in Frage gestellt hatte, und der deutsche Versuch, dem wachsenden Dilemma einer halbhegemonialen Stellung durch Gewinnung einer Weltmachtstellung auf Kosten der übrigen europäischen Mächte zu entkommen, hatte es zerstört; Versuche, es nach dem Kriege wiederzubeleben – am spektakulärsten die Außenpolitik de Gaulles, beginnend mit dem französischsowjetischen Pakt vom Dezember 19444 –, waren aufgrund der relativen Schwäche der europäischen Nationen zum Scheitern verurteilt. Ein neues internationales System mußte an seine Stelle treten, von dem zunächst nur soviel klar war, daß die USA aufgrund ihres gewaltigen wirtschaftlichen Aufstiegs und ihres Atomwaffenmonopols eine führende Rolle spielen würden, die Sowjetunion aufgrund der im Kriege gewonnenen militärischen Stärke eine eigenständige Position behaupten würde und die europäischen Staaten aufgrund ihrer strategischen Bedeutung für die beiden neuen Weltmächte ein Mitspracherecht behalten würden. Die Zukunft Europas war damit von der Entwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen abhängig geworden; zugleich konnten aber die Europäer auf diese Entwicklung einwirken. Soweit unter den Europäern Alternativen zu dem zusammengebrochenen Gleichgewichtssystem diskutiert wurden, bewegten sie sich im Rahmen der Idee eines Vereinten Europas. Durch Assoziation, Integration oder Föderation der europäischen Staaten – über das »Wie« des Zusammenschlusses gingen die Vorstellungen vielfach auseinander – sollten selbstmörderische Konflikte, wie man sie jetzt innerhalb einer Generation zweimal erlebt hatte, künftig ausgeschlossen werden; insbesondere sollte Deutschland durch die Integration einer Form von dauerhafter Kontrolle unterzogen werden, die nicht wieder neuen Revanchismus produzieren würde. Darüber hinaus sollte der Zusammenschluß die Europäer davor bewahren, in Abhängigkeit von der Sowjetunion und/oder den USA zu geraten, und es ihnen ermöglichen, zwischen den offensichtlich rivalisierenden neuen Weltmächten eine vermittelnde Rolle zu spielen. Winston Churchill, der britische Premierminister, setzte sich im März 1943 öffentlich für einen »Europarat« der kontinentalen Staaten ein, der neben den Großmächten USA, Sowjetunion und Großbritannien künftig den vierten Stabilisierungsfaktor der Weltpolitik bilden sollte. Widerstandsgruppen in allen von deutschen Truppen besetzten Ländern, von Frankreich bis Polen, formulierten unabhängig voneinander ähnliche Konzepte für »Vereinigte Staaten von Europa«. Der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak schlug der britischen und der französischen Regierung im Herbst 1944 die Integration Westeuropas unter britischer Führung vor, und sein italienischer
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Kollege Alcide de Gasperi präsentierte sich im September 1945 dem Außenministerrat der Siegermächte als Vorkämpfer für ein föderiertes Europa5. Eine vermittelnde Rolle Europas als »Dritter Kraft« schien sich um so eher anzubahnen, als in den europäischen Ländern eine allgemeine Gewichtsverlagerung nach »links«, vom liberalkapitalistischen Modell der USA und des alten Europa weg, zu beobachten war. Konservative Machteliten hatten sich durch ihre Zusammenarbeit mit den Faschisten diskreditiert, die Kommunisten hatten durch ihren Einsatz in der Résistance und durch den hohen Anteil der Sowjetarmee am Sieg der Alliierten an Ansehen gewonnen, generell waren infolge der Opfer, die der Krieg gefordert hatte, die Partizipationsansprüche gestiegen. In den ersten Nachkriegswahlen erhielten die Kommunisten in Frankreich 26% der Stimmen, in Italien 19%, in der Tschechoslowakei sogar 38%. In Griechenland kämpfte eine von kommunistischen Führungskräften wesentlich mitgetragene Aufstandsbewegung gegen das autoritäre Athener Regime; in Jugoslawien errang die kommunistische Partisanenbewegung unter Tito einen vollständigen Sieg. In Großbritannien schickte eine breite Mehrheit von Labour-Wählern den konservativen Kriegspremier Winston Churchill unmittelbar nach seinem Triumph über Hitlerdeutschland in die Opposition. In Italien, Frankreich und Deutschland erzielten christdemokratische Parteien mit betont progressistischen, zum Teil offen antikapitalistischen Programmen außerordentliche Erfolge. »Antifaschistische« Koalitionen aus Kommunisten, Sozialisten, Christdemokraten und anderen bürgerlichen Gruppierungen prägten das Bild der ersten Nachkriegsregierungen. Indessen standen der Entwicklung zu einem Europa der »Dritten Kraft« auch beträchtliche Hindernisse entgegen: Wenn auch traditionelle Herrschaftspositionen erschüttert waren, so bestanden doch die sozioökonomischen Verhältnisse über die Wendemarke der Befreiung bzw. des Zusammenbruchs von 1945 hinweg ziemlich unverändert fort, und die augenblickliche Mangellage begünstigte – im Interesse einer »raschen« Rekonstruktion – den Rückgriff auf die hergebrachten Bürokratien in Verwaltung und Wirtschaft. Das Erlebnis von Zusammenbruch und Besetzung hatte zwar das Denken in strikt nationalstaatlichen Kategorien in Frage gestellt, zugleich aber auch die Notwendigkeit verstärkt, sich der eigenen nationalen Identität zu versichern. Großbritannien, das von der europäischen Linken vielfach als Führungsmacht eines vereinten Europas angesehen wurde, hatte das Zusammenbruchserlebnis des Kontinents nicht geteilt und stand den Forderungen nach Integration des eigenen Landes in das kontinentale Europa daher weithin verständnislos gegenüber. Angesichts der weltpolitischen Kräfteverschiebungen blieben die Einigungsbemühungen, sollten sie nicht zur bloßen Wiederholung nationalstaatlicher Machtkämpfe auf kontinentaler Ebene führen, von der gleichzeitigen Verständigung mit den Weltmächten abhängig, und da die Sowjetführung nicht nur die ostmitteleuropäischen Föderationspläne
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als gegen ihre Interessen gerichtete Unternehmen ansah, sondern auch jegliche Art von Staatenassoziierung auf dem europäischen Kontinent, waren zunächst nur sehr vorsichtige, auf Modifizierung der sowjetischen Haltung setzende Schritte möglich, während eine faktische Allianz nationalistischer und sowjetischer Kräfte unterdessen für die Restauration des nationalstaatlichen Ordnungssystems arbeitete. Was aus Europa werden würde, war also in dreierlei Hinsicht offen: Ordnungspolitisch war zu entscheiden, ob und in welchem Maße die liberalkapitalistischen Verhältnisse wieder befestigt werden konnten beziehungsweise wieweit sie sozialistischen Gesellschaftsmodellen weichen mußten; im Verhältnis der europäischen Nationen untereinander stand das Bemühen um die Behauptung absoluter nationalstaatlicher Souveränität gegen den Versuch, die einzelstaatlichen Interessen durch Integration zu relativieren; weltpolitisch konnte Europa zum Stabilisierungsfaktor zwischen Sowjetunion und USA oder zum Objekt und Opfer ihrer Konfrontation werden. Die Entwicklungen in den drei Bereichen hingen voneinander ab, wobei – entsprechend der relativen Schwächung der europäischen Staaten gegenüber den neuen Weltmächten – den Entscheidungen auf weltpolitischem Gebiet das größte Gewicht zukam. Sie bestimmen darum auch die Periodisierung der europäischen Nachkriegsgeschichte. II. Die Anfänge des Kalten Krieges Eine erste Phase der Nachkriegsentwicklung Europas, schon im Kriege beginnend und bis 1947/48 dauernd, war dadurch gekennzeichnet, daß die europäische Region mehr und mehr zum Objekt gegensätzlicher Befürchtungen und Pläne der Weltmächte wurde, ohne daß die Ost-West-Spaltung Europas bereits unabänderliche Realität war. Die Sowjetführung fürchtete seit 1943/44 mehr und mehr die Expansion des amerikanischen Kapitalismus in das geschwächte Europa und damit langfristig – in Verbindung mit den antisowjetischen Kräften des alten Kontinents, insbesondere der osteuropäischen Nachbarländer – eine neue Bedrohung des eigenen Imperiums; in der amerikanischen Führung setzte sich 1945/46 die Überzeugung durch, der Sowjetkommunismus sei – wie der Faschismus – expansiver Natur und er werde – wie jener die Weltwirtschaftskrise – die wirtschaftliche Notlage Europas dazu zu nutzen versuchen, die gesamte europäische Region in seine Einflußsphäre zu bringen, und damit nicht nur den Wohlstand, sondern auch die Sicherheit der USA bedrohen. Die Spannungen zwischen den Weltmächten, die aus diesen Befürchtungen resultierten, erreichten bereits unmittelbar nach Kriegsende ein solches Ausmaß, daß eine Verständigung über die Probleme der Nachkriegsordnung Europas nur noch in Randfragen möglich war. Die Sowjetführung konzentrierte daher ihre Anstrengungen auf die dauerhafte Sicherung ihres Einflusses in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Ost-
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und Mitteleuropas; die amerikanische Regierung räumte ab Anfang 1946 der Immunisierung der nicht von der Roten Armee besetzten Teile Europas vor sowjetischem Zugriff Priorität ein; beide nahmen damit die Teilung Europas in Kauf und arbeiteten de facto auf sie hin6. Hinsichtlich der osteuropäischen Länder zielte die sowjetische Politik darauf, die 1918 vom Deutschen Reich und 1921 von Polen erzwungenen Gebietsabtretungen Rußlands rückgängig zu machen, soweit das nicht schon 1939/40 erfolgt war, die zahlreichen Minoritätenprobleme durch gewaltige Umsiedlungsaktionen zu bereinigen und vor allem durch die Zerstörung der sozialen und politischen Basis potentiell antisowjetischer Kräfte die Möglichkeit einer die Sicherheit der Sowjetunion bedrohenden Ausrichtung der osteuropäischen Länder zu verhindern. Wie die sowjetfreundliche Orientierung Osteuropas erreicht werden sollte, stand zunächst (anders als dies eine weitverbreitete expost-Interpretation behauptet) keineswegs eindeutig fest; sicher war nur, daß sie angesichts der weiten Verbreitung antirussischer und antikommunistischer Einstellungen in den osteuropäischen Ländern in der Regel nicht mit der Verwirklichung liberaler Demokratievorstellungen westlicher Prägung in Einklang zu bringen war7. Eben diese hatte jedoch die amerikanische Regierung zu einem vordringlichen Kriegsziel proklamieren müssen, um den Kriegseintritt der USA innenpolitisch überhaupt erst zu ermöglichen; aus Furcht vor einem Rückfall des amerikanischen Volkes in den Isolationismus und unter dem wachsenden Druck von Wählern osteuropäischer Herkunft sah sie sich außerstande, die sowjetischen Sicherheitsforderungen offen anzuerkennen – obwohl die realen Interessen der USA an Osteuropa gering waren und insbesondere Präsident Roosevelt die Notwendigkeit eingesehen hatte, der Sowjetunion eine Vormachtstellung im osteuropäischen Raum einzuräumen. Die offizielle amerikanische Forderung nach Durchsetzung demokratischer Prinzipien bestärkte die sowjetfeindlichen Kräfte in Osteuropa in ihrem Widerstand gegen den sowjetischen Zugriff und trieb folglich die Sowjetführung zu verstärkter Repression; dies führte, da den amerikanischen Worten keineswegs eine substantielle Unterstützung nichtkommunistischer Kräfte folgte, zur allmählichen Ausrichtung der osteuropäischen Länder auf das sowjetische Vorbild einer kommunistischen Einparteiendiktatur8. So war zwar das östliche Polen bis zur Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San im Herbst 1939 von sowjetischen Truppen für den Sowjetstaat in Besitz genommen worden, und im Frühjahr 1940 hatte die Sowjetführung fast 15000 kriegsgefangene polnische Offiziere ermorden lassen; eine Machtübernahme durch polnische Kommunisten schien Stalin jedoch lange Zeit kein geeignetes Mittel zu sein, eine erneute antisowjetische Orientierung Polens zu verhindern, vielmehr suchte er bis zum Sommer 1944 nach abtretungs- und kooperationsbereiten Kräften in den Kreisen der polnischen Exilregierung in London. Erst als endgültig feststand, daß solche nicht zu finden waren, gab er offenbar dem Drängen der polnischen Kommunisten auf Vorbereitung eines
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kommunistisch dominierten Regimes nach. Dem Warschauer Aufstand der nichtkommunistischen Résistance im August 1944 verweigerte er die mögliche Hilfe; Résistanceführer, die nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Winter 1944/45 über ihren Anteil an der Macht verhandeln wollten, ließ er verhaften. Unter amerikanischem Druck mußten dann Ende Juni 1945 der Bauernpartei als potentiell stärkster Kraft des Landes vier Kabinettssitze in der von den kommunistischen Kräften etablierten Regierung eingeräumt werden, ebenso ein weiterer Sitz den Sozialisten. Als sich die Bauernpartei-Mehrheit jedoch weigerte, in die von Kommunisten und Sozialisten dominierte »Demokratische Front« einzutreten und zudem Teile der nichtkommunistischen Heimatarmee ihren Partisanenkampf fortsetzten, verschoben die Kommunisten, nun von einer wachsenden Gruppe nichtkommunistischer Reformkräfte unterstützt, die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung bis zum Januar 1947 und manipulierten sie dann noch (unnötigerweise) soweit, daß die »Demokratische Front« 394 von 444 Parlamentssitzen erhielt. Die Kommunisten konnten nun ihren Führungsanspruch ungehindert durchsetzen, steuerten freilich zunächst einen Kurs des vom sowjetischen Vorbild unabhängigen »eigenen Weges zum Sozialismus«, der darum bemüht war, die bäuerlichen Massen wie den Klerus der katholischen Kirche für die Mitarbeit am sozialistischen Staatsaufbau zu gewinnen. In der tschechoslowakischen Exilregierung fand Stalin jene Kooperationsbereitschaft, die er bei der polnischen vergeblich suchte. Staatspräsident Beneš und eine Mehrheit demokratischer Kräfte des Landes zogen aus der Erfahrung des Münchner Abkommens und der Verschiebung der Machtverhältnisse auf dem Kontinent von sich aus den Schluß, die Tschechoslowakei müsse die Sowjetunion als Schutzmacht gewinnen, um ihre Unabhängigkeit zu sichern. Bereitwillig gab er den Plan einer tschechoslowakisch-polnischen Föderation auf sowjetischen Einspruch hin auf, trug er dem sowjetischen Wunsch nach Angliederung der bis 1939 zum tschechoslowakischen Staatsverband gehörenden Karpato-Ukraine an die Sowjetunion Rechnung und vertrat er in der internationalen Politik die sowjetischen Positionen. Folglich ging die politische Macht nach der Befreiung durch sowjetische und (zu geringerem Teil) amerikanische Truppen an eine »Nationale Front« aus Kommunisten, Sozialdemokraten, Nationalsozialisten, Katholischer Volkspartei und Slowakischer Demokratischer Partei über, innerhalb derer die Kommunisten zwar infolge der Unachtsamkeit von Beneš eine unverhältnismäßig starke Schlüsselstellung einnehmen konnten, deren Programm sozialer Umgestaltung (einschließlich der Ausweisung der Sudetendeutschen) jedoch von einem breiten Konsens aller Koalitionspartner getragen wurde. Spannungen unter den Regierungsparteien, die den Fortbestand des parlamentarischen Regimes bedrohten, traten erst 1947 auf, nachdem Wiederaufbau und Sozialisierungsprogramm nicht zuletzt infolge des Ausbleibens amerikanischer Hilfsgelder in eine Krise geraten waren.
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In Ungarn ließ Stalin unter dem Schutz der sowjetischen Truppen Ende 1944 eine Koalitionsregierung aus Kommunisten, Sozialisten und Kleinlandwirtepartei errichten und in vorsichtigen Schritten soziale Reformen des bis dahin von einer schmalen Oberschicht konstitutionell-autoritär regierten und mit Deutschland verbündeten Landes in die Wege leiten. Eine Massenbasis für eine sowjetfreundliche Politik fand sich jedoch nicht; vielmehr erlitten die Kommunisten in den Wahlen vom Oktober 1945 mit 17% der Stimmen (gegen 57% für die Kleinlandwirtepartei und 17,4% für die Sozialisten) eine deutliche Niederlage. Der Kleinlandwirteführer Ferenc Nagy wurde nun von den Sowjets als Ministerpräsident akzeptiert, geriet aber unter zunehmenden Druck seiner kommunistischen Kabinettskollegen. Im Januar 1947 wurden einige führende Mitglieder der Kleinlandwirtepartei der Verwicklung in einen Putschversuch beschuldigt und verhaftet, Ende Mai 1947 die wichtigsten KleinlandwirteMinister aus dem Kabinett ausgeschlossen; danach war der Weg zum kommunistischen Machtmonopol frei. In Rumänien suchte sich die Sowjetführung zunächst mit der Verschwörergruppe oppositioneller Generäle und Politiker zu arrangieren, die im August 1944 das mit Hitler verbündete Regime Marschall Antonescus stürzte; Forderungen rumänischer Kommunistenführer nach größerem Anteil an der Macht wurden von Stalin abschlägig beschieden. Unter dem Eindruck allgemeiner Unruhe unter der antibolschewistisch eingestellten ländlichen Bevölkerung erzwangen die sowjetischen Besatzer dann aber Ende Februar 1945 von König Michael die Berufung eines kommunistisch kontrollierten Kabinetts. Die Opposition gegen das neue Regime blieb beträchtlich und nahm sogar weiter zu, konnte sich aber nicht mehr durchsetzen: Im August 1945 versuchte König Michael vergeblich, die neue Regierung zu stürzen; im Januar 1946 wurden auf amerikanischen Druck hin zwei Vertreter der Oppositionsparteien in das Kabinett aufgenommen, ohne daß sie dort tatsächlichen Einfluß erlangen konnten; im November 1946 bereiteten die Wähler der kommunistischen Partei eine vernichtende Niederlage, die jedoch von dieser in einen Sieg des von ihr kontrollierten »Blocks demokratischer Parteien« umgefälscht wurde. Im Laufe des Jahres 1947 wurden die oppositionellen Führungskräfte verhaftet, ihr Anhang durch eine Währungsreform seiner materiellen Grundlage beraubt, die selbständigen Elemente innerhalb des »Demokratischen Blocks« ausgeschaltet, schließlich die Abdankung des Königs erzwungen. In Bulgarien organisierte eine »Vaterländische Front« aus Zveno-Gruppe der Militärs, Bauernpartei, Kommunisten und Sozialisten im September 1944 beim Herannahen der sowjetischen Truppen einen Putsch gegen das bisherige autoritäre, mit Hitler verbündete Regime; über 2500 Vertreter der alten Ordnung wurden im Laufe des Winters 1944/45 zum Tode verurteilt, weitere 2000 in lebenslange Zwangsarbeit geschickt. Innerhalb der Regierungskoalition gewann die kommunistische Partei, hier mit rasch wachsendem Massenanhang und durch die Präsenz der sowjetischen Besatzer abgesichert, alsbald die führende
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Position. Durch das Vorgehen britischer Truppen gegen die prokommunistische Partisanenbewegung im benachbarten Griechenland ermutigt, wagte der stellvertretende Ministerpräsident Nikola Petkow im Juli 1945 die Kraftprobe mit den Kommunisten, indem er mit einem Teil seiner Bauernpartei die »Vaterländische Front« verließ. Zu den Wahlen vom November 1945 wurde jedoch nur eine Einheitsliste der »Front« zugelassen und diese mit 88% bei einer Wahlbeteiligung von 80% bestätigt; Verhandlungen über die Wiederaufnahme zweier Oppositionspolitiker in die Regierung (wie sie die Sowjetregierung den USA schließlich zugestanden hatte) scheiterten an der Weigerung der Kommunisten, der Opposition realen Einfluß zuzubilligen. Nach dem Abschluß des Friedensvertrags im April 1947 und der Auflösung der Alliierten Kontrollkommission, deren Präsenz der Opposition noch einen gewissen Schutz gewährt hatte, wurde Petkoff verhaftet und zum Tode verurteilt, seine ohnehin schon angeschlagene Bauernpartei definitiv zerschlagen. In Jugoslawien setzte sich die kommunistische Partisanenbewegung unter Josip Broz-Tito im Kampf gegen die Achsenmächte weitgehend aus eigener Kraft gegen rivalisierende Widerstandsgruppen durch; Stalin, der die Bewegung während des Krieges nicht hatte unterstützen können, drängte Tito auch nach dem militärischen Sieg über die Besatzer im Herbst 1944, mit den bürgerlichen Kräften und dem exilierten König zusammenzuarbeiten. Tito räumte den nichtkommunistischen Kräften jedoch nur eine untergeordnete Rolle in der von der Bevölkerung im November 1945 mit 90% gebilligten »Volksfront« ein, trieb die Enteignung von Großgrundbesitz und Industrie nach sowjetischem Vorbild energisch voran und ließ die aktiven Anhänger der vordem rivalisierenden Formationen (insbesondere der serbischen Četnik- Kampfbewegung und der kroatischen Ustaša-Separatisten) strafrechtlich verfolgen. Sein Regime kam so kommunistischen Ordnungsvorstellungen noch am ehesten nahe, geriet aber alsbald in Spannungen mit Stalin, dem der revolutionäre Elan der jugoslawischen Genossen vielfach – so in ihrem Versuch, das Gebiet von Triest zu vereinnahmen, und in ihrer Unterstützung der griechischen Aufstandsbewegung – zu unbedacht erschien. Unter umgekehrten Vorzeichen blieb auch in Finnland der sowjetische Einfluß begrenzt: Die finnische Armee brachte den sowjetischen Vormarsch zweimal, im finnisch-sowjetischen Winterkrieg 1939/40 und bei der sowjetischen Karelien-Offensive im Sommer 1944, zum Stillstand; die USA bekundeten während des gesamten Krieges ein aktives Interesse an der Erhaltung der demokratischen Ordnung des Landes, und die nach dem Kriege gebildete Regierung Paasikivi nahm mit einer betont sowjetfreundlichen Außenpolitik der Sowjetführung jeden Anlaß zu einem erneuten Interventionsversuch. In den außerhalb des Einflußbereichs der Roten Armee verbliebenen Ländern, besonders in Frankreich und in Italien, mobilisierten die Kommunisten unterdessen auf Stalins Anweisung alle verfügbaren Reserven für den Wiederaufbau in Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten. Aus der
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Résistance hervorgegangene Selbstverwaltungsorgane, die als Keimzellen revolutionärer Gegengewalt dienen konnten, wurden mit Hilfe kommunistischer Minister entmachtet; gesellschaftliche Reformbewegungen wurden soweit gefördert, wie sie zur Effektivierung des Produktionsprozesses beitragen konnten, aber immer dann gestoppt, wenn sie die Produktivität auch nur kurzfristig zu beeinträchtigen drohten; wirtschaftliche Verteilungskämpfe wurden zugunsten einer ausgesprochen unternehmerfreundlichen Politik rigoroser Produktions- und Ertragsratensteigerung zurückgestellt. In Frankreich boykottierten die Kommunisten die Forderungen ihres sozialistischen Koalitionspartners nach Nationalisierung aller Großindustrien, nach Wirtschaftsplanung und Partizipation; in Italien versagten sie sich den radikalen Umgestaltungsplänen der Sozialisten und der aus der Résistance hervorgegangenen Aktionspartei zugunsten einer Zusammenarbeit auch mit den Liberalen und vor allem mit der christdemokratischen Massenpartei.9. Die amerikanische Führung nahm diese bis zur Selbstverleugnung gehende kommunistische Stabilisierungspolitik im westlichen Europa freilich nicht zur Kenntnis, setzte vielmehr ihre Wirtschaftshilfe gezielt gegen den kommunistischen Einfluß ein und drängte die Sozialisten und Christdemokraten in Europa auf Ausschluß der Kommunisten aus der Regierungsverantwortung. Die Regierungspartner der Kommunisten zeigten, da sie zur Durchsetzung ihrer eigenen Reformpläne auf kommunistische Unterstützung angewiesen waren, zunächst wenig Neigung, den amerikanischen Forderungen nachzukommen, gerieten aber bald auch im eigenen Land unter den Druck antikommunistischer Kräfte, die im Zeichen der beginnenden Ost-West-Konfrontation an Gewicht zunahmen. In Frankreich entstand den Christdemokraten mit der gaullistischen Sammlungsbewegung eine »rechte« Konkurrenz, die sie zwang, mehr und mehr von ihren »linken« Koalitionspartnern abzurücken; in Italien arbeiteten traditionelle Honoratioren und der Vatikan auf einen Bruch der Christdemokraten mit den Kommunisten hin. Deren Position innerhalb der Regierungen wurde folglich immer schwächer, und die Unzufriedenheit ihrer Anhängerschaft mit der von Moskau verfügten Opferpolitik wuchs. Im Frühjahr 1947 waren der Unmut der kommunistischen Basis einerseits und der Druck der Kommunistengegner andererseits so weit angewachsen, daß die Regierungskoalitionen mit den Kommunisten auseinanderbrachen, sowohl in Belgien (11. März) als auch in Frankreich (4. Mai) und in Italien (13. Mai). Noch rechnete freilich in Europa kaum jemand damit, daß der Bruch der »antifaschistischen« Bündnisse von Dauer sein würde, und die kommunistischen Parteiführungen versuchten auch von der Opposition aus, die Mitarbeit am nationalen Wiederaufbau fortzusetzen. Noch stärker als auf Ost- und Westeuropa wirkte sich die beginnende OstWest-Konfrontation auf Deutschland aus, das von den Weltmächten nur gemeinsam hatte besiegt werden können und für dessen Zukunft sie darum auch gemeinsam verantwortlich waren10. Die Alliierten hatten zwar alle ein
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erhebliches Interesse daran, Deutschland anders als nach dem Ersten Weltkrieg jede Möglichkeit zu einer neuen Aggression zu nehmen, befürchteten von einer Entmachtung Deutschlands zugleich aber auch negative Folgen für die eigene Sicherheit: In den USA zeigte sich ein deutliches Interesse daran, den deutschen Markt als potenten Partner für die amerikanische Wirtschaft zu erhalten, in der Sowjetführung wuchs, je länger der Krieg dauerte, die Befürchtung, ein zerstörtes Deutschland könne leicht zum Opfer des amerikanischen Imperialismus werden, in Großbritannien wuchs parallel dazu die Furcht, ein Machtvakuum in Deutschland werde der sowjetischen Expansion Vorschub leisten. Unter den Westmächten nahm darüber hinaus die Einsicht zu, daß Sicherheit vor Deutschland nicht durch Repression, sondern nur durch Integration der Deutschen in ein kollektives Sicherheitssystem erreicht werden konnte. So kam es, daß die alliierten Regierungen auf ihren Treffen während des Krieges zwar alle mehr oder weniger deutlich Pläne zur Aufteilung Deutschlands in selbständige Teilstaaten ventilierten – am radikalsten Roosevelt, vergleichsweise zurückhaltend, nur an einer Westverschiebung der polnischen Grenzen definitiv interessiert, Stalin –, eine genaue Festlegung jedoch unterblieb und nach Kriegsende nur die Franzosen, die auf Betreiben Churchills im letzten Moment in den Kreis der künftigen Besatzungsmächte Deutschlands aufgenommen worden waren, an diesen Plänen festhielten. In der »European Advisory Commission« (ab Januar 1944 in London) sowie auf den Konferenzen der »Großen Drei« in Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli/August 1945) vermochten sich die Alliierten folglich fast nur auf provisorisch gemeinte Regelungen zu verständigen: Von den Teilungsplänen wurde lediglich die Abtretung ostdeutscher Gebiete an Polen bzw. die Sowjetunion konkretisiert; infolge britischen Einspruchs gegen die von der polnischen Regierung bei Stalin durchgesetzte Abtrennung ganz Schlesiens (bis zur Oder-Neiße-Linie) erfolgte die Übertragung der Regierungsgewalt an Polen bzw. die Sowjetunion jedoch nur vorbehaltlich einer endgültigen Regelung in einem Friedensvertrag. Das übrige Reichsgebiet (natürlich ohne die seit 1938 annektierten Territorien) wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die Hauptstadt Berlin einer gesonderten Viermächte-Verantwortung unterstellt, doch hatten die vier Besatzungsmächte die Verantwortung für die Verwaltung Deutschlands in einem Alliierten Kontrollrat gemeinsam zu tragen, und das Land sollte unter dem Besatzungsregime als wirtschaftliche Einheit behandelt werden. Die sowjetische Forderung nach Festlegung der von Deutschland als Einheit zu leistenden Reparationen auf 20 Milliarden Dollar (davon die Hälfte für die Sowjetunion) wurde von Roosevelt entgegenkommend behandelt; im Zuge der Verhärtung der amerikanischen Position gegenüber der Sowjetunion setzte sich dann aber das Prinzip der »Selbstbedienung« der Besatzungsmächte in ihrer jeweiligen Zone durch; nur 10% der »unnötigen« Industriegüter der Westzonen sollten ohne Gegenleistung Polen und Russen zur Verfügung gestellt werden. Hinsichtlich der Entnazifizierung und Demokratisierung Deutschlands
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wurden eine Reihe von Grundsatzbeschlüssen gefaßt; über den Weg zu ihrer Verwirklichung gingen die Vorstellungen jedoch sehr bald auseinander11. Damit waren für die Lösung der »deutschen Frage« nur noch zwei Möglichkeiten verblieben: Festhalten am Deutschen Reich in einer Form, die beiden Weltmächten hinreichend Garantien bot, daß nicht das ganze Deutschland dem Potential der jeweiligen Gegenseite zufallen würde, oder, wenn diese Garantien nicht erreichbar waren, Einbeziehung der Besatzungszonen in die jeweils eigene Hemisphäre. Die »Großen Drei« suchten die Lösung nach Kriegsende zunächst in Richtung der ersten Alternative, tatsächlich lief die Entwicklung jedoch seit Herbst 1945 auf die zweite hin, da die französische Regierung im Sinne der obsolet gewordenen Zerstückelungspläne die Realisierung der in Potsdam beschlossenen Wirtschafts- und Verwaltungseinheit blockierte. In Ermangelung gemeinsamer Regelungen nahm die von den Besatzungsmächten eingeleitete Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft in Ost und West einen unterschiedlichen, am jeweiligen Demokratieverständnis ausgerichteten Verlauf, und das Mißtrauen hinsichtlich der wechselseitigen Absichten in Deutschland wuchs. Pläne für eine gesamtdeutsche Regelung, so das amerikanische Angebot eines ViermächteGarantiepakts zur Entmilitarisierung Deutschlands oder der britische Vorschlag zum schrittweisen Aufbau einer provisorischen Regierung, wurden zwar noch bis zur Moskauer Außenministertagung im März/April 1947 ernsthaft diskutiert, scheiterten aber regelmäßig am sowjetisch-amerikanischen Gegensatz, der sich in der Reparationsfrage konkretisierte. Seit Mitte 1946 war die amerikanische Regierung nicht mehr zu Kompromissen bereit, die den hohen sowjetischen Forderungen entgegengekommen wären, und arbeitete statt dessen auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die staatliche Organisation der drei westlichen Besatzungszonen ohne sowjetische Beteiligung hin, immer mehr davon überzeugt, daß ihr langfristiges Interesse an einem potenten deutschen Markt nur noch auf diese Weise zu verwirklichen war und ansonsten die Sowjetisierung ganz Deutschlands drohte. Die Sowjetregierung hielt demgegenüber an der gesamtdeutschen Alternative fest, um eben diese »Amerikanisierung« Westdeutschlands zu verhindern, führte aber zugleich den Transformationsprozeß in der eigenen Besatzungszone in einer Weise fort, die potentielle Bundesgenossen in den westlichen Zonen abschreckte12. Die Pläne für eine europäische »Dritte Kraft« kamen unter diesen Umständen kaum voran. Die Wiedererrichtung einer Internationale sozialistischer Parteien Ost- und Westeuropas, potentielles Sammelbecken einigungswilliger Kräfte, scheiterte an der Furcht der Osteuropäer wie der britischen Labour Party vor einer Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Versuche, die Beziehungen zwischen west- und osteuropäischen Staaten zu intensivieren, so der Plan eines französisch-tschechoslowakischen Bündnisses, blieben in ersten Ansätzen stecken. Initiativen für eine westeuropäische Assoziation unter britischfranzösischer Führung führten infolge britischen Zögerns und französischer
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Konzentration auf eine unrealistisch gewordene Deutschlandpolitik nur zum französisch-britischen Pakt von Dünkirchen (4. März 1947), der über den gegenseitigen Beistand gegen eine neue deutsche Aggression hinaus noch keine substantiellen Kooperationsbestimmungen enthielt. Andererseits hatten aber auch Bemühungen, Westeuropa mit den USA zu einem Block gegen sowjetische Expansion zusammenzuschweißen, wenig Erfolg. Churchill sprach im März 1946 öffentlich vom »Eisernen Vorhang« zwischen Ost und West und der Notwendigkeit atlantischer Solidarität, im September 1946 rief er Franzosen und Deutsche auf, sich zu »einer Art Vereinigter Staaten von Europa« im Westen zu verständigen, und beide Male stieß er in Europa auf mehr Ablehnung als Zustimmung. Noch war die Blockbildung in Europa nicht vollzogen13. III. Die Teilung Europas Die Wende zur dauerhaften Zweiteilung des europäischen Kontinents begann, als die amerikanische Regierung im Frühjahr 1947 versuchte, ihre Stabilisierungspolitik für Westeuropa einschließlich des westlichen Deutschland zu intensivieren. Dieser Versuch war in amerikanischer Sicht notwendig, da die ursprünglich an Länder außerhalb des sowjetischen Einflußbereichs gewährten Hilfen, 1946 immerhin schon 5,7 Milliarden Dollar, sich als zu gering erwiesen, ein harter Winter und Verkehrsengpässe die Wirtschaftskrise Europas immens erscheinen ließen, und die europäischen Länder zum Protektionismus zurückzukehren drohten; er war aber auch außerordentlich schwierig, da sich der amerikanische Kongreß, seit Anfang des Jahres mit republikanischer Mehrheit, wenig geneigt zeigte, neue Kredite für Europa zu bewilligen, und die französische Regierung sich weigerte, dem raschen Wiederaufbau der westdeutschen Industrie, wie er für die dauerhafte Gesundung der europäischen Wirtschaft unerläßlich war, zuzustimmen. Den Widerstand des Kongresses überwand die Truman-Administration, indem sie die sowjetische Bedrohung (von deren Realität sie freilich überzeugt war) bewußt überdimensioniert darstellte: In der »Truman-Doktrin«, am 12. März 1947 dem Kongreß aus Anlaß der Bitte um Hilfsgelder für Griechenland und die Türkei präsentiert, erschien der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA nun als globaler Kampf zwischen einem Regime von »Terror und Unterdrückung« und der »Freiheit«; letztere wurden die USA aufgefordert, weltweit zu unterstützen. Den französischen Widerstand suchten George F. Kennan, Chef des Politischen Planungsstabes im State Department, und der amerikanische Außenminister George C. Marshall zu überwinden, indem sie die geplanten Hilfen für die europäischen Länder zu einem multilateralen Wiederaufbauprogramm zusammenfaßten, das zugleich den Weg zur Integration der beteiligten Länder eröffnete und damit Frankreich eine neue Form der Kontrolle des deutschen Wiederaufstiegs anbot. Um dieses Programm, seit seiner Vorstellung durch den Außenminister am 5. Juni 1947 als »Marshall- Plan« bekannt, in den
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westeuropäischen Ländern mit ihren starken kommunistischen und sozialistischen Kräften durchzusetzen, offerierten sie es (ohne große Hoffnung auf eine positive Antwort) auch den osteuropäischen Ländern einschließlich der Sowjetunion; damit ergab sich, auch wenn dies nicht das Hauptanliegen der Initiatoren des Plans war, noch einmal eine Chance, die begonnene Spaltung Europas rückgängig zu machen14. Die Ankündigung des Marshall-Plans löste denn auch in Ost- und Westeuropa beträchtliche Hoffnungen auf eine Verwirklichung der »Dritten Kraft« aus, und die Sowjetführung schwankte eine Zeitlang zwischen der Furcht vor der Westblockbildung im Falle einer Absage an den Plan und der Furcht vor einer Auflockerung oder gar Auflösung ihres osteuropäischen Herrschaftsbereichs im Falle ihrer Beteiligung. Als sich aber die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs, Bevin und Bidault, die ihrerseits eine Torpedierung des Plans durch die Sowjetunion befürchteten, den sowjetischen Vorstellungen von der Verwirklichung des Wiederaufbauprogramms gegenüber wenig entgegenkommend zeigten, entschied sich Stalin am 30. Juni 1947, die Nachteile einer Absage geringer einzuschätzen als die Gefahren im Falle einer Teilnahme. Die osteuropäischen Regierungen, die ausnahmslos ihr Interesse an einer Beteiligung am Marshall-Plan bekundet hatten und mit Ausnahme Jugoslawiens selbst nach der sowjetischen Absage noch zur Teilnahme entschlossen waren, wurden von der Sowjetführung gezwungen, ihre Zusagen zurückzunehmen; Finnland entschied sich, um einer sowjetischen Intervention zuvorzukommen, selbst zur Nichtteilnahme. Im Laufe des Sommers 1947 setzte sich in der sowjetischen Führung die Überzeugung durch, daß ihre Stabilisierungsstrategie für das westliche Europa gescheitert sei und die Dynamik des amerikanischen Kapitalismus sogar auf die sowjetische Sicherheitszone in Osteuropa überzugreifen drohe. Eine Eindämmung der amerikanischen Vormachtstellung in Westeuropa schien nun, wenn überhaupt, nur noch möglich, wenn man die westlichen kommunistischen Parteien zum Bruch mit der Volksfront-Politik und zur Sabotage des Marshall-Plans aufforderte, während der Bestand der osteuropäischen Sicherheitsregion nur durch eine stärkere Ausrichtung der osteuropäischen Regime auf das sowjetische Vorbild und durch eine Verschärfung der Kontrolle durch Moskau gesichert schien. Ende September wurden die Führer der wichtigsten kommunistischen Parteien auf einer Konferenz im schlesischen Schreiberhau (Sklarska Porȩba) mit dem Kurswechsel der sowjetischen Politik vertraut gemacht und zur Zusammenarbeit in einem »Kommunistischen Informationsbüro« (Kominform) verpflichtet; der sowjetische Delegationsleiter Shdanow definierte den Ost-West-Konflikt analog zur TrumanDoktrin als globale, auf Sieg oder Untergang angelegte Auseinandersetzung zwischen dem »imperialistischen und antidemokratischen Lager« unter Führung der USA einerseits und den »antiimperialistischen und antifaschistischen Kräften« unter sowjetischer Führung andererseits15.
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In den osteuropäischen Ländern wirkten jetzt der Moskauer Druck und eine allgemeine Krise des Wiederaufbaus, auch infolge des Ausbleibens der amerikanischen Hilfsgelder, dahingehend zusammen, daß die bis dahin noch verbliebenen Freiräume autonomer politischer Kräfte beseitigt wurden. In der Tschechoslowakei endete eine dramatische Kraftprobe zwischen der kommunistischen Partei und ihren demokratischen Koalitionspartnern mit der Etablierung einer absolut moskautreuen Regierung (29. Februar 1948) und der vollständigen Entmachtung der Nichtkommunisten16. Wie hier wurden auch in den übrigen osteuropäischen Ländern noch verbliebene organisierte Oppositionsgruppen ausgeschaltet, die sozialdemokratischen Parteien nach ausgiebigen Säuberungen mit den Kommunisten verschmolzen, alle Arbeiterorganisationen der kommunistischen Kontrolle unterworfen und die KP-Führungen nach und nach von Kräften gesäubert, die im Verdacht standen, sich Stalin gegenüber nicht jederzeit absolut loyal zu verhalten – also sowohl von »revolutionären« Parteiführern, die sich eher am leninistischen Dogma als an den Interessen der Sowjetunion orientierten, als auch von »Rechtsabweichlern«, die für ihre jeweiligen Länder das Recht auf einen »eigenen Weg zum Sozialismus« beanspruchten. Die gesellschaftliche Transformation wurde strikt nach dem Vorbild der Sowjetunion ausgerichtet, an die Stelle pragmatischer Bündnisse mit partiell reformbereiten Gruppen trat der polizeistaatliche Terror einer Minderheit. Nach sowjetischem Muster wurden dem Aufbau der Schwerindustrie überall Vorrang eingeräumt, zentralistische Planungsmethoden eingeführt und gegen erhebliche Widerstände auch die Kollektivierung des flachen Landes vorangetrieben; die Wirtschaftsproduktion wurde mehr und mehr auf die Bedürfnisse des sowjetischen Wiederaufbaus hin abgestellt, Bindungen an die westlichen Märkte gewaltsam reduziert. Aus dem vielfältigen »informal empire« der Sowjetunion in Osteuropa wurde ein geschlossener Sowjetblock17. Allein die jugoslawischen Kommunisten vermochten sich dieser Entwicklung zu widersetzen: In ihrem Selbstverständnis treue Verbündete der KPdSU, waren sie doch keineswegs bereit, vitale Interessen ihres Landes sowjetischen Befehlen zu opfern, und da sie infolge ihrer breiten Massenbasis nicht auf den Rückhalt der Sowjetarmee angewiesen waren, konnten sie sich gegen den Moskauer Zugriff behaupten. Als sich Tito weigerte, die jugoslawische Wirtschaft einseitig nach sowjetischen Bedürfnissen auszurichten und auf eigene Initiativen zu südosteuropäischer Föderationsbildung zu verzichten, versuchte Stalin ihn im Frühjahr 1948 zu stürzen. Freilich führten weder der Abzug der sowjetischen Berater (18. März) noch der Ausschluß aus dem Kominform (28. Juni), die Verhängung einer Wirtschaftsblockade oder die Aufrufe zum Sturz der »faschistischen Tito-Clique« zum Erfolg. Eine kleine Gruppe potentieller Agenten Moskaus in der jugoslawischen Parteiführung wurde rasch entmachtet, und im übrigen halfen dann westliche Kredite und amerikanische Militärhilfe, dem sowjetischen Druck, der bis zum Tode Stalins im März 1953 andauerte,
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standzuhalten. So blieb ausgerechnet jenes osteuropäische Land, dessen innenpolitische Entwicklung traditionellen kommunistischen Revolutionsvorstellungen noch am weitesten entgegengekommen war, außerhalb des von der Sowjetunion dominierten Ostblocks18. In Westeuropa ließen die kommunistischen Parteiführungen nach der Kritik ihrer bisherigen Stabilisierungspolitik durch die KominformGründungskonferenz dem seit Kriegsende angestauten sozialen Unmut ihrer Klientel freien Lauf; in Frankreich und Italien entstanden daraufhin im Winter 1947/48 massive Streikbewegungen, die bisweilen den Charakter eines allgemeinen Aufruhrs annahmen. Als Arbeitskampf, wie sie die große Masse der beteiligten Arbeiter verstand, war diese Streikwelle ein völliger Fehlschlag, als Versuch der kommunistischen Parteiführungen, ihre Massenbasis wieder in den Griff zu bekommen, dagegen ein voller Erfolg; die Durchsetzung der amerikanischen Ziele in Westeuropa wurde durch sie indes nicht verhindert, eher gefördert: Die große Mehrheit der Westeuropäer, die die Furcht der Amerikaner vor einer Ausdehnung des sowjetischen Einflusses auf das westliche Europa bisher immer als unbegründet zurückgewiesen hatte, gewann nun angesichts des Streik-Spektakels und der mit ihm verbundenen ideologischen Offensive der Kommunisten selbst die Überzeugung, daß die kommunistischen Parteien in Westeuropa auf den Sturz der bestehenden Ordnung hinarbeiteten und die Sowjetführung den ganzen Kontinent unter ihre Kontrolle zu bringen versuchte. Eine Rückkehr der Kommunisten in die Regierungsverantwortung, wie sie Sozialisten und progressive Christdemokraten im Interesse einer außenpolitischen »Dritten Kraft« und einer inneren Reformmehrheit bisher gewünscht hatten, schien nun nicht mehr möglich; die Kommunisten sahen sich in das Getto ihrer »Gegenkultur« verwiesen, die politischen Gewichte verschoben sich deutlich nach rechts, und der Wiederaufbau im Zeichen des Marshall-Plans vollzog sich auf der Basis eines breiten antikommunistischen Konsenses19. Von der Jahreswende 1947/48 an wurde so der Kalte Krieg zur innenpolitischen Realität in den Staaten des westlichen Europa. In Frankreich mußten die Sozialisten notgedrungen die Rolle der linken Flügelgruppe einer Koalition aus Christdemokraten und Konservativen übernehmen, die sich von den Reformansätzen der aus der Résistance hervorgegangenen ersten Nachkriegsregierungen immer weiter fortbewegte. In Italien siegten die Christdemokraten (mit massiver amerikanischer Unterstützung) im April 1948 deutlich über das Bündnis von Kommunisten und Linkssozialisten; die Gettoisierung der Kommunisten ermöglichte den Christdemokraten fortan eine unangefochtene Dauerherrschaft. Im westlichen Deutschland sahen sich die Sozialdemokraten des Rückhalts durch den starken SPD-Anhang in der sowjetischen Besatzungszone beraubt, christliche Sozialisten innerhalb der CDU verloren ihre Schlüsselstellung. Generell halfen der neue antikommunistische Konsens und eine wachsende Furcht vor sowjetischer Bedrohung traditionellen
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bürgerlichen Eliten, die durch die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten oder durch ihre Niederlage gegen die nationalsozialistische Expansion diskreditiert waren, sich zu rehabilitieren und wieder in Schaltstellen der Macht einzurücken. In Großbritannien geriet die regierende Labour Party unter zunehmenden Druck der Konservativen; an einer allzu engen Bindung an den Kontinent ohnehin nicht interessiert, sah sie sich durch die zunehmend konservative Entwicklung in den kontinentalen Ländern in ihrem Isolationismus bestätigt; ohne Unterstützung durch die britischen Sozialisten formierte sich nun auch die ursprünglich von der Hoffnung auf eine sozialistische »Dritte Kraft« geprägte europäische Einigungsbewegung unter mehrheitlich konservativen Vorzeichen. Entscheidend verstärkt wurde dieser Trend zur »Restauration« traditioneller Ordnungsverhältnisse durch das amerikanische Drängen auf rasche Rekonstruktion und Integration der europäischen Volkswirtschaften. Im Prinzip sozialdemokratischen Reformvorstellungen keineswegs feindselig gesonnen, glaubte sich die Truman-Administration angesichts der wirtschaftlichen und der vermeintlichen politischen Notsituation im westlichen Europa keine Experimente mehr leisten zu können, und organisierte daher den Wiederaufbau im Zeichen des Marshall-Plans nach dem eigenen liberalen Erfolgsmodell. Der Wiederaufbau der westdeutschen Schwerindustrie wurde nicht länger aus Sicherheitsgründen gebremst, so daß die deutsche Wirtschaft alsbald wieder ihre traditionelle Führungsrolle auf dem Kontinent einnehmen konnte. Die Sozialisierung der Ruhrindustrie, Kernstück der Reformforderungen von deutschen Christdemokraten bis zu französischen Sozialisten, wurde unter massivem amerikanischem Druck (in diesem Falle: gegenüber der britischen Besatzungsmacht) im Herbst 1947 auf die Zeit nach der Etablierung einer gewählten westdeutschen Regierung verschoben und damit de facto hintertrieben. In der Vorbereitung der westdeutschen Währungsreform arbeitete die amerikanische Besatzungsbehörde eng mit traditionellen liberalen Kräften zusammen; durch die Begünstigung der Sachwertbesitzer und das Ausbleiben eines gleichzeitigen Lastenausgleichs wurde der Weg zu einer die bestehenden Besitzverhältnisse im Grunde unangetastet lassenden marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung vorgezeichnet. Die amerikanischen Marshall-Plan- Gelder mußten beim Kongreß in jedem Jahr neu beantragt werden, und ihre Verwendung unterlag der abschließenden Kontrolle durch die amerikanische »Economic Cooperation Administration« (ECA); damit war eine längerfristige Wirtschaftsplanung der Teilnehmerländer des Plans so gut wie ausgeschlossen, während die amerikanische Seite über gewisse Einwirkungsmöglichkeiten auf die jeweilige nationale Investitionspolitik verfügte und diese im Sinne ihrer liberalen Ordnungsvorstellungen nützte20. Daß es den Westeuropäern nicht gelang, ihre Autonomie bei der Verwirklichung des Marshall-Plans in einem größeren Maße zu behaupten, hatten sie sich freilich zu einem guten Teil selbst zuzuschreiben: Die Truman-
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Regierung hatte, weil sie nicht an einer dauernden strukturellen Abhängigkeit der europäischen Länder von den USA interessiert war, vielmehr an der Wiedergewinnung potenter selbständiger Handelspartner, die Initiative für die Formulierung des Hilfsprogramms im Sommer 1947 ausdrücklich den Teilnehmerländern überlassen; erst nachdem sich die Europäer nicht auf ein integriertes Wiederaufbauprogramm zu einigen vermocht hatten und auch das Projekt einer europäischen Zollunion als erster Schritt zur Integration der Teilnehmerländer gescheitert war, hatte sie damit begonnen, ihre Vorstellungen von einem optimalen Wiederaufbauprogramm zu diktieren. Zwar unternahm die französische Regierung nach einer Korrektur ihres außenpolitischen Kurses durch die Sozialisten 1947/48 wiederholt den Versuch, die Einigung der Marshall-Plan-Länder im Interesse der europäischen Selbstbestimmung und, soweit noch möglich, einer Vermittlung im Ost-West-Konflikt voranzubringen, doch zögerte die britische Labour- Regierung, sich auf eine definitive Bindung an den Kontinent einzulassen. Ohne britische Beteiligung wollte die Mehrheit der kontinentalen Europäer, vor allem die europäische Linke und die Beneluxländer, nicht mit der Einigung Europas beginnen; folglich blieb die Einigungspolitik trotz eines beträchtlichen Aufschwungs der europäischen Einigungsbewegung 1947–1949 in den ersten Anfängen stecken. Die Gründung des Europarats im Mai 1949, in den Augen der Kontinentaleuropäer nach langwierigen Verhandlungen ein erster Schritt zur Schaffung eines föderierten Europas, bedeutete in Wahrheit eine weitere Verzögerung konkreter Einigungspolitik: Die Briten widersetzten sich allen Bemühungen, dem Rat Gemeinschaftsaufgaben zuzuweisen, und verurteilten ihn damit zur Bedeutungslosigkeit. Im Mai 1950 entschloß sich schließlich der französische Außenminister Robert Schuman, mit der Vergemeinschaftung ohne britische Beteiligung zu beginnen, indem er die Bildung einer europäischen Montanunion mit supranationaler Entscheidungsbefugnis vorschlug. Das »Europa der Sechs« (Frankreich, Italien, die Beneluxländer und die westdeutsche Bundesrepublik), das mit dieser Montanunion ohne Großbritannien seinen Anfang nahm, bot gewiß endlich einen Rahmen zur Behauptung der europäischen Eigenständigkeit, wurde aber erst wirksam, nachdem die grundlegenden ordnungspolitischen Entscheidungen des Wiederaufbaus längst gefallen waren, und bewegte sich infolge der unterdessen eingetretenen politischen Kräfteverschiebungen selbst in den von den USA vorgezeichneten Bahnen liberalkapitalistischer Prägung21. Während die europäische Einigung stagnierte und die Idee der »Dritten Kraft« damit de facto weithin scheiterte, kam die westliche Blockbildung rasch voran. Von der Aussicht auf ein mögliches Vordringen der Sowjetunion nach Westeuropa höchst beunruhigt, drängte Bevin seinen amerikanischen Kollegen Marshall schon im Dezember 1947 zur Schaffung eines »westlichen demokratischen Systems, das die Amerikaner, uns selbst, Frankreich, Italien, usw., und natürlich die Dominions umfaßt« und das insbesondere den Europäern einen militärischen Schutz durch die USA garantieren sollte22; als
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Vorleistung offerierte er den Amerikanern einen kollektiven Verteidigungspakt Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs (Brüsseler Pakt vom 17. März 1948). Nach dem gewaltsamen Ende der tschechoslowakischen Demokratie im Februar 1948, das die Furcht vor einer militärischen Aggression für viele Westeuropäer existentiell werden ließ, fand diese Politik eine breite Mehrheit im westlichen Europa, und auch in den USA, deren Regierung dem Gedanken an einen Militärpakt zunächst zurückhaltend gegenübergestanden hatte, weil sie Europa nicht für militärisch bedroht hielt, setzte sich nun die Bereitschaft durch, den Brüsseler Pakt mit eigenem Engagement zu unterstützen. Freilich klafften die Ansichten darüber, welche Form und welchen Umfang die amerikanische Sicherheitsgarantie für das westliche Europa annehmen sollte, noch weit auseinander23. Beschleunigt wurde der Prozeß der westlichen Blockbildung durch die geradezu verzweifelten Versuche der Sowjetführung, die Konstituierung eines westdeutschen Staates – logische Folge der Einbeziehung der drei Westzonen in das westeuropäische Wiederaufbauprogramm – im letzten Moment doch noch zu verhindern. Nachdem sich die Vertreter der USA und der Brüsseler Paktstaaten Anfang Juni 1948 in London auf die Form der staatlichen Neuorganisation Westdeutschlands geeinigt hatten, nahm Stalin die Durchführung der westdeutschen Währungsreform in den Westsektoren von Berlin zum Anlaß, die Landverbindungen zwischen Berlin und den Westzonen zu blockieren (vom 24. Juni an): Nur so schien es ihm möglich, die Verwirklichung der Londoner Beschlüsse zu stoppen und das Gespräch über eine gesamtdeutsche Lösung wieder in Gang zu bringen. In der Tat erwog das amerikanische State Department nun für einen Moment ernsthaft den Plan allseitigen Truppenrückzugs aus den vier Besatzungszonen – in der Hoffnung, auf diese Weise dem drohenden Debakel der amerikanischen Deutschlandpolitik entkommen zu können. Als sich dann aber ab Ende August zeigte, daß die Versorgung der Westberliner Bevölkerung über eine Luftbrücke sichergestellt werden konnte, und zudem die französische Regierung vor einer gesamtdeutschen Lösung noch mehr zurückschreckte als vor der immer noch ungeliebten Weststaatsgründung, entschieden sich Marshall und Truman nicht nur zum Durchhalten; sie zögerten den Abbruch der Blockade sogar durch Übergehen sowjetischer Verhandlungsofferten bewußt hinaus, da sich die für die Sicherheit der Westberliner nun ungefährliche, aber dennoch täglich die sowjetische Aggressivität demonstrierende Krise als hervorragendes Mittel erwies, noch verbliebene Widerstände gegen die Westblockbildung zu überwinden: sowohl das Zögern der Westdeutschen, sich auf eine Staatsgründung einzulassen, die den Graben zu den Deutschen in der sowjetischen Zone augenscheinlich vertiefte, als auch die Bedenken der Franzosen gegen die Restituierung eines potenten deutschen Nachbarn und den Widerstand des amerikanischen Kongresses gegen ein kostspieliges und auf Dauer verpflichtendes militärisches Engagement der USA in Europa. Am 4.
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April 1949 unterzeichneten die Vertreter der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs, der Beneluxländer, Italiens, Norwegens, Dänemarks, Islands und Portugals in Washington den Nordatlantischen Verteidigungspakt; am 8. Mai verabschiedete der Parlamentarische Rat westdeutscher Länderparlamentarier das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Der Sowjetführung blieb, nachdem die Berliner Blockade eine gegenteilige Wirkung gezeitigt hatte und auch vage Hoffnungen, das deutsche Nationalgefühl gegen die westdeutsche Staatsgründung mobilisieren zu können, unerfüllt geblieben waren, nichts anderes mehr übrig, als die Gründung der Bundesrepublik hinzunehmen und nun auch die Staatsgründung in der sowjetischen Besatzungszone definitiv werden zu lassen, die durch die Sonderentwicklung des Gesellschaftssystems in der Sowjetzone zwar schon vorbereitet, aber bislang immer noch zugunsten einer gesamtdeutschen Lösung in der Schwebe gehalten worden war.
Abb. 1: Mitglieder der Nordatlantikpakt-Organisation/NATO Am 12. Februar 1952 traten Griechenland und die Türkei, am 5. Mai 1955 die BRD der NATO bei; Frankreich zog am 1. Juli 1966 seine Vertreter aus den NATO-Stäben zurück, am 7. September 1966 stellte es die Zahlungen an die NATO ein.
Im Mai 1949 wurde die Blockade stillschweigend wieder aufgehoben, in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone wurde auf einer SED-kontrollierten
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Einheitsliste ein »Deutscher Volkskongreß« gewählt, dieser nahm die – schon 1948 unter propagandistisch- gesamtdeutschen Vorzeichen konzipierte – Verfassung einer »Deutschen Demokratischen Republik« an und ließ sie dann, nachdem man die Bildung der ersten Bundesregierung in Westdeutschland abgewartet hatte, zum 7. Oktober 1949 in Kraft treten24. Damit hatten sich bis Mitte 1949 anstelle des zusammengebrochenen europäischen Gleichgewichtssystems zwei gegensätzliche Machtblöcke formiert, die von den beiden neuen Weltmächten dominiert wurden und Europa in eine östliche und eine westliche Hemisphäre teilten. Das europäische Machtvakuum, das der Untergang des Dritten Reiches hinterlassen hatte, war aufgefüllt, die Einflußsphären der Weltmächte waren klar abgegrenzt, die Verwirklichung ihrer grundlegenden Interessen gesichert. Offen blieb, ob und wie lange die Konfrontation fortdauern würde, unter der sich diese Teilung vollzogen hatte, welches Ausmaß das amerikanische und das sowjetische Engagement in Europa annehmen würden und wie dauerhaft die Teilung folglich sein würde. IV. Die Ratifizierung der Blockbildung Zwischen Herbst 1949 und Frühjahr 1952 schien es zunächst so, als ob die »westliche Welt« ein sehr hohes Maß an Geschlossenheit und Militanz erreichen würde. Die pauschale Vision einer monolithischen und expansiven sowjetkommunistischen Bewegung, von der Truman-Administration ursprünglich nur zur innenpolitischen Durchsetzung ihres Eindämmungsprogramms beschworen, bestimmte nun immer mehr die Praxis der westlichen Politik, teils, weil die westlichen Regierungen unter den Druck wachsender antikommunistischer Bewegungen gerieten, teils, weil bei ihnen selbst militärisches Denken die ursprünglichen Differenzierungen überlagerte. Unter dem Eindruck der ersten sowjetischen Atomwaffenexplosion im August 1949 arbeitete die amerikanische Regierung auf den Ausbau der Organisation des bis dahin eher als psychologische Schutzgarantie gemeinten Atlantikpakts zu einer substantiellen Verteidigungsstreitmacht hin, zunächst nur mit mäßigem Erfolg, dann aber, nach dem nordkoreanischen Überfall auf Südkorea vom 25. Juni 1950 an, der die Furcht vor einer sowjetischen Expansion in allen westlichen Ländern noch einmal entscheidend verstärkte, um so effektiver. Die amerikanischen Verteidigungsausgaben wurden beträchtlich ausgeweitet (allein von 1950 auf 1951 von 13,1 Milliarden Dollar auf 22,3 Milliarden), eine integrierte Verteidigungsorganisation des Nordatlantikpakts für Europa gebildet (europäische NATO-Streitmacht) und die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte im Rahmen des westlichen Bündnisses zumindest im Grundsatz beschlossen. Bis der letztgenannte Beschluß verwirklicht werden konnte, mußten allerdings noch beträchtliche Widerstände überwunden werden, sowohl bei den Westdeutschen selbst als auch unter den westeuropäischen Verbündeten und insbesondere in Frankreich – zu groß war fünf Jahre nach Kriegsende
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allenthalben die Furcht vor einem Wiederaufstieg des deutschen Militarismus, zu groß auch die Sorge, mit einer solchen Maßnahme die Zweiteilung Europas und Deutschlands auf Dauer zu zementieren. Um die große Zahl von Gegnern einer deutschen »Wieder«bewaffnung bis in die Reihen der Regierungskoalition hinein zu besänftigen und den konkreten Beginn der Aufstellung deutscher Truppen zunächst einmal hinauszuzögern, lancierte die französische Regierung im Herbst 1950 den Plan einer supranationalen europäischen Verteidigungsgemeinschaft, innerhalb derer den Westdeutschen freilich jeglicher Zugang zur Kommandogewalt versagt bleiben sollte (Pleven-Plan vom 24. Oktober 1950). Die Westdeutschen lehnten diesen Plan verständlicherweise nahezu einhellig ab; soweit sie überhaupt zu einem deutschen Verteidigungsbeitrag bereit waren (und das schien zunächst keineswegs die Mehrheit zu sein), wollten sie ihn mit der Wiedererlangung der deutschen Gleichberechtigung in der internationalen Staatengemeinschaft verbunden wissen, wobei sie den Umstand zu nutzen suchten, daß die westlichen Alliierten stärker auf die deutschen Truppen angewiesen waren als die durch die Präsenz alliierter Streitkräfte im Prinzip geschützte Bundesrepublik selbst. Bis ein Kompromiß beschlossen werden konnte, brauchte es nahezu eineinhalb Jahre hartnäckigen Ringens: Mit dem »Generalvertrag« zur Ablösung des Besatzungsstatuts für die Bundesrepublik und dem Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Frankreichs, der Bundesrepublik, der Beneluxstaaten und Italiens (unterzeichnet am 26. bzw. 27. Mai 1952) wurde den Franzosen die supranationale Lösung zugestanden und den Deutschen mit geringfügigen Einschränkungen die Gleichberechtigung; damit schien der deutsch-französische Gegensatz überwunden, der der Stärkung des westlichen Bündnisses bislang im Wege gestanden hatte25. Indessen versuchte nun die Sowjetführung, der Entwicklung zu einem rüstungsintensiven, das westdeutsche Potential voll erschließenden Militärblock an der Westgrenze ihres Imperiums die Spitze abzubrechen, indem sie den Westdeutschen die Wiedervereinigung ihres Landes zu erheblich günstigeren Bedingungen als bisher in Aussicht stellte und sich auch im übrigen wieder betont kooperativ und entspannungsbereit gab. Am 10. März 1952 schlug sie in einer Note an die drei westlichen Besatzungsmächte die Ausarbeitung eines Friedensvertrags mit Deutschland unter Beteiligung einer »gesamtdeutschen, den Willen des deutschen Volkes ausdrückenden Regierung« vor und nannte zugleich als Kernbestimmungen eines solchen Vertrags den Abzug aller Besatzungstruppen, die dauerhafte Verpflichtung Deutschlands zur Neutralität, den Verzicht auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße und hinsichtlich der inneren Ordnung die Orientierung an den Potsdamer DemokratisierungsVereinbarungen; in einer zweiten Note am 9. April signalisierte sie zudem die Bereitschaft zur Zulassung gesamtdeutscher freier Wahlen in kürzester Frist, freilich nicht unter UN-Aufsicht, wie die Westmächte gefordert hatten, sondern in der Verantwortung der vier Siegermächte. Offensichtlich war man in Moskau
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jetzt bereit, auf das SED-Herrschaftsmonopol in der DDR zu verzichten, wenn nur gewährleistet blieb, daß ein neutralisiertes Gesamtdeutschland nicht schließlich doch ganz der westlichen Seite zufallen würde; zumindest aber hatte man sich entschlossen, die westliche Verhandlungsbereitschaft in dieser Frage zu erkunden26. Nach dem Tode Stalins am 5. März 1953, der die inneren Schwierigkeiten des Sowjetstaates noch vergrößerte und die Notwendigkeit, zu einem Ausgleich mit den Westmächten zu kommen, folglich verstärkte, begann die neue Führungstroika Malenkow-Berija-Chruschtschow sogar, die Entwicklung in der DDR auf eine mögliche Wiedervereinigung hin abzustellen; Versuchen der SED-Führung um Walter Ulbricht, der möglichen Beschneidung ihrer Herrschaft durch eine Beschleunigung des »sozialistischen« Transformationsprozesses zuvorzukommen, wurde ein kräftiger Riegel vorgeschoben. An die Stelle antiwestlicher Polemik trat die Proklamation der »friedlichen Koexistenz« zwischen Ost und West. Soweit dieser Kurswechsel der sowjetischen Politik auf eine Lösung der Bundesrepublik vom westlichen Bündnis zielte, war ihm kein Erfolg beschieden. In Frankreich und Großbritannien weckte das sowjetische Neutralisierungsangebot zwar vage Hoffnungen auf einen Abbau der Ost-WestKonfrontation in Mitteleuropa und, damit verbunden, auf eine Verhinderung der problematischen westdeutschen Wiederbewaffnung im letzten Moment, so daß die beiden Regierungen unter starkem innenpolitischen Druck im Sommer 1952 zeitweilig eine ernsthafte Prüfung der Noten erwogen. Doch fehlte ihren Initiativen der nötige Nachdruck, da die große Mehrheit der Franzosen andererseits in einem mit einer Nationalarmee ausgestatteten Gesamtdeutschland ein noch größeres Sicherheitsrisiko sah, als es mit der OstWest-Spannung in Europa und in die EVG integrierten westdeutschen Streitkräften gegeben war, da weiterhin die Briten nicht erneut (wie in der Zwischenkriegszeit) zum Schütze Frankreichs vor einem potentiell starken Deutschland verpflichtet werden wollten und beide grundsätzlich von der Notwendigkeit einer militärischen Stärkung des Westens gegenüber der Sowjetunion überzeugt blieben. Die amerikanische Regierung vermochte dem sowjetischen Angebot überhaupt keine positiven Seiten mehr abzugewinnen, nachdem sie sich schon 1948 in einer für sie ungleich ungünstigeren Situation gegen eine Lösung der Deutschlandfrage in der von den Sowjets vorgeschlagenen Art entschieden hatte und die Fähigkeit zur rationalen Analyse sowjetischer Motive unterdessen noch beträchtlich abgenommen hatte. Schließlich und vor allem war von den politischen Führungskräften der Bundesrepublik kaum jemand mehr bereit, die im Laufe der Jahre seit Kriegsende gesetzten wirtschafts-, gesellschafts- und verfassungspolitischen Prioritäten Westdeutschlands zugunsten eines gesamtdeutschen Neuanfangs mit unsicherem Ausgang aufs Spiel zu setzen, weder Bundeskanzler Konrad Adenauer, der in einer Neutralisierung eine außenpolitische Unmöglichkeit und eine innenpolitische Katastrophe (durch den Wiederaufstieg der
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nationalistischen Kräfte) sah, noch die »nationale« Opposition, die mit dem Beharren auf den Reichsgrenzen von 1937 und der Beseitigung jeglicher sowjetischen Kontrollmöglichkeit Maximalforderungen stellte, die die Sowjetführung nicht konzedieren konnte. So beschränkte sich die offizielle westliche Antwort auf die sowjetische Initiative auf die Gegenforderung nach bedingungsloser Selbstbestimmung aller Deutschen, die nach Lage der Dinge zur Integration des gesamten Deutschland in das westliche Lager führen mußte; die Verhandlungen um die EVG wurden ungestört fortgesetzt. Folglich führte die sowjetische Bereitschaft, die SED-Herrschaft zur Disposition zu stellen, sogar zu negativen Konsequenzen für den Sowjetstaat: Die durch die Ankündigung des neuen Kurses erzeugten Hoffnungen und der angestaute Unmut der DDRBevölkerung machten sich am 17. Juni 1953 in einer breiten Aufstandsbewegung gegen die Herrschaft Ulbrichts Luft; damit war in sowjetischer Sicht der Punkt erreicht, von dem an die handgreiflichen Nachteile der gesamtdeutschen Neutralisierungspolitik die ursprünglich erhofften, aber durch die Unbeweglichkeit des Westens unterdessen illusorisch gewordenen Vorteile überwogen. Die Sowjetführung entschloß sich nicht nur, den Aufstand mit sowjetischen Panzern niederzuschlagen, sondern auch (nach einigem Zögern) die Herrschaft Ulbrichts wieder fest zu etablieren; Berija, der Hauptexponent des Entspannungskurses, wurde entmachtet und im Dezember 1953 hingerichtet. Fortan wurde die Wiedervereinigungspolitik der Stabilisierung des SEDRegimes untergeordnet: Die Einladung zu gesamtdeutschen Regelungen wurde zwar aufrechterhalten, ihre Verwirklichung aber von der vorherigen Anerkennung des SED-Regimes durch die Westmächte abhängig gemacht, was für diese natürlich noch viel weniger in Frage kam als das zuvor schon abgelehnte Verfahren. Die Hoffnungen auf ein gesamtdeutsches Arrangement wurden zwar noch nicht ganz aufgegeben (bzw. zwischen den Anwälten einer Zementierung der DDR und den Befürwortern einer flexibleren Deutschlandpolitik in der Sowjetführung noch nicht definitiv entschieden), de facto beschränkte sich die sowjetische Wiedervereinigungspolitik aber immer mehr auf rein propagandistische Funktionen. Im übrigen aber gelang es der sowjetischen Entspannungsoffensive, eine weitere Konzentration der westlichen Kräfte zu verhindern und den Westblock sogar wieder etwas aufzulockern. Während Amerikas neuer (ab Januar 1953) Außenminister John Foster Dulles und in enger Übereinstimmung mit ihm Konrad Adenauer die sowjetischen Entspannungsinitiativen als bloß taktisches Manöver zur Vorbereitung des nächsten Expansionsschrittes ablehnten, deutete sie Winston Churchill, seit November 1951 wieder britischer Premierminister, und mit ihm große Teile der britischen Öffentlichkeit als Signal für eine tatsächliche Verhandlungsbereitschaft der Sowjetführung. Daher arbeitete der Premier auf ein Testen der sowjetischen Offerten hin, deutlich bemüht, über eine Mittlerrolle wieder Eigenständigkeit gegenüber den USA zu gewinnen. In Frankreich führte der Rückgang der Furcht vor einer sowjetischen Expansion
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dazu, daß die Gefahr einer westdeutschen Dominanz innerhalb der europäischen Gemeinschaft nun wieder stärker empfunden wurde und die alten Hoffnungen auf eine »Dritte Kraft« neuen Auftrieb erhielten. Selbst in der Bundesrepublik, deren Bevölkerung Adenauers Westintegrationskurs in den Bundestagswahlen vom September 1953 mit überraschend großer Mehrheit ratifizierte, schöpften die EVG-Gegner aus den sowjetischen Initiativen vage Hoffnungen auf eine kollektive Sicherheitsordnung für Gesamteuropa; die Argumentation der Opposition wurde zusehends radikaler. Die amerikanische Regierung versuchte zwar, die Europäer durch massiven diplomatischen Druck auf eine gemeinsame Linie zu zwingen und der vermeintlich gestiegenen sowjetischen Gefahr durch eine aggressive Sprache (Propagierung des westlichen »roll back« anstelle bloßer »Eindämmung« sowjetischer Expansion) und die Androhung »massiver (atomarer) Vergeltung« zu begegnen, vergrößerte aber damit die Entfremdung zwischen den USA und Westeuropa nur noch mehr27. Der wachsende Unmut der Westeuropäer über den amerikanischen Führungsanspruch wurde noch dadurch verstärkt, daß gleichzeitig mit der sowjetischen Entspannungsoffensive die Erfolge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der europäischen Staaten sichtbar wurden. Die für eine rasche Rekonstruktion keineswegs ungünstigen Ausgangsbedingungen und die zusätzliche Abstützung durch die Marshall-Plan-Hilfe (von 1948 bis 1952 insgesamt 13 Milliarden Dollar, weniger als die Hälfte der ursprünglich von den europäischen Regierungen als notwendig erachteten Summe) ließen die europäischen Volkswirtschaften nicht nur sehr bald zum Vorkriegsstand zurückkehren, sondern überproportional über ihn hinauswachsen. 1951 lag die Industrieproduktion in Großbritannien um 31% höher als 1947, in Norwegen und Belgien um 33%, in Dänemark um 35%, in Frankreich um 39%, in Italien um 54%, in den Niederlanden um 56%, in Westdeutschland, wo der Produktionsrückgang infolge der Kriegszerstörungen besonders kraß gewesen war, sogar um 312%. Das Defizit an Dollarbeständen, noch 1949 ein ernsthafter Engpaß für das Gelingen des Wiederaufbaus, füllte sich rasch wieder auf; ab 1950 wies die Waren- und Dienstleistungsbilanz einiger Länder sogar schon wieder Überschüsse auf, in den übrigen war sie ab 1951/52 zumindest ausgeglichen. Durch die vermehrte Nachfrage nach schwerindustriellen Produkten infolge des Koreakrieges und die Stabilisierung des Außenhandels unter amerikanischer Führung begünstigt, erlebte Europa eine Hochkonjunktur, wie es sie seit dem Hochindustrialisierungsboom der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gekannt hatte: Zwischen 1949 und 1954 wuchs das reale Bruttosozialprodukt in Großbritannien jährlich um durchschnittlich 2,7% (gegenüber 1,6% im Durchschnitt der Jahre 1913–1956), in Belgien und Dänemark um 3,7% (statt 1,6 bzw. 2,2), in Norwegen um 4,2% (statt 3,0), in Frankreich um 4,8% (statt 1,3), in den Niederlanden um 4,9% (statt 2,6), in Italien um 6,4% (statt 1,9), in der Bundesrepublik um 8,4% (statt 2,1)28.
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Die beispiellose wirtschaftliche Blüte ließ eine wachsende Zahl von Europäern glauben, ihre Nation könne wieder wie in der Vorkriegszeit eine eigenständige Rolle in der Weltpolitik spielen; dies und die Tatsache, daß sich die europäische Integration mit der EVG in einer Form vollzog, die eindeutig und nahezu ausschließlich der Stärkung des Westblocks unter amerikanischer Führung zugute kam, führte dazu, daß sich das neuerwachte Unabhängigkeitsstreben nicht als europäischer Selbstbehauptungswille manifestierte, sondern als nationaler Selbstbehauptungswille, der sich auch gegen die europäischen Bindungen wandte und damit die Voraussetzungen für seine Verwirklichung selbst zerstörte. Am stärksten vollzog sich diese Entwicklung in Frankreich, jenem Land, das im Zuge der westlichen Blockbildung am meisten von seinen ursprünglichen Zielsetzungen hatte aufgeben müssen, das infolge seiner Verstrickung in die kolonialen Unabhängigkeitskämpfe in Indochina und im Maghreb mehr als alle anderen Europäer unter amerikanischem Druck stand und das von dem augenscheinlich überproportionalen westdeutschen »Wirtschaftswunder« die meisten Nachteile für die eigene Position innerhalb einer integrierten europäischen Gemeinschaft zu fürchten hatte. Hier formierte sich darum im Laufe der Jahre 1953 und 1954 eine breite und leidenschaftliche Bewegung gegen die vermeintliche »Amerikanisierung« oder »Germanisierung« Frankreichs mit Hilfe der EVG. Die Regierungen Mayer und Mendès-France versuchten zunächst vergeblich, den Vertrag durch eine Reihe von Änderungen zu retten, die auf eine erneute Diskriminierung der Bundesrepublik hinausliefen und damit für die übrigen Vertragspartner nicht akzeptabel waren; dann überließ Mendès-France den Vertrag seinem parlamentarischen Schicksal: Am 30. August 1954 lehnte es eine Mehrheit von 319 gegen 264 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung ab, überhaupt in die Diskussion des EVGVertrages einzutreten; damit war die Verteidigungsgemeinschaft gescheitert und mit ihr auch alle Hoffnung auf eine supranationale Europäische Politische Gemeinschaft, wie sie im Zusammenhang mit dem EVG-Projekt bereits offiziell diskutiert worden war29. Das Scheitern der EVG bedeutete freilich nicht, wie viele ihrer Verteidiger bis zuletzt gefürchtet hatten, den Beginn der Auflösung des westlichen Bündnisses. Vielmehr wurde allen Beteiligten gerade durch die schwere Krise der innerwestlichen Beziehungen, die der Beschluß der französischen Nationalversammlung auslöste, deutlich, daß es unterdessen ein gewisses Grundmaß gemeinsamer »westlicher« Interessen gab, gegen die niemand verstoßen konnte, und so einigten sie sich sehr rasch auf einen Ersatz für die EVG-Lösung der deutschen Wiederbewaffnung: In den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954 wurde die Erweiterung des Brüsseler Paktes um die Bundesrepublik und Italien vereinbart; als Westeuropäische Union (WEU) sollte er nun, soweit das ohne supranationale Kompetenzen möglich war, Garantien gegen ein Wiederaufleben des deutschen Militarismus bieten. Die Bundesrepublik wurde direktes und bis auf einige freiwillige
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Waffenbeschränkungen gleichberechtigtes Mitglied der NATO, auch im übrigen erhielt sie nach dem Wegfall des supranationalen Rahmens ein größeres Maß an Souveränität als noch in den Verträgen von 1952 vorgesehen. Die in Paris vereinbarten Regelungen traten nach der Ratifizierung in allen beteiligten Ländern am 5. Mai 1955 in Kraft; lediglich die Europäisierung des Saarlandes, von Adenauer konzediert, um dem Vertragswerk in Frankreich eine parlamentarische Mehrheit zu sichern, scheiterte am negativen Votum der Saarbevölkerung; Frankreich stimmte daraufhin gegen finanzielle Entschädigungen der Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik zu. In der Sowjetführung, die die gesamtdeutsche Alternative bis dahin zumindest nach außen hin offengehalten hatte, konnten sich nun die Anwälte einer Stabilisierung der SED-Herrschaft definitiv durchsetzen. Im Januar 1955 wurde der Kriegszustand zwischen der Sowjetunion und Deutschland für beendet erklärt, die gesamtdeutsche Propaganda eingestellt, die Integration der DDR in das östliche Blocksystem von da an vorangetrieben. Zugleich wurden die politischen Beziehungen der Ostblockländer zu Moskau reorganisiert: Den nationalen kommunistischen Führungen wurde wieder ein größeres Maß an eigenem Spielraum zugestanden, was die Methoden der Herrschaftssicherung und den »Weg zum Sozialismus« betraf; im übrigen aber wurde die Blockbildung durch die Schaffung des Warschauer Paktes (14. Mai 1955) als Gegenstück zum Atlantik-Pakt institutionalisiert. Eine wesentliche Funktion der neuen Organisation war es, nun auch die Wiederbewaffnung der DDR institutionell abzusichern: sie wurde gleichberechtigtes Gründungsmitglied; vier Monate später schloß sie einen Vertrag mit der Sowjetunion ab, der sie für souverän erklärte – vorbehaltlich lediglich der für »Deutschland als Ganzes« geltenden Viermächteabkommen. Entspannung in der Deutschlandfrage war künftig nur noch auf der Grundlage internationaler Anerkennung der SEDHerrschaft möglich30. Damit war die Formation der Blöcke in Europa an ihren Endpunkt gekommen. Beide Seiten hatten die Entscheidung für die Zweiteilung des Kontinents, die zuvor ein Produkt wechselseitiger Fehleinschätzungen und unbeabsichtigter Konflikteskalation gewesen war, nun mit vollem Bewußtsein bestätigt und sie damit zur dauerhaften Realität werden lassen. Beide Seiten hatten sich ihres Einflußbereichs versichert, zugleich aber deutlich werden lassen, daß sie nicht in den Sicherheitsbereich der Gegenseite übergreifen wollten (oder konnten); damit war ein relatives Gleichgewicht erreicht, von dem aus die beiderseitigen Drohpotentiale schrittweise und parallel zueinander abgebaut werden konnten, zugleich aber auch immer wieder ihre Eskalation drohte. Beide Seiten hatten dabei an Militanz und Geschlossenheit verloren und dennoch (oder vielmehr gerade deswegen) ihr inneres Gefüge konsolidiert: Im Ostblock war ein prekäres Gleichgewicht zwischen sowjetischer Kontrolle und Autonomie entstanden, die beide, wenn sie zu weit gingen, den sowjetischen Hegemonieanspruch in Frage stellten und darum immer wieder gegenseitig korrigiert werden mußten; im
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westlichen Europa hatte sich ein Spannungsverhältnis zwischen europäischer Autonomie, nationalen Interessen und atlantischer Solidarität herausgebildet, die nie ganz übereinstimmten, sich aber immer wieder aneinander relativierten. Die europäische Politik der Jahre seit 1955 bewegte sich in den Bahnen, die auf diese Weise vorgezeichnet waren – spannungsreich im einzelnen, aber letztlich weithin den nun immer vertrauter werdenden Grundmustern folgend. 2. Westeuropa bis zu den Römischen Verträgen. Wiederaufbau und Integration I. Anfänge europäischer Einigung Von Hermann Graml Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die versuchte Neuordnung Europas noch eindeutig – des Völkerbunds ungeachtet – im Zeichen des Nationalstaats und seiner Souveränität gestanden. Wohl hatte es schon damals paneuropäische Bewegungen gegeben, die eine Überwindung des Nationalismus, eine Reduzierung einzelstaatlicher Souveränitätsrechte und gesamteuropäische Zusammenschlüsse forderten. Wie die Erfolglosigkeit der Organisation des Grafen Coudenhove-Kalergi, das Scheitern der Europapläne Briands und schließlich auch die Ohnmacht des Völkerbunds bewiesen, waren aber – selbst wenn man die faschistischen und nationalsozialistischen Imperialismen wegdenkt – der Nationalismus noch zu kräftig, die Souveränität der einzelnen europäischen Staaten noch zu wenig erschüttert und die intereuropäische Spannung noch zu hoch gewesen. Europa galt außerdem vielen Europäern nach wie vor als der wirtschaftliche und politische Mittelpunkt der Welt, deshalb der Kontinent selbst als ein weites und als das eigentliche Feld großer und global entscheidender politisch-militärischer Konflikte; kaum jemand hatte sich die bereits eingetretene Bedeutungsschrumpfung Europas richtig bewußt gemacht. Allein in praktisch einflußlosen linksliberalen und sozialistischen Gruppen war internationalistisches und damit auch europäisches Denken heimisch geworden; doch hatte auch der ausschließlich klassenorientierte Internationalismus, wie ihn die Sozialdemokraten der europäischen Länder bis zum Ersten Weltkrieg verfochten, die Probe von 1914 nicht bestanden und die bei Kriegsausbruch erlebte Überwältigung durch nationalistische Emotionen vorerst nicht verarbeiten können. Am Ende des Zweiten Weltkriegs schien sich hingegen, auf der Basis einer merklichen Abschleifung des Nationalismus, eine mächtige Bewegung zur Überwindung einzelstaatlicher Souveränitäten und zur Schaffung einer supranationalen europäischen Gemeinschaft, wie etwa Vereinigter Staaten von Europa, Bahn zu brechen1. Die Erfahrung mit Faschismus und Nationalsozialismus, dazu das Erlebnis des Krieges und seiner bestimmenden Elemente vermittelten einige Eindrücke und Lehren mit solcher Wucht, daß viele Europäer die simple Rückkehr zum naiven nationalen und einzelstaatlichen
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Egoismus der Zwischenkriegszeit nun für nicht mehr angängig hielten. Die beiläufige Leichtigkeit, mit der die stärkste Macht des Kontinents, Deutschland, die Souveränität schwächerer Staaten liquidiert hatte, und die totale Unfähigkeit dieser stärksten Macht, aus ihrer Hegemonie mehr als bloße Gewaltherrschaft zu machen, zeigten eindringlich, daß die gewohnten Sicherheits- und Hegemonialstreitigkeiten im dafür inzwischen zu kleinen Europa unsinnig geworden waren: die einzelstaatliche Sicherheit konnte mit den traditionellen bündnispolitischen und militärischen Rezepten nicht länger geschützt werden, der lediglich auf Kraft gestützte Führungsanspruch einer einzigen Macht mußte unfruchtbar bleiben. Der globale Charakter des Krieges und die dabei sichtbare und schon frühzeitig auch für den europäischen Konflikt offenkundig ausschlaggebende Entfaltung der sowjetischen wie der amerikanischen Weltmachtqualität führten auf der anderen Seite nicht weniger eindringlich vor Augen, daß die Epoche der Weltpolitik einzelner europäischer Großmächte vorbei war, ja daß sogar der ganze Kontinent seine wirtschaftliche und politische Konkurrenzfähigkeit völlig verlieren würde, wenn es nicht gelang, die zu schwach gewordenen Einzelstaaten für institutionalisierte Formen gemeinsamen Handelns zu gewinnen. Erwiesen sich aber gerade jetzt, da sich die Unmöglichkeit der Ordnung Europas durch eine europäische Hegemonialmacht herausgestellt hatte, europäische Zusammenschlüsse als bare Notwendigkeit, so blieb als Ausweg nur irgendeine Art der freiwilligen Fusion. Vermutlich hätte diese rationale Empfindung, wenn man so sagen darf, zur Reduzierung der diversen Nationalismen und zur Fundierung der Bereitschaft, Souveränitätsrechte zu opfern, nicht ausgereicht, wenn sie auch weite Verbreitung fand und sich durchaus zur Wurzel gesamteuropäischer Pläne entwickelte. Die erzwungene Intervention der östlichen Randmacht UdSSR und der überseeischen Weltmacht USA weckte jedoch Ansätze eines europäischen Solidaritätsgefühls, die sich mit der Einsicht in die Notwendigkeit großräumiger wirtschaftlicher und politischer Organisation zu einer schon kräftigeren Strömung verbanden. Während des Krieges erhielt das europäische Solidaritätsgefühl eine weitere und noch reichere Quelle. Die Widerstandsgruppen in den besetzten Ländern repräsentierten zwar nationale Aufstände gegen deutsche oder italienische Fremdherrschaft, verstanden sich aber zugleich als Teile einer gesamteuropäischen Befreiungsbewegung gegen den Faschismus: die nationale Aufgabe verschmolz mit einer übernationalen Mission. Daß die meisten Gruppen ihren Antifaschismus aus gesellschafts- und verfassungspolitischen Zukunftsentwürfen herleiteten oder doch mit solchen Entwürfen verknüpften, daß die Öffnung des Wegs in die künftige Ordnung nicht allein den Kampf gegen den Landesfeind, sondern gleichzeitig den oft bürgerkriegsähnlichen Konflikt mit konservativen und häufig an die Besatzungsmächte angelehnten Schichten der eigenen Nation erforderte, machte ein rein nationales Verständnis des Widerstands vollends unmöglich und eine Wendung zum Denken in gesamteuropäischen Kategorien unvermeidlich. Die
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Erkenntnis, daß jede einzelne nationale Widerstandsbewegung nur dann überleben und mit einiger Aussicht auf Erfolg kämpfen konnte, wenn die Besatzungsmächte ihre Kräfte im Ringen mit vielen parallel operierenden Widerstandsbewegungen verzetteln mußten und wenn der Widerstand außerdem auf die Hilfe der noch nicht unterworfenen Staaten rechnen durfte, wenn es also so etwas wie eine gesamteuropäische Reaktion auf Faschismus und Nationalsozialismus gab, wirkte ebenfalls solidaritätsfördernd. Die Bevölkerung Deutschlands und Italiens ist von derartigen Prozessen keineswegs unberührt geblieben, in mancher Hinsicht noch stärker betroffen worden. Erst aus der Perspektive der Herrschaft über den Kontinent, dann aus der Perspektive der mit den überlegenen Mitteln zweier Weltmächte auf den Schlachtfeldern Geschlagenen und in den eigenen Ländern Zusammengebombten entwickelten die Angehörigen der expansionistischen Nationen sogar ein besonderes Verständnis für jene wirtschaftlichen, politischen und militärischen Faktoren, die zur Erhaltung der europäischen Konkurrenzfähigkeit für gesamteuropäische Zusammenschlüsse sprachen. Sobald sie auf die Vorstellung verzichteten, die Organisation Europas müsse von der eigenen Nation gewaltsam besorgt werden und zur Errichtung eines Imperiums der eigenen Nation geschehen, ergab sich daraus ein durchaus brauchbarer Ansatz für gesamteuropäisches Denken. Und der Verzicht wurde ja spätestens mit der Niederlage, total wie sie war, unvermeidlich. Jetzt konnte ein europäischer Zusammenschluß, der die Beteiligung Italiens und Deutschlands in absehbarer Zeit nach sich ziehen mußte, überdies als lockender Ausweg aus der zunächst unabwendbaren Isolierung und als Vehikel des Wiederaufstiegs erscheinen. 1948 schrieb Graf Sforza, damals italienischer Außenminister, im Hinblick auf eine europäische Integration: »Für uns Italiener handelt es sich um eine historische Stunde. Hungernd, verarmt und nur um ein Haar dem Abgrund von Schmerz und Scham entronnen, in den uns der Faschismus gestürzt hat, können wir Ehre, Unabhängigkeit und Wohlstand wiedererlangen, wenn wir zu Herolden der neuen Ordnung werden ...«2 Ganz ähnlich begriff der in der Tat internationalistisch gesinnte Konrad Adenauer, der spätere erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, die von Graf Sforza beschworene »neue Ordnung« bereits 1945 doch auch als Chance für die Gesundung Deutschlands und seine Rückkehr in eine europäische Staatengemeinschaft.3 Jedoch war schon während des Krieges zu spüren, wie sich der Verzicht auf imperialistische Politik in Deutschland vorbereitete. Ständige Überstrapazierung verschliß den Nationalismus in einem Maße, daß zunächst der deutsche Herrschaftsanspruch weithin als arrogant, schließlich jede Art nationalistischer Emotion von vielen als fragwürdig empfunden wurde, und wenn zu Beginn der NS-Herrschaft keine europäische Nation nationalistischer gewesen war als die deutsche, so fühlte 1945 vielleicht keine europäische Nation weniger nationalistisch als die deutsche. An der Entwicklung des deutschen Widerstands, der eine allgemeine Tendenz früher, bewußter und präziser vertrat, ist der
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Schwund des Nationalismus deutlich abzulesen. Linke Gruppen und etwa der »Kreisauer Kreis« um den Grafen Moltke haben stets international und europäisch gedacht. Aber auch die Vertreter konservativ-nationaler Zirkel haben den deutschen Führungsanspruch, den sie zeitweilig ebenfalls verfochten hatten, unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ausdrücklich und aufrichtig zurückgezogen. Im Namen übernationaler Werte und im Interesse einer übernationalen Ordnung Europas formulierten sie endlich in ihren Aufzeichnungen und Gesprächen die Bereitschaft, den deutschen Staat in die größere Einheit der organisierten europäischen Staatengesellschaft einzubringen. Daß die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus auch ihr verfassungs- und gesellschaftspolitisches Denken der außerdeutschen Vorstellungswelt genähert hatte, leistete zu dieser Wendung einen unerläßlichen Beitrag4. So formierten sich in den ersten Nachkriegsjahren in allen europäischen Ländern zahllose lokale, regionale und nationale Gruppierungen und Organisationen, die als ihren alleinigen Daseinszweck die Arbeit für einen supranationalen Zusammenschluß Europas ansahen, und es ist mithin auch kein Zufall, daß in dieser von Monat zu Monat gewaltiger anschwellenden Bewegung ehemalige Angehörige der Résistance und des Widerstands eine sowohl quantitativ bedeutende wie führende Rolle spielten. Es war Ausdruck eines nun zur Veränderung der Realität entschlossenen Geistes, daß am 1. Januar 1946 die bereits 1923 von Romain Rolland begründete Zeitschrift »Europe« nach siebenjähriger Unterbrechung wieder erschien und daß vom 25. August bis 8. September 1946 im Tiroler Alpbach erstmals internationale Hochschulwochen stattfanden, auf denen als Hauptthemen »Die Gestalt des jungen Europäers« und »Die europäische Idee« diskutiert wurden. Noch früher, am 16. Mai, hatte der belgische Politiker Paul van Zeeland, der 1935/36 erstmals Außenminister seines Landes gewesen war und 1949–1954 dieses Amt erneut bekleiden sollte, die Richtung auf konkrete Ziele gewiesen, als er in Brüssel die »Ligue Indépendante de Coopération Economique Européenne« (1948 in »Ligue Européenne de Coopération Economique« umbenannt: LECE) ins Leben rief, die eine Zoll- und Wirtschaftsunion Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs propagierte. In dem Schweizer Ort Hertenstein trafen dann im September 1946 (14.–29.9.) Repräsentanten europäisch gesinnter Gruppen aus Belgien, Frankreich, Griechenland, Polen, Spanien, Ungarn und auch schon Deutschland zusammen, die sich unter dem Vorsitz des holländischen Sozialisten Henri Brugmans auf das sog. »Hertensteiner Programm« einigten, das eine europäische Gemeinschaft als UN-Mitglied, die Aufgabe der nationalstaatlichen Souveränitäten in Europa und ein europäisches Bürgerrecht forderte; am 17. Dezember zimmerten die Hertensteiner – mittlerweile Vertreter aus 17 Ländern umfassend – ein festeres organisatorisches Gerüst, als Professor Brugmans in Paris die Union Europäischer Föderalisten aus der Taufe hob. Zwei Dinge waren für die UEF – wie für die meisten damaligen Europa-Gruppen –
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charakteristisch: Ihr Begriff von Europa schloß mit Selbstverständlichkeit sowohl alle Regionen des Kontinents wie auch Großbritannien ein, und die politische Zukunft Europas wollte sie sich nur in bundesstaatlichen Formen vorstellen. Daß die UEF damit das allgemeine Gefühl zunächst genau traf, illustrierten nicht zuletzt Veranstaltungen wie ein Treffen europäischer Dichter und Denker, das die Stadt Genf vom 2. bis 14. Oktober 1946 im Rahmen der »Rencontres Internationales« ermöglichte und auf dem so unterschiedlich geartete Geister wie Denis de Rougemont, Georg Lukacs, Stephen Spender und Karl Jaspers der Förderung eines europäischen Bewußtseins zu dienen suchten. Es hat all diesen Aktivitäten kaum zu überschätzende Impulse gegeben, daß sich einer der großen Heroen der Anti-Hitler-Koalition, nämlich der britische Kriegspremier Winston Churchill, zu ihrem leidenschaftlichen Anwalt machte. Bereits am 4. März 1946 beschwor Churchill in einer Ansprache, die er im amerikanischen Fulton hielt, die Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses, am 19. September folgte eine große Rede in Zürich, in der er die baldige Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa als ein ebenso dringliches wie erreichbares Ziel aufleuchten ließ, und am 15. Mai 1947 wiederholte er seinen Appell an die Bevölkerung und an die Politiker Europas mit noch gesteigerter Verve in der Londoner Albert Hall. Churchill lieh der europäischen Bewegung sein ungeheures Prestige und eine unvergleichliche Rhetorik. Mit beidem holte er die Europa-Idee außerdem aus dem Reich der Träume unpraktischer Idealisten auf die Ebene der Möglichkeiten und damit realistischer Politik herab. Auch vermittelte seine Aktivität, obwohl er seit der Wahlniederlage der Konservativen im Sommer 1945 nicht mehr Premier, sondern Führer der Opposition im britischen Unterhaus war, den Eindruck, beim Aufbau einer europäischen Gemeinschaft dürfe mit der Beteiligung, ja sogar mit einer Hauptrolle Großbritanniens gerechnet werden. Tatsächlich konnte Churchill, nachdem er am 17. Januar 1947 das britische »United Europe Committee« gegründet hatte, das im Mai in »United Europe Movement« umgetauft wurde, einen illustren Kreis konservativer und liberaler britischer politischer Prominenz in sein Unternehmen ziehen, und schließlich erklärten sich auch in der Labour Party, die den europäischen Ruhm des Oppositionsführers im Hinblick auf die nächsten Wahlen in Großbritannien durchaus mit Unbehagen registrierte, zahlreiche Abgeordnete für ein vereinigtes Europa. Daß auf eine britische Leitfunktion zu hoffen war, schien aber nicht zuletzt aus Äußerungen angesehener Politiker der Dominien hervorzugehen. So stimmte Feldmarschall Jan Smuts, Premierminister der Südafrikanischen Union, am 11. Oktober 1946 der Zürcher Rede Churchills enthusiastisch zu, wobei er – während einer Ansprache, die er in Den Haag hielt – ausdrücklich sagte, die Initiative für die Vereinigten Staaten von Europa könne nicht nur, sondern solle sogar von Großbritannien ausgehen.5 Londons Mitwirkung am europäischen Einigungsprozeß hatte also offenbar den Segen des Commonwealth. Kaum weniger Zuversicht schöpften die Protagonisten der europäischen Bewegung aus
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der wohlwollenden, ja drängenden Ermunterung, die sie frühzeitig aus den USA erfuhren; ein europäischer Zusammenschluß mußte am besten und am schnellsten zu jener wirtschaftlichen Erholung und politischen Stabilisierung eines von Moskau unabhängigen Europas führen, die evidentermaßen im amerikanischen Interesse lagen. Unter solchen Auspizien gewann der Marsch Europas in ein supranationales System geradezu den Anschein der Unwiderstehlichkeit. Schon 1947 zeichnete sich in – gewiß noch vagen – Umrissen die Entstehung eines europäischen Parlaments ab. Graf Coudenhove-Kalergi, der Veteran der paneuropäischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit, hatte bereits am 20. November 1946 nicht weniger als 4000 Parlamentarier aus den europäischen Ländern um ihre Stellungnahme zur Europa-Idee und zu einer Europa-Union gebeten. Im Besitz einer überwältigenden Fülle positiver Antworten lud er Repräsentanten der Parlamente von sieben europäischen Staaten nach Gstaad in der Schweiz ein, die dort am 4./5. Juli 1947 ein vorbereitendes Komitee für eine Europäische Parlamentarier- Union einsetzten; als vorläufiger Präsident fungierte der frühere griechische Minister Leon Maccas. Vom 8. bis 12. September 1947 konnte, abermals in Gstaad, der erste Kongreß der Parlamentarier-Union stattfinden, an dem immerhin 114 Delegierte aus zehn Ländern teilnahmen, und im Dezember des gleichen Jahres bereitete der Exekutivausschuß der Union für den September 1948 eine Plenarversammlung in Interlaken vor, die den bezeichnenden Namen »Parlamentarischer Kongreß für die Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa« erhalten sollte. Je tiefer freilich die europäische Bewegung mit ihren Erfolgen in die Zone der eigentlichen Politik eintauchte, um so kräftiger machten sich störende Faktoren und sogar zentrifugale Tendenzen bemerkbar. Jeder Fortschritt brachte die Gefahr der Zerfaserung, ja der Aufspaltung näher. So begann, als die Regierungen die Attraktivität und die scheinbare Unwiderstehlichkeit der Europa-Idee entdeckten, sogleich die Rivalität einiger europäischer Mächte um die Führungsrolle; dem vermeintlichen britischen Anspruch, wie ihn Churchill repräsentierte und Smuts formulierte, setzte General de Gaulle bereits am 7. September 1947, als er in Bayonne die europäische Frage behandelte, ausdrücklich und öffentlich den französischen Anspruch entgegen6 – und solche Rivalitäten wirkten keineswegs förderlich, sondern eher blockierend. Dem hochgemuten Elan der Föderalisten, wie ihn die UEF verkörperte, begegneten die Regierungen, auch wenn in ihnen selbst überzeugte Anhänger der EuropaIdee saßen, im übrigen mit der verständlichen Bedächtigkeit von Politikern, die Verantwortung tragen und daher zur genauen Wahrung der Interessen ihrer Nationen und Staaten verpflichtet sind. Statt diese Interessen – und die eigenen Kompetenzen – möglichst rasch einer europäischen Bundesregierung und einem europäischen Bundesparlament zu überantworten, was für die Föderalisten beinahe schon ein sofort zu erreichendes Minimalziel darstellte, traten die Regierungen – wie die realistischen »Europäer« überhaupt – für eine Strategie
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des Funktionalismus ein, d.h. für einen langsamen und über die Kooperation europäischer Staaten in bestimmten Teilfragen fortschreitenden Einigungsprozeß. Wirkten die Vorsicht der Funktionalisten und ihre beharrliche Mahnung zur Respektierung der Realitäten – etwa zur schonsamen Behandlung der Souveränität der einzelnen Staaten – auf die Föderalisten ebenso erbitternd wie lähmend, so fürchteten andererseits die Funktionalisten, von dem in der Tat oft realitätsblinden Übereifer der Föderalisten zu schnell zu weit getrieben zu werden, und schreckten deshalb vorerst auch vor der Übernahme von Obligationen zurück, die sie im Grunde durchaus zu akzeptieren bereit waren. In den Jahren 1945,1946 und 1947 bot sich daher ein etwas merkwürdiges Bild: Während in den Reden und Schriften der Föderalisten die Vereinigten Staaten von Europa gefeiert und praktisch bereits als Realität von spätestens morgen traktiert wurden, rührten die Regierungen noch keinen Finger, zeigte sich ein tatsächlicher Integrationsprozeß noch nicht einmal in Ansätzen. Allerdings lag das auch daran, daß gerade mit der Ausbreitung der EuropaBewegung unweigerlich das Problem der inneren Ordnungsprinzipien einer künftigen europäischen Gemeinschaft auftauchte und heftige Konflikte hervorrief. Sollte die Wirtschaft Europas kapitalistisch oder sozialistisch organisiert werden, das politische System liberaldemokratisch und parlamentarisch verfaßt sein oder im Zeichen der Diktatur einer Klasse stehen? Oder konnte es unter einem gemeinsamen europäischen Dach etliche ganz unterschiedlich eingerichtete Wohnungen geben? Solange sich die Antwort auf derartige Fragen noch nicht klarer abzeichnete, waren institutionelle Fortschritte der europäischen Integration offensichtlich nur schwer möglich. Die britische Labour-Regierung etwa, die gerade ein Sozialisierungsprogramm größeren Stils exekutierte, ohne die politische Verfassung des Landes revolutionieren zu wollen, zeigte sich fest entschlossen, jeden Schritt in eine größere europäische Gemeinschaft zu verweigern, ehe nicht feststand, daß dabei ihr »demokratischer Sozialismus« sowohl vor liberalen wie vor totalitären Gefährdungen zu schützen war. Daß sich im Zusammenhang mit dem Streit über die Struktur des Europas der Zukunft die innenpolitischen Fronten der einzelnen Länder gleichsam europäisierten, entwickelte sich im übrigen – da ja noch kein europäisches Parlament existierte, das die supranationalen Gruppierungen in einem erweiterten Rahmen wieder hätte integrieren können – zu einer unmittelbaren Bedrohung des organisatorischen Gefüges der Europa-Bewegung. Es war ein bedenkliches Symptom, daß die Vertreter der christlich-demokratischen Parteien Europas am 1. Juni 1947 in Lüttich einen eigenen Verband zur Pflege der europäischen Idee ins Leben riefen, die »Nouvelles Equipes Internationales« (NEI), und wenige Tage später, am 3. Juni, die Vertreter der sozialistischen Parteien Europas in Montrouge bei Paris das Internationale Komitee für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa konstituierten (seit November 1948: »Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa«).
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Wahrscheinlich wäre ohne Winston Churchill eine Zersplitterung der EuropaBewegung nicht aufzuhalten gewesen, die gegenüber dem schwerfälligen Egoismus der einzelnen Staaten und der mißtrauischen Bedachtsamkeit ihrer Regierungen am Ende zu völliger Ohnmacht geführt hätte. Vornehmlich der – von seinem enormen Prestige effektvoll unterstützten – Energie und Zähigkeit Churchills war es zu danken, daß die differierenden, divergierenden und in bitterem Streit bereits auseinanderstrebenden Gruppen der Bewegung nicht nur zu neuem Zusammenhalt fanden, sondern sogar, endlich unter einen Hut gebracht, ein mitreißendes Fanal zu setzen vermochten. Noch im Dezember 1947 gelang es ihm, seine Britische Bewegung für die Einheit Europas, den Französischen Rat für ein Vereintes Europa, die Belgische Liga für Europäische Zusammenarbeit und Brugmans Union Europäischer Föderalisten auf einer Tagung in Paris zur Gründung eines gemeinsamen Ausschusses zu bewegen, der die Arbeit der beteiligten Organisationen künftig koordinieren sollte. Als das »Internationale Komitee zur Koordinierung der Bewegungen für die Einheit Europas« dann auf Churchills Initiative hin zu einem großen Kongreß einlud, und zwar für den 7. bis 10. Mai 1948 nach Den Haag, war es wiederum in erster Linie seinem Ansehen und seinen hartnäckigen Anstrengungen zuzuschreiben, daß der Einladung nicht allein die Veranstalter Folge leisteten, sondern gerade auch jene Organisationen, die auf Grund ihrer ideologischen und parteipolitischen Bindung die Geschlossenheit der Europa-Bewegung in Frage stellten: die Nouvelles Equipes Internationales und die Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa. Paul van Zeelands LECE nahm ebenfalls am Haager Kongreß teil. Als unmittelbares Ergebnis wurde am 24./25. Oktober 1948 in Brüssel erstmals eine Dachorganisation für sämtliche Europa-Verbände geschaffen, die nun die formelle Bezeichnung »Europäische Bewegung« (Mouvement Européen – United Europe Movement) annahm und in den folgenden Monaten ihr einigendes Gliederungsprinzip in Gestalt Nationaler Räte auf alle vertretenen Länder übertragen konnte; zu ihren Führern wurden Winston Churchill, der Franzose Leon Blum, der Italiener Alcide de Gasperi und der Belgier Paul-Henri Spaak gewählt. Den Kongreß selbst machten rund 750 Delegierte aus 30 Ländern zu einer ebenso repräsentativen wie machtvollen Demonstration der europäischen Einigungsbestrebungen. In ihren Reden und in den Resolutionen der Ausschüsse und Studienkommissionen forderten sie die baldige Einberufung einer Europäischen Versammlung, die Ausarbeitung einer Charta der Menschenrechte und die Einsetzung eines Europäischen Gerichtshofs. So elektrisierend wirkten die Haager Appelle, daß endlich auch die Regierungen zum Handeln bereit und genötigt schienen. Im Juli 1948 erklärte sich der französische Außenminister Georges Bidault für eine aus Parlamentariern der europäischen Länder bestehende Versammlung; belgische, holländische, britische Politiker schlössen sich dem an, und Bidaults Nachfolger Robert Schuman gab am 28. September 1948 in einer Rede vor der Vollversammlung der UN zu Protokoll, daß der Gedanke einer europäischen
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Föderation jetzt von den Regierungen der Länder Europas realisiert werden müsse. Freilich stand schon im Mai 1948, als die Delegierten des Haager Kongresses das organisatorische Fundament der Europäischen Bewegung legten und die ersten Grundrisse der Verfassung eines europäischen Bundesstaates konzipierten, längst fest, daß dem Haager Fanal allenfalls Regierungen solcher europäischen Länder folgen würden, die 1945 außerhalb des sowjetischen Machtbereichs geblieben waren, und daß selbst in Westeuropa positive gouvernementale Reaktionen auf europäische Appelle ihren Ursprung nicht mehr allein in Gesinnungen hatten, wie sie in der Europäischen Bewegung Gestalt gewannen, sondern mehr noch in weit stärkeren anderen Motiven. Kurz vor dem Haager Kongreß hatten ja westeuropäische Regierungen Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit entwickelt, die – gerade weil sie integrative Elemente enthielten und daher als revolutionierende Fortschritte im Geiste der Europa-Idee gelten durften, in diesem Sinne aber strikt auf das nichtsowjetische Europa beschränkt blieben – hinreichend deutlich machten, daß der »kalte Krieg« zwischen der Sowjetunion und einem beträchtlichen Teil der übrigen Welt die supranationale Bewegung in Europa zur Spaltung und die entstehenden Bewegungsfragmente zu einer erheblichen Veränderung ihrer Zielsetzung und ihres Wesens verdammte. Das traf gewiß noch nicht auf die Zoll- und Wirtschaftsunion zu, die von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 1944 vereinbart, mit einer Konvention vom 14. März 1947 eingeleitet und mit weiteren Abkommen in den folgenden Jahren schrittweise verwirklicht wurde. Zwar ging die wirtschaftliche Integration der drei Länder so weit, daß sie unter der Bezeichnung BeneluxStaaten alsbald wie eine wirtschaftliche und fast schon politische Einheit erschienen, doch mußte der Vorgang, der sich schließlich nur an der nordwestlichen Ecke des Kontinents abspielte, keineswegs als andere Länder ausgrenzend, sondern eher als beispielhaft verstanden werden. Die Aufnahme aber, die der Marshall-Plan in Europa fand, sorgte für Klarheit. Nicht daß der Marshall-Plan die Spaltung Europas und damit der europäischen Bewegung verursacht hätte. Daß die Sowjetunion den unter ihre Botmäßigkeit geratenen Staaten Ost- und Südosteuropas, dazu der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland, die Annahme amerikanischer Finanzhilfe und die Beteiligung an den zur Lenkung des Unterstützungsunternehmens erforderlichen Institutionen verbot, hob lediglich einen Sachverhalt ins allgemeine Bewußtsein, der im Grunde seit der sowjetischen Eroberung Ost- und Südosteuropas – und Deutschlands bis zur Elbe – existiert hatte, indes bislang nicht erkannt, ignoriert oder jedenfalls nicht ausgesprochen worden war: die mit Kriegsende erneut gegebene Unfähigkeit des stalinistischen Rußland und folglich des eben in die Geschichte tretenden sowjetischen Imperiums zu engerer oder gar vertrauensvoller und gleichberechtigter Kooperation mit nichtsowjetischen Staaten und Staatengruppierungen – von der Mitwirkung an einem nicht
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ausschließlich unter Moskauer Auspizien stehenden Integrationsprozeß ganz zu schweigen. Als am 12. Juli 1947 das Komitee für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (CEEC) in Paris zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, um für den Marshall-Plan die Organisierung der europäischen Empfänger einzuleiten, als am 16. April 1948, wiederum in Paris, das Abkommen über die Bildung der »Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit« (OEEC) unterzeichnet wurde, die danach als europäischer Partner der »Economic Cooperation Administration« (ECA) fungierte, des amerikanischen Steuerungsorgans für den Marshall-Plan, waren also nur 16 europäische Staaten repräsentiert: Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz und Türkei; später kamen noch Island und Spanien dazu. Für die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands, die in das »European Recovery Program« (ERP) Marshalls sogleich einbezogen wurden, agierten in Paris die Militärgouverneure. Ohne Zweifel förderte die OEEC die wirtschaftliche Zusammenarbeit in einem Maße, daß beinahe schon von partieller wirtschaftlicher Integration gesprochen werden durfte. Ähnlich wirkten die finanziellen Vereinbarungen, die von den OEEC-Ländern notwendigerweise getroffen werden mußten, vor allem die »Europäische Zahlungsunion« (EZU), die am 19. September 1950 zustande kam und im Zahlungsverkehr zwischen den Staaten der OEEC zum ersten Mal ein multilaterales Verrechnungssystem schuf. Auf der anderen Seite: Wer, außerhalb des sowjetischen Imperiums, seit Marshall-Plan und OEEC »Europa« sagte, von europäischer Integration redete oder Verfassungspläne für Vereinigte Staaten von Europa entwarf, konnte dabei nur noch das nichtsowjetische Europa im Auge haben. Ein umfassenderes politisches Verständnis des Begriffs war allein als vage Hoffnung möglich. Wie vage die Hoffnung war, demonstrierte die Sowjetunion, als sie der OEEC am 25. Januar 1949 eine eigene Wirtschaftsorganisation der sowjetisch beherrschten Länder Ost- und Südosteuropas entgegensetzte: den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).
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Abb. 2: Mitglieder der OEEC. Mitglieder der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) waren die Empfängerländer der MarshallPlan- Hilfe. Als assoziierte Mitglieder schlössen sich USA und Kanada an. Jugoslawien und Spanien wurden bedingt Mitglieder mit Sonderstatus. Finnland arbeitete beschränkt mit. Am 31. Oktober 1949 wurde die Bundesrepublik Vollmitglied, Spanien 1959.
Parallel zu OEEC und RGW entstanden aber überdies politische und militärische Allianzsysteme, die den Prozeß der Spaltung Europas und die Gegebenheiten des kalten Krieges naturgemäß noch schärfer betonten, als das die wirtschaftliche Trennung in Ost und West tat. Das westliche Bündnis war sogar ein reines Geschöpf des kalten Krieges. Daß 1947 und 1948 die kommunistischen Parteien der ost- und südosteuropäischen Länder mit sowjetischer Unterstützung überall die Alleinherrschaft an sich rissen, für westliche Augen am dramatischsten und verstörendsten in der Tschechoslowakei (25. Februar 1948), daß Moskau auf brutalste Weise die Sowjetisierung der nun endgültig unterworfenen Länder vorantrieb, daß die kommunistische Aufstandsbewegung in Griechenland offensichtlich Hilfe aus Staaten des Sowjetblocks und offenbar auch aus der Sowjetunion erhielt, daß die Führer der UdSSR durch ihre Politik anscheinend die Lösung etlicher Probleme von vitalem gesamteuropäischen Interesse verhinderten, so der deutschen und der österreichischen Frage, weckte in Westeuropa die Furcht, mit einem weiteren
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imperialistischen Ausgreifen der Sowjetunion rechnen zu müssen, wenn es nicht – über die wirtschaftliche Erholung hinaus – gelang, auch die politischen und militärischen Kräfte der westeuropäischen Länder zusammenzufassen. Diese Furcht, so schwach begründet sie gewesen sein mag, förderte die Bereitschaft zur Kooperation stärker als das Credo der europäischen Bewegung. Wenn der britische Außenminister Ernest Bevin am 22. Januar 1948 im Unterhaus eine Westunion forderte, so handelte er zwar durchaus auch auf Grund einer – nolens volens auf Westeuropa beschränkten – europäischen Gesinnung, doch motivierte ihn in erster Linie die Bedrohung durch die Sowjetunion. Einen Tag zuvor hatten Großbritannien und Frankreich, seit dem 4. März 1947 durch den noch gegen eine Wiederkehr des deutschen Expansionismus gerichteten Vertrag von Dünkirchen alliiert, den Benelux-Ländern vorgeschlagen, eine politische und militärische Verbindung nach dem Dünkirchener Muster einzugehen. Der Vorschlag wurde sofort aufgenommen, und bereits am 17. März 1948 konnte von den Vertretern der fünf Staaten der Brüsseler Vertrag unterzeichnet werden, ein militärischer Beistandspakt, der zwar ebenfalls als ein zur Abwehr der deutschen Gefahr bestimmtes regionales Sicherheitsabkommen deklariert und so der UNCharta angepaßt wurde, der aber in Wirklichkeit allein als Schirm gegen sowjetische Ambitionen gedacht war. Daß sich die Brüsseler Mächte im Rat ihrer Außenminister ein ständiges politisches Organ gaben und daß sie am 16. April 1948 einen gemeinsamen westeuropäischen Generalstab ins Leben riefen, zeigte, wie stark sie den Druck aus dem Osten empfanden. Der kalte Krieg hatte also ein Bündnis westeuropäischer Staaten hervorgebracht, das für europäische Verhältnisse schon deshalb neuartig war, weil mit ihm Staaten wie Belgien und Holland erstmals bereits im Frieden auf ihren traditionellen Neutralismus verzichteten, und das darüber hinaus als Symptom einer geradezu revolutionären Veränderung der internationalen Beziehungen erschien, da die Partner Formen der politischen und militärischen Zusammenarbeit realisierten, mit denen Kooperation in der Tat bis an die Grenze zur Integration herangeführt wurde. Gleichwohl hat der Brüsseler Pakt nicht nur die west- östliche Spaltung Europas schärfer akzentuiert, sondern sogar die Europäische Bewegung in Westeuropa sowohl verwandelt wie schwer beschädigt. So zerstörte ausgerechnet die erste multilaterale Militärallianz, die nach Kriegsende in Europa entstand, die einige Jahre lang lebendige Illusion der Europäer, Europa und gar nur Westeuropa könne zwischen den neuen Weltmächten UdSSR und USA als »Dritte Kraft« eine selbständige Rolle behaupten. Kaum war die Brüsseler Westunion gegründet, trat nämlich klar zutage, daß die Bündnispartner – selbst wenn sie das übrige Westeuropa noch an sich ziehen sollten – auch gemeinsam dem antisowjetischen Bündniszweck nicht gerecht zu werden vermochten, daß sie nicht allein auf die wirtschaftliche, sondern in womöglich noch höherem Maße und permanent auch auf die politische und militärische Unterstützung durch die USA angewiesen blieben. Die Erkenntnis aber, daß zu der wirtschaftlichen atlantischen Gemeinschaft, wie
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sie im Zusammenspiel von ECA und OEEC Wirklichkeit geworden war, eine politische und militärische Entsprechung gefunden werden mußte, eine Erkenntnis, die zu der alsbald vorbereiteten und am 4. April 1949 vollzogenen Gründung des Nordatlantik-Pakts führte, kostete mit der geplatzten Illusion einen der stärksten Impulse der Europa-Idee. Nun bescherte die partielle Enteuropäisierung der Brüsseler Westunion, die in der NATO-Organisation praktisch aufging, immerhin einen unverzichtbaren Gewinn an Sicherheit, und die Erweiterung der Allianz um die USA und Kanada brachte außerdem den sonst nicht leicht erreichbaren Beitritt Dänemarks, Norwegens, Portugals und Islands, denen 1952 noch Griechenland und die Türkei folgten; das konnte durchaus als ein politischer Fortschritt der westeuropäischen Einigungsbewegung gedeutet werden. Drei andere Konsequenzen des Brüsseler Pakts und erst recht der NATO waren jedoch im Hinblick auf die Integration Westeuropas höchst fatal. Mochte die Bedrohung aus dem Osten einerseits eine Kooperation erzwingen, zu der die beteiligten Staaten ohne einen solchen Antrieb wohl kaum fähig gewesen wären, so sorgte andererseits die antisowjetische Ausrichtung des Bündnissystems dafür, daß einige Staaten definitiv ferngehalten wurden, weil sie entweder aus grundsätzlichen Erwägungen (so die Schweiz) oder angesichts ihrer besonderen Situation (so Finnland, Schweden und dann auch Österreich) ihre Neutralität im kalten Krieg nicht aufgeben wollten oder durften; damit war ein umfassender Zusammenschluß selbst des nichtsowjetischen Europas vorerst unmöglich geworden. Zweitens setzte gerade die führende Beteiligung der USA, die ja das Wesen der NATO ausmachte und allein ihre Effektivität garantierte, der inneren Integration des Systems relativ enge Grenzen, da sich die Supermacht nur bis zu einem gewissen Grade einer volonté générale der Allianz unterwerfen konnte. Vor allem aber enthob die NATO Großbritannien der Notwendigkeit, sich in einem integrativen Sinne mit dem westlichen Kontinentaleuropa zu verbinden. Die NATO stellte eine ausreichende Befriedigung der britischen Sicherheitsinteressen dar. Danach gewann das stets lebendig gewesene Bewußtsein seine volle Stärke zurück, Großbritannien sei, wie der LabourPolitiker Hugh Dalton dem Franzosen Guy Mollet schrieb, »nicht einfach eine kleine, dicht bevölkerte Insel vor der Westküste Kontinentaleuropas«, vielmehr »das Nervenzentrum eines weltweiten Commonwealth« und das »Nervenzentrum einer weiteren weltweiten Vereinigung, nämlich des SterlingGebiets«, also der »größten multilateralen Handelszone der Welt«7. Die britischen »Europäer« verloren zunächst jede Chance, sich gegen die Überzeugung einer eindeutigen Mehrheit ihrer Nation durchzusetzen, daß Großbritannien eine Sonderrolle spielen müsse; ihr eigener Eifer litt mehr und mehr unter Auszehrung8. Wenn angesichts solcher Entwicklungen Minister, die in Gremien der Brüsseler Westunion und der entstehenden NATO saßen, Appelle des Haager Kongresses aufgriffen und für die Errichtung gemeinsamer westeuropäischer
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Institutionen plädierten, so durfte daraus nur sehr bedingt auf einen Zuwachs an Leidenschaft für die Ideale der Europäischen Bewegung geschlossen werden. Zwar führte die Zusammenarbeit zwischen Europäischer Bewegung und Brüsseler Pakt rasch zu einem scheinbar respektablen Resultat.
Abb. 3: Mitglieder des Europarates
Nach den Initiativen Bidaults, Schumans und wiederum Churchills kam alsbald die vorbereitende Arbeit für eine das ganze nichtsowjetische Europa – ausgenommen das wegen seiner achsenfreundlichen Haltung während des Krieges und seines autoritären Regimes noch gleichsam geächtete Spanien – umspannende Staatenorganisation in Gang, und schon am 5. Mai 1949 unterzeichneten die Vertreter von zehn Ländern im Londoner St.-James-Palast das Statut eines »Europarats«: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Schweden; später schlössen sich noch Griechenland (1949), die Türkei (1949), Island (1950), die Bundesrepublik Deutschland (1950 neben dem Saarland assoziiertes, 1951 Vollmitglied), Österreich (1956), Zypern (1961), die Schweiz (1963) und Malta (1965) an. Artikel 1 des Statuts definierte das Ziel des Europarats folgendermaßen: »Der Europarat erstrebt einen stärkeren Zusammenschluß seiner Mitglieder zum Schutz und zur Förderung der Ideale und Prinzipien, die ihr gemeinsames Erbe sind, und zum Besten ihres wirtschaftlichen und sozialen
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Fortschritts.« Auch schien der Rat selbst bereits einen beachtlichen organisatorischen Erfolg im Sinne der formulierten Zielsetzung darzustellen. Die Unterzeichnerstaaten richteten ein ständiges Generalsekretariat ein, und zwar auf einen britischen Vorschlag hin in Straßburg. Als weiteres Organ wurde ein Komitee der Außenminister geschaffen, das die Befugnis erhielt, auf regelmäßig stattfindenden Konferenzen Entscheidungen – allerdings nur bei Einstimmigkeit – im Namen des Rats zu treffen; mit einer zweimal im Jahr – ebenfalls in Straßburg – tagenden Beratenden Versammlung kam sogar eine Art westeuropäisches Parlament zustande. Auf der anderen Seite war aber von Anfang an zu sehen, daß der Europarat im wesentlichen auf die Pflege der Europa-Idee und auf unverbindlichen politischen Gedankenaustausch beschränkt bleiben mußte. Handhabbare politische Kompetenzen waren ihm von den Mitgliedstaaten nicht eingeräumt worden. Für einige der wichtigsten Bereiche der damaligen internationalen Kooperation in Westeuropa wurde der Rat ausdrücklich für unzuständig erklärt, nämlich für die wirtschaftliche und die militärische Zusammenarbeit; die Funktionen von OEEC und Brüsseler Pakt bzw. NATO konnten nicht angetastet werden. Als Instrument einer Integrationspolitik, die diesen Namen verdiente, war der Europarat mithin, sofern er nicht reformiert wurde, untauglich. In effektiverer Form wäre er gar nicht möglich gewesen; ohne die Verpflichtung zu wirtschafts- und militärpolitischer Enthaltsamkeit hätten sich weder Großbritannien noch Staaten wie Schweden und dann Österreich oder die Schweiz beteiligt. In den Augen der im Europarat vertretenen Regierungen sahen denn auch sein Zweck und seine Funktionen anders aus, als sich das die Führer der Europäischen Bewegung vorgestellt hatten. Daß der Rat als ständiges Forum informeller politischer Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten dienen konnte, lag auf der Hand. Auch verband er, was nicht weniger willkommen war, die in der westlichen Militärallianz engagierten Staaten mit jenen Ländern des nichtsowjetischen Europas, die eine offene Parteinahme im kalten Krieg scheuten oder vermeiden mußten. Es handelte sich gewiß nur um eine lockere, aber doch um eine politische und politisch nutzbare Verbindung. Die zunächst wichtigste Aufgabe des Rats war indes die Bewältigung eines ganz bestimmten Problems. Es ging um die Eingliederung Deutschlands bzw. Westdeutschlands in den Kreis der westeuropäischen Staaten. Schon die wirtschaftliche Erholung und Stabilisierung Westeuropas war, ob ohne oder mit Marshall-Plan, nur bei uneingeschränkter Mitwirkung Westdeutschlands denkbar. Daher hatten ja die Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen von Anfang an in den Gremien des Marshall- Plans gesessen, und bereits Ende Oktober 1949 wurde die eben gegründete Bundesrepublik in die OEEC aufgenommen. Jedoch bedurfte auch das politische und auf längere Sicht selbst das militärische Allianzsystem Westeuropas der westdeutschen Beteiligung; die Brüsseler Westunion und sogar die NATO konnten nicht ihre volle Effektivität erreichen, solange Westdeutschland lediglich Besatzungsgebiet und nicht als aktives Mitglied
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eingebunden war. Je tiefer die Temperatur im kalten Krieg sank, um so dringlicher erschien die westdeutsche Bundesgenossenschaft. Auf der anderen Seite war der Einbau Westdeutschlands in die westeuropäische Staatengesellschaft keine simple Sache. In allen Ländern, die vom nationalsozialistischen Deutschland angegriffen und besetzt worden waren, hielten sich begreiflicherweise kräftige antideutsche Emotionen. Außerdem hatten die beiden Weltkriege eine durchaus aufrichtige Furcht vor einem zweiten Wiederaufleben des deutschen Expansionismus hinterlassen. Aber die Befürchtungen galten nicht allein der Vergangenheit und ihrer Wiederkehr. In den, einzeln genommen, zahlenmäßig, wirtschaftlich und potentiell auch politisch und militärisch unterlegenen westeuropäischen Ländern wurden Politiker aller Richtungen und Schattierungen von der Sorge geplagt, selbst ein friedlich bleibendes Deutschland werde – obwohl zu einem westdeutschen Torso reduziert – in den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Allianzen Westeuropas ein erdrückendes Übergewicht erlangen, wenn es nicht gelinge, dagegen Vorkehrungen zu treffen. Für alle drei Ängste schienen supranationale westeuropäische Organisationen und Institutionen das passende Beschwichtigungsmittel bereitzuhalten. Die schon 1946 beginnende Mitarbeit deutscher Intellektueller und Politiker in internationalen Verbänden, die sich die Verwirklichung der Europa-Idee zum Ziel gesetzt hatten, leistete in der Tat einen unschätzbaren Beitrag zu einem spürbaren Abbau der vom nationalsozialistischen Deutschland geweckten Ressentiments und zur neuerlichen Gewöhnung Europas an deutsche Präsenz in internationalen Zusammenhängen. Welches Tempo und welch breite Wirkung dieser Prozeß gewann, ist daran abzulesen, daß die zur Europa- Union vereinigten deutschen Föderalisten bereits am 20. November 1947 in die UEF inkorporiert wurden und daß deutsche Repräsentanten wie Konrad Adenauer am Haager Kongreß schon als gesuchte Gesprächspartner teilnehmen konnten. Für westeuropäische Regierungen lag der Gedanke nahe, erst recht die von ihnen geschaffenen und beherrschten europäischen Institutionen als Vehikel zur Rückführung Deutschlands zu verwenden und deren Nutzen angesichts der gegebenen internationalen Situation allmählich in erster Linie unter diesem Aspekt zu sehen. Churchill wies seit 1946 mit einer Beharrlichkeit und Eindringlichkeit auf die Bedeutung der europäischen Einigung für die Ermöglichung eines kontrollierten deutschen Wiederaufstiegs hin, daß der Verdacht nicht zu unterdrücken ist, er habe seinen hervorragenden Part in der Europäischen Bewegung vor allem im Hinblick auf die Lösung des deutschen Problems übernommen; er betonte dabei wieder und wieder, daß namentlich die so schwierigen französisch-deutschen Beziehungen nur in einem europäischen Rahmen befriedigend neu zu ordnen seien. Die erste Sitzungsperiode des Europarats, vom 8. August bis zum 9. September 1949 dauernd, benutzte er unverzüglich zur Wiederholung seines deutschlandpolitischen »Ceterum censeo« (17. August), und es ist bezeichnend, daß das Ministerkomitee des Rats
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nur bis zu seiner zweiten Konferenz (3. bis 5. November 1949) wartete, um den grundsätzlichen Beschluß zur Aufnahme der Bundesrepublik zu fassen. Nachdem die offizielle Einladung an die Bundesregierung am 1. April 1950 ergangen und am 1. Juli 1950 akzeptiert worden war, durfte konstatiert werden, daß der erste Schritt zur Einfügung Westdeutschlands in das westeuropäische System, und zwar zu einer etwaige deutsche Starallüren im Zaum haltenden Einfügung, getan sei. Angesichts der Tatsache, daß der Europarat zur Abstinenz in wirtschaftlichen und militärischen Fragen verurteilt worden war, konnte die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in dieser Institution aber nicht genügen. Auf wirtschaftlichem und militärischem Felde war ja der deutsche Beitrag von vitaler Bedeutung für Westeuropa; andererseits waren die Ängste der westeuropäischen Länder, namentlich Frankreichs, gerade vor einer erneuten Überwältigung durch die Wirtschaftskraft und das militärische Potential Westdeutschlands am stärksten. Aus dem Dilemma mußte ein Ausweg gefunden werden, und ein solcher Zwang lenkte den Blick erst recht auf die Möglichkeiten, die in der Europäisierung steckten; Integration, selbst wenn sie allgemeine Opfer an Souveränitätsrechten forderte, schien das Patentrezept zu sein. Tatsächlich zeichnete für die beiden wichtigsten europapolitischen Initiativen jener Jahre praktisch allein das deutsche Problem verantwortlich. Ältere Anregungen aufgreifend und erweiternd, wie sie etwa schon im Januar 1947 von John Foster Dulles, dem amerikanischen Außenminister der fünfziger Jahre, oder zuletzt im März 1950 von Bundeskanzler Adenauer gekommen waren, legte zunächst der französische Außenminister Schuman am 9. Mai 1950 einen bereits vom Pariser Kabinett gebilligten Plan vor, »die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Hohe Behörde zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offen steht«. Nach überraschend kurzer Zeit, am 30. Juni 1950, akzeptierten die Regierungen Belgiens, der Bundesrepublik, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande den Schuman-Plan, und nach weiteren Verhandlungen, die gewiß nicht einfach, aber keineswegs so schwierig waren, wie man in Anbetracht der revolutionären Natur des Vorschlags hätte erwarten können, wurde am 18. April 1951 in Paris der Vertrag über die Errichtung einer »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (Montan-Union) unterzeichnet, der am 23. Juni 1952 in Kraft trat. Nun wurde tatsächlich eine »Hohe Behörde« geschaffen, der die Regierungen der beteiligten sechs Staaten Hoheitsrechte übertrugen, der sie also das Recht einräumten, Kohle und Stahl autonom zu verwalten und die vertretenen Länder bindende Entscheidungen zu treffen. Erstmals war es einer Vielzahl westeuropäischer Regierungen gelungen, sich über eine Institution zu verständigen, die – noch dazu für Schlüsselbereiche der Wirtschaft – nach Charakter und Funktion als Instrument einer weit über Kooperation hinausgehenden Integration gelten durfte.
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Die Montan-Union hatte gewiß auch Schattenseiten. So machte das Fernbleiben Großbritanniens endgültig klar, daß britische Regierungen noch geraume Zeit nicht für eine ernsthafte Integrationspolitik zu haben waren. Doch gab der Erfolg des Schuman- Plans, der sich ja schon früh abzeichnete, der westeuropäischen Einigungsbewegung fraglos neue Impulse. Bei den Regierungen weckte er den mit Zuversicht versetzten Ehrgeiz, nun auch das längst lebhaft erörterte, aber wesentlich heiklere Problem des militärischen Beitrags der Bundesrepublik auf ähnliche Weise zu lösen. Die Frage gewann den Anschein der Unaufschiebbarkeit, als der Korea-Krieg, den der nordkoreanische Überfall auf das erst im Juni 1949 von den USA geräumte Südkorea am 25. Juni 1950 eröffnete, auch in Westeuropa eine neue Welle der Furcht vor dem sowjetischen Imperialismus aufschäumen ließ. Wieder war es Churchill, der am 11. August 1950 der Beratenden Versammlung des Europarats die Bildung einer »Europa-Armee« vorschlug, die, wie er sagte, deutsche Kontingente einschließen sollte. Nachdem die Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs auf einer Konferenz, die vom 12. bis 18. September in New York stattfand, einen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik befürwortet hatten, präsentierte der französische Ministerpräsident René Pleven am 25. Oktober 1950 der Pariser Nationalversammlung einen Plan zur Aufstellung einer europäischen Armee, der den Anregungen Churchills – sie etwas konkretisierend – ungefähr entsprach. Die in der Montan-Union verbundenen Staaten – allerdings auch nur diese – gingen auf den Pleven-Plan sogleich ein. Aber die Verhandlungen zogen sich in die Länge und standen nicht selten vor dem Abbruch. Die politischen, rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten der militärischen Integration erwiesen sich doch als schwer überwindbar. Außerdem bestand Frankreich anfänglich auf einem Übermaß an Kontrolle und Diskriminierung der deutschen Kontingente, was die Bundesrepublik, für die der Verteidigungsbeitrag nicht zuletzt ein Mittel zur Wiedergewinnung der Souveränität war, aus politischen Gründen nicht hinzunehmen vermochte, die übrigen vier Staaten um der militärischen Zweckmäßigkeit willen und aus Rücksicht auf Bonn nicht akzeptieren wollten. Ohne amerikanischen Druck, der schon beim Europa-Rat und bei der Montan-Union Geburtshilfe geleistet hatte, hätte sich Frankreich wohl kaum zu den Konzessionen verstanden, die es schließlich machte. Erst am 9. Mai 1952 konnte ein Vertragsentwurf fertiggestellt werden, der den Aufbau der jetzt »Europäische Verteidigungsgemeinschaft« (EVG) genannten supranationalen militärischen Organisation festlegte. Die EVG- Struktur, auf die man sich endlich geeinigt hatte, durfte dann aber auch als ein leidlich taugliches Muster militärischer Integration gelten: Die höheren Kommandobehörden – vom Korps bis zur Spitze – sollten übernational sein, ebenso die Versorgungseinrichtungen, national lediglich die Grundeinheiten bis zur Division. Auch die Steuerung der Rüstungspolitik und die Standardisierung der Ausrüstung war integrierten supranationalen Stellen zugedacht. Ein besonderes Protokoll regelte die Beziehungen der EVG zur NATO. Nach Teilnehmerkreis
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und Organisation handelte es sich bei der EVG mithin um das militärische Gegenstück zur Montan-Union.
Abb. 4: Mitglieder der »Westeuropäischen Union«. Nach Umbildung der Westunion (»Brüsseler Pakt«), die ein kollektives Bündnis Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens, Luxemburgs und der Niederlande gegen Deutschland war, wurde durch die Aufnahme von Italien und der BRD am 6. Mai 1955 die WEU geschaffen. Nordalgerien scheidet nach der Unabhängigkeit Algeriens, am 1. Juli 1962, aus.
Anders als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl blieb aber die EVG eine bloße Reißbrettskizze. Zwar wurde der EVG-Vertrag am 27. Mai 1952 von den Außenministern der beteiligten sechs Länder in Paris unterzeichnet, und in etlichen Staaten, so in Belgien, der Bundesrepublik und Holland, stimmten dann auch die Parlamente zu. In Frankreich wuchsen jedoch die Widerstände, und als die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 sogar die Erörterung des Vertrags ablehnte, war das EVG-Projekt erledigt. Die französische Haltung ging keineswegs auf ein Wiederaufleben der Abneigung Frankreichs gegen deutsches Militär zurück, denn kaum war die EVG gescheitert, wurde auch schon unter tätiger französischer Mitwirkung die Rettung des deutschen Verteidigungsbeitrags in Angriff genommen. Bereits im Oktober 1954 (19.–23.) konnten sich die Außenminister der ursprünglichen EVGGemeinschaft, dazu die Vertreter der USA, Kanadas und Großbritanniens, auf
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einer Konferenz in Paris über einen Ersatz verständigen, nämlich über die Revitalisierung des nun durch den Beitritt Italiens und der Bundesrepublik zur »Westeuropäischen Union« (WEU) erweiterten Brüsseler Pakts und über die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO; am 5. Mai 1955 traten die Pariser Verträge in Kraft. Das ausschlaggebende französische Motiv war für die europäische Einigung viel gefährlicher: Statt noch Deutschland galt die Abneigung der französischen Politiker erneut der von der EVG verlangten Preisgabe nationaler Souveränitätsrechte, der Preisgabe der Verfügungsgewalt über die nationalen Streitkräfte. Wohl enthielt auch die WEU gewisse Elemente der Integration. Daß der Union die Befugnis gegeben wurde, den Verzicht der Bundesrepublik auf bestimmte Waffen (z.B. Atomwaffen) und die Höchststärke der Armeen aller beteiligten Staaten zu kontrollieren, bedeutete durchaus eine Einschränkung der nationalen Souveränitäten; auch richtete die WEU einen regelmäßig tagenden Ministerrat und eine zweimal im Jahr in Paris tagende parlamentarische Versammlung ein. Dennoch stellte die WEU im wesentlichen nur ein ordinäres Bündnis dar, eine Sonderallianz im Rahmen des NordatlantikPakts, deren Hauptaufgabe darin bestand, die Bundesrepublik in die NATO zu schleusen, und der im Übergang von der EVG zur WEU symbolisierte Sieg eines – am reinsten von General de Gaulle verkörperten – Geistes, der von der Souveränität des Nationalstaats nicht Abschied nehmen wollte, schob dem westeuropäischen Einigungsprozeß ein gewaltiges Hindernis in den Weg. Am 23. Januar 1955 verabschiedete denn auch der 5. Kongreß der Union Europäischer Föderalisten eine Resolution, in der dem Bruch mit der europäischen Einigungspolitik, den die UEF in den Pariser Vereinbarungen vom Oktober 1954 erkannte, der Kampf angesagt wurde. Indes versetzte das Scheitern der EVG weder der Europa-Idee noch ihrer organisatorischen Verfestigung den Todesstoß. Nach dem Beschluß der französischen Nationalversammlung vom 30. August 1954 war ja deutlich geworden, daß allein schon die völlig ungefährdete Existenz der mittlerweile entstandenen europäischen Institutionen, ob Europarat oder Montan-Union, als ein festes Netz wirkte, das die vom Seil Gestürzten auffing und ihnen sogleich einen neuen Versuch ermöglichte. Im übrigen wurde der Europarat, trotz oder vielleicht wegen der Beschränkung seiner Kompetenzen, insofern seiner Bestimmung gerecht, als er im nichtsowjetischen Europa europäischen Geist am Leben und den Gedanken eines umfassenden europäischen Zusammenschlusses wachzuhalten vermochte; mit der »Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten«, die am 3. September 1953 in Kraft trat, hatte der Rat zudem konkrete Resultate seiner Arbeit aufzuweisen. Auch war mit dem Fehlschlag des EVG-Projekts keineswegs die Bereitschaft der westeuropäischen Regierungen zu einer Kooperation erloschen, die zumindest in Richtung Integration zielte. Sicherlich hatten die europäischen Föderalisten eine fast schon vernichtende Niederlage erlitten. Aber der Wille zur »funktionalistischen Integration« blieb lebendig. Vom 1. bis 3. Juni 1955 trafen
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sich die Außenminister der in der Montan-Union verbundenen Staaten in Messina. Im Schlußkommuniqué der Konferenz erklärten sie: »Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, Belgiens, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande halten den Augenblick für gekommen, eine neue Etappe auf dem Wege der europäischen Integration zurückzulegen. Sie sind der Meinung, daß diese Etappe zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet zurückzulegen ist. Sie sind der Ansicht, daß die Schaffung eines geeinigten Europas durch die Entwicklung gemeinsamer Institutionen, die schrittweise Verschmelzung der nationalen Wirtschaften, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Harmonisierung ihrer Sozialpolitik weiterverfolgt werden muß.« Bereits am 9. Juli 1955 begannen unter dem Vorsitz Spaaks in Brüssel Besprechungen von Wirtschaftsexperten der sechs Länder, an denen auch Vertreter des Europarats und der OEEC teilnahmen. Politiker wie der niederländische Außenminister Johan Willem Beyen und der Franzose Jean Monnet, der eigentliche Vater des Schuman-Plans und von 1952 bis 1955 Vorsitzender der Hohen Behörde der Montan- Union, drängten energisch auf einen raschen Fortgang. Obwohl sich die Verhandlungen in Anbetracht der zahllosen Detailfragen, die es gerade bei einer funktionalistischen Integration zu lösen galt, als schwierig erwiesen, konnten die Fachleute Teilberichte bereits im November vorlegen und ihren Gesamtbericht im Februar 1956 abschließen. Auf dieser Grundlage arbeiteten die zuständigen Minister weiter und präsentierten ein Jahr später unterschriftsreife Abkommen. In der italienischen Hauptstadt unterzeichneten die Regierungschefs und die Außenminister am 25. März 1957 die »Römischen Verträge«, mit denen die sechs beteiligten Staaten erstens eine Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) zur Kooperation auf dem Gebiet der Kernforschung und der friedlichen Nutzung der Kernenergie9, zweitens eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründeten.10 Der EWG-Vertrag schuf nun endlich die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Markt, der in einer Übergangszeit von 12 Jahren entstehen sollte, und für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Eine Zollunion, die den freien Warenverkehr innerhalb der neuen Wirtschaftszone garantierte, wurde ebenso vorgesehen wie vor allem eine gemeinsame Agrarpolitik; nicht der geringste Fortschritt war eine Vereinbarung, die den Arbeitnehmern die Freizügigkeit in der Zone brachte. Als Organe der EWG entstanden Ministerrat, Versammlung, Kommission, Gerichtshof, Wirtschafts- und Sozialausschüsse. Im übrigen stellten die sechs Regierungen ausdrücklich fest, daß auf der Basis der wirtschaftlichen Einigung bald eine »Politische Union« errichtet werden müsse.11 II. Grossbritannien Von Klaus-Dietmar Henke Die Labour-Ära
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Zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa traten in Großbritannien die Wähler zum erstenmal seit zehn Jahren wieder an die Urnen. In einem vielerorts als sensationell empfundenen Votum sprachen sie sich am 7. Juli 1945 dafür aus, daß Winston Churchill seinen Amtssitz in Downing Street Nr. 10, den er im Mai 1940 im Augenblick höchster militärischer Bedrohung der Insel bezogen hatte, wieder verlassen sollte. Die britischen Bürger bescherten der Labour Party den größten Wahlsieg ihrer Geschichte und brachten damit zum Ausdruck, daß sie ihr und nicht dem glanzvollen Kriegspremier und seiner Konservativen Partei die Führung der Nation im Frieden übertragen wollten. Die von wirtschaftlicher Not, hoher Arbeitslosigkeit und scharfen sozialen Konflikten geprägten Jahre der Zwischenkriegszeit, in der die Tories den Ton angegeben hatten, waren ebensowenig vergessen wie deren im Rückblick sehr kritisch beurteilte Appeasement-Politik gegenüber den Diktatoren auf dem Kontinent (gegen die allerdings auch Churchill vehement zu Felde gezogen war). Katalysator des Linksrutsches von 1945 war der Krieg selbst.1 Die totale Mobilisierung der Nation, die in England dem von Joseph Goebbels so beschworenen »totalen Kriegseinsatz« der Bevölkerung viel näherkam als im Hitler-Deutschland, hatte in allen Lebensbereichen und von allen Schichten große Opfer gefordert und gesellschaftliche Solidarität zu einer lebendigen Vorstellung werden lassen. Staatliche Eingriffe auf vielen Ebenen des privaten und öffentlichen Lebens, die im Krieg notwendig und wirksam gewesen waren, hatten 1945 den Geruch von Gleichmacherei und Bevormundung weitgehend verloren. Zudem hatten die Labour-Minister in der am 23. Mai 1945 beendeten Kriegskoalition gezeigt, daß sie keine sozialistischen Utopisten, sondern pragmatische und zuverlässige Politiker waren. Churchill verfehlte deshalb die im Lande vorherrschende Stimmung gänzlich, als er in einer Wahlrede Anfang Juni mit Blick auf das weitreichende soziale und wirtschaftliche Reformprogramm der Labour Party das Gespenst eines autoritären Kollektivismus, ja sogar einer sozialistischen Gestapo an die Wand malte. Er unterschätzte die auch außerhalb der Arbeiterschaft weitverbreitete Erwartung, daß nach der einen gemeinsamen Anstrengung zur Niederwerfung des äußeren Feindes die Rückkehr zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit unbedingt vermieden und eine entscheidende Verbesserung der allgemeinen sozialen Lage in Großbritannien herbeigeführt werden müsse. Die Sozialisten schienen dem Wähler besser geeignet, das umzusetzen, was die Times schon 1940 formuliert hatte: »Wenn wir von Demokratie sprechen, meinen wir nicht eine Demokratie, die das Recht zu wählen verficht, aber das Recht zu arbeiten und zu leben vernachlässigt. Wenn wir von Freiheit sprechen, meinen wir nicht einen krassen Individualismus, der soziale Gestaltung und wirtschaftliche Planung ausschließt. Wenn wir von Gleichberechtigung sprechen, meinen wir nicht eine politische Gleichberechtigung, die durch soziale und wirtschaftliche Privilegien wieder zunichte gemacht wird.«2
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Am 27. Juli 1945 trat die neue Regierung zusammen. Premierminister wurde Clement Attlee,3 Vorsitzender der Labour Party seit 1935, der in seiner unspektakulären Art wie ein Gegenbild Churchills wirkte. Das Foreign Office übernahm Ernest Bevin, der in der Vorkriegszeit der einflußreichste britische Gewerkschaftsführer und im Krieg als Arbeitsminister mit weitreichenden Sondervollmachten Motor der Mobilisierung der britischen home front gewesen war. Mit Männern wie Herbert Morrison, Stafford Cripps, Hugh Dalton, die ebenfalls schon der Regierung Churchill angehört hatten, und Aneurin Bevan war das Labour-Kabinett von 1945, »was Klugheit und Fleiß anbelangt, eines der besten in der britischen Geschichte«.4 Es konnte sich auf 392 der 640 Abgeordneten im Unterhaus stützen. Die Regierung Attlee stand 1945 vor vier eng miteinander verknüpften politischen Aufgaben: Sie mußte die wirtschaftliche und finanzielle Erschöpfung des Landes überwinden und zugleich das umfassende Reformprogramm durchzusetzen versuchen, das Labour in ihrem Wahlmanifest »Let us Face the Future« skizziert hatte; sodann hatte die Regierung die weltpolitische Rolle Großbritanniens in der aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Mächtekonstellation neu zu überdenken, und schließlich mußte sie die Emanzipation der farbigen Völker des Kolonialreiches unter Wahrung der britischen Interessen so zu steuern versuchen, daß daraus keine neuen Belastungen für das Vereinigte Königreich entstanden.5 Die wirtschaftliche Lage Großbritanniens hatte sich in sechs Jahren Kriegführung dramatisch verschlechtert. Etwa ein Viertel des Nationalvermögens ging zwischen 1939 und 1945 verloren. Zur Bezahlung von Rüstungsgütern, Nahrungsmittel- und Rohstoffeinfuhren hatte das seit jeher stark importabhängige Großbritannien einen substantiellen Teil seiner Gold- und Devisenreserven und seines Auslandsvermögens verwenden müssen; ein Drittel der Handelsflotte war verloren. Vor allem aber waren die traditionellen britischen Außenhandelsbeziehungen schwer geschädigt worden. Absatzmärkte waren verlorengegangen, der Export hatte sich seit 1939 um etwa zwei Drittel seines Volumens verringert. Durch den Rückgang der Exporterlöse und sogenannten unsichtbaren Einkünfte, also der Gewinnrückflüsse aus Auslandsinvestitionen, Krediten, Frachtraten oder Versicherungsgeschäften, war die Zahlungsbilanz Großbritanniens in ein schweres Defizit geraten. Weniger als ein Fünftel der Importe konnte 1945 durch Exporterlöse finanziert werden. Mit der Wiederbelebung des Außenhandels stand und fiel das wirtschaftliche Schicksal der Insel. Eine unmittelbare Verschärfung erfuhr die Lage der einstigen Handelsweltmacht durch das abrupte Ende der amerikanischen Lend-LeaseLieferungen am 19. August 1945. Nach den Bestimmungen dieses Programms aus dem Jahre 1941 konnte Großbritannien Kriegsmaterial, Nahrungsmittel und andere Versorgungsgüter zunächst ohne Bezahlung aus den USA beziehen. Da die Importbedürfnisse des Landes nach Kriegsende eher noch stiegen, gab es bis
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zur Wiederherstellung einer ausreichenden Exportkapazität keinen anderen Ausweg, als das Defizit der Zahlungsbilanz durch Kreditaufnahme – vor allem natürlich in den USA – auszugleichen. Das Ergebnis der Ende September 1945 in Washington beginnenden Verhandlungen, mit denen die Labour-Regierung keinen Geringeren als Lord Keynes, den angesehensten Wirtschaftstheoretiker seiner Zeit, beauftragte, blieb hinter den Erwartungen zurück.6 Zwar reduzierten die Vereinigten Staaten die britischen Kriegsschulden von zwölf Milliarden auf 650 Millionen US-Dollar, doch wurden von Washington an die gewährte Anleihe von 3,75 Milliarden USDollar (Kanada steuerte weitere 1,25 Milliarden US-Dollar bei) zwei als diskriminierend empfundene Bedingungen geknüpft. Bis Mitte 1947 sollte Großbritannien zur freien Konvertierbarkeit des Pfund Sterling zurückkehren und den Abbau der Handelspräferenzen innerhalb des Commonwealth einleiten. Diese Auflagen, die vor allem der überlegenen US- Wirtschaft zugute kommen mußten, lösten in England bittere Kommentare zu den mehrfach vom Scheitern bedrohten Verhandlungen aus – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie von amerikanischer Seite unter ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten geführt zu werden schienen. Im Economist hieß es dazu: »Unsere augenblickliche Notlage ist die direkte Konsequenz daraus, daß wir als erste, am längsten und am schwersten gekämpft haben. Vom moralischen Standpunkt aus sind wir die Gläubiger.« In den USA hatte man 1945 den britischen Substanzverlust im Krieg noch nicht in seinem ganzen Ausmaß erkannt. Deshalb wurde Großbritannien auch nicht wie »ein Juniorpartner behandelt, der sich im Kampf gegen den Tyrannen erschöpft hatte, sondern wie ein wichtiger Handelsrivale, der seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten übertrieben darstellte«.7 Der Labour-Regierung blieb nichts anderes übrig, als die amerikanischen Kreditbedingungen zu akzeptieren. Ohne Dollarzufuhr aus Übersee bestand weder Aussicht auf baldige Besserung der angespannten Versorgungslage noch auf eine rasche wirtschaftliche Erholung. Zudem wäre für die angekündigten Sozial- und Wirtschaftsreformen, deren Verwirklichung jetzt in Angriff genommen wurde, kaum noch Spielraum verblieben. Die Regierung Attlee, die wohl auf theoretische Erörterungen, aber auf so gut wie keine Detailpläne der Labour Party zur Durchführung der traditionellen sozialistischen Forderung nach Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftszweige zurückgreifen konnte, ging angesichts der wirtschaftlichen Lage und der eigenen Unsicherheit vorsichtig zu Werke. Das Programm der Nationalisierung begann 1945 mit dem Gesetz über die Verstaatlichung der Bank von England, einem eher symbolischen Akt, der an der Rolle dieser Institution wenig änderte. Es blieb der einzige direkte Eingriff in die weitverzweigte britische Geld- und Kreditwirtschaft. Im Kohlenbergbau wurden viele veraltete und unrentabel arbeitende Betriebe durch die Überführung in Staatsbesitz (Coal Industry
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Nationalisation Act, 1946) vor der Schließung bewahrt. Die Verstaatlichung der Gas- und Elektrizitätswirtschaft beseitigte vor allem die Zersplitterung dieses Sektors in über fünfhundert Einzelunternehmen. Im Bereich des Verkehrswesens, besonders bei der Eisenbahn, mußten nach der Nationalisierung aus Steuermitteln enorme Investitionen zur Erneuerung der im Krieg verschlissenen Anlagen und Ausrüstungen getätigt werden. Es waren also vorwiegend Problembranchen oder Wirtschaftszweige, in irgendeiner Form bereits staatlich kontrolliert, die von den Nationalisierungsmaßnahmen betroffen wurden. Der Labour-Regierung lag nichts daran, eine wirkliche Kraftprobe mit der Privatwirtschaft zu riskieren. Von der vieldiskutierten Kontrolle oder gar Übernahme der »Kommandohöhen« der britischen Wirtschaft konnte keine Rede sein. Die profitablen Sektoren verblieben in Privatbesitz. Die Übernahme einer wirklichen Schlüsselbranche, der im Ganzen gesunden Eisen- und Stahlindustrie, zog sich wegen Meinungsverschiedenheiten im Kabinett und wegen des Widerstandes der Konservativen und der betroffenen Eigentümer bis Anfang 1951 hin.8 Die nationalisierten Wirtschaftssektoren kamen nicht unter unmittelbare Staatskontrolle, vielmehr übernahmen sogenannte Public Corporations, mit einer gewissen Eigenständigkeit ausgestattete Verwaltungsorgane unter ministerieller Aufsicht, deren Leitung. Zur Enttäuschung vieler Sozialisten brachten die Nationalisierungsmaßnahmen nicht jenen umwälzenden Eingriff in die Machtstruktur des Landes, der im sozialistischen Schrifttum der Labour Party gefordert war. Selbst an dem gewohnten Charakter der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Kapitaleignern änderte sich nach der Ablösung der großzügig abgefundenen Eigentümer kaum etwas. Die großen Sozialreformen der Labour-Regierung nach 1945 dagegen bestimmen das Leben des britischen Durchschnittsbürgers bis heute. Die Etablierung eines modernen Wohlfahrtsstaates war »Großbritanniens vielleicht großartigste Leistung nach dem Kriege«.9 Mit dem National Insurance Act und dem National Health Service Act wurden im von Schatzkanzler Hugh Dalton so genannten »annus mirabilis«, im erstaunlichen Jahr 1946, von der Regierung Attlee die gesetzlichen Grundlagen für ein neues System der Sozialversicherung und die Neuordnung des Gesundheitswesens gelegt. Beides war von Gewerkschaften und Labour Party schon im Krieg gefordert worden, doch sind die Sozialreformen aufs engste mit den entsprechenden Vorschlägen des langjährigen Direktors der London School of Economics und liberalen Unterhausabgeordneten Sir William (später Lord) Beveridge aus dem Jahre 1942 verbunden (Report on Social Insurance and Allied Services). Von der zunächst halbherzigen Aufnahme bei einem Teil der Konservativen abgesehen, fand der Beveridge-Report als zukunftweisendes sozialpolitisches Dokument breite und beständig wachsende Zustimmung in der britischen Öffentlichkeit. Dem 1946 errichteten umfassenden System sozialer Sicherheit lag das Prinzip der Universalität zugrunde. Beinahe jeder Erwachsene wurde nun
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versicherungspflichtig und erwarb einen Anspruch auf Leistungen u.a. im Falle der Arbeitslosigkeit, bei Lohnausfall durch Krankheit, Unfall und Eintritt in den Ruhestand. Durch die einheitliche Sozialversicherung leitete Labour zugleich bewußt eine Umverteilung der Einkommen ein. Das Versicherungssystem, zu dem auch die Arbeitgeberseite herangezogen wurde, funktionierte in den darauffolgenden zwanzig Jahren der Vollbeschäftigung auch in finanzieller Hinsicht ausgezeichnet; zu siebzig bis neunzig Prozent waren die Leistungen durch die Beitragszahlungen abgedeckt. Die Einrichtung des National Health Service mußte von Gesundheitsminister Aneurin Bevan, dem Wortführer des linken Labourflügels und enfant terrible des Kabinetts, in erbitterten Auseinandersetzungen gegen den Widerstand des mächtigen britischen Ärzteverbandes durchgesetzt werden. Hauptziel der Neuordnung, die eine kostenlose Heilbehandlung für alle brachte, war es, eine gleichmäßige ärztliche Versorgung in allen Landesteilen sicherzustellen und allen Bürgern unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten die optimale ärztliche Betreuung zu garantieren. Dazu übernahm der Staat alle Krankenhäuser und übergab sie regionalen Selbstverwaltungsorganen, Hospital Boards, in denen die Ärzteschaft stark vertreten war. Für die haus- und fachärztliche Betreuung wurde eine ähnliche Verwaltungsstruktur geschaffen. Der Widerstand der Mediziner ließ erst nach, als Bevan von den Forderungen seiner Partei abrückte und den Ärzten zusagte, daß sie auch künftig nicht festbesoldete Staatsangestellte sein würden. Es blieb ihnen freigestellt, ob sie weiterhin privat oder im Rahmen des National Health Service praktizieren wollten. Als das neue System 1948 in Kraft trat, hatten sich neunzig Prozent der britischen Ärzte für ihre Mitwirkung entschieden. Eine fünf Jahre später durchgeführte amtliche Untersuchung zeigte, daß der Nationale Gesundheitsdienst, der fast ganz aus Steuermitteln finanziert wurde, entgegen weitverbreiteter Ansicht durchaus kostengerecht arbeitete. Jahre nach der Auseinandersetzung zwischen Ärzteschaft und Labour- Regierung schrieb das renommierte British Medical Journal im Rückblick, eine Aufstellung der Großtaten des zwanzigsten Jahrhunderts müßte immer auch den National Health Service nennen. In der Labour-Ära kam es auch im Bereich des Bildungswesens, der Stadt- und Regionalplanung, des Jugendrechts und der Mietgesetzgebung zu neuen Ansätzen, die jedoch alle ein wenig im Schatten des großen sozialen Reformwerkes standen – ein Schicksal, das sie mit anderen Reformgesetzen teilten, so z.B. der Abschaffung der körperlichen Züchtigung im Strafvollzug oder der Garantie eines Rechtsbeistandes für Minderbemittelte. Mit der Beseitigung des plural voting, das u.a. den Universitäten eine durch Doppelstimmrecht gesicherte eigene Repräsentation im Unterhaus gewährte, fiel 1948 einer der ältesten Zöpfe des englischen Parlamentarismus.
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Der reformerische Elan der Labour-Regierung wurde durch die unerwartet rasche wirtschaftliche Erholung des Landes während des Jahres 1946 noch beflügelt.10 Die Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion gelang gut. Schon Ende 1946 lag das industrielle Produktionsniveau höher als 1938, der Export überschritt ebenfalls den Vorkriegsstand. Die Belieferung mit Versorgungsgütern besserte sich spürbar, und trotz eines gewissen inflationären Druckes festigte sich der Lebensstandard der Bevölkerung auf bescheidenem Niveau, da eine Reihe von Grundnahrungsmitteln staatlich subventioniert wurde. Die Arbeitslosenquote, die in der Zwischenkriegszeit bei durchschnittlich zehn Prozent gelegen hatte, konnte bei etwa zwei Prozent gehalten werden. Damit wurde von Labour ein schon während des Krieges von der Koalitionsregierung zum Ausdruck gebrachtes (White Paper on Employment Policy, 1944) nationales Anliegen gewahrt. Doch schon 1947 wurde Regierung und Bevölkerung Großbritanniens drastisch vor Augen geführt, daß die britische Wirtschaft noch keineswegs über den Berg war. Zwei Jahre früher als erwartet ging der amerikanische Dollarkredit zur Neige. Mitte 1947 waren neun Zehntel der durch den Preisanstieg in den USA ohnehin stark entwerteten Anleihe verbraucht. Die Konsolidierung der Wirtschaft und die Sozialreformen hatten viel Geld verschlungen, die internationalen Verpflichtungen Großbritanniens lasteten schwer auf dem Budget. Allein die britische Präsenz in Deutschland und die Zuschüsse zum Unterhalt der Besatzungszone verschlangen innerhalb von zwei Jahren über zweihundert Millionen Dollar. Der Kredit mußte auch deshalb verstärkt in Anspruch genommen werden, weil es im Winter 1946/47, dem härtesten seit über sechzig Jahren, infolge von Engpässen in der Energieversorgung zu einem zeitweiligen Produktionsrückgang und damit zu Exportverlusten kam. Die Katastrophe war da, als die britische Regierung ihrer in den Kreditverhandlungen von 1945 eingegangenen Verpflichtung nachkam und am 15. Juli 1947 die freie Konvertierbarkeit des Pfund Sterling verkündete. Sofort setzte eine solche Flucht aus dem schwachen Pfund in den US-Dollar ein, daß das Experiment mit amerikanischem Einverständnis schon fünf Wochen später wieder abgebrochen wurde. Die convertibility crisis von 1947 bestätigte in drastischer Weise den Substanzverlust, den die einstige Weltwirtschaftsmacht im Krieg erlitten hatte. Die Strategie, mit Hilfe der Dollaranleihe die Zeitspanne zu überbrücken, bis der britische Export wieder ein ausreichendes Volumen zur Deckung des Importbedarfs erreicht haben würde, war gescheitert. Die in unerwarteter Schärfe hereingebrochene Krise nährte Zweifel an der Kompetenz der Regierung Attlee. Der erfolglose Versuch einiger Kabinettsmitglieder, den Premierminister durch Ernest Bevin zu ersetzen, trug ebenfalls nicht zur Verbesserung ihres Ansehens bei. Doch die sozialistische Regierung trat erfolgreich die Flucht nach vorne an, und es gelang ihr, den Schatten des »annus horrendus« (Hugh Dalton), des schrecklichen Jahres 1947, zu entkommen. Maßgeblichen Anteil daran hatte Sir Stafford Cripps,11 der Ende des Jahres an die Spitze des neu eingerichteten Wirtschaftsministeriums trat und
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von Hugh Dalton das Schatzamt übernahm. Weder vorher noch nachher hat ein britischer Minister eine solche Machtfülle zur Lenkung der Wirtschaft in seiner Hand vereinigt. Sir Stafford Cripps, engagierter Christ und asketisch lebender Intellektueller, war wegen Propagierung der Volksfront in den dreißiger Jahren vorübergehend aus der Labour Party ausgeschlossen worden, im Krieg wurde er Botschafter in Moskau und später Minister unter Churchill. Der LabourRegierung gehörte er zunächst als Handelsminister an. Der Phantasie der Karikaturisten hätte keine treffendere Figur entspringen können, denn seine hagere Gestalt war die geradezu ideale Verkörperung der berühmten AusterityPolitik, der Politik strengster Sparsamkeit, die von Cripps nun eingeleitet wurde. Nur eine Drosselung der Importe, so ihr Ziel, und eine radikale Einschränkung des privaten Verbrauchs bei gleichzeitiger Förderung der Exportindustrie würde die Lücke in der Zahlungsbilanz schließen können. Seinen Landsleuten erläuterte er den Kurs einmal mit den einfachen Worten: »Unsere Konsumforderungen kommen zuletzt auf der Dringlichkeitsliste. An erster Stelle steht der Export, an zweiter stehen die Investitionen; zuletzt kommen die Bedürfnisse, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten für die Familie.«12 Mit der Reduzierung der Einfuhren aus Dollarländern verschwanden viele begehrte Waren aus den Schaufenstern. Noch mehr Nahrungsmittel als bisher wurden rationiert. Zu den 1946 eingeführten Brotrationen kam 1947 die Kartoffelzuteilung. Die Fleischrationen wurden gekürzt, ein Drittel weniger Treibstoff ausgegeben. Die Tabakeinfuhr aus den Vereinigten Staaten wurde eingestellt, Auslandsreisen waren untersagt. Milch blieb in Großbritannien bis 1950, Zucker bis 1953, Kohle sogar bis 1958 rationiert. Ende der vierziger Jahre, so schrieb ein britischer Schriftsteller später, schien »das Vereinigte Königreich unter feindlicher Besetzung zu stehen«. Bis Mitte 1950 konnte Cripps sogar die Gewerkschaften zu einer maßvollen Haltung bewegen. Obwohl die Preise zwischen 1948 und 1950 um acht Prozent stiegen, erhöhten sich die Löhne nur um fünf Prozent. Parallel zu den Sparmaßnahmen wurde das Zusammenspiel der zahllosen staatlichen und halbstaatlichen Boards, Councils oder Committees der Wirtschafts- und Finanzsphäre so verbessert, daß der britischen Volkswirtschaft gezielter und wirkungsvoller als zuvor Impulse gegeben werden konnten. Die Regierung verfügte zudem über das zumeist noch aus dem Krieg überkommene Instrumentarium direkter Wirtschaftskontrollen, doch im Gegensatz zur Rhetorik der Regierungspartei wurde die britische Wirtschaft in der Labour-Ära »weder strukturell noch in ihrem Ablauf ›geplant‹«.13 Zu den eigenen Bemühungen Großbritanniens um eine Konsolidierung der Wirtschaftslage kam bald das am 5. Juni 1947 vom amerikanischen Außenminister George C. Marshall angekündigte Hilfsprogramm der USA für Europa. Etwa die Hälfte der Mittel erhielten Großbritannien und Frankreich. An das Vereinigte Königreich flossen bis Ende 1950 rund 2,7 Milliarden US-Dollar (vier Fünftel davon als Geschenk) und halfen dessen »Dollarlücke« schließen.
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Die amerikanische Marshallplan-Hilfe und die eigenen britischen Anstrengungen trugen ihre Früchte. 1950, gegen Ende der Labour-Ära, waren die Wirtschaftsprobleme, die der Krieg hinterlassen hatte, überwunden. Die Industrieproduktion war gegenüber 1947 nochmals um dreißig Prozent gestiegen, es herrschte Vollbeschäftigung, die Inflationsrate hielt sich in Grenzen; auch einige staatliche Kontrollmaßnahmen hatten aufgehoben werden können. Das britische Exportvolumen hatte sich gegenüber dem Krisenjahr 1947, bei nur mäßig steigender Importquote, um sechzig Prozent erweitert. Die radikale dreißigprozentige Abwertung des Pfundes im September 1949 (neue Parität: 1£ = 2.80$) verbesserte die Chancen des Außenhandels weiter. Die Zahlungsbilanz Großbritanniens, die sich 1948 zu erholen begann, wies für das Jahr 1950 ein Plus von dreihundert Millionen Pfund aus. Zwar ergaben sich aus Abwertung und sprunghafter Rohstoffverteuerung im Gefolge des Korea-Krieges ein erheblicher Preisanstieg und noch einmal Sorgen mit der Zahlungsbilanz, doch es zeigte sich, daß, als die Konservativen Ende 1951 zur Macht kamen, in wirtschaftlicher Hinsicht »die ärgsten Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre nunmehr überwunden« waren.14 Die massive amerikanische Unterstützung und die Politik äußerster Sparsamkeit bei gleichzeitigem Ausbau eines leistungsfähigen Sozial- und Gesundheitswesens hätten die allmähliche wirtschaftliche Erholung Englands kaum herbeiführen können, wenn die Regierung Attlee die schwer auf dem Budget lastenden weltweiten britischen Verpflichtungen nicht teilweise abgebaut hätte. Großbritanniens Soldaten und Regierungsbeamte standen nach Kriegsende in allen Teilen der Welt; östlich von Suez von Hongkong über Burma und Indien bis Palästina, und westlich von Suez von Ägypten über Sierra Leone bis Britisch- Honduras. Großbritannien war die beherrschende Macht des Mittelmeerraumes und Besatzungsmacht in Deutschland, Österreich und Italien; im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte es das gleiche maßgebliche Mitspracherecht wie auf den Außenministerkonferenzen der ehemaligen Antihitlerkoalition. Wohl hatte der Krieg schon die konkurrenzlose Machtentfaltung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion erkennen lassen, doch da das Vereinigte Königreich nach 1945 noch immer die Insignien einer Weltmacht trug, dauerte es eine geraume Weile, bis in das Bewußtsein der Öffentlichkeit und auch manchen Politikers gedrungen war, daß der britische Löwe keine allzu großen Sprünge mehr tun konnte. Das Generalargument einer desolaten Wirtschaftslage konnte allerdings auch da eingesetzt werden, wo die Ursachen britischen disengagements nicht ausschließlich wirtschaftlicher Natur waren. Gelegentlich versuchten die Briten mit einer besonders drastischen Darstellung ihrer mißlichen wirtschaftlichen Lage auch, die USA zu beschleunigter Übernahme weltpolitischen Engagements zu bewegen. Die Vereinigten Staaten irreversibel besonders an Europa zu binden, war ein Hauptziel britischer Außenpolitik.15
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Außenminister Bevin stand vor keiner einfachen Aufgabe, denn nach der anglo-amerikanischen Eintracht im Krieg kam es nicht nur im Zusammenhang mit den Kreditverhandlungen zu Verstimmungen, auch das stets vorhandene amerikanische Mißtrauen gegenüber dem britischen Kolonialismus trat wieder stärker hervor. In der Labour Party wiederum machten sich einige Politiker Gedanken über eine »sozialistische Außenpolitik« oder empfahlen, wie Michael Foot vom linken Flügel, Großbritannien und dem Commonwealth einen »dritten Weg« zwischen den kapitalistischen USA und der kommunistischen Sowjetunion. Die Außenpolitik unter Ernest Bevin war in einer Zeit, in der sich überall Indizien eines wachsenden Ost-West-Gegensatzes zeigten, von solchen Überlegungen aber wenig beeinflußt. Der von ihm gesteuerte Kurs des pragmatischen Realismus war von den Vorstellungen eines Anthony Eden oder Winston Churchill nicht weit entfernt. Die schon vom Kriegspremier gezeigte Skepsis gegenüber den sowjetischen Ambitionen in Osteuropa, im östlichen Mittelmeer oder z.B. im Iran wurde von Bevin durchaus geteilt und bald auch zum Ausdruck gebracht – eine Haltung, die sich in der Truman-Administration erst im Laufe des Jahres 1946 durchsetzte und schließlich in die gemeinsame Überzeugung von einer Bedrohung des Westens durch die Sowjetunion mündete. Das Krisenjahr 1947, das den USA die kritische Lage Großbritanniens und der übrigen europäischen Staaten nachhaltig vor Augen führte, markierte das Datum, zu dem die Vereinigten Staaten den vollständigen Bruch mit ihrer außenpolitischen Tradition vollzogen und sich zu einem dauerhaften Engagement in Übersee entschlossen. Am 12. März 1947 gab Präsident Truman die amerikanische Zusage, »alle freien Völker zu unterstützen, die sich Unterjochungsversuchen durch bewaffnete Minderheiten oder auswärtigem Druck widersetzen«. Unmittelbaren Anstoß zur Verkündung der Doktrin des Containment (Eindämmung) gab der dramatische britische Appell vom 21. Februar 1947 an die Vereinigten Staaten, Griechenland und die Türkei, die im Kampf mit kommunistischen Partisanen bzw. unter diplomatischem Druck der UdSSR standen, »nicht unter sowjetischen Einfluß fallen zu lassen« und deshalb sofort die von Großbritannien nicht länger zu verkraftende Finanzhilfe für die beiden Länder zu übernehmen.16 Die USA sagten ihre Unterstützung sogleich zu und sprangen im östlichen Mittelmeer für Großbritannien ein, das Ende 1944 in Griechenland schon einmal in antikommunistischem Sinne interveniert hatte. Die bekannt schwache Finanzlage Englands erwies sich als hervorragende Begründung für den zeitlich klug plazierten Hilferuf. Bevin kam in seinen Bemühungen einer engeren Bindung der USA an Europa einen großen Schritt voran. Er griff auch das vom amerikanischen Außenminister George C. Marshall drei Monate später gemachte Angebot eines Hilfsprogrammes für Europa sofort auf und war maßgeblich an der raschen Reaktion der sechzehn europäischen Empfängerländer der Marshallplan-Hilfe beteiligt, die sich im April 1948 zur Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organization for
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European Economic Cooperation, OEEC) zusammenschlössen. Auch an weiteren Stationen auf dem Weg zur Westblockbildung wurden Initiative und Verhandlungsgeschick des Labour-Außenministers spürbar, so beim Zustandekommen des Brüsseler Paktes zwischen Frankreich, Großbritannien und den Benelux-Staaten ebenfalls im Frühjahr 1948 oder des Nordatlantikvertrages ein Jahr später, der die militärische Allianz zwischen zehn europäischen Staaten, Kanada und den USA begründete. Im besetzten Deutschland,17 wo die Engländer noch vor den Amerikanern den Glauben an eine gedeihliche Zusammenarbeit mit der Sowjetunion verloren, überließ Großbritannien spätestens ab Ende 1947 den USA die führende Rolle im Gegenzug zu deren Bereitschaft, die Dollarbelastung des britischen Budgets zu übernehmen, die aus dem Unterhalt der Besatzungszone entstand. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 1947 hatte das Schatzamt neunzig Millionen Dollar bereitstellen müssen. Die im Ganzen gut funktionierende angloamerikanische Zusammenarbeit wurde in den Bemühungen um die Gründung eines westdeutschen Bundesstaates oder auch in der erfolgreichen Operation Luftbrücke während der Berliner Blockade 1948/49 deutlich. Das kühne Unternehmen, bei dem ein Drittel der Transportflugzeuge von England gestellt wurde, offenbarte aber auch einen beunruhigenden Aspekt der – gleichwohl alternativlosen – Strategie der Anlehnung an die USA. Denn schnell konnten sich aus einer verschärften Konfrontation der Supermächte Verpflichtungen ergeben, die die britischen Möglichkeiten erneut überstiegen. Es konnte nicht ausbleiben, daß der Verlust Großbritanniens an weltpolitischer Eigenständigkeit die Veränderungen im Britischen Empire beschleunigte. Churchill deutete diesen inneren Zusammenhang an, als er Premierminister Attlee Ende 1946 in einer scharfen Debatte vorwarf: »Das Britische Empire scheint beinahe so rasch dahinzuschmelzen wie die amerikanische Anleihe.«18 In der Tat begann die Labour-Regierung bald damit, die Verpflichtungen Englands in Übersee zu reduzieren und den Abbau des britischen Kolonialreiches, in dem etwa fünfhundert Millionen Menschen lebten, einzuleiten. Rund eine halbe Million britischer Soldaten waren noch immer in Übersee stationiert; ihr Unterhalt verschlang 1946 über zweihundert Millionen Pfund – eine Summe in Höhe von zwei Dritteln des Zahlungsbilanzdefizits desselben Jahres. Zu Beginn des Krisenjahres 1947 kam es zu einer förmlichen Kaskade kolonialpolitischer Verzichtserklärungen. Die Regierung Attlee bekräftigte die Absicht einer beschleunigten Truppenreduzierung in Ägypten und der Aufgabe des britischen Mandats über Palästina mit Wirkung vom 15. Mai 1948. Burma wurde die baldige Unabhängigkeit zugesagt, und am 20. Februar 1947 verkündete Attlee den bevorstehenden Rückzug aus BritischIndien, dem bedeutendsten Besitz in Übersee. Auch wenn die meisten Konservativen darin die Preisgabe der Grundlage britischer Weltmachtstellung sahen, scheute sich die Labour-Regierung nicht, die seit langem vorhandenen
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Unabhängigkeitsbestrebungen Indiens noch zu beschleunigen. Nach der aus dem Gegensatz zwischen Hindus und Moslems resultierenden Teilung der Kolonie in Indien und Pakistan wurden beide Staaten am 15. August 1947 unabhängig. Danach bestimmten Vertreibung und Bürgerkrieg das Bild auf dem Subkontinent, doch England hatte sich »ohne die Mühen und Kosten eines Kolonialkrieges, noch dazu unter dem Beifall der Weltöffentlichkeit, Indiens entledigt«.19 Zu dem raschen, mitunter auch als überstürzt kritisierten Abschied von Indien konnte sich die Regierung Attlee um so eher entschließen, als sie von einer Partei getragen wurde, in der Kolonialkritik und Verständnis für das Streben farbiger Völker nach Selbstbestimmung von jeher tiefer verwurzelt war als in den Reihen der Tories. Die Aufgabe der britischen Positionen im Nahen Osten wurde ebenfalls erwogen, vornehmlich aus militärstrategischen Gründen aber zunächst verworfen. Die Entkolonialisierung in Afrika trat erst später in ihr entscheidendes Stadium. Indien, Pakistan und kurz darauf Ceylon wurden die ersten Mitgliedsstaaten des Commonwealth, die keine weiße Regierung hatten. Sie verblieben in der losen, auf Freiwilligkeit gegründeten Gemeinschaft selbständiger Staaten, deren Zusammenhalt bislang durch ein gemeinsames politisch-institutionelles Erbe und wechselseitige kulturelle Beziehungen fundiert war.20 Damit kamen sie insbesondere in den Genuß der 1932 beschlossenen Handelspräferenzen innerhalb des Commonwealth. Nach 1945 gelang es England meist, ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen ehemaligen Kolonien zu gewinnen; die Mehrzahl von ihnen wurde mit dem Unabhängigkeitstag Mitglied des Commonwealth. Staaten, die – wie Burma – aus der »britischen Völkerfamilie« ausscheiden wollten, wurden von London nicht daran gehindert. England ließ sich indessen Modus und Tempo des Rückzuges aus überseeischen Gebieten nur selten von militanten Bewegungen diktieren, wie der 1948 begonnene langwierige und kostspielige Buschkrieg gegen die kommunistische Guerilla in Malaya oder die Niederwerfung der »Mau-Mau« in Kenia Anfang der fünfziger Jahre zeigen. Durch die Veränderungen im Britischen Empire verloren die engen politischen, wirtschaftlichen und auch emotionalen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Commonwealth zunächst nichts von ihrem Gewicht. Sie waren ein wichtiger Grund für die zögernde Haltung Englands gegenüber der europäischen Integration. »Großbritannien ist nicht einfach eine kleine, dicht bevölkerte Insel vor der Westküste Kontinentaleuropas«, so erklärte Hugh Dalton Ende 1949 gegenüber einem französischen Sozialisten in der Beratenden Versammlung des Straßburger Europarates: »Es ist das Nervenzentrum eines weltweiten Commonwealth, das in jeden Kontinent hineinreicht.«21 Drei Viertel seines Handels wickelte England mit außereuropäischen Ländern ab, die Hälfte mit den Staaten des Commonwealth. Diese engen Bande des Vereinigten Königreiches nach Übersee waren vielen Protagonisten eines geeinten Europa nicht genügend bewußt. Es bestand in
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Großbritannien zudem wenig Neigung, die Souveränität der traditionsreichen britischen politischen Institutionen, die im Zweiten Weltkrieg keinen Kontinuitätsbruch erfahren hatten, durch supranationale Europabehörden beschneiden zu lassen. Das galt für Konservative wie für die meisten Sozialisten gleichermaßen. Auf dem Kontinent waren dagegen viele der Ansicht, die reservierte Haltung Englands sei in erster Linie auf die politische Färbung der amtierenden Regierung zurückzuführen. Die Tones nutzten diesen Eindruck und brachten die Labour-Regierung mit dem Vorwurf mangelnden europapolitischen Engagements mehr als einmal in Verlegenheit. Tatsächlich trug Großbritannien wesentlich dazu bei, daß der Europarat, dem es noch beigetreten war, keine entscheidende Kompetenz erhielt. An der von Robert Schuman im Mai 1950 vorgeschlagenen Montan-Union beteiligte sich England, etwa zur gleichen Zeit, als Labour gerade die Verstaatlichung der Eisen- und Stahlindustrie durchsetzte, schon nicht mehr. Für diese Entscheidung gab aber nicht – wie auch vermutet wurde – eine ordnungspolitisch begründete Opposition gegen die Entstehung eines gewaltigen privatwirtschaftlichen Kartells den Ausschlag, sondern Bedenken, die vom konservativen Harold Macmillan im August 1950 in Straßburg so formuliert wurden: »Unsere Leute werden keiner Behörde das Recht übertragen, unsere Gruben und Stahlwerke zu schließen.«22 Die Abneigung, ein Stück britischer Souveränität einer überstaatlichen Behörde zu übertragen, zeigte sich auch in der Ablehnung der von Frankreich angeregten, von Churchill später einmal als »matschiges Amalgam« bezeichneten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die Vorstellung einer europäischen Kooperation, zu der Außenminister Bevin gelangt war, lief auf die engere Zusammenarbeit zwischen den Regierungen hinaus. Hinter den mitunter weitergehenden britischen Erklärungen stand nicht selten das Motiv, in dieser Frage nicht in einen zu großen Gegensatz zu den Vereinigten Staaten zu geraten, die sich nachdrücklich für die Integration Europas unter Einschluß Großbritanniens einsetzten. Zur großen Enttäuschung vieler engagierter »Europäer« änderte sich die Zurückhaltung Londons auch nicht, als Winston Churchill, der große Protagonist »einer Art Vereinigter Staaten von Europa« nach dem Ende der Labour-Ära im Herbst 1951 wieder nach Downing Street Nr. 10 zurückkehrte. Labours Abschied von der Macht erfolgte in Raten. Die Wahlen zum Unterhaus am 23. Februar 1950 konnten die Sozialisten nach einem Wahlkampf ohne große Themen zunächst noch einmal für sich entscheiden. Im Vordergrund stand die Debatte um die Nationalisierung der Eisen- und Stahlindustrie, in der die Regierung dem Wähler das letzte Wort überlassen wollte. Die Labour-Linke forderte weitere Verstaatlichungen, aber es war kein Geheimnis, daß das Establishment der Partei und das breite Publikum des Themas müde waren. Die von weiteren Verstaatlichungen bedrohten Branchen organisierten mit viel Geld eine einfallsreiche landesweite Anti-Nationalisierungs-Kampagne. Die Tories
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nahmen einige noch geltende Rationierungsmaßnahmen und Wirtschaftskontrollen aufs Korn. Churchill geißelte den Labour- Sozialismus als kostpieligen und gefährlichen Irrtum. Das Votum der Wähler reduzierte die Mehrheit der Labour Party im Unterhaus auf ganze fünf Mandate. 315 sozialistische Abgeordnete standen 298 Konservativen gegenüber; die Liberalen erhielten neun Sitze, drei gingen an andere Gruppierungen. Labours Stellung erfuhr eine Schwächung im Mittelstand, wo die Argumente der Konservativen Partei einigen Eindruck erzielt hatten. Es folgten eineinhalb unsichere Jahre. Die schmale parlamentarische Basis machte die Regierungsarbeit zum Abenteuer. Das Kabinett Attlee war zudem »physisch und ideologisch erschöpft« (Alan SkedChris Cook). Stafford Cripps trat Ende 1950, Ernest Bevin Anfang 1951 aus gesundheitlichen Gründen zurück. Schon die Abwertung des Pfundes im Herbst 1949 hatte in der breiten Öffentlichkeit eine sehr ungünstige Aufnahme gefunden und das Ansehen des Labour-Kabinetts stark beeinträchtigt. Vor allem aber konnte die geschwächte Regierung die Probleme, mit denen sie es nach Ausbruch des Korea-Krieges (25. Juni 1950) zu tun bekam, nicht mehr verkraften. Premierminister Attlee, wiewohl auf einen besonnenen Kurs bedacht, zögerte nicht, in einer Demonstration anglo-amerikanischer Solidarität die in Korea intervenierenden USA mit einem bedeutenden Flottenkontingent, Kampfflugzeugen und einer kleinen Eingreiftruppe zu unterstützen. Über Nacht befand sich Großbritannien im Krieg und zudem in einer überaus heiklen Lage, da eine atomare Kraftprobe zwischen den Supermächten nicht ausgeschlossen schien. Aus den Vereinigten Staaten kamen düstere Prognosen über die Absichten des Weltkommunismus, und Churchill prangerte die unbestreitbare Schwäche der NATO – hinsichtlich konventioneller Waffen – in Mitteleuropa an. In dieser erhitzten Atmosphäre konnte die Regierung Attlee – nicht zuletzt infolge amerikanischen Druckes – kaum umhin, ein gigantisches Rüstungsprogramm zu beschließen.23 Es sah die Aufstellung von zehn Divisionen vor und war auf Kosten von nicht weniger als 4,7 Milliarden Pfund Sterling binnen dreier Jahre veranschlagt. Die erforderlichen Mittel sollten auch durch Einsparungen im Haushalt gewonnen werden. Der casus belli für die Labour-Linke war da, als Hugh Gaitskell, Nachfolger von Stafford Cripps und scharfer Widersacher von Aneurin Bevan, ein – wie die Presse schrieb – »konservatives« Budget mit Steuererhöhungen und Abstrichen an Sozialleistungen einbrachte. Auch der Nationale Gesundheitsdienst, den Bevan mit viel Energie aufgebaut hatte und der schon zur »heiligen Kuh« des Wohlfahrtsstaates geworden war, war geringfügig von den Einsparungen betroffen. Daß das auch noch auf Druck Churchills und der USA geschah, die nach Ansicht des linken Parteiflügels ohnehin einer antikommunistischen Hysterie verfallen waren, brachte die in Labour Party und Kabinett seit längerem bestehenden Spannungen zur Entladung. Aneurin Bevan verließ im April 1951 die Regierung und mit ihm der junge Handelsminister Harold Wilson. Damit
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aber nicht genug. Wegen der starken Preissteigerungen im Gefolge des KoreaKrieges kündigten die Gewerkschaften die Zusammenarbeit mit der Regierung auf. Zudem erlebte die britische Zahlungsbilanz einen erneuten – vorübergehenden – Einbruch. Das seit der Abwertung des Pfundes Ende 1949 nachhaltig erschütterte Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der Sozialisten erhielt einen weiteren Stoß. Nach dem Einzug des bisherigen Lordpräsidenten des Privy Council, Herbert Morrison, ins Foreign Office wurde sogar die Außenpolitik eine Hypothek für Labour. Morrisons Karriere als Außenminister war »kurz, aber verheerend« (Medlicott). Sowohl die Entwicklung in Persien, wo die Regierung Mossadegh die in britischem Besitz befindliche Anglo-Iranische Ölgesellschaft mit der großen Raffinerie in Abadan enteignete, als auch die Krise in Afrika, wo König Faruk von Ägypten entgegen den Vereinbarungen mit England seinen Herrschaftsanspruch auf den Sudan ausdehnte, schien den neuen Außenminister zu überfordern. Ein Spionagefall im Foreign Office rundete das traurige Bild ab. Ende 1951 ließen sich Neuwahlen nicht mehr umgehen. Churchill kommentierte die Leistung des Labour-Kabinetts in den zurückliegenden Monaten mit einer seiner unnachahmlichen politischen Sottisen: »Abadan, Sudan, Bevan.« Labour versuchte dem konservativen Churchill das Etikett eines Kriegstreibers anzuhängen. Viele Wähler, die von solchen Scharmützeln wenig beeindruckt wurden, waren inzwischen aber zu der für Labour gefährlichen Überzeugung gelangt, daß den Konservativen die Führung des Landes durchaus anvertraut werden könne, ohne daß es zu einem – von Labour prophezeiten – Rückfall in die bedrückenden Verhältnisse der Vorkriegszeit kommen würde. Die Konservative Partei von 1951 war nicht mehr die Partei von 1945.24 In der Opposition hatte sie unter ihrem populären Führer Lord Woolton große Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Organisationsstruktur unternommen. R.A. Butler, der spätere konservative Schatzkanzler, und Männer wie Reginald Maudling, Harold Macmillan, Edward Heath oder auch Anthony Eden arbeiteten an einer Öffnung der Partei für die sozialen und wirtschaftlichen Reformgedanken, die in England zwischen 1940 und 1950 diskutiert und von der Labour-Regierung zu einem guten Teil in die Tat umgesetzt worden waren. 1951 gehörten die Erhaltung und der Ausbau des britischen Wohlfahrtsstaates und die Bejahung der Vollbeschäftigung ebenso zum Programm der Tories wie die Einsicht, daß es eine Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus nicht geben konnte (Industrial Charter von 1947). Das wirtschaftspolitische Instrumentarium des Labour-Schatzkanzlers Gaitskell und das seines konservativen Nachfolgers Butler unterschied sich denn auch nur so minimal, daß sich Mitte der fünfziger Jahre der Begriff des »Butskellismus« einbürgern konnte. Mit den Unterhauswahlen am 25. Oktober 1951 ging die Labour-Ära zu Ende. Nach der Zahl der abgegebenen Stimmen lagen die Sozialisten noch immer knapp ein Prozent vor der Konservativen Partei, doch das Mehrheitswahlrecht bescherte den Tories 321 der 625 Mandate; die Labour Party erhielt 295 Sitze
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(1945 hatte sie bei einem ein Prozent geringeren Stimmenanteil als 1951 hundert Mandate mehr errungen). Die Liberalen, deren Schwäche den Konservativen zugute kam, erhielten sechs, andere Gruppierungen drei Sitze. Die Konservativen kehrten für dreizehn Jahre an die Macht zurück. Trotz manchen Fehlschlages konnte die Regierung Attlee aber eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen. In den sechs Jahren ihres Wirkens hatte sie dem Land ein neues Gesicht gegeben.
Die Regierung Churchill 1951–1955 Im Oktober 1951 kehrte Winston Churchill im Alter von 77 Jahren in das Amt des Premierministers zurück.25 In sein Kabinett berief er neben engsten Mitarbeitern aus der Kriegszeit auch jüngere Politiker, die an der Reform der Konservativen Partei mitgewirkt hatten. Der allgemein als »Kronprinz« Churchills angesehene Anthony Eden, schon 1935 bis 1938 und im Krieg britischer Außenminister, übernahm das Foreign Office. Richard Austen Butler, ebenfalls früheres Mitglied des Kriegskabinetts, wurde Schatzkanzler. Harold Macmillan konnte mit der Einlösung des wichtigsten Wahlversprechens der Konservativen, dem Bau von mindestens 300000 Wohnungen jährlich, im Ministerium für Wohnungsbau den Grundstein für seinen späteren Aufstieg zum Regierungschef legen. Die konservative Regierung wandte sich zunächst der Sanierung der britischen Zahlungsbilanz zu, die infolge der weltwirtschaftlichen Auswirkungen des Korea-Krieges wieder einmal in die roten Zahlen gerutscht war. Das Kabinett sah sich gezwungen, statt des im Wahlkampf propagierten Abbaus der staatlichen Wirtschaftskontrollen aus der Labour-Ära sogar noch zusätzliche reglementierende Maßnahmen zu ergreifen. Auch an dem großen Aufrüstungsprogramm, zu dem Labour nicht zuletzt von Churchill gedrängt worden war, mußten Abstriche gemacht werden. Doch schon bald wandelte sich das Bild: Die Sanierungsmaßnahmen der Konservativen schienen zu greifen, denn die Zahlungsbilanz des Jahres 1952 wies bereits wieder einen ansehnlichen Überschuß auf. Die erstaunlich rasche Verbesserung der Wirtschaftslage resultierte jedoch weniger aus den Eingriffen der Regierung als aus einer günstigen Veränderung der terms of trade, d.h. die Weltmarktpreise der importierten Rohstoffe fielen um etwa ein Viertel, während die britischen Ausfuhrgüter zu steigenden Preisen abgesetzt werden konnten. Zwischen 1952 und 1955 entwickelte sich ein regelrechter Wirtschaftsboom. Er erlaubte es den Konservativen, fast alle staatlichen Wirtschafts- und Finanzkontrollen aufzuheben. Nahrungsmittelrationierungen und die Bewirtschaftung anderer Güter waren ebenfalls nicht länger erforderlich. 1953 wurde die im Wahlkampf angekündigte Reprivatisierung der Eisen- und
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Stahlindustrie und des Straßentransportverkehrs durchgeführt. Die Gewerkschaften nutzten die gute Ertragslage der meisten Unternehmen und erzielten hohe Lohnabschlüsse. 1955 war der steile Anstieg des britischen Lebensstandards seit der Regierungsübernahme der Konservativen nicht mehr zu übersehen. Die Zahl der Autos in Privatbesitz war um fünfzig Prozent gestiegen, viermal so viele Engländer wie 1951 besaßen 1955 ihr eigenes Fernsehgerät.26 Mit dem Wirtschaftsaufschwung wuchs die Zustimmung zur Politik der Konservativen. Es war nur natürlich, daß die Partei die neue englische Prosperität der eigenen Finanz- und Wirtschaftspolitik zuschrieb. »Konservative Freiheit funktioniert«, lautete in Kurzfassung die kaum zu widerlegende Philosophie ihres Erfolges. Die Konservativen hatten ihr 1945 stark erschüttertes Selbstvertrauen wiedergewonnen, und vielen Engländern schien die Rede vom Anbruch eines neuen »Elisabethanischen Zeitalters« kaum übertrieben, die aufkam, als die junge Elisabeth II. dem 1952 verstorbenen Georg VI. auf dem Thron des Vereinigten Königreiches folgte. An skeptischen Stimmen, die vor einer übertriebenen Zuversicht in die wirtschaftliche Zukunft Großbritanniens warnten, fehlte es nicht. Die im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern sehr niedrige Investitionsrate erregte die Besorgnis der Fachleute; Harold Macmillan verwies auf die abnehmende Bedeutung des Commonwealth als Exportmarkt und plädierte für eine Neuorientierung im britischen Außenhandel. Solche vorausschauenden Analysen taten der vorherrschenden Auffassung, England habe die Jahre der Krisen und Entbehrungen endgültig hinter sich gelassen, keinen Abbruch. Auch die von Anthony Eden souverän geführte Außenpolitik trug ihren Teil zu der Erfolgsbilanz der zweiten Ära Churchill bei. Trotz einiger Irritationen konnte die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten bewahrt werden, ohne daß Großbritannien zu sehr ins Schlepptau der von US-Außenminister John Foster Dulles repräsentierten »Politik der Stärke« geriet und ohne daß man sich zu sehr mit dem überschäumenden Antikommunismus identifizierte, der in den Vereinigten Staaten in den Kampagnen des Senators Joseph McCarthy seine schlimmsten Formen annahm. Es war keine leichte Aufgabe für Eden, zur Besonnenheit zu mahnen, ohne gleichzeitig die USA zu »unüberlegten Demonstrationen der Erbitterung gegen zaudernde Freunde« (Medlicott) herauszufordern.27 Sowohl bei der Beilegung des Korea-Konfliktes 1953 als auch bei der Beendigung des Krieges in Indochina auf der Genfer Konferenz 1954 gelang es Großbritannien, seinen mäßigenden Einfluß geltend zu machen. Bei den Bemühungen um die Integration Westdeutschlands und Italiens in das westliche Bündnis entfaltete die britische Außenpolitik – in der Tradition der Initiativen Bevins Ende der vierziger Jahre – eine bemerkenswerte Zielstrebigkeit. Nach dem Scheitern des Projekts Europäische Verteidigungsgemeinschaft im Sommer 1954 war es vor allem Anthony Eden, der den Weg zu den Londoner und Pariser Verträgen ebnete, mit deren
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Inkrafttreten im Mai 1955 die Bundesrepublik Deutschland und Italien Mitglieder der NATO wurden. Die Zusage Großbritanniens, einen Teil seiner Streitkräfte in Zukunft auf dem europäischen Festland zu stationieren, erleichterte insbesondere Frankreich die Zustimmung zu der neuen Lösung. Die Verhandlungen auf internationaler Ebene schärften nach Edens eigenem Zeugnis sein Bewußtsein von der Bedeutung der Atomwaffen in der internationalen Politik. Ohne deren Existenz, so glaubte er, hätte sich der Konflikt in Indochina 1954 kaum beilegen lassen. Seit 1952 genoß auch Großbritannien den Status einer Atommacht. Die Regierung Churchill erntete damit die Früchte, die in der Labour-Ära gereift waren, denn das Kabinett Attlee hatte seit 1946 hinter dem Rücken des Parlaments die Entwicklung einer britischen A-Bombe betrieben. Die konservative Regierung schlug den gleichen Weg ein. Der schon 1952 beschlossene Bau einer Wasserstoffbombe wurde erst drei Jahre später bekanntgegeben; der erste erfolgreiche Test einer britischen HBombe erfolgte im Jahre 1957.28 Für die Konservativen lag es nahe, die gute Wirtschaftslage Großbritanniens und den »Nachsommer seiner Laufbahn als Weltmacht« (Bartlett) zu nutzen, um ihre politische Basis im Unterhaus durch Neuwahlen zu verbreitern. Zuvor mußte aber die Nachfolge Churchills geregelt sein, denn es war nicht zu übersehen, daß der Premierminister nach mehreren Schlaganfällen geistig und körperlich verfiel. Doch die Hoffnung auf ein Zusammentreffen mit der sowjetischen Führung, das, wie der Spiegel schrieb, »sein kriegerisches Lebenswerk durch eine große Tat des Friedens überwölben«29 sollte, hielt ihn noch einige Zeit im Amt. Die Begegnung kam nicht mehr zustande. Am 5. April 1955, sechzig Jahre nach seinem Eintritt in die Dienste der Königin Victoria, zog sich Winston S. Churchill ins Privatleben zurück (90jährig starb er am 24. Januar 1965 in London).
Die Regierung Eden 1955–1957 Wie allgemein erwartet, übernahm Churchills langjähriger politischer Weggefährte Anthony Eden30, die britische Autorität auf dem Felde der Außenpolitik, das Amt des Premierministers. Die Auspizien des neuen Regierungschefs, in Auftreten und Erscheinung die »Quintessenz des britischen Gentleman« (Alan Sked/ Chris Cook), standen günstig. Die Wirtschaftslage des Landes war ausgezeichnet, die diplomatischen Erfolge des Vorjahres konnte sich der neue Premierminister sogar persönlich zugute halten. Der Ausgang der für Ende Mai angesetzten Unterhauswahlen, in denen Eden seine Ernennung zum Premier auch vom Wähler bestätigen lassen wollte, konnte nicht zweifelhaft sein. Der Termin war klug gewählt, zumal die Opposition ein Bild innerer Zerrissenheit bot.
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Die Sozialisten waren nach 1951 in ein politisches und ideologisches Dilemma geraten. Denn entgegen ihrer Prognose ließen die Konservativen nicht nur die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates unangetastet, der Lebensstandard in den Mittelschichten und der Arbeiterschaft begann überhaupt erst unter der Ägide der konservativen Regierung deutlich anzusteigen. Die Mehrheit der Labour Party kam in der Debatte über den weiteren Kurs zu der Auffassung, daß die Bewahrung und Konsolidierung der nach 1945 durchgesetzten Reformen die vordringliche Aufgabe der Partei sei. Mit Parteiführer Attlee hielt sie die Diskussion über weitere Verstaatlichungen oder die Ausweitung der Staatsaufgaben für ebenso realitätsfern wie unattraktiv. Die progressiv orientierten Anhänger von Aneurin Bevan (»Bevanites«) sahen in den Reformen der Ära Attlee nur den Auftakt zur Transformierung von Staat und Gesellschaft im Sinne eines demokratischen Sozialismus. Die linksorientierten Kräfte in der Partei opponierten auch gegen die Politik der Westblockbildung und gegen die forcierte Aufrüstung, insbesondere gegen den Bau britischer Atomwaffen und die mit dem Bau verbundenen militärischen Planungen. Hierüber kam es im Unterhaus wenige Wochen vor den Wahlen zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen Parteiführer Attlee und Bevan, die beinahe dessen Ausschluß aus der Labour Party nach sich gezogen hätte. Es gelang der Gruppe um Bevan, die im Parlament etwa ein Fünftel der sozialistischen Abgeordneten umfaßte und wiederholt entgegen der Parteilinie abstimmte, letztlich nicht, bestimmenden Einfluß auf die Labour Party zu gewinnen. Mehrfach scheiterte Bevan mit der Kandidatur für wichtige Parteiämter. Ende 1955 trat mit Hugh Gaitskell einer seiner schärfsten Rivalen die Nachfolge Attlees als Parteivorsitzender an.31 Das Ergebnis der Wahlen vom 26. Mai 1955 war ein Votum gegen die zerrissene Opposition und ein Auftrag an die Konservativen, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten. Zum erstenmal seit etwa hundert Jahren gelang es einer regierenden Partei, in allgemeinen Wahlen ihren Vorsprung noch auszubauen. Mit 344 Abgeordneten verfügten die Konservativen nun über eine absolute Mehrheit von fast sechzig Sitzen. Labour verlor achtzehn Mandate und erhielt 277 Sitze (die Liberalen und andere Gruppierungen hatten zusammen neun Sitze). Der neue Premierminister konnte den Vertrauensvorschuß der Wähler seinem ohnedies nicht geringen Startkapital hinzufügen. Es war jedoch noch kein Jahr vergangen, da sah sich Eden gezwungen, Rücktrittsabsichten zu dementieren. Ein weiteres Jahr später war er nicht mehr im Amt. Das Unglück der Regierung Eden begann damit, daß sich der Wirtschaftsboom, wie britische Zeitungen schrieben, zum »Boomerang« entwickelte. Eine überhitzte Inlandsnachfrage, die von Schatzkanzler Butler durch Senkung der Einkommenssteuer vier Wochen vor den Wahlen noch angeheizt worden war, führte zu erheblichen Preissteigerungen und zu einem erhöhten Importbedarf. Die Exporte hielten nicht länger mit den Einfuhren Schritt, die Folge war ein erneuter Einbruch der britischen Zahlungsbilanz. In
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einem Zusatzhaushalt im Herbst 1955, in dem auch die Wahlgeschenke vom Frühjahr wieder eingesammelt wurden, ergriff das Schatzamt eine Reihe konjunkturdämpfender Maßnahmen. Neben der Erhöhung der Kreditzinsen, der Reduzierung staatlicher Investitionen und Einsparungen bei Leistungsgesetzen erließ die Regierung z.B. auch ebenso unpopuläre wie einschneidende Bestimmungen zur Eindämmung privater Ratenkäufe. Beim Durchschnittsbürger wie in Wirtschaftskreisen trat eine erhebliche Verunsicherung ein. Die staatlichen Maßnahmen zeigten zwar bald die gewünschte Auswirkung auf die Zahlungsbilanz, doch die restriktive Finanzpolitik dämpfte zugleich das im internationalen Vergleich ohnehin geringe britische Wirtschaftswachstum. Die konfus erscheinende Budgetpolitik geriet unter Beschuß der Fachwelt und der Opposition. Eden mußte sein Kabinett, aus dem immer neue Nachrichten über eine wenig gedeihliche Zusammenarbeit drangen, im Dezember 1955 umbilden. Harold Macmillan32, der starke Mann der Regierung, übernahm das Schatzamt. Selwyn Lloyd wurde Außenminister. Vielen schien das Revirement zu spät zu kommen, um das stark gesunkene Ansehen der Regierung Eden noch zu heben. Die Führungskraft des Premierministers wurde bereits – auch in der konservativen Presse – angezweifelt, und die Stimmen mehrten sich, die auf seine geringe Erfahrung in der Innenpolitik hinwiesen. Bald verließ die konservative Regierung auch auf des Premierministers ureigenem Gebiet die Fortune. Im Nahen Osten begann eine Krise, die der politischen Laufbahn Anthony Edens ihr Ende setzte und die reduzierte machtpolitische Handlungsfähigkeit Großbritanniens in aller Schärfe offenbarte. Seit dem Aufstieg Gamal Abdel Nassers zum ägyptischen Staatschef (1954) und Führer des arabischen Nationalismus lag Regierungskreisen in London der Gedanke nicht fern, daß der britische Einflußverlust im Nahen Osten am ehesten durch Nassers Sturz aufgehalten werden könne. Diese Überlegung bestimmte das Verhalten der britischen Regierung im Suez-Konflikt 1956 vor allem. Ausgelöst wurde die Krise durch die Verstaatlichung der Suez-KanalGesellschaft, die Nasser am 26. Juli bekanntgab. Der Schritt Nassers wurde in England und zunächst auch in den Vereinigten Staaten einhellig verurteilt. Die USA, deren Haltung während der Krise nie ganz eindeutig war, setzten aber bald auf eine internationale Lösung des Konflikts, die jedoch nicht die Billigung Ägyptens fand. Die französische Regierung, die in Nasser einen einflußreichen Verbündeten der algerischen Befreiungsbewegung vermutete, dachte schon früh an eine militärische Intervention und konnte dafür schließlich auch die Zustimmung des anfänglich zögernden Eden gewinnen. Der dritte Partner war das mit den arabischen Staaten im Dauerkonflikt lebende Israel. Es sollte durch den Sinai auf den Kanal vorstoßen und damit den beiden Westmächten die Gelegenheit zu einer »Trennung« der israelischen und ägyptischen Streitkräfte verschaffen. Am 22./ 24. Oktober 1956 kam es im Pariser Vorort Sèvres zu der – erst Jahre später bekannt gewordenen – französisch-britisch-israelischen
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Vereinbarung, in der der Ablauf der gemeinsamen Aktion festgelegt wurde. Nicht einmal alle Mitglieder des britischen Kabinetts waren darüber informiert, daß Anlaß und alle weiteren Umstände des Eingreifens schon vor Beginn des israelischen Angriffs am 29. Oktober genau abgesprochen waren. Wie in Sèvres vereinbart, »ersuchten« Großbritannien und Frankreich am Tag nach Beginn des israelisch- ägyptischen Krieges beide Konfliktparteien, die Kampfhandlungen einzustellen und alle Truppen aus der Kanalzone zurückzuziehen. Das Ultimatum war für Nasser von vorneherein unannehmbar, denn es mutete ihm nicht nur die Zurücknahme seiner Truppen auf eigenem Territorium zu, sondern enthielt zudem die Aufforderung an Ägypten, einer vorübergehenden Besetzung von Schlüsselstellungen am Kanal durch britische und französische Truppen zuzustimmen. Großbritannien und Frankreich nahmen die Nichterfüllung ihrer Forderungen zum Anlaß, ägyptische militärische Einrichtungen zu bombardieren und am 5. November 1956 Port Said und einen Teil der Kanalzone zu besetzen. Israel hatte inzwischen die ägyptische Armee schwer geschlagen und fast die gesamte Sinai-Halbinsel unter seine Kontrolle gebracht. Doch schon am 7. November brach Großbritannien auf Druck der USA und gegen den Protest des französischen Verbündeten das Unternehmen ab. Die Amerikaner hatten den Hebel an der verwundbarsten Stelle angesetzt und gedroht, das unter Druck geratene Pfund nicht weiter zu stützen.33 Noch vor Jahresende verließen die britischen Soldaten Ägypten. Für Israel, das seine Truppen einige Monate später vom Sinai zurückzog, hatte die gemeinsame Aktion gegen Ägypten wenigstens die Öffnung des Golfes von Akaba erbracht. Eden dagegen hatte keines seiner Ziele erreicht. Der Kanal blieb in ägyptischer Hand; Nasser wurde durch den Fehlschlag der beiden Kolonialmächte gestärkt, das Ansehen Großbritanniens in der arabischen Welt war schwer geschädigt; die Beziehungen zu Frankreich und den USA waren auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Sowjetunion rückte näher an Ägypten heran und konnte behaupten, die beiden Westmächte hätten – was jedoch nicht ausschlaggebend gewesen war – aufgrund ihrer Drohung mit Atomwaffen eingelenkt. Ein Teil der Konservativen Partei war über die Intervention, ein anderer Teil über ihren vorzeitigen Abbruch entsetzt. Hugh Gaitskell forderte die Konservativen in einer Radioansprache auf, Eden zu stürzen. Zwei Monate nach dem katastrophalen Ausgang der Militäraktion, der vielen den Niedergang Großbritanniens als Weltmacht erst bewußt werden ließ, erklärte Anthony Eden am 9. Januar 1957 seinen Rücktritt. Nicht alle Schäden, die das britische Suez-Abenteuer angerichtet hatte, ließen sich wieder beheben, doch dem neuen Premierminister Harold Macmillan gelang es bald, wenigstens das »besondere Verhältnis« zwischen Großbritannien und den USA wiederherzustellen, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in neuer Form entwickelt hatte. Die Regierungen Frankreichs, Italiens, der Bundesrepublik Deutschland und der Benelux-Länder taten inzwischen einen epochalen Schritt. Am 25. März 1957 unterzeichneten sie in Rom die Verträge über die Gründung einer Europäischen
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Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Einigung der Sechs wurde durch den SuezKonflikt, in dem Großbritannien und Frankreich ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu spüren bekommen hatten, stark beschleunigt. Besonders die Franzosen trieben nun die Bildung eines gemeinsamen Marktes, die im Sommer 1955 in Messina beschlossen worden war, mit Nachdruck voran. Paris gab angesichts der aus dem mißglückten Unternehmen im Nahen Osten herrührenden Spannungen mit Großbritannien und seiner Annäherung an den deutschen Nachbarn seine Versuche auf, England als Gegengewicht zum erstarkenden Westdeutschland in die europäischen Einigungsbemühungen einzubeziehen. In London rechnete man nicht mit einer baldigen Einigung auf dem Kontinent.34 Viele Briten hielten die Schaffung eines gemeinsamen Marktes mit supranationalen Gremien, gemeinsamem Außenzoll und der Harmonisierung von Finanz-, Sozial- und Wirtschaftspolitik für Utopie. Die Haltung der Regierung Eden entsprach der Tradition der britischen Politik seit Kriegsende, europäische Einigungsbestrebungen zwar zu begrüßen und zu unterstützen, eine enge Bindung Großbritanniens an den Kontinent aber zu vermeiden. Erst im Herbst 1956, als die Fortschritte der sechs Montanunion-Staaten nicht länger zu übersehen waren und England von einem der größten und reichsten Märkte der Welt ausgeschlossen zu werden drohte, legte London eigene Vorschläge zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa vor. Der Zollunion der Sechs stellten die Briten die Idee einer großen europäischen Freihandelszone gegenüber, der alle siebzehn Staaten der OEEC – jener Organisation, die sich seit 1948 zu einem von Großbritannien sehr geschätzten Forum zwischenstaatlicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit entwickelt hatte – angehören sollten. Der britische Vorschlag zielte auf die Liberalisierung des zwischenstaatlichen Handels, enthielt jedoch keine supranationalen Elemente und wollte, beides im Gegensatz zu den Vorstellungen der Sechs, jedem Mitgliedsland die Regelung seiner Handelsbeziehungen mit dritten Staaten selbst überlassen. Nur innerhalb einer solch losen Gruppierung meinte Großbritannien seine politischen und wirtschaftlichen Bindungen zu den Ländern des Commonwealth – namentlich die seit 1932 bestehenden Handelspräferenzen – wahren zu können. Von den Sechs wurde der Plan kühl aufgenommen. In so später Stunde vorgelegt, wirkte er auf manchen eher wie ein Versuch, die weit fortgeschrittenen Integrationsverhandlungen auf dem Kontinent zu irritieren. Die Sechs wollten, wie der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak sagte, auf ihrem Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft »keinen einzigen Tag« mehr aufgehalten werden. Nach Unterzeichnung des EWG-Vertrages kamen die Mitgliedsländer auf den Gedanken der großen europäischen Freihandelszone zurück, doch die Verhandlungen blieben erfolglos und wurden Ende 1958 abgebrochen. Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Österreich, die Schweiz und Portugal gründeten daraufhin die sogenannte kleine Freihandelszone. Die Sieben
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unterzeichneten das Vertragswerk am 4. Januar 1960, vier Monate später trat es in Kraft. Die EFTA (European Free Trade Association) entsprach ihrer inneren Verfassung nach zwar den britischen Vorstellungen, sie blieb für Großbritannien wirtschaftlich aber weniger attraktiv als die stark expandierende EWG und darum nur ein »Notbehelf« (Wolfgang Wagner). Die Vorschläge der Regierung Eden von 1956/57 lagen noch ganz auf der seit 1945 verfolgten europapolitischen Linie Großbritanniens. Weder der Wandel im Commonwealth noch die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen auf dem Kontinent waren damals schon genügend ins britische Bewußtsein gedrungen, um die Entscheidungsbildung der Regierung nachhaltig zu beeinflussen. Zwar gab es vereinzelt Stimmen, die, wie der »Economist« schon seit 1954, darauf hinwiesen, daß die wirtschaftliche Zukunft Englands stärker mit dem Kontinent als mit dem Commonwealth verbunden sein würde, doch noch immer dominierten die politischen, wirtschaftlichen und gefühlsmäßigen Bindungen zum Commonwealth. Seine Mitgliedsstaaten begannen indessen zunehmend eigene Wege in Außenpolitik und Außenhandel zu beschreiten. Es zeichnete sich auch die Tendenz ab, daß der traditionelle britische Handelsraum und auch Großbritannien selbst in ihrer ökonomischen Dynamik hinter Kontinentaleuropa zurückblieben. Auch diese Entwicklung, die für die wirtschafts- und handelspolitische Orientierung der Insel von größter Bedeutung war, wurde während der Ära Eden noch kaum zur Kenntnis genommen. Zwischen 1950 und 1956 stiegen z.B. die Exporte der Montanunion-Länder um 116 Prozent, in Großbritannien um 47 Prozent; der Produktionsindex erhöhte sich bei den Sechs während der gleichen Zeitspanne auf 158, in England auf 121; die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate des Bruttosozialproduktes betrug in den Montanunion-Ländern 5,5 Prozent gegenüber 2,9 Prozent in Großbritannien. Das Zurückbleiben der britischen volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit trat erst zu Beginn der sechziger Jahre in das öffentliche Bewußtsein. In den fünfziger Jahren war »Britain’s decline« noch kein Gegenstand nationaler Besorgnis. Im Gegenteil, Lebensstandard und soziale Verhältnisse hatten sich nach dem Krieg so verbessert, daß die Konservativen 1959 nicht ohne Berechtigung mit dem berühmten Slogan Macmillans »You’ve never had it so good« um die Stimmen der Wähler werben konnten. Zwei Jahre später gab Großbritannien unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Entwicklung auf der Insel und dem Kontinent seine keineswegs als glänzend empfundene Isolation von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf und stellte am 9. August 1961 den Antrag auf Aufnahme in die EWG. Mit dieser »Kopernikanischen Wendung« (Walter Hallstein) gab England zugleich zu verstehen, daß es bereit war, »die relative Schwächung seiner Stellung in der Welt anzuerkennen«.35 III. Frankreich Von Klaus-Dietmar Henke
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Am 9. September 1944 wurde in Paris die »Provisorische Regierung der Französischen Republik« gebildet. Charles de Gaulle, seit der Niederlage von 1940 Personifizierung des französischen Widerstandswillens und nun unbestrittene Autorität im befreiten Frankreich, berücksichtigte bei der Bildung seines Kabinetts der »Nationalen Einmütigkeit« die wichtigsten politischen Richtungen und Vertreter aller Zweige der Widerstandsbewegung. Der General wußte, daß nur eine sorgsam ausbalancierte Koalition in der Lage war, die Stabilisierung des wirtschaftlich zerrütteten, in seiner nationalen Identität erschütterten Landes in Angriff zu nehmen. Er verstand sich aber nicht einfach als Chef einer Allparteienregierung, sondern als Träger der historischen Mission, die Kontinuität des französischen Staates zu wahren und den »Rang« der Nation in der Welt wiederherzustellen. Die Lage des Landes, dessen Atlantikhäfen und östliche Grenzgebiete sich zum Teil noch bis zum Frühjahr 1945 in deutscher Hand befanden, war katastrophal.1 Allein die Kosten für den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Gebäude, Industrieanlagen, Verkehrswege etc. beliefen sich nach einer Schätzung der Regierung aus dem Jahre 1946 auf eine Summe in Höhe von zwei bis drei Nationaleinkommen der Vorkriegszeit. Der Index der Industrieproduktion war von 100 (1929, im besten Jahr der Zwischenkriegszeit) auf 29 (1944) gefallen. Die Handelsbilanz war in ein fatales Ungleichgewicht geraten: In der zweiten Jahreshälfte 1944 etwa wurde fünfmal mehr ein- als ausgeführt. Es fehlte am Nötigsten, besonders Kohle war knapp. Die landwirtschaftlichen Erträge waren 1945 durchschnittlich um 25 bis 40 Prozent gesunken, die amtlichen Rationen für Erwachsene betrugen im September 1944 in Paris nur noch 1200 Kalorien. Angesichts solcher Verhältnisse war es von vitaler Bedeutung, daß es Paris durch die Einsetzung von »Kommissaren der Republik« und durch persönliche Besuche de Gaulles in der Provinz gelang, die staatliche Autorität rasch wiederherzustellen und regionale Sonderbestrebungen einzudämmen. Damit konnte die Provisorische Regierung die vorgesehene anglo-amerikanische Militärverwaltung Frankreichs weitgehend überflüssig machen. Sie verstand es auch, die vielfältigen Kampfverbände der Résistance zur – wenn auch widerstrebenden – Niederlegung ihrer Waffen zu bewegen. Auch die »wilde« politische Säuberung, d.h. die unmittelbare, an kein Justizverfahren gebundene blutige Abrechnung mit den »Kollaborateuren« der deutschen Besatzungsmacht, konnte von der Regierung de Gaulle schnell in geordnete Bahnen gelenkt werden. Etwa 10000 Menschen sind dabei insgesamt ums Leben gekommen; mehr als drei Viertel von ihnen noch bevor die französische Regierung in der Lage war, wirksam einzugreifen. Die Durchschlagskraft der Regierung de Gaulle und ihr offenkundiger Rückhalt in der Bevölkerung bewogen die Alliierten dazu, sie am 23. Oktober 1944 völkerrechtlich anzuerkennen. De Gaulles Beschwörung der Einheit der Franzosen, seine Aufrufe, »brüderlich das Bauwerk der Erneuerung zu errichten«, waren mehr als nur
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Loyalitätsappelle angesichts der bevorstehenden gewaltigen Aufgaben. Die Provisorische Regierung konnte unmittelbar an die »Einheit der Hoffnung und Handlung, die die Résistance geboren hatte«, anknüpfen und sie politisch nutzen. Nach der äußeren Befreiung, so die gemeinsame Überzeugung des Widerstands, sollte die Beseitigung überholter Wirtschafts- und Sozialstrukturen in Angriff genommen werden. Die Zeitung Combat, eines der wichtigsten nichtkommunistischen Organe der Résistance, erschien gar mit dem Untertitel: »Von der Résistance zur Revolution«. Auch General de Gaulle, politisch durchaus kein Mann der Linken, wollte und konnte sich dem Reformauftrag der Widerstandsbewegung nicht entziehen. So wurde im euphorischen Schwung der »Libération de la France« binnen zwei Jahren ein Bündel von Sozial- und Wirtschaftsreformen durchgesetzt wie seit der Revolution von 1789 nicht mehr.2 Als erstes wurde im Oktober 1944 das Stimmrecht für Frauen eingeführt, ein Betriebsrätegesetz wurde erlassen (22.2.1945) und mit der »Securité Sociale« ein ausgedehntes System sozialer Sicherheit (4.10.1945) geschaffen. Die Familienversorgung und die Unterstützung sozial Schwacher wurden gleichfalls erheblich verbessert. Noch 1944 begann die Provisorische Regierung mit einer Reihe von Verstaatlichungen. So wurden u.a. die Bergwerke in Nordfrankreich, die Rüstungsbetriebe Gnome & Rhône und die großen Renault-Automobilwerke nationalisiert. Die 1936 teilweise verstaatlichte Banque de France und vier weitere Großbanken wurden ebenfalls in Staatseigentum überführt; dazu kamen 1946 die Gas- und Elektrizitätsbetriebe und die 34 wichtigsten Versicherungsgesellschaften. Die Unternehmer und Kapitaleigner, die meist durch ihre Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht kompromittiert waren, hatten diesen Maßnahmen wenig entgegenzusetzen. Die politische Grundstimmung war gegen sie. De Gaulle selbst empfing nach seinem Einzug in Paris eine Delegation der Unternehmerschaft mit der Bemerkung, in seinem Londoner Exil sei ihm keiner der Anwesenden begegnet. Gleichwohl erfaßte die Welle der Verstaatlichungen nicht alle Schlüsselbereiche der Wirtschaft; die großen Beteiligungsbanken oder die Eisen- und Stahlerzeugung beispielsweise blieben unberührt. War de Gaulle bei der Durchsetzung der Strukturreformen im Innern eher Exekutor als Motor, so betrachtete er die Lenkung der Außenbeziehungen als seine ureigene Domäne. Seine mitunter anmaßende Prestigepolitik sicherte Frankreich einen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Aufnahme in den Kreis der Siegermächte an der Seite der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion. Diese Statuserhöhung, die in einem eklatanten Gegensatz zum französischen Potential stand, hatte Frankreich nicht zuletzt auch der beharrlichen britischen Fürsprache zu danken.3 Ungeachtet der glänzenden Erfolge der Provisorischen Regierung blieb es nicht aus, daß sich Elan und politische Gemeinsamkeiten des Widerstandes (»Die schwärmerische Illusion der Résistance«) allmählich verloren. Die eine große Partei des Widerstands kam nicht zustande, konnte auch nicht entstehen, da sein
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politisches Spektrum sehr breit gewesen war.4 Es reichte von der patriotischen Rechten bis zur kommunistischen Linken. Die parteipolitischen Gegensätze, die nie erloschen, sondern nur zeitweilig in den Hintergrund getreten waren, lebten bald wieder auf. Aus den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 21. Oktober 1945, bei der sich zugleich 96 Prozent der französischen Wähler gegen die Verfassung der Dritten Republik von 1875 aussprachen, gingen die drei großen Parteien des Landes etwa gleichstark hervor. Die Parti Communiste Français (PCF) erhielt 26 Prozent, die Volksrepublikaner – der Mouvement Républicain Populaire (MRP), eine 1944 gegründete katholische, reformorientierte Sammlungsbewegung – bekamen gut 25 Prozent und die traditionsreiche sozialistische SFIO (Section Française de l’Internationale Ouvrière) erhielt 24 Prozent der abgegebenen Stimmen. In einem Punkt herrschte Einmütigkeit unter den Parteien: in der neuen Verfassung sollte die Schlüsselrolle des Parlaments und damit der politischen Parteien im französischen Regierungssystem verankert werden. In unüberbrückbarem Gegensatz dazu plädierte General de Gaulle für eine starke, vom Parlament relativ unabhängige Exekutive. Er hatte die Abhängigkeit der Regierung von der »Herrschaft der Parteien« immer für schädlich gehalten und darin auch einen Hauptgrund für den Untergang der Dritten Republik mit ihren häufig wechselnden Kabinetten gesehen. Der Staat, so sein Credo, dürfe nicht den Parteien »ausgeliefert« werden. Da er sich mit seinen Vorstellungen nicht durchsetzen konnte, trat er am 20. Januar 1946 überraschend zurück. Mit dem Abgang de Gaulles begann die etwas über ein Jahr währende Periode des sogenannten »Tripartismus«, in der Kommunisten, Sozialisten und Volksrepublikaner gemeinsam die Regierungsverantwortung übernahmen. Vier Kabinette lösten einander während dieser »Vernunftehe« ab, und die heftiger werdenden Kontroversen zwischen PCF, SFIO und MRP glichen bald einem kalten Krieg gegeneinander.5 Die Ausarbeitung der Verfassung geriet zum Marathon. Ein von Sozialisten und Kommunisten favorisierter Entwurf, der ein Einkammersystem vorsah, wurde in der Volksabstimmung vom Mai 1946 verworfen – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Frankreichs. Die Ablehnung erfolgte, wie nachträgliche Umfragen ergaben, vor allem deshalb, weil die Mehrzahl der Wähler den Ambitionen der Kommunisten mißtraute. Der gegenüber dem abgelehnten nicht wesentlich veränderte, von einer neuen Konstituante vorgelegte zweite Verfassungsentwurf wurde in der Volksbefragung vom 13. Oktober 1946 schließlich knapp gebilligt. Die Rechte des Staatspräsidenten waren geringfügig erweitert worden, es war nun auch eine schwache zweite Kammer (Conseil de la République) vorgesehen, doch die Nationalversammlung blieb die beherrschende Institution der Vierten Republik: die Regierungen waren ganz vom Parlament abhängig. De Gaulle spottete nach geringer Beteiligung und knappem Ausgang des Referendums, neun Millionen Franzosen hätten die
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Verfassung akzeptiert, acht Millionen abgelehnt und acht Millionen ignoriert. Seine eigenen Vorstellungen, die auf ein Präsidialsystem hinausliefen, hat er 1946 bald nach seinem Rücktritt in Umrissen mehrfach öffentlich skizziert. Damit bürdete der in der Bevölkerung nach wie vor hochangesehene General der Republik noch in ihrer Geburtsstunde eine schwere Hypothek auf. Doch die verfassungsrechtlichen Grundlagen der »ungeliebten, aber legitimen« Vierten Republik (Jean-Pierre Rioux) waren nun gelegt. Bei den Wahlen zur ersten, fünfjährigen Legislaturperiode der Nationalversammlung am 10. November 1946 wurde die PCF mit beinahe 29 Prozent der Stimmen (ihrem besten Ergebnis nach 1945) stärkste Partei. Der MRP erhielt gut 26 Prozent, und die Sozialisten bekamen nur noch 18 Prozent. Ein Viertel der Sitze ging an eine erstarkende Rechte. Mit der Wahl des Sozialisten Vincent Auriol zum Staatspräsidenten am 16. Januar 1947 war die Einsetzung der politischen Institutionen der Vierten Republik, zweieinhalb Jahre nach der Befreiung von Paris, abgeschlossen. Die Zusammenarbeit der Parteien des »Tripartismus«, die zwar noch über drei Viertel der Parlamentssitze verfügten, sich während der Verfassungsdiskussion aber schwere Wunden geschlagen hatten, wurde zunehmend schwieriger. Zum entscheidenden Zusammenstoß zwischen dem sozialistischen Regierungschef Paul Ramadier und den Kommunisten kam es wegen sozial- und wirtschaftspolitischer Divergenzen. Wie in den meisten europäischen Ländern hatte sich die Wirtschaftslage 1946/47 auch in Frankreich sehr verschlechtert. Die Produktion stagnierte, Lebensmittel wurden knapp, und die Lebenshaltungskosten stiegen steil an. Gleichwohl hielt die Regierung am Lohnstopp zur Bekämpfung der Inflation fest. In der Arbeiterschaft gärte es, und wilde Streiks brachen aus. Die PCF sah sich dadurch bald in der Gefahr, ihren Einfluß in der Arbeiterschaft zu verlieren. In einer Vertrauensabstimmung der Nationalversammlung, die die Regierung Ramadier zwar für sich entscheiden konnte, stimmten PCF und die kommunistischen Kabinettsmitglieder jedoch gegen die Regierung. Das nahm Ramadier am 4. Mai 1947 zum Anlaß, die vier Minister der PCF, darunter auch ihren Vorsitzenden Maurice Thorez, zu entlassen.6 Die Periode des »Tripartismus« war vorüber. In der Vierten Republik ist es danach zu keiner kommunistischen Regierungsbeteiligung mehr gekommen. Für die bis dahin durchaus kooperative PCF kam dieser Bruch überraschend, und auch Ramadier hatte Mühe, für sein Vorgehen die nachträgliche Billigung seiner Partei zu erhalten. Freilich spielte bei dem Ausschluß der Kommunisten auch die Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes eine Rolle. Außenminister Bidault (MRP) war spätestens nach dem Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz (April 1947) mit Ramadier darin einig, daß eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene eine Zukunft habe. Die Entfernung der kommunistischen Minister aus der Regierung war allerdings keine Vorbedingung für die Fortführung der schon seit einiger Zeit laufenden
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amerikanischen Finanzhilfe, sondern eher deren – von den USA durchaus intendierter und begrüßter – Nebeneffekt. Von der Regierung Ramadier befürchtete Unruhen in der Arbeiterschaft blieben aus, die Kommunisten strebten zunächst sogar ihre Rückkehr in die Regierungsverantwortung an. Erst im Herbst 1947, nach der Kominform-Tagung in Polen, vollzog die PCF die radikale Abkehr von ihrem bisherigen Kooperationskurs. Nun schrieb sie die fast schon vergessenen antiimperialistischen und klassenkämpferischen Parolen wieder auf ihre Fahnen und begann eine gewaltige außerparlamentarische Kampagne gegen die Vierte Republik. Diese hatte jetzt nicht nur die PCF, sondern auch die kommunistisch dominierte Gewerkschaft CGT (Confédération Général du Travail) gegen sich. Deren sozialistischer Flügel konstituierte sich im April 1948 als selbständige Gewerkschaft (CGT-FO, Confédération General du Travail-Force Ouvrière). Auch von rechts erwuchs der Republik binnen weniger Monate ein mächtiger Widersacher. General de Gaulle machte sich die Krise von 1947 zunutze und forderte alle Franzosen auf, sich der von ihm ins Leben gerufenen »Sammlungsbewegung des französischen Volkes« (RPF, Rassemblement du Peuple Français) anzuschließen, die die Institutionen der Vierten Republik reformieren, den Kommunismus bekämpfen und das politische Leben Frankreichs von Grund auf erneuern werde. Die Resonanz war groß. In den Kommunalwahlen vom Oktober gleichen Jahres erhielt der RPF, dem sich ironischerweise auch viele ehemalige Vichy-Anhänger zuwandten, 40 Prozent der Stimmen und eroberte die dreizehn größten Städte des Landes. Gaullisten und Kommunisten, die maßgeblich zur Entstehung der Vierten Republik beigetragen hatten, arbeiteten jetzt beide auf deren Sturz hin. Auch außenpolitisch war 1947 ein Jahr der Entscheidung. Frankreich, das zunächst eine eigenständige Rolle zwischen Ost und West gesucht hatte, schloß sich jetzt eindeutig dem westlichen Lager an. In der Deutschlandpolitik fand ebenfalls eine »Neujustierung« (Wilfried Loth) statt. Der Gedanke einer Einbeziehung der drei westlichen Besatzungszonen in einen Westblock gewann bei den Regierungsparteien und in der französischen öffentlichen Meinung die Oberhand.7 Während die Vierte Republik auf parlamentarisch- politischer Ebene zur Instabilität der Dritten Republik zurückzukehren schien, zeigte die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg aufstrebende Tendenz. 1945, nach fünfzehn Jahren Krise und Krieg, galt es, nicht nur den Wiederaufbau in die Wege zu leiten, die französische Wirtschaft mußte zugleich versuchen, ihre Rückständigkeit gegenüber den anderen Industrieländern aufzuholen.8 Am 21. Dezember 1945 wurde das »Commissariat Général au Plan«, eine staatliche Behörde zur Wirtschaftsplanung, ins Leben gerufen. Mit ihrer Leitung beauftragte de Gaulle Jean Monnet, der den General schon im Krieg in
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Wirtschaftsfragen beraten hatte. Der kleine Expertenstab hatte die Aufgabe, in Abstimmung mit den wichtigsten Gruppen des wirtschaftlichen Lebens, gleichsam in einer »konzertierten Aktion«, Rahmenpläne für die Wirtschaftsentwicklung des Landes zu erstellen. Das Planungskommissariat übte keine Produktionskontrolle aus, sondern steuerte die Wirtschaft mit Hilfe von Kreditzuweisung und Rohstoffverteilung. Der Erste Plan (1947–1952) hatte sich das Ziel einer Ankurbelung und Ausweitung der Produktion bei gleichzeitiger Modernisierung der Industrie gesetzt. Der Schwerpunkt des Programmes lag auf den Schlüsselsektoren der Wirtschaft (Kohle, Elektrizität, Eisen/Stahl, Zement) und auf dem Transportwesen. Wenn auch die hochgesteckten Planziele meist nicht erreicht wurden, so lag 1952 die Industrieproduktion insgesamt immerhin um 16 Prozent höher als 1929; das Bruttosozialprodukt und der Lebensstandard von damals wurden in etwa wieder erreicht. Das jährliche Wirtschaftswachstum war mit durchschnittlich 4,5 Prozent (Industrieproduktion: 7 Prozent) zwar geringer als in Deutschland und Italien, angesichts jahrzehntelanger Stagnation in Frankreich war dies aber ein »unleugbar großartiger« Erfolg,9 zumal auf der französischen Volkswirtschaft die ständigen Aufwendungen für den Krieg in Indochina und später in Algerien lasteten. Das Schwergewicht des Zweiten Plans (1954–1957) lag auf der Förderung des technischen Fortschritts, der Ausbildung und Umschulung in der Industrie und auf der verstärkten Konsumgüterproduktion. Auch in dieser Planperiode wurden beachtliche Ergebnisse erzielt. Gegenüber 1952 war das Sozialprodukt 1957 um 20 Prozent, die Industrieproduktion um 46 Prozent gewachsen. Überhaupt war die »Planification française«10 – ebenso wie die staatliche Verwaltung – ein wichtiges Element der Stabilität und Kontinuität in der politisch instabilen Vierten Republik. Freilich können die positiven Resultate nach 1945 nicht allein auf die Wirtschaftsplanung zurückgeführt werden. Die Verstaatlichungen und die allgemeine Ausweitung des öffentlichen Sektors waren gleichfalls wichtige Voraussetzungen einer wirksamen Wirtschaftssteuerung. Die guten Wirtschaftsergebnisse in wichtigen Sektoren führten zu einer allgemeinen, in Frankreich bis dahin durchaus nicht selbstverständlichen Anerkennung der Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums. Darin habe, so die Wirtschaftshistoriker François Caron und Jean Bouvier, die eigentliche »Revolution« von 1945 bestanden.11 Ohne die massive Finanzhilfe der Vereinigten Staaten, die sehr um eine baldige wirtschaftliche und politische Stabilisierung Frankreichs besorgt waren, wäre der rasche französische Wirtschaftsaufschwung nicht möglich gewesen. Die amerikanische Unterstützung belief sich zwischen 1945 und 1953 auf wenigstens sechs Milliarden Dollar. Mehr als ein Drittel dieser Summe hatte Frankreich schon erhalten, bevor es aus dem Marshallplan-Programm noch einmal 2,8 Milliarden Dollar in Anspruch nehmen konnte. (Die französischen Kriegsschulden waren schon durch das Blum-Byrnes-Abkommen vom 28. Mai
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1946 von beinahe 3,5 Milliarden auf 700 Millionen Dollar reduziert worden.) Erst mit diesen Geldern war die chronische Dollarknappheit so weit zu beheben, daß die für einen wirtschaftlichen Aufschwung unabdingbaren Einfuhrgüter bezahlt werden konnten. Stimulierende Wirkung auf die Entwicklung der Wirtschaft ging auch von einem im Krieg einsetzenden Bevölkerungswachstum aus. (Der Zuwachs der Bevölkerung von 1940 bis 1960 war mit knapp 10 Millionen Einwohnern mehr als doppelt so hoch wie zwischen 1840 und 1940.) Dem Wirtschaftsleben flossen leistungsfähige jüngere Kräfte zu, und die Nachfrage erfuhr eine zusätzliche Belebung. Das Kardinalproblem der Wirtschaft in Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg, die Geldentwertung, bekamen aber auch die Regierungen der Vierten Republik nicht in den Griff. De Gaulle hatte sich 1945 gegen den unpopulären Schritt einer Währungsreform entschieden. Doch die statt dessen eingeleiteten staatlichen Kontrollmaßnahmen konnten die Inflation nicht bremsen. Zum stärksten Preisauftrieb kam es in den Jahren des akuten Mangels unmittelbar nach Kriegsende. Der Index der Einzelhandelspreise stieg von 100 (1938) auf 285 (1944) und schließlich auf 1817 (1949). Der schwache Franc (1944: 1 Dollar = 80 Franc; 1949: 1 Dollar = 420 Franc) erfuhr zwischen 1945 und 1957 nicht weniger als sieben Abwertungen. Am Ende der zweiten Planperiode (1957) belief sich das nur mit amerikanischen Krediten zu mildernde französische Zahlungsbilanzdefizit auf über eineinhalb Milliarden Dollar.12 Gewinner der Inflation waren u.a. die expandierenden Unternehmen des industriellen Sektors und der Staat selbst, die sich zur Finanzierung ihrer Investitionen stark verschuldet hatten. Auch Bauern und kleine Händler erlebten in der stärksten Inflationsperiode noch einmal fette Jahre. Doch bald bekamen die mittelständischen Schichten die Folgen von Expansion und Modernisierung der französischen Volkswirtschaft zu spüren. So führte die in anderen Industrieländern viel früher einsetzende Schrumpfung des Agrarsektors in Frankreich erst Jahre nach dem Krieg zu einer Landflucht und zu einer »beispiellosen Verlagerung der Bevölkerung in die Stadtgebiete«.13 Viele der für Frankreich typischen kleinen, technisch rückständigen landwirtschaftlichen Familienbetriebe gerieten in Bedrängnis. Der Kleinhandel, das Handwerk, der gesamte gewerbliche Mittelstand sah sich einem Konzentrationsprozeß gegenüber, der seine wirtschaftliche Existenz gefährdete. Mitte der fünfziger Jahre schlug sich der soziale Protest des Mittelstandes, der sich als Stiefkind des französischen wirtschaftlichen Aufschwungs sah, in der vorübergehend überraschend starken kleinbürgerlich-radikalen »Anti- Bewegung« des Poujadismus nieder. Bis Mitte der fünfziger Jahre zerbrach die Mehrzahl der Kabinette an den sozial- und wirtschaftspolitischen Gegensätzen zwischen den Parteien. So haben die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der raschen Strukturveränderung des Landes – und die Schwierigkeiten der Regierungen bei
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deren Bewältigung – nach 1945 mit zu der notorischen politischen Instabilität der Vierten Republik beigetragen. Nach dem Ende des »Tripartismus« im Frühjahr 1947 stützten sich die folgenden, häufig wechselnden Regierungen – dreiundzwanzig waren es in der zwölfjährigen Existenz der Vierten Republik – auf die Parteien der sogenannten »Dritten Kraft«. MRP und SFIO waren nach dem Ausscheiden der Kommunisten darauf angewiesen, bei den kleinen Parteien der Mitte und der Rechten Unterstützung zu suchen, d.h. bei der bestimmenden Partei der Dritten Republik, den liberal-konservativen, laizistischen »Radikalsozialisten«, bei den rechten »Gemäßigten« und bei der aus der Résistance hervorgegangenen »Demokratisch Sozialistischen Widerstandsunion« René Plevens. Hauptmerkmal dieser Allianz war ihre innere Zerrissenheit. So herrschten z.B. zwischen den Radikalsozialisten und Sozialisten auf der einen und dem MRP auf der anderen Seite in der Frage der Konfessionsschule ebenso unversöhnliche Gegensätze wie zwischen SFIO und MRP auf der einen und Radikalsozialisten und Gemäßigten auf der anderen Seite in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht: die typische Konstellation sich überkreuzender Fronten zwischen und sogar innerhalb der einzelnen Parteien, von der die Handlungsschwäche und der politische Immobilismus der Vierten Republik auch herrührten. Ihren Minimalkonsens fand die regierende Koalition in der Abwehr des inner- und außerparlamentarischen Drucks von PCF und RPF. Die neun Regierungen der allmählich nach rechts driftenden Allianz der »Dritten Kraft«, denen seit 1947 kein sozialistischer Ministerpräsident mehr vorstand, wurden von den MRP-Politikern Robert Schuman und Georges Bidault, von den Radikalsozialisten Henri Queuille und Andre Marie sowie von René Pleven gebildet. Das Ministerpersonal erfuhr keine großen Veränderungen, so daß Andre Siegfried in seiner Geschichte der Vierten Republik von einem »Schachspiel der Parteien« sprechen konnte14, das wenig Veränderungen brachte, in der französischen Öffentlichkeit wie im Ausland aber auf wachsendes Unverständnis stieß. Das zersplitterte Bündnis der »Dritten Kraft« hatte dem Druck der großen Verbände wenig entgegenzusetzen; nach einem Wort von Ministerpräsident Henri Queuille bestand die Politik damals nicht darin, Probleme zu lösen, als vielmehr jene zu besänftigen, von denen sie aufgeworfen wurden. Das Ende der Allianz der »Dritten Kraft« kam bald nach den Wahlen zur zweiten Legislaturperiode der Nationalversammlung, die am 17. Juni 1951 stattfanden. Die beiden Parteien, die seit Bestehen der Vierten Republik eine herausragende Rolle gespielt hatten, erlitten eine Niederlage. Die Volksrepublikaner verloren die Hälfte, die Sozialisten ein Drittel ihrer Wähler. Nur ein noch rasch verabschiedeter, die Parteien der bisherigen Koalition begünstigender neuer Wahlmodus verhinderte, daß Kommunisten und Gaullisten die Mehrheit der Sitze erhielten; so brachten sie es zusammen auf nur
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rund ein Drittel der Mandate. Stärkste Fraktion im Parlament waren nun die Gaullisten. Die Parteien der Mitte und der Rechten hatten ebenfalls Stimmengewinne zu verzeichnen. Der gaullistische RPF, eigentlich eine der »Herrschaft der Parteien« feindlich gegenüberstehende »Bewegung«, nahm nun eine Schlüsselrolle im Parlament ein. Zunächst gelang es ihm, über der Frage der Konfessionsschulen die alte Mehrheit zu spalten, und bald darauf – im März 1952 – verhalfen 27 gaullistische Dissidenten, die Geschmack am Parlamentarismus gefunden hatten, mit der Wahl von Ministerpräsident Antoine Pinay (Unabhängige Republikaner) der konservativsten Regierungskoalition seit zwanzig Jahren in den Sattel.15 Die gaullistische Unterstützung der Mitte-Rechts- Koalitionen in den beiden folgenden Jahren hatte ihren Preis. Außenpolitisch geriet Frankreich in einen bedenklichen Immobilismus, weil bis 1954 kein Kabinett die Kraft aufbrachte, gegen die erbitterte Opposition der Gaullisten eine Entscheidung der Nationalversammlung über das Schicksal der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) herbeizuführen. Die EVG ging auf eine Initiative des französischen Ministerpräsidenten Rene Pleven aus dem Jahre 1950 zurück, die dem amerikanischen Drängen auf eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands mit dem für Frankreich eher akzeptablen Plan einer integrierten europäischen Streitmacht unter Einschluß deutscher Kontingente begegnet war. Während dieser Gedanke in den USA und bei den europäischen Partnerländern immer mehr Unterstützung gefunden hatte (am 27.5.1952 unterzeichneten die sechs beteiligten europäischen Länder die EVG-Verträge), war in Frankreich das Lager der EVG-Gegner immer stärker geworden. Aus ganz unterschiedlichen Motiven gehörten ihm neben den Gaullisten und Kommunisten auch Teile der SFIO und sogar eine kleine Gruppe des ansonsten entschieden für eine europäische Integration eintretenden MRP an. Außerdem sah sich die zerklüftete, immer wieder von langen Regierungskrisen erschütterte Mitte-Rechts-Koalition einer oppositionellen Linken, den Gewerkschaften und einem Konglomerat sozial Unzufriedener gegenüber, das von Angehörigen des öffentlichen Dienstes über die Weinbauern des Midi bis zur Industriearbeiterschaft reichte. Im Sommer 1953 kam es zu einer von gewaltsamen Protesten begleiteten Woge sozialer Unruhe und Streikaktionen gegen die Koalition »der Rechten«, die eine an sich erfolgreiche, aber mit sozialen Härten einhergehende antiinflationäre Sparpolitik betrieb. Die »allgemeine Lähmung«16 der Republik, die in den Krisen der MitteRechts-Allianz deutlich wurde, wurde durch das ebenso bezeichnende wie entwürdigende Schauspiel der Wahl des Staatspräsidenten Ende 1953 noch unterstrichen. Erst im dreizehnten Wahlgang konnte sich das Wahlgremium auf René Coty, einen Mann der rechten Mitte, einigen. Als Vizepräsident der zweiten Kammer ein allgemein respektierter Politiker, war er doch »aus dem Holz, aus dem die Präsidenten der Dritten Republik geschnitzt waren« (Philip Williams). Seine Wahl zum französischen Staatspräsidenten schien zu symbolisieren, daß
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die Zeit der großen Ideen der Résistance und Libération endgültig vorüber war.17 Ein halbes Jahr nach seiner Wahl, im Juni 1954, schlug der neue Staatspräsident der Nationalversammlung den Radikalsozialisten Pierre Mendès- France als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten vor. Da seine Regierung vor allem eine Gesundung der französischen Finanzen herbeizuführen und gleichzeitig die Modernisierung der Wirtschaft voranzutreiben gedachte, wollte sie zunächst zwei Hypotheken abtragen, die das Land seit Jahren belasteten: den Krieg in Indochina und den innenpolitischen Kampf um die EVG-Verträge. Mendès-France, der 1945 aus der Provisorischen Regierung ausgetreten war, weil de Gaulle entgegen seinem Rat einen radikalen Währungsschnitt vermieden hatte, gehörte zu den Ausnahmeerscheinungen der Vierten Republik. Dem Parlament, dem er schon in den dreißiger Jahren angehört hatte, trat er wie einer gegenüber, der sich den Ritualen und der Ranküne der Parteien nicht zu unterwerfen gedachte. Nach links tendierend, ideologisch aber nicht festgelegt, als Wirtschafts- und Finanzexperte hochgeachtet, rhetorisch brillant und von beträchtlicher persönlicher Ausstrahlung, hatte er in scharfer Sprache und in strenger Orientierung an Sachproblemen von den Abgeordneten die Unterstützung für sein Programm gefordert. Ein »scharfer Luftzug« schien durch die Nationalversammlung zu wehen (Wolfgang Wagner). Weite Kreise der Öffentlichkeit, insbesondere der Jugend, die der chronischen Handlungsschwäche der Republik seit langem überdrüssig waren, wandten sich diesem Mann zu. Mendès-France enttäuschte sie nicht. Ohne das übliche parteipolitische Taktieren bildete er in wenigen Tagen ein Expertenkabinett. Zwei Drittel der Abgeordneten (darunter zum erstenmal seit 1947 auch die Kommunisten) sprachen der Regierung am 18. Juni 1954 das Vertrauen aus.18 Das Tempo, in dem die Regierung Mendès-France zu Werke ging, war atemberaubend. Binnen fünf Wochen gelang es, das Land aus dem Kolonialkrieg in Indochina herauszuführen, in den Frankreich seit Ende des Zweiten Weltkrieges verstrickt war. Über 90000 französische Soldaten waren seitdem gefallen, die verheerende Niederlage bei Dien Bien Phu Anfang Mai 1954 hatte allein 16000 Tote und Gefangene gekostet. Auch die finanziellen Belastungen konnte Frankreich nicht mehr verkraften, obgleich die USA bereits 70 Prozent der Kosten trugen. Gemäß dem am 21. Juli 1954 unterzeichneten Genfer Abkommen konnte Frankreich mit dem Abzug seiner Truppen beginnen. Die Franzosen atmeten auf. Zum erstenmal, so sagten sie, sei es einem Verlierer gelungen, dem Sieger ein Ultimatum zu stellen. (Mendès-France hatte mit der Eskalation des Krieges gedroht, falls die Verhandlungen scheitern sollten.) Es war nicht zu leugnen, daß die französische Armee in Indochina eine schwere Niederlage erlitten hatte. Die Hauptverantwortung daran schoben die Militärs »der Politik«, der kraftlosen Vierten Republik zu.
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Auch die Entlassung Tunesiens in die Unabhängigkeit, die im März 1956 besiegelt werden konnte, beschleunigte Mendès-France mit spektakulären Schritten. (Marokko wurde im selben Monat souverän, die meisten schwarzafrikanischen französischen Kolonien wurden 1960 unabhängig.) Mendès-France beurteilte den französischen Kolonialbesitz, den noch viele in Frankreich für das angemessene Statussymbol einer Großmacht hielten, nach seinem praktischen Nutzen. Insbesondere täuschte er sich nicht darüber, daß nationaler Wohlstand und nationale Handlungsfähigkeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts weniger denn je auf dem Besitz »ferner Länder«, vielmehr auf heimischer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit beruhten.19 Bei der Liquidierung des Indochina-Krieges wußte Mendès-France Parteien und Bevölkerung mehrheitlich hinter sich. Der Streit um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft war dagegen zu einem regelrechten »Glaubenskrieg« geworden.20 Es war 1954 völlig ungewiß, ob die »Europäer« (praktisch der ganze MRP, die Hälfte der Sozialisten, ein Teil der Radikalen) oder die »AntiEuropäer« (Gaullisten, Kommunisten, die Hälfte der SFIO), wie man damals vereinfachend sagte, die stärkeren Bataillone auf ihrer Seite hatten. Die Anhänger der EVG betonten deren Bedeutung als einen weiteren Schritt auf dem Wege zu einer echten politischen Union Europas, der mit der von Robert Schuman im Mai 1950 initiierten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montan-Union) betreten worden sei. Die Vertragsgegner wollten sich vor allem nicht damit abfinden, daß die französischen Streitkräfte in einer supranationalen Organisation aufgehen sollten. Die verfahrene Lage wurde deutlich, als Mendès- France Nachverhandlungen einleiten wollte, die von den europäischen Vertragspartnern aber abgelehnt wurden. In Frankreich schlugen die »Europäer« Alarm, weil sie den europapolitischen Gehalt der Verträge gefährdet sahen. Die Gaullisten waren empört, weil ein im Ansatz verfehltes Konzept in ihren Augen nicht verbesserungsfähig war. Drei ihrer Minister verließen deshalb die Regierung. Drei »europäische« Minister traten zurück, als Mendès-France sich entschloß, die EVG-Verträge ohne eine befürwortende Stellungnahme der Regierung der Nationalversammlung zur Ratifizierung vorzulegen, was die Chancen der Verträge zweifellos noch weiter verschlechterte. Mit über fünfzig Stimmen Mehrheit beschloß das Parlament am 30. August 1954, gar nicht erst in eine Debatte der Verträge einzutreten. Damit war das Projekt, das vier Jahre zuvor von einem französischen Ministerpräsidenten vorgeschlagen worden war, gescheitert. Die Tatsache der deutschen Wiederbewaffnung allein hat bei der Ablehnung der EVG nicht die ausschlaggebende Rolle gespielt. Das zeigte sich, als bald darauf die »Pariser Verträge« (23. Oktober 1954), die u.a. die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland und damit auch deutscher Streitkräfte in die NATO vorsahen, das Parlament passieren konnten. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles nannte den französischen Regierungschef
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daraufhin einen »Supermann«, ein Attribut, das auch viele Franzosen Pierre Mendès-France, einem der wenigen wirklich populären Ministerpräsidenten der Vierten Republik, wohl zuerkannt hätten. Doch die Tage seiner Regierung waren gezählt. Die Parteien, denen der »beunruhigende Autoritarismus« (Jacques Julliard) und die Versuche des Regierungschefs, einen direkten Dialog mit dem Lande in Gang zu setzen, zunehmend verdächtig geworden waren, präsentierten MendèsFrance am 6. Februar 1955 die Rechnung für den kühnen Kurs der letzten Monate. In einer Debatte über die Nordafrikapolitik fiel die Regierung der »Vendetta der EVG-Anhänger«21 zum Opfer; auch die Kommunisten hatten Mendès-France, der sich zu ihrer Enttäuschung als »Atlantiker« entpuppt hatte, die Unterstützung entzogen. Zu den inneren Reformen, dem eigentlichen Ziel der Regierung Mendès-France, kam es nicht mehr. Die Parteien hatten die Oberhand behalten, doch die Mißstimmung gegen die »Herrschaft der Parteien«, die mehr mit den eigenen als den Problemen des Landes beschäftigt schienen, wuchs. Hundert Tage nach dem Ende des Indochina-Krieges und hundert Tage vor dem Sturz der Regierung Mendès-France sah sich die Vierte Republik einem Konflikt gegenüber, der ihr schließlich zum Verhängnis werden sollte. Der am 1. November 1954 mit einem Aufstand algerischer Nationalisten ausbrechende Algerienkrieg (1954–1962)22 war nicht einfach ein neuer Kolonialkrieg, sondern ein Bürgerkrieg, da Algerien keine Kolonie im üblichen Sinne, sondern (seit 1881) ein Teil des französischen Mutterlandes war. Die knapp eine Million weißer Siedler (»Algerienfranzosen«) hatten gegenüber den 8,5 Millionen Einheimischen ein deutliches wirtschaftliches und politisches Übergewicht. Daran hatte sich auch nach Verkündung des Algerien-Statutes von 1947 nichts geändert. Die Assimilation des moslemischen Bevölkerungsteiles war nie ernsthaft betrieben worden. Das Jahr 1955 hindurch, während der Regierungszeit des Radikalsozialisten Edgar Faure, der angesichts der bevorstehenden Wahlen definitive Entscheidungen in der Algerien-Frage vermeiden wollte, trug das französische Vorgehen in Algerien noch den Charakter einer Polizeiaktion. Man hoffte, damit dem algerischen »Terror« beizukommen. Doch es war zu spät: die militante Befreiungsbewegung FLN (Front de Libération Nationale) hatte sich die nationale Unabhängigkeit des Landes zum Ziel gesetzt. Die Anfang 1956 abgehaltenen Wahlen zur Nationalversammlung, die letzten der Vierten Republik, veränderten die politische Landschaft noch einmal beträchtlich. Sie brachten einen Linksruck, doch wiederum ergab sich keine Basis für eine stabile Mehrheit. Der RPF, von dem sich de Gaulle schon 1953 losgesagt hatte und der seitdem in kommunalen Wahlen ständig zurückgegangen war, verlor vier Fünftel seiner Stimmen. Sozialisten und Kommunisten konnten sich behaupten. Der linke »mendesistische« Flügel der Radikalsozialisten verbuchte zehn Prozent der Stimmen. Die eigentliche Überraschung war das Abschneiden der antiparlamentarisch-demagogischen Sammlungsbewegung des
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Schreibwarenhändlers Pierre Poujade.23 Die »Anti-Partei« eines unzufriedenen Mittelstandes, der von den Strukturveränderungen der französischen Volkswirtschaft am stärksten betroffen worden war, errang mit 11,5 Prozent mehr Stimmen als die Volksdemokraten. Am 31. Januar 1956 bildete der Sozialist Guy Mollet, gestützt auf die sogenannte »Republikanische Front« aus Sozialisten, Radikalsozialisten und kleineren Gruppierungen der linken Mitte, eine Minderheitsregierung, die sich mit beinahe siebzehn Monaten länger halten konnte als alle anderen Regierungen der Vierten Republik. (Am 25. März 1957 unterzeichnete der Ministerpräsident die Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.24) Während der Regierungszeit Guy Mollets, der noch im Wahlkampf gegen die »Politik der Repression« und für eine versöhnliche Lösung in Algerien plädiert hatte, brach der Krieg in Nordafrika in seiner ganzen Wucht und Brutalität los. Dem Ministerpräsidenten unterlief gleich nach Amtsantritt ein schwerer Fehler, wie er später selbst eingestand. Als er am 6. Februar 1956 Algier besuchte, um dort einen neuen, liberalen Generalresidenten einzusetzen, wurde er von protestierenden Algerienfranzosen, die eine linke »Politik des Verzichts« fürchteten, mit faulen Tomaten empfangen. Guy Mollet beugte sich der Forderung der Siedler und zog seinen Kandidaten sofort wieder zurück. Das war nicht nur ein Zeichen der Schwäche der Pariser Zentralregierung, es machte auch den letzten noch kooperationsbereiten Algeriern deutlich, daß Paris »die allmächtige Minderheit gegen die gedemütigte Mehrheit«25 unterstützte. In der folgenden Eskalation der Gewalt setzte die französische Regierung zunehmend auf eine militärische Lösung. Fast eine halbe Million Mann, der größte Teil der französischen Armee, stand 1956/57 schließlich in Algerien. Auf zwei Siedler traf ein Soldat. Damit spielte eine Armee die Schlüsselrolle, die sich schon seit Indochina und erneut durch den im November 1956 von den beiden Supermächten erzwungenen Abbruch des britisch-französischen Suezabenteuers (mit dem u.a. auch die von Nasser unterstützte algerische Befreiungsbewegung getroffen werden sollte) von »der Politik« um greifbar nahe Erfolge gebracht glaubte. Jetzt gedachte sie, den von Paris erhaltenen Auftrag zur »Pazifizierung« Algeriens nach eigenen Vorstellungen zu erledigen. In den Jahren des Indochinakrieges war ein großer Teil des Offizierskorps zu der Ansicht gekommen, daß ein Krieg gegen revolutionäre Bewegungen nur mit revolutionären Mitteln gewonnen werden konnte. Nach dieser Auffassung gehörte dazu die Indoktrinierung der Bevölkerung ebenso wie die Folter. In der Erhaltung eines »Algérie française« sahen die Streitkräfte bald eine missionarische Aufgabe. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Armee bei der Durchführung ihres politischen Auftrages selbst politisiert wurde.26 Die Ausweitung des Krieges führte neben neuerlichen wirtschaftlichen Belastungen zu einer regelrechten moralischen Krise des Landes, die Anfang 1958 schließlich in eine Staatskrise mündete. Die Regierung versuchte nämlich,
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das brutale Vorgehen der Armee in Algerien zu decken. Sie griff in die Berichterstattung der Presse ein, Kritiker der französischen Kriegführung sahen sich der Einschüchterung und Verfolgung durch die Justizbehörden ausgesetzt. Die Armee hielt die Kritik zu Hause oft einfach für Landesverrat und glaubte sich von Paris ungenügend unterstützt. Während die Streitkräfte in Algerien das Heft fester in die Hand nahmen, zerfiel die Staatsautorität in Frankreich zusehends. Schließlich zogen in Paris sogar die Polizisten mit antiparlamentarischen Parolen vor die Nationalversammlung. Das »algerische Krebsgeschwür« (Jacques Julliard) hatte den gesamten französischen Organismus ergriffen. Der unlösbar scheinende Konflikt um Algerien zog sich, von Generalsrebellionen und blutigen Auseinandersetzungen begleitet, noch Jahre hin, ehe im Vertrag von Evian (18. März 1962) eine Regelung zwischen Frankreich und der algerischen Exilregierung gefunden werden konnte, die dem Land schließlich die nationale Unabhängigkeit brachte. Die Vierte Republik fand keine Kraft mehr, diesen Konflikt zu lösen, ihre Tage waren gezählt. Daran konnten nach dem Sturz Mollets im Mai 1957 auch zwei weitere neu gebildete Regierungen nichts mehr ändern: »Die Vierte Republik zerbröckelte von der Spitze wie von der Basis her.«27 Eine »politische Institution« in Frankreich hatte allerdings ihre Autorität wahren können: General de Gaulle – seit dem Krieg der lebende Mythos der Rettung Frankreichs. Er wurde zum Mittelpunkt der Bemühungen, einen Ausweg aus der verfahrenen Lage zu finden. Eine regelrechte Wallfahrt von Politikern jeglicher Couleur zu de Gaulle nach Colombey-les- deux-Eglises setzte ein. Seine Stunde kam, als die Staatskrise ihren Höhepunkt erreichte. Am 13. Mai 1958 wurde der Volksrepublikaner Pierre Pflimlin, der für seine versöhnliche Haltung in der Algerienfrage bekannt war, zum Ministerpräsidenten gewählt. Am selben Tag stürmten Algerienfranzosen und Teile der Armee, die darin den ersten Schritt zur Kapitulation vor der FLN sahen, das Generalgouvernement in Algier und richteten einen sogenannten »Wohlfahrtsausschuß« ein. Ministerpräsident Pflimlin übertrug daraufhin dem General Raoul Salan alle Vollmachten, die Lage in Algier unter Kontrolle zu bringen, doch auch dieser machte keinen Hehl daraus, daß er mit einer Rückkehr de Gaulles an die Macht sympathisierte. Die Regierung in Paris mußte jederzeit mit einer Intervention der Armee und der Luftwaffe in Frankreich selbst rechnen, sie konnte sich der Polizei nicht mehr sicher sein, die Verwaltung verhielt sich passiv.28 Am 28. Mai trat Pierre Pflimlin zurück, einen Tag später verkündete Staatspräsident Coty, auch er werde zurücktreten, falls die Nationalversammlung nicht de Gaulle zum Ministerpräsidenten wähle. Am Sonntag, dem 1. Juni 1958, trat de Gaulle, von dem alle am Konflikt beteiligten Seiten glaubten, er werde in ihrem Sinne handeln, vor das Parlament, hielt die kürzeste Investiturrede in der kurzen Geschichte der Vierten Republik und wurde mit hundert Stimmen Mehrheit zum Regierungschef gewählt. Zudem erhielt er das für ihn entscheidende Zugeständnis: Seine Regierung –
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nicht etwa eine Konstituante – sollte eine neue französische Verfassung ausarbeiten und zum Volksentscheid vorlegen. Am 29. September 1958 billigten die französischen Wähler mit vier Fünfteln der abgegebenen Stimmen die neue Präsidialverfassung. Sie waren der Herrschaft des Parlaments und des »Schachspiels der Parteien« endgültig überdrüssig. Mit beinahe der gleichen Einmütigkeit wie schon 1945 von der Dritten Republik nahmen die Franzosen nun von der Vierten Republik Abschied. Keine Hand hatte sich zu ihrer Verteidigung gerührt. So erlag sie schließlich weniger dem Ansturm ihrer Gegner als der eigenen inneren Schwäche. IV. Bundesrepublik Deutschland Von Wolfgang Benz Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 7./9. Mai 1945 endete, eine Woche nach dem Selbstmord Hitlers, die nationalsozialistische Diktatur und mit ihr die staatliche Existenz des Deutschen Reiches. Die Regierungsgewalt ging, wie die vier alliierten Oberbefehlshaber in der Berliner Erklärung am 5. Juni 1945 feststellten, auf die Siegermächte über. Definiert war der Begriff Deutschland noch als das Territorium des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937, d.h. ohne die Annexionen und Eroberungen des NS-Regimes. Daß der »Anschluß« Österreichs nach der deutschen Niederlage hinfällig würde, war längst beschlossene Sache; die in Potsdam von Truman und Attlee zögernd sanktionierte Abtrennung deutscher Ostgebiete zugunsten Polens und der Sowjetunion schränkte die Bezeichnung Deutschland weiter ein, sie stand ab Sommer 1945 für das Territorium der vier Besatzungszonen. Im Westen gehörte das Saargebiet bald nicht mehr dazu, die Franzosen gliederten es – mit stillschweigender Duldung der Amerikaner und Briten – aus ihrer Zone aus und schlössen es allmählich dem französischen Währungs- und Zollgebiet an, um es gegen Rest-Deutschland abzugrenzen. Die Besatzungsmächte hatten kein deutschlandpolitisches Programm, das über die vordergründigen Besatzungsziele – Abrüstung, Entmilitarisierung, Wiedergutmachung, Bestrafung, Reduzierung des deutschen Industriepotentials – hinausreichte, und die Vorstellungen über die Realisierung des positiven Besatzungsprogramms – Demokratisierung und Zurückführung Deutschlands in die Gemeinschaft der demokratischen Völker -waren unter den Siegermächten denkbar verschieden.1 Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 hatten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion über die Grundsätze der Behandlung des besiegten Deutschland Beschlüsse gefaßt, die die Politik der alliierten Kriegskonferenzen von Teheran (November 1943) und Jalta (Februar 1945) teils in die Tat umsetzten, teils stillschweigend revidierten. Es schien, als sei das Ziel der Zerstückelung Deutschlands aufgegeben worden, denn die Vertreter der drei Weltmächte waren übereingekommen, das in vier Besatzungszonen aufgeteilte Deutschland
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in wirtschaftlicher Hinsicht als Einheit zu behandeln und in absehbarer Zeit deutsche Zentralbehörden (als Hilfsorgane des Alliierten Kontrollrats in Berlin, in dem die vier Militärgouverneure gemeinsam die oberste Gewalt über Deutschland ausüben sollten) zu schaffen. Frankreich, das zur Potsdamer Konferenz nicht zugezogen war, fühlte sich durch die dürftigen Konferenzergebnisse vom August 1945 überhaupt nicht gebunden und verfolgte in erster Linie seine Sicherheitsinteressen, denen ein möglichst zersplittertes Deutschland am besten zu entsprechen schien; im Vordergrund der französischen Politik stand auch die Schwächung der deutschen Wirtschaft und die Stärkung der eigenen. Zur Durchsetzung der Forderungen auf Abtrennung des Saargebiets und nach einer Internationalisierung des Ruhrgebiets hatte der französische Vertreter im Alliierten Kontrollrat strikte Anweisung zur Obstruktion. Das in Potsdam beschlossene Reparationsprogramm sah drastische Eingriffe in die deutsche Wirtschaft vor, aber im Unterschied zum Versailler Vertrag von 1919 wurden statt langfristiger Zahlungen und Entnahmen aus der laufenden Industrieproduktion das gesamte deutsche Auslandsvermögen sequestriert und die Demontage eines beträchtlichen Teils der deutschen Industrie in Aussicht genommen. Die UdSSR sollte ihre Ansprüche in ihrer Zone befriedigen, darüber hinaus – teilweise im Tausch gegen Nahrungsmittel und Rohstoffe – Fabrikausrüstungen aus den Westzonen erhalten. Nach langen Verhandlungen im Alliierten Kontrollrat wurde im März 1946 der »Industrieplan« bekanntgegeben, nach dem die deutsche Nachkriegswirtschaft zur Aufrechterhaltung eines Lebensstandards, der nicht höher liegen durfte als der europäische Durchschnitt, auf das Niveau des Krisenjahres 1932 herabgesetzt werden sollte. Der Industrieplan unterschied grundsätzlich verbotene Industrien, und zwar außer Waffen, Kriegsgerät, Flugzeugen und Hochseeschiffen aller Art auch synthetische Mineralöle, Gummi, Ammoniak, Kugellager, bestimmte schwere Werkzeugmaschinen, schwere Traktoren, Rohaluminium, Magnesium, Beryllium, Vanadium, radioaktive Substanzen, Funksendeeinrichtungen und anderes mehr. Der Industrieplan, so fehlerhaft seine statistischen und ökonomischen Prämissen waren, hatte immerhin auf dem Konzept eines alle vier Zonen umfassenden Wirtschaftsraums basiert; er blieb freilich Theorie, da sich weder Frankreich noch die Sowjetunion an das Potsdamer Protokoll hielten. Die übermäßige Ausbeutung ihrer Zonen bewirkte zwangsläufig Mangel in den anderen Besatzungsgebieten, de facto bezahlten Amerikaner und Großbritannien Reparationen an Frankreich und die Sowjetunion, wenn sie die Deutschen in ihren beiden Zonen nicht Hungers sterben lassen wollten. Nach Ermahnungen an seine französischen und sowjetischen Kollegen verfügte General Clay, damals noch stellvertretender Militärgouverneur, aber schon der entscheidende Mann in der US- Zone, Anfang Mai 1946 einen demonstrativen Demontagestopp, der den Abfluß von Gütern aus der amerikanischen in die sowjetische und die
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französische Zone verhinderte. Nach einem Jahr alliierter Besatzungsherrschaft waren die vier Zonen hermetisch gegeneinander abgeschlossen.2 Da der Alliierte Kontrollrat in Berlin als Koordinierungsorgan nicht funktionierte, schalteten und walteten die vier Militärgouverneure in ihren Zonen in eigener Regie, mit dem Ergebnis, daß sich praktisch alles, von der Wirtschaft über den Neuaufbau von Institutionen und Organisationen bis zur Durchführung der Entnazifizierung, auseinander entwickelte. Wegen der massiven Eingriffe der sowjetischen Militäradministration – Bodenreform, Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED und andere revolutionäre Veränderungen gesellschaftlicher und politischer Strukturen – driftete die Ostzone immer stärker von den Westzonen ab. Die Entfaltungsmöglichkeiten deutscher Politik (die natürlich in allen Zonen zunächst Auftragsverwaltung war) waren in der französischen Zone besonders beschränkt, sie endeten dort spätestens auf der Ebene der drei Länder im deutschen Südwesten. In der US- Zone gab es dagegen seit Herbst 1945 eine deutsche politische Repräsentanz oberhalb der Länderebene, den Länderrat in Stuttgart, und in der britischen Zone gab es seit 1946 wenigstens ein quasiparlamentarisches deutsches Beratungsorgan der Militärregierung, den Zonenbeirat in Hamburg. In der berühmten Rede am 6. September 1946 in Stuttgart verdeutlichte Außenminister James F. Byrnes die Grundlinien der amerikanischen Deutschlandpolitik. Byrnes betonte nachdrücklich die Absicht der Amerikaner, an den wesentlichen Vereinbarungen von Potsdam festzuhalten, vor allem an der Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit.3 Dies sollte notfalls in kleinerem Rahmen geschehen, und die Vorbereitungen dazu waren in vollem Gange: Großbritannien hatte bereits Ende Juli die Offerte zum Zusammenschluß seines Besatzungsgebiets mit der US- Zone angenommen. Paris und Moskau hatten erwartungsgemäß die Einladung zur Zonenfusion ausgeschlagen. Das anglo-amerikanische Abkommen, das am 1. Januar 1947 in Kraft trat, war ein erster, freilich noch nicht zielstrebiger Schritt zum deutschen Weststaat. So peinlich es vermieden wurde, der Bizone irgendwelche Insignien von Staatlichkeit zu verleihen, so wurde sie doch, namentlich nach den organisatorischen Reformen im Sommer 1947 und Anfang 1948, zum tragenden Baustein der Bundesrepublik. Das »Vereinigte Wirtschaftsgebiet«, wie die Bizone schließlich offiziell hieß, verfügte mit dem Frankfurter Wirtschaftsrat über ein Parlament und mit den Direktoren und einem Oberdirektor über eine beschränkt handlungsfähige Regierung. Die Organe der Bizone stellten – unter angloamerikanischer Hoheit – die Weichen für die Zukunft, am nachhaltigsten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik durch die damals erheblich umstrittene Etablierung der »Sozialen Marktwirtschaft«. Die Entscheidung für die neoliberale Wirtschaftsordnung im Sommer 1948 war als eigentliche Leistung der deutschen Bizonenadministration und -legislative konstitutiv für die Bundesrepublik.4
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Mit der Fusion ihrer beiden Zonen hatten Washington und London einen Weg beschritten, von dem sie hofften, daß er zur Viermächtekontrolle über Deutschland zurückführen würde. Die Errichtung der Bizone sollte nicht nur den britischen Steuerzahler entlasten, ihr ökonomisches Potential sollte Magnetwirkung auf die anderen Zonen ausüben. Das Risiko dieser in einheitsstiftender Absicht inaugurierten Politik bestand in der Ausgrenzung der sowjetischen Besatzungszone, in der Spaltung Deutschlands. Das Risiko wurde 1946 in Kauf genommen, im Laufe der folgenden beiden Jahre entwickelte es sich zunehmend zur Realität. Während die Maximen der britischen und der amerikanischen Politik gegenüber Deutschland spätestens ab Sommer 1946 im wesentlichen übereinstimmten (der Konsens wurde für Großbritannien auch von finanziellen Notwendigkeiten diktiert), betrieb Frankreich bis zum Sommer 1948 weiterhin seine Besatzungspolitik der Destruktion. Die Deutschlandpläne, die de Gaulle in ihren Grundzügen bereits 1944 entworfen hatte, waren konsequent und logisch allein von den Interessen Frankreichs bestimmt. Das französische Bedürfnis nach wirtschaftlichem Wiederaufbau und strategischer Sicherheit sollte durch drei Forderungen an Deutschland befriedigt werden: 1. Abtrennung des Rheinlands, des Ruhrgebiets und des Saarlands von Deutschland zur Errichtung einer Sicherheitszone an der französischen Ostgrenze. Die Grenzkorrektur im Westen hätte die französische Kohlenversorgung sichergestellt und das Wirtschaftspotential Deutschlands nachhaltig und vermutlich endgültig geschwächt. 2. Eine lang dauernde Besetzung Deutschlands sollte durch planmäßige Demontagen, Ausbeutung der deutschen Rohstoffquellen und Entnahmen aus der laufenden Produktion den französischen Wiederaufbau beschleunigen, die Entmilitarisierung Deutschlands bis zu den Wurzeln der Wirtschaftskraft ermöglichen und irgendwie auch die Demokratisierung Deutschlands fördern. 3. Aufgliederung Deutschlands in Länder, die in einem Staatenbund möglichst locker organisiert werden sollten. Frankreich hoffte bei seinen verfassungspolitischen Konzepten, die auf die Traditionen des napoleonischen Rheinbunds zurückgriffen, nicht nur auf die eigenstaatlichen Tendenzen der deutschen Länder, namentlich in Süddeutschland; die französischen Politiker unternahmen auch in Theorie und Praxis einige Anstrengungen zur Durchsetzung ihrer Ziele. Das Verbot der Zusammenarbeit deutscher Parteien und deutscher Verwaltungsgremien über die Ländergrenzen der französischen Zone hinaus sollte das politische Leben auf die künftigen Bundesstaaten beschränken und deren Selbstbewußtsein stärken; gleichzeitig wurde von Frankreich am Rhein, an der Ruhr und an der Saar der Europagedanke ebenso liebevoll wie eigennützig gepflegt. Als einzige Besatzungsmacht unterzog sich Frankreich aber auch der Mühe, über die Details einer Verfassungsordnung für Deutschland nachzudenken. Das
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Memorandum zur verfassungsrechtlichen Neuordnung Deutschlands des Außenministers Georges Bidault, das am 29. Januar 1947 vom Kabinett Ramadier einstimmig gebilligt worden war, bestand aus einem regelrechten Verfassungsentwurf, der beim Grundrechtskatalog beginnend über Kompetenzabgrenzungen bis zur Wirtschaftsordnung und zur Finanzverfassung alles Wesentliche enthielt. Entsprechend der Staatenbundkonzeption sollten wesentliche Kompetenzen und vor allem die Finanzhoheit weitgehend bei den Einzelstaaten liegen.5 Im Frühjahr 1947 stand die deutsche Frage erstmals im Mittelpunkt einer Konferenz – es war die vierte – des Rats der Außenminister der vier Großmächte – jenes Gremiums, das in Potsdam zur Vorbereitung der Friedensregelungen mit Deutschland und seinen ehemaligen Verbündeten installiert worden war. Einen Moment lang hatte es auf der Moskauer Konferenz (10. März bis 24. April 1947) Übereinstimmung gegeben: Deutsche Zentralverwaltungen und ein deutscher »Konsultativrat«, der an der Ausarbeitung einer provisorischen demokratischen Verfassung durch den Alliierten Kontrollrat mitwirken würde, sollten errichtet werden. Dem britischen Vorschlag, diesen Schritten allmählich eine provisorische Regierung folgen zu lassen, stimmten die Außenminister zu, aber die sowjetische Haltung zum Reparationsproblem und der grundsätzliche Dissens zwischen den Westmächten und der Sowjetunion über die Frage der Föderalisierung Deutschlands machten die Übereinstimmung schnell zunichte. Daß der Konferenzbeginn mit der Verkündung der Truman-Doktrin (12. März 1947) zusammenfiel, war symptomatisch für das Verhältnis der beiden Weltmächte USA und UdSSR und programmierte praktisch das Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz. Die im Blick auf die kommunistische Infiltration Griechenlands und der Türkei formulierte Erklärung des amerikanischen Präsidenten, daß Amerika entschlossen sei, »freien« Ländern materielle Hilfe bei einer Bedrohung ihrer Freiheit zu leisten, markierte den Beginn der amerikanischen Containment-Politik, mit der kommunistische Offensiven »eingedämmt« und Moskau langfristig bewogen werden sollte, von seiner intransigenten Status-quo-Politik abzurücken. Zum Konzept der amerikanischen Außenpolitik, die vorübergehend auf Europa konzentriert war, gehörte der im Juni 1947 vom neuen amerikanischen Außenminister entwickelte Marshall-Plan eines großzügigen wirtschaftlichen Hilfsprogramms (European Recovery Program), das auch der Sowjetunion und den Staaten des Ostblocks offeriert wurde.6 Im Zentrum des Marshall-Plans stand aber keineswegs das Deutschland-Problem. Großbritannien und Frankreich, auch Italien, waren die wichtigeren Adressaten, und die ökonomischen Überlegungen – Koordinierung und Integration der westeuropäischen Volkswirtschaft zur Gewinnung langfristig stabiler (und freier) Märkte – waren mindestens so wichtig wie die politischen Implikationen. Die Abschottung der sowjetischen Einflußsphäre vom Marshall-Plan, die nicht unerwartet kam, fiel in die Verantwortung des Kremls und war auch ein
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Präjudiz für die Teilung Deutschlands. Frankreich, das dringend auf die amerikanische Wirtschaftshilfe angewiesen war, ordnete sich aber jetzt in die westliche Phalanx ein und ließ, wirtschaftlichem Druck weichend, die Bereitschaft zu einer konstruktiveren Deutschlandpolitik erkennen. Daß die sowjetische Haltung gegenüber den Westmächten unter dem Eindruck des amerikanischen Engagements zur ökonomischen und politischen Integration Westeuropas in offene Feindseligkeit umschlug, war kein Wunder. Die Hoffnungen, die an das fünfte Treffen der Außenminister in London (25. November bis 15. Dezember 1947) noch geknüpft wurden, waren angesichts der politischen Großwetterlage von vornherein vergeblich. Die Konferenz brachte lediglich die Konfrontation verhärteter Positionen. Molotow warf den Amerikanern und Briten vor, sie wollten Deutschland mit Hilfe des MarshallPlans wirtschaftlich versklaven und politisch spalten. Zur Strafe betonten die Außenminister Großbritanniens und der USA, daß die deutsche Ostgrenze erst provisorisch geregelt und daß insbesondere die Verwaltung der Gebiete östlich von Oder und Neiße durch Polen noch nicht anerkannt sei. Die Londoner Konferenz wurde nicht nur ergebnislos abgebrochen, auch die Fortsetzung der Debatten im Rat der Außenminister wurde nicht mehr ins Auge gefaßt. Damit war eine weitere Vereinbarung von Potsdam hinfällig. Daß im Dezember 1947 die zerstrittene Kriegsallianz den Offenbarungseid einer Deutschlandpolitik unter Viermächte-Verantwortung geleistet hatte, wurde im März 1948 auch daran deutlich, daß die Sowjetunion ihre Mitarbeit im Alliierten Kontrollrat einstellte. Die Entscheidungen, die zum deutschen Weststaat führten, fielen nun in rascher Folge. Im April 1948 wurden das Vereinigte Wirtschaftsgebiet und die französische Zone in die Marshall-Plan-Organisation (OEEC) aufgenommen, stellvertretend für die Deutschen unterschrieben die drei Militärgouverneure. Im Juni 1948 kam die lange erwartete, von alliierten (vor allem amerikanischen) Experten vorbereitete und von den drei Militärregierungen in den Westzonen durchgeführten Währungsreform. Die Reaktion der Sowjetunion bestand in der totalen Blockade aller Zufahrtswege nach Berlin. Die Westsektoren der ehemaligen Reichshauptstadt konnten ab 26. Juni 1948 nur noch über die zuerst improvisierte, dann zu immer größerer Perfektion gesteigerte Luftbrücke versorgt werden. Mit der Berlin-Blockade versuchte die Sowjetunion auf drastische Weise die Entwicklung des westdeutschen Teilstaats zu bremsen. In gewissem Sinn erreichte der Kreml aber das Gegenteil: Dank der Bravourleistungen der amerikanischen und britischen Luftwaffe hatte die Faustpfandpolitik gegen Berlin lediglich einen, von den östlichen Urhebern der Veranstaltung keineswegs erwünschten, Solidarisierungseffekt zwischen den Deutschen und den Westmächten. Die Brutalität der Sowjets beherrschte monatelang die Schlagzeilen und bildete die Hintergrundmusik zur Gründung der Bundesrepublik und half zudem, Bedenken angesichts der Spaltung der Nation zu beschwichtigen.
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Der Zwang, sich wenigstens mit Frankreich über eine längerfristige Deutschlandpolitik zu einigen, war Ende 1947 in Washington und London unübersehbar geworden; den inoffiziellen Gesprächen der drei Westmächte nach der Londoner Außenministerkonferenz folgte die Sechs-Mächte-Konferenz, die, wieder in London, vom 23. Februar bis 5. März und vom 20. April bis 2. Juni 1948 unter Einschluß der westlichen Nachbarn Deutschlands stattfand. Den Franzosen wurden Konzessionen in der Saarfrage und über die Kontrolle des Ruhrgebiets gemacht, die Paris dann zur Mitarbeit an einer Lösung des Deutschlandproblems bewogen. Angesichts der internationalen Konstellation konnte das aber nur noch eine westliche Lösung sein. Immerhin gab es nun bei den Westmächten einen auch von den Benelux-Ländern akzeptierten Minimalkonsens, der den Deutschen in den drei Westzonen erstmals beschränkte Vollmachten zur Reorganisation ihres staatlichen Lebens einräumte. Hinter dem Londoner Deutschlandkonzept stand die Magnettheorie, die allerdings schon bei der Schaffung der Bizone wenig erfolgreich Pate gestanden hatte: ein westdeutscher Kernstaat sollte durch seine wirtschaftliche und politische Anziehungskraft nach erfolgter Konsolidierung auf die Ostzone magnetisch wirken und sie irgendwann zum Anschluß bewegen. Die Ergebnisse der Londoner Sechsmächtekonferenz wurden am 1. Juli 1948 den elf Ministerpräsidenten der drei Westzonen präsentiert. Sie empfingen aus der Hand der Militärgouverneure den Staatsgründungsauftrag in Gestalt der drei »Frankfurter Dokumente«. Im ersten Dokument wurden die Länderchefs zur Einberufung einer Konstituante autorisiert, die eine Verfassung ausarbeiten sollte, deren allgemeine Grundsätze – Demokratie und Föderalismus, Garantie individueller Freiheiten und Rechte – vorgegeben waren und die von den Militärregierungen genehmigt werden mußte. Im zweiten Dokument wurden die Ministerpräsidenten ersucht, die Grenzen der – nach 1945 mehr oder minder willkürlich entstandenen – Länder zu überprüfen und gegebenenfalls Änderungen vorzuschlagen. Die Länderchefs machten von dieser Aufforderung keinen Gebrauch: Die einzige territoriale Veränderung auf dem Gebiet der Bundesrepublik kam erst 1952 durch die Gründung des Südweststaats zustande, der unter dem Namen Baden-Württemberg die Nachfolge der 1945 entstandenen unnatürlichen, durch Zonengrenzen geteilten Gebilde Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und (Süd)Baden antrat. Im dritten der Frankfurter Dokumente waren die Grundzüge eines Besatzungsstatuts skizziert. Damit war klargestellt, daß mit der Ratifizierung der Verfassung des westdeutschen Teilstaats die Besatzungsherrschaft nicht enden würde. Die unbegrenzte Autorität der Militärgouverneure würde aber künftig beschränkt sein, im Normalfall sollte ihnen die Leitung der auswärtigen Beziehungen »Deutschlands«, die Kontrolle über Außenhandel, Reparationen, Industrieniveau, Dekartellisierung, Abrüstung und Entmilitarisierung obliegen, jedoch mit dem Recht, jederzeit die unumschränkten Machtbefugnisse wieder aufzunehmen im Falle eines die Sicherheit bedrohenden Notstands oder um
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»nötigenfalls die Beachtung der Verfassungen und des Besatzungsstatutes zu sichern«. Die in den folgenden Monaten bis zum Frühjahr 1949 von den Sozialdemokraten immer wieder verkündete These, nach der nicht das Grundgesetz, sondern das Besatzungsstatut die eigentliche Verfassung Westdeutschlands sein würde, war also gar nicht so falsch. In mehreren Konferenzen berieten die westdeutschen Länderchefs im Juli 1948 die alliierte Offerte zur Staatsgründung. An die Zurückweisung des Angebots, »dem deutschen Volke die Möglichkeit zu geben, auf der Grundlage einer freien und demokratischen Regierungsform die schließliche Wiederherstellung der gegenwärtig nicht bestehenden deutschen Einheit zu erlangen« (Londoner Schlußkommuniqué), dachten die westdeutschen Politiker von Anfang an nicht, wohl aber sannen sie auf Mittel und Wege, das Odium der Errichtung eines Separatstaats, der Ausgrenzung der sowjetischen Besatzungszone, der Teilung der Nation zu vermeiden. In zähen Verhandlungen mit den Militärgouverneuren versuchten die Ministerpräsidenten, die Frankfurter Dokumente mit einem Sinn zu erfüllen, der staatsrechtlich weniger definitiv war oder doch wenigstens weniger endgültig klang. Aber die Kompromisse, auf die sich die Statthalter der Alliierten schließlich einließen, hatten eher kosmetischen als juristischen Charakter: Die Verfassung sollte nur »Grundgesetz« heißen, die Konstituante sollte die Bezeichnung »Parlamentarischer Rat« (nicht: Nationalversammlung oder Verfassunggebende Versammlung) führen, und auf die ursprünglich verlangte Volksabstimmung über das Grundgesetz wurde verzichtet. Mit diesen Zugeständnissen war den deutschen Wünschen, das Provisorische der Staatsgründung zu betonen, so ziemlich entsprochen.7 Der Versuch, das Besatzungsstatut in die Verhandlungen einzubeziehen – etwas naiv hatten die westdeutschen Länderchefs sogar Leitsätze dazu entworfen und sie den Militärgouverneuren präsentiert –, war von vornherein aussichtslos gewesen, ebenso der Versuch, die Alliierten dazu zu bewegen, das Besatzungsstatut vor der Verabschiedung des Grundgesetzes zu erlassen. Als Argumentationshilfe bei Auseinandersetzungen um das Problem der deutschen Einheit wäre die alliierte Vorgabe (Befehl zur Staatsgründung unter Besatzungsstatut) sehr erwünscht gewesen: Beim schwierigen Versuch der Beweisführung, daß die zerrissene Einheit der deutschen Nation durch die Gründung eines Teilstaats langfristig gesehen wiederhergestellt werden könnte, wäre die Berufung auf alliierte Befehle durchaus angenehm gewesen. Die Entscheidung der westdeutschen Politiker im Juli 1948 war aber nicht erzwungen, und der französische Militärgouverneur begrüßte sogar alle Anzeichen des Verweigerns auf deutscher Seite: im Gegensatz zu Washington und London hätte man in Paris den Beginn neuer deutscher Staatlichkeit sehr gerne noch verschoben. Die Option für den Weststaat wurde freilich auch nicht gegen den Willen der Bevölkerung abgegeben; das Klima des Kalten Krieges verstärkte den traditionellen Antikommunismus, der es allen erleichterte, die Sowjetzone als quasi russische Kolonie abzuschreiben, und die sowjetische
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Blockade Berlins trug als dramatischer Hintergrund der Staatsgründung im Westen zu deren moralischer, politischer und psychologischer Rechtfertigung in erheblichem Maße bei. Die Sache selbst kam rasch voran. Im August 1948 erarbeitete ein von den Ministerpräsidenten berufener Sachverständigenausschuß den Entwurf eines Grundgesetzes.8 Das Ergebnis des Herrenchiemseer Verfassungskonvents strukturierte die eigentlichen Verfassungsberatungen, die der Parlamentarische Rat am 1. September in Bonn aufnahm, in wesentlichen Punkten. Unstreitig blieb, im Herrenchiemseer Entwurf (der keinen amtlichen Charakter hatte) wie in den Bonner Debatten, die Weimarer Verfassung das Vorbild, und Einigkeit herrschte darüber, daß aufgrund der Erfahrungen in der ersten Republik die Konstruktionsfehler der Reichsverfassung von 1919 vermieden werden müßten. Das Staatsoberhaupt durfte also nur dekorative Funktion haben, Ermächtigungsartikel, die Regierungen ohne parlamentarische Basis ermöglichen würden, waren ausgeschlossen; ebenso stand fest, daß Regierungen nur durch konstruktive Mißtrauensvoten gestürzt werden dürften und daß das Parlament gegen die Lähmung durch Splitterparteien gesichert werden mußte. Die Verpflichtung zum föderalistischen Aufbau des neuen Staatswesens war vorgegeben, und die Einhaltung dieser Obligation wurde von den Alliierten mehrfach angemahnt. Am Einspruch der Besatzungsmächte, die bis zum Ende der Beratungen eine zu wenig länderfreundliche Finanzverfassung monierten und den Bundesländern den Vorrang bei der Gesetzgebung eingeräumt sehen wollten, entzündete sich im März 1949 ein Streit um die Verfassung, dessen Fronten zwischen Deutschen und Alliierten im Zickzack verliefen. Der Kompromiß der maßgeblichen Parteien im Parlamentarischen Rat (Zusammensetzung: je 27 Abgeordnete der CDUCSU und der SPD, fünf der FDP, je zwei des Zentrums, der Deutschen Partei und der KPD), dessen Ergebnis der umstrittene Grundgesetzentwurf vom März 1949 war, schien vergeblich gewesen. Während die Unionsparteien, an ihrer Spitze der Präsident der Konstituante, Konrad Adenauer, geneigt waren, den alliierten Bedenken Rechnung zu tragen, ließ es die SPD darauf ankommen und drohte mit dem Scheitern der Verfassung überhaupt (man könne eben nicht »ein Grundgesetz auf Kommando der Besatzungsmächte schaffen«, hatte Kurt Schumacher erklärt). Zum Verdruß General Clays, des amerikanischen Militärgouverneurs, wollten die Briten aber kein Oktroi gegen den Willen der SPD, und in Washington, wo Anfang April die Außenminister der drei Westmächte tagten und das Besatzungsstatut beschlossen, war man ebenfalls zu Konzessionen bereit. Nach letzten Retuschen wurde das Grundgesetz am 8. Mai, vier Jahre nach der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation, mit großer Mehrheit verabschiedet. Am 12. Mai genehmigten die Militärgouverneure den Verfassungstext, der nach der Ratifizierung durch die Landtage (mit Ausnahme Bayerns) am 23. Mai 1949 verkündet wurde und in Kraft trat.9
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Ein anderes der für die Bundesrepublik konstitutiven Dokumente, das Abkommen vom 28. Dezember 1948 über die Einsetzung einer Internationalen Ruhrbehörde (Ruhrstatut), war am 22. April wirksam geworden. Obwohl Westdeutschland dort zunächst, ebenso wie in der OEEC, noch durch die Militärgouverneure vertreten wurde, empfand man das Ruhrstatut entweder, aus der Not eine Tugend machend, als Schritt zur europäischen Einigung oder, im Verdruß über den Verlust der nationalen Verfügungsmöglichkeiten über die Kohle- und Stahlproduktion, als unerträgliche Knebelung. Das dritte konstitutive Dokument war den Deutschen seit 10. April 1949 bekannt, in Kraft treten sollte es zum Zeitpunkt der Bildung der ersten Bundesregierung: das Besatzungsstatut, dessen bedrohlichster Artikel der erste war, weil er besagte, daß die Besatzungsbehörden alle Befugnisse der deutschen Regierung jederzeit wieder an sich ziehen konnten, »wenn sie der Ansicht sind, daß dies aus Sicherheitsgründen oder zur Aufrechterhaltung der demokratischen Regierungsform in Deutschland oder in Verfolgung der internationalen Verpflichtungen ihrer Regierungen unumgänglich« sei. Im übrigen waren – bei Einhaltung der Wohlverhaltensklausel des Besatzungsstatuts – die Rechte der Bundesrepublik beachtlich, und sie sollten weit über das 1949 zu erhoffende Maß hinaus und weit schneller, als zu erwarten war, ausgedehnt werden. Äußerlich eindrucksvoll war vor allem die Ablösung der Militärgouverneure durch »Hohe Kommissare«; an die Stelle der Generäle traten ab Mai 1949 Zivilisten mit diplomatischem Status. Der Vertreter Großbritanniens ersetzte sich selbst, denn General Robertson ließ sich von der Armee beurlauben, um als Hoher Kommissar weiter zu amtieren. Lucius D. Clay kehrte nach der wohl triumphalsten Abschiedstournee, die je ein Prokonsul durch besetztes Land erlebte, in die Vereinigten Staaten zurück; zum amerikanischen Hohen Kommissar wurde John McCloy ernannt, und an die Stelle des französischen Generals Koenig trat Andre François- Poncet. In der Übergangszeit zwischen direktem Besatzungsregime und Bundesrepublik, im Sommer 1949, schlug endlich die Stunde der Parteien. Es gab sie seit Herbst 1945 wieder, als zunächst lokale und regionale Neu- und Wiedergründungen, deren Zulassung von der Lizenz der Militärregierungen abhängig war und die sich nur in der britischen Besatzungszone zu Verbänden oberhalb der Länderebene zusammenschließen durften.10 Die Aktionsfelder der Parteien erweiterten sich bald von kommunalen zu Landesparlamenten, und ab Mitte 1947 bot der Frankfurter Wirtschaftsrat Möglichkeiten zu parlamentarischem Agieren, aber es hatte -trotz bedeutender Entscheidungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die in Frankfurt getroffen wurden – in mancherlei Hinsicht noch den Charakter von Etüden. Ansprechpartner (und lange Zeit noch nicht einmal dies, sondern lediglich Befehlsempfänger) der Militärgouverneure blieben bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes die Ministerpräsidenten der Länder, die sich alle mehr als Landesfürsten denn als Parteipolitiker fühlten.11 Der Parlamentarische Rat, indirekt gewählt und nur
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mit der Befugnis zur Ausarbeitung des Grundgesetzes ausgestattet, war zwar Schauplatz parteipolitischer Auseinandersetzungen, sie blieben der Sache nach aber beschränkt und standen unter einem gewissen Zwang zum Konsens. Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes war dann die Arena frei für die erste große Kraftprobe zwischen den Parteien; der Kampf um die Mandate im ersten Deutschen Bundestag entbrannte in seither nie wiedergekehrter Härte, er dauerte bis zum 14. August 1949. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mußte, im Gegensatz zu den »bürgerlichen« Parteien, nach Kriegsende keinen langwierigen Gründungs- und Formierungsprozeß durchlaufen.12 Sie konnte an ihre Traditionen anknüpfen; ihre Wiedergründung bzw. Reorganisation von Hannover aus, wo Kurt Schumacher sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, war im Frühjahr 1946 mit dem ersten Parteitag im wesentlichen abgeschlossen. Der Führungsanspruch Schumachers war in den drei Westzonen von Anfang an unbestritten. Die sozialdemokratische Parteizentrale neigte, nicht zuletzt unter dem Trauma des zwangsweisen Zusammenschlusses von SPD und KPD zur SED in der sowjetischen Zone im Frühjahr 1946, zur Zurückhaltung auf den bescheidenen politischen Aktionsfeldern der Nachkriegszeit. Das hatte mehrere Gründe, zu denen wesentlich die Kluft zwischen Programmanspruch und Realisierbarkeit gehörte, denn die SPD war mit der Forderung nach gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen angetreten, die eine sozialistisch-demokratische Ordnung Deutschlands in einem ähnlich strukturierten Europa vorsahen. Die Undurchführbarkeit eines solchen Konzepts unter Besatzungsregime und vor dem Hintergrund widerstreitender alliierter Politik verleitete die SPD zum Allesoder-nichts-Standpunkt, von dem aus die Bereitschaft, die politische Verantwortung für aufgezwungene Zustände zu tragen, gering war. Schließlich schien der SPD-Zentrale aber auch der Blick dafür zu fehlen, »daß selbst kleine politisch-administrative Entscheidungen Fakten auch gesellschaftlichen Charakters schufen, die kaum noch rücknehmbar waren«.13 Die Politiker der Unionsparteien hatten aber diesen Blick in hohem Maße; die größere programmatische Breite der CDU/CSU half ihr außerdem, Ängstlichkeit vor Entscheidungen und dogmatische Zweifel zu vermeiden. Im Frankfurter Wirtschaftsrat entschloß sich die SPD im Juli 1947 zur Opposition, während die Unionsvertreter im Bund mit den Liberalen pragmatisch soviel Politik machten, wie sie durften, und damit wesentliche Voraussetzungen für ihre Rolle in der Zukunft schufen. Die Union war, mit gegensätzlichen Gravitationszentren im Rheinland, in Süddeutschland und in Berlin, bis zum 1. Bundesparteitag 1950 ein programmatisch und organisatorisch heterogenes Ensemble selbständiger Parteien gleichen Namens. Um den Führungsanspruch rivalisierten vor allem Konrad Adenauer an der Spitze des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone (einer Art Delegiertenparlament der Landesverbände der CDU) und Jakob Kaiser als zentrale Figur des Berliner Landesverbandes. Dieser betonte den
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Hegemonieanspruch auch äußerlich durch die Bezeichnung Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDUD). Hinter Kaisers Anspruch standen bis 1948 auch die fünf Landesverbände der sowjetischen Besatzungszone. Ein Zusammenschluß der CDU in der amerikanischen Zone war im Frühjahr 1946 schon im Ansatz gescheitert, wegen Führungskonkurrenzen und weil es nicht möglich war, sich auf einen gemeinsamen Namen für die süddeutschen Unionsparteien zu einigen.14 Die Anfänge der FDP gestalteten sich schwieriger als die der SPD und der Unionsparteien. Einmal hatten die Liberalen weniger Möglichkeiten, auf frühere Anhänger zurückzugreifen, dann erfuhren sie auch weniger Ermunterung durch die Besatzungsmächte. Unter verschiedenen Namen und zunächst mit geringem Kontakt untereinander firmierten in allen Zonen verschiedene liberale Parteien auf Kreis- und später auf Landes- und Zonenebene. In der britischen Zone schlössen sie sich im Januar 1946 zur FDP zusammen, in der US-Zone verbanden sie sich im September 1946 in der Demokratischen Volkspartei (DVP), in der französischen Zone gab es keinen Zusammenschluß. Im Dezember 1948 vereinigten sich die liberalen Landesparteien der drei Westzonen zur FDP.15 Während die Liberalen die marktwirtschaftliche Politik der CDU/ CSU im Wirtschaftsrat der Bizone unbedingt unterstützten, gingen sie im Parlamentarischen Rat in vielen Fragen – Gesetzgebungskompetenz, Kultur- und Bildungspolitik, Problem Kirche und Staat – mit sozialdemokratischen Positionen konform. Im Frühjahr und Sommer 1949 war die öffentliche Auseinandersetzung aber vom Thema Wirtschaftspolitik beherrscht, und da kämpften CDU/CSU und FDP Seite an Seite um die Wählergunst. Die Unionsparteien propagierten in ihren »Düsseldorfer Leitsätzen« vom Juli 1949 die »Soziale Marktwirtschaft« (womit sie auch die Kurskorrektur in Abkehr vom christlichen Sozialismus des »Ahlener Programms« publik machten). Die Sozialdemokraten prophezeiten das baldige bittere Ende des Wirtschaftsprogramms von Ludwig Erhard und empfahlen ihr Modell einer gelenkten Wirtschaft und der Sozialisierung von Großindustrie, Banken und Versicherungen. Die Auseinandersetzung fand in einer Art Kulturkampfatmosphäre statt, und wegen der Maßlosigkeit seiner Angriffe auf Kirche und Kirchenvolk verlor Kurt Schumacher für die Sozialdemokratie schließlich die Wahl. CDU und CSU zogen mit 31,0% der Stimmen und 139 Mandaten als stärkste Fraktion in den ersten Bundestag, die SPD erhielt 29,2% (131 Mandate), die FDP kam mit 11,9% und 52 Abgeordneten ins Parlament. Die Liberalen hatten sich längst auf die Beteiligung an einem Bürgerblock festgelegt, und für die konservative Deutsche Partei (4,0% und 17 Mandate), die ihren Schwerpunkt in Nieder Sachsen hatte, kam ohnehin nichts anderes in Frage. Rund ein Drittel aller Stimmen waren auf kleine Parteien entfallen, die entweder ebenfalls regionale Interessen vertraten wie die Bayernpartei (17 Mandate) oder konfessionelle und soziale wie das Zentrum (17 Mandate); die bereits in Agonie liegende Wirtschaftliche Aufbauvereinigung (WAV) des Demagogen Loritz
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errang in Bayern 12 Abgeordnetensitze, die KPD entsandte 15 Vertreter, und sonstige Gruppierungen (darunter weit rechts stehende) erhielten zusammen noch einmal neun Mandate. Das Wahlergebnis schien das Wiederaufleben Weimarer Zustände zu signalisieren, war aber in Wirklichkeit der Beginn eines Konzentrationsprozesses, wie er sich in den Wahlen 1953 und 1957 bestätigte. 1953 waren zwar 27 Sitze der Flüchtlingspartei BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten), die erst 1950 gegründet wurde, dazugekommen; der BHE war aber im dritten Bundestag schon nicht mehr vertreten. Im zweiten Bundestag fehlten bereits die Kommunisten, ebenso Bayernpartei und WAV; neben der Deutschen Partei, die sich dank Wahlabsprachen mit der CDU in der zweiten und dritten Wahlperiode mit 15 bzw. 17 Mandaten halten konnte, zogen 1953 nur noch drei Zentrumsabgeordnete als Vertreter kleiner Parteien in den Bundestag.16 Die Entscheidung zur bürgerlichen Koalition war am 21. August 1949 bei einer informellen Zusammenkunft führender Unionspolitiker im Hause Konrad Adenauers gefallen. Adenauer genoß inzwischen soviel Prestige, daß er sich unangefochten zum Kanzlerkandidaten deklarieren konnte; eine große Koalition unter Einschluß der SPD hatte kaum mehr zur Debatte gestanden. Die Unterstützung des Kandidaten der FDP, Theodor Heuss, der von der Bundesversammlung am 12. September zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde, sicherte den Christdemokraten die FDP-Stimmen für die Kanzlerwahl am 15. September 1949, bei der Adenauer mit der knappsten Mehrheit (202 gegen 142 der 389 abgegebenen Stimmen) siegte. Mit der Vereidigung der dreizehn Ressortminister des ersten Kabinetts (5 CDU, 3 FDP, 3 CSU, 2 DP) am 20. September und dem Antrittsbesuch des Bundeskanzlers und einiger Minister bei den drei Hohen Kommissaren auf dem Petersberg bei Bonn am folgenden Tag war die Bundesrepublik offiziell ins Leben getreten. Dem neuen Staat fehlte nicht nur jegliche Reputation, er stand auch noch unter Kuratel und hatte außerdem in Gestalt der im Oktober 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik einen Nachbarstaat, dessen Legitimität in Bonn energisch bestritten, dessen Regierung daher als illegal betrachtet und ignoriert wurde und dessen Bevölkerung man als arme, unschuldig in Sklaverei geratene Verwandtschaft betrachtete, für die man die Vormundschaft auszuüben gedachte. Die Verfassung der Bundesrepublik schreibt diese Vormundschaft in Verbindung mit dem Gebot zur Wiedervereinigung in der Präambel des Grundgesetzes ausdrücklich vor: das »deutsche Volk« in den Ländern der drei westlichen Besatzungszonen habe »auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war«. Daraus entwickelte sich sehr bald der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, der im Herbst 1950 von den Außenministern der drei Westmächte feierlich bekräftigt wurde: die Regierung in Bonn sei die einzig rechtmäßig gebildete deutsche Regierung, die berechtigt sei, im Namen Deutschlands zu sprechen und das deutsche Volk der Welt gegenüber zu vertreten. Fünf Jahre später, im Dezember 1955, wurde dieser
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Anspruch vom inzwischen souverän gewordenen deutschen Weststaat mit Hilfe der Hallstein-Doktrin zementiert; jener nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt benannte Grundsatz bedrohte die Anerkennung der DDR und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu ihr mit Konsequenzen seitens der Bundesregierung. Und so wurde bis Ende der 60er Jahre verfahren, um den Alleinvertretungsanspruch deutscher Interessen durch das Provisorium Bundesrepublik durchzusetzen oder wenigstens zu proklamieren: Im Oktober 1957 wurden die Beziehungen zu Jugoslawien abgebrochen, weil Belgrad die DDR anerkannte, und im Januar 1963 kam die Hallstein-Doktrin gegen Kuba zur Anwendung. Bis in die Mitte der 60er Jahre genügten freilich gegenüber ärmeren Ländern in der Regel wirtschaftliche Argumente und notfalls entsprechende Drohungen. Seit der Krise in den Beziehungen zwischen den arabischen Ländern und der Bundesrepublik ab 1965 hatte sich das außenpolitische Instrument der Hallstein-Doktrin als immer wertloser erwiesen und verschwand stückweise in der Versenkung. Die Realität zweier deutscher Staaten war lange genug geleugnet worden, auch dadurch, daß die DDR im Weststaat hartnäckig als SBZ oder Zone tituliert wurde, bestenfalls geriet das Kürzel DDR zwischen Anführungszeichen; umgekehrt befiel die Bewohner der Bundesrepublik eine schwer erklärliche, aber anhaltende Animosität gegen die Kurzbezeichnung BRD. In der Abgrenzung gegen Osten herrschte in der Bundesrepublik weitgehend Konsens zwischen Regierung und der sich betont national gebenden sozialdemokratischen Opposition; insbesondere herrschte Einigkeit, daß die DDR ein labiles Gebilde, ein Pseudostaat von Moskaus Gnaden ohne Zukunft sei und bleiben werde. Die Flucht von Hunderttausenden jährlich und namentlich der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 bestätigten im Bewußtsein der Mehrzahl der Bürger der Bundesrepublik die These von der mangelnden Legitimation der Ostberliner Regierung, und das ökonomische Gefälle von West nach Ost diente als zusätzlicher Beleg für die Ortsbestimmung des »besseren Deutschland«. Das Problem der deutschen Einheit, das Verlangen nach Wiedervereinigung gehörte in der Adenauer-Ära zum Grundverständnis von Politik, der Streit über die richtigen Wege zum immer ferneren Ziel beschäftigt Regierungs- und Oppositionsparteien auch in den 80er Jahren gelegentlich noch.17 Dem Konzept Adenauers, durch die Westintegration der Bundesrepublik – das hieß sowohl Aussöhnung mit Frankreich als auch Schutzsuche bei den USA – zunächst Reputation und Handlungsfreiheit zu gewinnen, wobei er geschickt und überzeugend die Idee der europäischen Einigung ausnützte, hatte Kurt Schumachers SPD nichts Besseres entgegenzusetzen als Argumente aus der Requisitenkammer von Weimar wie den verbalen Widerstand gegen die Besatzungsherrschaft überhaupt, Warnungen vor der Teilnahme am Ruhrstatut, Ablehnung des Beitritts der Bundesrepublik zum Europarat als assoziiertes Mitglied (weil das Saargebiet den gleichen Status haben sollte). Die Sozialdemokratie lehnte die »Erfüllungspolitik« Adenauers – der Ausdruck
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stammt aus dem Weimarer Arsenal politischer Schimpfworte – gegenüber den westlichen Aliierten ab, obwohl sie im Gegensatz zu halbwegs vergleichbaren Versuchen der 20er Jahre schnelle Erfolge zeitigte. Ein erster Erfolg war das »Petersberger Abkommen« vom 22. November 1949, in dem die Alliierte Hohe Kommission der Bundesrepublik die Aufnahme konsularischer Beziehungen gestattete; außerdem wurden wirtschaftliche Erleichterungen gewährt: die Beschränkungen beim Bau von Hochseeschiffen wurden gelockert und das seit 1945 mehrfach gemilderte Demontageprogramm wurde abermals vermindert (und 1951 beendet). Der Preis bestand im Beitritt der Bundesregierung zum Abkommen über die internationale Ruhrkontrolle (das war ohnehin vorgesehen, und seit April 1949 waren die Westdeutschen am Ruhrstatut durch ihre drei alliierten Vormünder beteiligt). Innenpolitisch war dieser Schritt höchst umstritten, und Kurt Schumacher titulierte deswegen im Bundestag seinen Widersacher Adenauer, unter allgemeiner furchtbarer Erregung, als den »Bundeskanzler der Alliierten«, aber die Willfährigkeit trug schnell und reichlich Früchte. Weniger als drei Jahre später existierte das Ruhrstatut als Kontroll- und Disziplinierungsinstrument, »daß die Bodenschätze der Ruhr in Zukunft nicht für Aggressionszwecke, sondern nur im Interesse des Friedens benutzt« würden, schon nicht mehr, es war auf französischen Vorschlag durch die Montanunion, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ersetzt worden. Mit dem Inkrafttreten dieses Vertrags (25. Juli 1952) waren die Kontrollen und Beschränkungen der deutschen Schwerindustrie aufgehoben, Frankreich und die Bundesrepublik waren Partner in der ersten supranationalen Organisation eines beginnenden Europas der Sechs geworden. Im März 1951 erfolgte die erste Revision des Besatzungsstatuts. Danach verzichteten die Alliierten Hohen Kommissare auf die Überwachung der Bundes- und Ländergesetze, legten ein Stück Devisenhoheit in deutsche Hände und erlaubten der Bundesrepublik die Aufnahme auswärtiger Beziehungen, allerdings in bescheidenem Rahmen; nach der Wiedergründung des Auswärtigen Amts Mitte März 1951 übernahm Adenauer (bis Juni 1955) auch den Posten des Außenministers. Als Gegenleistung für die Lockerung des Besatzungsstatuts hatte die Bundesregierung die deutschen Auslandsschulden anerkannt. Diese Verbindlichkeiten, die bis in die Weimarer Zeit (Dawes- und Young-Plan) zurückreichten, grundsätzlich anzuerkennen, bedeutete die Übernahme der Konkursmasse des Deutschen Reiches. Die Quoten und der Schuldendienst (567 Millionen DM jährlich), die in langwierigen Verhandlungen, bei denen Hermann Josef Abs die deutsche Delegation führte, festgelegt wurden, waren glimpflich; etwa 13 Milliarden DM standen schließlich zu Buche. Die Bundesregierung hatte im Zusammenhang mit dem Londoner Schuldenabkommen (es wurde am 27. Februar 1953 unterzeichnet, außer den drei Westmächten traten insgesamt 30 andere Gläubigerstaaten bei) klargestellt, daß die Tilgung dieser Schuldenlast gesonderte Reparationszahlungen nicht zulasse, und mit dieser Erklärung hatte es auch tatsächlich sein Bewenden. Die
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Zahlung der alten Schulden machte die Bundesrepublik international kreditwürdig und brachte ihr ein weiteres Stück Reputation. Im Herbst 1952 war in Luxemburg bereits ein anderes Abkommen unterzeichnet worden, das als Wiedergutmachung für die im deutschen Namen verübten Verbrechen an der europäischen Judenheit die Zahlung von 3 Milliarden DM an Israel vorsah. Außerdem wurden 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference, die Interessenvertretung der nicht in Israel lebenden jüdischen Flüchtlinge, überwiesen. Durch die Übernahme von Verbindlichkeiten des Deutschen Reiches und die Bereitschaft zu materieller Entschädigung und Wiedergutmachung erwarb die Bundesrepublik Anspruch auf moralischen Kredit, sie sicherte dadurch aber auch ihren Anspruch auf die ausschließliche und legitime Vertretung deutscher Interessen in der Welt. Der Krieg, der im Juni 1950 in Korea, einem ähnlich wie Deutschland geteilten Land, ausbrach, und zwar durch die Invasion der von der Sowjetunion ausgerüsteten Armee des kommunistisch regierten Nordens in den kaum gesicherten Süden, beschleunigte die Westintegration der Bundesrepublik außerordentlich. Die sowjetische Blockade Berlins war den Bürgern Westdeutschlands in frischer Erinnerung, was Wunder, daß die Mehrzahl den Übergang vom kalten zum heißen Krieg zwischen den beiden Weltmächten für denkbar oder gar unmittelbar bevorstehend hielt. Angesichts der kommunistischen Aggression im Fernen Osten rückte die Frage nach der eigenen Sicherheit, nicht nur in der Bundesrepublik, in den Vordergrund. Als Adenauer die Hohen Kommissare im August 1950 um Verstärkung der alliierten Truppen bat und einen deutschen Beitrag zur Aufstellung einer multinationalen westeuropäischen Armee anbot – die Idee stammte von Winston Churchill –, war die Diskussion um die Wiederbewaffnung bereits voll im Gange; schon vier Wochen zuvor hatte man in der Frankfurter Allgemeinen lesen können, der Gedanke an eine deutsche Wiederbewaffnung breite »sich bei den Siegermächten aus wie ein Ölfleck«18. In Washington wurde eine westdeutsche Beteiligung im Rahmen konventioneller Verteidigungsstreitkräfte schon aus pragmatischen Gründen – warum sollten personelle und materielle Ressourcen nicht genutzt werden? – lange vor Korea erwogen. In der Bundesrepublik war für die meisten Bürger der Gedanke an eine neue deutsche Armee schwer vorstellbar, zu sehr litt jeder einzelne an irgendwelchen Kriegsfolgen. Aber das Gefühl der Bedrohung und der verbreitete Antikommunismus bildeten ebenso starke Motive zugunsten einer bewaffneten Verteidigung der Freiheit. Über das Problem der Wiederbewaffnung wurde mit Leidenschaft und Erbitterung diskutiert; das gewichtigste politische Argument gegen die Remilitarisierung wurde vor allem von den Sozialdemokraten unermüdlich vorgetragen: ein westdeutscher Beitrag zu einer westeuropäischen Streitmacht mußte das stärkste Hindernis für jede Wiedervereinigungspolitik werden. Die Bundesregierung verlor wegen der überraschenden Offerte des Kanzlers im Herbst 1950 ihren Innenminister. Gustav Heinemann trat aus Protest gegen den Alleingang des Regierungschefs –
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tätige Autorität und einsames Handeln gehörten zum Stil Adenauers – zurück; später verließ er auch die CDU, um zwischen 1952 und 1957 in der neutralistischen Gesamtdeutschen Volkspartei gegen Wiederbewaffnung und einseitige Westbindung zu kämpfen. Die Konzeption Adenauers, die im Angebot eines deutschen Beitrags zur Verteidigung Westeuropas an die Öffentlichkeit kam, sah als Belohnung für die Wiederbewaffnung den schrittweisen Abbau des Besatzungsstatuts vor und dadurch die allmähliche Gewinnung der Souveränität. Der Plan des französischen Ministerpräsidenten Pleven, eine supranational strukturierte europäische Armee zu gründen, an der deutsche Bataillone beteiligt sein würden, bildete ab Herbst 1950 einen Ausgangspunkt, von dem aus sich bis zum Frühjahr 1952 das vertragsreife Projekt »Europäische Verteidigungsgemeinschaft« entwickelte. Die EVG-Debatte dauerte in der Bundesrepublik bis zum 19. März 1953, dem Tag, an dem der Bundestag gegen die SPD dem EVG-Vertrag und dem damit gekoppelten Deutschland-Vertrag zustimmte. Der Wahlsieg der Unionsparteien im Herbst 1953 machte deutlich, daß das außen- und sicherheitspolitische Konzept auch in der Bevölkerung mehrheitlich deutliche Sympathien gefunden hatte. Die EVG kam zwar wegen der Ablehnung durch das französische Parlament Ende August 1954 nie zustande, die Strategie der Bonner Regierung trug aber trotzdem die erhofften Früchte, denn der Integrationsprozeß schritt fort, und damit wurde der Preis für Westdeutschlands Teilnahme – Sicherheit und Souveränität – mit nur geringer zeitlicher Verzögerung fällig. Daß Westintegration und Wehrbeitrag der Bundesrepublik das Postulat der Wiedervereinigung zur politischen Deklamation und Illusion gerinnen ließen, wurde spätestens im Laufe der EVG-Verhandlungen evident. In der spektakulären Deutschlandnote vom 10. März 1952 machte die Sowjetunion den Westmächten den Vorschlag, »unverzüglich die Frage eines Friedensvertrags mit Deutschland zu erwägen«, der unter unmittelbarer Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung ausgearbeitet werden sollte. Der Entwurf eines Friedensvertrags lag bei, darin war nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands offeriert, sondern auch der Abzug aller Besatzungstruppen und die Genehmigung nationaler Streitkräfte nebst entsprechender Rüstungsindustrie, verlangt wurde dagegen die Neutralisierung Deutschlands. In Übereinstimmung mit der Bonner Regierung lehnten die Westmächte die Kreml-Offerten im Laufe eines viermaligen Notenwechsels, der sich bis September 1952 hinzog, ab. Die Position des Westens war durch die Forderung freier gesamtdeutscher Wahlen als Vorbedingung aller Verhandlungen festgeschrieben; da während des Notenwechsels klar wurde, daß die Sowjetunion diese Wahlen nicht als Anfang des procedere akzeptieren würde, kam es auch nicht zu der Konferenz, auf der die Seriosität des sowjetischen Angebots im Detail hätte geprüft werden können – zum Verdruß der sozialdemokratischen Opposition, aber auch mancher Mitglieder der
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Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP und unter dem Protest jener politischen Gruppen, die die Neutralisierung Deutschlands verfochten. Die sowjetische Offerte war ganz offensichtlich ein Propagandamanöver, das die westeuropäische Integrationspolitik stören und gleichzeitig (via Schuldzuweisung an die Westmächte) die Aufwertung und Stabilisierung der DDR fördern sollte. Diese Erkenntnis ergab sich auch aus dem Zeitpunkt der Notenkampagne, sie bildete nämlich die Begleitmusik zur Diskussion über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Trotzdem entstand die Legende von der verpaßten Gelegenheit.19 Knapp drei Jahre später gab es eine Reprise: Im Januar 1955 versuchte Moskau durch ein Angebot zur Wiedervereinigung auf der Basis gesamtdeutscher Wahlen unter der Bedingung des Verzichtes der Ratifikation der Pariser Verträge über den Beitritt der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union und zur NATO die weitere Westintegration noch einmal zu bremsen. Die Zurückweisung dieses Vorschlags wurde von der Sowjetunion damit beantwortet, daß sie die Wiedervereinigung von nun an als Angelegenheit der beiden deutschen Staaten bezeichnete und in einem Staats- und Freundschaftsvertrag der DDR am 20. September 1955 endgültig die volle Souveränität zuerkannte. Die sowjetische Deutschlandpolitik sollte in der Folgezeit ganz im Zeichen der Zwei-StaatenTheorie stehen, die Lösungsmöglichkeiten der »deutschen Frage« nur durch Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten – ohne Verantwortung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges – zuließ. Das Scheitern der EVG im Sommer 1954 hatte die endgültige Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Staatensystem und die damit verbundene Souveränität nur noch wenig verzögert. In einer Serie von Konferenzen, die in unterschiedlicher Besetzung – drei Westmächte plus BRD, NATO-Mitglieder, Neun Staaten des Brüsseler Pakts, Bundesrepublik und Frankreich bilateral – vom 19. bis 23. Oktober 1954 in Paris stattfanden, wurde ein ganzes Bündel von Verträgen unterzeichnet. Der Deutschland- Vertrag (eine Neufassung des nicht in Kraft getretenen von 1952) wurde für die Beziehungen der Bundesrepublik zu den drei Westmächten an Stelle des Besatzungsstatuts verbindlich (Zusatzverträge regelten u.a. die Stationierung ausländischer Streitkräfte), und die Vertreter der USA, Großbritanniens und Frankreichs unterschrieben ein feierliches Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes, sie bekräftigten außerdem die Sicherheitsgarantien für (West)Berlin. Die fünfzehn NATO-Mitglieder protokollierten die Einladung zur Mitgliedschaft der Bundesrepublik, und die Neunmächtekonferenz hatte den Brüsseler Pakt von 1948 »über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über berechtigte kollektive Selbstverteidigung« zum Vertrag über die Westeuropäische Union umgearbeitet, der Westdeutschland und Italien nunmehr beitreten durften. Bilateral hatten sich Paris und Bonn auf ein Saarstatut geeinigt, das einen autonomen europäischen Status für das Saargebiet, allerdings auch eine Volksabstimmung nach Inkrafttreten vorsah. Innenpolitisch
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wurde es Adenauer von vielen verübelt, daß er das Saarland als Eintrittsbillett für den gleichberechtigten Anschluß der Bundesrepublik an die westliche Staatenfamilie opfern wollte. Bei der Ratifizierung sämtlicher Pariser Verträge gab es keine Schwierigkeiten mehr, am 5. Mai 1955 traten sie in Kraft, die Bundesrepublik wurde souverän und am 9. Mai in die NATO aufgenommen. Das Saarstatut blieb nicht lange gültig, die Bevölkerung des Saargebiets votierte im Oktober 1955 zum zweitenmal (wie 1935) mit großer Mehrheit für die Rückkehr nach Deutschland. Die Eingliederung in die Bundesrepublik erfolgte am 1. Januar 1957, drei Monate vor der Unterzeichnung des Gründungsvertrags der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch Frankreich, Italien, die Beneluxländer und die Bundesrepublik. Auch auf ökonomischem Gebiet waren wichtige Vorentscheidungen – im Bewußtsein des einzelnen bestimmt die wichtigsten – für die Entwicklung der Bundesrepublik schon vor ihrer Gründung gefallen: die Währungsreform auf dem Gebiet der drei Westzonen im Juni 1948 und die im Bereich der Bizone sich unmittelbar anschließende Rückkehr zur wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft. So notwendig die Sanierung der Währung war, und entsprechend sehnsüchtig war sie erwartet worden, so atemberaubend war die Aufhebung der Preis- und Rationierungsvorschriften. Die Währungsreform war von den Alliierten, unter geringer Beteiligung deutscher Sachverständiger, vorbereitet und durchgeführt worden: Mit dem Verfall der »Reichsmark« am 20. Juni 1948 galten alle Inlandsschulden des Deutschen Reichs als erloschen. Private Verbindlichkeiten und alle Bank- und Sparguthaben wurden im Verhältnis 1:10 abgewertet, als Kopfquote erhielt jeder zunächst 40 »Deutsche Mark« in bar. Nach Abschluß der Währungsumstellung, die zweite Rate der Kopfquote von 20 DM wurde im August/September ausgezahlt, betrug die Umtauschrelation insgesamt 100 RM zu 6,50 DM. Das Stellwerk für die neue Wirtschaftsordnung betätigte, zunächst mehr mit Argwohn als mit Beifall bedacht, Ludwig Erhard. Er amtierte seit Frühjahr 1948 als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft der Bizone, und er verfocht das neoliberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das den Wettbewerbsgedanken an die Stelle des staatlichen Dirigismus setzte. Das Gesetz über die »Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform«, das der Frankfurter Wirtschaftsrat im Juni 1948 verabschiedete, war nach der nationalsozialistischen Zwangswirtschaft und der Bewirtschaftung des Mangels und des Hungers der ersten Nachkriegsjahre geradezu revolutionär. Und tatsächlich schien das marktwirtschaftliche Experiment bald zum Scheitern verurteilt. Der Kaufkraftstoß der Währungsreform hatte zwar gehortete Waren auf der Bildfläche erscheinen lassen, aber die Schere zwischen Löhnen und Preisen öffnete sich unerträglich weit. Die sozialdemokratische Opposition im Wirtschaftsrat forderte im Einklang mit einem Großteil der Presse den Abbruch des Experiments und die Entfernung des Wirtschaftspolitikers Erhard. Ein Jahr später war Ludwig Erhard dann die Wahllokomotive von
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CDU/CSU und FDP bei den ersten Bundestagswahlen – eine Funktion, die er als Bundesminister für Wirtschaft noch drei weitere Male hatte. Den Höhepunkt erreichten die Proteste gegen die ungewohnte Marktwirtschaft im November 1948, als neun Millionen Arbeiter in der Bizone in einen 24stündigen »Generalstreik« traten. Die Preise kehrten bis zur Mitte des Jahres 1950 wieder auf das Niveau vom Juni 1948 zurück; ab Ende 1948, nach der Aufhebung des aus der NS-Zeit stammenden Lohnstopps, entwickelten sich auch die Einkommen der Arbeitnehmer. Aber die Arbeitslosigkeit bildete noch lange Zeit ein sehr ernstes Problem. Die Zahl der Arbeitslosen stieg vom März 1948, als 472000 registriert waren, bis zum Januar 1949 auf 963000, im Dezember 1949 waren es 1,558 Millionen, der Höchststand mit mehr als 2 Millionen war im Februar 1950 erreicht (in Prozentzahlen ausgedrückt betrug die Quote 1950 im Durchschnitt 7,2%, 1955 noch 3,9%). Zur Arbeitslosigkeit trugen zwei außerordentliche Faktoren allerdings wesentlich bei, die in einer normalen Volkswirtschaft nicht vorkommen, nämlich die erhebliche Zahl von Neuzugängen auf dem Arbeitsmarkt durch Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer, die nur langfristig absorbiert werden konnten, und die ebenfalls erhebliche Zahl von Arbeitskräften, die wegen Kriegsfolgen nicht voll einsatzfähig waren.20 Der hektische Wiederaufbau entwickelte sich rasch zum international bestaunten deutschen »Wirtschaftswunder«, und eine nachgewachsene Generation warf später ihren Vätern vor, in der Euphorie des Wiederaufbaus notwendige Reformen bewußt vermieden und statt Neubaus öde Restauration von Staat und Gesellschaft betrieben zu haben. Tatsächlich war der Gesetzgeber, wobei die Abgeordneten des Frankfurter Wirtschaftsrats den Anfang machten, bis Ende der fünfziger Jahre mit den sozialen Folgen des Kriegs beschäftigt. Vieles wurde dabei zu spät angegriffen und vieles nur mit halbem Herzen erledigt, auf einigen Gebieten (zum Beispiel im öffentlichen Dienst) wurde auch bewußt restauriert, angesichts der Fülle und der Dimensionen der Probleme waren die Leistungen der ersten beiden Bundestage aber sehr beachtlich. Das schwierigste Problem bildete zweifellos die Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge aus den Gebieten östlich der Oder-NeißeLinie, aus der Tschechoslowakei und aus Ost- und Südosteuropa sowie die Unterbringung der während des Kriegs Evakuierten und die Versorgung der DDR-Flüchtlinge, deren Zahl allein in drei Jahrzehnten knapp drei Millionen betrug. Die Härten der Währungsreform, bei der ja die Sachwertbesitzer eindeutig im Vorteil waren, wurden verhältnismäßig spät durch das Gesetz über den Lastenausgleich, das im September 1952 in Kraft trat, gelindert. Der Lastenausgleich, in dessen Genuß auch Kriegs- und Vertreibungsopfer, Ausgebombte und andere Geschädigte kamen, war natürlich nicht die große »Vermögensumverteilung«, als die er gelegentlich apostrophiert wurde, aber er bildete doch für viele die Grundlage einer neuen Existenz. Der Wohnungsbau, eines der vordringlichsten Probleme, wurde mit öffentlichen Mitteln, aber auch durch ein Wohnungsbau-Prämiengesetz (März
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1952), das Anreiz zum Bausparen schuf, erheblich gefördert. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 regelte Stellung und Rechte der Betriebsräte in der Wirtschaft; in der Kohle- und Stahlindustrie wurde 1951 sogar die paritätische Mitbestimmung eingeführt, und zwar als Kompromiß zwischen Bundesregierung und Gewerkschaft, letztere honorierte das Entgegenkommen durch Unterstützung der Westintegrationspolitik.21 Die Entscheidung des Bundestags (mit den Stimmen der CDU/ CSU und der SPD) für die dynamische Rente im Januar 1957, mit der das Prinzip der laufenden Anpassung der Renten an die wirtschaftliche Entwicklung installiert wurde, war nicht nur eine sozialpolitische Innovation, sie war auch die erste tiefgreifende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung seit deren Einführung in der Bismarckzeit.22 V. Norwegen, Dänemark, Island Von Wolfgang Benz Im Mai 1938 hatten Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island in Stockholm eine »Nordische Neutralitätserklärung« abgegeben, die eine Vereinbarung zwischen Dänemark, Norwegen und Schweden aus dem Jahre 1912 erweiterte und bekräftigte. Aber auf den Wunsch zur Neutralität allein kam es wenige Jahre später nicht mehr an. Anders als im Ersten Weltkrieg gelang es im Norden Europas lediglich den Schweden, auch im Zweiten Weltkrieg die traditionelle Neutralität zu bewahren. Dänemark blieb trotz eines Nichtangriffspaktes mit Deutschland, der im Mai 1939 abgeschlossen wurde, der Einmarsch deutscher Truppen am 9. April 1940 und die anschließende Okkupation des Landes bis Kriegsende nicht erspart. Am gleichen Tag begann auch die Invasion in Norwegen, mit der Deutschland, um die Erzlieferungen aus Schweden über Narvik zu sichern, den Alliierten knapp zuvorkam. Das deutsche Besatzungsregime und die norwegische Kollaborationsregierung unter Vidkun Quisling – beide waren Objekt erbitterten Widerstands – dauerten bis zum Mai 1945.1 Norwegens König Haakon hatte es nach der deutschen Invasion im April 1940 abgelehnt, eine Regierung von Hitlers Gnaden zu ernennen. Zusammen mit dem sozialdemokratischen Kabinett, das dann bis Kriegsende als Exilregierung in London amtierte, hatte der norwegische Monarch erst Oslo und dann das Land verlassen; der gebürtige Dänenprinz war seit 1905, als das Land von Schweden unabhängig geworden war, König von Norwegen, und die sozialdemokratische Regierung Nygaardsvold war seit 1935 im Amt. Nach der Rückkehr des Monarchen und des Exilkabinetts im Mai 1945 begann die politische Säuberung im Land. In Prozessen vor Sondergerichtshöfen mußten sich mehr als 50000 Norweger wegen ihres Verhaltens während der Besetzung des Landes rechtfertigen. Quisling und dreißig andere Kollaborateure wurden wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Während und wegen der politischen Auseinandersetzungen zwischen Emigranten, Widerstandskämpfern und
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Kollaborateuren trat Johan Nygaardsvold zurück. Sein Nachfolger wurde der Osloer Bürgermeister Einar Gerhardsen, der während der Besetzung des Landes in einem deutschen Konzentrationslager inhaftiert gewesen war. Aus den ersten Nachkriegswahlen im Oktober 1945 ging die Arbeiterpartei als eindeutiger Sieger hervor, die Allparteienkoalition wurde durch ein sozialdemokratisches Kabinett abgelöst. Von einem konservativen Zwischenspiel von knapp vier Wochen Dauer im August/September 1963 abgesehen, blieb die Arbeiterpartei unter Gerhardsen (1945–1951 und 1955–1965) und Oskar Torp (1951–1955) zwanzig Jahre lang in Norwegen am Ruder. Anfang der 60er Jahre spaltete sich im Streit um sicherheitspolitische Entscheidungen im Rahmen der NATO, um die Teilnahme deutscher Truppen an NATO-Manövern in Norwegen und um die Verwendung von Atomwaffen die Sozialistische Volkspartei (später »Sozialistische Linkspartei«) von der Arbeiterpartei ab, die wegen zunehmender Schwierigkeiten auf innen- und außenpolitischem Gebiet 1965 die absolute Mehrheit verlor. An der bürgerlichen Koalition unter Per Borten, dem Chef der als Zentrum neu firmierenden ehemaligen Bauernpartei, beteiligten sich die Konservativen, die traditionell zweitstärkste Partei Norwegens, die Liberalen und die Christliche Volkspartei, eine in den 30er Jahren von den Liberalen abgespaltene Bewegung, die mit ihrem von religiösen (Innere Mission) und temperenzlerischen Motiven bestimmten Programm regelmäßig um 10% der Wählerstimmen auf sich vereinigt. Über die Frage des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft stolperte im Frühjahr 1971 die bürgerliche Koalition. Aber auch die ihr folgende sozialdemokratische Minderheitsregierung, die ebenfalls den Anschluß an die EG betrieb, kam im Herbst 1972 zu Fall, nachdem die Norweger in einer Volksabstimmung die Teilnahme an der EG abgelehnt hatten. Es waren nicht nur Fischereiinteressen, die eine beachtliche Mehrheit zum Nein bewogen hatten. Das Votum gegen die Europäische Gemeinschaft war auch von isolationistischen und neutralistischen sowie antikapitalistischen Strömungen bestimmt, die in Norwegen, wie in ganz Skandinavien, von linken, grünen und fundamentalistischen Gruppierungen ausgehend, an Raum gewannen. An der Berührungsangst vor der Dominanz der Industrienationen in der EG – und nicht zuletzt am Mißtrauen gegenüber der Wirtschaftsmacht Bundesrepublik – scheiterte letztlich der Beitritt Norwegens zur Europäischen Gemeinschaft; dank des Freihandelsabkommens kommt Norwegen jedoch, ebenso wie seine Nachbarn Schweden und Finnland, trotzdem in den Genuß einiger Vorteile der EG. Der wirtschaftliche Wiederaufbau nach dem Krieg, mit schwedischem Kredit und ERP-Mitteln in Gang gesetzt, wurde relativ schnell bewältigt. Bereits 1950 war die norwegische Handelsflotte wieder auf dem Vorkriegsstand, und einige Jahre später hatte sie den dritten Platz in der Welttonnage. Norwegen blieb zunächst stärker an der Land- und Forstwirtschaft und an der Fischerei orientiert als seine Nachbarländer; die Entdeckung und Ausbeutung beträchtlicher Öl- und
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Erdgasvorkommen in der Nordsee brachte Norwegen ab 1974 zwar die Autarkie auf dem Energiesektor und bald auch den Status einer erdölexportierenden Nation, der neue Reichtum führte aber auch zu Problemen auf dem Arbeitsmarkt, beschleunigte die Inflation und verschaffte im Frühjahr 1977 die Erfahrung einer Umweltkatastrophe, als sich im Bohrfeld Ekofisk acht Tage lang beträchtliche Mengen Erdöl aus dem Leck einer Bohrinsel ins Meer ergossen. Die Gebietsabtretungen Finnlands an die Sowjetunion hatten Norwegen im äußersten Nordosten 1944 eine 150 km lange Grenze zur UdSSR beschert. Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Spitzbergen erleichterte diese Tatsache den norwegischen Entschluß, die Neutralitätspolitik der ersten Nachkriegsjahre aufzugeben und im April 1949 der NATO beizutreten.2 Die Inselgruppe Spitzbergen im Nordpolarmeer war 1920 Norwegen zugesprochen und 1925, nachdem Norwegen Sowjetrußland diplomatisch anerkannt hatte, in Besitz genommen worden. Vor allem die reichen Steinkohlevorkommen machen Spitzbergen zum attraktiven Besitz, auf dem Norwegen allerdings sowjetische Stützpunkte erlauben mußte. Die dänische Reaktion auf die Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht im April 1940 erscheint bei oberflächlicher Betrachtung weniger heroisch als das Verhalten der Norweger. Der König blieb im Land und die Regierung blieb im Amt, sie war fortan allerdings gezwungen, mit einem deutschen »Reichsbevollmächtigten« zusammenzuarbeiten. Bis 1943 war die Situation Dänemarks im Vergleich zu anderen Staaten unter deutscher Herrschaft exzeptionell: Regierung, Parlament und Armee bestanden nach der kampflosen Eroberung des Landes fort, es gab keinen deutschen Militärgouverneur, und Dänemark genoß im Inneren Autonomie, ja sogar das Außenministerium blieb in Betrieb. Im August 1943 kam es nach Streiks, Unruhen und Sabotageakten aber zu schweren Konflikten zwischen der Besatzungsmacht und der dänischen Regierung, die zurücktrat und die Geschäfte durch eine unpolitische Administration unter Leitung beamteter Staatssekretäre weiterführen ließ. Es folgte die Auflösung der dänischen Streitkräfte, wobei die Marine ihre Schiffe versenkte, damit sie nicht in deutsche Hand fielen. In einer einzigartigen Aktion gelang es den Dänen, die dortige Judenheit oder doch deren weitaus größten Teil vor der Deportation und Vernichtung durch die deutschen Machthaber zu retten. Im Laufe des Oktober 1943 wurden fast 8000 Personen mit Fischerbooten über den Öresund in Sicherheit gebracht. Der Widerstand gegen die Besatzung und deutsche Terrormaßnahmen, die den Widerstand brechen sollten, steigerten sich bis zum Kriegsende; im September 1944 wurde die ganze dänische Polizei gefangengesetzt und zum großen Teil in deutsche Konzentrationslager deportiert.3 Die dänischen Außenbesitzungen waren nach der Okkupation Dänemarks vom Mutterland abgeschnitten. Britische Truppen besetzten im April 1940 die
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Färöer-Inseln, ohne in deren innere Angelegenheiten einzugreifen. Im Gegenteil, die britische Besatzung stärkte das Selbständigkeitsstreben der Inselbewohner, eine Regierung und ein Parlament wurden etabliert, eine eigene Färöer-Flagge weht seither über den 21 Inseln. Nach einigem Hin und Her, ob die staatsrechtlichen Bindungen an Dänemark zu lösen oder zu wahren seien, entschied sich eine knappe Mehrheit 1946 für Kopenhagen. Im Frühjahr 1948 erhielten die Inseln Autonomie, und Ende 1948 verließen die Färöer auch das britische Währungsgebiet, in das sie während des Krieges eingegliedert worden waren, und kehrten ins dänische zurück. Grönland, das bis 1953 den Status einer dänischen Kolonie hatte, war seit 1940 ebenfalls ohne Verbindung mit seinem fünfzigmal kleineren Mutterland. Ähnlich wie Island erlangte Grönland nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg strategische Bedeutung. Der dänische Gesandte in Washington schloß 1941 mit den USA auf eigene Faust einen Vertrag (Kauffmann-Traktat), der den Amerikanern die Errichtung von Luft- und Seestützpunkten auf Grönland erlaubte. Die Regierung in Kopenhagen bestand zwar in den ersten Nachkriegsjahren auf der Räumung der amerikanischen Militärbasen, zwei Jahre nach dem Beitritt Dänemarks zur NATO und im Zusammenhang damit wurde im April 1951 ein Vertrag zwischen Dänemark und den USA abgeschlossen, in dem die Verteidigung Grönlands den Vereinigten Staaten – unter Vorbehalt der dänischen Souveränitätsrechte – übertragen wurde. Damit erhielten die USA auch das Recht auf Stützpunkte. Zur Hauptbasis der Amerikaner in Grönland, mit Bedeutung auch für den zivilen Luftverkehr, wurde Thule ausgebaut. 1953 bekam Grönland den Status einer gleichberechtigten dänischen Provinz. Die 50000 Grönländer sind seither, wie die Bewohner der Färöer seit 1948, durch 2 Abgeordnete im Kopenhagener Folketing vertreten. Seit 1979 genießt Grönland auch innere Autonomie mit eigenem Parlament und einer Regionalregierung. Die Grönländer votierten im Februar 1982 in einem Referendum für den Austritt der größten Insel der Welt aus der Europäischen Gemeinschaft.4 Außer den Nachkriegsproblemen, die auch in Norwegen und anderen westeuropäischen Ländern in vergleichbarer Situation zu lösen waren – wirtschaftlicher und sozialer Wiederaufbau, moralische Auseinandersetzung mit den Landesverrätern der Besatzungszeit –, gab es für die im Mai 1945 vom König ernannte dänische Allparteienregierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Vilhelm Buhl einige besondere Schwierigkeiten. Das drängendste Problem bestand in dem Strom von Flüchtlingen, der sich seit Anfang 1945 nach Dänemark ergoß. Fast eine Viertelmillion Menschen, davon 220000 Deutsche, die über die Ostsee vor der Roten Armee geflohen waren, befand sich in Dänemark; die Grenze zum britisch besetzten Norddeutschland war geschlossen, und die Briten hatten mit dem Flüchtlingsproblem in Schleswig-Holstein und Niedersachsen genug zu tun, als daß sie die Grenzen für weitere Ströme Heimatloser öffnen wollten. Erst Anfang 1949 konnten die letzten
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Flüchtlinge die Lager in Dänemark verlassen. Für die dänischen Steuerzahler hatte der Aufenthalt der Flüchtlinge mit 450 Millionen Kronen Kosten zu Buche geschlagen.5 Auf beiden Seiten der dänisch-deutschen Grenze gab es eine starke, auch konjunkturbedingte Bewegung, die sich einerseits gegen die deutsche Minderheit in Dänemark (Nordschleswig) richtete bzw. andererseits auf die Abtrennung des gemischtbesiedelten Gebiets auf deutscher Seite (Südschleswig), wo sich überraschend viele Menschen plötzlich ihrer dänischen Ursprünge entsannen. Die britische Regierung, die zumindest auf der schleswigholsteinischen Seite der dänischen Grenze das Sagen hatte, forderte die Regierung in Kopenhagen zu Reaktionen auf, entweder zum Austausch der Minderheiten oder zur Grenzkorrektur auf Kosten Deutschlands. In Kopenhagen blieb man aber gelassen und entschied im Oktober 1946, daß Dänemark abwarten werde, ob der südschleswigsche Aktivismus von Dauer sei, ehe staatsrechtliche Konsequenzen in Betracht kämen. Zu den Hinterlassenschaften des deutschen Besatzungsregimes gehörte auch ein enormer Geldüberhang, der durch verschiedene staatliche Eingriffe (Notenumtausch, Registrierung der Vermögensverhältnisse und Einmalabgabe) in den Jahren 1945 und 1946 abgebaut wurde. Erste Hilfe gegen die Versorgungsschwierigkeiten und den Rohstoff- und Kohlemangel, dem wegen fehlender Devisen das Land aus eigener Kraft nicht abhelfen konnte, leistete Schweden durch Lieferungen auf Kredit. Bestandteil des Wiederaufbaus war auch eine behutsame Reform der dänischen Verfassung, die im ersten Nachkriegsjahr eingeleitet und 1953 vollzogen wurde. Die Änderungen des dänischen Grundgesetzes liefen im wesentlichen auf eine Modernisierung des Bestehenden hinaus, wie z.B. die Einführung des Einkammersystems und die Herabsetzung des Wahlalters, außerdem wurde die Thronfolge neu geregelt. Seit 1924 sind die Sozialdemokraten die stärkste Partei in Dänemark (der erste sozialdemokratische Ministerpräsident Thorvald Stauning amtierte von 1924–1926 und 1929–1942), aber sie errangen auch in der Nachkriegszeit nie die absolute Mehrheit. Daß die ersten Nachkriegswahlen im November 1945 für die sozialdemokratische Partei Verluste brachten, war vor allem auf das weitgehende Sozialisierungsprogramm zurückzuführen, mit dem sie, entgegen ihrer eher revisionistischen Tradition, aufgetreten war. Innerhalb des bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreichenden dänischen Parteiensystems standen die Radikalliberalen mit ihrer innenpolitisch sozialliberalen, außenpolitisch neutralistischantimilitaristischen Programmatik lange Zeit den Sozialdemokraten am nächsten; die Regierungen der Jahre 1947 bis 1950 und 1953 bis 1968, dann mehrfach Kabinette in den 70er Jahren waren von Sozialdemokraten geführt und von Radikalliberalen unterstützt. (Die Bürgerkoalition 1968–1971 unter Führung des radikalliberalen Parteivorsitzenden Baunsgaard war eine regelwidrige Ausnahme.)
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Die mittelständisch orientierte Konservative Volkspartei und die Liberale Partei, die wie in den anderen nordischen Staaten vom Ursprung her eine Bauernpartei ist, bildeten lange Zeit die andere Hälfte des Parteienspektrums. 1960 erschien als fünfte politische Kraft die Sozialistische Volkspartei neu auf dem Plan, errang auf Anhieb elf der 179 Sitze im Folketing und erwies sich später auch als koalitionsfähig. Die Wahlen des Jahres 1973 brachten das Ende des tradierten Parteiensystems. Die vier alten Parteien mußten sich die Stimmen von nun an mit sechs neuen Gruppierungen teilen, die ihnen insgesamt 40% der Wähler abspenstig gemacht hatten. Die neuen Parteien, darunter die Zentrumsdemokraten als rechte Dissidenten der Sozialdemokratie und vor allem die Fortschrittspartei des Steuern verweigernden Anwalts Glistrup, verkörperten mehr oder minder stark den neuartigen Typ der Protestpartei, die mit unkonventionellen Methoden unberechenbare und populistische Ziele verfolgt und im Parlament den Schrecken der Etablierten verkörpert. Das Regieren wurde schwieriger in Dänemark. Knappe Mehrheiten und instabile Regierungen waren in Kopenhagen nichts Ungewohntes, aber in Krisenfällen hatten sich die vier alten Parteien meist direkt verständigen und einigen können, wie 1946 bei den Minderheitenproblemen in Schleswig, 1961 beim Verteidigungsgesetz oder 1962 bei Maßnahmen gegen die defizitäre Zahlungsbilanz. Die dänische Volkswirtschaft war bis zum EG-Beitritt, der nach einer Volksabstimmung 1973 zustande kam (Aufnahmegesuche und Verhandlungen mit Brüssel 1962 und 1967 waren erfolglos geblieben), bestimmt von einer strukturellen Dauerkrise in der Landwirtschaft und der Mitte der 50er Jahre beginnenden Expansion des industriellen Sektors. Die Absatz- und Exportschwierigkeiten der Landwirtschaft wurden mit nationalen agrarprotektionistischen Maßnahmen bekämpft. Die Probleme, die sich aus dem Zusammenwirken zweier Faktoren ergaben, nämlich der Unfähigkeit der meist kleinen Agrarbetriebe zur Mechanisierung und der Abwanderung vieler Arbeitskräfte in die expandierende Industrie, waren so aber nicht zu lösen. Mitte der 60er Jahre überstieg der Export von Industriegütern erstmals die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte. Ab 1960 herrschte Hochkonjunktur mit chronischer Inflation. Nach schwedischem Vorbild verstärkten sich die Tendenzen zum Wohlfahrtsstaat auch in Dänemark6, äußere Merkmale sind die 1956 anstelle der Altersrente eingeführte Volkspension, ein durchorganisiertes öffentliches Gesundheitswesen (1960 wurden die Krankenkassen jedermann ohne Rücksicht auf Alter und Gesundheitszustand zugänglich). Der Preis für den Wohlfahrtsstaat besteht in erheblichen Steuerbelastungen und starkem Anwachsen des personalintensiven öffentlichen Dienstleistungssektors. Beide Auswirkungen sind verdrießlich für viele Bürger, die deshalb seit 1973 durch die Wahl der Protestparteien Unmut demonstrieren und das parlamentarischpolitische System destabilisieren.
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Island war 1918 von Dänemark unabhängig geworden, blieb aber mit der dänischen Krone durch Personalunion verbunden. Die außenpolitischen Geschäfte der weitab im Nordatlantik gelegenen Insel wurden ebenfalls in Kopenhagen besorgt. Im Mai 1940 besetzten britische Truppen das Land, sie wurden im Sommer 1941 von amerikanischen Streitkräften abgelöst. Island war während des ganzen Krieges eine wichtige Operationsbasis der Amerikaner, weil es halben Wegs zwischen den USA und den europäischen Kriegsschauplätzen gelegen war. 1944 beendeten die Isländer mit großer Mehrheit nach einer Volksabstimmung die Union mit Dänemark; das ehemalige Mutterland erkannte die Selbständigkeit der Republik Island 1950 an. Die Vereinigten Staaten waren nach Kriegsende an einem ständigen militärischen Stützpunkt in Island interessiert, ein Wunsch, der auf der nordatlantischen Insel wenig Begeisterung auslöste, obwohl die isländische Wirtschaft von der Anwesenheit der Amerikaner ordentlich profitiert hatte. Es wurde schließlich vereinbart, daß die amerikanischen Truppen ab Oktober 1946 Island verlassen sollten, den Flugplatz Keflavik durfte Amerika – zunächst befristet auf sechseinhalb Jahre – weiterbenutzen. Zur Begründung gehörte der Hinweis auf die Rolle Amerikas als Besatzungsmacht in Deutschland. Die Vereinbarungen mit Washington hatten jahrelang immer neue Parteizwistigkeiten und Regierungskrisen in Island zur Folge. Aber das kleine Land hatte auch ökonomische Interessen, es partizipierte ab 1948 am Marshall-Plan und wurde 1949 NATO-Mitglied. Island unterhält keine eigenen Streitkräfte, sein Beitrag zum nordatlantischen Bündnis ist vor allem ein geographischer, er besteht in der Überlassung des wichtigen Stützpunkts Keflavik.7 Die extreme Randlage der Insel – die kürzeste Entfernung zu Norwegen beträgt fast 1000 Kilometer, nach Schottland sind es über 700 Kilometer – bedingt die Isolation und eine gewisse politische Selbstbezogenheit der Isländer, es gibt charakteristische Unterschiede im politischen Leben gegenüber den anderen nordischen Staaten. So ist die sozialdemokratische Partei in Island traditionell erheblich schwächer als im übrigen Skandinavien, stärkste Partei mit Wähleranteilen um 40% ist seit den 30er Jahren die konservative »Selbständigkeitspartei«, die – progressiver und pragmatischer als vergleichbare Gruppierungen in den anderen nordischen Ländern – vor Koalitionen auch mit der relativ starken kommunistischen »Volksallianz« (bzw. deren Vorgängern in den Jahren 1944–1947 und 1956–1958) nicht zurückschreckt, wie zuletzt mehrfach in den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Für innenpolitische Turbulenzen sorgte immer wieder, seit Ende der 50er Jahre aber mit abnehmender Tendenz, die Militärpräsenz der Amerikaner. Wegen des Stützpunkts kam es 1951 zum Streit zwischen der Selbständigkeitspartei und ihrem Koalitionspartner, der bäuerlichliberalen Fortschrittspartei, die als zweitstärkste politische Kraft des Landes dem NATO-Bündnis und vor allem der USA-Basis skeptischer gegenüberstand. Als ausgesprochen neutralistische Bewegung etablierte sich 1953 die »Partei zur Bewahrung der Nation« (später »Union der Liberalen und Linken«), die sich aus
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linken, liberalen und sozialdemokratischen Flügeln zusammensetzt und mit geringem Erfolg die NATO-Mitgliedschaft Islands und die Truppenstationierung in Keflavik bekämpft. Außenpolitisch sorgt Island mit einiger Regelmäßigkeit für »Fischereikriege«. Fischfang und Fischereiindustrie sind aber Probleme von existentieller Bedeutung für das nordische Land mit der seit vielen Jahren höchsten Inflationsrate ganz Europas, die schon Mitte der 70er Jahre 40% überstieg und Anfang 1983 auf über 80% geschätzt wurde. Dazu kommt eine chronisch defizitäre Außenhandelsbilanz. Die dank moderner Fangmethoden laufend abnehmenden Fischbestände im Umkreis des isländischen Festlandsockels zwangen die Regierung in Reykjavik, die Fischereizone 1950 auf (damals ungewöhnliche) vier Meilen auszudehnen. 1958 wurden die Hoheitsgewässer auf zwölf, 1972 auf fünfzig und 1975 gar auf 200 Seemeilen erweitert. (Norwegen folgte dem Beispiel Islands 1976.) 1972 klagten Großbritannien und die Bundesrepublik gegen Island vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag; sie erhielten zwei Jahre später recht, aber die Erweiterung der Fischereigrenzen von 1975 – von Island damit motiviert, daß der Export des Landes zu 90% vom Fischfang abhänge – führte zum dritten »Kabeljaukrieg«, in dessen Verlauf die Beziehungen zwischen Reykjavik und London vorübergehend abgebrochen wurden. Britische Fischereifahrzeuge operierten eine Zeitlang mit Geleitschutz, ein deutscher Kapitän wurde in Island zu einer Geldstrafe verurteilt, und die Häfen der Bundesrepublik waren dann für isländische Fischanlandungen gesperrt. Die Erfahrung der im Zweiten Weltkrieg gescheiterten Neutralitätspolitik bewog die nordischen Staaten, mit Ausnahme Finnlands, bald nach Kriegsende den Vereinten Nationen beizutreten. Norwegens Außenminister Trygve Lie wurde im Januar 1946 zum ersten Generalsekretär der UNO gewählt, ein Ereignis, das in der Tradition der eifrigen Mitarbeit Norwegens und ebenso der anderen skandinavischen Staaten im Völkerbund stand und auch dem Andenken des großen Norwegers Fridtjof Nansen galt. Die nordischen Staaten suchten nach dem Krieg das Heil aber auch in engerer Zusammenarbeit, die auf manchen Gebieten bald Früchte trug, etwa in Gestalt der von Norwegen, Dänemark und Schweden gemeinsam betriebenen Luftlinie SAS. Andere Beispiele sind die Einführung des gemeinsamen Arbeitsmarkts 1954 oder die nordische Paßunion. Organisatorisch bildet der 1952 gegründete Nordische Rat, dem 1955 auch Finnland beitrat, den Rahmen für die Kooperation der nordischen Staaten und die Koordination der Gesellschafts-, Kultur-, Verkehrsund Umweltschutzpolitik. Der Nordische Rat besteht aus jährlich tagenden Delegierten der einzelnen Parlamente und Vertretern der Regierungen, er hat keinerlei supranationale Befugnisse. Auf anderen – wesentlichen – Gebieten war den Versuchen der nordischen Zusammenarbeit weniger Erfolg beschieden.8 Die von Dänemark 1968 vorgeschlagene Wirtschafts- und Zollunion (NORDEK)
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scheiterte an der Absage Finnlands, und die Verhandlungen über eine gemeinsame Handels- und Zollpolitik der Jahre 1948 bis 1954 waren ebenso vergeblich geblieben wie die anschließenden Konferenzen über einen gemeinsamen nordischen Markt.9 Auch in der Verteidigungspolitik schieden sich in den ersten Nachkriegsjahren die Wege der Skandinavier. Aus Sorge um die eigene Sicherheit und wegen der amerikanischen Einladung, deren Annahme die sofortige, als dringend empfundene Lieferung von Rüstungsgütern bedeutete, entschieden sich Oslo und Kopenhagen im Frühjahr 1949 für die Mitgliedschaft in der NATO. Der Entschluß wurde dadurch erleichtert, daß die Verhandlungen zwischen Schweden, Norwegen und Dänemark über ein eigenes skandinavisches Sicherheitssystem auf der Basis prinzipieller Neutralität Anfang 1949 gescheitert waren. Norwegen und Dänemark traten daraufhin dem Nordatlantik- Pakt zu Minimalbedingungen bei. Beide Staaten verweigern in Friedenszeiten die Stationierung ausländischer Truppen, ständige Stützpunkte und die Lagerung von Atomwaffen auf dänischem bzw. norwegischem Territorium. Die Vorbehalte gegenüber dem Bündnis erfolgten auch mit Rücksicht auf die Sowjetunion, die mehrfach entsprechenden Druck ausübte; als freiwillige Entspannungsgeste hält Norwegen das Gebiet an der Grenze zur UdSSR im Status einer entmilitarisierten Zone. Das sorgsam ausgependelte Gleichgewicht im Norden Europas beruht auf dem Zusammenwirken der NATO-Mitgliedschaft Norwegens, Dänemarks und Islands mit der durch den Freundschaftsvertrag seit 1948 an die Sowjetunion gebundenen Neutralität Finnlands und der unbedingten Bündnisfreiheit Schwedens. Dieses von der geographischen Lage am Rande der jeweiligen Machtblöcke bestimmte Gleichgewichtssystem läßt den fünf nordischen Staaten auch Raum zur Pflege von Gemeinsamkeiten. VI. Die Benelux-Staaten Von Hans Woller Die Geburtsstunde der Benelux-Union schlug 1943 in London. Dort verständigten sich die Exilregierungen Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande darauf, nach Kriegsende eine dauerhafte Wirtschaftsunion zu bilden, um sich gegenüber den Großmächten behaupten zu können. Dieser Gedanke war nicht neu, schon in der Zwischenkriegszeit hatte es Bemühungen um eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit gegeben, die bereits 1921 zu einem ersten Ergebnis, der Wirtschaftsunion zwischen Belgien und Luxemburg, geführt hatten. Der Auftakt im Exil war vielversprechend: Am 21. Oktober 1943 schlössen die drei Regierungen ein Abkommen über die Schaffung einer Währungsunion, und bereits ein Jahr später folgte ein Zollvertrag (5. September 1944), der als erster Schritt zu einer wirtschaftlichen Partnerschaft gedacht war, »welche die Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der drei Länder sichern sollte«.1 Danach aber stockte der
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Integrationsprozeß. Selbst die Londoner Pläne mußten zunächst noch in der Schublade bleiben. Es zeigte sich nämlich, daß sich die drei Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so gut ergänzten wie noch in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die drei Exilregierungen waren außerdem von der Annahme ausgegangen, nach Kriegsende müsse in allen drei Ländern mehr oder weniger bei Null begonnen werden. Die deutsche Besatzung in den Niederlanden hatte aber acht Monate länger gedauert als die in Belgien, und in diesen schrecklichen Monaten war die niederländische Wirtschaft fast völlig zerstört worden. Die Wirtschaft Belgiens und Luxemburgs, die während des Krieges weniger gelitten hatte, befand sich zu dieser Zeit bereits im Prozeß der Rekonstruktion. Die unterschiedliche Ausgangslage ließ vor allem die Regierungen Belgiens und der Niederlande zu unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Rezepten greifen. Belgiens Nachkriegswirtschaft stand ganz im Zeichen einer freien Marktwirtschaft, die niederländische Regierung sah sich hingegen gezwungen, zunächst zu einem weitgehenden staatlichen Interventionismus Zuflucht zu nehmen. Die Kluft zwischen den beiden Volkswirtschaften wurde damit noch tiefer. So war es kein Wunder, daß Belgien, Luxemburg und die Niederlande ihrem Ziel einer Wirtschaftsunion nur langsam näherkamen. 1948 trat die Zollkonvention in Kraft, die die gegenseitigen Zollgrenzen beseitigte und einen gemeinsamen Zolltarif für Einfuhren aus Drittländern festsetzte. Ein Jahr später wurde als Vorstufe zur Wirtschaftsgemeinschaft eine sogenannte Vorunion beschlossen, die einen gemeinsamen Binnenmarkt und die Vereinheitlichung der Wirtschaftspolitik vorsah. Diese Erfolge wären nicht möglich gewesen ohne die amerikanische Marshallplan-Hilfe, die der europäischen Wirtschaft zu einem neuen Aufschwung verhalf und damit erst den Rahmen für eine wirtschaftlich sinnvolle Union der Benelux-Staaten schuf.2 Während die Fortschritte der wirtschaftlichen Integration der Benelux-Staaten hinter den Erwartungen zurückblieben, schlugen die drei Länder bündnispolitisch die gleiche Richtung ein und sprachen dabei meist mit einer Stimme. So schlössen sie sich 1945 den Vereinten Nationen und 1949 dem Nordatlantikpakt an. Alle drei Länder gaben damit ihre traditionelle neutrale Haltung auf. Zugleich gehörten die Benelux-Staaten zu den entschiedensten Befürwortern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, als deren Vorläufer sie ihre kleine Union verstanden. Als 1958 die Römischen Verträge über die Begründung der EWG in Kraft traten, konnten auch die Benelux-Länder den Grad an Zusammenarbeit verwirklichen, der den Gründungsvätern in London vorgeschwebt hatte: die »Union Economique Benelux«.3 Trotz des Gleichklangs in der Bündnispolitik und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit hatte jedes der drei Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges indes auch seine eigenen Probleme und Interessen. In Belgien lebte nach 1945 der Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen wieder auf und erreichte eine noch nie dagewesene Schärfe. Die
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französischsprachigen Wallonen hatten – im Bunde mit den führenden, französisch sprechenden Schichten Flanderns – seit der belgischen Revolution von 1830 den Ton angegeben. Nur wer französisch sprach, hatte Chancen für einen gesellschaftlichen Aufstieg. Das Niederländisch der Flamen war ein Dialekt der Ungebildeten gewesen. Die um die Jahrhundertwende ins Leben gerufene flämische Emanzipationsbewegung hatte erst in den dreißiger Jahren eine Gleichberechtigung der beiden Sprachen erreicht, Französisch war aber weiterhin die vorherrschende Sprache geblieben. Zu diesen alten sprachlichkulturellen Spannungen gesellten sich nach 1945 schwerwiegende wirtschaftliche und politische Gegensätze.4 Das agrarische Flandern erwachte nach Kriegsende aus seinem Dornröschenschlaf und schickte sich an, das bis dahin dominierende Wallonien wirtschaftlich zu übertrumpfen. Im Viereck Brüssel – Gent – Antwerpen – Hasselt ließen sich in den fünfziger Jahren zahlreiche ausländische Firmen zukunftsträchtiger Branchen nieder, die Antwerpener Schelde-Mündung wurde zum bevorzugten Standort von Erdölund Chemie-Konzernen.5 Die alte wallonische Kohle- und Stahlindustrie hingegen geriet nach 1945 in eine Dauerkrise und büßte ihre Stellung als wichtigster Industriezweig Belgiens langsam ein. Die wirtschaftlichen Erfolge und die gleichzeitige demographische Verschiebung zu ihren Gunsten ermunterten die Flamen, ihre Abwehr gegen das wallonisch-französische Übergewicht in Sprache und Kultur zu verstärken. Die flämischen Nationalisten forderten die Teilung Belgiens in zwei nur lose miteinander verbundene autonome Staaten mit der Hauptstadt Brüssel und provozierten damit ähnliche Forderungen ihrer wallonischen Pendants. Zur Verschärfung des Konflikts trug schließlich auch bei, daß die beiden großen Parteien des Landes ihre Hochburgen in jeweils einem Landesteil hatten: die Christlich Soziale Partei (PSC) im konservativ-katholischen Flandern, die Sozialistische Partei (PSB) im republikanisch-antiklerikalen Wallonien mit seinen profranzösischen Traditionen.6 Der anachronistisch anmutende, durch wirtschaftliche und politische Gegensätze verschärfte Sprach- und Kulturstreit zwischen Flamen und Wallonen entbrannte immer dann besonders heftig, wenn Probleme von nationalem Interesse gelöst werden mußten. Das zeigte sich schon 1945, als die Belgier über die Rückkehr König Leopolds III. zu entscheiden hatten. Leopold III. hatte seit seiner Inthronisation 1934 viel von seinem Ansehen verloren. In Wallonien warf man ihm seine schnelle Kapitulation vor den Deutschen im Jahre 1940 vor. Sein Besuch bei Hitler in Berchtesgaden war nicht vergessen. Viele hielten ihn für einen Kollaborateur und forderten seinen Thronverzicht. In Flandern, wo man dem König seit jeher nähergestanden hatte, verzieh man ihm zwar seine Heirat mit einer Bürgerlichen nach dem Tod von Königin Astrid nicht, man blieb aber trotzdem überwiegend königstreu. Die »Königsfrage« wurde so zum beherrschenden Thema der belgischen Innenpolitik und hatte eine regelrechte Spaltung des Landes zur Folge. Wechselnde Regierungen unter der Führung von
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A. Van Acker (PSB), C. Huysmans (PSB) und Paul Henri Spaak (PSB) suchten bis 1949 vergeblich nach einer Lösung. Erst als die um eine Rückkehr Leopolds bemühte Christlich Soziale Partei unter Gaston Eyskens bei den Parlamentswahlen im Juni 1949 einen eindrucksvollen Sieg errang, war der Weg frei für die vom König verlangte Volksbefragung, die schließlich eine Mehrheit von $j Prozent für die Rückkehr Leopolds erbrachte. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte die Mehrheit der Flamen für Leopold, die Mehrheit der Wallonen gegen ihn gestimmt. Eine Klärung brachte die Volksbefragung nicht. Eine Regierungskrise löste die andere ab, die Bevölkerung wurde immer wieder zu den Urnen gerufen. Die Gewerkschaften und die Sozialistische Partei stemmten sich gegen die Rückkehr von Leopold und riefen zum Generalstreik auf. Schließlich verlagerte sich der Streit um die Königsfrage auf die Straße, wo es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Leopoldisten und Antileopoldisten kam. Die bürgerkriegsähnlichen Unruhen – »Wir sind mitten in einer Revolution«, erklärte Sozialistenführer Spaak – bewogen Leopold, zugunsten seines erst neunzehnjährigen Sohnes Baudouin abzudanken.7 Danach erlebte Belgien vorübergehend ruhigere Zeiten. Die alten Wunden brachen aber schon 1954, diesmal in der Schulfrage, wieder auf. Die Koalitionsregierung aus Sozialisten und Liberalen des Ministerpräsidenten Van Acker versuchte, ein Schulgesetz durchzudrücken, das die katholischen Schulen finanziell benachteiligt hätte. Dieses Mal riefen die kirchlichen Organisationen zu Demonstrationen und Protestkundgebungen auf, und wieder kam es zu schweren Zusammenstößen. Die Süddeutsche Zeitung sprach im März 1955 von einem »Hexenkessel« in Brüssel: »In den Straßen brodelte Bürgerkriegsstimmung ... Als berittene Gendarmerie mit blankgezogenem Säbel, Polizeipatrouillen, Truppeneinheiten mit aufgepflanztem Bajonett und Feuerwehrleute mit Wasserwerfern auftauchten, verwandelte sich die anfangs geordnete Marschkolonne in tobende Kampftrupps.«8 Der Konflikt wurde 1958 nach einem Versöhnungsaufruf der belgischen Bischöfe beigelegt. Doch das Kardinalproblem Belgiens bestand weiter: die sprachlich-kulturelle Teilung in das niederländischsprachige Flandern, das französischsprachige Wallonien und das zweisprachige Brüssel. Alle Lösungsversuche scheiterten und führten bis in die siebziger Jahre zu ständigen parlamentarischen Auseinandersetzungen. Kaum war der Streit in der Schulfrage abgeklungen, warf bereits ein anderer Konflikt seine Schatten voraus: die Kongo-Krise. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein herrschte Ruhe in der belgischen Kolonie im Herzen Afrikas. Die Politik des Paternalismus, die Emanzipationsbestrebungen der farbigen Bevölkerung behutsam zu fördern versprach, schien sich zu bewähren. Doch der Schein trog: Die Belgier förderten zwar die weitgehend in ihrer Hand befindliche Wirtschaft (etwa die Ausbeutung der reichen Kupferminen in der Provinz Katanga), kümmerten sich aber kaum um soziale und kulturelle Belange der Kongolesen. 1958/59 brachen blutige Revolten aus, die die belgische Regierung, die schon
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1958 eine Politik der Entkolonialisierung eingeschlagen hatte, bewogen, den Kongo am 30. Juni 1960 überstürzt in die Unabhängigkeit zu entlassen.9 Im Vergleich zu den stürmischen Jahren in Belgien erlebten die Niederlande, die nach Kriegsende wieder ihre traditionelle Monarchie englischer Prägung errichteten, beinahe ruhige Zeiten. Zunächst galt es, die während der deutschen Besatzungsherrschaft schwer angeschlagene Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Dabei erzielten die Holländer mit weitreichenden staatlichen Kontrollen und dank der Förderung durch den Marshallplan erstaunliche Erfolge. Schon Anfang der fünfziger Jahre konnten sie das zweite große Problem, die Industrialisierung des vorwiegend agrarischen Landes, in Angriff nehmen. Ende der fünfziger Jahre war auch dieses Problem bereits weitgehend gelöst: zwischen 1950 und 1960 verdoppelte sich die Industrieproduktion und war damit nahezu dreimal so hoch wie 1936. An der Rheinmündung entstanden moderne Hochöfen und Stahlwerke. Die Küstenstriche westlich von Amsterdam und Rotterdam wurden eines der größten petrochemischen Industriezentren der Welt. Der niederländischen Industrie kam dabei das deutsche Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre zugute, denn dadurch öffneten sich die lohnenden deutschen Absatzmärkte wieder. Außerdem wurde die Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Kunden der holländischen Überseehäfen.10 Von diesem Aufschwung, der mit einer beträchtlichen Steigerung des Lebensstandards einherging, hatte nach Kriegsende niemand zu träumen gewagt. Damals hatte man sogar um die Existenz der Niederlande gefürchtet, falls – wie Unruhen in Indonesien bereits ankündigten – das große Kolonialreich, das vor dem Krieg wesentlich zum Wohlstand des Mutterlandes beigetragen hatte, in Trümmer fallen sollte. Alle Parteien sprachen sich deshalb nach dem Krieg gegen die Aufgabe der Kolonien aus. In den Reihen der Katholiken und Calvinisten wurde die holländische Herrschaft über Indonesien sogar als göttliches Recht angesehen, das mit Waffengewalt verteidigt werden sollte. Die militärische Intervention der Niederlande in Indonesien mußte 1949 allerdings nach einer Verurteilung durch die Vereinten Nationen abgebrochen werden. Indonesien wurde Ende 1949 selbständig, blieb aber noch bis 1956 mit den Niederlanden durch ein Unionsstatut verbunden.11 Die befürchteten schweren Folgen der Entkolonialisierung für die niederländische Wirtschaft traten nicht ein, längerfristig erwies sich die Aufgabe der Kolonien als eher positiv. Daß die forcierte Umwandlung des ehemaligen Agrarstaates in einen Industriestaat und der Verlust der Kolonien nicht von schweren innenpolitischen Erschütterungen begleitet wurden, lag vor allem an der »römisch-roten« Zusammenarbeit von Katholiken und Sozialisten, die von 1945 bis 1958 das Rückgrat der Regierungen bildeten. Das sozialistisch-katholische Regierungsbündnis, dem von 1948 bis 1958 der Sozialist Willem Drees vorstand, war Zeichen der Kontinuität und des Wandels zugleich. Es brachte die im Geiste
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des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gegründete Partij van de Arbeid (PvdA) an die Macht und löste die alten Koalitionen der als überholt geltenden katholischen und protestantischen Parteien ab. Andererseits behielt die größte der beiden Konfessionsparteien, die Katholische Volkspartei, eine Schlüsselposition innerhalb der Regierung. Die von der römisch-roten Koalition getragene »Politik der breiten Basis«, die von einem Burgfrieden zwischen Unternehmern und Gewerkschaften flankiert wurde, sorgte für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wirtschaftlichem Liberalismus und staatlichem Interventionismus und schuf damit die Voraussetzung für eine Reihe wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Reformen in der Nachkriegszeit, deren wichtigste der umfassende Ausbau der Sozialversicherung war. Nur in Ansätzen gelang der römisch-roten Koalition allerdings der Brückenschlag zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Blöcken. Der holländische Durchschnittsbürger gehörte traditionell einem römisch-katholischen, protestantischen oder freisinnig-neutralen bzw. sozialistischen Verband an, der auch sehr stark seine politischen und sozialen Verhaltensweisen bestimmte. Diese starke Fragmentierung der Bevölkerung, die sogenannte Versäulung (»verzuilling«) blieb bis in die siebziger Jahre eines der Hauptprobleme der niederländischen Gesellschaft. Vor allem die jüngere Generation wollte sich mit den strikten Grenzen zwischen den überkommenen Blöcken nicht länger abfinden.12 Das Großherzogtum Luxemburg, das nach den Plänen der nationalsozialistischen Machthaber ganz von der politischen Landkarte Europas hätte verschwinden und dauerhaft in das »Großdeutsche Reich« eingegliedert werden sollen, erholte sich, wie Belgien und die Niederlande, erstaunlich schnell von den im Zweiten Weltkrieg erlittenen Schäden. Einen ›Thronstreit‹ wie in Belgien, der das Land zerriß, gab es in Luxemburg nicht. Großherzogin Charlotte, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg den luxemburgischen Thron bestiegen hatte, kehrte 1945 aus dem Londoner Exil zurück. Die ersten Wahlen im November 1945 ergaben eine Mehrheit für die Christlich-Soziale Partei, deren Führer Pierre Dupong zusammen mit den Sozialisten, Kommunisten und Liberalen eine Koalition der Nationalen Union bildete, die allerdings 1947 zerbrach, als die beiden Linksparteien aus der Regierung ausschieden. Dupong blieb bis 1953 im Amt, ihm folgte der bisherige Außenminister Josef Bech, der sich, wie Dupong in seinen letzten beiden Regierungsjahren, auf eine Große Koalition aus Christlich-Sozialen und Sozialisten stützte. Die Regierung der Nationalen Union, die ansonsten einen Kurs strengster Sparsamkeit steuerte, förderte zunächst den schwer angeschlagenen Agrarsektor. Nur wenige Jahre nach Kriegsende galt der Wiederaufbau der luxemburgischen Wirtschaft als im wesentlichen abgeschlossen, und es folgte eine Phase stetigen, im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten Belgien und Holland aber bescheidenen Aufschwungs. Die Ursachen der relativ geringen Zuwachsraten lagen in erster Linie in der
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langsamen Entwicklung des beherrschenden Industriezweiges der luxemburgischen Wirtschaft, der Eisen- und Stahlerzeugung, die in den fünfziger Jahren mehr und mehr in eine Krise geriet. Die Wirtschaftsprobleme der Montanindustrie warfen ihre Schatten voraus, und die luxemburgische Regierung mußte erkennen, daß man allzu sorglos und allzu lange auf die Leistungsfähigkeit der Eisen- und Stahlindustrie vertraut hatte, anstatt die Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen. Erste Versuche, diese strukturellen Versäumnisse wettzumachen, wurden bereits in den fünfziger Jahren unternommen, doch erst das Kaderwet (= Rahmengesetz) von 1962 stellte die Weichen für eine neue Industriepolitik mit Schwerpunkten auf der chemischen Industrie und dem Maschinenbau. Die Eisen- und Stahlerzeugung blieb aber auch danach das Herzstück der luxemburgischen Wirtschaft.13 VII. Italien Von Hans Woller Als die Alliierten am 10. Juli 1943 auf Sizilien landeten, ging die Karriere Benito Mussolinis, der sein Land 1940 in einen unpopulären Krieg geführt hatte, rasch ihrem Ende entgegen. König Viktor Emanuel III., der bis dahin loyal zum faschistischen Regime gehalten hatte, täuschte sich nicht darüber, daß nach einer militärischen Niederlage der Achsenmächte und dem Fall des »Duce« auch das Schicksal der Krone auf dem Spiel stand. Der König hatte dabei weniger die Alliierten als vielmehr die »roten« Arbeitermassen zu fürchten, die in den Märzstreiks in den Großstädten des Nordens ihre Entschlossenheit zum Sturz des Faschismus bekundet hatten. Nachdem der faschistische Großrat dem Duce das Mißtrauen ausgesprochen hatte, beugte sich der König deshalb dem Druck der Mussolini-Gegner am Hof und der Führer der Widerstandsbewegung. Am 25. Juli 1943 bestellte Viktor Emanuel den Duce zu sich und ließ ihn anschließend verhaften. Ohne daß sich eine Hand zu seiner Verteidigung gerührt hätte, brach das morsche faschistische Regime zusammen. Noch am selben Tag beauftragte der König Marschall Pietro Badoglio, eine neue Regierung aus Sachverständigen und Militärs zu bilden.1 Badoglio, ein königstreuer General, der 1940 von Mussolini als Generalstabschef entlassen worden war, trat ein schweres Erbe an. Während er vorsichtig Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten führte, die am 8. September auch zu einem erfolgreichen Abschluß gelangten, strömten immer neue deutsche Truppen ins Land. Hitler hatte die Hinhaltetaktik Badoglios durchschaut und formierte nun schlagkräftige Divisionen zum Abwehrkampf gegen die mittlerweile im süditalienischen Salerno gelandeten alliierten Streitkräfte. Italien, das einen Waffenstillstand geschlossen hatte, um aus dem Krieg auszuscheiden, wurde damit immer tiefer in den Krieg verwickelt. Schlimmer noch, Italien war nach dem Waffenstillstand in drei Zonen aufgeteilt, was sich nach Kriegsende in verhängnisvoller Weise auswirkte. Im Süden des Landes gab die Regierung Badoglio unter der Kontrolle der anglo-
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amerikanischen Militärregierung den Ton an. In Mittelitalien, wo von Juli 1943 bis zum Kriegsende im Frühjahr 1945 ein blutiger Krieg zwischen deutschen und alliierten Truppen tobte, konnte die königliche Regierung Badoglios dagegen kaum größere Autorität entfalten. Einstweilen lag die Macht vor allem in den Händen der deutschen Besatzungstruppen, denen Badoglio am 13. Oktober 1943 offiziell den Krieg erklärt hatte. Im von deutschen Truppen besetzten Norden Italiens kam Mussolini, der in einem gewagten Unternehmen von deutschen Fallschirmjägern aus der Haft auf dem Gran Sasso befreit worden war, zu einem traurigen Comeback als Oberhaupt eines republikanisch-faschistischen Staates, der Repubblica Sociale Italiana (RSI) von Salò, dessen Streitkräfte an der Seite der Wehrmacht gegen die Alliierten kämpften. Die ganz von Hitler abhängige Marionettenregierung fand nur wenig Anklang in der italienischen Bevölkerung und sank schließlich zu einer »Truppe bloßer Kollaborateure« herab.2 Um so größer war die Gefolgschaft des nationalen Befreiungskomitees (Comitato di liberazione nazionale = CLN), dem die wichtigsten antifaschistischen Parteien angehörten: die kommunistische Partei (Partito Comunista Italiano = PCI), die sozialistische Partei (Partito Socialista Italiano di Unita Proletaria = PSIUP), die liberal-sozialistische Aktionspartei (Partito d’Azione) mit ihren demokratischrevolutionären Zielen, die liberale Partei (Partito Liberale Italiano = PLI) aus der Tradition des Risorgimento und die 1943 gegründete katholische Partei (Democrazia Cristiana = DC), die an die katholische Volkspartei (Partito popolare) von 1919 anknüpfte. Das nationale Befreiungskomitee, in dem den aktivistischen Widerstandskadern der Linken besondere Bedeutung zukam, legte mit großen Streiks das Wirtschaftsleben lahm, und seine Partisanenverbände kontrollierten 1944 schon weite Teile des Landes. »Im ganzen wurden mehr als hundert Städte von den Partisanen befreit, bevor wir ankamen«, hieß es in einem britischen Armeebericht, »die alliierten Armeen brauchten nur noch in die bereits befreiten Städte einzufahren und den Partisanen beim Durchkämmen letzter, vereinzelter Garnisonen zu helfen ...«3 Während in Mittel- und Norditalien noch erbittert gekämpft wurde, traten die Gegensätze zwischen der Regierung Badoglio und den im Befreiungskomitee vereinigten Parteien immer klarer zutage. Die Parteien fühlten sich aufgrund ihres Widerstandes als die einzig legitime Regierung Italiens, sie verurteilten das »neofaschistische Regime Viktor Emanuels und Badoglios«4 und forderten die Abdankung des Königs und die Bildung einer demokratischen Regierung. Viktor Emanuel, der in den Parteipolitikern nur die »Gespenster der Vergangenheit« sah, widersetzte sich diesen Forderungen. Im Ausschuß der antifaschistischen Parteien gewannen daher allmählich die revolutionären Kräfte die Oberhand, die auf den gewaltsamen Sturz Viktor Emanuels und Badoglios drängten. In dieser prekären Situation kam dem König der Führer der Kommunisten, Palmiro Togliatti, zu Hilfe, der aus seinem Moskauer Exil mit dem Auftrag zurückgekehrt war, seine Partei auf eine breite und vorurteilsfreie Kompromißpolitik einzuschwören, die die Kommunisten ihrem Ziel der
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Teilnahme an der Macht näherbringen sollte. Togliatti versagte sich allen revolutionären Experimenten und schlug den Parteien statt dessen vor, in die Regierung Badoglio einzutreten und die Entscheidung über das Schicksal der Monarchie bis zum Kriegsende zu vertagen. Auf diesen Kurs einzuschwenken wurde den revolutionären Kräften insofern etwas erleichtert, als sich Viktor Emanuel zur gleichen Zeit auf Druck der Amerikaner verpflichtete, nach der Befreiung Roms abzudanken und seinen Sohn Umberto als Statthalter einzusetzen.5 Nach der Befreiung Roms im Juni 1944 zog sich Viktor Emanuel ins Privatleben zurück, Badoglio, an dessen Kabinett sich – wie von Togliatti vorgeschlagen – noch kurz Vertreter aller antifaschistischen Parteien beteiligt hatten, demissionierte, und der Präsident der CLN, der ehemalige Reformsozialist Ivanoe Bonomi, übernahm den Posten des Ministerpräsidenten. Die Parteien hatten damit einen Erfolg errungen, der aber dadurch getrübt wurde, daß die im Widerstand gewonnene Solidarität der verschiedenen Gruppen zunehmend einem Ringen um die Gestaltung von Staat und Gesellschaft und die Vorherrschaft im künftigen Italien wich. Die Sozialisten Pietro Nennis und die Mitglieder der Aktionspartei wollten »der Widerstandsbewegung einen politisch revolutionären Stempel aufdrücken«6 und der Niederringung des Faschismus eine vollkommene Erneuerung der sozialen und politischen Struktur des Landes folgen lassen. Keinesfalls wollten sie sich mit der Rückkehr zum alten vorfaschistischen Staatstyp begnügen. Die kommunistische Partei, die mit den Sozialisten in der Volksfront vereinigt war, bekannte sich zwar ebenfalls zu diesen weitreichenden Zielen. Sie hielt aber revolutionäre Bestrebungen in der anglo-amerikanischen Einflußsphäre im Augenblick für wenig aussichtsreich und verlegte sich deshalb darauf, ein gutes Einvernehmen mit der wahrscheinlich mächtigsten bürgerlichen Partei, den Christdemokraten, herzustellen, um sich so den größtmöglichen Einfluß auf die Regierung zu sichern. Den Liberalen und der DC, die beide über einzelne Reformmaßnahmen durchaus mit sich reden lassen wollten, gingen die Pläne der Linken viel zu weit. Sie sahen im Faschismus eine Krankheit, die einen im Grunde gesunden Körper befallen hatte. War die Krankheit auskuriert, so konnte man an der Struktur des alten, liberalen Italien von vor 1922 wieder anknüpfen. Das Ringen zwischen den sozialistisch-kommunistischen und gemäßigten Kräften der DC und PLI war während der Regierungszeit von Bonomi in vollem Gange, und es setzte sich unter der Allparteienregierung von Ferruccio Parri (Aktionspartei), der im Juni 1945 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, fort. Parri, eine der großen Gestalten des Widerstandes, verkörperte die Bestrebungen nach einer demokratischen Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Seine Regierung, in der die Linksparteien die entscheidenden Ressorts innehatten, war zu tiefgreifenden Reformen bereit: etwa zu scharfen Säuberungsprozessen, einer progressiven Besteuerung der Großindustrie und mehr Mitbestimmungsrechten der Gewerkschaften in den Betrieben. Doch die antifaschistische Welle hatte
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ihren Höhepunkt schon überschritten. Parri war nicht imstande, die auseinanderstrebenden Kräfte zu bändigen, und schließlich zogen es die um den Koalitionsfrieden besorgten Sozialisten und Kommunisten vor, ihn im Dezember 1945 fallenzulassen und sich mit den bürgerlichen Parteien auf den angesehenen Führer der Christdemokraten, Alcide de Gasperi, als neuen Ministerpräsidenten zu einigen. De Gasperis Regierung gehörten – wie unter Parri – noch alle Parteien der antifaschistischen Koalition an, das Gewicht der Linksparteien nahm aber beträchtlich ab. Dies zeigte schon ein Blick auf die Kabinettsliste: Während die Vertreter der Linken mit unbedeutenden Ministerien vorliebnehmen mußten, vereinigte der Ministerpräsident das Außen-, Innenund das Ministerium des Italienischen Afrika in seiner Hand. Die Zeit des Widerstands war damit zu Ende, und der politische Erneuerungswille, der den Widerstand so sehr beflügelt hatte, erlahmte mehr und mehr.7 Der Sieg der Gemäßigten um de Gasperi war das Resultat der Entwicklung seit der Entmachtung Mussolinis im Jahre 1943. Den restaurativen Kräften kam die unentschlossene und in taktischen Fragen uneinige Haltung der Linken zugute, und sie profitierten vor allem von der Aufteilung Italiens in drei Zonen. Die Linksparteien hatten lediglich in den nördlichen Teilen des Landes die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, dort also, wo sie sich im Widerstand gegen die deutschen Besatzungstruppen und deren faschistische Vasallen besonders hervorgetan und eine echte Untergrundregierung gebildet hatten. In Mittel- und Süditalien hatten dagegen der König und Badoglio – soweit es in ihrer Macht stand – die alte Staats- und Gesellschaftsordnung restauriert. Die überwiegend bäuerlich-konservative Bevölkerung hatte praktisch überhaupt keine Erfahrungen mit der Widerstandsbewegung gemacht, entsprechend skeptisch beurteilte sie die von der Linken propagierten politischen Rezepte. Der »frische Nordwind«, den Pietro Nenni angekündigt hatte, hätte aber vielleicht dennoch alle Widerstände, die sich einer grundlegenden Erneuerung in den Weg stellten, weggefegt, wenn die gemäßigten Kräfte nicht von Anfang an von den Alliierten begünstigt worden wären, die den Befreiungskomitees – trotz der militärischen Zusammenarbeit – politisch mißtrauten und in ihnen vor allem Unruheherde und Keimzellen revolutionärer Aktionen sahen. Außerdem lag es im Interesse der Alliierten, die Kontinuität des Staates zu schützen, in dessen Namen Badoglio seine Unterschrift unter die Waffenstillstandsurkunde gesetzt hatte.8 Deshalb drängte insbesondere die britische Regierung darauf, den Einfluß der nationalen Befreiungskomitees frühzeitig einzudämmen und die gemäßigten Kräfte zu protegieren. Die Ereignisse in Griechenland im Dezember 1944, wo die von den Kommunisten dominierte Nationale Volksbefreiungsarmee (ELAS) die Macht an sich zu reißen versuchte, schienen die Befürchtungen der AngloAmerikaner zu bestätigen. »Die Lektion, die wir in Griechenland gelernt haben«, so der Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Italien, General Harold Alexander, in einem Gespräch mit dem späteren britischen Premierminister Harold Macmillan vom Dezember 1944, »bestand darin, daß wir von Anfang an
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die Kontrolle über diese Bewegungen erlangen mußten. Wenn man annahm, daß der Feldzug im Frühsommer (1945) zu Ende gehen würde, dann war es jetzt höchste Zeit, die Situation klar zu erfassen und die Partisanen mit britischen Offizieren und zuverlässigen Italienern zu infiltrieren ... Die Hauptsache war, die Widerstandsbewegung fest in den Griff zu bekommen, bevor sie, wie in Griechenland, ein bloßes Werkzeug des Kommunismus wurde.«9 Der neue Ministerpräsident de Gasperi, der schon in der katholischen Volkspartei eine führende Rolle gespielt hatte, war fest davon überzeugt, daß mit den Kommunisten und Sozialisten ein dauerhaftes Bündnis nicht möglich sei, dennoch versuchte er, seine Kontrahenten Togliatti und Nenni durch eine geschmeidige Kompromißpolitik zumindest für eine Übergangszeit bei der Stange zu halten. Das fiel ihm leicht, denn in den Reihen der Sozialisten tobten 1945/46 heftige Richtungskämpfe, und die Kommunisten waren um eines Ministersessels willen zu fast unbegrenzten Zugeständnissen bereit. De Gasperi gelang es so mühelos, die Linksparteien in allen wichtigen Fragen auszumanövrieren. Ohne auf größeren Protest zu stoßen, ließ er die unter Parri begonnene politische Säuberung einstellen und die von den nationalen Befreiungsausschüssen eingesetzten Präfekten und Quästoren durch Berufsbeamte aus der Zeit des Faschismus ersetzen. Zugleich hatten sich die Volksfrontparteien mit einer liberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik abzufinden, und sie mußten auch zurückstecken, als 1946 die »Waffenruhe in der Staatsformfrage«, auf die sich 1944 alle Parteien geeinigt hatten, beendet und eine Entscheidung über Monarchie oder Republik herbeigeführt werden sollte. Die Christdemokraten und Liberalen setzten sich mit ihrem Vorschlag, das Volk selbst entscheiden zu lassen, durch. Das Schicksal der Monarchie, das 1944/45 so gut wie besiegelt schien, war damit wieder eine offene Frage, denn in Süd- und Mittelitalien konnte das Haus Savoyen auf eine treue Anhängerschaft zählen. Die Hoffnungen der bürgerlichen Parteien, in einem Volksentscheid könne die Monarchie eher gerettet werden als in einer Abstimmung eines parlamentarischen Gremiums (wie es die Linksparteien vorgeschlagen hatten), hätten sich beinahe erfüllt: nur 54% der Italiener stimmten für die Republik.10 De Gasperi hatte den Untergang der Dynastie Savoyen, die seit Cavour die Einheit der Nation symbolisiert hatte, nicht verhindern können. Ebensowenig konnte er es vermeiden, daß der jungen Republik im Friedensvertrag von Paris vom 10. Februar 1947 die Rechnung für die außenpolitischen Abenteuer Mussolinis präsentiert wurde. So mußte Italien etwa 360 Millionen Dollar Reparationen leisten, einen großen Teil seiner Flotte abgeben und seine Streitkräfte auf eine Stärke von 300000 Mann beschränken. Wie zu erwarten gewesen war, mußten die Eroberungen der Ära Mussolini zurückgegeben werden. Darüber hinaus verlor Italien auch seine älteren afrikanischen Kolonien und den kleinasiatischen Dodekanes; einige kleinere Grenzgebiete mußten an Frankreich abgetreten werden. Am
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schmerzlichsten war der teilweise Verlust der Venezia Giulia an Jugoslawien. Dieses Gebiet war bei Kriegsende von jugoslawischen Partisanen besetzt worden, die sich erst auf Druck der Alliierten wieder zurückzogen. Nach längeren Verhandlungen einigte man sich 1946, Triest und sein Hinterland zu einem neutralen Freistaat unter der Aufsicht der Vereinten Nationen zu erklären. Diese Lösung, die auch in den Friedensvertrag aufgenommen wurde, bewährte sich aber nicht. Die Triestfrage wurde zu einer Quelle dauernder Streitigkeiten, bis es 1954 schließlich zu einer beide Seiten befriedigenden Regelung kam, nach der Triest und seine nähere Umgebung an Italien fielen.11 Italien war mit den Bestimmungen des Friedensvertrages äußerst unzufrieden – allen voran Ministerpräsident de Gasperi, der auf der internationalen Bühne für sich und sein Land inzwischen so großes Ansehen erworben hatte, daß er hoffen durfte, Italien würde von den Alliierten als Verbündeter anerkannt und nicht als besiegtes Land behandelt. »Dieser Vertrag erschüttert das nationale Gefühl«, ließ er den Vereinigten Staaten mitteilen, und zugleich deutete er an, daß er sich nach Kräften um eine Revision des Friedensvertrages bemühen werde.12 Nachdem sich aber die erste Aufregung in der italienischen Öffentlichkeit gelegt hatte, setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, daß Italien mit dem Friedensvertrag zufrieden sein konnte. Immerhin konnte es sein nationales Territorium behaupten; sogar Südtirol, das 1945 von Österreich beansprucht wurde, blieb bei Italien, das sich allerdings verpflichten mußte, der deutschsprachigen Bevölkerung gewisse Sonderrechte einzuräumen.13 Während die italienische Regierung 1946/47 hauptsächlich damit beschäftigt war, auf die laufenden Friedensverhandlungen einzuwirken, tagte in Rom die am 2. Juni 1946 gewählte Verfassunggebende Versammlung. Der Ausgang der Wahl, der ersten auf der Basis eines echten allgemeinen Wahlrechts durchgeführten Wahl in der Geschichte Italiens (erstmals besaßen auch die Frauen das Wahlrecht), bestätigte nur, was sich schon seit 1945 abzeichnete: das weitere Erstarken der gemäßigten Kräfte und die parteipolitische Polarisierung in ein gemäßigtes katholisch-konservatives und ein sozialistischkommunistisches Lager. Die DC wurde die mit Abstand stärkste Partei, mit 207 Mandaten verfügte sie über fast ebenso viele Sitze wie Sozialisten und Kommunisten, die zusammen 219 Mandate erreichten. Die Liberalen, die traditionelle Regierungspartei des alten Italien, gerieten mit nur 41 Sitzen ebenso an den Rand des politischen Geschehens wie der »Vorposten im antifaschistischen Lager«, die Aktionspartei, die nur sieben Abgeordnete in die Verfassunggebende Versammlung entsandte. Unerwartet stark war dagegen die »Fronte dell’ Uomo Qualunque« (30 Sitze), eine rechtsradikale »Jedermann«Bewegung, die – wie die französischen Poujadisten und die deutsche Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung des Demagogen Alfred Loritz – ihre Anhänger vor allem im verunsicherten Mittelstand fand.14 Trotz der parteipolitischen Polarisierung flackerte in den Verhandlungen der Verfassunggebenden Versammlung nicht selten so etwas wie der Geist der
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Resistenza auf, so daß die neue Verfassung in einem einvernehmlichen Klima erarbeitet werden konnte. Der Brückenschlag zwischen den beiden Lagern war noch möglich. Die Verfassung, der am 22. Dezember 1947 die Abgeordneten der großen Parteien zustimmten, wurde denn auch allen wichtigen Traditionen der italienischen Geschichte gerecht – den liberalen ebenso wie den christlichkonservativen und den sozialistischen. Heftig umstritten war lediglich der am 24. März 1947 verabschiedete Artikel 7, der bestimmte, daß das Verhältnis zwischen Kirche und Staat durch die 1929 geschlossenen Lateranverträge geregelt werde. Nach längeren internen Auseinandersetzungen stimmten die Kommunisten – anders als ihre sozialistischen Partner der Volksfront, die ihrer laizistischen Tradition treu blieben – schließlich zusammen mit den Christdemokraten für die Übernahme der eng mit dem Faschismus verbundenen Verträge in die Verfassung.15 Den Kommunisten wurden ihre weitreichenden Zugeständnisse schlecht gelohnt. Bereits im September 1946 hatte de Gasperi die Amerikaner vertraulich wissen lassen, er sei schon jetzt bereit, die Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu beenden. Er fände aber, daß der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen sei, denn es sei höchst ungewiß, wie die Sowjetunion nach einem Ausschluß der italienischen Kommunisten aus der Regierung auf der Friedenskonferenz reagieren würde. »Wenn der Friedensvertrag aber einmal unterzeichnet sei ... dann müßten die Karten offen auf den Tisch gelegt werden. Danach würde eine allgemeine Krise inszeniert mit dem Hauptzweck, die Kommunisten endgültig aus dem Feld zu schlagen.«16 Und tatsächlich, kaum hatten der Friedensvertrag und der Artikel 7 der Verfassung die parlamentarischen Hürden passiert, gab de Gasperi seine Burgfriedenspolitik auf und steuerte offen auf den Bruch mit den Linksparteien zu. Der Koalitionsfrieden hatte sich seit Ausbruch des Kalten Krieges nur noch mühsam aufrechterhalten lassen. Während sich die DC, auch angesichts der dringend benötigten amerikanischen Finanzhilfe, eindeutig für den Westen entschieden hatte und beispielsweise die Truman-Doktrin begeistert begrüßte, weil sie in ihr eine Garantie für die Sicherheit Italiens sah, verurteilten die Kommunisten – ganz auf der Linie Moskaus – die von Truman verkündete Eindämmungspolitik der Vereinigten Staaten und stellten sie auf eine Stufe mit dem »deutschen Imperialismus«.17 Die außenpolitisch traditionell neutralen Sozialisten, die im Januar 1947 auf ihrem Parteitag von Rom die Abspaltung eines kleineren sozialdemokratischen Flügels unter Giuseppe Saragat zu verschmerzen hatten, blieben aus Sorge um die Einheit der Arbeiterbewegung an der Seite ihres Volksfrontpartners. Der Bruch war damit unvermeidlich. Ende Mai 1947 schieden die Sozialisten und Kommunisten aus der Regierung aus. Ein Jahr danach mußten die Wähler über de Gasperis Kurs der Anlehnung an die USA und der scharfen Wendung gegen die Volksfront entscheiden. Der Wahlkampf fand in einer Atmosphäre höchster Aufgeregtheit statt, die von innen- und außenpolitischen Ereignissen gleichermaßen geschürt wurde. Im
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Februar/März 1948 hatte die kommunistische Partei der Tschechoslowakei in einem von Moskau unterstützten Staatsstreich die Macht in Prag übernommen. Wenig später hatten die Westmächte das populäre Versprechen abgelegt, sich für die baldige Rückkehr Triests in das italienische Hoheitsgebiet einzusetzen, und zugleich hatten die Vereinigten Staaten durchblicken lassen, bei einem Wahlsieg der Volksfront könne Italien nicht mehr mit wirtschaftlicher Unterstützung rechnen. »Unsichtbar bestimmt das Dollarschwert Marshalls die italienische Wahl-Statt«, schrieb »Der Spiegel« vom 20. März 1948. Mit einem regelrechten Propagandafeldzug gegen die Linksparteien griff auch der Vatikan massiv in den Wahlkampf ein. Vor diesem Hintergrund konnte die Wahlkampfparole der Volksfront »Tiefgreifende Strukturreform oder konservative, ja faschistische Reaktion« weitaus weniger Anziehungskraft entfalten als der Slogan der Christdemokraten »Demokratische Freiheit oder kommunistische Diktatur«.18 Der Sieg der DC bei den Wahlen vom 18. April 1948 war überwältigend. Sie erhielt mit über 48% der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate, die Volksfrontparteien mußten sich mit nur 31% der Stimmen zufriedengeben. Italien kam aber trotz des deutlichen Sieges der DC nicht zur Ruhe; der Wahlkampf hatte allen Parteien zu große Wunden geschlagen. Die Linksparteien sahen sich einer öffentlichen Kampagne ausgesetzt, die 1949 in dem Entschluß des Papstes gipfelte, alle marxistisch orientierten Gläubigen aus der Kirche auszustoßen. Die Kommunisten andererseits konnten ihre Enttäuschung über den Ausgang der Wahl kaum verhehlen und machten ihren ganzen Einfluß geltend, um die Gewerkschaften zu immer neuen Streiks anzustiften. In diesem aufgeheizten Klima wurde am 14. Juli 1948 ein Attentat auf den Führer der kommunistischen Partei, Palmiro Togliatti, verübt, das Italien in einen Bürgerkrieg zu stürzen drohte. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen, ein Generalstreik wurde ausgerufen, der aber wenig später – angesichts einer enormen staatlichen Machtdemonstration – wieder abgebrochen wurde. Das Ringen zwischen den konservativ-katholischen und den sozialistischkommunistischen Kräften, das seit 1943 andauerte, war damit entschieden – für lange Zeit, denn die DC konnte auch in den folgenden Wahlen meist etwa 40% der Stimmen behaupten, die als Handlanger Moskaus abgestempelten Kommunisten und ihre sozialistischen Partner erreichten dagegen in der Regel nur etwa 30–35%. Zugleich zementierte der Ausgang der Wahl von 1948 die Aufspaltung Italiens in zwei Lager. Die Folge war ein politischer Immobilismus und die »Überstabilisierung des Parteien- und Koalitionssystems« (Karl-Dietrich Bracher). Ein Wechsel in der Regierungsverantwortung schien unmöglich, da dies bedeutet hätte, die Kommunisten oder die mit ihnen verbündeten Sozialisten an der Macht zu beteiligen.19 Nach seinem glänzenden Wahlsieg setzte de Gasperi, der sich lieber auf eine große Koalition der Mitte (»centrismo«) aus DC, Republikanern, Liberalen und Sozialdemokraten stützen als auf eine Alleinregierung der in sich uneinigen DC verlassen wollte, seine Politik der
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Anlehnung an die USA und der westeuropäischen Integration zielstrebig fort. 1949 gehörte Italien zu den Gründungsmitgliedern des Nordatlantikpakts, 1951 trat es der Europäischen Montanunion bei. Damit wurden unter der Führung de Gasperis die Weichen gestellt für den Beitritt Italiens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957). Neben seinen außenpolitischen Erfolgen konnte de Gasperi zunächst auch durchaus zufriedenstellende Ergebnisse in der Wirtschafts- und Sozialpolitik erzielen. Als er im Dezember 1945 die Regierungsgeschäfte übernahm, stand Italien vor gewaltigen wirtschaftlichen Problemen. Das Ausmaß der Kriegszerstörungen hielt sich zwar in Grenzen, die Industrie produzierte aber nur etwa ein Viertel ihrer Vorkriegsleistung. Die Agrarproduktion betrug zwei Drittel des Vorkriegsstandes, und Italien entging nur deshalb einer ernsten Versorgungskrise, weil die USA große Mengen Getreide lieferten. Zugleich hatte Italien unter einer rasch ansteigenden Geldentwertung und großer Arbeitslosigkeit (1947 über 2 Millionen = 10%) zu leiden, die aus der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion und der großen Bevölkerungszunahme resultierte. Dem Problem der Arbeitslosigkeit, das in früheren Jahren durch eine hohe Auswanderungsrate etwas abgemildert wurde, konnte die Regierung de Gasperi nicht beikommen; die Arbeitslosenquote lag auch in den fünfziger Jahren stets bei etwa 10%. Dagegen gelang es ihr, die Geldentwertung rasch abzufangen. Finanzminister Luigi Einaudi, der Architekt von de Gasperis Finanzpolitik, bediente sich dabei der »klassischen Mittel deflationistischer Geldund Budgetpolitik«. Um die kleinen Sparer zu schonen, verzichtete er auf eine Währungsreform und vertraute statt dessen auf die drastische Kürzung der Staatsausgaben und Bankkredite für Industrie und Handel. Die Arbeitslosenzahl stieg dadurch zwar kurzfristig weiter an, immerhin wurde aber die Inflation wirkungsvoll eingedämmt. Die »liberale Roßkur«20 schlug an. Schon 1948 erreichte die Industrieproduktion den Stand des Jahres 1938 (=100), 1951 betrug der Index 136, 1953 sogar 164. Die landwirtschaftliche Produktion hinkte zwar etwas hinterher, 1951 wurde aber auch hier der Stand von 1938 erreicht. Zu dieser Aufwärtsentwicklung trugen neben der Preisstabilität die UNRRA- und Marshallplan-Gelder (bis 1952 etwa drei Milliarden Dollar) bei, die Italien für die Erneuerung der industriellen Anlagen und den Erwerb von Rohstoffen verwendete. Auch die Arbeitsproduktivität konnte erheblich gesteigert werden. Das gelang vor allem deshalb, weil das demokratische Italien aus der Zeit des Faschismus eine ansehnliche Zahl von verstaatlichten Industriebetrieben und Banken sowie einige staatliche Wirtschaftsförderungs-Organisationen erbte, die der Regierung eine effektive Wirtschaftslenkung erlaubten. So spielte etwa das 1933 gegründete Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI) eine wichtige Rolle bei der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion. Die Leistungsfähigkeit der Industrie nahm nicht zuletzt auch deshalb zu, weil der Einfluß der Gewerkschaften in den Betrieben nach der Spaltung der Einheitsgewerkschaft im
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Jahre 1948 rapide zurückging. Mehr mit Fragen der »großen Politik« beschäftigt, überließen die Arbeitnehmervertreter z.B. die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitstempos weitgehend den Unternehmern. Italien erlebte in den fünfziger Jahren, ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland, ein »Wirtschaftswunder«. Die jährliche Zuwachsrate betrug in den Jahren 1949 bis 1963 durchschnittlich sechs Prozent – Zuwachsraten, wie sie im gleichen Zeitraum nur noch in Japan und Westdeutschland, nicht aber in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten erzielt wurden. Den größten Sprung nach vorne machte der industrielle Sektor: zwischen 1949 und 1963 stieg die Produktion durchschnittlich um 8% jährlich. Am stärksten profitierte die petrochemische Industrie, die infolge beträchtlicher Erdgasvorkommen in der Poebene zum Wirtschaftssektor mit den höchsten Zuwachsraten wurde. Italien war damit aber noch lange keine Industrienation; in den fünfziger Jahren waren noch mehr als 40% der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft (in Westdeutschland nur noch 15%) und nur etwa 32% in der Industrie tätig.21 Der Ende der vierziger Jahre einsetzende steile wirtschaftliche Aufstieg erlaubte es der Regierung de Gasperi, das Kardinalproblem italienischer Strukturpolitik, das wirtschaftliche und zivilisatorische Gefälle von Norden nach Süden (siehe Tabelle), in Angriff zu nehmen. Symptome der Unterentwicklung in Süditalien22 SüditalienNord- und Mittelitalien Pro-Kopf-Einkommen (Italien = 100)58,2126,1 Elektrizitätsverbrauch pro Kopf in kWh153,1683,1 Fleischverbrauch pro Kopf in kg7,617,1 Personen pro Wohnraum1,861,21 Durchschnittseinkommen pro Hektar in 1000 Lire230290 Grundkapital industrieller Aktiengesellschaften (in Mio Lire)242,530636,5 Analphabeten pro 100 Einw. über sechs Jahre24,35,7 Nettosozialprodukt (zu Marktpreisen)19586877 Zahl der Radios9065153321094 Plätze in motorisierten
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Verkehrsmitteln (je 1000 Einwohner)29103
Im Süden, wo etwa 18 Millionen Italiener (= 37% der Gesamtbevölkerung) lebten, hausten hunderttausende in primitivsten Verhältnissen, viele waren unterernährt, und es fehlte an den elementarsten hygienischen Einrichtungen. Von der Industrialisierung war Süditalien kaum berührt worden, aber auch die Landwirtschaft erzielte dort geringere Erträge als die im Norden. Die halbfeudale Latifundienwirtschaft litt unter einem schlechten Verkehrsnetz und einem zurückgebliebenen Handels- und Kreditsystem. 1947 betrug die Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft bis zu 50%, in den nördlichen Provinzen dagegen nur zwischen einem und neun Prozent. Die meisten Arbeiter standen so vor der Alternative, für miserable Löhne und oft nur saisonal zu arbeiten oder ins Ausland zu gehen. Nachdem sich die Maßnahmen der ersten Nachkriegsjahre zur Verbesserung der Lage im Süden als unzureichend erwiesen hatten, verabschiedete die Regierung im August 1950 einen Zehn-Jahres-Plan zur grundlegenden Änderung und Modernisierung der gesamten wirtschaftlichen Struktur. Zu diesem Zweck wurde die »Cassa per il Mezzogiorno« (Südkasse) eingerichtet, der aus dem Staatshaushalt und von ausländischen Finanzinstituten ansehnliche Summen zur Verfügung gestellt wurden. Zugleich wurden ganz oder teilweise in Staatseigentum befindliche Unternehmen gezwungen, im Süden zu investieren. Privaten Kapitalinhabern räumte man beträchtliche Steuervorteile und andere Vergünstigungen ein, wenn sie ihr Geld im Süden anlegten. Bei diesen Maßnahmen blieb es aber nicht. Nachdem es 1949/50 in Kalabrien zu schweren Unruhen unter der Landbevölkerung gekommen war, sah sich die Regierung, trotz erheblicher Widerstände in den eigenen Reihen, zu einer Agrarreform gezwungen, in deren Gefolge etwa 700000 Hektar Land enteignet und an gut 100000 Familien – drei Viertel davon aus dem Süden – verteilt wurden. Die Regierung beabsichtigte damit nicht nur eine Besänftigung der rebellierenden Tagelöhner und Kleinbauern, sondern verfolgte zugleich das Ziel, eine Klasse von kleinen Landbesitzern zu schaffen, die sich gegenüber der Propaganda der Kommunisten als immun erweisen würde.23 Die Hoffnungen der Regierung, durch die Südkasse und die Agrarreform das Gefälle zwischen dem industrialisierten Norden und dem unterentwickelten Süden verringern zu können, erfüllten sich nur zum Teil. Die von der Südkasse finanzierten Projekte bewirkten immerhin eine sichtbare Strukturverbesserung in manchen Wirtschaftsbereichen und trugen wesentlich zur Senkung der Arbeitslosigkeit bei. Viele Initiativen verpufften allerdings. So flossen etwa beträchtliche Summen in Industriebetriebe, die wenig später aufgegeben werden mußten, weil die nötigen Arbeitskräfte fehlten. Hunderttausende wanderten nämlich in den fünfziger Jahren nach Norden, wo im Zeichen des beginnenden Wirtschaftswunders immer neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Durch diese
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Binnenwanderung, die größte seit der Gründung des italienischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert, verlor der Süden einen großen Teil seiner leistungsfähigen Arbeitskräfte. Auch die Agrarreform war lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein, denn nur eine winzige Minderheit der etwa sechs Millionen Landarbeiter kam in ihren Genuß. Trotz der unstreitigen wirtschaftlichen Erfolge und der Anstrengungen zur Lösung der drängenden Strukturprobleme geriet die christdemokratische Regierung de Gasperi Anfang der fünfziger Jahre zunehmend in das Kreuzfeuer der Kritik. Man warf der DC vor, in zahllose Flügel gespalten zu sein, sich in dauerndem Intrigenspiel zu verbrauchen und dem Klerus immer größeren Einfluß einzuräumen. So spottete etwa der Historiker Gaetano Salvemini, Italien sei eine »monarchische Republik der Priester«.24 In den Reihen der konservativen Rechten und der Monarchisten, die ihre Niederlage im Volksentscheid von 1946 noch nicht verwunden hatten, klagte man über die zu weitgehende Bodenreform und über die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Die Linksparteien verziehen es de Gasperi nicht, daß er die unter Parri begonnene politische Säuberung abgebrochen hatte. Der Faschismus sei noch immer am Leben. Egidio Reale hatte schon 1945 geschrieben: »Überall kann man noch Spuren finden: in der Verwaltung, in den Ministerien, in allen Ämtern, in der Armee ... in den Universitäten ...«25 Vor allem aber kreidete die Linke der Regierung an, daß sie die Wirtschaftspolitik beinahe ganz in die Hände von Anhängern des klassischen Liberalismus gelegt hatte. Die Vertreter der reinen laisser-faire-Schule betrieben nach 1945 eine Wirtschaftspolitik, die zwar zu einem imponierenden Aufschwung führte, zugleich aber den wirtschaftlichen Eliten aus der Zeit des alten Italien erhebliche Sonderrechte gewährte. Zu allem hin war die größte Regierungspartei schon häufiger in den Geruch der Korruption und Ämterpatronage gekommen. De Gasperi blieb das Unbehagen in der Bevölkerung nicht verborgen. Er war sich bewußt, daß die von ihm geführte, in sich zerstrittene Koalition ihren glänzenden Wahlsieg von 1948 wohl kaum würde wiederholen können. Um den Fortbestand seiner Regierung über die nächste Wahl hinaus zu sichern, drängte er deshalb auf die Einführung eines Mehrheitsbonus, der den Koalitionsparteien bei 50,1% der Stimmen zwei Drittel der Sitze im Parlament erbracht hätte. In der öffentlichen Diskussion über die »legge truffa« (Schwindelgesetz), das fatal an das faschistische Wahlgesetz von 1923 erinnerte, geriet de Gasperi immer mehr in Mißkredit und stürzte schließlich nach der Wahl vom 8. Juni 1953. Die DC blieb trotz einer empfindlichen Einbuße von mehr als acht Prozent der Stimmen die stärkste Partei (40%), da aber auch ihre Koalitionspartner an Stimmen verloren hatten, verfügte die alte Regierung nur noch über eine hauchdünne Mehrheit. Sie konnte sich nicht mehr auf de Gasperi als Ministerpräsidenten einigen. Die Kommunisten erzielten mit 22,6% der Stimmen leichte Gewinne, die Sozialisten errangen nur noch 12,7%.26
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Don Luigi Sturzo, das »Gewissen« des bürgerlich- konservativen Italien, hatte mit seiner Prophezeiung recht, als er nach der Wahl von 1953 schrieb: »Die Voraussage der politischen Meteorologie hat nach den Wahlen zu lauten: schwache Regierung und stürmisches Parlament.«27 Bis zum Ende der fünfjährigen Legislaturperiode löste eine Regierungskrise die andere ab. Sechs Regierungen – alle unter der Führung der DC – wurden gebildet, keine hielt sich länger als zwanzig Monate. De Gasperis Nachfolger Giuseppe Pella mußte schon im Januar 1954 wieder zurücktreten. Amintore Fanfani war anschließend sogar nur für vierzehn Tage Ministerpräsident. Auf der Suche nach stabilen Mehrheiten bewegte man sich im Kreise: immer wieder wurden dieselben Männer als Regierungschefs gehandelt, die sich alle derselben Rezepte zur Regierungsbildung bedienten. Sie strebten entweder eine Minderheitsregierung der DC oder die Neuauflage der Vier-Parteien-Koalition nach dem Vorbild von de Gasperi an. So war aber aus der Sackgasse, in die die italienischen Parteien infolge der Aufspaltung in ein konservativ-katholisches und ein kommunistischsozialistisches Lager geraten waren, nicht herauszukommen. Die Minderheitsregierungen der DC waren auf die parlamentarische Unterstützung der Monarchisten und Neofaschisten angewiesen. Diese Hilfestellung stellte aber das innere Gleichgewicht der DC auf schwere Proben, denn der an Einfluß gewinnende linke Flügel konnte sich nicht eben leicht mit Junior-Partnern abfinden, die laut Verfassung eigentlich verboten waren. Neuauflagen der Vierer-Koalition hatten in der DC nicht weniger Feinde. Aber auch Sozialdemokraten und Republikaner sträubten sich, ein Regierungsbündnis wiederzubeleben, das 1953 vom Wähler eine so deutliche Abfuhr erhalten hatte. Außerdem rückten die Liberalen im Laufe der Legislaturperiode immer weiter nach rechts und gerieten fast ganz unter den Einfluß der Arbeitgeberverbände, was die Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und reformorientierten Christdemokraten schließlich unmöglich machte. Alle Anläufe zu einer Reformpolitik, die unter de Gasperi unternommen worden waren, kamen so zum Erliegen. Selbst vielversprechende Initiativen wie der nach dem christdemokratischen Wirtschaftsexperten Vanoni benannte Zehn-Jahres-Plan, der vier Millionen Arbeitsplätze schaffen und endlich die fast chronische 10%ige Arbeitslosigkeit eindämmen sollte, fielen der politischen Instabilität zum Opfer. Während die Regierungen der zweiten Legislaturperiode sich zunehmend in ihre eigenen Widersprüche verstrickten, kam die Landschaft der Parteien allmählich in Bewegung; es mehrten sich die Anzeichen für die Überwindung der politischen Stagnation und der Spaltung Italiens in zwei gegnerische politische Blöcke. Es waren »schwierige, aber keineswegs fruchtlose Jahre«, wie der Christdemokrat Fanfani mit Blick auf diese tiefgreifenden Veränderungen betonte.28 Vor allem in den Reihen der Christdemokraten und Sozialisten begann seit Mitte der fünfziger Jahre die Suche nach neuen Bündnispartnern, und es wurde weitsichtigen Politikern wie Nenni, Fanfani, Saragat und Gronchi bald klar, daß die neue Konstellation nur in einer Zusammenarbeit von
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Christdemokraten und Sozialisten (PSI), der »aperta a sinistra« (Öffnung nach links) bestehen konnte. Innerhalb der DC meldete sich jetzt eine Reihe von einflußreichen, der katholischen Soziallehre und dem Geist der Resistenza gleichermaßen verpflichteten Politikern zu Wort, die sich bewußt waren, daß eine antikommunistische Haltung allein noch keine Antwort auf die vielfältigen Probleme Italiens darstellte und daß es dringend erforderlich sei, die Kluft zwischen dem Staat und der Arbeiterklasse, die nach 1948 mehr und mehr unter den Einfluß der Kommunisten geraten war, zu überbrücken. »Integration der Massen in den Staat« hieß die Devise des linken Flügels der DC, der für umfassende soziale Reformen (u.a. Ausdehnung der Sozialfürsorge, Dezentralisierung der Staatsverwaltung, Reform der Kreditgesetzgebung) eintrat. Auf dem Parteitag von Neapel (1954) wurden die Forderungen der Linken zum offiziellen Programm der Partei erhoben und ihr entschiedener Wortführer, Amintore Fanfani, zum Generalsekretär gewählt. »Eine neue Partei ist auf dem Stamm der alten Democrazia Cristiana gepflanzt worden«, kommentierte am 1. Juli 1954 die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Ereignisse von Neapel. Die DC gab damit ihren alten Anspruch, eine Partei der Mitte zu sein, teilweise auf und bekundete den Willen, »das alte Italien zu Grabe zu tragen und ein neues zu schaffen«. Fanfani, den seine Freunde den »Supercortomaggiore« (den superkleinen Großen) nannten, gelang es allerdings erst nach schweren internen Auseinandersetzungen, seine Partei auf den neuen Kurs einzuschwören. Zu seinen hartnäckigsten Widersachern zählte ein starker, vom Vatikan und der Großindustrie gestützter Flügel um Giuseppe Pella und Giulio Andreotti, der sich der »Öffnung nach links« mit dem Argument widersetzte, die Zusammenarbeit mit den Sozialisten würde »im schlimmsten Falle im Kommunismus, im besten Falle aber in einem prekären Neutralismus« enden.29 Die Sozialistische Partei war schon etwas früher als die DC gezwungen gewesen, nach neuen politischen Handlungsmöglichkeiten Ausschau zu halten, denn die Volksfrontpolitik führte, das hatten die Wahlen von 1948 und 1953 gezeigt, in eine Sackgasse. Nur ein Weg, und zwar die Aufgabe des engen Bündnisses mit den Kommunisten und die Propagierung eines eigenen politischen Kurses (»sozialistische Alternative«), konnte aus ihr herausführen. Der autonomistische Flügel unter der Führung von Pietro Nenni war aber zunächst noch zu schwach, um einen Kurswechsel herbeiführen zu können. Die große Mehrheit der Partei schätzte zu Beginn der fünfziger Jahre die »proletarische Einheit« noch als kostbarstes Gut des Widerstandes und wollte am Bündnis mit den Kommunisten festhalten. Trotz der starken Widerstände gegen die »aperta« konnten deren Anhänger 1955 einen ersten großen Erfolg verbuchen. Als Nachfolger von Luigi Einaudi im Amt des Staatsoberhauptes wurde nämlich mit den Stimmen der Christdemokraten, Sozialisten und auch Kommunisten Giovanni Gronchi – ein Exponent des linken Flügels der DC – gewählt. Da sich Gronchi stärker als
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irgendein anderer seiner Partei für ein Zusammengehen von Katholiken und Sozialisten ausgesprochen hatte, lag es durchaus nahe, in der Wahl des »Präsidenten der Linken« eine Art Vorboten für eine Koalition aus DC und Nenni-Sozialisten zu sehen. Die Hindernisse waren aber noch zu groß. Nenni brauchte Zeit, um seine »Jakobiner« an den neuen Kurs zu gewöhnen, und so mußte er zu deren Besänftigung immer wieder erklären, daß er die gemeinsame Aktionsbasis und die ideologische Verbundenheit der PSI mit den Kommunisten nicht aufzugeben gedenke. Diese taktischen Eiertänze kreideten ihm wiederum die Linken in der DC an, die auf ein klärendes Wort von Nenni warteten, mit dem er den Bruch mit Togliatti ankündigte. Außenpolitische Ereignisse sorgten schließlich für eine Wende. Das Tauwetter in den Ost-West-Beziehungen, der XX. Parteitag der KPdSU mit den Enthüllungen Chruschtschows über die Terrorpraktiken Stalins und vor allem die sowjetische Intervention in Ungarn im Herbst 1956 nützte Nenni, seiner Partei das Konzept eines demokratischen Sozialismus und des Dialogs mit der DC aufzuzwingen. Auf dem Parteitag in Venedig (Februar 1957) sprach sich die große Mehrheit für die endgültige Preisgabe der Volksfrontpolitik und für den Verzicht auf eine Aktions- und Konsultationsgemeinschaft mit den Kommunisten aus.30 Zugleich bekannten sich die Sozialisten vorbehaltlos zur parlamentarischen Demokratie, und vorsichtig schwenkten sie auf den außenpolitischen Kurs der Regierung ein. »Die größte Wendung und innere Verwandlung des italienischen Sozialismus ist vollzogen«, so feierten die meisten Delegierten das Ergebnis des Parteitages. Nach Venedig waren die größten ideologischen Hindernisse, die bis dahin einer Zusammenarbeit von PSI und DC im Wege gestanden hatten, ausgeräumt. In beiden Parteien hielten sich aber starke Gruppen, die wenig Lust verspürten, den neuen Weg mitzugehen; innerhalb der Sozialistischen Partei die »carristi« um Sandro Pertini, die weiter an einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten festhalten wollten; innerhalb der DC der rechte Flügel und die sogenannten »Notablen«, die versuchten, den »centrismo« am Leben zu erhalten. Die Entwicklung drängte aber unaufhaltsam in die Richtung der »Öffnung nach links«, vor allem nachdem im Herbst 1958 der reformfreudige Kardinal Roncalli zum Papst (Johannes XXIII.) gewählt worden war. Dem rechten Flügel der DC ging damit die wichtigste Stütze, der Vatikan, verloren. Es dauerte aber noch fünf Jahre, ehe im Dezember 1963 die erste Regierung der »aperta a sinistra« aus Christdemokraten, Sozialdemokraten, Republikanern und Sozialisten unter Ministerpräsident Aldo Moro und Außenminister Saragat gebildet werden konnte. »Sie ist unter Mühen zustande gekommen; unter Mühen wird die Koalition arbeiten. Aber das große Ziel dieses Zweckbündnisses, allen Italienern den Staat als ihren Staat wohnlich zu machen, ist der schwierigen Probe wert«, war damals in einer deutschen Zeitung zu lesen.31 VIII. Die Iberische Halbinsel Von Hans Woller
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Spanien Von den Männern an der Spitze rechtsgerichteter Regime in Europa war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges neben Portugals Diktator Salazar nur General Francisco Franco y Bahamonde in Spanien übriggeblieben.1 Der Caudillo, der seinen Sieg im Bürgerkrieg 1939 zu einem guten Teil deutscher und italienischer Waffenhilfe verdankte, hatte die Achsenmächte in der ersten Hälfte des Krieges nach Kräften unterstützt und ihre Siege enthusiastisch gefeiert. Er hatte es aber selbst auf der Höhe der deutschen militärischen Erfolge geschickt vermieden, sich von seinen Gesinnungsgenossen Hitler und Mussolini ganz in die militärische Auseinandersetzung hineinziehen zu lassen. Gegen Ende des Krieges war Franco aus Sorge um die Zukunft seines Regimes zunehmend auf Distanz zu seinen ehemaligen »Kameraden von der Achse« gegangen und hatte sich mehr und mehr den Alliierten angenähert. Diese Annäherungsversuche hatte er mit liberaler Rhetorik, die seine Bereitschaft zu einer demokratischen Erneuerung Spaniens anzudeuten schien, und mit einigen eher kosmetischen Veränderungen seines Kabinetts bekräftigt. Damit konnte Franco die Großmächte aber nicht beeindrucken. Der Druck auf seine Diktatur wurde stärker, und erstmals seit seiner Machtergreifung im Jahre 1939 geriet seine Herrschaft ernsthaft in Gefahr. Moskau und Paris forderten eine militärische Intervention. Tausende von Exilspaniern brannten nach dem Sturz Mussolinis und dem Ende der NS-Herrschaft in Deutschland darauf, Spanien vom Joch des Faschismus zu befreien. Und in allen Hauptstädten der Welt war man sich einig in der Verurteilung des autoritären Regimes. Inmitten der alten oder neu entstehenden Demokratien war Spanien ein »Fremdkörper« (Wolfgang Wagner) geworden. Dies kam in der Weigerung der Vereinten Nationen zum Ausdruck, Franco-Spanien als Mitgliedsland aufzunehmen und ebenso in der Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens vom 4. März 1946, in der es hieß, das spanische Volk könne, »solange General Franco die Kontrolle über Spanien ausübt, nicht auf die vollständige und herzliche Verbindung« mit den Westmächten rechnen. Ganz war die Tür dennoch nicht zugeschlagen worden, denn die Westmächte ließen deutlich anklingen, daß eine Übergangsregierung ohne Franco, die sich für eine schrittweise Demokratisierung Spaniens einzusetzen versprach, »die Unterstützung aller freiheitsliebenden Völker erhalten« würde.2 An eine Übergangsregierung war aber im Moment nicht zu denken, und so erreichte die Isolierung Spaniens ihren Höhepunkt, als die Vereinten Nationen am 12. Dezember 1946 ihren Mitgliedsstaaten empfahlen, Botschafter und Gesandte aus Madrid abzuberufen. Die meisten Länder kamen dieser Empfehlung nach. Die »Exkommunizierung«3 währte allerdings nicht allzu lange. Unter dem Eindruck der verschärften Ost- West-Spannungen begannen sich die Westmächte für Spanien als möglichen militärischen Partner zu interessieren. Die früheren
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Bedenken wegen Francos Unrechtsregime waren schnell vergessen. Churchill, der den antispanischen Kurs der UNO schon 1945 nur halbherzig unterstützt hatte, fragte 1948 im englischen Unterhaus: »Warum soll man Spanien wie einen Aussätzigen behandeln?« Die Aussöhnung zwischen den Westmächten und Spanien hätte ohne den Korea-Krieg 1950 wohl noch Jahre auf sich warten lassen. So aber wurde das Land innerhalb kurzer Zeit international wieder salonfähig. Ende 1950 nahm die UNO ihre Boykotterklärung gegen das Franco-Regime zurück. Am 26. September 1953 schlössen die Vereinigten Staaten und Spanien den ›Pakt von Madrid‹, der es den USA gestattete, vier Militärstützpunkte auf spanischem Boden zu errichten. Als Gegenleistung erhielten die Spanier großzügige amerikanische Militär- und Waffenhilfe. Spanien, das 1947 vom Marshall-Plan ausgeschlossen worden war, bekam nun sein eigenes Hilfsprogramm. 1953 war aber nicht nur wegen des spanisch-amerikanischen Abkommens das wichtigste Jahr in der Außenpolitik der Franco-Diktatur. Im selben Jahr konnte das Regime einen weiteren Erfolg verbuchen, als mit dem Vatikan ein Konkordat unterzeichnet wurde, in dem Franco seinen Willen bekräftigte, seine Herrschaft auf den katholischen Glauben zu gründen. Die römisch-katholische Religion wurde damit zur Staatsreligion erklärt, und der Kirche, die sich im Bürgerkrieg auf die Seite Francos geschlagen hatte, wurden so beträchtliche Sonderrechte eingeräumt, wie wohl unter keiner Regierung der Welt. 1955 war die außenpolitische Isolierung ganz überwunden, Spanien wurde in die UNO aufgenommen, und im Sog der spanisch-amerikanischen Übereinkunft normalisierte sich auch das Verhältnis zwischen Madrid und den westeuropäischen Ländern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges so oft den Polizeistaat Spanien angeprangert hatten.4 Die spanische Wirtschaft, die unter der außenpolitischen Isolierung im Zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren arg gelitten hatte, profitierte zunächst kaum von dem politischen Anschluß an den Westen. Franco, der sich für wirtschaftliche Fragen nicht interessierte, hatte nämlich darauf vertraut, daß mit dem spanischen Modell, der Verbindung von Staatskapitalismus und Wirtschaftsdirigismus, die dringend erforderliche Umwandlung Spaniens vom Agrar- zum Industriestaat aus eigener Kraft zu schaffen sei. Das Ergebnis war katastrophal, die Autarkiepolitik und die Konzentration aller wirtschaftlichen Macht beim falangistischen Staat kamen zwar francotreuen Industriellen und Großgrundbesitzern zugute, für Spaniens Wirtschaft insgesamt war dies aber der falsche Weg. Zu Beginn der 50er Jahre war die Staatskasse leer, eine inflationistische Finanzpolitik hatte die Preise in die Höhe getrieben, während die Löhne gleich geblieben waren. 1953 war mehr als ein Drittel der arbeitsfähigen Spanier arbeitslos. Die agrarische Produktion zeigte seit 1939 eine Abwärtstendenz. Keines der drängenden Probleme Spaniens war von Franco seit seiner Machtergreifung angepackt worden: er hatte weder die krassen Gegensätze zwischen dem industrialisierten Norden und dem
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agrarischen Süden des Landes auszugleichen versucht, noch hatte er eine Bodenreform in Angriff genommen. Die Großgrundbesitzer im Süden und Südwesten und die Sherry-Barone von Jerez lebten, wie seit Jahrhunderten, in größtem Luxus, während die Landarbeiter kaum das Nötigste hatten. Ihr Lebensstandard war zwischen 1939 und 1953 um 10 bis 30 Prozent gesunken. Die spanische Wirtschaft erholte sich trotz der großzügigen amerikanischen Wirtschaftshilfe (zwischen 1953 und 1959 mehr als eine Milliarde Dollar) nicht. Ein großer Teil der Gelder wurde für Prestigeprojekte ausgegeben, vom riesigen Militär- und Polizeiapparat verschlungen oder sickerte in der »korrupten Wirtschaft durch wie Wasser aus einem Korb«.5 Vor allem das Nationale Industrieinstitut (INI), ein 1941 gegründeter Holdingriese zur Förderung der industriellen Entwicklung und der wirtschaftlichen Autarkiebestrebungen, rutschte immer tiefer in die roten Zahlen. Zwar führte das Industrieinstitut auch einige größere Projekte von öffentlichem Interesse erfolgreich durch: so die Modernisierung der Landwirtschaft, den Ausbau künstlicher Bewässerungsanlagen und die Wiederaufforstung der weiten Ödflächen, ein grundlegender Wandel zum Besseren war jedoch nicht abzusehen. Mitte der 50er Jahre steckte Spanien tiefer in der Krise als je zuvor. Die New York Times beispielsweise beschrieb die düstere Lage im Februar 1957 so: »Nach den letzten verfügbaren Zahlen stiegen in Spanien die Lebenshaltungskosten allein in der zweiten Hälfte des Jahres 1956 um mehr als acht Prozent ... Die Peseta ist auf den internationalen Devisenmärkten in etwas mehr als drei Monaten gegenüber dem Dollar von 47,5 auf 54,3 Punkte gefallen ...« Außerdem hatte auf die drei Börsen des Landes ein allgemeiner Run eingesetzt, um die rapide fallenden Aktien zu veräußern. Zugleich hatte der Geldumlauf innerhalb eines Jahres um ca. 20 Prozent zugenommen, die Devisenreserven waren vollständig erschöpft und die Aussichten für die nächste Ernte standen schlecht.6 Angesichts dieser schweren Krise war eine wirtschaftliche Kurskorrektur dringend erforderlich. Franco zögerte lange, ob er, wie von seinen Weggefährten der Falange gefordert, an der alten Linie einer syndikalistischen Politik und der Absonderung von anderen Ländern festhalten oder einen liberalen Weg einschlagen sollte. Schließlich wechselte er einige Minister aus den Reihen der Falange und des Militärs aus, die sich vergeblich um eine Konsolidierung der Lage bemüht hatten. Mit den alten Männern und den alten staatskapitalistischen Methoden, soviel war Franco in den Krisenjahren klargeworden, war keine Besserung zu erzielen. Er holte deshalb einige im Ausland ausgebildete Wirtschaftsexperten aus dem katholischen Laienorden Opus Dei in die Schlüsselministerien. Diese Männer betrieben eine moderne Wirtschaftspolitik und leiteten u.a. eine Währungsreform ein. Während die spanische Regierung so die Weichen für die Rückkehr zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung stellte, breitete sich angesichts der unerhört gestiegenen Preise überall im Land Unruhe aus. An den Universitäten von Madrid und Barcelona kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der
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Guardia Civil und Studenten. In Asturien, Katalonien und im Baskenland traten Arbeiter in den Streik. Außerdem formierten sich zahlreiche liberale Oppositionsgruppen, und selbst innerhalb von Kirche, Armee und Falange wurden zum ersten Mal Zweifel am Kurs Spaniens seit dem Ende des Bürgerkriegs laut. Das Franco-Regime mußte nun erstmals wirklich zurückstecken. Es verabschiedete ein Gesetz, das in Ansätzen eine Art Tarifautonomie gewährte. Damit gab das Regime einen seiner wichtigsten Grundsätze auf: die Gestaltung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch den Staat.7 Diese Reformmaßnahmen erleichterten es dem westlichen Ausland, Spanien neuerlich Kredite in Höhe von ca. 400 Millionen Dollar zur Verfügung zu stellen. Sie waren allerdings mit strengen Auflagen verbunden. So mußte sich die spanische Regierung verpflichten, ihre bisherige Autarkiepolitik ganz aufzugeben, ihre Wirtschaftspolitik mit jener der westlichen Länder in Einklang zu bringen und eine Reihe weiterer wirtschaftlicher Reformen durchzuführen. Zugleich trat Spanien der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), dem Internationalen Währungsfonds und der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung bei.8 Die westliche Hilfestellung führte tatsächlich zu einer spürbaren Gesundung der spanischen Wirtschaft, und in den 60er Jahren erlebte Spanien ein bescheidenes Wirtschaftswunder. Die »años del hambre« (Hungerjahre) waren vorbei. Spanien stand aber immer noch unter der Herrschaft Francos, der, gestützt auf Armee, Falange und katholische Kirche, die Politik allein bestimmte. Den Forderungen der Westmächte und der Vereinten Nationen nach Demokratisierung und Liberalisierung war der Caudillo kaum nachgekommen. Er hatte lediglich versucht, um nicht ganz ins Abseits zu geraten, seiner aus dem Bürgerkrieg hervorgegangenen Diktatur eine notdürftige »legale Verkleidung« zu geben.9 Am 17. Juli 1945 hatte er das »Fuero de los Españoles«, eine Art Grundgesetz der Bürgerrechte, erlassen. Wenig später waren einige scheindemokratische Institutionen wie Regentschaftsrat und Rat des Königreiches geschaffen worden, und am 26. Juli 1947 war Spanien durch das Gesetz über die Nachfolge in der Staatsführung zur Monarchie erklärt worden, jedoch bis zu Francos Tod ohne Monarchen, denn der Caudillo blieb Staatschef auf Lebenszeit. Die Wiederherstellung der 1931 gestürzten Monarchie war nicht nur eine Geste an die Adresse der Westmächte, sondern vor allem der Versuch Francos, die Kontinuität der von ihm geschaffenen politischen Ordnung über seine Lebzeiten hinaus zu sichern. Eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie stand wegen seiner grundsätzlich negativen Einstellung nicht ernstlich zur Debatte. Die Weiterführung des autokratischen Systems kam ebensowenig in Frage, da dies einen Nachfolger mit dem gleichen persönlichen Prestige wie der Caudillo erfordert hätte. So blieb nur der Weg, den Franco mit der Verkündung des Nachfolgegesetzes, das übrigens durch einen Volksentscheid bekräftigt wurde, beschritt. Schon frühzeitig hielt er deshalb nach einem geeigneten
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Thronfolger Ausschau und fand ihn 1948 in Prinz Juan Carlos, dem Sohn des im portugiesischen Exil lebenden bourbonischen Familienchefs und offiziellen Anwärters auf den spanischen Thron, Juan de Bourbon.10 Noch aber war Spanien nur dem Namen nach eine Monarchie. Die Ernennung von Juan Carlos zum Nachfolger Francos und künftigen König von Spanien erfolgte erst 1969. In den fünfziger Jahren behielt Franco alle Fäden fest in seiner Hand. Nach Belieben konnte er Minister ernennen und entlassen, seine Entscheidungen hatten Gesetzeskraft. Er bestimmte die Zusammensetzung der pseudoparlamentarischen Cortez und konnte deren Gesetzesvorschläge annehmen oder ablehnen. Neben Francos Partei, der Falange, war keine andere Partei zugelassen. Politische Tätigkeit außerhalb der Falange und der Verfassungsinstitutionen konnte hart bestraft werden. Streik galt als Aufruhr, Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren bis Ende der fünfziger Jahre in von der Falange kontrollierten Syndikaten zusammengeschlossen. Von Meinungs- und Versammlungsfreiheit konnte keine Rede sein. Die Presse unterlag einer strengen Zensur, und ohne die Zustimmung des Innenministeriums konnte kein Buch erscheinen. Die Schulen und Universitäten waren gleichfalls dem ideologischen Druck ausgesetzt.11 Mit besonderer Schärfe wurden die katalanischen und baskischen Regionalbewegungen unterdrückt, die der Republik Anfang der dreißiger Jahre bestimmte Selbstverwaltungsrechte abgetrotzt hatten. Unter Franco sollte jedwede sprachlich-kulturelle Eigenständigkeit der Basken und Katalanen ausgelöscht werden.12 Ein totalitärer Staat war Spanien nach Kriegsende dennoch nicht mehr. 1946 gab es zwar »noch 137 Arbeitslager für republikanische Kriegsgefangene, drei Konzentrationslager und ungefähr 30000 politische Gefangene«13. Franco konnte es sich aber danach leisten, den eisernen Griff etwas zu lockern. Viele Gefangene wurden entlassen, Hinrichtungen wurden seltener. Mit politischen Gegnern oder oppositionellen Gruppierungen, die auf Mißstände aufmerksam zu machen versuchten, ging der Caudillo auch weiterhin hart ins Gericht. Im Juni 1960 schrieben 339 baskische Priester einen offenen Brief an ihre Bischöfe, in dem es u.a. hieß: »Seit den 24 Jahren, da das gegenwärtige Regime dauert, werden Menschen monate- und jahrelang gefangengehalten, um dann nach einem Zeitraum, der ganz von der Willkür eines Gouverneurs, eines Sicherheitspolizeidirektors oder eines Ministers abhängt, einem Sondergericht vorgeführt zu werden, das die außerordentlich schwere Anklage der ›Rebellion gegen den Staat‹ erhob. Und dies nur, weil jene Menschen den Mut aufbrachten, ihre Regenten nicht als makellos und unfehlbar zu betrachten.« Spanien war Ende der fünfziger Jahre noch immer ein Polizeistaat, »dessen Methoden in der Unterdrückung politischer Opposition ein Hohn auf rechtsstaatliche Begriffe waren«.14
Portugal
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Wie die Diktatur Francos, so hatte auch der 1932 von Antonio de Oliveira Salazar ins Leben gerufene portugiesische »autoritäre Ständestaat« nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die größte Klippe seiner Existenz zu überwinden.15 Portugal war isoliert – allerdings nicht so total wie das benachbarte Spanien – und die innenpolitischen Gegner Salazars rechneten im Vertrauen auf die Unterstützung der Alliierten mit einem baldigen Sturz des autoritären Regimes. Salazar, der während des Zweiten Weltkrieges einen erfolgreichen Neutralitätskurs gesteuert hatte, gelang es aber bemerkenswert schnell, die schwierige Lage zu meistern. Die außenpolitische Isolierung bestand schon 1949 nicht mehr, der kleinere der iberischen Staaten gehörte schon zum Kreis der Gründerstaaten des Atlantikpakts.16 Salazar verdankte diesen Erfolg den traditionell guten Beziehungen zwischen Portugal und Großbritannien und vor allem der Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes, in dessen Gefolge das Interesse der Westmächte an dem seit jeher antikommunistischen Portugal (vor allem an den strategisch bedeutsamen Azoren) stieg. Das Einvernehmen mit den Westmächten wurde 1951 mit dem amerikanisch-portugiesischen Militärabkommen bekräftigt. Die Aufnahme Portugals in die Vereinten Nationen verzögerte sich aber wegen des sowjetischen Vetos bis 1955.17 Auch im Innern hatte Salazar, der lediglich das Amt des Regierungschefs bekleidete und das höchste Amt des Staates einem von ihm abhängigen Präsidenten überließ, das Heft wieder schnell in der Hand. Die innenpolitischen Gegner Salazars befanden sich insofern in einer schwachen Position, als die Bevölkerung Portugals die instabilen Verhältnisse der zwanziger Jahre, als das Land von einer Regierungskrise in die andere gestürzt war, noch in frischer Erinnerung hatte und deshalb politischen Experimenten äußerst skeptisch gegenüberstand. Salazars gegen Liberalismus, Kommunismus und Parlamentarismus gerichteter sogenannter »Estado Novo« (Neuer Staat) gewährleistete, was sich viele erhofften: Ruhe und Stabilität. Außerdem befreite der ehemalige Professor der Rechts- und Finanzwissenschaft sein Land mit einer strengen Haushaltspolitik aus seiner chronischen finanziellen Abhängigkeit vom Ausland und legte so den Grundstein für einen leichten wirtschaftlichen Aufstieg. Dieser Kurs fand die Zustimmung des portugiesischen Heeres und der reichsten Familien des Landes, die den größten Teil der von Salazar zum Aufbau des Landes bereitgestellten Summen ungehindert in die eigenen Taschen wirtschaften konnten. Den stärksten Rückhalt fand der Diktator in der katholischen Kirche, die es ihm zu danken wußte, daß sie unter seinem Schutz die Rekatholisierung des antiklerikalen, im Zeichen der freimaurerischen Republik von 1910, gänzlich säkularisierten Landes durchführen konnte. Oppositionelle Gruppen wurden von der politischen Polizei (PIDE), die sich auf ein landesweites Netz von Spitzeln und Informanten stützen konnte,
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unnachsichtig verfolgt. Die Verhaftungen und Folterungen nahmen allerdings nie solche Ausmaße an wie im benachbarten Spanien.18 Die verordnete bzw. erzwungene Windstille wurde in den fünfziger Jahren zum größten Problem Portugals. Der übermächtige Salazar schien sein Land förmlich zu erdrücken. Seine merkantilistische Wirtschaftspolitik stand einer fortschrittlichen Entwicklung Portugals mehr und mehr im Wege. Das anachronistische Korporationssystem verhinderte den freien Wettbewerb, die vom Staat geförderte Wirtschaft machte kaum Anstrengungen zur Modernisierung und Rationalisierung, sie arbeitete unproduktiv und zahlte miserable Löhne. Am spürbarsten war die Rückständigkeit Portugals in der Landwirtschaft. Die Agrarreform war längst überfällig. Seit dem späten Mittelalter hatte sich an der Landverteilung kaum etwas geändert: nördlich des Tejo die winzigen Parzellen, deren Ertrag die Mühe kaum lohnte, südlich des Tejo die riesigen, schlecht bewirtschafteten Latifundien mit einem Heer ärmster Tagelöhner. Finanzielle Hilfe von außen schlug Salazar aus – so vor allem die Marshallplan-Hilfe der Vereinigten Staaten, weil er eine allzu große Abhängigkeit von den USA und die Folgen einer raschen Industrialisierung fürchtete. 1953 legte er einen eigenen Sechs-Jahres-Plan zur Förderung der Wirtschaft vor, der im Zeichen einer vorsichtigen Industrialisierung stand. Neue Produktionsanlagen wurden errichtet, die Infrastruktur wurde verbessert, das Bruttosozialprodukt stieg jährlich um fünf Prozent, und Exporte und Importe nahmen beträchtlich zu.19 Insgesamt aber hinkte Portugal weit hinter der Entwicklung in anderen europäischen Ländern her. Es blieb unter Salazar ein Stück des längst versunkenen alten Europa. In breiten Bevölkerungsschichten, selbst in den Reihen der aktiven Anhänger des Regimes, wuchs die Ungeduld über die politisch-geistige Grabesstille und die Absonderung vom Ausland. Während Europa einen stürmischen sozialen und kulturellen Wandel erfuhr, hielt das Regime eisern an seinen Prinzipien fest und war zu keiner Erneuerung fähig. Salazar schien den wachsenden Unmut im Lande nicht ernst zu nehmen. Er war seiner Sache so sicher, daß er sogar den Versuch startete, dem portugiesischen Volk einige Freiheiten einzuräumen. 1958, anläßlich der Wahl eines neuen Staatspräsidenten, konnte zum ersten Mal ein echter Gegenkandidat, General Humberto da Silva Delgado, gegen den von Salazars Einheitspartei favorisierten Kandidaten, Admiral Américo Deus Tomás, antreten. Delgado, dessen Name vorher kaum bekannt war, erhielt trotz massiver Behinderungen während des Wahlkampfes rund ein Viertel der abgegebenen Stimmen. In einigen Küstenstädten errang er sogar die Mehrheit. Die demokratischen Experimente wurden nach diesem Mißtrauensvotum gegen das Regime schnell wieder beendet. Die Wahlen hatten aber deutlich gezeigt, daß sich Portugal Ende der fünfziger Jahre in einem Alarmzustand befand. Die Unruhe im Mutterland drohte auch auf die Kolonien überzugreifen, die seit 1951 als ›Überseeprovinzen‹ betrachtet
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wurden. Die nationalistischen und oppositionellen Strömungen erstarkten in allen Teilen des portugiesischen Weltreiches. Portugal stemmte sich aber hartnäckig gegen diese Entkolonialisierungsbewegung. Salazars Politik war klar: Portugal durfte das überseeische Kolonialreich nicht aufgeben, es war zu arm, um sich die Entkolonialisierung leisten zu können. Als 1961 Unruhen in Angola, Moçambique und Guinea-Bissau ausbrachen, setzte Lissabon auf eine militärische Lösung. Der Krieg in Afrika zog sich aber hin und wurde für Portugals Finanzen immer drückender. Eine Lösung der Kolonialfrage kam erst 1974 nach der innenpolitischen Umwälzung zustande.20 IX. Griechenland und der östliche Mittelmeerraum Von Hermann Graml Als deutsche Truppen am 6. April 1941 die bulgarisch-griechische Grenze überschritten und danach in einem nur wenige Wochen dauernden Blitzkrieg ganz Griechenland in Besitz nahmen, traf der Angriff einen Staat, der offensichtlich gerade in eine schwere politische Krise steuerte. Am 4. August 1936 hatte der einige Monate zuvor von König Georg II. zum Regierungschef ernannte General Metaxas – gedeckt vom König und in Ausnutzung eines das parlamentarische System lähmenden Patts zwischen den republikanischen und den monarchistischen Kräften – eine Diktatur errichtet, die zunächst mehr zur Sicherung der nach elf Jahren Republik erst im November 1935 restaurierten Monarchie dienen sollte, aber bald den Vorbildern des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland zu folgen begann, d.h. nicht nur die republikanischen Gruppen im Lande, sondern jede Regung von Sozialismus oder Liberalismus unterdrückte und sich im übrigen auch vom Hof und von den royalistischen Konservativen zu emanzipieren suchte.1 Am 29. Januar 1941 war aber General Metaxas gestorben, die Diktatur hatte ihren Diktator verloren, und die politische Zukunft des griechischen Staates war völlig ungewiß geworden. Nicht daß Unsicherheit über die internationale Orientierung Griechenlands geherrscht hätte. Während des Ersten Weltkriegs war die griechische Außenpolitik noch Anlaß heftiger innerer Konflikte gewesen. Hatten die Liberalen, aus ideologischen Gründen und in der Hoffnung auf den Erwerb albanischer, bulgarischer und türkischer Territorien, den Kriegseintritt Griechenlands auf der Seite der Entente gefordert, so war König Konstantin I., mit einer Schwester des deutschen Kaisers verheiratet und auf den Sieg der Mittelmächte spekulierend, von der Notwendigkeit einer gegenüber Deutschland wohlwollenden Neutralität überzeugt; gestützt auf die Armee, hatte der König einige Jahre lang seinen neutralistischen Kurs durchsetzen können, zunehmend mit verfassungswidrigen Herrschaftspraktiken, bis ihn die von Eleutherios Venizelos geführten Liberalen mit Hilfe der Alliierten 1917 zur Abdankung zwangen und Griechenlands Anschluß an die Entente perfekt machten.2 Eine ebenso scharfe Auseinandersetzung war ausgebrochen, nachdem der anfänglich von den Alliierten ermunterte Versuch Griechenlands, in
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Anatolien Fuß zu fassen, mit einer vernichtenden Niederlage im griechischtürkischen Krieg von 1921/22 geendet hatte; im Frieden von Lausanne (24. Juli 1923) hatte Griechenland sogar einem Bevölkerungstransfer zustimmen müssen, der das Ende der griechischen Siedlungen in Kleinasien bedeutete und die griechische Gesellschaft mit der Aufgabe belastete, nicht weniger als 1,4 Millionen Vertriebene (rund 20 Prozent der damaligen griechischen Gesamtbevölkerung) zu integrieren. Noch 1922 hatte eine republikanisch-liberale Offiziersgruppe unter General Nikolaos Plastiras die Enttäuschung über das kleinasiatische Debakel benützt, um eine Militärdiktatur zu etablieren, die im Namen von Republik und Liberalismus sowohl den König wie die liberalen und konservativen Royalisten mit brutaler Gewalt – so am 28. November 1922 mit der Vollstreckung pseudolegaler Todesurteile gegen fünf royalistische Kabinettsmitglieder und den Oberbefehlshaber der griechischen Smyrna-Armee – in Schach hielt und die schließlich – nur allmählich zu verfassungsmäßigen Zuständen zurückkehrend – die Monarchie mit höchst dubiosen Methoden am 24. März 1924 tatsächlich beseitigte.3 Nach Überwindung der Kriegs- und Nachkriegswirren hatte aber die griechische Außenpolitik eine von allen wichtigeren politischen Gruppierungen des Landes bejahte Linie und damit zu Kontinuität gefunden. Ob unter dem Liberalen Venizelos (1928 bis 1932), ob unter dem royalistischen Volksparteiler Panajotis Tsaldaris (1932–1935), stets hatten die griechischen Regierungen der Notwendigkeit gehorcht, ein möglichst enges Verhältnis zu den europäischen Westmächten, namentlich zu Großbritannien, zu pflegen und durch aktive Mitarbeit den Völkerbund zu stärken. Beide Orientierungspunkte waren das Ergebnis der griechischen Furcht vor den Ambitionen zweier Großmächte, nämlich Italiens und der Sowjetunion, in Südosteuropa, die auf Grund der geographischen Lage und der militärischen Schwäche Griechenlands nur durch die Protektion Großbritanniens – das im Hinblick auf die eigenen nah- und mittelöstlichen Interessen weder eine stärkere italienische noch gar eine sowjetische Präsenz im östlichen Mittelmeerraum wünschte – und vielleicht im Rahmen eines Systems der kollektiven Sicherheit eingrenzbar zu sein schienen; mit dem Völkerbund machte Griechenland auch insofern gute Erfahrungen, als ohne die politische, finanzielle und organisatorische Unterstützung durch Genf die immerhin zu 70 bis 80 Prozent gelungene Eingliederung der aus Kleinasien vertriebenen Griechen nicht möglich gewesen wäre. Daß sich Griechenland also in einen mehr an der Erhaltung des Status quo als an Veränderung interessierten Staat verwandelt hatte, war zudem für die Beziehungen zu den Nachbarländern bestimmend geworden. Hatte Venizelos zwischen 1928 und 1932 die Verständigung mit Jugoslawien und Rumänien, dazu den Ausgleich mit dem türkischen Erbfeind angebahnt, so war dieser Kurs bruchlos von Tsaldaris fortgesetzt worden, der maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des am 4. Februar 1934 von Jugoslawien, Rumänien, Griechenland und der Türkei unterzeichneten Balkanpakts hatte, einer sowohl zur Verteidigung des
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südosteuropäischen Status quo gegen bulgarische und ungarische Revisionsansprüche wie zur Abwehr expansiver Tendenzen der UdSSR und Italiens bestimmten Allianz.4 Auch unter General Metaxas – seinem Regime blieb nicht allein der Antisemitismus des deutschen Vorbilds, sondern gleichermaßen der für Nationalsozialismus und Faschismus charakteristische Expansionismus stets fremd – hatte die griechische Außenpolitik ihre von Venizelos und Tsaldaris begründete defensive Grundtendenz behalten. Anfänglich war von dem Diktator die Kontinuität selbst insofern gewahrt worden, als er den am 2. November 1934 zum Balkanbund ausgebauten Pakt mit Jugoslawien, Rumänien und der Türkei zu kräftigen versucht hatte; am 31. Juli 1938 war mit einem Nichtangriffsvertrag zwischen Balkanbund und Bulgarien auch die Aussöhnung Griechenlands mit dem letzten Feind aus den Jahren der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs eingeleitet worden. Indes hatte Metaxas, je deutlicher der italienische Imperialismus nach der Eroberung Abessiniens wieder auf Südosteuropa zielte, je klarer sich die Tolerierung, ja vielleicht sogar Unterstützung der italienischen Ambitionen durch Deutschland abzeichnete und je erkennbarer die in solcher Konstellation geringe Effektivität des Balkanbunds wurde, mehr und mehr auf die britische Karte und auf die Vorbereitung der eigenen Streitkräfte gesetzt. Zwar hatte er jede Provokation Italiens und Deutschlands peinlich vermieden; auch die Forderung nach Rückgabe des griechisch besiedelten Dodekanes – 1912 unter italienische Verwaltung gekommen und durch den Frieden von Lausanne an Italien gefallen – war in der Schublade geblieben. Nachdem aber im April 1939 italienische Truppen Albanien besetzt hatten, war die sogleich angebotene britische Garantie der griechischen Grenzen von Metaxas akzeptiert und damit der Weg zu einem erneuten griechisch-britischen Bündnis eingeschlagen worden. Am 28. Oktober 1940 hatte sich die in Albanien massierte italienische Angriffsarmee tatsächlich in Bewegung gesetzt. So war in den anschließenden Wochen, während die glänzend präparierten griechischen Truppen – unter Metaxas’ Stabschef Alexandros Papagos – die italienischen Divisionen schwer schlugen und nach Albanien zurückwarfen, die griechisch-britische Militärallianz mit dem Erscheinen der ersten britischen Einheiten in Griechenland – meist von der Air Force – bereits Realität geworden.5 Diese außenpolitische Leitlinie zu verlassen, wollte und konnte auch nach Metaxas’ Tod keine nennenswerte politische Gruppierung im Lande ins Auge fassen. Im Gegenteil. Als in den ersten Monaten des Jahres 1941 sichtbar wurde, daß das nationalsozialistische Deutschland, um im Hinblick auf den bevorstehenden Einfall in Rußland ein britisches Festsetzen in Südosteuropa zu verhindern und um Mussolini aus einer für seine Stellung in Italien gefährlich werdenden Patsche zu helfen, auf dem Balkan militärisch zu intervenieren gedachte, stimmte der von König Georg II. zum Nachfolger von Metaxas ernannte Alexandras Korizis im März auch der Entsendung britischer Landstreitkräfte nach Griechenland zu. Zwar gab sich angesichts des
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Aufmarsches starker und durch ihre moderne Bewaffnung qualitativ weit überlegener deutscher Verbände in Bulgarien kaum jemand der Illusion hin, mit einer britischen Verstärkung um rund 60000 Mann werde die griechische Armee dem deutschen Überfall standhalten können. Beide Bündnispartner betrachteten aber die im gemeinsamen Kampf bewiesene Bundesgenossenschaft als Wechsel auf die Zukunft. Setzten die Griechen darauf, daß die Achsenmächte trotz gewonnener Feldzüge am Ende den Krieg verlieren und daß dann die griechischen Interessen im Bunde mit Großbritannien besser als in jeder anderen denkbaren Verbindung zu wahren sein würden, so rechnete die britische Regierung, von der gleichen Annahme ausgehend, damit, daß Großbritannien – zur Eindämmung des seit einiger Zeit klar erkennbaren sowjetischen Drangs zum Balkan und zum Mittelmeer – ein befreundetes Griechenland nach der Niederlage Italiens und Deutschlands noch dringender brauchen werde als in der Zwischenkriegszeit. Daher vermochte auch der in der Tat unabwendbare militärische Erfolg der deutschen Intervention in Südosteuropa dem griechisch-britischen Bündnis nichts anzuhaben. König und Regierung folgten den aus Griechenland evakuierten britischen Truppen über Kreta nach Ägypten, wo sie aus ebenfalls entkommenen kleineren griechischen Einheiten eine eigene Armee aufstellen konnten. Sowohl der König, der zeitweise in Kairo, zeitweise in London residierte, wie die Exilregierung existierten im britischen Machtbereich und in nahezu totaler Abhängigkeit von britischer Unterstützung; die griechischen Verbände fochten unter britischem Oberbefehl. Dementsprechend wuchs der britische Einfluß auf diese Repräsentanten des griechischen Staates und der griechischen Nation. Sogar in Griechenland selbst blieb die griechischbritische Allianz existent. Schon im September 1941 entstanden in den italienisch und deutsch besetzten Gebieten politische und dann auch militärische Widerstandsgruppen, die außerhalb der großen Städte bald einen beträchtlichen Teil des Landes kontrollierten.6 Die britischen Agenten, die mit dem Fallschirm bei den griechischen Partisanen abgesetzt wurden und in erster Linie die Versorgung organisieren bzw. als militärische Berater wirken sollten, formierten sich rasch zu einer britischen – später alliierten – Militärmission, die bei den politisch höchst unterschiedlich orientierten Widerstandsgruppen schließlich nicht nur als militärische Koordinierungs-, sondern auch als politische Schlichtungsinstanz fungierte. Die Verbindung und am Ende die Kooperation zwischen Exil und Résistance hätten ohne den technischen Beistand und ohne die politische Nachhilfe der Briten ebenfalls nicht zustande kommen können. Paradoxerweise war also der unmittelbare britische Einfluß auf die griechische Politik nie größer als während der Jahre der deutsch-italienischen Besatzungsherrschaft in Griechenland. Als Winston Churchill im Oktober 1944 in Moskau mit Stalin über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären auf dem Balkan verhandelte, gelang es ihm, sogar die sowjetische Anerkennung dieses Zustands zu erreichen: Griechenland, so wurde vereinbart, sei während
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des Krieges und vor allem auch nach Kriegsende zu 90 Prozent britisches Einflußgebiet.7 So klar in griechischen Augen die internationale Orientierung des Landes sein mochte, so unsicher erschien nach Metaxas’ Tod die künftige Entwicklung der griechischen Innenpolitik. Indem König Georg II. erst Korizis und nach dessen Selbstmord (16.4.1941) Emmanouil Tsouderos aus eigener Machtvollkommenheit zu Ministerpräsidenten ernannte und das von Metaxas verhängte Parteienverbot zunächst nicht aufhob, verwandelte er das Metaxas-Regime vorläufig in eine jener Königsdiktaturen, wie sie in der Zwischenkriegszeit auch in anderen Balkanländern entstanden waren. Eine eindeutige Mehrheit der Bevölkerung und ihrer politischen Repräsentanten, ob liberal oder konservativ, wünschte jedoch die Rückkehr zum Parlamentarismus. Die parlamentarische Demokratie war ja weder in den Jahren zuvor noch jetzt grundsätzlich umstritten. Wenn gleichwohl die Diktatur zu einer regelmäßig wiederkehrenden Erscheinung griechischer Politik geworden war, so deshalb, weil quer durch Bevölkerung und Parteien ein fundamentaler Dissens über die Staatsform bestand und sowohl Republikaner wie Royalisten in kritischen Augenblicken der Versuchung erlegen waren, bei der Beseitigung bzw. bei der Verteidigung oder Restaurierung der Monarchie die Hilfe sympathisierender Offiziersgruppen in Anspruch zu nehmen. Diese Praxis hatte aus dem Offizierskorps nicht nur einen wichtigen Bestandteil der politischen Elite des Landes, sondern geradezu das Gewissen der Nation und den letzten Schiedsrichter in jeder ernsteren politischen Auseinandersetzung gemacht. In der Situation nach Metaxas’ Tod mußte aber schon die Bewegung zur Wiederherstellung eines parlamentarischen politischen Systems unweigerlich eine neue Runde im Streit um die Staatsform einleiten. Nachdem König und Armee das Metaxas-Regime, also eine von faschistischen Zügen nicht freie Diktatur, ermöglicht und toleriert hatten, fanden die überzeugten Republikaner weithin Zustimmung, wenn sie die Monarchie für endgültig diskreditiert erklärten und als offenkundiges Hemmnis einer freien Entfaltung der Nation hinstellten. Eben deshalb zeigten der König und die damals überwiegend royalistische Armee wenig Neigung, dem Druck zu Liberalisierung und Demokratisierung, der so leicht zur Republik führen konnte, nachzugeben, zumal sie nach den Siegen über die Italiener – später auch nach der im Kampf gegen die deutschen Truppen bewiesenen Tapferkeit – die Diskreditierung durch die Komplicenschaft mit Metaxas für ausgeglichen hielten und nun vielen Griechen tatsächlich als Symbole der nationalen Einheit und als Garanten politischer Stabilität galten. Offensichtlich standen bittere Konflikte bevor – mit den gewohnten schädlichen Folgen für das politische System. Im Vergleich zu den zwanziger Jahren war die Lage sogar noch komplizierter und gefährlicher geworden. Die periodische Ausschaltung des Parlaments hatte links wie rechts extremistische Kräfte wachsen lassen. Machten sich auf der äußersten Rechten faschistische Gruppen bemerkbar, so hatte auf der äußersten Linken die zur revolutionären Umgestaltung der griechischen Gesellschaft nach
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sowjetischem Muster entschlossene Kommunistische Partei Griechenlands (KPG) eine durchaus beachtliche Stärke und organisatorische Festigkeit gewonnen.8 Der deutsche Angriff und die anschließend etablierte italienischdeutsche Besatzungsherrschaft verhinderten zwar frühe Entscheidungen in den Konflikten, die sich Anfang 1941 abzeichneten, nicht aber den Beginn ihres Austrags, d.h. eine fortschreitende Polarisierung der politischen Gruppierungen Griechenlands, die ausgerechnet im Okkupationsgebiet, in dem die Besatzungsmächte freilich nur die größeren Städte effektiver zu kontrollieren vermochten, auch schon zum offenen Ausbruch eines Bürgerkriegs führte. Zwar fanden die Besatzungsmächte etliche Strohmänner, die als Chefs griechischer Marionettenregierungen amtierten, aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung verharrte in passiver Resistenz, aus der sich alsbald aktiver Widerstand entwickelte. Jedoch beschränkte sich weder die am 9. September 1941 von General Napoleon Zervas gegründete Nationale Demokratische Vereinigung (EDES), in der sich liberale und konservative Kräfte sammelten, noch die am 27. September als Volksfrontorganisation linksgerichteter Gruppen entstandene und von der KPG beherrschte Nationale Befreiungsfront (EAM), die am 10. April 1942 aufgrund eines Beschlusses des ZK der KPG eine Nationale Befreiungsarmee (ELAS) ins Leben rief, auf den Kampf gegen die Besatzungsmächte.9 Vielmehr gerieten sie sofort in eine scharfe Rivalität um die politische Vorherrschaft im Lande. Im September 1943 machte dann EAM-ELAS, die bis dahin zahlreiche kleinere nichtkommunistische ResistanceOrganisationen mit brutaler Gewalt zu Unterwerfung und Fusion gezwungen oder ausgelöscht hatte, Ernst mit dem Versuch, die Alleinherrschaft an sich zu reißen und auch die EDES zu liquidieren. Der Versuch gelang nicht ganz, da sich Zervas im Nordwesten Griechenlands behaupten konnte, und am 29. Februar 1944 setzte – mit britischer Nachhilfe – der Waffenstillstand von Plaka dem gnadenlosen Konflikt ein vorläufiges Ende. Indes war EAM-ELAS doch der größte Teil des Landes zugefallen. Damit befand sich Griechenland gewiß noch nicht unter kommunistischer Botmäßigkeit; schließlich stellten die Kommunisten in EAM-ELAS, wenn sie auch die Schlüsselpositionen besetzt hielten, nur eine Kraft neben vielfältigen anderen Gruppen dar. Wohl aber stand das Land nun unter der Kontrolle einer durch und durch republikanischen Organisation. Diese Tatsache notifizierte EAM-ELAS am 4. März 1944 auch dem König und der Exilregierung, nämlich durch die Schaffung eines Politischen Komitees der Nationalen Befreiung (PEEA), das, wenn es auch nicht sofort den Status einer Regierung beanspruchte, nur als Rivale des Monarchen und seines Kabinetts zu verstehen war. Im übrigen dominierte in der EDES ebenfalls republikanische Gesinnung. Im griechischen Exil waren die Dinge hingegen ganz anders verlaufen. Churchill stützte den König, zumal die britische Regierung, gerade unter dem Eindruck der Vorgänge in Griechenland selbst, in der Monarchie mehr und mehr den besten Schutz gegen eine nicht länger unmöglich scheinende
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kommunistische Machtübernahme und gegen die damit verbundene Ausweitung der sowjetischen Einflußsphäre sah. Als die Gründung des PEEA in der an sich überwiegend royalistischen griechischen Exilarmee im April 1944 Meutereien provozierte, mit denen republikanische Offiziere die Anerkennung des Komitees als Regierung erzwingen wollten, konnte daher der König hart reagieren. Die Meutereien wurden mit britischer Hilfe niedergeschlagen, danach aus den Streitkräften fast alle Republikaner entfernt. Die politische Polarisierung zwischen einer republikanischen Résistance und einem royalistischen Exil war perfekt. Sicherlich wünschten die Briten keine Wiederkehr diktatorischer Zustände. So nötigten sie den König noch im April dazu, Georgios Papandreou, einen Liberalen in der Tradition des Venizelos, zum Chef der Exilregierung zu berufen, und Papandreou, eben erst aus Griechenland nach Ägypten gekommen, brachte es – abermals unterstützt durch zähe britische Vermittlung – im Mai 1944 fertig, eine Koalitionsregierung zu bilden, in der alle politischen Kräfte des Exils und der Résistance vertreten waren. Doch handelte es sich, wie bei der Vereinbarung zwischen EDES und EAM-ELAS, lediglich um einen Waffenstillstand. Als die deutschen Truppen im September und Oktober 1944 Griechenland kampflos räumten, weil ihnen der Vormarsch der Roten Armee den Rückweg nach Deutschland abzuschneiden drohte, wurde die Arena frei für das nächste Gefecht. Die Masse der Bevölkerung wünschte freilich vor allem Ruhe und die Chance zu friedlichem Wiederaufbau. Sie hatte durch Krieg, Besatzung und die erste Runde des Bürgerkriegs schwer gelitten. Im Kampf gegen Italien und Deutschland waren 16000 Soldaten gefallen, die Repressalien der Besatzungsmächte hatten rund 40000 Opfer gefordert, 60000 griechische Juden waren in nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet worden, 750000 Griechen hatten ihr Obdach verloren. Etwa 300000 Menschen waren verhungert. Griechenland konnte ja, obwohl noch überwiegend agrarisch strukturiert, seinen Lebensmittelbedarf nicht selbst decken; landwirtschaftliche Nutzfläche ist in dem gebirgigen Land knapp, in der Landwirtschaft dominierten Kleinbetriebe, und die auf dem Lande entstandene Übervölkerung, für die es angesichts der erst schwach entwickelten Industrie kaum Absorptionsmöglichkeiten gab, setzte die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft weiter herab. So hatte sich die kriegsbedingte Unterbrechung der Einfuhr, von den Besatzungsmächten mit Gleichgültigkeit behandelt, furchtbar ausgewirkt. Nach dem Abzug der deutschen Truppen durfte zudem nicht mit einer sofortigen Besserung der Lage gerechnet werden, da niemand zu sagen vermochte, wie die jetzt an sich wieder möglichen Nahrungsmittelimporte bezahlt werden sollten; Griechenland hatte für seine Einfuhr mit Exportgütern wie Tabak bezahlt, und 1944/45 war abzusehen, daß die wichtigste Abnehmerregion, nämlich Mitteleuropa und dort vornehmlich Deutschland, für etliche Jahre als kaufkräftiger Handelspartner ausfiel. Jedenfalls stand fest, daß die Not nicht aus eigener Kraft zu überwinden war. Das galt ebenso für die strukturellen Probleme des Landes: Um das
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Schulwesen zu erweitern und zu modernisieren, um den erst in den Anfängen steckenden Straßen- und Bahnbau voranzutreiben, um die Produktivität der Agrarwirtschaft zu steigern und um eine angemessene Industrialisierung zu finanzieren, brauchte Griechenland, da zu der erforderlichen Kapitalbildung nicht selbst fähig, ausländische Hilfe. Daß zu solcher Hilfeleistung, ob es nun um die Linderung der unmittelbaren Nöte oder um die Lösung der größeren Entwicklungsaufgaben ging, allein die Westmächte in der Lage sein würden, Großbritannien und inzwischen namentlich auch die USA, war einer Mehrheit der griechischen Bevölkerung durchaus klar.10 So schufen das Ruhebedürfnis und die Einsicht in die Abhängigkeit von den Westmächten sogar eine Stimmung, die einer Regelung der politischen Fragen, wie sie von den Briten offensichtlich favorisiert und mit der Bildung des Kabinetts Papandreou verheißen wurde, entgegenkam: Beibehaltung der Monarchie, falls ein Plebiszit dafür eine Majorität ergeben sollte, und Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie. Daß bei einem Plebiszit über die Staatsform jetzt trotz der Belastung des Königs mit der Verantwortung für das Metaxas-Regime eine royalistische Mehrheit zu erwarten war, hing auch damit zusammen, daß das kommunistische Übergewicht in der Führung von EAM-ELAS immer schärfer hervortrat und daß EAM-ELAS in den von ihnen beherrschten Territorien einen Terror ausübten, der selbst vielen überzeugten Republikanern die Monarchie als ein zunächst notwendiges Heilmittel erscheinen ließ. Doch standen die Chancen für eine friedliche Umsetzung dieser Stimmung mehr als schlecht. Nachdem Papandreous »Regierung der nationalen Einheit« am 18. Oktober 1944 in Athen eingetroffen war, zwei Tage nach der Besetzung der Stadt durch britische Truppen, dauerte es denn auch nicht lange, bis der Konflikt wieder aufflammte. Der Anlaß entsprach auf charakteristische Weise der griechischen Tradition. Zwar dachten Royalisten und Liberale damals keineswegs daran, die Kommunisten zu unterdrücken oder gar sämtliche in der EAM repräsentierten Kräfte auszuschalten, und die EAM bzw. die in ihr dominierenden Kommunisten hatten weder eine baldige Revolution noch auch nur einen gewaltsamen Widerstand gegen die Rückkehr des Königs ins Auge gefaßt. Aber nach der oft genug erfahrenen innenpolitischen Instrumentalisierung der Streitkräfte war keiner der Kontrahenten, im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung, bereit, dem Gegner die Armee zu überlassen. Wenn es Royalisten und Liberalen unmöglich schien, die ELAS-Partisanen und ihre Führer als Kern des griechischen Heeres zu akzeptieren, so waren EAM-ELAS nicht gewillt, einen Aufbau der Streitkräfte um die sog. Rimini-Brigade und andere Einheiten der Exil-Armee zu tolerieren. Daher bestand Papandreou auf der Auflösung der ELAS, und daher beantworteten EAM-ELAS die Demobilierungs-Order erst mit der Sprengung der »Regierung der nationalen Einheit« (1.12.1944) und am 4./5. Dezember 1945 mit dem Aufstand. Während britische Truppen die Rebellion in Athen und etlichen weiteren größeren Städten in harten und blutigen Kämpfen
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rasch niederschlagen konnten, brachten EAM-ELAS anfänglich den größten Teil des übrigen Landes in ihre Gewalt, und für einige Wochen erinnerte die Lage an die Zeit vor dem Oktober 1944, nur daß an die Stelle der deutschen die britische Besatzungsmacht getreten war. Anders als die Deutschen verfügten jedoch die Briten über Rückhalt bei nahezu allen politischen Kräften Griechenlands, die rechts von den Kommunisten standen, und über die Unterstützung schlagkräftiger griechischer Truppen. Im Abkommen von Varkiza, das am 12. Februar 1945 geschlossen wurde, mußten die Rebellen ihre Niederlage eingestehen und die Auflösung ihrer bewaffneten Verbände zusagen. Die Regierung erneuerte dagegen ihre schon im Oktober 1944 gegebenen Versprechen (Plebiszit über die Staatsform, baldige Wahlen) und sicherte die Aufhebung des Ausnahmezustands zu.11 Unter der Regentschaft des Erzbischofs Damaskinos von Athen – König Georg hatte zugestimmt, erst nach einem erfolgreichen Plebiszit zurückzukehren – begann mit dem Abkommen von Varkiza eine Periode relativer Ruhe, die aber wiederum nur ein temporärer Waffenstillstand war. Keine Seite hielt sich an die Vereinbarung. Weder demobilisierten die kommunistischen Partisanen, noch verzichtete die Regierung, die außerdem den Terror rechtsextremistischer Banden duldete, auf Massenverhaftungen. Von wirtschaftlichem Wiederaufbau war noch keine Rede, die Not so groß wie eh und je. Immerhin konnte am 31. März 1946 die erste Parlamentswahl seit zehn Jahren und am 1. September 1946 das Plebiszit über die Monarchie stattfinden. In beiden Fällen zeigten die Wähler, daß die Anhängerschaft der Kommunisten mitnichten dem Eindruck entsprach, den ihr rücksichtsloser Waffen- und Machtgebrauch erweckt hatte. Obwohl die Kommunisten zum Boykott der Wahl aufriefen und in weiten Teilen des Landes ihrem Appell durchaus terroristischen Nachdruck zu verleihen vermochten, blieben höchstens 15 Prozent der Berechtigten den Urnen fern, und 60 Prozent der Wähler entschieden sich für die royalistische Volkspartei.12 Noch deutlicher fiel das Resultat des Plebiszits aus: Bei einer Wahlbeteiligung von 94 Prozent stimmten 69 Prozent für die Rückkehr König Georgs und damit für die Beibehaltung der Monarchie (Georg II. starb, wenige Monate nach seinem Eintreffen in Athen, am 1. April 1947; Nachfolger wurde sein Bruder Paul). Vermutlich reizte gerade die Eindeutigkeit der Abstimmungsergebnisse die Kommunisten zu erneuter Gewaltanwendung, schien doch der Verzicht auf eine bewaffnete Erhebung in politische Bedeutungslosigkeit zu führen.13 Auch sahen die Erfolgsaussichten nicht schlecht aus. Im Norden grenzte Griechenland an drei mittlerweile kommunistisch kontrollierte Staaten, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, und die griechischen Kommunisten spekulierten darauf, aus diesen Staaten materielle Unterstützung zu erhalten und sich bei zu starkem Druck der Regierungstruppen jenseits der Grenzen in Sicherheit bringen zu können. Daß die Sowjetunion anstiftend wirkte, ist unwahrscheinlich, doch kam aus Moskau offenbar auch keine Abmahnung, eher Ermunterung. Im Februar 1946 startete die Sowjetunion in den Vereinten Nationen eine heftige Kampagne gegen die
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Präsenz britischer Truppen auf griechischem Boden, und während das in London und Washington als Ende des 1944 Churchill zugesagten sowjetischen Desinteresses an den griechischen Vorgängen verstanden wurde, als Ausdruck aufkeimender Hoffnung, vielleicht doch den Anschluß Griechenlands an den entstehenden Sowjetblock zu erreichen, mußten die griechischen Kommunisten die Kampagne als Signal auffassen, daß sie bei einer Rebellion auf die Billigung Moskaus und zumindest auf politische Rückendeckung rechnen dürften. Jedenfalls entwickelte sich zwischen Frühjahr 1946 und Frühjahr 1947 aus Einzelaktionen griechischer Partisanen ein umfassender Aufstand, der tatsächlich die – ohne sowjetische Zustimmung schwer vorstellbare – Hilfe der drei kommunistischen Nachbarländer fand. So konnten die Rebellen, wie schon 1944/45, rasch den größten Teil des Landes außerhalb der Städte in ihre Gewalt bringen bzw. nach Gegenzügen der Regierungstruppen und britischer Einheiten immer wieder zurückerobern. In dieser Lage mußte Großbritannien Anfang 1947 eingestehen, daß es nach den Anstrengungen des Zweiten Weltkriegs finanziell, wirtschaftlich und militärisch zu schwach geworden war, um weiterhin als Schutzmacht eines nichtkommunistischen Griechenland fungieren zu können. Am 3. März 1947 wandte sich daher die griechische Regierung an die USA, und da die strategische Bedeutung Griechenlands in Washington nicht anders beurteilt wurde als in London, lösten die Vereinigten Staaten mit der am 12. März 1947 erfolgenden Verkündung der Truman-Doktrin – die allen vom Kommunismus bedrohten Staaten, zunächst aber in erster Linie Griechenland und der Türkei, amerikanische Unterstützung anbot – Großbritannien ab.14 Nach dem Beginn massiver finanzieller, wirtschaftlicher und militärischer Hilfe der USA schwanden die Chancen der griechischen Kommunisten schnell dahin, zumal das »Demokratische Heer Griechenlands« (DSE) durch den auch jetzt wieder ausgeübten Terror jeden Rückhalt in der Bevölkerung verlor und bald unter Massendesertionen seiner zu 90 Prozent zwangsrekrutierten Soldaten zu leiden begann.15 Als der Oberbefehlshaber des DSE, Markos Vafiadis, am 24. Dezember 1947 eine kommunistische Gegenregierung bildete, blieb sogar die Anerkennung des Sowjetblocks aus. Im Januar 1949 übernahm General Papagos, der Held des griechisch-italienischen Krieges, den Befehl über die Truppen der Athener Regierung, und im Juni 1949 stellte Jugoslawien die Unterstützung des DSE ein, da die griechischen Kommunisten im Konflikt zwischen Moskau und Belgrad gegen Tito optiert hatten. Nach schweren Niederlagen, zuletzt im Vitsigebirge und am Grammosmassiv, flüchteten die Reste des DSE Ende August 1949 nach Albanien. Am 9. Oktober 1949 gab das DSE die Einstellung des bewaffneten Widerstands bekannt, sieben Tage später folgte eine gleiche Erklärung der kommunistischen Gegenregierung. Aber auch nach dem militärischen Ende des Bürgerkriegs war das Land noch weit entfernt von politischer Stabilität. Der häufige Wechsel schwacher Koalitionskabinette behinderte zudem den wirtschaftlichen Wiederaufbau und eine sinnvolle Verwendung der amerikanischen Hilfe. Erst nachdem
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Feldmarschall Papagos den Oberbefehl über die Armee niedergelegt, nach gaullistischem Vorbild die »Hellenische Sammlung«, eine breite Koalition konservativer Gruppen, gegründet und mit ihr in den Wahlen vom 16. November 1952 – freilich nur aufgrund einer die großen Parteien begünstigenden Änderung des Wahlrechts – 240 von 300 Sitzen erobert hatte, erhielt Griechenland eine stabile Regierung. Papagos wurde Ministerpräsident und konnte nun die Beschleunigung der wirtschaftlichen Rekonstruktion einleiten. Bis Ende 1955 machte die Erholung von Krieg und Bürgerkrieg, auch wenn das Land auf amerikanische Hilfe angewiesen blieb, in der Tat beträchtliche Fortschritte. Papagos erneuerte zugleich traditionelle außenpolitische Bindungen Griechenlands. Der Friedensvertrag der Alliierten mit Italien (10.2.1947) hatte die Vereinigung des Dodekanes mit Griechenland gebracht; anschließend waren die griechisch-italienischen Beziehungen normalisiert worden. Am 9. August 1949 hatte Griechenland einen Sitz im Europarat erhalten, 1952 war der Beitritt zur NATO erfolgt. Papagos ergänzte diese unter ihm wie unter seinen Nachfolgern nie strittige westliche Orientierung des Landes – die später auch durch die Assoziierung an die EG bekräftigt wurde – durch die Wiederbelebung engerer Beziehungen zur Türkei und die Aussöhnung mit Jugoslawien. Bereits am 28. Februar 1953 schloß Griechenland einen Freundschaftsvertrag mit beiden Staaten, am 9. August 1954 wurde in Bled eine griechisch-jugoslawischtürkische Militärallianz unterzeichnet.16 Die Mitarbeit in multilateralen Systemen – nicht zuletzt auch in der UNO – brachte dem Land indes nicht allein Sicherheit vor kommunistischen und sowjetischen Ambitionen, sie schuf zugleich, von den griechischen Politikern geschickt genutzt, ein Gegengewicht gegen den sonst übermächtigen amerikanischen Einfluß.17 Papagos starb am 4. Oktober 1955. Sein Nachfolger Konstantinos Karamanlis, der die Hellenische Sammlung zur Nationalen Radikalen Union (ERE) umbaute, setzte jedoch die unter dem Feldmarschall begonnene Politik fort, und da er in mehreren Wahlen die Mehrheit errang, konnte er Griechenland in eine bis 1963 währende Periode politischer Stabilität führen, wie sie die Griechen seit der Regierung Venizelos, also seit 1928–1932, nicht mehr gekannt hatten. Gewiß führte das Erbe des Bürgerkriegs, eine nach wie vor lebendige Kommunistenfurcht, auch zur Fortsetzung der schon unter Papagos bei der Verfolgung der radikalen Linken eingerissenen polizeistaatlichen Praktiken, die eine weitgehende Verselbständigung der auf diesem Felde tätigen Exekutivorgane mit sich brachten. Aber alle wichtigen außen-, wirtschafts- und innenpolitischen Fragen blieben doch in der Kompetenz der Regierung, und zwar einer Regierung, die eine parlamentarische Basis besaß. Daß Griechenland im Begriff stand, eine funktionsfähige parlamentarische Demokratie zu entwickeln, zeigte sich auch daran, daß während der von Karamanlis geprägten Periode eine Oppositionspartei, die von Georgios Papandreou geleitete liberale Zentrumsunion (EK), entstand, die ihrer Rolle gerecht zu werden und nach dem
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Gewinn der absoluten Mehrheit (16.2.1964) die ERE als Regierungspartei abzulösen vermochte. Die von Karamanlis erreichte politische Stabilität ermöglichte außerdem eine überaus erfolgreiche Wirtschaftspolitik, die dann wiederum zur Beruhigung der politischen Verhältnisse beitrug. 1959 wurde die Drachme eine konvertierbare Währung, 1960 konnte die Regierung die in britischem Besitz befindliche Athen-Piräus-Elektrizitätsgesellschaft erwerben, die Zunahme des Fremdenverkehrs verbesserte die Zahlungsbilanz, und nach bereits guten Ansätzen zwischen 1953 und 1959 begann mit einem am 28. April 1959 verkündeten Fünfjahresplan eine eindrucksvolle Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Daß auch die Karamanlis-Periode von ernsten Irritationen nicht verschont blieb, lag weniger an den Zuständen in Griechenland selbst als am ZypernProblem. Wenn man vom albanischen Nordepirus absieht, auf den erst das Obristen-Regime verzichten sollte, stellte Zypern das letzte territoriale Ziel aus der Erbmasse des türkischen Imperiums dar, das der griechische Nationalismus anstreben mußte.18 1878 unter britische Verwaltung gekommen und 1925 britische Kronkolonie geworden, rückte die Insel im östlichen Mittelmeer, zu 80 Prozent von griechisch sprechenden und griechisch empfindenden Zyprioten und zu 20 Prozent von Türken bewohnt, jetzt unweigerlich in den Mittelpunkt, nachdem der griechischen Politik näher liegende Objekte – zuletzt der Dodekanes – lange Zeit wichtiger gewesen waren. Namentlich die griechischen Zyprioten, die erstmals 1931 mit Unruhen auf ihre Wünsche aufmerksam gemacht hatten, verlangten nun stürmisch die »Enosis« (Union) mit dem Mutterland. Keine griechische Regierung durfte den Ruf nach Enosis ignorieren. Im Mai 1954 meldete schon Papagos den Vereinigungsanspruch offiziell an, und auch Karamanlis konfrontierte die Westmächte beharrlich mit der griechischzypriotischen Forderung. Das rief zunächst die Türkei auf den Plan, die nicht gewillt war, die rund 130000 Türken Zyperns einer bei griechischer Herrschaft mehr als wahrscheinlichen Diskriminierung auszuliefern. Zwar erhob die Türkei nicht selbst Ansprüche auf die Insel, die sie lieber weiter in britischem Besitz gesehen hätte, doch ließ die türkische Regierung, von antigriechischen Ausschreitungen in türkischen Städten ihrerseits unter Druck gesetzt, keinen Zweifel, daß sie auf die Enosis mit Waffengewalt reagieren und dann zumindest eine Teilung Zyperns erzwingen werde. Der Konflikt zwischen zwei strategisch wichtigen NATO- Mitgliedern, der den eben erst geschlossenen Balkanpakt von Bled völlig ruinierte, brachte ferner die Westmächte in ein höchst unangenehmes Dilemma. Großbritannien widersetzte sich der Enosis einige Zeit auch deshalb, weil die britische Regierung ihre Herrschaft in Zypern für die britische Position im Nahen Osten als wichtig ansah. Vor allem aber wollten und konnten Großbritannien und die USA die türkischen Interessen und Gefühle nicht übergehen, da die Türkei als NATO-Partner von mindestens ebenso großer Bedeutung war wie Griechenland. So verfolgten die beiden Westmächte jahrelang eine dilatorische Politik, die wiederum den griechischen Nationalismus
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ständig reizte und erstmals eine nicht nur auf die radikale Linke beschränkte Kritik an der Westorientierung Griechenlands provozierte.19 Weil die konservative Regierungspartei mit der Westbindung identifiziert wurde und Karamanlis die Enosis-Forderung mit Rücksicht auf die amerikanische Haltung in der Tat möglichst behutsam verfocht, gerieten auch die ERE und ihr Führer zunehmend unter Beschuß. Karamanlis zeigte sich jedoch am Ende auch dieser Schwierigkeit gewachsen. Nicht zuletzt ihm war es zu danken, daß das ZypernProblem durch das Londoner Abkommen vom 19. Februar 1959 – vereinbart zwischen den Regierungen Großbritanniens, Griechenlands und der Türkei sowie Vertretern der Griechen und Türken Zyperns – für geraume Zeit entschärft werden konnte: Zypern wurde im Rahmen des Commonwealth selbständige Republik, deren Verfassung garantierte, daß der zugleich als Regierungschef amtierende Staatspräsident Grieche sein mußte; die Briten behielten militärische Stützpunkte, und die Türkei sah sich durch weitgehende Rechte für die türkische Minderheit der Insel zufriedengestellt. Einige Jahre danach, 1964, diente das Londoner Abkommen auch als Vorbild für eine ähnliche Regelung der Entlassung einer anderen britischen Kolonie, nämlich Maltas, in die Unabhängigkeit. Wenn die Periode der Stabilität trotz einer vorerst wohltätigen Lösung der Zypern-Frage bereits 1963 ihr Ende fand, so paradoxerweise gerade wegen der politischen und wirtschaftlichen Erfolge, die der von Karamanlis gesteuerte Kurs brachte. Daß diese Erfolge auf das Konto einer parlamentarisch gestützten Regierung gingen, bewirkte eine allmähliche Machtverlagerung zugunsten des Parlaments und zum Nachteil des Königs. König Paul I. und die mit ihm verbundenen hochkonservativen Gruppen waren nicht gewillt, diesen Prozeß, auch wenn er von einer konservativen Bewegung bewirkt wurde, kampflos hinzunehmen. Als König Paul den Ministerpräsidenten im Juni 1963 wegen einer bloßen Meinungsverschiedenheit zum Rücktritt nötigte, obwohl die von Karamanlis geführte ERE über eine solide Majorität im Parlament verfügte, war die neue Runde in dem Griechenland so vertrauten Konflikt zwischen König und Regierung, zwischen Krone und Parlament, eingeläutet. Eine zunehmende Verschärfung des Streits und sein offener Austrag wurden unausweichlich, als nach der innenpolitischen Krise, die der König mit dem Rücktritt Karamanlis’ verursacht hatte, Papandreous Zentrumsunion in den Wahlen vom 16. Februar 1964 die absolute Mehrheit der Stimmen und Sitze errang. Schon die Tatsache, daß die bisherige Oppositionspartei die bisherige Regierungspartei auf normale Weise abgelöst hatte und damit die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems demonstriert wurde, empfand der König als eine Schwächung seiner Position, die bald ausgeglichen werden müsse. Erst recht aber reizte es ihn zum Handeln, daß nun in Parlament und Regierung Kräfte dominierten, die Griechenlands Entwicklung in liberale Bahnen zu lenken gedachten: Schon einmal hatten die griechischen Liberalen die Republik proklamiert. Anlaß der königlichen Kriegserklärung war – auch das eine gewohnte Erscheinung – die
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Frage, wem die Kontrolle über die Armee gehöre. Als Papandreou im Juli 1965 ernstlich Miene machte, die Armee der Aufsicht des Parlaments und folglich der liberalen Mehrheit zu unterwerfen, zwang der junge König Konstantin II., der seinem am 6. März 1964 verstorbenen Vater gefolgt war, Papandreou zum Rücktritt und berief ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament eine Regierung seiner Wahl. Mit seinem Staatsstreich setzte sich Konstantin II., wie zuvor Konstantin I. und Georg II., in einen klaren Gegensatz zur Majorität der Nation, und wie damals seine Vorgänger zerstörte er mit dieser Fortsetzung der von seinem Vater eingeleiteten Politik eine Stabilität, die Griechenland mühsam genug erreicht hatte. X. Neutrale Staaten Von Wolfgang Benz Irland Außer den durch ihre Randlage begünstigten beiden Nationen der Iberischen Halbinsel (Spanien beteiligte sich freilich symbolisch durch seine »Blaue Division« an Hitlers Rußlandfeldzug und Portugal gewährte Großbritannien und den USA Stützpunkte auf den Azoren) hatten im Zweiten Weltkrieg nur drei Staaten Neutralität bewahren können: Irland, Schweden und die Schweiz. Die irische Neutralität war ein Resultat der Teilung des Landes in das zur britischen Krone gehörende Nordirland (Ulster) und den seit 1921 mit Dominion- Status selbständigen, aber wegen engster Wirtschaftsbeziehungen und wegen der Mitgliedschaft im Commonwealth von Großbritannien noch nicht ganz abgenabelten Freistaat Irland. Die Neutralität Dublins war zugleich Bestandteil einer Politik, die auf die Gewinnung endgültiger Unabhängigkeit von London abzielte, einerseits durch die Verweigerung von Waffenhilfe gegenüber dem Vereinigten Königreich, solange und weil Nordirland Teil Großbritanniens war, andererseits durch die Erklärung des irischen Premiers De Valera, Irland würde es niemals zulassen, daß sein Territorium Ausgangsbasis eines Angriffs gegen Großbritannien würde. Die anglo-irische Übereinkunft vom April 1938 brachte neben einem Handelsabkommen, das den britischen Markt für irische Exporteure praktisch zum Inland machte, das Ende aller britischen militärischen Einrichtungen im irischen Freistaat. Tatsächlich gelang es der Regierung in Dublin, die Neutralitätspolitik bis Kriegsende durchzuhalten, trotz aller Gefährdungen und Verlockungen wie der Niederlage Frankreichs und der damit gegebenen Möglichkeit einer deutschen Invasion gegen England und den mit dem Kriegseintritt der USA verbundenen Wünschen und Forderungen nach alliierten Stützpunkten auf irischem Territorium. Um das britische Mißtrauen zu beschwichtigen, mußte auch die terroristische Untergrundarmee IRA kurzgehalten werden, verboten war sie ohnehin. Während die Neutralitätspolitik innenpolitisch eher stabilisierend wirkte, machte sie die Folgen der Teilung der
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irischen Insel deutlicher als zuvor spürbar: Die Bindungen Nordirlands an London hatten sich während des Kriegs verstärkt, und der wirtschaftlichen Entwicklung Ulsters war der Krieg auf fast allen Gebieten zugute gekommen, während im irischen Freistaat Arbeitslosigkeit, Preisanstieg, Rohstoffknappheit die Situation der Wirtschaft prägten mit der Folge dauernder breit gestreuter Armut und einer hohen Auswanderungsrate. Seit der Spaltung der nationalistischen Freiheitsbewegung Sinn Fein nach dem anglo-irischen Vertrag von 1921 in die dominierende liberal-konservative Fianna Fail (»Schicksalskämpfer«) und die eher christlich-demokratische Fine Gael (»Stamm der Galen«) bestand das irische Parteiensystem bis in die Mitte der 60er Jahre aus zwei einander sehr ähnlichen bürgerlichen Gruppierungen, denen gegenüber die irische Labour Party stets nur wenige Anhänger und Wähler gewinnen konnte (1948: 8,7%; 1951: 11,4%; 1954: 12,1%; 1957: 9,1%; 1961: 11,6%). Die starke und daher bündnisfeindliche Fianna Fail mit Eamon De Valera an der Spitze regierte von 1932 bis 1948 und mit Unterbrechungen (1948–1951, 1954–1957 und 1973– 1977) bis Ende der 70er Jahre allein. Fianna Fail entwickelte sich unter De Valera, der 1959 das Amt des Premiers mit dem des Staatspräsidenten vertauschte, zur staatstragenden Regierungspartei, die trotz des prinzipiellen Anspruchs auf die Vereinigung ganz Irlands am Ausgleich mit Großbritannien interessiert blieb. Die stets schwächere und immer auf Koalitionspartner angewiesene Fine Gael (1948: 19,8%; 1951: 25,7%; 1954: 32,0%; 1957: 26,6%; 1961: 32,0% der Stimmen) proklamierte, obwohl im Grunde nicht radikaler und nationalistischer als ihre Konkurrenzpartei, im Bunde mit Labour und drei kleineren Partnern 1948 unter Premierminister Costello den Austritt des irischen Freistaats aus dem Commonwealth. Dadurch, daß Großbritannien Irland als unabhängige Republik anerkannte – rechtskräftig wurde dies am Ostermontag 1949, dem Jahrestag des Aufstands von 1916 –, wurde die Teilung der Insel bekräftigt, nicht zuletzt infolge der Garantie, die London für Nordirland als Bestandteil des Vereinigten Königreichs abgab. Die erhoffte innenpolitische Wirkung der endgültigen Trennung von Großbritannien, nämlich die Entradikalisierung der Verhältnisse, brachte der Schritt der Koalitionsregierung nicht, oder doch nicht schnell und spürbar. Dafür erhielten die Handelsbeziehungen mit den britischen Nachbarn eine verbesserte Vertragsgrundlage, und die Republik Irland wurde, ebenfalls 1948, Mitglied des Europarats und der Marshall- Plan-Organisation OEEC. Trotz des neutralistischen Kurses – Irland wurde nicht NATO-Mitglied und ist heute der einzige EG-Staat, der dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis nicht angehört – überwand die Republik allmählich die außenpolitische Isolation, in die sie wegen der kuriosen Doppelrolle als Commonwealth-Mitglied und neutrales Land im Zweiten Weltkrieg geraten war. Die Neutralität der Republik wurde in erster Linie als »Tauschmünze« betrachtet1, um die Freigabe der sechs Grafschaften Nordirlands durch Großbritannien zu erlangen. Diese Formel wurde entwickelt, als 1949 Irland zum NATO-Beitritt eingeladen worden war.
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Die irische Bündnisfreiheit unterscheidet sich dadurch grundlegend von der Neutralitätspolitik der Schweiz, Schwedens und Österreichs. Der Beitritt zur UNO (1955) und die Normalisierung der Beziehungen zu Nordirland – durch die de- facto-Anerkennung der Regierung in Belfast durch Dublin im Jahre 1965 anläßlich eines Treffens der Regierungschefs der Republik Irland und Ulsters – stabilisierten die politischen Verhältnisse in der irischen Republik. Der seit Mitte der 50er Jahre wieder aufflammende Terrorismus der IRA wurde auf dem Territorium der Republik erfolgreich bekämpft. Desolat blieben dagegen die wirtschaftlichen und sozialen Zustände des Landes, das 1961 zum ersten Mal um die Aufnahme in die EWG ersucht hatte (Mitglied wurde Irland aber erst 1973). Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut blieben bis in die 60er Jahre, als dank staatlicher Investitionen zunächst in der Industrie ein bescheidener Aufschwung einsetzte, die kaum lösbaren Hauptprobleme aller Regierungen.
Finnland Als einzige neutrale Nation in Europa verzichtete Finnland bis 1971 auf offizielle Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland ebenso wie zur DDR, solange die deutsche Frage auch ein ungeklärtes Problem zwischen den von den Großmächten angeführten Machtblöcken bildete. Finnland anerkannte beide deutschen Staaten gleichzeitig (im November 1972) und nahm am gleichen Tag, am 7. Januar 1973, die diplomatischen Beziehungen zu Bonn und Ost-Berlin auf. Es war Ausdruck der Neutralität, wie sie in Helsinki verstanden wird, daß Finnland niemals zuvor offiziell Partei ergriffen hatte; in der Bundesrepublik wurde diese Neutralität, solange die Hallstein-Doktrin in Kraft war und länger, als Ergebnis der »Finnlandisierung« geschmäht.2 Noch 1974 mußte sich der finnische Staatspräsident dagegen verwahren, daß in der westdeutschen Presse zu lesen war, Finnland kehre Meter für Meter zu dem Status zurück, den es zwischen 1809 und 1917 besaß, als es ein russisches Großfürstentum gewesen war. Staatspräsident Kekkonen rechtfertigte die finnische Außenpolitik im Oktober 1974 anläßlich eines Besuches des sowjetischen Staatsoberhaupts Podgorny als »einen Beitrag zur Stabilisierung der sicherheitspolitischen Situation in Nordeuropa« und als einen »Beleg für die Möglichkeiten und Vorteile der friedlichen Koexistenz«: »Wenn man für die finnische Außenpolitik das Wort Finnlandisierung sachlich auf sachlicher Grundlage und nicht verleumderisch anwenden will, dann ist uns das durchaus recht. Wir gehen davon aus, daß Finnlandisierung politische Eintracht mit der Sowjetunion bedeutet. Aus dieser Perspektive gesehen war unsere Außenpolitik während der ganzen Nachkriegszeit eine Finnlandisierungspolitik. Wir haben uns um unsere eigenen Angelegenheiten
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gekümmert. Wir sind mit dem Resultat zufrieden. Und wir haben nicht unsere Freude darüber verhehlt, daß in den letzten Jahren so viele, auch große Staaten des Westens zu einer Finnlandisierungspolitik übergegangen sind, das bedeutet: eine friedliche Lösung der Probleme und gute Beziehungen zum führenden Land des Sozialismus anzustreben. Politische Aussöhnung mit der Sowjetunion ist eine Konsequenz der Entspannung. Dementsprechend ist auch eine Finnlandisierung erfolgt.«3 Zur Vorgeschichte der erfolgreichen finnischen Neutralitätspolitik gehörten zwei Kriege, die das Land während des Zweiten Weltkriegs mit der Sowjetunion geführt hatte. Den »Winterkrieg« hatte die Rote Armee am 30. November 1939 begonnen, und wegen des Angriffs auf Finnland wurde die Sowjetunion aus dem Völkerbund ausgeschlossen (es war zugleich die letzte Tat desselben). Freilich hatte der Kreml, als er im Herbst 1939 im gleichen Atemzug, mit dem die baltischen Staaten gezwungen wurden, der Sowjetunion Stützpunkte einzuräumen, Landabtretungen und eine Militärbasis von Finnland forderte, nicht mit der finnischen Weigerung und der finnischen Bereitschaft, bewaffnet Widerstand zu leisten, gerechnet. Die Finnen wiederum glaubten trotz allen feindseligen Mißtrauens gegenüber dem großen Nachbarn nicht daran, daß Moskau seine Forderungen mit Gewalt durchsetzen würde. Schließlich sprach auch vieles dafür, daß es der UdSSR nicht nur um strategisch bedeutende Landstriche und die Sicherung des Vorfelds von Leningrad (das nur wenige Kilometer von der finnischen Grenze entfernt lag) ging, sondern um ganz Finnland. Wozu sonst hatte Stalin eine Marionettenregierung aus finnischen Kommunisten (deren Partei seit 1930 verboten war) unter Führung Otto V. Kuusinens eingesetzt, der die Unabhängigkeit der Republik Finnland schon immer als obsolet bezeichnet hatte? Unter Führung des reaktivierten greisen Oberbefehlshabers und Nationalhelden Mannerheim leistete die finnische Armee so unerwartet erfolgreich Widerstand gegen die sowjetischen Truppen, daß sich die Sympathien der Westmächte Frankreich und England über bescheidene Hilfslieferungen hinaus zu Erwägungen über ein alliiertes Expeditionskorps verdichteten. Immerhin war der Gegner Finnlands Anfang 1940 auch der ihre, denn Moskau und Berlin waren durch den Hitler-Stalin-Pakt verbunden. Ein französisch-britisches Heer hätte durch Norwegen und Schweden an die finnisch-sowjetische Front marschieren müssen (und das hätte nebenbei die Möglichkeit ergeben, die Deutschen vom schwedischen Erz abzuschneiden). Oslo und vor allem Stockholm, wo eine deutsche Okkupation Schwedens befürchtet werden mußte, wenn alliierte Streitkräfte dort operierten, waren zu dieser Art Hilfe für Finnland nicht bereit. Mit anderen Worten, es blieb dem vollkommen isolierten Finnland gar nichts anderes übrig, als auf das sowjetische Friedensangebot im Februar 1940 einzugehen, zumal Moskau die kommunistische Pseudoregierung Kuusinen stillschweigend fallenließ und mit der Regierung des Ministerpräsidenten Ryti verhandelte.
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Frieden wurde am 13. März 1940 in Moskau geschlossen. Im Friedensvertrag mußte Finnland erhebliche Territorialverluste hinnehmen, darunter die gesamte karelische Landenge und Gebiete nördlich des Ladogasees. Etwa 600000 Karelier (über 11% der Gesamtbevölkerung Finnlands) verließen das Territorium, das an die Sowjetunion kam, und zwangen die Regierung in Helsinki zu einem gigantischen Umsiedlungsprojekt, bei dem die Karelier im Süden und Westen Finnlands meist in geschlossenen Dorfverbänden eine neue Heimat fanden. In der kurzen Zeit des »Zwischenfriedens« gab es das Projekt einer Föderation zwischen Schweden und Finnland, durch die Neutralität und Unabhängigkeit beider Länder gewahrt werden sollten, aber deutscher und sowjetischer Druck erstickte die Verhandlungen im Keim. Im Frühjahr und Sommer 1940 veränderte sich die strategische Lage für Finnland dramatisch, als Dänemark und Norwegen unter deutsche Herrschaft gerieten und die drei baltischen Staaten dem sowjetischen Herrschaftsgebiet einverleibt wurden. In Helsinki interpretierten viele die Ereignisse an der Gegenküste als Vorgeschmack auf Finnlands Geschicke. Risto Ryti, der im Dezember 1940 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, und Baron Mannerheim suchten das Heil Finnlands in der Annäherung an das Deutsche Reich; Berlin hatte zur militärischen Kooperation ermuntert, und drei Tage nach dem Beginn des deutschen Rußlandfeldzugs im Juni 1941 befand sich auch Finnland wieder im Krieg mit der Sowjetunion. Später waren die Finnen lange Zeit dankbar für das Urteil des ehemaligen deutschen Gesandten in Helsinki, nach dem Finnland »wie das Treibholz auf den reißenden Flüssen« in den Krieg zwischen Deutschland und der UdSSR hineingestrudelt worden sei. Die Treibholztheorie hielt sich aber nicht ewig: Finnland hatte unbestritten Partei ergriffen, und noch im Juni 1944, nach einer für Finnland verlustreichen Großoffensive der Roten Armee, unterzeichnete Staatspräsident Ryti ein Abkommen mit Ribbentrop über deutsche Waffenlieferungen an Finnland, in dem er sich persönlich verpflichtete, keinen Separatfrieden mit Moskau zu schließen. Nach der Stabilisierung der Front, im Juli 1944, trat Ryti zurück, um den Weg für Verhandlungen mit der Sowjetunion freizumachen. Sein Nachfolger wurde Marschall Mannerheim, der es als Oberbefehlshaber der finnischen Truppen klug vermieden hatte, die historische Grenze zwischen Finnland und Rußland zu überschreiten. Nach der Rückeroberung Kareliens waren die finnischen Streitkräfte für zweieinhalb Jahre in Stellung gegangen, Mannerheim hatte es auch vermeiden können, sich am deutschen Angriff gegen Leningrad zu beteiligen, und er hatte sich geweigert, die Verbindungslinien zwischen den Westmächten und der Sowjetunion im äußersten Norden, bei Murmansk, abzuschneiden. Zu den sowjetischen Friedensbedingungen gehörte die Rückkehr zum territorialen Zustand des Moskauer Friedens von 1940, außerdem mußte Finnland seinen einzigen Zugang zum Eismeer (Petsamo-Gebiet) abtreten, 300 Millionen Dollar Reparationen zahlen und die Halbinsel Porkkala, unmittelbar
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vor Helsinki gelegen, als Militärstützpunkt den Sowjets überlassen. Finnland hatte keine Alternative und nahm die Forderungen im September 1944 an. Dem Waffenstillstand, der im Friedensvertrag von Paris im Februar 1947 endgültig wurde, folgten Kämpfe mit deutschen Truppen in Lappland, denn Finnland hatte sich auch verpflichten müssen, die Deutschen zu vertreiben. Die förmliche Kriegserklärung an das Deutsche Reich durch Finnland erfolgte erst am 3. März 1945, allerdings mit Rückwirkung ab 19. September 1944. Nach dem Waffenstillstand wurde eine neue Regierung gebildet, geführt war sie von Juho Kusti Paasikivi, einem der bedeutendsten Politiker des Landes. Der 74jährige war schon 1918 kurze Zeit Regierungschef gewesen, hatte die finnische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Dorpat 1920 geleitet, war 1936 bis 1939 Gesandter in Stockholm gewesen, hatte die Delegation geführt, die 1939 in Moskau über die sowjetischen Forderungen verhandelte, und war nach dem Friedensschluß von 1940 Gesandter in Moskau geworden. Während des »Fortsetzungskrieges« hatte sich Paasikivi aus der Politik zurückgezogen. 1944 war er der Mann der Stunde, der die schwierige Normalisierung der Verhältnisse nach innen und außen in Angriff zu nehmen hatte: Die seit 1930 verbotene kommunistische Partei mußte schleunigst legalisiert werden (sie wurde als Kern der Organisation »Demokratischer Bund des finnischen Volkes« bei den Reichstagswahlen im März 1945 mit 49 Mandaten zweitstärkste Partei), und gegen die Verantwortlichen für den Fortsetzungskrieg (den die Finnen einen »Rückgewinnungskrieg« nannten) wurden unter sowjetischem Druck »Kriegsverbrecher«-Prozesse geführt. Betroffen waren vor allem »Kriegsschuldige« wie der ehemalige Präsident Ryti, aber auch der Außenminister während des Winterkriegs, der Sozialdemokrat Tanner, und andere Politiker, die aufgrund eines vom Parlament im Herbst 1945 widerwillig angenommenen rückwirkenden Gesetzes zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. In der finnischen Öffentlichkeit galten die bestraften Politiker dadurch keineswegs als diskriminiert. Ryti wurde wegen seiner in der Haft zerrütteten Gesundheit 1949 begnadigt; er starb 1956 und erhielt ein Staatsbegräbnis, bei dem ihm Präsident Kekkonen als einer seiner Nachfolger bescheinigte, »was immer er getan habe, er habe es getan, um seinem Lande zu dienen«.4 Carl Gustaf von Mannerheim trat unter Hinweis auf seinen Gesundheitszustand und auf sein Alter im März 1946 vom Amt des Staatspräsidenten zurück. Neues Staatsoberhaupt wurde Paasikivi. Das politische System Finnlands unterscheidet sich von dem der anderen nordischen Staaten durch die starke Stellung des Staatsoberhaupts. Infolge der Kombination von Parlamentarismus und Präsidialsystem ist der Staatspräsident nicht auf Repräsentationspflichten beschränkt, sondern u.a. auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte und mit einem Vetorecht gegenüber der Legislative ausgestattet. In der Führung der Außenpolitik hat der Staatspräsident Finnlands erhebliche Kompetenzen. Wie schon zuvor als Ministerpräsident nutzte der vom parteipolitischen Herkommen konservative Pragmatiker Paasikivi das Amt und
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seine beträchtliche persönliche Autorität, um in den »Jahren der Gefahr«5 1945 bis 1948 die Paasikivi-Linie als außenpolitisches Programm und neutralitätspolitisches Credo zu entwickeln und in die Tat umzusetzen. In erster Linie bemühte sich Paasikivi, das Vertrauen der Sowjetunion in die neue finnische Politik des Wohlverhaltens und des Friedens gegenüber den östlichen Nachbarn zu gewinnen und sie davon zu überzeugen, daß von Finnland keine Bedrohung seiner Nordwestgrenze ausgehen würde. Umgekehrt mußten auch die Finnen davon überzeugt werden, daß die staatliche Unabhängigkeit nicht durch die UdSSR bedroht sein würde. Angesichts einer nominell alliierten, de facto sowjetischen Überwachungskommission (alliiert deshalb, weil Großbritannien sich formell im Kriegszustand mit Finnland befunden hatte und deshalb Mitglieder entsandte), die kein geringerer als Shdanow leitete, war es eher schwierig, das zarte Pflänzchen des Vertrauens, das auf dürrem, mehr von Furcht als von Hoffnung gedüngtem Boden keimte, zu hegen und zu pflegen. Die Tätigkeit der sowjetischen Überwachungskommission beeinträchtigte jahrelang die finnische Souveränität erheblich, denn die 300 Millionen Dollar Reparationen, die innerhalb von sechs Jahren zu erbringen waren, mußten in industriellen Sachleistungen erfolgen, deren Art und Menge von Moskau vorgeschrieben war und für deren Produktion teilweise erst die Grundinvestitionen getätigt werden mußten. Die endgültige Umsiedlung der Karelier, von denen viele während des »Fortsetzungskrieges« wieder in ihre alte Heimat gezogen waren, machte erhebliche Anstrengungen erforderlich wie die mit einem Lastenausgleich verbundene Bodenreform vom 1. Mai 1945. Zur Paasikivi-Linie gehörte es, unter äußerster Anstrengung der finnischen Volkswirtschaft die Reparationen bis 1952 restlos zu bezahlen (die Schätzungen, wieviel mehr als die vereinbarten 300 Millionen Dollar aufgebracht wurden, schwankten zwischen dem Eineinhalbfachen und dem Doppelten, je nach der Parität, nach der die gelieferten Güter berechnet wurden). Und weil Finnland auch den Anschein vermeiden wollte, gegen sowjetische Interessen zu verstoßen, lehnte Helsinki 1947 demonstrativ das Angebot des Marshall-Plans ab (ein bißchen amerikanische Hilfe erhielt es trotzdem unter anderen Titeln). Finnland kam aber auch sehr zugute, daß nach Kriegsende auf dem Weltmarkt große Nachfrage nach Erzeugnissen der finnischen Wirtschaft, vor allem Holz und Holzprodukten, herrschte. Die Nachfrage konnte befriedigt werden, da die Kapazitäten im Krieg nicht beeinträchtigt worden waren. Es kam bald zur Hochkonjunktur mit Spitzen Anfang der 50er Jahre. Der zwecks Reparationslieferungen forcierte Ausbau der Metallindustrie sorgte für die Auslastung des Arbeitsmarktes, und dank eines 1950 mit der Sowjetunion geschlossenen langfristigen Handelsvertrags war die Abnahme der erzeugten Güter (zu Weltmarktpreisen) im Austausch gegen sowjetische Waren garantiert. Es gab freilich, wegen der Importsteigerungen, die für die Reparationslieferungen nötig waren, erhebliche Probleme bei der
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Zahlungsbilanz. Die Finnmark wurde 1945 dreimal, 1949 zweimal und 1956 noch einmal abgewertet. So sehr sich die finnischen Politiker um Verständnis für die sowjetischen Sicherheitsbedürfnisse bemühten und so sehr sie die neu gewonnenen Einsichten artikulierten wie Paasikivi z.B. im Februar 1947 gegenüber einer amerikanischen Zeitung, als er erklärte, Finnland werde »den Angreifer bekämpfen, wenn ein Angriff über finnisches Gebiet auf die Sowjetunion gemacht werde«6, so sehr erschrak man in Helsinki, als Stalin in einem Brief im Februar 1948 einen Freundschafts- und Beistandspakt nach dem Muster der Verträge, die er mit Ungarn und Rumänien geschlossen hatte, vorschlug. Die Skepsis war um so größer, als zur gleichen Zeit – im Februar 1948 – die Tschechoslowakei durch den Prager Putsch in einen Satelliten Moskaus verwandelt wurde als vorläufig letzter der ost- und mitteleuropäischen Staaten im Vorfeld der Sowjetunion. Im Frühjahr 1948 war Finnland von Gerüchten über einen bevorstehenden kommunistischen Staatsstreich erfüllt, und viele Anzeichen deuteten darauf, daß die Verwandlung des Landes in eine Volksdemokratie bevorstand. Die Ausgangsbasis dazu war in Helsinki mindestens so gut, wie sie es in Warschau, Bukarest oder Budapest gewesen war: Die Kommunisten hatten ein Viertel der Sitze im Parlament, stellten in der Regierung des linkssozialistischen Ministerpräsidenten Pekkala sechs Minister, darunter den Chef des Innenministeriums, sie kontrollierten die Staatspolizei, und sie waren landauf, landab sehr rührig, hielten auch drohende Kundgebungen ab, bei denen sie die Prager Ereignisse als Vorbild priesen. Vor diesem Hintergrund wurde Stalins Einladung zu einem Beistands- und Freundschaftsvertrag im Reichstag und in der Öffentlichkeit diskutiert. Als finnische Verhandlungsziele, die gegen die viel weitergehenden Wünsche der Sowjetunion im wesentlichen auch durchgesetzt wurden, waren vier Grundsätze aufgestellt worden: Finnland würde seine neutrale Position zwischen den Machtblöcken nicht aufgeben, also an keinem Militärbündnis teilnehmen, und folglich dürften Beistandsklauseln im Vertrag nur im Kriegsfall gelten. Zweitens sollte militärisches Eingreifen der Sowjetunion auf finnischem Boden nur auf finnischen Wunsch erfolgen. Finnland würde, drittens, seine Selbständigkeit bei Entscheidungen bewahren, der Vertrag dürfte keine Handhabe zu Eingriffen in die finnische Verfassungsordnung bieten, und viertens wollte sich Finnland auch zu keinen allgemeinen politischen Konsultationen mit der Sowjetunion verpflichten. Die Vertragsdauer sollte, das wurde der finnischen Delegation auf den Weg nach Moskau mitgegeben, zehn Jahre nicht überschreiten. Der Vertrag, der am 9. April 1948 unterzeichnet wurde, begründete also keine Militärallianz zwischen Moskau und Helsinki, sondern ein Konsultativabkommen für Krisenzeiten und ein Beistandsabkommen für den Fall übermächtiger Aggression gegen finnisches Gebiet. (Als einziger potentieller Angreifer war im ersten Vertragsartikel Deutschland bzw. ein anderer mit diesem im Bündnis stehender Staat genannt.) Der Vertrag, der zum
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grundlegenden Dokument der finnischen Politik wurde, tangierte die finnischen Prinzipien der Bündnisfreiheit nicht, auch wenn die Neutralitätsgarantie nur in der Präambel durch die Minimalformel »mit Rücksicht auf das finnische Bestreben, außerhalb der Interessenkonflikte der Großmächte zu bleiben«, erfolgte7. Wenige Wochen nach Vertragsabschluß wurde der kommunistische Innenminister Yrjö Leino auf Antrag der konservativen Partei durch einen Mißtrauensantrag gestürzt und trotz der Drohungen seiner Parteifreunde vom Staatspräsidenten am 22. Mai seines Amtes enthoben, ein Vorgang, der quasi die innenpolitische Probe aufs Exempel in Sachen sowjetisch-finnischer Freundschaft bildete. Damit endete die nach finnischem Verständnis gefährlichste Phase der Politik nach dem Krieg. In den Wahlen des Jahres 1948 verloren die Kommunisten so stark, daß sich das Kräftefeld der großen Drei (Sozialdemokratie, kommunistisch dominierte Volksdemokraten und Bauernpartei), das die Nachkriegspolitik bestimmt hatte, auflöste. In der finnischen Innenpolitik waren von nun an in vielen kurzlebigen Regierungen abwechselnd die Sozialdemokraten und die Bauernpartei maßgebend. Das Parteienspektrum entspricht im Prinzip dem der anderen nordischen Staaten, aber neben Sozialdemokraten und dem linkssozialistischkommunistischen Block sowie den drei bürgerlichen Richtungen, die sich in der konservativen »Nationalen Sammlung«, der liberalen Volkspartei und der Bauernpartei (Zentrum) artikulieren, gibt es die Schwedische Volkspartei als (gleichfalls bürgerliche) Interessenvertretung der schwedischsprachigen Volksgruppe, außerdem ist seit Anfang der 70er Jahre die Christliche Union, die für die Wahrung christlicher Moralwerte und gegen den Alkohol streitet, im Reichstag vertreten. Während für die finnische Innenpolitik der ständige Wechsel der Regierungen charakteristisch ist, entwickelte sich die Außenpolitik nach dem Vertrag mit der UdSSR in ruhigen Bahnen. Zwar zeigte sich 1954 der Kreml verstimmt, weil Finnland die Einladung zur Moskauer Sicherheitskonferenz (aus der 1955 schließlich der Warschauer Pakt hervorging) ausgeschlagen hatte wie alle Nationen des Westens. Aber schon im folgenden Jahr honorierte Moskau die finnische Generallinie durch die überraschende Rückgabe des Stützpunkts Porkkala. Gleichzeitig wurde, ebenfalls vorzeitig, erstmals der finnischsowjetische Beistands- und Freundschaftsvertrag um zwanzig Jahre verlängert. (1970 erfolgte die zweite Verlängerung um den gleichen Zeitraum.) Staatspräsident Paasikivi zog im September 1955, anläßlich der Rückgabe Porkkalas, eine Zwischenbilanz: »Der Freundschaftsvertrag vom April 1948 war nahezu acht Jahre in Kraft gewesen. Während dieser Zeit hat in der Welt der harte ›Kalte Krieg‹ viele Jahre geherrscht. Trotzdem ist uns aus dem Vertrag kein Nachteil und kein Verdruß erwachsen ... Unsere Beziehungen zur Sowjetunion,
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die das wichtigste Problem unserer Außenpolitik sind, haben sich während der Geltungszeit des Freundschaftsvertrages von Jahr zu Jahr verbessert.«8 Geradezu dramatisch verschlechterten sich allerdings die Beziehungen im Herbst 1958, als der sowjetische Botschafter in Helsinki nach einem Wahlerfolg der Kommunisten (sie hatten mit 50 Mandaten ein Viertel der Reichstagssitze erobert) einen Wunschzettel für die finnische Regierungsbildung präsentierte. Eine Koalition von den Kommunisten bis zu den Konservativen unter Einschluß sozialdemokratischer Linksdissidenten sollte gegen die Sozialdemokraten regieren. Die sowjetischen Vorschläge wurden aber nicht goutiert: Die neue Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Fagerholm war aus allen Parteien gegen die Kommunisten und deren Verbündete gebildet worden. Da fielen »Nachtfröste« übers Land. Die Sowjetunion demonstrierte ihren Unwillen, vom Abbruch laufender Wirtschaftsverhandlungen bis hin zur Stillegung der diplomatischen Beziehungen. Die Begleitmusik bestand in einer Serie unfreundlicher Kommentare in der sowjetischen Presse. Nach einem Besuch Staatspräsident Kekkonens, der als Vorausleistung der Regierung Fagerholm zum Sturz verholfen hatte, tauten ab Januar 1959 die sowjetisch-finnischen Beziehungen wieder auf; ein Zweck des Drucks auf Helsinki war aber auch erreicht, nämlich die Verdrängung der verhaßten Sozialdemokraten aus der Regierungsverantwortung auf lange Zeit. 1956 war Urho Kekkonen, der 1950–1953 und von 1954 bis 1956 insgesamt fünfmal Regierungschef gewesen war, mit minimalem Vorsprung vor seinem sozialdemokratischen Konkurrenten Fagerholm, der ebenfalls zwischen 1948 und 1958 mehrfach Ministerpräsident war, zum Nachfolger Paasikivis als Staatspräsident gewählt worden. Kekkonen blieb ein Vierteljahrhundert lang bis zum alters- und krankheitsbedingten Rücktritt im Oktober 1981 im Amt. Lediglich seine erste Wiederwahl im Jahre 1962 war umstritten gewesen und durch sowjetische Einflußnahme zu seinen Gunsten entschieden worden. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war Kekkonen parteipolitisch aktiv und entgegen dem finnischen Brauch, nach dem der Staatspräsident überparteilichneutral amtieren soll, wirkte er, an der Spitze seiner Bauernpartei, im innenpolitischen Getriebe kräftig mit. Gegen seine erneute Kandidatur hatte sich im Sommer 1961 ein von den Sozialdemokraten geführtes Bündnis gebildet, dem Vertreter mehrerer bürgerlicher Parteien angehörten. Um die Chancen Kekkonens stand es nicht allzu gut, bis die Sowjetunion im Herbst 1961 eingriff. Am 30. Oktober wurde eine sowjetische Note überreicht, in der die Berlinkrise als Aufhänger benutzt war, um auf das drohende »Vordringen der westdeutschen Militaristen und Revanchisten nach Nordeuropa und in den Ostseebereich sowie ihr Bestreben, dieses Gebiet als militärische Etappe für ihre nächsten militärischen Abenteuer zu benutzen«9, aufmerksam zu machen. Wegen dieser Bedrohung der sowjetischen und der finnischen Sicherheit wurde Helsinki zu Konsultationen (unter Berufung auf den Freundschaftsvertrag von 1948) aufgefordert. In Gesprächen zwischen den
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Außenministern und zwischen Chruschtschow und Kekkonen im November 1961 in Nowosibirsk wurden die wirklichen Ansichten der sowjetischen Politiker deutlich. Den Finnen wurde klargemacht, daß eine Wahlniederlage Kekkonens in Moskau als unfreundlicher Akt ausgelegt würde. Als sich daraufhin das Bündnis gegen Kekkonen auflöste und der einzige ernsthafte Gegenkandidat zurücktrat, war von den Konsultationen wegen der angeblichen westdeutschen Aggression keine Rede mehr. Das Eingreifen der Sowjetunion in innere Angelegenheiten Finnlands im Herbst 1961 war direkter, drohender und einschneidender als das Vorgehen im Herbst 1958. Im Westen wurde von interessierten Kreisen sogar das Schlimmste befürchtet. Die Beilegung der Notenkrise durch Nachgeben in der Innenpolitik hatte den Finnen aber die unerwünschten Konsultationen mit Moskau erspart, und im Kreml wurde das Nachgeben als Zeichen verstanden, daß Finnland die Friedens- und Freundschaftspolitik gegenüber dem großen Nachbarn unbedingt weiterführen wollte; das Interesse der Finnen an ihrer Unabhängigkeit und Neutralität war andererseits groß genug, um Konzessionen zu machen. Tatsächlich gab es keine vergleichbaren Krisen in den Beziehungen beider Länder mehr; die Assoziierung des Landes an die EFTA und später an die Europäische Gemeinschaft warf keine Probleme auf, und die Autorität des finnischen Staatspräsidenten im Inneren wie in den Außenbeziehungen war sogar gewachsen. Kekkonen wurde mehr noch als sein Vorgänger zum Symbol der finnischen Außenpolitik. Man sprach noch etliche Zeit von der PaasikiviKekkonen-Linie, um die Prämissen der finnischen Außenpolitik – korrekte Zusammenarbeit mit Moskau bei Offenhaltung der Verbindung zum Westen – zu kennzeichnen, die Erfolge dieser Politik galten schließlich aber als integrale Bestandteile der Biographie Kekkonens, zu deren Höhepunkten die Eröffnung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Helsinki am 3. Juli 1973 gehörte. Das finnische Volk betrachte den Konferenzort »als praktische Anerkennung seiner aktiven friedliebenden Neutralitätspolitik«10, hatte Kekkonen in seiner Begrüßungsrede erklärt, und tatsächlich war kaum ein anderer Ort für die Verhandlungen in Frage gekommen. Mit Helsinki hatten zuletzt noch Stockholm und Wien als Hauptstädte neutraler Länder anderer Couleur konkurriert, aber auf Helsinki konnten sich Ost und West am besten einigen.
Schweden, Schweiz, Österreich – drei Formen der Neutralität Daß der Freundschaftsvertrag, den Finnland mit der Sowjetunion schließen mußte, nicht zur ersten Etappe der Sowjetisierung des Landes wurde, daß Moskau darauf verzichtete, das kleine nordeuropäische Nachbarland zur Sowjetrepublik zu machen, und sich mit vergleichsweise harmlosen
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Möglichkeiten der Einflußnahme begnügte, verdankten die Finnen! nicht zuletzt der Nachbarschaft Schwedens. Denn das reiche unabhängige, strategisch wichtige Ostseeland hätte beim Anschluß Finnlands an die Sowjetunion seine seit den napoleonischen Kriegen geübte Neutralität aufgegeben und sich höchstwahrscheinlich der NATO angeschlossen. Die schwedische Neutralitätspolitik beruht auf der pragmatischen Formel »Bündnisfreiheit im Frieden zwecks Neutralität im Kriege«. Schweden versteht sich einerseits als Puffer zwischen Ost und West, andererseits als der die Balance stabilisierende Teil des nordischen Gleichgewichts zwischen den NATO- Staaten Norwegen und Dänemark einerseits und dem sowjetfreundlich-neutralen Finnland andererseits. Die Neutralität Schwedens wird durch keinen Vertrag und keine Erklärung eines anderen Staates, einer Staatengruppe oder internationalen Organisation garantiert; die Schweden verlassen sich auf sich selbst bzw., genauer gesagt, auf die Kombination von starken und dank der schwedischen Rüstungsindustrie technisch vom Ausland weitgehend unabhängigen Streitkräften und natürlichen Gegebenheiten: Lage, Landesnatur und dünne Besiedelung verlocken kaum zu Angriffen auf Schweden, aber die Verteidigung wäre durch diese Faktoren begünstigt. Für den Verteidigungsfall sind die Schweden besser gerüstet als jedes andere Land der Erde: Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung finden in unterirdischen Bunkern Schutz, Befestigungen und Vorratslager sind, ebenfalls unterirdisch, dezentralisiert und schwer einnehmbar angelegt, die ganze schwedische Volkswirtschaft ist, mit dem Ziel der Autarkie, kurzfristig auf den Verteidigungszustand programmierbar. Die schwedische Politik der Allianzfreiheit ist auf das einzige Ziel ausgerichtet, das Land nicht in kriegerische Auseinandersetzungen der Großmächte geraten zu lassen. Die schwedische Neutralität, die auch als »aktive Neutralität« charakterisiert wird, ist eine elastische Politik des Mittels zum Zweck, die den jeweiligen Realitäten angepaßt werden kann. Die Schweden können auch jederzeit ihren neutralen Status aufgeben, ohne in verfassungs- oder staatsrechtliche Schwierigkeiten zu geraten. Die schwedische Neutralität enthält keinerlei ideologische Komponente, man kann sie eher als Relikt der politischen Philosophie des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert verstehen, die freilich vor allem dank einer geostrategisch günstigen Lage funktioniert. Die Schweden könnten ihr beachtliches militärisches und ökonomisches Potential jederzeit auch in ein Allianzsystem einbringen; darüber nachgedacht wurde in Stockholm mehrmals in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar nicht nur über ein nordisches Verteidigungsbündnis mit Norwegen und Dänemark (1948), sondern sogar über den Beitritt zur NATO. Zum schwedischen Verständnis aktiver Neutralität gehört das starke Engagement im Europarat und in den Vereinten Nationen. Daß die UNO in der Ära ihres aus Schweden stammenden Generalsekretärs Dag Hammarskjöld (1953–1961) den Prozeß der Entkolonialisierung kräftig vorantrieb, war kein
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Zufall; die Sympathien der Schweden für Befreiungsbewegungen in Afrika, Lateinamerika und Asien waren und sind ausgeprägt und finden ihren Ausdruck auch in materiellen Hilfeleistungen, sprich Waffen. Der Wohlfahrtsstaat Schweden galt wegen seines Wirtschaftswachstums, der innenpolitischen Stabilität – die Sozialdemokraten waren von 1932 bis 1976 ununterbrochen Regierungspartei – und vor allem wegen des hohen Lebensstandards bis in die siebziger Jahre als erstrebenswertes Modell. Das Prinzip der Solidarität, das in der schwedischen Sozialpolitik u.a. in den »Volkspensionen«, die Vorbild für die Nachbarstaaten wurden, Ausdruck fand, wurde auch als Verpflichtung gegenüber den Ländern der Dritten Welt verstanden und durch hohe Leistungen in der Entwicklungshilfe realisiert. Das Engagement für unterdrückte und arme Nationen gehört zum schwedischen Verständnis der »aktiven Neutralität«. Wie der schwedische Ministerpräsident Olof Palme bei einem Staatsbesuch in Wien im Mai 1975 erklärte, bedeute Neutralität nicht, »der Welt den Rücken zu kehren, Neutralität sei vielmehr die Verpflichtung, seine Stimme zu erheben, wenn die Großmächte die Rechte der Kleinstaaten mit Füßen treten«.11 Das Land mit der ältesten und ungebrochenen Tradition der Neutralität in Europa, die Schweiz, übt Neutralitätspolitik, gemessen an Schweden, mit äußerster puristischer Strenge. Die Schweizer Neutralität beruht auf internationalen Vereinbarungen, die auf den Wiener Kongreß von 1815 zurückgehen. Die »immerwährende« Neutralität der Schweiz wurde durch Erklärung der damaligen Großmächte und förmliche Unterzeichnung einer Neutralitätserklärung konstituiert und garantiert und im Versailler Friedensvertrag 1919 als Bestandteil des europäischen Völkerrechts noch einmal bekräftigt. Die Schweiz war dem Völkerbund nur zögernd, nachdem sie von der Verpflichtung zur Teilnahme an etwaigen satzungsgemäßen Sanktionen freigestellt worden war, beigetreten. Die Mitgliedschaft in der UNO wird in Bern für unvereinbar gehalten mit dem Schweizer Status, da der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Staaten anordnen kann, zu denen die UNOMitglieder dann verpflichtet sind. Die ersten Nachkriegsjahre wurden für die Schweiz doppelt schwierig, weil das kleine Land vollkommen isoliert einem sich wandelnden internationalen System gegenüberstand. Die unfreiwillig engen wirtschaftlichen Bindungen der Schweiz an die Achsenmächte Deutschland und Italien erwiesen sich am Ende des Zweiten Weltkriegs als schwere Hypothek für die Schweizer Außenpolitik. Die Eidgenossen sahen sich mit dem Vorwurf »opportunistisch taxierten Abseitsstehens« konfrontiert, und sie ließen sich dadurch in ihrer isolationistischen Tendenz nur noch bestärken.12 Während die Schweiz außenpolitisch in ihrer Igelstellung verharrte, versuchte sie gleichzeitig, im lebenswichtigen Außenhandel auf neuen Märkten mit neuen Partnern Fuß zu
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fassen. Die Isolation wurde ganz allmählich überwunden, nicht zuletzt durch die Teilnahme der Schweiz an der Marshall-Plan-Konferenz in Paris im Juli 1947. Als Leitlinie der eidgenössischen Außenpolitik entwickelte Max Petitpierre, der langjährige Chef des Politischen Departements, Ende der 40er Jahre die Formel »Neutralität und Solidarität«, aber schon in den ersten Nachkriegsjahren leistete die Schweiz generös materielle Hilfe, auch an Deutschland. Im Mai 1946 hatte die Schweiz unter amerikanischem Druck ein Abkommen schließen müssen, das die Verpflichtung, deutsche Vermögenswerte zur Hälfte an Drittländer als Reparationsleistungen herauszugeben, zum Gegenstand hatte. Das Washingtoner Abkommen stand in argem Gegensatz zur Schweizer Denkungsart, entsprechend zögerlich wurde es in die Tat umgesetzt, und 1952, nach der Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen Bern und Bonn, fanden sich mit alliierter Duldung andere Lösungen für die Vermögensprobleme. Unter anderem hatte die Schweiz der Bundesrepublik einen Bankkredit über 100 Millionen Franken gewährt, mit dem Bonn Reparationsansprüche befriedigen konnte. Dafür wurden die deutschen Vermögenswerte in der Schweiz freigegeben. Umgekehrt übernahm die Bundesrepublik die Schulden des Deutschen Reiches (über eine Milliarde Franken) in der Schweiz. Die Nachkriegsjahre brachten den Eidgenossen ökonomisch eine lange Zeit der Hochkonjunktur. Der Ausbau des Sozialsystems (vor allem der Alters- und Hinterbliebenenversicherung) stand unter der allgemeinen Tendenz zum Wohlfahrtsstaat. Daneben blieben die traditionellen Werte, die das Schweizer Politikverständnis bestimmen und dessen Originalität ausmachen – Föderalismus, direkte Demokratie und Neutralität –, unangetastet. Die kürzeste Tradition hat die »immerwährende Neutralität« der Republik Österreich. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Wiedererstehen des Landes 1945 und mit der Wiedergewinnung der Souveränität 1955. Die Alliierten des Zweiten Weltkriegs waren sich lange vor Kriegsende einig, daß Österreich als das »erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von der deutschen Herrschaft befreit werden« sollte. Der »Anschluß« von 1938 galt den Alliierten – und längst auch den Österreichern – als null und nichtig, aber andererseits sollte Österreich auch daran erinnert, d.h. zu Reparationsleistungen herangezogen werden, daß es »für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler- Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann«. So lauteteten die entscheidenden, einander jedoch etwas widersprechenden Sätze der Österreich-Deklaration der Moskauer Konferenz vom Oktober 1943.13 Österreich wurde im Frühjahr 1945 zwar in vier Besatzungszonen (und Wien in vier Sektoren) geteilt, im Gegensatz zu Deutschland durfte aber schon Ende April 1945 eine provisorische Staatsregierung gebildet werden, die die Verfassung von 1920 wieder in Kraft setzte und dadurch Österreich als
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selbständigen Staat neu konstituierte. Auf der Potsdamer Konferenz beschlossen die Großmächte, keine Reparationen von Österreich zu verlangen (sie stellten aber Ansprüche auf deutsches Eigentum in Österreich und schufen damit, ähnlich wie in der Schweiz, ein für die spätere Bundesrepublik schwieriges Problemfeld), und im November 1945 fanden die ersten Wahlen der Nachkriegszeit zum Nationalrat und in die Landtage statt. Im Dezember 1945 wurde Karl Renner (SPÖ) zum Bundespräsidenten gewählt, Leopold Figl (ÖVP) wurde Bundeskanzler an der Spitze eines Kabinetts, dem alle im Nationalrat vertretenen Parteien angehörten, die Österreichische Volkspartei (85 Mandate), die Sozialistische Partei Österreichs (85 Mandate) und die KPÖ (4 Mandate). Nachdem die Kommunisten Mitte 1947 wegen der Währungsreform und vor allem wegen der Annahme des Marshall-Plan-Angebots die Regierung verlassen hatten, entwickelten sich das bis 1966 für Österreich spezifische Proporzsystem und die darauf basierenden Großen Koalitionen, bei denen die ÖVP jeweils den Kanzler und die SPÖ den Vizekanzler stellte. Die ersten vier Regierungen der zweiten Republik Österreich amtierten aber noch unter einem Kontrollabkommen, das dem Alliierten Rat der vier Besatzungsmächte die formelle Oberhoheit vorbehielt. Die Ablösung dieses Besatzungsstatuts stand seit Dezember 1946 auf der Tagesordnung der alliierten Außenministerkonferenzen; wegen Detailproblemen und Verfahrensfragen (u.a. wegen des deutschen Eigentums, der sowjetischen Interessen an der österreichischen Erdölproduktion, wegen Grenz- und Minderheitenfragen mit Jugoslawien) und weil auch die österreichische Frage den Spielregeln des Kalten Kriegs unterworfen war, schleppten sich die Verhandlungen der Stellvertretenden Außenminister der vier Mächte in Hunderten von Sitzungen ergebnislos dahin, stagnierten dann völlig und brachten nach der Wiederaufnahme Anfang der 50er Jahre auch keinen Fortgang. Der ergab sich erst, als Indiens Premier Nehru auf Bitten des österreichischen Außenministers Vermittlerdienste in Moskau leistete, und zwar auf der Basis der Neutralisierungsideen, die in Österreich seit Kriegsende erwogen wurden. Nach neuen und zähen Verhandlungen und dem Besuch einer österreichischen Delegation in Moskau im April 1955 konnte am 15. Mai 1955 in Wien der Österreichische Staatsvertrag von den Außenministern der vier Mächte einerseits und ihrem Wiener Kollegen andererseits unterzeichnet werden. Die Neutralisierung der damit wieder souverän gewordenen Alpenrepublik war im Staatsvertrag überhaupt nicht erwähnt; sie war aber dessen Voraussetzung und damit auch die Vorbedingung des Abzugs der Besatzungstruppen. Die Neutralität wurde in eigenen Rechtsakten konstituiert, nämlich zunächst in einer einstimmigen Entschließung des Nationalrats am 7. Juni 1955 und am 26. Oktober 1955 durch das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität, in dem Österreich »aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität« erklärte. Das Gesetz war nach seinem Inkrafttreten allen Staaten, mit denen Österreich diplomatische Beziehungen unterhielt, notifiziert worden. Die
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meisten Nationen haben anschließend die österreichische Neutralität formell anerkannt. Das Vorbild hatte natürlich die Schweiz gegeben, und die geographische Situation Österreichs war der schweizerischen ebenfalls ähnlich. Aber es gibt einige wesentliche Unterschiede sowohl im rechtlichen Status als auch im politischen Verständnis der jeweiligen Neutralität. Die Schweizer Form ist international garantiert, beruht zudem auf jahrhundertelanger Übung, die österreichische ist nur anerkannt. Ob das in der Praxis wirklich ein Qualitätsunterschied ist, steht freilich dahin. Die Eidgenossen wären allerdings in der Lage, Bündnisse zu schließen, wenn sie es wollten14, die Österreicher haben diese Möglichkeit, also die Aufgabe der Neutralität aus freien Stücken, ausdrücklich ausgeschlossen. Andererseits wird in Österreich großer Wert darauf gelegt, die Proklamation der Neutralität als völlig freiwillig und nicht auferlegt (oder gar unter sowjetischem Druck erfolgt) zu interpretieren. Tatsächlich wurde in Österreich erstaunlich schnell der neutrale Status akzeptiert und als wesentlicher Bestandteil der politischen Kultur empfunden. Bundeskanzler Raab hatte bei der Beratung des Neutralitätsgesetzes im Nationalrat erklärt, daß die »geistige und politische Freiheit des einzelnen, insbesondere die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung« nicht berührt sei, und es würde auch »keine Verpflichtung zur ideologischen Neutralität begründet«15. Von allem Anfang an verstanden die österreichischen Politiker die Neutralität aber auch als Auftrag zur Leistung guter Dienste im internationalen Leben, zum Engagement in der Organisation der Vereinten Nationen und zu Vermittlungstätigkeiten verschiedenster Art, was ihnen in Schweizer Augen, in deren eher puristischem Neutralitätsverständnis als »neutraler Sendungseifer«16 angekreidet wird. Im Gegensatz zur Schweiz (und natürlich auch im Gegensatz zu Schweden) vernachlässigen die Österreicher dagegen eher das Prinzip der bewaffneten Neutralität, jedenfalls unternahmen sie keine übertriebenen Anstrengungen auf militärischem Gebiet. Wien vertraut mehr auf diplomatische als auf militärische Mittel, auch das hat Tradition in Österreich. 3. Osteuropa unter der Herrschaft Stalins Von Gert Robel I. Die Sowjetunion nach 1945 a) Wirtschaftlicher Wiederaufbau Die ungeheure Anspannung, die auf der sowjetischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges gelastet hatte, wurde mit der Kapitulation Deutschlands und Japans nicht wesentlich gelockert. Neben der Sicherung des eroberten sowjetischen Vorfeldes, die das Land schließlich in den sogenannten Kalten Krieg führte, setzte Stalin dem Lande weiterhin hohe Ziele: den Wiederaufbau
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der zerstörten Gebiete1. Die Verwüstungen, die der Krieg hinterlassen hatte, waren ungeheuer, etwa 70000 Dörfer sollen völlig vernichtet worden sein, unzählige Städte hatten schwere und schwerste Schäden davongetragen. Fast ein Drittel der Bevölkerung des Kampfgebietes – über 25 Millionen Menschen – war obdachlos, etwa jeder Zehnte der Bevölkerung im Krieg gefallen, ermordet, durch kriegsbedingte Krankheiten umgekommen oder verhungert. Die Industrieanlagen in der Kampfzone waren, soweit sie nicht zu jenen 2500 Betrieben gehörten, die im Sommer und Herbst des Jahres 1941 nach dem Ural, Westsibirien, Kasachstan oder Zentralasien verlagert und dem deutschen Zugriff entzogen werden konnten, groß teils während der Kämpfe oder beim deutschen Rückzug zerstört worden, 6000 Betriebe mußten wiederaufgebaut werden. Erschwerend trat hinzu, daß auch das Transportwesen riesige Verluste erlitten hatte, die gesamte Infrastruktur schwer geschädigt war. Nicht geringer waren die Verluste der Landwirtschaft, insbesondere an Vieh: Der Viehbestand des Jahres 1945 lag 40% unter dem Stand von 1940. Zwar war man schon unmittelbar nach der Rückeroberung darangegangen, die befreiten Gebiete mit lokalen und regionalen Mitteln wiederaufzubauen, doch reichten die Ressourcen in keiner Weise aus. Und da die vollständige Konzentration aller Kräfte auf die Erfordernisse der Kriegführung bis Mai 1945 Postulat aller politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen blieb, war vor Kriegsende an einen wirklichen Wiederaufbau nicht zu denken. Erst nach der Niederlage Japans, am 19. August 1945, ordnete Stalin die Aufstellung des vierten Fünfjahrplanes an, der dann im März 1946 vom Obersten Sowjet der UdSSR gebilligt wurde. Ungeachtet der Zerstörungen in den westlichen und ukrainischen Industriegebieten, deren Produktion im Jahre 1945 etwa ein Drittel jener des Jahres 1940 betrug, lagen die Planziele für 1950 zum Teil beträchtlich über den Ergebnissen des letzten Friedensjahres. So sollte das Nationaleinkommen um 38%, die industrielle um 48% und die landwirtschaftliche Produktion um 27% gesteigert werden, gemäß dem erklärten Ziel, »die durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Gebiete des Landes wiederherzustellen, den Vorkriegsstandard in Industrie und Landwirtschaft wieder zu erreichen und danach in beträchtlichem Maße zu übertreffen«2. Ungeachtet der Not der Bevölkerung, deren Versorgung mit Konsumgütern schon in den Kriegsjahren auf ein Minimum hatte reduziert werden müssen, hielt Stalin an der vorrangigen Förderung der Investitionsgüterindustrie fest. Schon seine Rede am 9. Februar 1946 in seinem Moskauer Wahlkreis hatte dies angedeutet, als Stalin erklärte, nur durch die rasche und überproportional starke Entwicklung der Schwerindustrie sei die Versorgung der Truppe mit Waffen und Munition während des Krieges ermöglicht worden. Er wies zugleich darauf hin, daß zwar »der Faschismus« besiegt sei, die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus aber andauere. Und das Gesetz über den vierten Fünfjahrplan sah dann auch »die weitere Vergrößerung der Verteidigungsmacht der UdSSR und die Ausrüstung ihrer Streitkräfte mit modernsten Waffen« als
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eines der wichtigsten Planziele vor3. Entsprechend verteilte der Plan 87,9% der Industrie-Investitionen auf die Investitionsgüterindustrie und nur 12,1% auf die Konsumgüterindustrie. Das Grundprinzip der sowjetischen Wirtschaftspolitik der dreißiger Jahre blieb also erhalten: Ungeachtet ihres enormen Nachholbedarfs wurden von der Bevölkerung neue Opfer verlangt. Zwar wurde eine Steigerung der Konsumgüterproduktion und eine Hebung des Lebensstandards der »Werktätigen« durch eine Senkung aller Preise der Massenbedarfsartikel angekündigt, doch zunächst änderte sich für die Bevölkerung nichts. Das Jahr 1946 wurde sogar zu einem der schwierigsten Friedensjahre der Sowjetunion. Die Mißernte dieses Jahres – nur knapp 40 Millionen Tonnen Getreide gegenüber 47,3 Millionen im Jahre 1940, obwohl die Anbaufläche vergrößert worden war -zwang zur Beibehaltung der niedrigen Lebensmittelrationen der letzten Kriegszeit und wurde zu einer schweren Belastung. Die Arbeitsbedingungen waren häufig außerordentlich hart, insbesondere beim Wiederaufbau der von den weichenden deutschen Truppen unter Wasser gesetzten Kohlengruben und zerstörten Hüttenwerke der Ukraine. Hinzu kam, daß Planbehörden und Betriebsführungen sich mit völlig ungewohnten Problemen konfrontiert sahen, die die Ausnahmesituation mit sich brachte. Auch war nach der gigantischen Anstrengung der Kriegsjahre eine allgemeine Erschlaffung nicht zu vermeiden. Die Wiedereingliederung der demobilisierten Soldaten – 1946 betrug ihre Zahl etwa 3 Millionen – brachte vielerlei Schwierigkeiten mit sich, von der Familienzusammenführung und der Unterkunftsbeschaffung bis hin zur Eingewöhnung in die industriellen Arbeitsbedingungen, die sich während des Krieges unter Mithilfe USamerikanischer Berater geändert hatten, sei es durch Rationalisierung des Produktionsprozesses, durch die Einführung der Standardisierung (Einführung des GOST- Normsystems) oder neuer Technologien. Das Ausscheiden vieler Rentner, die im Kriege wieder- oder weiterbeschäftigt worden waren, stellte die Betriebe vor zusätzliche weitere Probleme, verloren sie mit ihnen doch erfahrene Arbeitskräfte. Unter diesen Umständen ist es fast natürlich, daß die Produktion des ersten Friedensjahres weit hinter den gesteckten Planzielen zurückblieb. Störend machte sich auch die Umorganisation der Wirtschaftsleitung bemerkbar. Die im Kriege geschaffenen speziellen Volkskommissariate für bestimmte Rüstungszweige – etwa den Panzerbau – wurden aufgelöst, neue für bestimmte Schwerpunkte der Friedenswirtschaft errichtet, so für landwirtschaftliche Maschinen, das Bauwesen u.a.m. Mit dieser Kompetenzaufteilung suchte der oberste Wirtschaftsplaner und -fachmann der Sowjetunion in jenen Jahren, Wosnessenski, der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung der Wirtschaft zu begegnen. Die Zahl der für Industrie und Bauwesen zuständigen nunmehrigen – seit der Umbenennung der früheren Volkskommissariate am 15. März 1946 – Ministerien stieg in den Jahren 1946– 1947 auf 33 (gegenüber 21 im Jahre 1939). Gleichzeitig wurde die Leitung dieser
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Branchenministerien Fachleuten übertragen, die mit den Problemen ihres Zuständigkeitsbereichs besser vertraut sein sollten als ihre aus der Parteilaufbahn hervorgegangenen Vorgänger. Um den Branchenegoismen entgegenzuwirken, wurden ihnen allerdings spezielle Sekretäre des Zentralkomitees der KPdSU mit Kontroll- und Weisungsfunktion übergeordnet. Damit verlagerten sich die Probleme aber nur, denn die Koordination der Einzelministerien erwies sich zusehends als schwieriger, je komplexer die Wirtschaftsstruktur des Landes durch die Einführung neuer Produktionen wurde und je stärker die Industrie wuchs. Die Schwerfälligkeit des Planungssystems und seine geringe Flexibilität gegenüber neuen oder unerwarteten Entwicklungen, die gerade in der Wiederaufbauphase deutlich hervortraten, legten eine Umstrukturierung der zentralen Wirtschaftsleitung, GOSPLAN, nahe. Als deutlich wurde, daß auch 1947 die Produktion nicht die gesteckten Ziele erreichte, wurde GOSPLAN im Dezember 1947 in eine reine Planungsbehörde mit dem Rang eines Staatskomitees umgewandelt, die Zulieferung und die Zuständigkeit für technische Neuerungen wurden neugeschaffenen Komitees – GOSSNAB und GOSTECHNIKA – übertragen. Nachdem im August 1948 auch noch das Statistische Büro ausgegliedert und direkt dem Ministerrat unterstellt worden war, sah sich die einst allmächtige Wirtschaftsbehörde auf einen bescheidenen Platz verwiesen; der Ablösung Wosnessenskis, ihres Leiters, kam dann nur noch marginale Bedeutung zu. Um die Kriegsschäden rasch zu beheben, bedurfte die Sowjetunion ausländischer Hilfe, die man vor allem von den Verbündeten erwartete. Die jähe Einstellung der US-amerikanischen Lieferungen nach dem Leih- und Pachtabkommen im August 1945 traf daher das Land außerordentlich hart, denn ähnlich Großbritannien wies die Zahlungsbilanz der Sowjetunion als Folge des Krieges ein katastrophales Ungleichgewicht auf: Exporten in Höhe von 1,4 Milliarden Rubel standen Importe von 14,8 Milliarden (unter Einschluß der Lend-Lease-Lieferungen) im Jahre 1945 gegenüber. Die UdSSR war also in besonderem Maße auf Unterstützung von außen angewiesen. Die Hilfe durch die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) für die verwüsteten Gebiete und die britischen und schwedischen Kredite halfen jedoch nur die schlimmsten Engpässe überwinden. Mit der politisch motivierten Ablehnung des Marshall-Planes im Sommer 1947, der sich unter massivem Moskauer Druck auch die osteuropäischen Staaten im sowjetischen Hegemonialbereich anschlössen, sah sich die Sowjetunion dann weitgehend auf die eigenen Kräfte des von ihr kontrollierten Raumes angewiesen. Die osteuropäischen Länder, insbesondere die ehemaligen Feindstaaten, waren schon unmittelbar nach Kriegsende in starkem Maße zur Unterstützung des sowjetischen Wiederaufbaus herangezogen worden, sei es durch die sogenannten »gemischten Gesellschaften« mit 50% sowjetischer Beteiligung4, sei es durch Reparationen in Form von Warenlieferungen (vor allem aus den Bereichen des Maschinenbaus, der optischen und Elektro-Industrie, aber auch
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von Erdöl, Zucker, Fetten u.a. Rohstoffen und Nahrungsmitteln) oder durch Demontagen von Produktionsanlagen. Letztere trafen insbesondere die sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ) hart, aber auch Ungarn und Rumänien; ja selbst in der besetzten Mandschurei wurden Betriebe demontiert. Die Sowjetunion bezifferte ihre Wiedergutmachungsforderungen gegenüber Deutschland auf 10 Milliarden Dollar, für deren Begleichung sie nach dem Streit über die Demontagepolitik zwischen den ehemaligen Alliierten Moskaus auf die SBZ verwiesen blieb. Diese Demontagen, so dilettantisch sie auch oft durchgeführt wurden, erweiterten die Produktionsmöglichkeiten in der UdSSR teilweise erheblich, so etwa die der optischen Industrie durch die Verlagerung der Jenaer Zeiss- Werke samt eines großen Teils ihrer Beschäftigten, was einen enormen Zuwachs an Produktionskapazität und technologischem Know-how brachte; ähnliches gilt für die chemische und die graphische Industrie. Auf dem Rüstungssektor führte die Eingliederung der Peenemünder RaketenVersuchsanstalt in die sowjetische Rüstungsindustrie zum Durchbruch bei der Entwicklung von Fernraketen und schuf die Grundlage für den Aufbau der sowjetischen strategischen Raketenwaffen. Außer den in großer Zahl erbeuteten Patenten sicherte sich die Sowjetunion durch Zwangsverpflichtung auch deutsche Fachkräfte. Allein mit der größten Aktion im Mai/Juni 1947 wurden mehr als 100000 Personen in die UdSSR gebracht – und mit den qualifizierten Arbeitskräften kam ein enormer Zustrom an hochentwickelten technologischen Kenntnissen. Von den verbleibenden Betrieben wurden, wie auch in Ungarn und Rumänien, die für die sowjetische Wirtschaft wichtigsten mit dem Befehl Nr. 167 vom 5. Juni 1946 der SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) in sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) umgewandelt. Der Befehl trägt den bezeichnenden Titel: »Über den Übergang von Unternehmungen in Deutschland in das Eigentum der UdSSR aufgrund der Reparationsansprüche der UdSSR.« Die 25 SAG mit 213 Einzelbetrieben – die wichtigste war die sogenannte »Wismut-AG« mit ihrer ausschließlich für die UdSSR bestimmten UranFörderung – produzierten weitgehend nur für die UdSSR, sie waren daher auch von der SBZ-Wirtschaft vorrangig zu versorgen. Erst nach Gründung der DDR wurden sie – die letzten 1954 – an die Ostberliner Regierung zurückgegeben. Insgesamt betrachtet, wird man feststellen dürfen, daß die Sowjetunion die veranschlagte Gesamtsumme der Reparationen tatsächlich erhielt – auch wenn die offizielle östliche Darstellung, die viele Leistungen erheblich unterbewertet, manche auch gar nicht einbezieht, nur Lieferungen im Wert von 4,3 Milliarden Dollar verzeichnet5. Dessenungeachtet lag die Hauptlast des Wiederaufbaus bei der sowjetischen Bevölkerung; die Reparationen bedeuteten nicht mehr als eine Hilfe. Angesichts der Planrückstände der Jahre 1946–1947 wurden insbesondere ab 1948 die Arbeiter zu vermehrten Anstrengungen aufgerufen6. Sonderschichten an arbeitsfreien Tagen, massive Propagierung des »sozialistischen Wettbewerbs« zur Produktivitätssteigerung und der diversen »Neuerer-Bewegungen« nach Art
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der Stachanow-Bewegung der Vorkriegszeit, auch eine verschärfte Handhabung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen führten schließlich dazu, daß die ohnehin hoch angesetzten Planziele des Jahres 1950 im Bereich der Investitionsgüterindustrie nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen wurden – eine der Voraussetzungen für die massive sowjetische Unterstützung des nordkoreanischen Regimes im Korea-Krieg. Besonders beachtenswert war die enorme Steigerung der Erzeugung von Elektroenergie. Die drei riesigen Großkraftwerke, die Wasserkraftwerke an der Wolga bei Stalingrad und Kujbyschew und am Dnepr bei Kachetowka, sogenannte »Stalinbauten [später: Großbauten] des Kommunismus«, erhöhten nach ihrer Inbetriebnahme die Stromerzeugung um 22,5 Milliarden Kilowattstunden, mehr als ein Fünftel der gesamten Produktion, die von 48,3 (1940) auf 91,2 Mrd. kWh im Jahre 1950 gesteigert werden konnte (der Plan sah 82 Mrd. kWh vor). Rückstände wies hingegen, wie schon in der Vorkriegszeit, die Konsumgüterproduktion auf, in einigen Bereichen gravierende: die Baumwollstofferzeugung lag um fast 20%, die Schuhwerkproduktion um rund 15% unter dem Planziel, auch die Versorgung mit Haushaltwaren blieb weiterhin völlig ungenügend. Dennoch konnte die Bevölkerung stolz auf ihre Leistungen sein. Beigetragen hat hierzu sicher auch die Währungsreform vom Dezember 1947, die den während des Krieges entstandenen Kaufkraftüberhang weitgehend abbaute. Sie richtete sich vor allem gegen die im Schwarzhandel oder auf den Kolchosmärkten erzielten hohen und gehorteten Gewinne. Das Geld wurde nur bis zu einer bestimmten Summe im Verhältnis 1:10 umgetauscht, Sparkonten bis 3000 Rubel im Verhältnis 1:1, höhere Beträge zu progressiv schlechteren Sätzen. Damit wurde ein neuer Anreiz geschaffen, durch Leistungssteigerungen an der Prämienausschüttung teilzuhaben, zumal die Aufhebung der Rationierung (nach der sehr guten Ernte des Jahres 1947) einen zusätzlichen Kaufanreiz bot. Stiefkind der Entwicklung blieb weiterhin die Landwirtschaft. Zwar wurde die Versorgung der Maschinen- und Traktorenstationen (MTS) mit Traktoren und Erntemaschinen außerordentlich erhöht – die Planzahl von 112000 Traktoren wurde 1950 mit 242500 um runde 125% übererfüllt –, doch die Ernteerträge stiegen im Planjahrfünft nicht wesentlich über das Vorkriegsniveau. Restriktionen gegenüber den Kolchos-Bauern, denen während des Krieges manches nachgesehen worden war, agrotechnische Experimente wie die Einführung von Gras in das Fruchtwechselsystem, der Einfluß eines Scharlatans wie Lysenko, nach dessen Auffassungen sich die Landwirtschaft richten mußte, und schwere finanzielle Belastungen der Kolchosniki resultierten in dieser Stagnation. Fatale Fehlentscheidungen der Moskauer Zentrale, wie die von Stalin selbst befohlene Errichtung von Waldschutzstreifen in den südrussischen Gebieten – deren Kosten die Kolchosen zu tragen hatten – und die Auflagen der Anbaupläne, die ohne Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse dekretiert
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wurden, verschlangen nicht nur wertvolles Kapital, sondern kosteten auch Vertrauen und die Bereitschaft zur Mitarbeit. Ähnlich wie schon in den dreißiger Jahren trugen die Kolchos-Bauern eine enorme Last. Der Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Stallungen mußte aus eigenen Kräften erfolgen – von den staatlichen Lieferungen von Baumaterial und Elektrizität waren die Kolchosen ausgeschlossen. Sie hatten zudem ab 1948 auch erhebliche steuerliche Belastungen zu tragen. Die staatlichen Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte blieben fixiert, aber die Betriebskosten, insbesondere die Transportkosten, stiegen gleichzeitig beträchtlich. Während die Staatsgüter (Sowchosen), die sich zudem noch mancherlei Vergünstigungen erfreuten, 1952 als kostendeckenden Preis 62 Rubel erhielten, wurden den Kolchosen für die gleiche Menge 8,25 Rubel vergütet. Entsprechend niedrig war das Einkommen der Bauern. Allerdings gab es auch hier Unterschiede: So profitierten die Baumwolle anbauenden Kolchosen in Mittelasien von den steigenden Baumwollpreisen, großstadtnahe Kolchosen waren besser gestellt als abgelegene, insbesondere wenn diese sich auf Viehhaltung und Futtererzeugung spezialisiert hatten. Von den staatlichen Repressionen, die die Kolchosniki zu Menschen zweiter Klasse degradierten, blieb auch die Privatwirtschaft der Kolchos-Bauern auf ihrem Hofland (etwa 0,5 ha pro Familie) nicht verschont. Eine Steuererhöhung auf die durch Verkäufe auf den Kolchos-Märkten erzielten Einnahmen aus der Hoflanderzeugung führte zu einem drastischen Produktionsrückgang der für die Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch, Gemüse und Obst so wichtigen privaten Landwirtschaft. So sank bis 1952 der private Bestand an Schweinen um rund 50% gegenüber 1940, der an Schafen und Ziegen um 40% und an Kühen um 16%. Die Härte Stalins gegenüber der Kolchos-Bevölkerung war zweifelsohne auch eine Reaktion auf die relative Besserstellung dieser Bevölkerungsgruppe während der Jahre 1941–1947 – es ist bezeichnend, daß sie bald nach der Währungsreform zutage trat –, sie ist aber auch Ausdruck einer ideologisch begründeten Minderschätzung der Bauern, die ungeachtet der vielzitierten »Arbeiter- und Bauernmacht« Sowjetunion die Bevölkerung in zwei strikt unterschiedene Gruppen trennte. So verwundert es nicht, daß vor allem die Jugendlichen versuchten, der Kolchos-Misere zu entkommen, und die Landflucht eines der schwerwiegenden Probleme der sowjetischen Landwirtschaftsbehörden – wie auch der Kolchosen selbst – bildete, das bis heute, wenn auch nicht mehr in der früheren Schärfe, fortbesteht. b) Ideologische Re-Disziplinierung Der lange Krieg hatte nicht nur wirtschaftliche Schäden hinterlassen. Die Parteiführung war durch die Kriegsereignisse auch gezwungen gewesen, von ihrer ideologischen Intransigenz Abstand zu nehmen. Diese taktische Wendung, deren sichtbarster Ausdruck die Auflösung der Kommunistischen Internationale (Komintern) und die Wiederbesetzung des Moskauer orthodoxen Patriarchenstuhles gewesen waren, hatte nicht allein die öffentliche Meinung der
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angelsächsischen Länder beruhigen sollen, in der die Furcht vor dem weltrevolutionären Kommunismus weiterlebte und die von einer tiefgehenden und grundsätzlichen Ablehnung jeder Art von Diktatur, auch der Stalinschen, geprägt war. Auch die inner sowjetische Situation hatte Anlaß zu einer solchen Revision gegeben. Es war sichtbar geworden – etwa im Verhalten der Bevölkerung, besonders der bäuerlichen, gegenüber den deutschen Truppen im Sommer und Herbst 1941 –, daß auch massivste Indoktrination es nicht vermocht hatte, die im Gefolge der forcierten Industrialisierung und sozialen Umstrukturierung auftretenden Spannungen und Konflikte dauerhaft zu überwölben, und daß Stalins Versuch, die auftretenden Probleme durch Gewalt zu unterdrücken, die Distanz der Betroffenen zum Regime nur vergrößert hatte. Die Selbstbehauptung des Systems durch eine erfolgreiche Verteidigung des Landes hatte die Parteiführung zu Zugeständnissen genötigt, denn nur ein möglichst weitreichender Konsens der Regierten mit der Regierung konnte alle Kräfte für die Verteidigung mobilisieren. Die Abkehr von der sozialistischen »Einheitsfront«-Taktik mit ihrem Primat des Klassenkampfes und die Hinwendung zur nationalen »Volksfront«-Politik, die sich in der internationalen kommunistischen Bewegung in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 ankündigte und 1943 durchsetzte, entsprach daher auch der sowjetischen innenpolitischen Situation. Die den Erfordernissen des Krieges entspringenden vielfältigen Kontakte mit britischen und amerikanischen Beratern wirkten sich in dieser gelockerten Atmosphäre aus und hinterließen, insbesondere im Denken der intellektuellen Elite, ebenso ihre Spuren wie die Begegnung von Millionen sowjetischer Soldaten mit den Lebensformen der von ihnen eroberten Länder Ostmitteleuropas und Deutschlands. Die Liquidierung dieser »bourgeoisen« Einflüsse ließ sich die Partei denn auch bald nach Kriegsende angelegen sein. Die damit verbundene »Umerziehung«, eine Re-Ideologisierung, die das gesamte geistige und kulturelle Leben der Sowjetunion bestimmte, ist eng mit dem Namen Andrej Alexandrowitsch Shdanow verbunden. Er, der als präsumptiver Nachfolger Stalins und als dessen engster Vertrauter galt, war der Repräsentant der ideologischen Verhärtung, die unter dem Namen der »Shdanow-Ära« (Ždanovščina) bekannt wurde. Shdanow (1896–1948) war bereits während des Ersten Weltkrieges zu den Bolschewiki gestoßen und hatte sich während des Bürgerkrieges im Uralgebiet ausgezeichnet. Seit 1924 leitete er dann die Parteiarbeit in Nishnij Nowgorod und empfahl sich Stalin durch seine vorbehaltlose Unterstützung in dessen Auseinandersetzung mit Sinowjew und der (später so genannten) »Rechtsopposition«. 1934 machte ihn Stalin zum Parteisekretär des Leningrader Gebietes als Nachfolger des ermordeten Kirow und betraute ihn damit mit einer der einflußreichsten Stellungen in der Parteihierarchie. 1939 holte er ihn schließlich in das Politbüro, das oberste Entscheidungsgremium der Partei. Die Wahl dieses Mannes hat Stalin nie zu bereuen gehabt – auch bei der Verteidigung Leningrads bewährte sich Shdanow vorzüglich. Schon in den
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Jahren 1934–1938 hatte er die sowjetische Kulturpolitik maßgeblich geprägt, an der Ausformung des »Sowjetpatriotismus« mit seinem Rückgriff auf die großrussisch-nationale Tradition entscheidenden Anteil genommen. So fiel ihm nach Ende des Krieges die Leitung der neuerlichen ideologischen Disziplinierungskampagne zu, die zur geschlossenen sowjetmarxistischen Gesellschaft der Vorkriegszeit zurückführte. Der Rückgriff war nicht nur eine methodische, sondern auch eine inhaltliche Wiederaufnahme der Kulturpolitik der letzten Vorkriegsjahre. Stalin, der der politischen Indoktrination seit je größte Bedeutung zumaß und für den Literatur, Kunst und Musik primär als Instrumente der Bewußtseinsmanipulation fungierten, wie es in seinem Ausspruch vom Schriftsteller als »Ingenieur der Seele« zum Ausdruck kommt, kündete in seiner bereits erwähnten Wahlrede vom 9. Februar 1946 den Kurswechsel an, als er erklärte, der Antagonismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestehe trotz des Sieges über Deutschland und Japan weiter. Angesichts dieser Bedrohung bedürfe die Sowjetunion der gleichen Ent- und Geschlossenheit, der sie den Sieg über Hitler verdanke. Präzisiert wurde die neue Linie dann in Shdanows Rede vor dem Zentralkomitee der Partei im September. Sie war eine unverhüllte Kampfansage gegen alle ausländischen Einflüsse. Die »Kriecherei« vor der dekadenten bourgeoisen Kultur des Westens, die schon in Fäulnis übergegangen sei, müsse aufhören, die sowjetischen Schriftsteller sollten, der Überlegenheit des sozialistischen Systems eingedenk, progressive, wahrhaft sozialistische Literatur schaffen, statt den Machwerken des kapitalistischen Systems nachzueifern. Und wenige Tage später, am 21. September 1946, belehrte er die Leningrader Schriftsteller: Die sowjetische Kultur dürfe sich nicht an der bürgerlichen orientieren, es sei ihre Aufgabe, offensiv für den Fortschritt, für eine neue, sozialistische, wahrhaft menschliche Moral zu kämpfen. Wie üblich, wurden bald darauf die ersten Exempel statuiert, um diesen Forderungen den notwendigen Nachdruck zu verleihen. Das Juristische Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde des Objektivismus, d.h. der Vernachlässigung der Parteilichkeit, und der kosmopolitischen Einstellung geziehen. Die auch im Ausland angesehene Dichterin Anna Achmatowa und der gleichfalls renommierte Satiriker Michail Soschtschenko wurden beschuldigt, in ihren Werken die sowjetische Wirklichkeit verfälscht zu haben. Auch die Philosophen wurden zur konsequenten »kämpferischen Parteilichkeit« ermahnt, die Komponisten – darunter der bereits 1935 öffentlich getadelte Dmitrij Schostakowitsch – aufgefordert, ihre Werke im Geiste des »sozialistischen Realismus« zu verfassen, sich von dem »volksfeindlichen und zersetzenden Formalismus« und dem »vaterlandslosen Formalismus« fernzuhalten. Die ganze Kampagne war von einer extremen Feindschaft gegen den Westen und seine Kultur geprägt; wer auch nur den Anschein erweckte, in die obligate grundsätzliche Verdammung nicht mit aller Entschiedenheit einzustimmen, galt zumindest als suspekt, und dies war gefährlich genug. Auch die sowjetischen Historiker hatten sich der geforderten Parteilichkeit zu
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befleißigen: ausländische Einflüsse auf die Entwicklung Rußlands waren tunlichst nicht zu erwähnen, die Helden der russischen Geschichte dagegen gebührend zu würdigen. Vor diesem Hintergrund entstand u.a. die zum Teil groteske Suche nach russischen Erfindern, die den Nachweis erbringen sollte, wie groß die »schöpferische Kraft des russischen Volkes« und wie progressiv die russischen Menschen schon immer gewesen seien. In der Literatur herrschte nun wieder der »positive Held«, Machwerke wie Babajewskis »Ritter vom goldenen Stern« und »Licht über der Erde« brachten ihren Verfassern höchste Auszeichnungen. Ähnlich gravierend war die Reglementierung der Naturwissenschaften. So etwa blieben Einsteins Erkenntnisse lange verfemt, erst der Kiewer Physiker-Kongreß des Jahres 1959 rehabilitierte sie. Neben einer grundsätzlichen Ablehnung des Westens spielte hierbei häufig auch die Sorge der Ideologen mit, die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse könnten die Lehre des Dialektischen Materialismus, eine Grundsäule des Marxismus, in Frage stellen. Diese Umsetzung der Maxime des Morgensternschen Palmström, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf, in die politische Praxis fügte besonders der naturwissenschaftlichen Forschung und der technischen Entwicklung der Sowjetunion Schäden zu, die erst in den fünfziger Jahren in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar wurden. Ausgangspunkt der isolationistischen Entwicklung war die Enttäuschung über die viel beklagte geringe Unterstützung des sowjetischen Wiederaufbaus durch die westlichen Alliierten, die das Land im wesentlichen auf seine eigenen Kräfte verwies. Die zunehmende Konfrontation mit den ehemaligen Verbündeten wurde schließlich als Bestätigung des Klassenkampf-Theorems ausgelegt, des unversöhnlichen Widerspruchs zwischen kapitalistischem und sozialistischem System. Die so gerechtfertigte Ideologie aber hielt auch das Mittel bereit, die Bevölkerung für die politische Zielsetzung zu mobilisieren: das Theorem von der Überlegenheit der fortschrittlichen sozialistischen Gesellschaft. Stalin hatte wiederholt seine Überzeugung geäußert, die sowjetische Wissenschaft werde sich der des Westens überlegen zeigen. Wenn die Geschichte, wie die Historiker getreu der Parteilinie nachwiesen, lehrte, daß schon in der Vergangenheit das »große russische Volk« viele Erfinder und bahnbrechende Forscher hervorgebracht habe, so fand sich damit der Beweis, daß dies auch jetzt durchaus möglich sei. Hieraus leitete sich aber nicht nur eine gewisse Zuversicht in die eigenen Kräfte ab, sondern die dogmatische Engstirnigkeit, mit der die Geschichte der übrigen Welt negiert wurde, mündete durch den Verlust aller Vergleichsmaßstäbe in einer monomanen Selbstbestätigung, die die eigenen Möglichkeiten arg überschätzte und – vice versa – die des Westens unterbewertete. Symptomatisch für die sich daraus ergebenden Folgen ist der Fall des führenden Nationalökonomen Eugen Varga. Dieser hatte in einer Untersuchung der Nachkriegsentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft bezweifelt, daß die USA unmittelbar vor einer tiefgehenden Krise stünden, wie dies Auffassung der Partei war. In einer groß
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inszenierten »wissenschaftlichen« Diskussion wurde über sein Werk – und damit auch über ihn – das Verdikt ausgesprochen. Zwei Jahre später war er rehabilitiert; die Wirklichkeit hatte seine Auffassung bestätigt und Stalin korrigiert. Die Grenze zwischen Propaganda und Selbstüberschätzung ist bei diesen Erscheinungen im einzelnen schwer zu bestimmen, doch das Ergebnis, ein teilweise chauvinistische Züge annehmendes messianisches Sendungsbewußtsein mit partieller Leugnung der Realität, ist offenkundig. Der hieraus abgeleitete Superioritätsanspruch der Sowjetunion war zweifelsohne auch auf die neuen »Volksdemokratien« gezielt, die sich der sowjetischen Hegemonie unterzuordnen hatten. Daß der Anspruch sich mit einem großrussischen Nationalismus verband, liegt in der Funktion, die der Historische Materialismus der Geschichte zuweist: Aus ihrer Gesetzmäßigkeit wird die Legitimation des Systems abgeleitet, sie liefert die Beweise für die »Richtigkeit« der Doktrin wie auch der Politik der Partei. Die revolutionäre Umgestaltung des alten Rußland aber war das Ergebnis seiner Geschichte, der Geschichte des russischen Volkes. Seine führende Rolle hatte es dadurch erwiesen, daß es mit der Oktoberrevolution als erstes das Tor zu dem menschheitsgeschichtlichen Endstadium des Kommunismus aufgestoßen hatte. Seine Erfahrungen hatten daher auch für alle anderen, nachkommenden Völker vorbildhafte – und verbindliche – Gültigkeit. Und diese Vorrangstellung wurde auch in den »Linguistik-Briefen« Stalins, die im Sommer 1950 veröffentlicht wurden, untermauert. Darin stellte er u.a. fest, daß die russische Sprache – die Sprache des russischen Volkes – stets im Zusammentreffen mit anderen Sprachen siegreich geblieben sei. Damit wurde faktisch der russischen Sprache die Rolle einer Herrschaftssprache zugeschrieben – nicht nur gegenüber den anderen Nationalitäten der Sowjetunion. II. Die Teilung Europas a) Shdanows »Zwei-Welten«-Theorie Diese ideologische Disziplinierung blieb nicht auf die Sowjetunion beschränkt. Ihr wurden auch die kommunistischen Parteien des Auslands unterworfen. Für die Länder des sowjetischen Machtbereiches hatte dies einen fundamentalen Wandel des Herrschaftssystems und, daraus resultierend, der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zur Folge. Die Entscheidung der sowjetischen Führung, die begrenzte Selbständigkeit der anderen kommunistischen Parteien und den »besonderen nationalen Weg zum Sozialismus« mit seiner Berücksichtigung der politischen und sozioökonomischen Specifica der osteuropäischen Länder zu liquidieren und sie in reine Satellitenstaaten zu verwandeln, ist offenkundig durch die Verkündung des Marshall-Planes und die begeisterte Zustimmung, die er vor allem in Polen, Ungarn und der ČSR fand, ausgelöst worden; sie fiel um so leichter, als der
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Abschluß der Friedensverträge mit den ehemaligen »Feindstaaten« ein Bemühen um weiteren Konsens mit den einstigen Verbündeten in osteuropäischen Fragen überflüssig machte. Die sowjetische Wendung zur offenen Konfrontation ist jedoch nicht allein durch die neue US-Politik verursacht worden. Neben der Enttäuschung über die ausbleibende Hilfe des Westens beim Wiederaufbau, die durch dessen Haltung in der Reparations- und Demontagefrage noch bestärkt wurde, hat besonders auch die zunehmende Ablehnung des Sozialismus sowjetischer Prägung durch die öffentliche Meinung Westeuropas dazu beigetragen. Diese Entwicklung mußte für Moskau um so bedenklicher erscheinen, als sie von den westeuropäischen Eliten wesentlich mitgetragen und -bestimmt wurde, in deren politischen Zielvorstellungen während der ersten Nachkriegsjahre ja sozialistisches Gedankengut (das bis in die Programme konservativer Parteien – etwa das Ahlener Programm der CDU – hineinwirkte) dominierte, und die selbst von den numerisch starken kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs nicht verhindert werden konnte. Ende September 1947 trafen sich die Führer der kommunistischen Parteien Osteuropas sowie der KPF und KPI in Schreiberhau (Sklarska Porȩba) im Riesengebirge. Malenkow und Shdanow vertraten die KPdSU, letzterer hielt das Grundsatzreferat7. Er zog darin für die internationale kommunistische Bewegung die Folgerungen aus Stalins Wahlrede vom 9. Februar 1946. Da die Welt in zwei Lager gespalten sei und die USA darangingen, die kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion organisatorisch zusammenzufassen, sei es die Pflicht aller Kommunisten, sich entschieden dagegenzustellen, auch im Interesse ihrer Selbstbehauptung. Zur Koordination ihrer Politik beschlossen die Konferenzteilnehmer, ein Kommunistisches Informationsbüro (Kominformbüro) zu schaffen, dessen Sitz auf Wunsch Stalins nach Belgrad gelegt wurde (nach dem Ausschluß Jugoslawiens war es in Bukarest domiziliert). Dies schien eine anerkennende Geste gegenüber der jugoslawischen Partei, die sich aufgrund ihrer Erfolge eine Sonderstellung (neben der KPdSU) zumaß, es war aber zugleich auch eine Verpflichtung – und eine Kontrolle der jugoslawischen Führung, deren Eigenständigkeit Stalin mit zunehmendem Mißtrauen beobachtete. Das Büro selbst, in dem seit dem Beitritt Albaniens am 27. Oktober 1947 zehn europäische Parteien vertreten waren, hat in der Folgezeit lediglich als Akklamationsorgan für sowjetische Entschlüsse fungiert; als Nachfolgeinstitution der 1943 aufgelösten Kommunistischen Internationale war es nicht gedacht, es sollte lediglich den Moskauer Anordnungen durch seine Billigung größeres Gewicht verleihen. Schon die Besetzung des Büros mit zweitrangigen Funktionären zeigte seine politische Schwäche. Stalin hütete sich wohl, erneut ein Gremium entstehen zu lassen, das – wie die Komintern – durch das Ansehen und die politische Potenz seiner Mitarbeiter zu einem Rivalen der Moskauer kommunistischen Zentrale hätte werden können. Die Führung der Weltrevolution mußte in Moskau und damit in seinen Händen bleiben. (Er hat denn auch argwöhnisch darauf gesehen, daß alle Verträge zwischen
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kommunistischen Staaten nur bilateral geschlossen wurden, denn nur so meinte er der Entstehung von Sondergruppierungen vorbeugen und die Hegemonie Moskaus wahren zu können.) Größere Bedeutung als durch die Gründung des Kominformbüros, das Chruschtschow 1956 ruhmlos entschlafen ließ, nachdem es in einer jahrelangen Agonie dahingedämmert war, erlangte die Schreiberhauer Konferenz durch die hier beschlossene Rückkehr zum Klassenkampf, der im Zeichen des Kampfes gegen Hitler sistiert worden war, nun aber durch die »Zwei-Welten«-Theorie wiederum zur politischen Maxime kommunistischer Aktionen erhoben wurde. Die Folgen dieses Beschlusses waren nicht nur in Frankreich und Italien zu spüren, wo KPF und KPI, (auf der Konferenz heftig angegriffen – der jugoslawische Vertreter Djilas und der Erste Sekretär der PPR [Polska Partia Robotnicza, Polnische Arbeiterpartei] Władysław Gomułka ziehen sie des Opportunismus, weil sie es nach Kriegsende versäumt hätten, die Macht an sich zu reißen), durch Streiks den Marshall- Plan und damit den wirtschaftlichen Wiederaufbau ihrer Länder zu sabotieren suchten, um eine revolutionäre Krise als Ansatzpunkt für eine kommunistische Machtergreifung herbeizuführen. Auch die kommunistischen Parteien Osteuropas ließen die bis dahin aus Rücksicht auf die Reaktion des Westens, von der sie eine Gefährdung der Wirtschaftsbeziehungen und der Hilfsmaßnahmen fürchteten, gewährte Schonung der anderen politischen Kräfte ihrer Länder fallen und beendeten die Phase der – wie immer auch im einzelnen gestalteten – Zusammenarbeit mit nichtkommunistischen Parteien. Die Konferenz markiert so den Übergang von der Phase der »antifaschistisch-demokratischen Blockpolitik« zur »Volksdemokratie«, die als ein »zweiter Weg zum Sozialismus« (neben der »Diktatur des Proletariats«, wie sie die KPdSU in der Sowjetunion praktiziert hatte) firmierte. In der Folgezeit dienten nichtkommunistische Parteien, sofern ihr Weiterbestehen – wie etwa in der DDR – opportun schien, lediglich als Camouflage des kommunistischen Machtmonopols; es war Sorge getragen, daß ihre Führung in den Händen ergebener Vasallen des kommunistischen Regimes blieb. Als eigenständige politische Kräfte waren sie schon in der voraufgegangenen Zeit systematisch in ihren Wirkungsmöglichkeiten eingeschränkt, von der Gestaltung ihres Landes mehr und mehr ausgeschlossen worden; ihre politischen Führer wurden nun bis zum Ende des Jahres 1947 ausgeschaltet: Sofern sie nicht rechtzeitig die Flucht ins Ausland ergriffen wie die polnischen und ungarischen Oppositionsführer Stanisław Mikołajczyk und Zsoltan Pfeiffer – der Führer der ungarischen Kleinlandwirtepartei, Ferenc Nagy, zog es klugerweise vor, aus seinem Sommerurlaub in der Schweiz gar nicht erst zurückzukehren –, wurden sie unter Anklage des Hochverrats gestellt und hingerichtet: so der Sozialdemokrat Nikola Petkow in Bulgarien und der Führer der rumänischen Bauernpartei Maniu. Am 30. Dezember 1947 schließlich dankte der inzwischen genügend isolierte König Michael von Rumänien nach einer Unterredung mit dem sowjetischen Sondergesandten Wyszyński ab, und so
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stand auch der rumänischen KP nichts mehr auf ihrem Weg zur Macht entgegen. Als letzte triumphierte die KP der Tschechoslowakei. Die Beziehungen des Landes zum Westen und seine exponierte Grenznähe hatten Klemens Gottwald und die tschechoslowakischen Kommunisten zu besonderer Zurückhaltung veranlaßt, obwohl die Partei eine große Mitgliederzahl aufwies. Nach sorgsamer Vorbereitung kam es im Februar 1948 unter der Regie des sowjetischen stellvertretenden Außenministers Valentin Sorin, der in der Prager Botschaft der UdSSR die Fäden in der Hand hielt, zum Staatsstreich, bei dem der Sohn des Gründers der, Jan Masaryk, zu Tode kam. Staatspräsident Beneš blieb nur, vor dem kommunistischen Druck resignierend, das Ende der parlamentarischen Demokratie in der ČSR anzuerkennen. Nach außen hin wurde die Zusammengehörigkeit der kommunistischen Staaten durch ein Netz bilateraler Verträge dokumentiert, die die bereits früher geschlossenen Freundschafts- und Beistandsverträge zwischen den Staaten der Anti- Hitler-Koalition durch Einbeziehung der ehemaligen Feindstaaten ergänzten. Mit dem Abschluß des tschechoslowakisch-ungarischen Vertrages im April 1949 war ein Bündnissystem errichtet worden, das unter formaler Wahrung der Souveränität der einzelnen Staaten das gesamte östliche Europa umschloß. Dennoch bestand kein Zweifel, daß die eigentliche Machtzentrale Moskau hieß. Gerade der Verzicht auf supranationale Institutionen, wie er durch die bilateralen Verträge ermöglicht wurde, sicherte die unangefochtene Suprematie der Sowjetunion; gemeinsame übergeordnete Gremien hätten die Gefahr heraufbeschworen, daß die kleineren kommunistischen Staaten ihre Interessen gegen die Wünsche der UdSSR stärker vertreten konnten. b) Die Verstoßung Jugoslawiens Voraussetzung für eine derartige institutionelle Zusammenfassung war aus Moskauer Sicht die völlige Gleichschaltung der kommunistischen Parteien, ihre absolute Ausrichtung auf die Moskauer Politik. Schon lange hatte die sowjetische Führung die Pläne zur Errichtung einer Balkanföderation mit Mißtrauen verfolgt, wie sie besonders von Tito und dem bulgarischen Parteichef Dimitrow verfolgt wurden. Sie griffen damit Überlegungen auf, die bereits in den Vorkriegsjahren im Gespräch gewesen waren, um die politischen und ökonomischen Schwierigkeiten, die die Zerschlagung der multinationalen Staaten Türkei und Österreich-Ungarn gezeitigt hatte, in Südosteuropa leichter zu überwinden. Erste Gespräche über eine jugoslawisch-bulgarische Konföderation, über die Stalin unterrichtet war, mußten zwar Ende Januar 1945 auf energischen Protest der britischen Regierung hin abgebrochen werden, doch im Sommer 1947 nahmen Tito und Dimitrow auf ihrem Treffen in Bled diesen Gedanken wieder auf. Dabei wurde erneut sichtbar, daß zwischen beiden Regierungen tiefgreifende Auffassungsunterschiede über die Verteilung der Macht bestanden: während Dimitrow eine Föderation zweier Staaten beabsichtigte, wollte Tito den Bulgaren nur den gleichen Rang zuweisen wie den
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einzelnen der in der jugoslawischen Föderation vereinten Völkern, was bei Titos hochgesteckten Ambitionen eine Majorisierung der Bulgaren zur Folge gehabt hätte. So wurde erwogen, die Föderation durch Einbeziehung Rumäniens, Albaniens und Ungarns zu erweitern, um dem jugoslawischen Übergewicht entgegenzuwirken. Dies hätte nun freilich eine Machtkonzentration an der europäischen Südflanke der Sowjetunion bedeutet, die Stalin nicht hinzunehmen gesonnen war. Noch bis Ende des Jahres 1947 hoffte er aber, daß Tito wie auch in anderen Konflikten mit Moskau letztlich einlenken und seine eigenen Ambitionen zurückstellen werde. Schwierigkeiten mit dem selbstbewußten Jugoslawen, der sich rühmen konnte, die kommunistische Partei ohne direkte Unterstützung Moskaus in seinem Lande zur Macht geführt zu haben, hatte es schon mancherlei gegeben, doch war es selbst im Streit um die gemischten jugoslawisch-sowjetischen Gesellschaften, der die Beziehungen erheblich belastet hatte, zu einer Stalin genehmen Einigung gekommen. Die Föderationspläne aber wogen politisch schwerer. Als eine erste Warnung war die Aufnahme der KP Albaniens in das Kominformbüro (27. Oktober 1947) gemeint, die eine beträchtliche Aufwertung des kleinen Landes bedeutete. Denn bislang war Albanien mit Billigung Moskaus faktisch ein Satellit Jugoslawiens gewesen, seine Parteiführer getreue Anhänger Titos, die so sehr als Vasallen Belgrads eingeschätzt wurden, daß die albanische KP nicht einmal zur Konferenz von Schreiberhau eingeladen worden war. Doch Tito war nicht gesonnen, sich Stalin gefügig unterzuordnen. Der triumphale Empfang, der ihm bei seinem Besuch in Budapest und Bukarest aus Anlaß der Unterzeichnung der Freundschaftsverträge mit Ungarn und Rumänien bereitet wurde, schien nur eine Bestätigung seiner hochfliegenden Pläne. Moskau wurde dadurch aber nur noch mehr alarmiert. Als Dimitrow dann am 17. Januar 1948 bei der Unterzeichnung des rumänisch-bulgarischen Paktes ankündigte, dies sei nur eine Vorstufe für einen weiterreichenden Zusammenschluß, und vier Tage später auf einer Pressekonferenz erklärte, die vorgesehene Konföderation werde auch Polen und die ČSR einbeziehen, intervenierte Stalin: die parteiamtliche »Prawda« veröffentlichte einen Artikel, in dem die sowjetische Haltung unmißverständlich dargelegt wurde. Die Volksdemokratien sollten als souveräne Staaten entsprechend dem Beschluß der Konferenz von Schreiberhau den Aufbau ihrer Länder vorantreiben, statt eine »problematische und künstliche Föderation oder Konföderation oder Zollunion« zu diskutieren. In den sich daran anschließenden Besprechungen mit den nach Moskau zitierten bulgarischen und jugoslawischen Parteiführern – Tito sandte Kardelj und Bakarić als Vertreter, während Dimitrow sich persönlich in die Höhle des Löwen wagte – wurde Stalin noch deutlicher. »Beziehungen zwischen ›Volksdemokratien‹, die über die Interessen der Sowjetunion hinausgingen und nicht deren Billigung hatten«, resümiert Djilas als Teilnehmer der Besprechungen, »waren unstatthaft8«. Besonderen Anstoß nahm Stalin auch an der Vorbereitung einer Stationierung jugoslawischer Streitkräfte in Albanien, die
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ohne Rücksprache mit Moskau zwischen Belgrad und Tirana im Hinblick auf den kommunistischen Aufstand in Griechenland vereinbart worden war. Um die eigenwilligen Jugoslawen zur Unterwerfung zu zwingen, rief Stalin am 18. und 19. März die sowjetischen Militär- und Wirtschaftsberater in die Sowjetunion zurück. Dieser Schritt traf das Land hart. Die eben begonnene Industrialisierung war ohne Hilfe der Sowjetunion kaum fortzuführen, ein Abbruch mußte Jugoslawien in eine tiefe wirtschaftliche Krise mit all ihren negativen Auswirkungen im sozialen und politischen Bereich stürzen. Die jugoslawische Parteiführung suchte denn auch in einem ausgedehnten Briefwechsel Stalin zur Beilegung des Konfliktes zu bewegen, ohne jedoch ihr grundsätzliches Beharren auf der uneingeschränkten Souveränität des Landes aufzugeben. Aber weder der Eifer, den sie innenpolitisch in der Befolgung stalinistischer Praktiken an den Tag legte, noch die verbalen Versicherungen unwandelbarer Ergebenheit gegenüber der kommunistischen Sache fruchteten etwas, die Moskauer Antworten wurden zunehmend schärfer. Tito und seine Mitarbeiter gaben allerdings Stalin auch Anlaß dazu. Im April wurden »Säuberungen« im Lande durchgeführt, mit denen man Parteigänger der Sowjetunion ausschaltete; offensichtlich befürchtete die Führung der KP Jugoslawiens einen sowjetisch unterstützten Staatsstreich. Schließlich ließ Stalin am 20. Juni 1948 zu einer Konferenz der KominformParteien nach Bukarest einladen, auf der sich die jugoslawischen Führer verantworten sollten. Da diese aber von ihrem Standpunkt nicht abzugehen bereit waren und sehr wohl wußten, daß ihre Verurteilung durch die Konferenz beschlossene Sache war – das Kominform-Organ veröffentlichte am 15. Juni einen scharfen Artikel gegen Kommunisten, die »ihre Irrtümer nicht zugeben«, über dessen Adressaten kein Zweifel bestehen konnte –, zogen sie es vor, der Konferenz fernzubleiben. In einer an das Büro gerichteten Erklärung versicherten sie jedoch, daß sie zu direkten Verhandlungen mit der Sowjetunion – allerdings in Jugoslawien – bereit seien. Die Konferenz verabschiedete dann am 28. Juni eine Resolution »Über die Lage in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens«, in der eine lange Liste von Verfehlungen aufgeführt war. Entfernung vom Marxismus-Leninismus, kleinbürgerlicher Nationalismus, falsche Landwirtschaftspolitik, Duldung kapitalistischer Relikte, mangelnde Selbstkritik, eine »unerfreuliche Haltung« gegenüber der Sowjetunion u.a.m. wurden den Jugoslawen angelastet. Damit habe sich die jugoslawische KP aus der Reihe der kommunistischen Parteien selbst entfernt. Das bedeutete praktisch den Ausschluß aus dem »sozialistischen Lager« – mit allen Konsequenzen. Dessenungeachtet suchte Tito auch weiterhin nach Wegen zu einer Verständigung, obwohl die Kominform-Resolution »die gesunden Kräfte« der jugoslawischen Partei aufgefordert hatte, »ihre gegenwärtigen Führer zu zwingen, offen und ehrlich ihre Fehler zu bekennen ... oder ... sie abzusetzen«. Am 2. Juli 1948 richtete er ein Telegramm an Stalin mit der Bitte, die falschen Beschuldigungen gegen Partei und Staat Jugoslawiens korrigieren zu lassen, und versicherte ihn erneut seiner Ergebenheit gegenüber der kommunistischen
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Bewegung. Auf dem V. Parteikongreß der jugoslawischen KP Ende Juli gaben er und seine Mitstreiter sich redlich Mühe, ihre Politik als strikt kommunistisch zu rechtfertigen und an Stalins Einsicht zu appellieren. Auch in der Folgezeit demonstrierte Tito, daß Jugoslawien streng den Grundsätzen des MarxismusLeninismus folge. Stalin aber zeigte sich entschlossen, an Jugoslawien ein Exempel zu statuieren. Er hatte in Deutschland durch die Vorgänge um Berlin die Lage gefährlich verschärft, und in einer solchen Situation war er noch weniger gesonnen, Verstöße gegen den »demokratischen Zentralismus« hinzunehmen. Den Gefährdungen, denen er seinen Herrschaftsbereich ausgesetzt sah, ließ sich nur durch eine straffe, alle Kräfte vereinigende Führung begegnen, wie sie im Zweiten Weltkrieg ihre Bewährungsprobe bestanden hatte; für nationale Eigeninteressen war kein Platz. Er hat aber wohl ernstlich nicht damit gerechnet, daß Jugoslawien sich unbeugsam zeigen und ihm dieses strategisch wie politisch wichtige Land verlorengehen werde. Als sichtbar wurde, daß an einen Sturz Titos nicht zu denken war und die KP Jugoslawiens hinter Tito stand, begnügten sich die Kominform-Staaten anfangs mit einer Verschärfung ihrer diffamierenden Propaganda gegen die Führung des Landes, da sich eine militärische Intervention angesichts der Lage in Mitteleuropa verbot und sich auch nicht mit Sicherheit ausschließen ließ, daß die Westmächte einem Hilferuf Titos nachkommen würden. Nachdem sich gegen Ende des Jahres 1948 zeigte, daß Tito auf seiner Unabhängigkeit beharrte, begann ein Wirtschaftskrieg gegen das Land, das noch schwer unter den Kriegsfolgen litt. Er schien um so aussichtsreicher, als die jugoslawische Wirtschaft in ihrem Außenhandel ganz auf die Kominform-Länder, vor allem aber die Sowjetunion, ausgerichtet war. Eine Preiserhöhung für bereits vereinbarte Lieferungen – bis zu 40% – und Nichteinhalten geschlossener Lieferverträge waren die ersten Maßnahmen. Im Sommer 1949 kam es dann zu dem von Moskau befohlenen Abbruch fast des gesamten Handels der Kominform-Länder mit Jugoslawien (es bezog 1946 zwei Drittel seiner Importe von ihnen), und die Auflösung der gemischten jugoslawisch-sowjetischen Luftfahrts- (JUSTA) und Binnenschiffahrtsgesellschaft (JUSPAD) beendete dann auch die letzten Wirtschaftsbeziehungen9. Damit war der 1947 begonnene erste Fünfjahrplan Jugoslawiens praktisch undurchführbar geworden; er mußte in seinen ehrgeizigen Zielsetzungen, die das Land zur ersten Industriemacht Südosteuropas machen sollten, im Jahre 1950 stark revidiert werden. Der Wirtschaftskrieg konnte Tito zwar nicht zur Kapitulation vor Stalin zwingen, doch erreichte die Moskauer Führung dadurch immerhin, daß Tito in eine ideologisch schwierige Lage geriet. Denn das Land war gezwungen, seinen Außenhandel neu zu orientieren. Neben Großbritannien und den zentraleuropäischen Staaten (Schweiz, Österreich, Italien und Deutschland), zu denen Jugoslawien traditionell gute Wirtschaftsbeziehungen unterhielt, wurden nun die USA zum wichtigsten Handelspartner, just die Vormacht des westlichen
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Lagers, der erklärte Feind Nr. 1 der Kommunisten – Stoff genug für die antijugoslawische Kominform-Propaganda, die Tito nun des offenkundigen Verrats und der Komplizenschaft mit den »Imperialisten« zeihen konnte. Diese Wendung ist der jugoslawischen Führung nicht leicht geworden, doch nur die kapitalstarken USA waren in der Lage, den jugoslawischen Aufbau durch die dringend benötigten Kredite zu unterstützen; ohne ihre Hilfe wäre auch die durch die katastrophale Mißernte des Jahres 1950 drohende Krise nicht zu bewältigen gewesen. Tito lehnte es jedoch konsequent ab, die wirtschaftliche Unterstützung durch politische Verpflichtungen zu honorieren; es begann jene Periode der Belgrader »Politik der Blockfreiheit«, die ihn in den fünfziger Jahren mit Nehru und Nasser zusammenführte und zum Sprecher der »Dritten Welt« machte – was letztlich die sowjetische Führung zur Revision des KominformVerdikts vom 28. Juni 1948 nötigte. Politische Folgen zeigte die Abwendung von Moskau dennoch: Jugoslawien stellte die Unterstützung der griechischen Kommunisten ein, auch die Streitfragen mit Österreich konnten bereinigt werden, eine Annäherung zwischen Jugoslawien und Griechenland bahnte sich an, in die auch die Türkei einbezogen wurde und die dann zum Abschluß des sogenannten »Balkanpaktes« zwischen diesen drei Staaten am 28. Februar 1953 führte. Zur Förderung dieser Verteidigungsallianz hat die Moskauer Politik weidlich beigetragen: neben einem eskalierenden diplomatischen Kleinkrieg, der mit der Kündigung der geschlossenen Beistandspakte begann – pikanterweise machte gerade Albanien, bislang ganz nach Belgrad orientiert, am 1. Juli 1948 damit den Anfang – und der schließlich in die Abberufung der Botschafter und Gesandten und die defacto-Einstellung der diplomatischen Beziehungen seitens der meisten Kominform-Länder mündete, wurden auch militärische Aktionen Teil des gegen Jugoslawien geführten Nervenkriegs. Die im Zeichen des Kalten Krieges eingeleitete Aufrüstung der Volksdemokratien erhielt für Belgrad vor dem Hintergrund der massiven anti-jugoslawischen Propaganda einen bedrohlichen Charakter. Truppenkonzentrationen und Zwischenfälle an der Grenze sorgten für eine ständige Beunruhigung und verstärkten die nervöse Anspannung der jugoslawischen Führung noch mehr. Als Ende 1949 die Massierung von Streitkräften in Grenznähe Molotows Drohungen noch ein besonderes Gewicht verlieh, erklärte der US-Botschafter in Belgrad, im Falle eines Angriffes würden die Vereinigten Staaten intervenieren. Diese unmißverständliche Parteinahme entschärfte die Lage, doch ließ es sich Stalin auch nach dem Einsetzen westlicher Rüstungshilfe für Jugoslawien im April 1951 und dem amerikanisch-jugoslawischen Abkommen über Waffenlieferungen vom 14. November 1951 angelegen sein, Belgrad unter Druck zu halten. Das verlorene Terrain war damit freilich nicht wiederzugewinnen, auch blieb Albanien von seinen Landverbindungen zu den Kominform-Ländern abgeschnitten, was schließlich – wenn auch unter völlig veränderten Umständen – seinen Abfall von Moskau ein Dezennium später begünstigte. In Jugoslawien selbst aber führte die Bedrohung aus dem Osten zu einer verstärkten Identifikation der Bevölkerung
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mit der Partei- und Staatsführung, die manche Probleme des südslawischen Vielvölkerstaates überdecken half. Zudem förderte die 1950 einsetzende behutsame Reformpolitik mit der Einführung der Arbeiterselbstverwaltung und den Verfassungsreformen der Jahre 1952/53, die eine größere Mitverantwortung der Bevölkerung mittels Delegierung von Entscheidungskompetenzen der Zentrale an regionale, lokale und betriebliche Institutionen zum Ziele hatten, diese Solidarisierung ebenso wie die Reform der Landwirtschaftspolitik (1951/1953). Auch das internationale Ansehen, das Jugoslawien in der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gewann, kam der Parteiführung im Inneren zugute; besonders in der internationalen sozialistischen Bewegung fand das jugoslawische Modell einer sozialistischen Gesellschaft als Gegenstück zum stalinistischen System viel Beachtung und Bewunderung. Die Faszination, die davon ausging, machte auch vor den Grenzen der Kominform-Länder nicht halt. Angesichts der Persönlichkeitsstruktur Stalins und der von ihm in ähnlichen Fällen geübten Praxis war zu erwarten, daß das jugoslawische Debakel der sowjetischen Politik nicht ohne personelle Konsequenzen in der Moskauer Führung blieb. Wenn davon anfänglich wenig zu erkennen war, so deshalb, weil der – nächst Stalin – Hauptverantwortliche Shdanow am 31. August 1948 von einem jähen Tod ereilt wurde. Der Herzschlag, der den erst 52jährigen traf, soll die Folge heftiger Angriffe gegen die von ihm vertretene aggressive ideologische und außenpolitische Linie im Politbüro gewesen sein, die zur Berlin- Krise und zum Kominform-Konflikt geführt hatte. Ausgelöst soll er sie haben, als er den Einsatz militärischer Mittel zumindest zur Lösung des jugoslawischen Problems vorschlug, was, so sickerte durch, von Stalin und der Mehrheit des Politbüros abgelehnt wurde. Vor allem Molotow, Berija und Chruschtschow bezogen gegen den linken Radikalismus Shdanows, der nur von Wosnessenski unterstützt wurde, aus außen- wie innenpolitischen Gründen entschieden Stellung. Es mag sein, daß diese Auseinandersetzungen Stalin die Augen über die möglichen Folgen einer derart risikofreudigen und konfliktverschärfenden Politik öffneten, denn im März 1949 ließ er durch den Staatssicherheitsdienst die von Shdanow geleitete Parteiorganisation des Leningrader Gebietes von dessen Anhängern »säubern« – sie wurden mit subtiler Ironie der Komplizenschaft mit Jugoslawien beschuldigt. Anlaß zu einer gewissen Mäßigung, die zu Beginn des Jahres 1949 sichtbar wurde, gab insbesondere die durch die sowjetische Konfrontationspolitik seit dem Sommer 1948 wachsende Bereitschaft der westeuropäischen Staaten, auf die amerikanischen Vorschläge zur Bildung einer gemeinsamen Verteidigungsorganisation einzugehen; die am 4. April 1949 gegründete North Atlantic Treaty Organization (NATO) und das Mutual Defence Assistance Program vom 6. Oktober des gleichen Jahres stellten dann auch die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten vor eine veränderte weltpolitische Lage. Moskau hat zwar versucht, die Gespräche der Westmächte schon im Ansatz durch die im August 1948 ins Leben gerufene sogenannte »Weltfriedensbewegung« zu stören und die amerikanischen Pläne zu
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konterkarieren, doch angesichts der Diskrepanz zwischen der Politik ihrer geistigen Väter und ihren moralischen Appellen mußte diese Bewegung zum Scheitern verurteilt sein. Ein weiterer Grund für eine revidierte sowjetische Europapolitik war, daß die als Antwort auf die Berlin- Blockade (seit 4. August 1948) von den Westmächten verhängten Ausfuhrbeschränkungen im Ost-WestHandel sich auf die Wirtschaft der kommunistischen Staaten, vor allem die der Volksdemokratien, auswirkten: die forcierte Industrialisierung nahm alle wirtschaftlichen Ressourcen (die durch die laufenden Zwangskollektivierungen ohnehin schon gemindert waren) in Anspruch und hatte keine Reserven gelassen, um die restriktionsbedingten Ausfälle anderweitig wettzumachen. III. Die Sowjetisierung der volksdemokratischen Gesellschaften a) Die Partei-Säuberungen Der Abfall Jugoslawiens gab Stalin Anlaß, den bislang eher mit Bedacht vorangetriebenen Prozeß der Integration der osteuropäischen Staaten in den sowjetischen Machtbereich zu beschleunigen. Schon 1946 war die rücksichtslose Ausbeutung der unter sowjetischer Kontrolle stehenden Länder, vor allem ehemaliger Feindstaaten, durch eine Politik abgelöst worden, die auf eine dauernde Nutzung der hier vorhandenen Ressourcen durch die Sowjetunion abzielte. Ihr diente die Liquidierung der »bürgerlichen« Opposition ebenso wie die zunehmende Bindung der nationalen Volkswirtschaften an die Sowjetwirtschaft. Mit Rücksicht sowohl auf die begrenzten Kapazitäten der Sowjetunion wie auch auf die verschiedenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen dieses sehr heterogenen Gebietes war jedoch den Sachwaltern des Kommunismus anfänglich ein gewisser Spielraum gelassen worden, der ihnen gestattete, den »nationalen Besonderheiten« ihres Landes auf dem »Weg zum Sozialismus« Rechnung zu tragen. Diese Politik, die ein Maximum an Solidarisierungsmöglichkeiten der Masse der Bevölkerung mit der kommunistischen Partei ihres Landes intendierte, barg jedoch, wie die Entwicklung in Jugoslawien zeigte, Gefahren für die von Stalin geforderte Geschlossenheit des sowjetischen Machtbereichs in sich. Sie wurden durch den im Laufe des Jahres 1948 vollzogenen Zusammenschluß der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien – Rumänien machte damit am 23. Februar den Anfang, die ČSR folgte am 27. Juni, Ungarn am 4. Juli, Bulgarien am 11. August und Polen am 15. Dezember (nur die damalige SBZ war mit der Gründung der SED im April 1946 vorangegangen) –, der die gesamte Arbeiterschaft der kommunistischen Kontrolle unterstellte, noch vergrößert; denn die ehemaligen Sozialdemokraten neigten eher den »nationalen« Kommunisten zu, die vorrangig die Interessen ihres Landes zu wahren suchten, als den Gefolgsleuten Stalins. So wurde der Kominform-Konflikt als Anlaß für eine große Säuberung der kommunistischen Parteien von »Links–« wie »Rechtsabweichlern« genommen, die auch vor der KPdSU nicht haltmachte.
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Die Kampagne gegen die »Linksabweichung« traf die Anhänger Shdanows, dessen radikalrevolutionäre Linie nicht nur in der Sowjetunion Anhänger gefunden hatte. Weitaus größer jedoch war die Zahl der Opfer, die vor allem in den Kominform-Ländern der Rechtsabweichung beschuldigt wurden, wobei die Anklagen, die gegen sie vorgebracht wurden, von »Kosmopolitismus« und »Zionismus« bis hin zu »Nationalismus« reichten. Die Säuberungswelle, die den gesamten sowjetischen Machtbereich erfaßte, unterschied sich in nichts von den großen Säuberungen der Jahre 1934–1938 in der Sowjetunion; es genügte schon der Verdacht, Stalin nicht absolut ergeben zu sein, um in den Strudel gerissen zu werden. Auch alle Verdienste um die kommunistische Sache boten keine Gewähr, verschont zu bleiben. Wie immer bei derartigen Exzessen, die Recht wie Gerechtigkeit außer Kraft setzen, blühte das Denunziantentum, kam rücksichtsloses Karrierestreben ins Spiel. Und auch der Effektivitätsnachweis, den die Geheimpolizei hier erbringen konnte, der ihre »Wachsamkeit« bewies, hatte seinen Anteil an der großen Zahl der Beschuldigten – was wiederum den Initiatoren Rechtfertigung ihrer Maßnahmen war, erwies sie doch die Größe der »Gefahr«. Die Opfer, in geheimen oder öffentlichen Verfahren oder auf dem Wege der administrativen Justiz verurteilt, wurden hingerichtet oder in die Zwangsarbeitslager verschickt. Die simplifizierenden öffentlichen Anklagen, die komplexe Sachverhalte auf zwei Standardbeschuldigungen reduzierten – »Nationalismus« und »Kosmopolitismus«, welch letzterer 1951 dann mit dem »Zionismus« noch eine eigene Spielart erhielt –, besaßen rein propagandistische Funktion. Indem sie in allen Kominform-Ländern in den Prozessen auftauchten, sollten sie die Mär von einer umfassenden, gegen die Interessen »des Volkes« und des Sozialismus sowjetischer Prägung gerichteten Verschwörung stützen. Die wirklichen »Abweichungen«, bei einzelnen Gruppen durchaus vorhanden, waren jedoch sehr unterschiedlicher Natur. Allenfalls läßt sich generalisierend sagen, daß die »Nationalisten« der Auffassung waren, die forcierte Übernahme des sowjetischen Modells geschehe überstürzt und bringe ihrem Lande und seiner Partei zu viele Nachteile, während die »Kosmopoliten« aus der geistigen Abkapselung der Kominform- Länder von der Entwicklung der übrigen Welt schwere Schäden entstehen sahen. Dasjenige Land, in dem Jugoslawien viele wirkliche Freunde besaß, war Albanien. Hier hatte der junge Koci Xoxe schon während des Partisanenkrieges enge Kontakte zu den Jugoslawen unterhalten, danach als Vize-Premier und Innenminister die engen Bindungen an Belgrad gefördert. Hunderte albanischer Kommunisten hatten in Jugoslawien ihre Ausbildung erhalten, viele jugoslawische Experten in Albanien gearbeitet, mehr als die Hälfte der Wirtschaftshilfe für Albanien zahlte Belgrad. Dennoch gelang es dem skrupellosen Parteichef Enver Hoxha, mit sowjetischer Unterstützung das Land im Kominform-Konflikt an die Seite Moskaus zu ziehen. Im September 1948 bereits wurde Xoxe unter der Beschuldigung des »Titoismus« von seinen Ämtern
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abgelöst und aus der Partei ausgeschlossen. Im Mai des folgenden Jahres fand ein großer Schauprozeß gegen ihn statt, bald darauf wurde er durch den Strang hingerichtet. Damit war Hoxhas Alleinherrschaft gesichert, die sehr bald der seines Protektors Stalin glich. In Bulgarien wurde mit Traitscho Kostow just jener Mann Symbolfigur der »Abweichung«, der sich am entschiedensten gegen die von Dimitrow gesteuerte Politik einer engen Zusammenarbeit mit Jugoslawien gestellt hatte. Ihm wurde zum Verhängnis, daß er als Gegenmaßnahme eine betont bulgarische Wirtschaftspolitik betrieben hatte – und daß ihn das hohe Ansehen, welches er in Partei und Bevölkerung während des Widerstandskampfes und als Regierungsmitglied erworben hatte, als einen ernsthaften Rivalen für Wulko Tscherwenkow erscheinen ließ, der die Nachfolge seines betagten Schwiegervaters Dimitrow als Parteiführer anvisierte. Dimitrow war es, der Kostow des Nationalismus beschuldigte; im März 1949 verlor er seine Ämter in Partei und Staat, im Dezember wurde er in einem Schauprozeß der nationalistischen Volksverhetzung, der Sabotage, Spionage, des Titoismus und des Trotzkismus beschuldigt. Sein Widerruf des erpreßten Geständnisses bewahrte ihn zwar nicht vor der Hinrichtung, erregte aber ebenso wie die groteske Häufung der Anklagepunkte weltweite Empörung. Der Fall Kostow zeigt exemplarisch, wie stark bei diesen Säuberungen persönliche und Gruppenrivalitäten im Kampf um die Macht mitbestimmend waren. Letztendlich gab den Ausschlag in diesem Kampf, wen Stalin als den Fügsameren ansah. In Bulgarien war es Tscherwenkow, der als Emigrant in Moskau seine Ergebenheit bewiesen hatte und sich der Gunst Stalins erfreute. In Ungarn traf das Schicksal László Rajk, der seit dem Spanienkrieg enge Verbindungen zu den jugoslawischen Kommunisten besaß. Er war ein geständiges Opfer, dessen Aussagen der Propaganda-Kampagne gegen Tito willkommenes Material lieferten. In Polen hatte es der erste Sekretär der Partei, Władysław Gomułka, gewagt, gegen die befohlene Zwangskollektivierung Bedenken anzumelden. Als er gar noch auf der ZK-Sitzung der PPR am 3. Juni 1948 ein Referat »Über die historischen Traditionen der polnischen Arbeiterbewegung« hielt, war dies der Aufmüpfigkeit zu viel: er wurde als Parteisekretär abgelöst. Zu weiteren Maßnahmen gegen ihn und seine Gruppe kam es aber erst, als die Verschmelzung von PPR und PPS zur PZPR (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) im Dezember 1948 vollzogen war, denn die »Leute von der Oka«, wie die in Moskau geschulten und erprobten Emigranten um Staatspräsident Bolesław Bierut genannt wurden, wollten die Vereinigung nicht durch ein scharfes Vorgehen gegen den angesehenen Gomułka gefährden. Danach jedoch verlor Gomułka seine Regierungsämter, im November 1949 wurde er zusammen mit den Nationalkommunisten Marian Spychalski, früher Verteidigungsminister, und Zenon Kliszko aus dem ZK der PZPR und aus allen Parteiämtern »für immer« ausgeschlossen. Verhaftet wurde diese Gruppe erst im Dezember 1951, doch
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kam es zu keinem der in solchen Fällen im Ostblock üblichen Schauprozesse, was »in gleicher Weise für die Schwäche der erhobenen Anklagen wie für das empfindliche Rechtsgefühl der Nation« sprach10. In der SBZ zwang die besondere deutsche Situation die SED zu einer gewissen Zurückhaltung. Die Entschließung des Parteivorstandes vom 16. September 1948 gegen die »nationale Abweichung« nutzte Ulbricht jedoch, um Anton Ackermann, einen möglichen Rivalen um die Macht, auszuschalten. Er hatte 1946 im Auftrag des damaligen ZK der KPD die These von einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus formuliert – jetzt wurde er gezwungen, »Selbstkritik« zu üben: »Von Anfang an war es grundfalsch, von einem besonderen deutschen Weg zu sprechen ...«11. Damit war Ackermann desavouiert, wenn er auch seine Funktionen behielt. Der innere Führungskern der SED wurde erst 1950 betroffen. Paul Merker, Leo Bauer, Wolfgang Langhoff u.a. wurden im August 1950 mangelnder Wachsamkeit und der Verbindung zu einem amerikanischen Agenten beschuldigt. Das Verfahren stützte sich auf die Aussagen des dubiosen Noel H. Field im Budapester Prozeß gegen László Rajk vom September 1949, in dem Field eine große »titoistisch-amerikanische Verschwörung« gegen die volksdemokratischen Regime und die Sowjetunion bezeugt hatte. Da Field, während des Krieges Leiter einer amerikanischen Hilfsorganisation in der Schweiz, vielfältige Kontakte zu den kommunistischen Westemigranten besaß, verwendete man nun seine »Enthüllungen« auch gegen diejenigen seiner früheren Bekannten, die in der SED und KPČ inzwischen zu Einfluß gelangt waren. Merker allerdings wurde erst 1952 wegen »Verteidigung der Interessen zionistischer Monopolkapitalisten« verurteilt. Im Mai 1953 verlor dann Franz Dahlem unter ähnlich fadenscheinigen Anschuldigungen seine Parteiämter. Die kommunistische Partei Rumäniens blieb – sieht man von der bereits im Februar 1948 erfolgten Verhaftung des Innenministers Lukreţiu Pătrăşcanu wegen »nationaler Abweichung« ab – von derartigen Erschütterungen zunächst verschont. Zu schwierig war ihre Lage angesichts der verbreiteten Russen- und Sowjetfeindschaft (die Bevölkerung machte hierin keinen Unterschied), zu stark aber war daher auch die Partei auf sowjetische Unterstützung angewiesen, als daß sich eine nationalkommunistische Richtung hätte profilieren können. Erst 1951 brachen Machtkämpfe aus. 1952 entschied sie dann eine größere Säuberung, die – neben dem magyarischen Siebenbürger Vasile Luka (László Lukács) – Ana Pauker stürzen ließ, die das Außenministerium geleitet hatte. Parteichef Gheorghe Gheorghiu-Dej konnte in der Auseinandersetzung mit Ana Pauker, die lange Zeit als graue Eminenz fungiert und seit ihrem Exil in der Sowjetunion Stalins Vertrauen besessen hatte, die in der Sowjetunion laufende Kampagne gegen den »Zionismus« nutzen, da Pauker jüdischer Herkunft war. Dabei gelang es paradoxerweise, einen Großteil der »Moskowiter« auszuschalten, eine weitere Säuberungswelle entfernte 1954 die übrigen von allen Machtpositionen. In der Tschechoslowakei setzten die Säuberungen erst nach dem Budapester Rajk-Prozeß ein; namhafte Titoisten gab
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es hier kaum, nur einige Funktionäre der zweiten Garnitur. Dagegen bestand zwischen den slowakischen und den tschechischen Kommunisten Meinungsverschiedenheit über das Maß an Selbständigkeit der Slowakei, wobei die Tschechen auf der zentralistischen Lösung beharrten. 1950 konnte sich die Prager Gruppe um Klemens Gottwald, den Staatspräsidenten, und Rudolf Slánský, den Generalsekretär der Partei, gegen die Slowaken durchsetzen, die des »bourgeoisen Nationalismus« beschuldigt wurden; der wohl Bekannteste unter ihnen, Vladimír Clementis, bis Mai 1950 Außenminister der ČSR, wurde im Februar 1951 verhaftet und hingerichtet. Die Auseinandersetzungen um die Macht waren damit aber noch nicht entschieden. Innerhalb der obsiegenden tschechischen Fraktion standen sich zwei Gruppen gegenüber, die nur die gemeinsame Gegnerschaft gegen die Slowaken geeint hatte. Beider Repräsentanten, Gottwald wie Slánský, waren »Moskowiter«, Slánský aber war von Shdanow gefördert worden, und er war jüdischer Herkunft. Das letztere scheint den Ausschlag gegeben zu haben, denn sein Sturz – er verlor im September 1951 sein Parteiamt und wurde im Dezember 1952 nach mehr als einjähriger Untersuchungshaft zum Tode verurteilt – riß mehr als 1500 sogenannte Slánský-Anhänger, fast ausschließlich jüdische Intellektuelle, mit ins Verderben. Diese Säuberungen, die neben den bisherigen Nutznießern der Macht auch viele Tausende trafen, die bestenfalls kleine Mitläufer waren, haben in der Weltöffentlichkeit beträchtliches Aufsehen erregt. Sie wurden von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 5. Oktober und am 3. November 1950 verurteilt und lösten vielfältige Proteste aus. Diese »Periode der ungerechtfertigten Repressalien«, wie sie der sowjetische Schriftsteller Konstantin Simonow nennt12, war aber keinesfalls ein bloßer Betriebsunfall, zurückzuführen auf die Willkür des allgewaltigen Stalin. Gruppenrivalitäten und -konflikte auf solche Weise zu lösen, war vielmehr dem stalinistischen System immanent. Die Führungen der kommunistischen Parteien der Kominform-Länder hatten sich nach Kriegsende aus den nach Moskau emigrierten und den im Lande gebliebenen Kommunisten gebildet und waren zudem durch einige wenige, sorgsam geprüfte Sozialisten erweitert worden, als die »Vereinigung der Arbeiterparteien« vollzogen wurde. Gemäß dem Selbstverständnis der stalinistischen KPdSU, die seit 1948 verbindliches Vorbild der anderen Kominformparteien zu sein hatte, mußten im Interesse der Einheit und Homogenität der Partei alle nicht nahtlos einzupassenden Faktoren ausgeschaltet (liquidiert) werden, mußte die letzte Entscheidung und damit die Fülle der Macht in der Hand eines Mannes liegen. So sind die Säuberungen Teil eines Integrationsprozesses, der – idealtypisch – die streng geschlossene kommunistische Partei zum Ziel hatte. Die nunmehrigen Volksdemokratien holten in den Jahren 1948–1952 (z.T. bis 1954) lediglich eine Entwicklungsphase nach, die in der Sowjetunion 1939 schon abgeschlossen war. b) Das gesellschaftliche Vorbild
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Die mit den Machtkämpfen verquickten Säuberungen vollzogen sich vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Umgestaltung der gesamten politischen, sozialen und ökonomischen Struktur der osteuropäischen Länder, für die die Bezeichnung »Sowjetisierung« durchaus angebracht ist. Denn dieser Transformationsprozeß, dessen Notwendigkeit mit der auf der Schreiberhauer Konferenz verkündeten These des »verschärften Klassenkampfes« begründet wurde, hatte die vollkommene Ausrichtung auf die Moskauer Zentrale durch Übertragung des sowjetischen Modells auf die einzelnen Länder zum Ziel. Vorbereitungen, zumindest in der Kaderausbildung, waren schon 1947 getroffen worden13, im Verlauf des Jahres 1948 wurden die für alle Kominform-Länder verbindlichen Richtlinien dann – mit geringfügigen zeitlichen Verschiebungen – in die Praxis umgesetzt. Vordringlichste Maßnahme war die Umformung der kommunistischen Parteien zu Kaderparteien nach dem Vorbild der KPdSU. Ihr Wiederaufbau hatte sich in der Anfangsphase unter dem Schlagwort des »antifaschistisch-demokratischen Blocks« in Konkurrenz zu den demokratischen Parteien vollzogen. Es waren Massenparteien entstanden, deren Mitglieder sich nicht nur aus überzeugten Kommunisten rekrutierten. Die Entmachtung der innenpolitischen Gegner gab den Weg frei, sich der Opportunisten in den eigenen Reihen und der unsicheren Mitläufer zu entledigen und jene disziplinierte, hierarchisch geordnete Kaderpartei zu formen, die nach dem Vorbild der KPdSU als gehorsames Instrument die Direktiven der Parteiführung verwirklichen helfen sollte. Neben den Säuberungen von oppositionellen Gruppen, die eine einheitliche Parteilinie und Leitungsstruktur zum Ziele hatten, lief eine allgemeine Überprüfung der Mitglieder durch die ParteiKontrollkommissionen. Sie schied all jene aus, die entweder nicht im geforderten Maße aktiv an der Parteiarbeit sich beteiligten oder als »Bürgerliche« zu den »klassenfremden Elementen« gerechnet wurden. Weiterhin wurden diejenigen ausgesondert, deren soziales Verhalten Anstoß erregt hatte. Wenn auch definitive Zahlen nicht vorliegen, so dürfte doch in den Satelliten-Staaten während der Jahre 1948–1951 etwa jedes vierte Mitglied aus der Partei ausgeschlossen worden sein. Da die Mitgliedschaft in der Partei zugleich eine Privilegierung bedeutete, waren diese Kontrollen und Ausschlüsse auch von erzieherischem Wert. Sie machten jedem Mitglied bewußt, daß von ihm permanentes Engagement und »Parteilichkeit« gefordert wurde. Außerdem wurde nun in dieser »Partei neuen Typus«, wie sich die kommunistischen Kaderparteien bezeichneten, nach sowjetischem Vorbild der Aufnahme von Mitgliedern eine Bewährungszeit vorgeschaltet, eine ein- bis zweijährige Kandidatur, die Gelegenheit zu eingehender Prüfung der Anwärter bot. Verbindlich wurde für alle Mitglieder die regelmäßige Teilnahme an der Parteischulung, obligat die Lektüre der Stalin als Verfasser ausgebenden »Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang«. »Proletarisches Bewußtsein« wurde verlangt und strikte Einhaltung
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der »Parteidisziplin«, d.h. gewissenhafte Befolgung der Beschlüsse der Parteigremien. Denn ungeachtet des statuierten »demokratischen Zentralismus« als Organisationsprinzip war die Partei streng hierarchisch gegliedert – allein der Informationsvorsprung der übergeordneten Funktionäre sorgte dafür, der durch eine abgestufte Informationsgebung gesichert wurde. Für die totale Ausrichtung auf das sowjetische Vorbild fand sich eine plausible Erklärung: Da die KPdSU nicht nur als erste, sondern auch als einzige kommunistische Partei (Jugoslawien verschwieg man taktvoll) aus eigener Kraft die sozialistische Revolution verwirklicht hatte – in den Volksdemokratien war sie ja nur dank sowjetischer Hilfe erreicht worden –, sie auch als einzige über langjährige Herrschaftspraxis verfügte, mußte man aus ihren Erfahrungen schöpfen, von ihr lernen. Ihr kam mithin die »führende Rolle im Kampf um den Sieg des Sozialismus« zu. Dies anzuerkennen, gehörte ebenso zu den Grundvoraussetzungen wie die Unterwerfung unter den daraus abgeleiteten Führungsanspruch Moskaus, gehörte zur Parteidisziplin. Es war aber nicht nur der Nachdruck, mit dem Moskau auf der Anerkennung seiner Hegemonie bestand, sondern auch die Lage in den Satellitenstaaten, als welche die Kominform-Länder nach dieser unterordnenden Gleichschaltung agierten. Denn das neue Selbstverständnis, mit dem die kommunistischen Parteien nun ihr Machtmonopol praktizierten, rief neuerliche Spannungen und Konflikte nicht nur innerhalb der einzelnen Parteien, sondern auch mit bestimmten Gruppen und Schichten der Bevölkerung ihrer Länder hervor, die Rückendeckung durch die Sowjetunion lebensnotwendig machten. So stärkte die Liquidierung des nationalen Kommunismus, der sich mehr an den Erfordernissen des eigenen Landes denn an den Moskauer Interessen orientiert hatte, zugleich die Abhängigkeit der moskauhörigen Parteiführungen von Stalin. Die Leitbildfunktion der Sowjetunion beschränkte sich freilich nicht auf die Struktur der kommunistischen Parteien. Der von ihnen erhobene und ex officio verkündete Herrschaftsanspruch wirkte in alle Bereiche des öffentlichen Lebens hinein. Sämtliche Schlüsselpositionen im Staats- und Wirtschaftsapparat wie in den Massenorganisationen – Gewerkschaften, Frauen-, Jugend- und Sportverbänden, der Gesellschaft für die Freundschaft mit der Sowjetunion und den kulturellen Organisationen – wurden nun mit Parteimitgliedern als Transmissionsinstrumenten für die Entscheidungen der Partei besetzt, damit auch hier die reibungslose Durchführung der politischen Direktiven gesichert war. Binnen kurzer Zeit gaben sich die osteuropäischen Staaten, die sich nun als »Volksdemokratien« bezeichneten, neue Verfassungen, die vor allem in den Bestimmungen über die Staatsorgane und die Justiz weitgehend der StalinVerfassung der UdSSR aus dem Jahre 1936 folgten. Nach Jugoslawien, dessen Ausgangslage jedoch anders war, und in dessen Gefolge Albanien (1946) hatte Polen im Jahre 1947 einen Anfang gemacht (1952 wurde diese Verfassung dann noch stalinistischer), Ungarn und die am 7. Oktober 1949 konstituierte Deutsche Demokratische Republik schlössen diesen Prozeß der konstitutionellen
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Gleichschaltung ab. Konsumtiv für den Begriff »Volksdemokratie« wurde seit Dimitrows Ausführungen auf dem V. Parteikongreß der bulgarischen KP am 19. Dezember 1948 die »Diktatur des Proletariats«, die dank sowjetischer Unterstützung errichtet worden war, als Übergangsetappe zum Sozialismus. Die Führungsrolle der kommunistischen Partei war zwar nur in der ungarischen Verfassung fixiert, doch die allgemeine Bestimmung, wonach die Macht von den Arbeitern und Bauern ausgehe, war faktisch ein Synonym dafür. Wie ihr Vorbild, so waren auch die Verfassungen der Volksdemokratien wahre Kollektionen demokratischer Prinzipien, durch sozialistische Grundsätze ergänzt: Freiheit der Persönlichkeit, das Recht der freien Meinungsäußerung, Gewissens- und Religionsfreiheit wurden darin verbrieft, das Recht auf Arbeit und Ausbildung sowie die Gleichstellung der Frau garantiert, auch – dies war eine erhebliche Verbesserung gegenüber den in der Zwischenkriegszeit gültigen Verfassungen – der Schutz der ethnischen Minderheiten. Doch wie in der Sowjetunion klaffte zwischen geschriebener Verfassung und Verfassungswirklichkeit eine breite Lücke. So blieb den verfassungsmäßigen und gewählten Organen zur Kontrolle der Exekutive, die nun Räte hießen, lediglich eine akklamatorische Funktion, die freie und geheime Wahl wurde durch Einheitslisten zur Farce: Sie nahmen dem Wähler jeden Einfluß auf die Zusammensetzung dieser Gremien, selbst die geheime Wahlentscheidung wurde durch psychologischen Druck zunichte gemacht. Sanktioniert wurden die offenkundigen Verfassungsbrüche mit dem Postulat der Diktatur des Proletariats, die jede Willkür rechtfertigte. Sie kam in der Handhabung des neuen Strafrechts und der Strafprozeßordnung am deutlichsten zum Ausdruck – das Recht wurde zum erklärten Instrument der Klassenjustiz, der alte Rechtsgrundsatz »ohne Ansehen der Person« wurde abdiziert. Zudem wurde das scheinbar so fortschrittliche Rechtswesen nach sowjetischem Muster von einer administrativen Justiz unterlaufen, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter Außerkraftsetzung aller rechtsstaatlichen Rechte eines Angeklagten suspekte oder mißliebige Personen in die Zwangsarbeitslager schickte. Auch die Reform des gesamten Schul- und Bildungswesens vollzog sich nach sowjetischem Vorbild. Sie hat in vielen osteuropäischen Staaten bedeutende Fortschritte erzielt, den verbreiteten Analphabetismus – er betrug in Polen, Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien in der Vorkriegszeit zwischen 23 und 45%, in Albanien ca. 60% – beseitigt und damit eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung einer modernen Industriegesellschaft geschaffen. Mit dieser Reform wurde ab 1948 eine tiefgreifende Wandlung der sozialen Struktur der Oberschüler und Studenten verbunden. Die Volksdemokratien brauchten für den Aufbau der neuen Gesellschaft zuverlässige Führungskader, wobei der Bedarf infolge der durch Flucht oder berufliche Deklassierung entstandenen Verluste der alten Intelligenzschicht noch vergrößert wurde. Eine große Zahl neuer Schulen wurde in den ehedem vernachlässigten Agrargebieten der osteuropäischen Staaten schon unmittelbar nach 1945 errichtet, neue
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Universitäten, Fach- und Technische Hochschulen wurden geschaffen, Arbeiter dazu angehalten, sich in Abendkursen für ein Studium an den »Arbeiter- und Bauern-Fakultäten« zu qualifizieren. Ab 1948 wurde nun die proletarische Herkunft mehr und mehr Voraussetzung für die Zulassung zum Studium; denn sie bot die Gewähr für das rechte Klassenbewußtsein. Die neue Elite sollte gleichsam die Ergebenheit gegenüber dem Kommunismus im Blute haben. Ein obligatorisches Grundstudium des Marxismus für alle Hoch- und Fachschulstudenten hatte sie dann noch zu festigen. Die enormen Investitionen im Bildungswesen – sie rangierten hinter den Industrieinvestitionen auf Platz zwei – haben sich aber ausgezahlt; wenn auch später die Mängel des auf reine Wissensvermittlung angelegten Systems sichtbar wurden, so stellte die Reform doch ausreichende mittlere und höhere Führungskräfte für die Anfangsphase der Industrialisierung bereit. Zu den volksbildnerischen Maßnahmen gehörte auch die Heranführung der ehedem unterprivilegierten Bevölkerungsschichten an das Kulturgut und Kulturleben des Landes. Hier sind beachtliche Leistungen erzielt worden. Dem Theater- und Musikleben wurden neue Besucherkreise erschlossen. Gastspiele der großen Ensembles in der Provinz, Gründung neuer Theater und Orchester trugen dazu bei, eine breite Laienbewegung zu entfalten, Wanderausstellungen brachten Gemälde und Plastiken auch in die Subzentren. Unter der Parole »Aneignung des nationalen Kulturerbes« wurden dazu neben der parteilichen Gegenwartsliteratur auch Werke der klassischen Literatur des In- und Auslandes (wobei die sozialistischen Länder weit überwiegen) in riesigen Auflagen unter die Bevölkerung gebracht. Waren die Massenmedien, Presse und Rundfunk, schon nach Kriegsende von den Kommunisten kontrolliert worden, so stellte die Partei sie nun eindeutig in den Dienst ihrer Politik; auch die Informationsgebung hatte parteilich zu sein, worüber eine verschärfte Zensur wachte. Die Reorganisation machte auch vor dem Verlagswesen nicht halt. Wie in der Sowjetunion wurde nun auch in den Volksdemokratien der von Shdanow zu neuem Leben erweckte »sozialistische Realismus« zur Doktrin allen künstlerischen Schaffens. Nicht nur die Themen wurden Schriftstellern, Malern und Musikern vorgeschrieben, auch die ästhetischen Normen setzte die kommunistische Partei für die künstlerische »Produktion« fest, die von den zuständigen Führungsgremien »geplant« wurde. Der anfängliche Widerstand gegen diese Bevormundung, wie ihn etwa 1948 der international angesehene György Lukács in Ungarn zeigte, wurde sehr bald erstickt: Die eigensinnigen Künstler fanden keine Unterstützung und keine Abnehmer ihrer Werke mehr. Eine zumindest teilweise Rehabilitation erforderte offene »Selbstkritik«, eine entwürdigende Form der Unterwerfung. Nur wenige konnten sich durch resignierenden Rückzug aus der Öffentlichkeit dem gleichmacherischen Zugriff entziehen, die meisten fügten sich den Forderungen. Es wäre freilich verfehlt, wollte man die Motive dieser Unterordnung unter die Parteirichtlinien ausschließlich der Sorge um den Verlust der Privilegien
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zuschreiben, die der intellektuellen Elite zugebilligt worden waren. Gerade jene Idealisten, die nach dem Chaos des Krieges mit dem Willen zum Aufbau einer besseren Welt sich der kommunistischen Sache angeschlossen hatten, waren oft geneigt, im Interesse des Gesamtwohls ihre eigenen Bedenken zurückzustellen. Das Ergebnis aber zeigte sich bald: Die wirklichkeitsferne Gleichförmigkeit des sowjetischen Kulturschaffens der Shdanow-Ära legte sich auch über die Volksdemokratien und ließ das in den ersten Nachkriegsjahren so rege und faszinierende künstlerische Leben veröden. Der positive Held regierte, und die geforderte optimistische Einstellung zwang dazu, alle die Schwierigkeiten und Probleme zu übertünchen, die sich bei einem derart gewaltigen und gewaltsamen Wandlungsprozeß, mit dem die kommunistischen Parteien die weitgehend agrarischen Länder Osteuropas zum Industriestaat trieben, zwangsläufig ergaben. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer geradezu servilen Verherrlichung der Sowjetunion und ihrer »Errungenschaften« und von einer Idolisierung Stalins, des »großen Führers«, die dazu diente, die sowjetische Hegemonie auch auf kulturellem Gebiet zu bekräftigen. Der Kult um Stalin aber dehnte sich auch auf die kommunistischen Führer der Volksdemokratien aus, die damit jeder Kritik entzogen wurden. Diese herrschaftsstabilisierenden Maßnahmen haben in der Konsolidierungsphase der Volksdemokratien ihre Wirkung nicht verfehlt, andererseits durch eine vorgetäuschte Harmonisierung aber auch bleibende Schäden angerichtet, und es brauchte Jahrzehnte, bis die Ideologen zu der widerwilligen Einsicht kamen, daß die Schäden weit über den geistigen Bezirk hinaus auch alle öffentlichen und privaten Lebensbereiche in Mitleidenschaft zogen. Das wissenschaftliche Leben wurde in den aus der Sowjetunion importierten Kampf gegen »Objektivismus« und »Kosmopolitismus«, für die »Parteilichkeit« ebenfalls einbezogen; naturgemäß waren es besonders die Geisteswissenschaften, die eine tiefgreifende Neuorientierung erfuhren. Die Intensivierung der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschung, die der Marxismus veranlaßt hatte, brachte in den Jahren 1946–1949 eine große Zahl von Werken zu diesem bislang vernachlässigten Bereich hervor, etwa zur Geschichte der Bauernaufstände und der Revolution des Jahres 1848, darunter durchaus Werke, die eine Bereicherung der Geschichtswissenschaft bedeuteten. Doch die nunmehrige Funktionalisierung der Historiographie, die die gesamte Geschichte eines Volkes nur noch als Vorbereitung auf den volksdemokratischen Sozialismus darzustellen hatte, depravierte die Wissenschaft. Sie wurde zudem von den sich wandelnden Präferenzen der Partei abhängig: Waren anfänglich Müntzer, Dózsa, die Hussiten, Horia wie Rasin und Pugatschow in der Sowjetunion Symbole des Freiheitswillens des Volkes gegen die staatliche Unterdrückung gewesen, so wurden mit der zunehmenden Rechtfertigung des Staates, die Stalin mit seinen Linguistik-Briefen einleitete, die Historiker vor schwierige Probleme gestellt, die nur durch subtile Dialektik und gestützt auf ein Arsenal von Lenin- und Stalin-Zitaten zu lösen waren. Die auch hier obligate
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Verherrlichung der Sowjetunion samt der Vergangenheit Rußlands hat besonders in Polen, Ungarn und Rumänien nicht nur die schwierige Frage nach der Beurteilung der zaristischen Annexionen und Interventionen aufgeworfen, sie hat auch die in diesen Ländern latent vorhandenen russophoben Sentiments verstärkt; dies um so mehr, je ausgeprägter die großrussisch-nationale Tradition der UdSSR glorifiziert wurde. Die staatlich vereinbarte enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Volksdemokratien und der Sowjetunion, die sich in bilateralen wissenschaftlichen Konferenzen und in Studienaufenthalten in der UdSSR dokumentierte, sicherte auch im Wissenschaftsbereich die Prädominanz der sowjetischen Forschung und ihrer Ergebnisse. Für die Naturwissenschaften und für die Ingenieurwissenschaften in den südosteuropäischen Volksdemokratien haben der wissenschaftliche Austausch und die Möglichkeit, Studenten und Nachwuchswissenschaftler in die Sowjetunion zur Aus- und Fortbildung zu senden, angesichts ihrer ungenügenden Hochschulkapazität und des relativ niedrigeren Niveaus Vorteile gebracht, entwickeltere Länder mit wissenschaftlichen Traditionen wie Polen, Tschechoslowakei, DDR und Ungarn aber warf dies zurück, denn es war mit dem Verlust der alten Verbindungen mit der westlichen Entwicklung verknüpft. c) Der Kirchenkampf Sehr viel schwieriger und länger als der Unterwerfungsprozeß der unorganisierten opponierenden Intellektuellen war die Auseinandersetzung mit den Kirchen. Der herrschaftslegitimierende Alleingültigkeitsanspruch des Dialektischen und Historischen Materialismus schloß per se die Konfrontation mit den Religionsgemeinschaften ein. Während der Periode der VolksfrontTaktik 1945–1947 hatten die gelegentlichen Spannungen und Auseinandersetzungen noch keinen grundsätzlichen Charakter gehabt: Der Atheismus des wissenschaftlichen Sozialismus existierte neben dem geoffenbarten Glauben. Mit der Konstituierung des politischen Primats der kommunistischen Parteien aber war auch der ideologische Primat verbunden, der nun zum offenen Konflikt mit den Kirchen führte. Er ist in den einzelnen Volksdemokratien mit unterschiedlicher Schärfe geführt worden und hat zu abweichenden Ergebnissen geführt. Das lag nicht nur an dem von Land zu Land differierenden Säkularisierungsgrad der jeweiligen Gesellschaft. Auch politische Vorbelastungen waren auf beiden Seiten gegeben, so etwa in der Slowakei mit der Person Tisos, in Kroatien mit Erzbischof Stepinac. Die Weigerung, nach Kriegsende der Trennung von Staat und Kirche und der Einführung der Zivilehe zuzustimmen, führte in Jugoslawien schon bald zu ernstlichen Differenzen. Tito nahm die Stellungnahme des kroatischen Episkopats vom 20. September 1945, die die Regierung der systematischen Kirchenverfolgung beschuldigte, zum Anlaß, den Vatikan um Abberufung des durch sein Verhalten während der Kriegszeit belasteten Stepinac zu ersuchen. Die Kurie aber war nicht gesonnen,
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den Forderungen der weltlichen Macht nachzugeben, und Tito beendete den auf beiden Seiten eskalierenden Streit mit der Verhaftung und Verurteilung des kroatischen Primas als Kriegsverbrecher, ein Schritt, der auch nach der Annäherung Jugoslawiens an den Westen, die 1951 zu einer bedingten Freilassung des Erzbischofs führte, ob der vatikanischen Forderung nach vollständiger Rehabilitation Stepinac’ die Beziehungen zwischen Kirche und Staat schwer belastete. Von derartigen Einzelfällen abgesehen, war den kommunistischen Parteien aber bis 1948 an einem modus vivendi mit den Kirchen gelegen. An zwei Fragen entzündete sich dann der Konflikt: der des kirchlichen Landbesitzes und jener der Eidesleistung der Geistlichen auf die Verfassung. Zwar war es in verschiedenen Ländern – so der SBZ – schon im Zuge der Bodenreformen der Jahre 1945–1947 zur Verstaatlichung kirchlichen Grundeigentums gekommen, doch in vollem Umfang wurde der Kirchenbesitz erst durch die Enteignungen im Zeichen der neuen Wirtschaftspolitik getroffen, die u.a. auch die vollständige »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« vorsah. Staatlicherseits wurde argumentiert, daß den Kirchen keine Ausnahmestellung eingeräumt werden könne, und zum Ausgleich bot man die Besoldung der Geistlichen aus Staatsmitteln an. Dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kirche damit ihre finanzielle Unabhängigkeit verlor und der Staat ein Instrument zur Disziplinierung mißliebiger Geistlicher, ja der Kirche selbst erhielt. Auch der Treueid band den Klerus an den Staat, und angesichts der extensiven Auslegung des Loyalitätsbegriffes durch die kommunistische Führung bedeutete das die faktische Unterstellung der Kirche. In den protestantischen und orthodoxen Kirchen setzte sich damit eine bereits vorhandene Tradition fort, für den katholischen Episkopat aber bedeutete es den Konflikt mit dem Herrschaftsanspruch des Heiligen Stuhls, der mit dem Exkommunizierungsdekret für Kommunisten vom 1. Juli 1949 auch unmißverständlich Stellung bezog. So nahm der 1948 beginnende Kirchenkampf besonders in den katholischen Ländern scharfe Formen an. In den griechisch-orthodoxen Gebieten konnte sich der Staat hingegen leichter durchsetzen. Neben der andersartigen Kirchenverfassung und dem Fehlen institutioneller und geistiger Verbindung zum Westen mag hierbei auch eine Rolle gespielt haben, daß der orthodoxen Kirche in der Sowjetunion wegen ihrer Beziehungen zu den Patriarchaten des Ostens ein – freilich eng begrenzter – Lebensraum gewährt worden war. In Jugoslawien gelang es dem 1941 nach Deutschland deportierten Patriarchen Gabriel, zu einem Übereinkommen mit der Staatsführung zu gelangen, das auch unter seinem Nachfolger trotz temporärer Störungen aufrechterhalten wurde. Ähnlich gestaltete sich das Verhältnis zur islamischen Geistlichkeit Bosniens, der Herzegowina und im Kosovo- Gebiet. In Bulgarien trat 1948 der Metropolit von Sofia, Stefan, von seinem Amt zurück, da er die staatliche Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat nicht anzunehmen bereit war. Sein Nachfolger stimmte dem
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Abkommen zu, das die Kirche des Landes in ähnlicher Weise dem Staat unterordnete, wie dies in der Sowjetunion der Fall war. In Rumänien wurde die Übereinkunft zwischen Staat und Kirche dadurch begünstigt, daß die Regierung 1948 massiv die Wiedervereinigung der Unierten Kirche mit der Orthodoxie betrieb, um die Einflußnahme des Vatikans auszuschalten. Die Anerkennung des Kirchengesetzes vom August 1948 durch den orthodoxen Metropoliten wurde denn auch im Dezember des Jahres durch Vereinigung beider Kirchen belohnt, d.h. durch die Rückführung der Griechisch-Katholischen zur Orthodoxie. Der Preis, den der Metropolit zahlte, war hoch: Das Gesetz sah vor, daß vakante kirchliche Stellen gemäß der Empfehlung der Regierung besetzt wurden. Wie auch in anderen orthodoxen Kirchen hatten die Bischöfe den Treueid auf die Verfassung zu schwören. Härter wurden die protestantischen Kirchen getroffen, die – außerhalb der SBZ – die Trennung von Staat und Kirche, die erste kirchenpolitisch einschneidende Maßnahme, nach Kriegsende begrüßt hatten, beseitigte sie doch das institutionalisierte Staatskirchentum und verschaffte ihnen die Gleichstellung. Das Jahr 1948 markiert hier in den Beziehungen zum Staat einen Wendepunkt. Besonders in Ungarn, der Tschechoslowakei und Siebenbürgen kam es zu Verhaftungen und Verfolgungen, als sich die Kirchenoberen weigerten, die vorgesehenen Abkommen zu unterzeichnen, um die Unabhängigkeit der geistlichen Gemeinschaft zu erhalten. Zwischen den kommunistischen Regierungen und der katholischen Kirche entbrannte der Konflikt in voller Schärfe, als der Vatikan im Sommer 1948 die Kirchengesetze ablehnte. In der Tschechoslowakei hatte sich im Februar 1948 der Prager Erzbischof Beran schon unmißverständlich gegen den Staatsstreich geäußert; die Abstimmung über die zweite Bodenreform im Mai, die auch den kirchlichen Besitz traf, gab Anlaß zu neuen Differenzen, die nach der Verstaatlichung des kirchlichen Schulwesens noch wuchsen. Als es im Sommer des folgenden Jahres in der Slowakei zu antikommunistischen Ausschreitungen kam, nahm die Regierung dies zum Anlaß, den hartnäckigen Primas von Prag zu verhaften. Im Oktober war dann der Widerstand des Episkopats gegen das Abkommen gebrochen, der verlangte Treueid der Priester wurde akzeptiert. Aber der grundsätzliche Dissens währte fort und führte in den Jahren 1950–1951 zu einer Verhaftungswelle, zur staatlichen Schließung von Ordensniederlassungen und anderen Repressalien. In Ungarn kam es über die Aufhebung des kirchlichen Schulwesens zum Konflikt. Der Primas, Kardinal Mindszenty, wurde Ende 1948 verhaftet und im Januar 1949 zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Der Widerstand gegen die Unterordnung unter den Staat, den auch die Repressalien gegen die Orden nicht brechen konnten, wurde erst 1951 nach dem Schauprozeß gegen den Erzbischof Grösz beendet: der Klerus leistete den geforderten Treueid. Auch in der DDR setzten nach Gründung des Staates die Repressalien gegen die Kirchen ein, nachdem Grotewohl auf dem 3. Parteitag der SED besonders die evangelischen Kirchenführer angegriffen hatte. Die staatlichen Restriktionen
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gegen kirchliche Verlage, den Religionsunterricht in den Schulen u.a.m. führten jedoch zu einer unerwarteten Solidarisierung der oppositionellen Gruppen mit den Religionsgemeinschaften. Insbesondere die Junge Gemeinde wurde zum Sammelbecken nichtkonformistischer Jugendlicher, vorwiegend Oberschüler und Studenten. Sie wurde im Verlauf des Jahres 1952 und Anfang 1953 unter massiven Druck gesetzt, schließlich erging eine Weisung der Partei, die Mitglieder der kirchlichen Jugendorganisation vom Oberschulbesuch und Universitätsstudium auszuschließen. Der Machtkampf dauerte noch an, als die Ereignisse des 17. Juni 1953 das Regime jäh vor eine grundlegend veränderte Situation stellten und zu einem temporären Einlenken zwangen. In den bisher genannten Ländern hat eine multikonfessionelle Struktur den kommunistischen Führern die Verwirklichung ihrer Ziele erleichtert. In Polen aber sah sich die Partei nach den Bevölkerungstransfers der Jahre 1945–1947 einer (fast) einheitlichen Nationalkirche gegenüber, die zudem in den Jahrhunderten der Gefährdung und insbesondere nach den polnischen Teilungen zum Symbol der nationalen Selbstbehauptung geworden war und sich auch im Widerstandskampf gegen die deutsche Besatzungsmacht in dieser Rolle bewährt hatte. Bei der Integration der deutschen Ostgebiete stellte sich die Kirche ebenfalls in den Dienst der nationalen Politik: Nicht nur wurde die Kirchenorganisation in den annektierten Gebieten beschleunigt aufgebaut, sondern der Episkopat ersuchte auch bald den Vatikan um eine kirchenrechtliche Eingliederung der »wiedergewonnenen Westgebiete«. So trachtete die Parteiführung eine Herausforderung zu vermeiden. Sie kam von der Gegenseite, und zwar von außen – mit dem vatikanischen Dekret vom 1. Juli 1949, mit dem die Kurie in den Kirchenkampf in Ungarn und der Tschechoslowakei eingriff und die Kommunisten exkommunizierte. Die Regierung antwortete darauf mit der Verstaatlichung der »Caritas« und ihres Vermögens und enteignete im März 1950 auch den kirchlichen Landbesitz. Dies führte auch in Polen zu einem Einlenken der Hierarchie. Doch der Versuch, die Kirche ganz aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, stieß auf steigenden Widerstand, der auch durch die zahlreichen Verhaftungen von Klerikern und Laien nicht zu brechen war. Selbst die Schauprozesse des Jahres 1953 vermochten die feste Haltung von Kirche und Gläubigen nicht zu untergraben, auch nicht die Inhaftierung des polnischen Primas, Kardinal Wyszyński, im September 1953. Die Ablegung des verlangten Treueides durch den Episkopat im Dezember jenes Jahres brachte keine Wende, ebensowenig fruchtete der Versuch, nach tschechoslowakischem Beispiel durch Gründung einer Gruppe »patriotischer Priester« die Kirche von innen her zu erschüttern. Je stärker die Repressalien wurden – Ende 1953 befand sich neben vielen Laien etwa ein Viertel des Klerus in Haft –, um so mehr solidarisierte sich die Bevölkerung mit der Kirche. Die ursprünglich politisch motivierte Hinwendung oppositioneller Gruppen, darunter auch Mitglieder der Partei, stärkte jedoch die Kirche nicht nur zahlenmäßig. Der Verlust der staatskirchlichen Selbstgefälligkeit machte sie wirklichkeitsoffen und führte in
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der Diskussion mit den Verbündeten – zum Teil areligiösen, zum Teil sogar antiklerikalen – Gruppen zu einem neuen Verständnis ihres geistlichen Auftrags. Dieser Prozeß ist nicht auf die katholische Kirche in Polen beschränkt gewesen, und er hat über den osteuropäischen Raum hinaus belebend auf die christlichen Kirchen insgesamt gewirkt. Bis Ende 1952 war so die politische und geistige Opposition in den Volksdemokratien weitgehend zum Verstummen gebracht. Die kommunistischen Parteien waren dank des mit sowjetischer Hilfe aufgebauten Staatssicherheitsdienstes, der das Land mit einem ausgedehnten Informantensystem überzog, das gesamte öffentliche Leben kontrollierte und auch in die Privatsphäre der Bürger eindrang, in der Lage, Widerstand schon im Keim zu ersticken und individuelle Opponenten auszuschalten. Da die Unterdrückung nach sowjetischem Vorbild präventiv gehandhabt wurde, auch der fälschlich Beschuldigte faktisch keine Chance hatte, seine Unschuld zu erweisen, verbreitete das Terrorregime eine lähmende Atmosphäre der Angst und der Unsicherheit. Weil aber die Konflikte und Spannungen nur unterdrückt und nicht ausgetragen wurden, staute sich hier ein Konfliktpotential auf. Die kommunistische Führung war sich darüber nicht im unklaren, sie baute aber auf den Zeitfaktor, auf die langfristig für sie arbeitende Wirkung der ideologischen Indoktrination der Heranwachsenden und das natürliche Schwinden der resistenten Älteren. Staatsicherheitsdienst, Polizei und die wiederaufgebauten Streitkräfte – auch in der SBZ begann Mitte 1948 mit der Bildung der sogenannten Kasernierten Volkspolizei (KVP) die Remilitarisierung –, deren Angehörige strengen Zuverlässigkeitskriterien unterworfen waren, erachtete man für das Übergangsstadium als ausreichend, um jeder potentiellen Gefahr zu begegnen. IV. Die Sowjetisierung der Volksdemokratischen Volkswirtschaften a) Die forcierte Industrialisierung Die scharfe Handhabung des »revolutionären Terrors« als Mittel der Unterdrückung und Einschüchterung schien um so mehr erforderlich, als die forcierte Industrialisierung zwangsläufig eine Fülle von sozialen Spannungen erzeugte, die zwar jedem derartigen Transformationsprozeß immanent sind, hier aber durch den beschleunigten Ablauf komprimiert wurden. Über die Notwendigkeit einer Industrialisierung der – mit Ausnahme der ČSR und der SBZ – rückständigen Agrarländer des östlichen Europa waren sich bei Kriegsende nicht nur die marxistischen Gruppen einig. Unterschiedliche Auffassungen aber bestanden hinsichtlich der Mittel und der sektoralen Prioritäten sowie hinsichtlich der Rolle des Staates. Daß ihm zumindest in der Wiederaufbauphase eine wichtige Rolle bei der Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung zukommen sollte, war sowohl angesichts der Begrenztheit des verfügbaren Kapitals wie auch angesichts des Mangels an Produktionsmitteln
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und Rohstoffen geboten; ferner herrschte innerhalb der sozialistischen und linksliberalen Gruppen – und dies nicht nur in Osteuropa – weitgehender Konsens über die Verstaatlichung der Grundstoffindustrien (Hütten- und Bergwerke u.ä.) und der Banken, die durch ihre Kreditgewährungspolitik eine volkswirtschaftliche Steuerungsfunktion besitzen. Auch die Agrarreform – Aufteilung des Großgrundbesitzes – fand breitere Unterstützung. Zu dieser grundsätzlichen Übereinstimmung in einer entscheidenden wirtschaftspolitischen Frage hat nicht zuletzt die bittere Erfahrung aus der großen Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit beigetragen, die in den kapitalschwachen osteuropäischen Agrarstaaten länger fortwirkte als in den westlichen und mitteleuropäischen Ländern und ihnen ihre außenwirtschaftliche Abhängigkeit schmerzlich bewußt machte. Der »Aufbau einer allseitig entwickelten Volkswirtschaft«, d.h. ein hohes Maß an wirtschaftlicher Autarkie (wie problematisch sie sich in einer immer komplexeren und differenzierteren Wirtschaftsentwicklung auch erweisen mochte), konnte auch den Beifall der Konservativen finden, denn er nahm ein Argument aus der Diskussion der dreißiger Jahre wieder auf. Von der Industrialisierung versprach man sich zugleich die Lösung des drückenden Problems der landwirtschaftlichen Überbevölkerung und der daraus resultierenden Unterbeschäftigung, die für den niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung mitverantwortlich war. Eine Abwanderung der überschüssigen Arbeitskräfte in den Industrie- und den Dienstleistungssektor war Voraussetzung für eine höhere Pro-Kopf-Erzeugung der in der Landwirtschaft Beschäftigten und damit für die Steigerung ihrer Einkommen. Seitens der Kommunisten ging man noch einen Schritt weiter: Der steigende Nahrungsmittelbedarf der städtischen Bevölkerung, die ja mit fortschreitendem industriellen Wachstum noch zunehmen mußte, konnte von der verminderten Zahl der ländlichen Arbeitskräfte mit den traditionellen bäuerlichen Produktionsmethoden nicht gesichert werden. Eine verstärkte Mechanisierung und Rationalisierung aber, die mit der Kollektivierung der bäuerlichen Einzelbetriebe zu verbinden war, beseitigte nicht nur die von Marx als »gewohnheitsfaulster und irrationellster Betrieb«14 charakterisierte bäuerliche Wirtschaftsform und den schon im »Kommunistischen Manifest« konstatierten »Idiotismus des Landlebens«15, machte nicht nur aus dem Bauern einen LandArbeiter und trug zur Aufhebung des Gegensatzes Arbeiter – Bauer bei, sondern sie sollte durch das Eindringen industrieller Produktionsweisen und damit industriell geprägter Lebensformen auch die traditionalistische, landbesitzorientierte, »reaktionäre« Mentalität und Sozialstruktur des Dorfes revolutionieren. Außer diesem Fernziel aber hatte die Mechanisierung noch den kurzfristig wirksamen Vorteil, daß sie die Kontrolle der Partei im ländlichen Bereich erheblich verstärkte. Die Wirtschaftspolitik der beiden ersten Nachkriegsjahre wies im Zeichen der »antifaschistischen Blockpolitik« starke länderspezifische Unterschiede auf, galt
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es doch zuvörderst, die noch vorhandenen Kapazitäten zu nutzen und die kriegsbedingten Schäden zu überwinden. Dennoch wurden bereits damals Institutionen geschaffen, die den späteren Übergang zur Planwirtschaft vorbereiteten. Auch die ersten Verstaatlichungen fallen in diese Phase. Sie trafen in den ehemaligen Feindstaaten Ungarn, Rumänien und der SBZ das Eigentum der sogenannten »Kriegsverbrecher« und jener, die sich vorgeblich ihrer Unterstützung schuldig gemacht hatten – eine Bestimmung, die sehr variabel ausgelegt werden konnte. In Polen, Jugoslawien und der ČSR war es das Eigentum der zwangsausgesiedelten Deutschen und Ungarn, auf das der Staat seine Hand legte. Ein weiterer Schritt in Richtung auf die Einführung einer zentralgeplanten Volkswirtschaft nach sowjetischem Muster erfolgte 1947/48 mit der Inkraftsetzung der weitgehend von sowjetischen Wirtschafts- und Planungsfachleuten konzipierten »Wiederaufbaupläne«, die bereits Ansätze zu einer außenwirtschaftlichen Umorientierung zeigen, welche dann durch die amerikanischen Restriktionen beschleunigt wurde. Diese Pläne orientierten sich noch stark an den wirtschaftlichen Gegebenheiten der einzelnen Länder; so empfahlen sie Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien, vorrangig ihre Landwirtschaft zu modernisieren und eine forcierte Industrialisierung zu vermeiden (was in Jugoslawien Widerspruch erregte und einer der zum Kominform-Konflikt führenden Momente war). Auch war die Laufzeit der Pläne unterschiedlich. Die ČSR, Bulgarien und die SBZ befristeten ihren Plan auf zwei, Polen und Ungarn auf drei Jahre, während Rumänien 1948 einen Einjahrplan für das Jahr 1949 verabschiedete. Die Durchführung der Pläne, die in die Phase der Errichtung der kommunistischen Alleinherrschaft fiel, war begleitet von einer zweiten Nationalisierungswelle, die Industrie und Gewerbe fast ganz in die Hand des Staates brachte, auch das Bankwesen und den Handel. Damit war die staatliche Kontrolle der gesamten Wirtschaft perfekt, die eine reibungslose Verwirklichung der ehrgeizigen Planziele ermöglichen sollte: Die Produktionsziffern des letzten Vorkriegsjahres sollten um durchschnittlich 10% übertroffen werden. Die Verwirklichung wurde durch die zunehmend restriktive Handelspolitik der USA gegenüber den Ländern des sowjetischen Machtbereichs erschwert, die der Berliner Blockade folgte. Betrugen die US-Exporte nach Osteuropa im Jahre 1948 noch 132 Millionen Dollar, so fielen sie 1949 auf 82 Millionen und sanken nach Inkrafttreten des Export Control Act dieses Jahres in der Folgezeit zur völligen Bedeutungslosigkeit herab. Der Rückgang der osteuropäischen Importe aus Großbritannien und Westdeutschland war – von den Kriegsauswirkungen abgesehen – jedoch weitgehend eine Folge der veränderten Warenstruktur der Importe in die Volksdemokratien. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte Osteuropa vor allem Konsumgüter bezogen, im Zeichen der neuen Wirtschaftspolitik waren es fast ausschließlich Maschinen, Ausrüstungsgegenstände und Rohstoffe. Auch verringerten sich die Exportmöglichkeiten. Durch die Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft entfielen die traditionellen Exportgüter Getreide und
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Nahrungsmittel, ja nach der Mißernte des Jahres 1950 mußte sogar Getreide importiert werden. Wenn die USA geglaubt hatten, mit ihrer Restriktionspolitik die Entwicklung in Osteuropa beeinflussen zu können, so war dem nur ein kurzfristiger Erfolg beschieden, mehr als eine Verzögerung wurde nicht erreicht. Langfristig aber führte die Politik des Weißen Hauses nicht nur zu einer Verlagerung der Außenhandelsströme in diesem Raum, d.h. zu einer Intensivierung des Ostblock- internen Handels, sondern förderte auch die wirtschaftliche Abhängigkeit der Volksdemokratien von der Sowjetunion. Der faktische Ausschluß vom amerikanischen Kapitalmarkt, den britische und skandinavische Banken in keiner Weise auszugleichen vermochten, traf insbesondere Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, die auf umfangreiche westliche Aufbaukredite gehofft hatten. Ein Ausgleich durch sowjetische Darlehen war angesichts des hohen Eigenbedarfs der Sowjetunion nur in sehr begrenztem Umfange möglich. So blieb letztlich nur eine maximale Ausschöpfung der eigenen Ressourcen – Arbeitskräfte, Produktionsmittel und Rohstoffe. Schwieriger war es, für die westlichen Lieferungen sowohl an Waren wie an Rohstoffen Ersatz zu beschaffen, denn die Sowjetunion war dazu aufgrund ihrer einseitig entwickelten Industrie nur teilweise imstande; neben Rohstoffen, vor allem Eisenerz, erhielten die Volksdemokratien von ihr hauptsächlich Ausrüstungen für den Aufund Ausbau der Investitionsgüterindustrie. Der sowjetische Primat der Schwerindustrie galt auch für die Volksdemokratien. Hierzu haben sowohl der national-autarkistische Ehrgeiz der einzelnen Staaten wie auch das sowjetische Vorbild und die spezifischen Liefermöglichkeiten der UdSSR beigetragen, und obwohl in Ungarn, Rumänien und der SBZ/DDR die wirtschaftlichen Grundstoffe dafür fehlten, errichteten auch sie im Rahmen der langfristigen Planung Eisenhüttenkombinate großen Stils. Rüstungswirtschaftliche Gesichtspunkte hatten an dieser Entscheidung ebenfalls Anteil; denn die nationalen Kapazitäten entlasteten die sowjetische Eisen- und Stahlproduktion, die durch die 1948 beginnende Wiederaufrüstung und später durch den Korea-Krieg erheblich beansprucht war. Etwa die Hälfte der gesamten staatlichen Investitionen kam der Investitionsgüterindustrie zugute, weiter wurde dem Transport- und Verkehrswesen Priorität vor der Konsumgüterindustrie eingeräumt. Die langfristigen Pläne – in der Tschechoslowakei und in Bulgarien trat 1949, in Ungarn 1950, in Rumänien und der DDR 1951 ein Fünfjahrplan, in Polen 1950 ein Sechsjahrplan in Kraft – führten diese Politik fort, die der Bevölkerung ein hohes Maß an Konsumverzicht auferlegte. Die Erfolgszahlen, die in den Berichten über die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne angeführt wurden, besagten zwar hinsichtlich der Stellung der einzelnen Volkswirtschaften in der Weltwirtschaft wenig oder nichts, denn sie brachten nur relative Wachstumsraten, doch der Stolz auf die erzielten Fortschritte war berechtigt. Sie dokumentierten der Bevölkerung auch, daß die Opfer und Entbehrungen, die von ihr verlangt wurden, nicht umsonst waren.
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Die Schwierigkeiten, die diese einseitige Wirtschaftspolitik mit sich brachte, waren aber enorm, und sie glichen in vielem jenen Problemen, vor die sich die sowjetische Wirtschaft nach dem Industrialisierungsbeschluß des XV. Parteitages der KPdSU (Dezember 1929) gestellt gesehen hatte. Immerhin konnten die Volksdemokratien auf die damals gesammelten Erfahrungen zurückgreifen, die durch Berater und den Austausch von Spezialisten und Facharbeitern vermittelt wurden. Sie vermochten jedoch nicht die Akkulturationsprobleme zu lösen, die sich durch die Umstellung der ehedem landwirtschaftlichen Arbeitskräfte auf die Bedingungen der industriellen Arbeitswelt ergaben. Man folgte auch hier dem sowjetischen Beispiel und entschied sich für das System des Taylorismus, das mit einem Minimum an technischen Kenntnissen und Fertigkeiten auskam; nur die Tschechoslowakei und die SBZ/DDR, die bereits über eine fest verwurzelte technische Zivilisation und eine ausreichende Zahl erfahrener Facharbeiter verfügten, bildeten eine Ausnahme. Da aber der natürliche Leistungsanreiz infolge des Mangels an Konsumgütern fehlte, mußte die geplante Leistung erzwungen werden – die Übernahme der strengen sowjetischen Arbeitsgesetzgebung mit ihren rigorosen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin, ihrer Aufhebung der freien Berufs- und Arbeitsplatzwahl u.a.m. sollte hier Abhilfe schaffen. Den von der Partei kontrollierten Gewerkschaften kam in diesem System lediglich die Funktion eines Erfüllungsgehilfen der staatlichen Wirtschaftspolitik zu – nicht die Vertretung der Arbeiter und ihrer Forderungen und Rechte; die Wahrnehmung und Förderung der staatlichen Interessen deckte sich ja erklärtermaßen mit den »wahren« Interessen der Arbeiter. So ergänzte die innere Logik der Politik der forcierten Industrialisierung, die eine derart straffe Reglementierung und Kontrolle des Arbeitsprozesses notwendig machte, vortrefflich die Intentionen der kommunistischen Führung, die auf eine totale Indienststellung des Menschen für die Verwirklichung der kommunistischen Ziele tendierte. Auch im Arbeitsbereich vollzog sich eine Ausrichtung auf die Partei, die sich selbst zum alleinigen Zentrum von Staat und Gesellschaft bestimmt hatte. b) Die Kollektivierung der Landwirtschaft Im engsten Zusammenhang mit dem Industrialisierungsprozeß stand der Zusammenschluß der bäuerlichen Betriebe zu Kollektivgenossenschaften nach dem Vorbild der sowjetischen Kolchosen, der seit 1949 unter dem Schlagwort »Kollektivierung der Landwirtschaft« die Agrarpolitik der Volksdemokratien bestimmte. Eine Reform war im Agrarbereich unumgänglich, wenn die Nahrungsmittelversorgung der wachsenden städtischen Bevölkerung gesichert werden sollte. In den ehemaligen Agrarländern Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien fristeten als Folge der überkommenen Besitzverhältnisse eine große Zahl bäuerlicher Zwerg- und Kleinstbetriebe ein Dasein am Rande des Existenzminimums; in Polen betrug die Zahl der bäuerlichen Wirtschaften mit
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einer Nutzfläche unter 5 ha 1,57 Millionen (von 2,7 Millionen insgesamt, d.h. rund 57%), in den anderen Ländern waren die Verhältnisse nur um ein Geringes besser. Auch die sogenannten Bodenreformen der Jahre 1945–1948 hatten die Zersplitterung des Landbesitzes nur noch vergrößert. Die aus dem Areal des enteigneten Großgrundbesitzes neu geschaffenen Kleinbetriebe mit einer durchschnittlichen Nutzfläche von 5–10 ha reichten kaum aus, mehr als die Selbstversorgung zu sichern. So geeignet diese Aufteilung des Bodens in der Vor-Industrialisierungsphase schien, um die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zu beseitigen und die Umgesiedelten oder Vertriebenen in die Volkswirtschaft einzugliedern, so hinderlich erwies sie sich nun, zumal auch der Arbeitskräftebedarf der Industrie das Beschäftigungsproblem löste. Daß der notwendige Strukturwandel die Form der Kollektivierung annahm, entsprang, wie bereits erwähnt, der politischen Doktrin. Initiativ hierbei war der 1948 einsetzende Kampf gegen die Großbauern, entsprechend der sowjetischen »Entkulakisierung« zu Beginn der dreißiger Jahre. Von den Großbauern war hartnäckiger Widerstand gegen die Umwandlung ihres Eigentums an Vieh und Boden in Kollektiveigentum zu erwarten. Soweit sie nicht freiwillig den Forderungen der Partei nachgaben, wurden sie einer eskalierenden Folge staatlicher Repressalien unterworfen: Zuerst wurden ihre Steuern, danach die Zwangsablieferungssätze stark erhöht, so daß sie über die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet wurden, und die Beschäftigung von nichtfamilienzugehörigen Arbeitskräften wurde verboten; massiver psychologischer Druck durch Besuche von Genossenschafts- und Parteifunktionären, schließlich Diffamierung in der dörflichen Gemeinschaft und Inhaftierung oder schlichtweg Enteignung des gesamten Besitzes waren die weiteren Mittel, mit denen Groß- und Mittelbauern zum Eintritt in die Kollektivgenossenschaften gezwungen wurden, denen sich die Kleinbauern, wenn auch nicht ohne mehr oder weniger intensive Nachhilfe, aus Einsicht in die dadurch gegebene Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage eher freiwillig anschlössen. Als Übergangslösung wurden verschiedene Formen der Vergenossenschaftung vorgeschlagen, doch die völlige Kollektivierung der Produktionsmittel – Vieh und Boden – blieb erklärtes Ziel. Obwohl man von einer derart rigorosen Durchführung der Kollektivierung absah, wie sie 1930/31 in der Sowjetunion praktiziert worden war, rief sie die gleichen Folgen hervor: die landwirtschaftlichen Erträge sanken rapid, die Bauern schlachteten ihre Viehbestände und vernichteten das Saatgut, die Genossenschaftsmitglieder widmeten sich mehr der ihnen verbliebenen privaten Hofwirtschaft als dem Kollektivbesitz. Ließ sich das Sinken der Agrarproduktion 1950 noch mit dem Ertragsausfall durch die große Trockenheit des Jahres erklären, so zeigten die Ernteergebnisse 1951 die passive Resistenz der Bauern. Gegen Ende des Jahres wurde in allen Volksdemokratien die genossenschaftliche Selbstbestimmung durch ein neues Leitungssystem der Kollektivgenossenschaften abgelöst, das die Kompetenzen der Leiter beträchtlich
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erhöhte. Ihre Weisungsbefugnis wurde verstärkt, auch erhielten sie das Recht, Disziplinierungsmaßnahmen zu ergreifen. Zu ihrer Unterstützung wurden die Kontrollfunktionen der lokalen Behörden und der Parteiorganisation vergrößert. Auch die Einführung des sowjetischen Brigade-Systems und ein neuer Modus der Gewinnverteilung anhand der geleisteten Arbeitseinheiten sollten die Arbeitsdisziplin heben, Leistungsanreize wie Prämien und Auszeichnungen als Bestarbeiter sollten zu intensiverer Arbeit führen. Die staatlichen MaschinenTraktoren-Stationen wurden vermehrt und besser mit Traktoren und Erntemaschinen ausgestattet. Diese Maßnahmen waren um so vordringlicher, als der Ertragsrückgang die Volkswirtschaft stark belastete, denn er zwang zu umfangreichen Importen landwirtschaftlicher Produkte, »die fast überall [in den Volksdemokratien] mehr als 10% des gesamten Importvolumens ausmachten«16. Da die Sowjetunion den Bedarf nicht decken konnte, waren für Westimporte wertvolle Devisen zu opfern, die wiederum dem industriellen Sektor entzogen werden mußten. Die Intensität, mit der die Kollektivierung in den einzelnen Ländern betrieben wurde, zeigte Unterschiede, die in der Haltung der Parteiführer wie auch in der Situation der einzelnen Länder begründet waren. Durch besondere Härte und Rigorosität zeichnete sich das Vorgehen in Bulgarien aus, wo Tscherwenkow als Nachfolger Dimitrows sich besonderen Eifers befleißigte. Zwar wurden auch hier, um die Bauern zu beschwichtigen, einige Funktionäre zweiten Ranges als verantwortlich für die Exzesse geopfert, doch ungeachtet kurzfristiger Lockerungen setzte die Parteiführung ihren Ehrgeiz in eine möglichst rasche und vollständige Kollektivierung. Auch in der DDR wurde sie unter massivem Einsatz staatlicher Mittel vorangetrieben, selbst die große Zahl von Bauern, die in die Bundesrepublik flohen, konnte Ulbricht nicht zum Einlenken auf eine gemäßigtere Linie veranlassen. Behutsamer war in Polen vorzugehen. Die Belastung durch den gleichzeitigen Kirchenkampf zwang zu einer gewissen Rücksichtnahme: war doch gerade die bäuerliche Bevölkerung ein starker Rückhalt der Kirche. Während in den anderen osteuropäischen Ländern – sieht man von dem Sonderfall des aus dem Kominformblock ausgestoßenen Jugoslawien ab, das seine Landwirtschaftspolitik ab 1951 revidierte – im Verlauf der fünfziger Jahre die Kollektivgenossenschaft als neue agrarische Wirtschaftsform endgültig durchgesetzt wurde, blieben die bäuerlichen Eigenwirtschaften in Polen dank der besonderen Situation des Landes großteils erhalten, ja im Zuge der politischen Entwicklung nach Stalins Tod lösten sich die Kollektivgenossenschaften teilweise wieder auf. c) Die ökonomische Wirtschaftshilfe«
Koordination
und
der
»Rat
für
gegenseitige
Die Schwierigkeiten, die sich aus den nationalen Zielsetzungen der volkswirtschaftlichen Entwicklung der osteuropäischen Länder ergaben, haben
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schon bald zu Überlegungen geführt, sie durch vermehrte und institutionalisierte Kooperation zwischen den Ländern zu überwinden; neben der Balkan-Föderation wurde auch eine polnisch-tschechoslowakische erörtert. Eine überregionale wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde auch in den Vereinten Nationen diskutiert, sie war eine Forderung der Zeit, nicht zuletzt auch ein Schluß, den man aus den Erfahrungen der Jahre bis 1945 zog, und das European Recovery Program (ERP) Außenminister Marshalls verwirklichte sie, wenn auch in engerem Rahmen als beabsichtigt. Die sowjetische Führung, die noch 1947 darin eine Beeinträchtigung der nationalen Souveränität entdeckt hatte, wurde jedoch bald gewahr, daß auch die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb ihres Herrschaftsbereichs mit den bis 1948 praktizierten bilateralen Vereinbarungen Koordinationsprobleme aufwarfen, die um so größer wurden, je mehr die Volksdemokratien auf die wirtschaftliche Unterstützung durch die Sowjetunion angewiesen waren. Insbesondere die immer wieder auftretenden gravierenden Mängel in den verschiedenen Ländern, die nur durch sowjetische ad-hoc-Hilfen mühsam zu überbrücken waren, belasteten die Wirtschaft der UdSSR und stellten ihre gesamte Planung in Frage. Neben diesen ökonomischen Gründen sprachen auch machtpolitische Überlegungen für eine verstärkte wirtschaftliche Koordination innerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs. Ihre Institutionalisierung würde nicht nur das latente Mißbehagen in den vom Marshall-Plan ausgeschlossenen Ländern besänftigen, sondern der Moskauer Führung auch ein neues, zusätzliches Herrschaftsinstrument in die Hand geben, das die ideologischen, politischen und militärischen Mittel wirkungsvoll ergänzte. Der Abfall Jugoslawiens verlieh der Diskussion, die seit Mitte 1947 über eine stärkere Abstimmung der Wirtschaftspläne der einzelnen Volksdemokratien mit dem sowjetischen Plan geführt wurde (aber über den Beschluß einer stärkeren Anpassung der Außenhandelsabkommen an die wirtschaftlichen Zielsetzungen der jeweiligen Partnerländer nicht hinauskam) eine unerwartete Dringlichkeit. Intensive Gespräche auf höchster Ebene mit den Repräsentanten der verschiedenen Länder fanden in der zweiten Jahreshälfte 1948, unter anderem in Moskau und Sotschi, statt. Schließlich traten die Leiter der staatlichen Planungsbehörden Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulgariens am 5. Januar 1949 in Moskau mit ihren sowjetischen Kollegen zu einer Konferenz zusammen, die die Gründung einer gemeinsamen Organisation, des »Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe«, beschloß. Die Konferenz wurde von dem späteren Chefideologen der KPdSU, Michail Suslow, geleitet – ein deutliches Zeichen, daß die neue Institution und ihre Befugnisse sorgsam in den Rahmen der ideologischen und politischen Zielsetzung der Sowjetunion eingefügt waren. Das Protokoll der Konferenz, die am 8. Januar endete, wurde zehn Tage später von den Regierungen unterzeichnet17, am 25. Januar unterrichtete ein Kommuniqué die Öffentlichkeit. Gegenüber der innersowjetischen Diskussion 1947/48 wies das Protokoll dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, kurz RGW oder nach der angelsächsischen
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Form Comecon genannt, eine stärkere Integrationsfunktion zu: Er hatte nicht nur die Planung der einzelnen Volksdemokratien mit der sowjetischen abzustimmen, sondern sie auch untereinander zu koordinieren, wofür ein allgemeiner Wirtschaftsplan vorzulegen war. Er sollte die Entwicklung von Industrie und Ressourcen der einzelnen Länder koordinieren, und zwar mit dem Ziel, einen geschlossenen Wirtschaftsraum zu entwickeln, in dem sich die einzelnen Volkswirtschaften ergänzten und konkurrierende Entwicklungen vermieden würden. Ferner sollte er die Zusammenarbeit der Partnerländer bei industriellen Großprojekten und der Rohstofferschließung durch gemeinsame Beteiligung in Form gemischter Gesellschaften fördern, ebenso den Erfahrungsaustausch und die Standardisierung der Produktion18. Oberstes Gremium des RGW war der aus Vertretern aller Mitgliedsländer zusammengesetzte Rat, der mindestens einmal jährlich in einem der Mitgliedsländer zusammentreten sollte. Die laufenden Angelegenheiten wurden einem Büro (das Protokoll sah ein Generalsekretariat vor) übertragen, das seinen Sitz in Moskau hatte. Es wurde mit einem Dispositionsfonds von 100 Millionen Rubel ausgestattet, zu dem die Sowjetunion 50, die übrigen Signatarstaaten je 10 Millionen Rubel beizusteuern hatten. Ab 1950, so verpflichteten sich die Länder, waren die einzelnen Volkswirtschaftspläne nach den Weisungen des Rates auszurichten. Selbstverständlich sollten alle Entscheidungen des Rates nur mit Billigung des betroffenen Landes gefällt werden, wie überhaupt jeder Anschein sorgsam vermieden wurde, die souveränen Rechte der Mitgliedstaaten könnten durch den RGW beeinträchtigt werden. Doch trotz der geflissentlichen Beteuerung der Gleichberechtigung aller Partnerländer mußte allein ob der wirtschaftlichen Übermacht der Sowjetunion und der Abhängigkeit der Volksdemokratien von sowjetischen Rohstoff- und sonstigen Lieferungen ihr die dominierende Rolle in diesem Gremium zufallen. Die Volksdemokratien waren auch wirtschaftlich auf die Sowjetunion angewiesen, die ihrerseits sich ihrer Unabhängigkeit wohl bewußt war. Die konstituierende Sitzung des Rates fand vom 26.–28. April in Moskau statt; unter den Teilnehmern war auch Albanien, das sich im Februar dem RGW angeschlossen hatte. Im Gegensatz zu den Beschlüssen der Januar-Konferenz, wie sie im Protokoll enthalten sind, wurde die Tätigkeit des Büros auf die Vorbereitung der Ratssitzungen beschränkt. Es setzte sich aus den Vertretern der Mitgliedsländer und dem Sekretär des RGW zusammen, sechs Abteilungen waren für die einzelnen Problemkreise zuständig. War diese erste Tagung noch weitgehend mit Organisations- und Verfahrensfragen befaßt, so traf die zweite, vom 25.–27. August 1949 in Sofia tagende Konferenz tiefergreifende Beschlüsse. Sie hatten nicht nur den Wirtschaftskrieg der RGW-Staaten gegen Jugoslawien (das sich am 1. Februar 1949 vergeblich um Aufnahme in den Rat bemüht hatte) zur Folge, sondern sahen auch den kostenlosen Austausch technischer Dokumente zwischen den Mitgliedsländern vor. Ferner wurde vereinbart, die jährlichen Handelsabkommen durch langfristige Verträge zu ergänzen. Die dritte
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Ratstagung fand unter Teilnahme der am 29. September 1950 aufgenommenen DDR wiederum in Moskau (24.–25. November 1950) statt. Neben Fragen der gegenseitigen Hilfe für die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne stand das Problem der Verrechnungseinheit für den RGW-Binnenhandel im Vordergrund. Es verstand sich angesichts der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse von selbst, daß hierfür nur der Rubel in Frage kam. Der sogenannte Transferrubel wurde zur Standardwährung für den Intra-RGWHandel bestimmt. Dadurch erhielt die Sowjetunion, die die Währungsparitäten und Wechselkurse festsetzte, ein weiteres Mittel zur Stärkung ihrer Macht, die sie in ihrem eigenen Interesse nutzte. Stalin und seinen Beratern war an einer tatsächlich »brüderlichen Hilfe«, die angeblich die Beziehungen zwischen den kommunistischen Staaten beherrscht, in keiner Weise gelegen. Die Praxis der Preisfestsetzung für den Außenhandel mit den Volksdemokratien zeigt, daß die Sowjetunion mit Erfolg bemüht war, die Preise für Importwaren zu drücken und ihre eigenen Exporte zu verteuern. Hinzu kam die ständige Steigerung der Qualitätsanforderungen, die sich nicht in den Lieferpreisen der Volksdemokratien niederschlagen durfte. Beschwerden wies man in Moskau mit dem Argument zurück, die Volksdemokratien seien zur Unterstützung der Sowjetunion in ihrem »Kampf gegen den Imperialismus« verpflichtet. Nun hat der Korea-Krieg die sowjetische Wirtschaft zweifellos belastet – er war der UdSSR freilich auch nicht aufgezwungen worden. Man wird bei den sowjetischen Preissteigerungen im Handel mit den Volksdemokratien auch berücksichtigen müssen, daß die Erschließung neuer Rohstoffquellen einen hohen Kapitaleinsatz erfordert, doch rechtfertigt dies die ausbeuterische Praxis bei weitem nicht. Ein Widerstand dagegen war jedoch aussichtslos. Die Ausrichtung des Handels auf die Sowjetunion war schon zu weit fortgeschritten: für Bulgarien machte der Anteil des Handels mit der UdSSR im Jahre 1950 67, für Rumänien 55, die DDR 40, für die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen 27% des gesamten Außenhandelsvolumens aus19. Eine wirklich integrative Funktion hat der RGW während der Stalin-Ära nicht erreicht; was an Kooperation geschaffen wurde, ging über das Maß des international Üblichen nicht hinaus, ja es blieb, verglichen mit den Ergebnissen der Integration Westeuropas, weit hinter dem Möglichen zurück. Die ursprünglichen Pläne zu einer Arbeitsteilung zwischen den RGW-Ländern wurden nicht weiter verfolgt; die Errichtung nationaler Hüttenwerke in Plovdiv (Bulgarien), Galaţi (Rumänien), Sztálinváros (heute: Dunaújváros, Ungarn) und Stalinstadt (heute: Eisenhüttenstadt, DDR), deren Produktion zum Teil oder völlig auf Erz- und Kohleimporte angewiesen war, widersprach dieser Absicht gänzlich. Erreicht wurde allerdings ein gewisser Abbau nationaler Ressentiments, etwa im Hinblick auf die DDR, der Hand in Hand mit einer entsprechenden massiven ideologischen Indoktrinierung ging, letztlich aber von der Einsicht in die Zweckmäßigkeit bestimmt wurde. Eine wirkliche Gleichberechtigung der Volksdemokratien hat Stalin auch auf wirtschaftlichem
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Gebiet stets abgelehnt; dies gestattete weder das permanente Mißtrauen noch der Superioritätsanspruch des »großen Führers«. Zu seinen Lebzeiten kam der Rat nicht über eine instrumentale Funktion im Rahmen der sowjetischen Machtpolitik hinaus. Weitergehende Befugnisse, die die Interessen der Sowjetunion, wie sie Stalin verstand, hätten tangieren können, wurden dem Rat nicht eingeräumt. Auch die Handelsabkommen durften, wie erwähnt, nur bilateral geschlossen werden, da hierbei die UdSSR ihr wirtschaftliches Übergewicht zu ihren Gunsten ins Spiel bringen konnte und nicht Gefahr lief, majorisiert zu werden (was unter den herrschenden Verhältnissen freilich ohnehin nicht denkbar war). Erst nach Stalins Tod konnte unter seinen Nachfolgern der Rat seiner ursprünglichen Bestimmung, die Wirtschaftsentwicklung der RGW-Länder entsprechend deren Interessen zu koordinieren und zu fördern, in stärkerem Maße nachkommen. V. Die letzten Jahre der Stalin-Herrschaft a) Das Fernost- und das Deutschland-Problem Die auffallend dilatorische Behandlung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe und das Desinteresse der sowjetischen Führung an der Verwirklichung ihrer anfangs so nachdrücklich betriebenen Integrationspläne ist weniger den Vorbehalten zuzuschreiben, denen diese bei den kommunistischen Führern der Volksdemokratien begegneten, als vielmehr einer Verlagerung des Schwerpunktes der sowjetischen Machtinteressen. Die Voraussetzungen hierfür waren Ende 1948 gegeben: Das osteuropäische Vorfeld befand sich fest in der Hand Moskaus, war durch eine Vielzahl vertraglicher, institutioneller und personeller Bindungen abgesichert, eventuelle Risikofaktoren – etwa die »nationale Abweichung« – stellten die sowjetische Hegemonie nicht mehr ernstlich in Frage und wurden in der Folgezeit mühelos beseitigt. Hingegen zeichnete sich in Ostasien seit dem Jahre 1948 eine Entwicklung ab, die in hohem Maße die Aufmerksamkeit der sowjetischen Führung erforderte: die Auseinandersetzung zwischen den Kommunisten und der Kuo Min-tangRegierung in China nahm einen in Moskau nicht vorhergesehenen Verlauf. Die sowjetische Führung hatte nicht nur während des Zweiten Weltkrieges, als dies aus Rücksicht auf die westlichen Alliierten geboten schien, sondern auch 1945 und 1946 die KP Chinas unter Mao Tse-tung zu loyaler Zusammenarbeit mit der Kuo Min-tang angehalten; sie hat auch die Chiang Kai-shek-Regierung bis zu ihrem Zusammenbruch als legitime staatliche Repräsentanz des chinesischen Volkes behandelt. Stalin, der die Kuo Min-tang aufgrund ihrer Unterstützung durch die USA als politisch und militärisch stärkste Kraft Chinas einschätzte, hatte zudem gute Gründe, die labile Herrschaft der Kuo Min-tang, die man, falls erforderlich, durch Aktionen der chinesischen Kommunisten gefügig machen konnte, vorzuziehen: die Errichtung eines kommunistischen Staates mußte, langfristig gesehen, eine Macht an der empfindlichen Ostflanke
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der Sowjetunion erwachsen lassen, die aufgrund ihres Eigengewichtes die Durchsetzung sowjetischer Interessen zumindest beeinträchtigen konnte. Außerdem war das Verhältnis der sowjetischen Führung zu Mao Tse-tung in der Vergangenheit nicht ungetrübt gewesen. Mao hatte – entgegen dem Votum der Komintern-Führung – nach dem Desaster der chinesischen Kommunisten im Jahre 1927 auf die revolutionäre Kraft der Bauern gesetzt, er willigte auch nicht in die Empfehlung ein, sich an der Kuo Min-tang-Regierung nach dem Kriege zu beteiligen. Als im Sommer 1948 die heillose Verfassung des Chiang Kai-shekRegimes offenkundig wurde und die kommunistische Armee ihren raschen Vormarsch begann, wuchs die Besorgnis im Kreml, die durch die Erfahrungen mit Jugoslawien bestärkt wurde; die dortige kommunistische Machtergreifung war ja ebenfalls überwiegend von Bauern und Intellektuellen getragen worden. Die Besorgnis war berechtigt: im Verlauf des Herbstes eroberte Maos Armee die Mandschurei, am 31. Januar 1949 kapitulierte Peking, und noch während die letzten Reste der Kuo Min-tang-Truppen aus dem Süden des Landes vertrieben wurden, rief Mao Tse-tung am 1. Oktober 1949 die »Volksrepublik China« aus. Nach dieser Entscheidung beeilte sich die sowjetische Führung, den Tatsachen Rechnung zu tragen. Wenige Tage nach der Proklamation des neuen Staates erfolgte seine Anerkennung durch die Regierung der UdSSR, und im Dezember reiste Mao zu Verhandlungen nach Moskau. Sie erwiesen sich als höchst langwierig und schwierig, erst am 14. Februar 1950 wurde der Freundschafts-, Bündnis- und Beistandspakt mit einer Laufzeit von dreißig Jahren unterzeichnet. In weiteren Verträgen verzichtete die Sowjetunion auf ihre Sonderrechte an der Ostchinesischen (Chang-chun-) Eisenbahn, die nach Abschluß eines Friedensvertrages mit Japan, spätestens aber bis Ende 1952, zurückgegeben werden sollte; die gleiche Terminierung galt für die Rückgabe der Häfen von Port Arthur und Dairen (aufgrund des Abkommens vom 25. September 1952 vollzog sich die Rückgabe bis Ende dieses Jahres). Mao mußte der Sowjetunion hingegen gewisse Rechte in Sinkiang und der Inneren Mongolei einräumen, die Stalin als sowjetische Interessensphäre ansah, auch anerkannte er die Souveränität der Mongolischen Volksrepublik. Enttäuscht wurden die chinesischen Hoffnungen auf größere sowjetische Kredite: die Sowjetregierung räumte China nur die relativ bescheidene Summe von 300 Millionen Dollar ein (im Vorjahr hatte sie Polen 450 Millionen gewährt), was bei den Chinesen eine gewisse Verstimmung hervorrief. Doch kam ihnen Stalin anderweitig entgegen. Er sandte dem neuen China eine große Zahl sowjetischer Berater und Fachleute, die den Aufbau der neuen Ordnung auf allen Gebieten unterstützten. Damit aber hatte er nach dem in den osteuropäischen Ländern praktizierten Modell nicht nur einen umfassenden Einblick in die chinesischen Angelegenheiten, sondern zugleich ein Instrument, unerwünschten Aktionen oder Entwicklungen zumindest gegenzusteuern. Der wirtschaftliche Aufbau wurde auch hier durch gemischte sino-sowjetische Gesellschaften weitgehend kontrolliert. Die Bewunderung vieler chinesischer Kommunisten für die Sowjetunion, das erste
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sozialistische Land, und seine innen- wie außenpolitischen Erfolge bereitete den Boden für die »Freundschafts«-Bewegung, die die Sowjetunion als Vorbild und Lehrmeister propagierte und die den gleichen Stalin-Kult pflegte, der schon in den Volksdemokratien üblich geworden war. Der Sieg der KP Chinas aber hatte weiterreichende Bedeutung, denn er machte sichtbar, wie instabil die Nachkriegsordnung in Ostasien war. Auch das Engagement der USA hatte es nicht vermocht, einer revolutionären kommunistischen Offensive zu begegnen. Malenkows Rede vom 6. November 1949 machte deutlich, was sich die Sowjetunion in Asien erhoffte. Das kommunistische Regime in Nordkorea, das während der sowjetischen Besetzung des Gebietes etabliert und seit März 1949 durch einen Vertrag über wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit der UdSSR verbunden war, fühlte sich als erstes durch das chinesische Beispiel und Moskaus Unterstützung zu revolutionären Taten ermuntert; seine Truppen fielen in den Südteil des Landes ein, und der Korea- Krieg mit all seinen Komplikationen verwickelte ungeachtet ihrer Neutralität auch die Sowjetunion in diesen Konflikt. Mit Aufmerksamkeit betrachtete die sowjetische Führung auch die Entwicklung in anderen Teilen Asiens. Der Zusammenbruch der europäischen Vorherrschaft und die Auflösung der großen Kolonialreiche ließen machtpolitisch verdünnte Zonen in Asien und Afrika zurück, in die einzudringen die Sowjetunion sich bemühte, sei es auf staatlicher Ebene mittels der Diplomatie, sei es im ideologischen Bereich mittels der Propaganda. Ansatzpunkte hierfür boten vor allem die nationalen Freiheitsbewegungen, die zu infiltrieren man sich angelegen sein ließ. Wenn diesen Aktivitäten auch häufig der Erfolg versagt blieb und sie Gegenaktionen hervorriefen, so erzwangen solche Störmanöver – angesichts der Schwäche der beteiligten kommunistischen Kräfte und ihres oft von ideologischer Befangenheit gekennzeichneten Taktierens lassen sie sich kaum anders bezeichnen – doch die Aufmerksamkeit der westlichen Welt, banden sie Kräfte und Machtmittel, vor allem der USA, und verschafften der Sowjetunion in Europa die benötigte Entlastung. Hier hatten inzwischen die Westmächte ihre Bemühungen um die Integration der nichtkommunistischen Staaten folgerichtig fortgesetzt. Nach der Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes und dem Zusammenschluß der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands im April 1949 konstituierte sich im September jenes Jahres die Bundesrepublik Deutschland. Die Sowjetunion ließ hierauf mit der Gründung der »Deutschen Demokratischen Republik« (DDR) antworten, die als Gegenstaat zum »westdeutschen Staat des Monopolkapitals« am 7. Oktober 1949 proklamiert wurde. Die auf der Schreiberhauer Konferenz von Shdanow konstatierte Spaltung der Welt in zwei »Lager« war nun auch auf deutschem Boden manifest geworden: mit zwei konkurrierenden Staaten, die beide den Anspruch auf die Vertretung der gesamtdeutschen Interessen erhoben. Die kommunistische Propaganda stellte diesen Schritt als eine notwendige Reaktion auf die Gründung der Bundesrepublik dar, doch in Wirklichkeit
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formalisierte der Gründungsakt nur die in der SBZ schon seit 1945 geübte Praxis der Schaffung eigenstaatlicher Institutionen. Ein Anfang war bereits mit der Errichtung der elf »Deutschen Zentralverwaltungen« durch den Befehl Nr. 17 der Sowjetischen Militär-Administration Deutschlands (SMAD) vom 27. Juli 1945 gemacht worden. Sie gingen zum Teil in die am 14. Juni 1947 als Gegenstück zum Wirtschaftsrat der Bizone Westdeutschlands geschaffene »Deutsche Wirtschaftskommission« (DWK) ein, die ab Februar 1948 die Kompetenz erhielt, für das gesamte Gebiet der SBZ verbindliche Entscheidungen zu fällen. Mit der Ende 1947 beginnenden »Volkskongreß-Bewegung« sollte dann auch eine Art Vorparlament geschaffen werden, das schließlich auf seinem dritten Kongreß einen »Volksrat« konstituierte, der am 19. März 1949 eine Verfassung beschloß, die der Kongreß am 30. März annahm. Der »Volksrat« agierte denn auch am 7. Oktober als »Provisorische Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik«. Es bedurfte nur der Umbenennung der bereits bestehenden administrativen Zentralorgane und der zusätzlichen Schaffung der Ministerien für Staatssicherheit und äußere Angelegenheiten, um über einen funktionsfähigen Regierungsapparat zu verfügen. Ungeachtet aller demokratischen Verbrämungen, wie sie sich im Text der Verfassung fanden, garantierte die Praxis der Machtverteilung und -ausübung die Vorherrschaft der SED; auch die Besetzung einer Reihe von Staatsämtern durch Mitglieder der sogenannten »Blockparteien« änderte daran nichts, denn diese Parteien waren inzwischen gleichgeschaltet worden. Das Zugeständnis an die »bürgerlichen Kräfte« war lediglich auf die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und des Westens gemünzt. Um Einwirkung auf die westdeutsche Bevölkerung blieb die SED-Führung auch weiterhin bemüht. Der neue Staat, der mit dem in der Verfassung verankerten Anspruch des »wahren« Deutschland und als vorgeblicher Vertreter der Interessen der »Werktätigen« auftrat, suchte auch in der Folgezeit mittels der im Oktober 1949 geschaffenen »Nationalen Front« die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Deutschlands – nach sowjetischen Vorstellungen – in der Bundesrepublik zu aktivieren, wobei man sich des Appells an patriotische Gefühle und nationale Interessen unter Stimulierung antiparlamentarischer, antiwestlicher und antikapitalistischer Ressentiments bediente, die als Relikte der Vergangenheit durchaus noch virulent – wenn auch nicht politisch bestimmend -waren. Am 15. Februar 1950 verabschiedete der »Nationalrat«, das kurz zuvor geschaffene Führungsgremium der Nationalen Front, ein Programm, das u.a. die »Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden und unabhängigen Deutschlands und Wiederherstellung der politischen und wirtschaftlichen Einheit Berlins als der Hauptstadt Deutschlands« forderte20. Angesichts der Wirklichkeit des »ersten deutschen Staates der Arbeiter und Bauern«, wie die SED ihre Schöpfung bezeichnete, konnten die Inspiratoren der Nationalen Front nicht ernstlich mit einem Erfolg ihrer Wiedervereinigungsbemühungen unter den von ihnen gestellten Bedingungen
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rechnen, zumal die Bevölkerung Westdeutschlands durch den zunehmenden Flüchtlingsstrom aus dem Herrschaftsbereich der SED von den dortigen Verhältnissen immer neue Kunde erhielt. Die »Bewegung« war denn auch primär als Instrument der »Westpropaganda« gedacht, um die Integration der Bundesrepublik in das westeuropäische Bündnis- und Vertragssystem nach Möglichkeit zu stören und die Einbindung der DDR in den sowjetischen Machtbereich zu verschleiern. Darüber hinaus diente sie auch dazu, die in der eigenen Bevölkerung gehegte Hoffnung auf Wiedervereinigung nicht zu einer nationalen Identifikation mit der Bundesrepublik werden zu lassen. Von einer Einbeziehung der SBZ in das System der RGW-Länder hatte die sowjetische Führung bisher Abstand genommen; denn ein derartiger Schritt wäre einer Vorentscheidung in der Deutschlandfrage gleichgekommen, er ließ sich nicht, wie die Einrichtung zentraler Verwaltungsbehörden, als vorbereitende Maßnahme für eine gesamtdeutsche Lösung ausgeben. Zwar hatte die Sowjetunion seit 1947 die SBZ zunehmend fester an sich gebunden, doch behielt man die Regelung aller zwischenstaatlichen Fragen einer gesamtdeutschen Regierung vor. Was an wirtschaftlichen Beziehungen der SBZ mit den RGWLändern aufgebaut worden war, bewegte sich im Rahmen eines normalen bilateralen Handels, basierte auf kurzfristigen Abmachungen. Bis zur Gründung der Bundesrepublik hielt die Moskauer Führung stets die Option auf eine deutsche Wiedervereinigung offen. Sie hat allerdings nie einen Zweifel daran gelassen, daß eine gesamtdeutsche Lösung den sowjetischen Vorstellungen entsprechen müßte. Als Vorbedingung einer Vereinigung der verschiedenen Besatzungszonen hätten im westlichen Deutschland zumindest ähnliche, wenn nicht gleiche soziale und wirtschaftliche Veränderungen wie im sowjetischen Besatzungsgebiet 1945–1947 vollzogen werden müssen. Zwar hatte die sowjetische Führung ab Mitte 1947 als Minimallösung der Errichtung eines kommunistischen deutschen Teilstaates Priorität eingeräumt, doch ließ man die Möglichkeit einer Maximallösung nicht außer acht, wobei freilich die Einbeziehung Gesamtdeutschlands in den sowjetischen Hegemonialbereich – und sei es auf dem Weg über eine interimistische Finnlandisierung – als endgültige Lösung angestrebt wurde. Das kommunistische Finassieren in der Frage einer gesamtdeutschen Konstituante, des Wahlverfahrens u.a.m. zielte ausschließlich darauf ab, optimale Vorbedingungen für die SED und ihre politischen Ziele zu schaffen. Die kommunistische gesamtdeutsche Politik bewegte sich dabei auf der Linie der Volksfront- Taktik, auch nachdem sie in der SBZ selbst durch die offene Vorherrschaft der SED bereits abgelöst war; die »Nationale Front« führte diese Politik dann fort, die einen erweiterten »Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien« als Vorstufe einer kommunistischen Machtergreifung in ganz Deutschland intendierte. Angesichts der Entwicklung im demokratischen Teil Deutschlands schien dies illusionär, hatte aber mehr als bloß defensive Bedeutung, etwa als Antwort auf die Wiedervereinigungsforderung der Bundesrepublik: Bei einer krisenhaften
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Zuspitzung der sozio-ökonomischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, die sich nach marxistischem Dogma zwangsläufig ergeben mußte, war hier der Ansatz für eine offensive kommunistische Wiedervereinigungspolitik gegeben. Die Gründung der Bundesrepublik befreite die sowjetische Führung nun im Hinblick auf das Verhältnis der DDR zu den RGW-Ländern von jeglicher Rücksichtnahme auf eine hypothetische gesamtdeutsche Regelung. Die SEDFührung durfte darangehen, die bereits bestehenden Bindungen des neuen Staates an die Sowjetunion auch völkerrechtlich abzusichern und durch entsprechende Abkommen mit den anderen kommunistischen Ländern zu erweitern. Stalin hatte der veränderten Konstellation in seinem Glückwunschtelegramm vom 13. Oktober 1949 an die DDR-Führung beredten Ausdruck verliehen: »Die Erfahrung des letzten Krieges hat gezeigt, daß das deutsche und sowjetische Volk ... die größten Potenzen in Europa zur Vollbringung großer Aktionen von Weltbedeutung besitzen.«21 Dem Beispiel der Aufnahme staatlicher Beziehungen durch den am 15. Oktober 1949 erfolgten Austausch diplomatischer Vertreter zwischen Moskau und Ost-Berlin folgten die anderen RGW-Staaten wenig später nach. Auch die zentrale Frage des deutschpolnischen Verhältnisses wurde nun geregelt. Die Entscheidung über die deutschen Ostgebiete, die nach alliiertem Beschluß 1945 vorläufig, bis zu einer Friedensregelung, unter polnische Verwaltung gestellt worden waren, besaß für Polen vitale politische Bedeutung. Die Annexion der – nach polnischem Sprachgebrauch – »wiedergewonnenen Westgebiete« wurde als Entschädigung für die von der Sowjetunion annektierten Gebiete Ostpolens aufgefaßt, sie wurde geradezu zur Lebensfrage der Nation erklärt; in der Forderung nach ihrer völkerrechtlich sanktionierten Integration in den polnischen Staat standen nicht nur alle politischen Kräfte in Polen zusammen, sie fand auch die Zustimmung des größten Teils der polnischen Emigration und stellte so einen weitreichenden nationalen Konsens mit der Warschauer Regierung her. Die sowjetische Führung hat die polnischen Ansprüche sehr bald unterstützt, denn solange deutscherseits auf jene Gebiete nicht definitiv verzichtet worden war, blieb Polen auf sowjetische Hilfe und Rückendeckung in dieser innenpolitisch so wichtigen Frage angewiesen. Es ist symptomatisch, daß die Entscheidung schließlich von den Führern der kommunistischen Parteien der beiden betroffenen Länder gefällt wurde: Eine Besprechung Ulbrichts, als getreuer Gefolgsmann Stalins Schlüsselfigur in der SED-Führung, mit den Führern der PZPR in Warschau endete am 6. Juni 1950 mit der Unterzeichnung einer Erklärung, in der Ulbricht die Oder-Neiße-Grenze als »unantastbar« und als »Friedens- und Freundschaftsgrenze« anerkannte. Die staatliche Vereinbarung erfolgte einen Monat später: Am 6. Juli unterzeichneten die Außenminister in Görlitz den entsprechenden Grenzvertrag. Mit diesem Vertrag waren die letzten Vorbehalte gegen eine vollständige Integration der DDR als gleichberechtigter Partner der Volksdemokratien in das RGW-System beseitigt, am 29. September 1950 erfolgte ihre Aufnahme in den Rat.
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Auch innenpolitisch fühlte sich die SED-Führung nun jeglicher Rücksichtnahme auf gesamtdeutsche Empfindlichkeiten enthoben. Mit allem Nachdruck und unter Einsatz aller verfügbaren Mittel wurde die »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« betrieben, die noch verschonten Kleinbetriebe in Industrie und Handel verstaatlicht oder mittels einer staatlichen »Beteiligung« unter Kontrolle gebracht, Handwerker und Bauern in die kollektiven Genossenschaften getrieben, der Kampf gegen die Kirchen mit aller Schärfe aufgenommen. Auch in anderen Bereichen bemühte sich die SEDFührung, möglichst rasch mit den anderen RGW-Ländern gleichzuziehen. Auf dem III. Parteikongreß der SED (20.–24. Juli 1950) wurde Ulbricht Generalsekretär der Partei, die Delegierten billigten den Fünfjahrplan für die Jahre 1951–1955, ein neues Parteistatut wurde angenommen, das die bisher schon geübte Praxis einer »monolithischen« stalinistischen Kaderpartei noch verstärkte. Der Ausbau der sogenannten »Kasernierten Bereitschaften« (Juli 1948), die im Oktober 1952 in »Kasernierte Volkspolizei« umbenannt wurden, zu militärischen Einheiten ging rasch voran, seit 1951 wurden sie um Luft- und Seestreitkräfte erweitert, ein Jahr später verfügten sie über sieben Divisionen mit rund 100000 Mann. Auch der staatliche Aufbau wurde durch eine Verwaltungsreform (23. Juli 1952) zentralisiert, die die früheren Länder und die letzten föderalistischen Relikte beseitigte. Gleichzeitig nahm man den Beitritt der Bundesrepublik zum EVG-Vertrag zum Anlaß, die innerdeutsche Grenze hermetisch abzusperren. So konnte die II. Parteikonferenz der SED (9.–12. Juli 1952) Ulbrichts Vorschlag folgend beschließen: »Die politischen und die ökonomischen Bedingungen sowie das Bewußtsein der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen sind soweit entwickelt, daß der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist.«22Damit hatte die DDR auch offiziell mit den Volksdemokratien gleichgezogen, die gleiche Etappe in der programmierten Entwicklung sozialistischer Staaten erreicht. Die vollständige Einbeziehung der DDR als gleichberechtigter Partner, die auch die Stellung der SED in der Kominform-Organisation bestimmte, konnte allerdings im Frühjahr 1952 kurzfristig gefährdet erscheinen. Stalins Note zur Deutschlandfrage vom 10. März23 schien überraschend sowjetische Bereitschaft zu Zugeständnissen zu signalisieren. In ihr schlug Stalin den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland auf der Basis des Potsdamer Abkommens vor und offerierte Deutschland den Status der »bewaffneten Neutralität«. Das Angebot mochte Teil eines sowjetischen Vorstoßes sein, der der Beunruhigung über die fortschreitende Integration des westlichen Europa und über die Ausweitung der westlichen Verteidigungsallianz durch den Beitritt Griechenlands und der Türkei zur NATO entsprang. Den Erörterungen über die Stärkung des westlichen Verteidigungspotentials in Europa stellte die Sowjetunion seit Ende 1951 den Gedanken gegenüber, einen Gürtel neutraler Staaten von Skandinavien bis Italien zu schaffen – wobei Jugoslawien östlich der
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Trennungszone der Blöcke geblieben wäre. Deutschland sollte nun, so konnte man die Note verstehen, den mittleren Teil dieses Sicherheitskordons bilden. Das sowjetische Anerbieten kam just zu der Zeit, als die Einbeziehung der Bundesrepublik in das westliche politische und militärische Allianzsystem vor dem vertraglichen Abschluß stand. Es wurde daher überwiegend als bloßes Störmanöver betrachtet, zumal angesichts der bisherigen Erfahrungen wohlbegründete Zweifel bestanden, ob die sowjetische Führung in diesem Falle von ihrer sonst geübten Praxis abweichen werde, im Verlauf von Verhandlungen immer neue und weiterreichende Forderungen vorzubringen und im Falle ihrer Ablehnung die Gespräche abzubrechen, ob Stalin mit seinem Angebot also nur auf Zeitgewinn spielte. Die Ablehnung hatte jedoch tiefere Gründe. Mit der Zugrundelegung des Potsdamer Abkommens hätte Stalin nicht nur die OderNeiße-Grenze definitiv gemacht, sondern der Sowjetunion auch wieder Aussicht auf eine Beteiligung an der Ruhrkontrolle und hinreichend Handhaben für eine direkte Einflußnahme auf die Entwicklung in ganz Deutschland verschafft. Darüber hinaus wäre durch die Neutralisierung Deutschlands die Position des Westens in Europa entscheidend geschwächt und eine politische und militärische Instabilität in diesem Raum herbeigeführt worden, die angesichts der offenbar expansiven Zielsetzung der sowjetischen Politik, wie sie eben im Korea-Krieg wieder sichtbar geworden war, langfristig nicht nur das wiedervereinigte Deutschland, sondern ganz Europa unter sowjetischen Einfluß und schließlich sowjetische Herrschaft bringen konnte. Nach der Aufteilung Deutschlands durch die Eingliederung der beiden deutschen Staaten in die politisch, militärisch und wirtschaftlich miteinander konkurrierenden Gesellschaftssysteme blieben in Europa aus der Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkrieges noch zwei offene Fragen. In Österreich war ein kommunistischer Staatsstreich schon angesichts der 1948 erwiesenen festen Haltung der Gewerkschaften und der Arbeiterschaft undurchführbar, in Berlin hatten die Kommunisten dank der Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht zwar die Herrschaft über den Ostteil der Stadt usurpieren können, der dann zur Hauptstadt der DDR deklariert wurde, nicht jedoch über die drei westlichen Sektoren. Beide Fragen hatten aber der sowjetischen Führung Faustpfänder beschert, die es erlaubten, zu gelegener Zeit den Dialog mit dem Westen wiederaufzunehmen, gegebenenfalls auch zu erzwingen. b) Das System des Stalinismus Auch nachdem in den RGW-Staaten die Alleinherrschaft der kommunistischen Parteien gesichert war und überdies die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen entsprechend der Doktrin revolutioniert worden waren, blieb die Herrschaft Moskaus innerhalb des sog. Ostblocks bis zum Tode Stalins unverändert bestehen, ebensowenig änderten sich die herrschaftserhaltenden
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Methoden. Von dem propagierten Modell, das der Sowjetunion die Rolle eines primus inter pares zuschrieb, war die Wirklichkeit weit entfernt. Stalin wich auch nach 1949 nicht davon ab, die gesamte Fülle der Macht in seinen Händen vereinigt zu halten. Er ließ den Führungen der einzelnen kommunistischen Länder nur die Rolle politischer Subzentren, deren Entscheidungskompetenz durch die eng gehaltenen Rahmenrichtlinien der Moskauer Zentrale scharf begrenzt wurden. Es besagte dagegen wenig, daß KP-Führer wie Gheorghiu-Dej, Gottwald u.a. in ihren Ländern in ähnlicher Weise als »Führer« herausgestellt wurden wie in der Sowjetunion Stalin selbst – dem freilich das Epitheton »weise« alleine vorbehalten blieb. Der Führerkult in den Volksdemokratien war nicht mehr als eine geringe Entschädigung für die subalterne Stellung der KP-Chefs, entsprach zudem sowjetischer Praxis und sollte den KP-Führern größeres Ansehen in ihrem eigenen Volk verleihen. Der strikte Zentralismus war nach Auffassung der sowjetischen Führung um so mehr erforderlich, als trotz aller Erfolge und Sicherungsmaßnahmen die Position der kommunistischen Parteien in den RGW-Ländern noch keineswegs so weit gefestigt war, daß sie ohne sowjetische Unterstützung einer von außen her geförderten krisenhaften Situation hätten Herr werden können. Letztlich also war es die Sowjetunion, die mit ihrer Macht den Aufbau des Sozialismus garantierte. Dementsprechend war die Stärkung dieser Macht absolut vorrangig, ihr hatten sich alle nationalen Interessen unterzuordnen. Als im Sommer 1952 die USA von der Containmentzur Roll-back-Politik gegenüber der kommunistischen Bewegung überzugehen schienen und in der Tat antikommunistische Kräfte in den RGW-Ländern politisch zu unterstützen suchten, konnte sich Stalin mit seiner These von der Bedrohung des sozialistischen Lagers gerechtfertigt sehen. Der seit 1949/50 zunehmende Druck zwang überdies die Führer der RGW-Länder, im Interesse der Machterhaltung nicht nur alle potentiellen Gegner so rasch als möglich auszuschalten (was wiederum zu einer Zuspitzung der inneren Situation beitrug), sondern sich auch dem sowjetischen Zentralismus widerspruchslos zu unterwerfen. Die strikte Unterordnung erachtete die sowjetische Führung auch deshalb als notwendig, weil zwischen den einzelnen Ländern ungeachtet der Übernahme des stalinistischen institutionellen und methodischen Herrschaftsinstrumentariums durchaus Unterschiede bestehenblieben, sei es als Relikte ihrer Traditionen oder der überkommenen Wirtschaftsstruktur, sei es aufgrund der personellen Besonderheiten ihrer Repräsentanten und Führungsgremien. Von einer Inkorporation der Volksdemokratien als Sowjetrepubliken in die UdSSR, die 1948–1950 zumindest erwogen wurde und die der sowjetischen Führung die Koordination der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Potenzen des RGW-Raumes erleichtert hätte, hat Stalin jedoch Abstand genommen. Das System der direkten und indirekten Kontrollen, das die Sowjetunion über die Länder ihres Machtbereichs gebreitet hatte, sicherte ihre Herrschaft vollauf.
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Es gehört zum Wesen des Stalinismus, daß diese Herrschaftsform nicht nur autokratisch ist, auf die Person des Inhabers der Macht fixiert, und dabei Züge des Cäsaro-Papismus aufweist, sondern auch durch ein System vielfältiger und sich überlagernder Kontrollmechanismen den einzelnen isoliert und den Machthaber zur ausschließlichen Bezugsperson seiner Loyalität erhebt, um unkontrollierten Solidarisierungen und einer potentiellen Schwächung der Alleinherrschaft vorzubeugen. Die permanente Versicherung der Ergebenheit – mehr durch die Tat denn das Wort – wird zur Voraussetzung jeder irgendwie gearteten Teilhabe an der Macht, ja sie entscheidet über Wohl und Wehe des einzelnen. Da der Autokrat über das rechte Maß der bezeugten Loyalität befindet, bleibt das Individuum in fortwährender Ungewißheit; da vergangene Verdienste nicht zählen, steht es unter einem ununterbrochenen Rechtfertigungsdruck. Die kalkulierte Atmosphäre der Unsicherheit und des Mißtrauens gegen jedermann, wie sie im Parteipostulat der »proletarischen Wachsamkeit« ihren Ausdruck findet, legte sich auch über die Volksdemokratien. Diesem höchst wirksamen Herrschaftsinstrument waren – wie Stalins Mitarbeiter selbst – auch die Führer der einzelnen RGW-Länder unterworfen. Für die Beziehungen zwischen den Volksdemokratien hatte dies zur Folge, daß die bis zum Abfall Jugoslawiens regen Kontakte auf Partei- und Regierungsebene mehr und mehr gedrosselt wurden; auch der technologische und wissenschaftliche Austausch ging zurück, ja selbst der grenzüberschreitende Verkehr wurde reduziert. Hingegen nahm die Zahl der Moskau-Reisenden zu. Der gesamte Informationsaustausch der RGW-Länder verlief über die Moskauer Zentrale, die dadurch über alle Entwicklungen wohlunterrichtet blieb und zugleich über ein Informationsmonopol verfügte. Denn auch hier sah die sowjetische Führung darauf, daß die Gespräche stets nur bilateral, d.h. mit den zuständigen sowjetischen Stellen geführt wurden. Ihnen war es überlassen, die in einem bestimmten RGW-Land gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen auch an andere RGW-Länder weiterzuleiten oder sie im Interesse der sowjetischen Vormachtstellung zurückzuhalten. Gemeinsame Beratungen hätten eine gewisse Kontrolle der Entscheidungsfindung erlaubt, die Bilateralität aller Verhandlungen aber ermöglichte es, die einzelnen Länder und ihre Repräsentanten gegeneinander – unkontrolliert – auszuspielen. Dies trug nicht nur zur Beflissenheit gegenüber der sowjetischen Führung bei, sondern steigerte zugleich den Nimbus des allgewaltigen Stalin, dessen Person und dessen Verdienste um die Sowjetunion in mythische Gefilde entrückt wurden: Er war zugleich der siegreiche Feldherr des Zweiten Weltkrieges, der Erbauer des Sozialismus, der weise Staatsmann und der gütige Vater der Völker der Sowjetunion und der Volksdemokratien. So wird verständlich, weshalb die nationalen KP-Führer nach Moskau drängten: Ihr eigenes Prestige wurde durch die Gunst Stalins erhöht, und sie erhielten hier Kenntnis, wie die politische, militärische und wirtschaftliche Lage in Moskau eingeschätzt wurde, so daß sie imstande waren, den Wandlungen der »Parteilinie«, wie die aus Moskau
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kommenden Direktiven bezeichnet wurden, rechtzeitig Rechnung zu tragen. Das war für sie um so notwendiger, je stärker die kommunistische Herrschaft in ihrem Lande gefestigt war; im gleichen Maße nämlich glaubte sich die sowjetische Führung von Rücksichtnahmen auf »nationale Besonderheiten« entbunden. Die Personalisierung der Herrschaftsbeziehung zwischen der Sowjetunion und den Volksdemokratien, die sich so aus der Parteistruktur und Stalins Führungsanspruch ergab, wurde von einer weiteren Entstaatlichungsmaßnahme begleitet: der Verlagerung der Intra-RGWBeziehungen von der diplomatischen auf die Parteiebene. Die im ZK der KPdSU eingerichtete »Sektion für die Beziehungen zu den kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder« fungierte gleichsam als Zentrale und Leitstelle der Intra-RGW-Beziehungen, ein Zeichen für die Unterordnung eigenstaatlicher nationaler Interessen unter jene der Partei und ihrer Ideologie. Die Befolgung der von Moskau ergangenen Richtlinien und Anweisungen wurde durch ein reichhaltiges Instrumentarium an Sicherungsmechanismen ergänzt. Am offenkundigsten war die Kontrollfunktion der sowjetischen Botschafter, denen als Vertreter Stalins und Sachwalter sowjetischer Interessen nicht nur Einsicht in sämtliche innerparteilichen und innerstaatlichen Vorgänge zu gewähren war, sondern die sich auch durch eigene Nachrichtennetze in den Volksdemokratien zusätzliche Informationen beschafften. Sie beanspruchten darüber hinaus in zunehmendem Maße Entscheidungskompetenzen, die die vertraglich zugesicherte und verbal immer wieder beschworene Souveränität der Volksdemokratien zur Farce werden ließen: Tatsächlich waren sie bloße Satellitenstaaten der Sowjetunion. Weitere Garanten der sowjetischen Herrschaft bildeten Geheimpolizei und Streitkräfte der Volksdemokratien. In den ehemaligen Feindstaaten waren beim Neuaufbau der Armeen, der unter Anleitung und Aufsicht sowjetischer Militärs vor sich ging, nur Kommunisten mit Offiziersstellen betraut worden, die höheren Chargen besetzten Emigranten, die während des Zweiten Weltkrieges auf Seiten der Sowjetunion gekämpft hatten. Schwieriger war die Konstellation in der ČSR und in Polen, doch wurden auch hier die Vorkriegsoffiziere, die oftmals in Frankreich ihre Ausbildung erhalten hatten, durch zuverlässige Kommunisten ersetzt. In Polen wurden zudem die Angehörigen der Untergrundarmee (Armia Kraiowa) und der Westverbände (Anders-Armee) allmählich ausgesondert; der Kern der neuen Streitkräfte bestand aus jenen Verbänden, die unter sowjetischem Oberkommando gekämpft hatten, aus deren Reihen auch die Kommandeursposten besetzt wurden. Da Polen als Nachbar der DDR besondere Bedeutung zukam, aber auch als relativ instabil betrachtet wurde, setzte Stalin 1950 hier den Marschall der Sowjetunion Rokosowski als Oberbefehlshaber ein. Seine polnisch-ukrainische Abstammung, die zur Legitimierung dieses Coups herhalten mußte, verschleierte das Mißtrauensvotum gegen die polnischen Kommunisten nur mühsam. Eine weitere Sicherungsmaßnahme bildete die Eingliederung sowjetischer Offiziere in die nationalen Streitkräfte – in Polen
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wurde ihre Zahl auf 17000 beziffert24. Mit der Institution des politischen Kommissars (Politruk) wurde den Kommandeuren nach sowjetischem Vorbild zudem ein Kontrolleur der Partei zur Seite gestellt, der über ihre Zuverlässigkeit zu wachen hatte und als Vertreter der Partei eine Sonderstellung besaß. Der Geheimdienst, auch Staatssicherheitsdienst genannt, wichtigstes Instrument der Machtsicherung, war von den Sowjets mit noch größerer Rücksicht auf das eigene Interesse aufgebaut worden, vor allem in der Auswahl seiner Mitarbeiter; er wurde auch stärker mit der Moskauer Zentrale verbunden und mit vielen sowjetischen Agenten durchsetzt. Die Säuberungen der Jahre 1949–1952 in den Volksdemokratien führten zu einem ähnlichen Ergebnis wie jene der dreißiger Jahre in der Sowjetunion: Da sie sich vor allem gegen Parteimitglieder richteten, wurden die Geheimdienste, die Exekutoren der Säuberungen, quasi exemte, der Kontrolle der Partei und damit auch des Staates entzogene Institutionen, die faktisch dem sowjetischen Geheimdienstchef unterstanden. Aber auch in allen anderen Organisationen und Institutionen verfügte die Sowjetunion über zuverlässige Informanten. Da allein die Absolvierung der sowjetischen Partei-, Militär- und Verwaltungshochschulen die Qualifikation für Führungspositionen in den Volksdemokratien verlieh, kamen die Kandidaten für solche Positionen zu mehrjährigen Studien in die UdSSR und konnten dort von den sowjetischen Mentoren auf Herz und Nieren geprüft und indoktriniert werden. So entstand auch auf einer zweiten Ebene jene Personalisierung der Beziehungen, wie sie zwischen Stalin und den nationalen Parteiführern bestand; eine solidarische Vertretung des nationalen Interesses gegen die Interessen der Sowjetunion konnte sich nicht entwickeln. Andererseits aber bildeten sich auch in diesem hierarchischen System Gruppen, die um die Teilhabe an der Macht rivalisierten; dabei waren die in den nichtsowjetischen Ländern entstehenden Gruppen durch die Personalbeziehungen mit sowjetischen Bezugspersonen verbunden und damit an deren Schicksal geknüpft. Wenn durch divergierende Ansichten und Interessen die Konstellationen in der Moskauer Führung wechselten, waren mithin auch die nationalen Eliten und besonders die Parteiführer der Satellitenstaaten einbezogen. Für sie galt es, die Kontakte nach Moskau möglichst eng zu gestalten, denn nur die richtige Information, richtig verwendet, bewahrte sie davor, dem mit einer politischen Richtungsänderung verbundenen Wechsel der Machtverhältnisse zum Opfer zu fallen. In der Sowjetunion vollzog sich ab 1950 in der Tat ein erneuter Wandel der politischen Ausrichtung. Noch in den »Linguistik-Briefen« hatte Stalin die Rolle des Staates für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung hervorgehoben, ihn als »Hauptinstrument für den Aufbau des Kommunismus« bezeichnet. Im September 1952 erschien in dem theoretischen Organ der Partei, »Bolschewik«, eine neue Publikation unter seinem Namen25. Sie trug den Titel »Ökonomische Probleme des Sozialismus in der Sowjetunion« und enthielt eine Absage an die Allmacht des Staates und eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Marxismus: »Die Gesetze der politischen Ökonomie im Sozialismus sind
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objektive Gesetze«, konstatierte Stalin, der Staat könne sie nicht »willkürlich ... durch seine Planung umgestalten«26. Stalin nahm damit Konsequenzen vorweg, die wenig später im Rechenschaftsbericht Malenkows auf dem XIX. Parteikongreß der KPdSU (5.–14. Oktober 1952) mit seiner scharfen Kritik an Mißständen der sowjetischen Wirtschaft sichtbar wurden. Dies bedeutete nicht weniger als eine Einschränkung des voluntaristischen Prinzips in der Politik, wie es seit den dreißiger Jahren gültig war, zugleich aber auch ein Zurückstecken in der Außenpolitik: Die revolutionäre Propaganda hatte sich an den sozioökonomischen Gegebenheiten zu orientieren und nicht mehr die Revolution um jeden Preis anzustreben. Offensichtlich handelte es sich zugleich um eine Reaktion auf die US-amerikanische Politik: Die Sowjetunion rückte von der forcierten Ausdehnung ihres Imperiums ab und räumte der Sicherung des bisher Erreichten Vorrang ein. Mit jener Veröffentlichung wurde aber auch nachdrücklich in die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des verstorbenen Shdanow, die für eine offensive weltrevolutionäre Außenpolitik plädierten, und der Gruppe um Malenkow und Berija eingegriffen, die eine vorsichtigere, auf inneren Ausbau und Stärkung des sowjetischen Hegemonialbereiches abzielende Taktik – mit flankierender Unterstützung durch die internationale kommunistische Bewegung und ihre Hilfsorganisationen – befürwortete. Es war der abnehmenden Kraft des gealterten Stalin, der seit längerem an einer Gehirnarteriosklerose litt, zuzuschreiben, daß der Dissens zwischen beiden Gruppen als interner Machtkampf fortwährte. Die Ungewißheit über seinen Ausgang hatte eine tiefe Unsicherheit zur Folge, die weit über den Kreis der Beteiligten und ihre unmittelbare Klientel hinausgriff und sich durch das Schweigen des Diktators noch verstärkte. Zwar hatte der XIX. Parteikongreß Malenkow der Öffentlichkeit als designierten Nachfolger Stalins in der Parteiführung präsentiert – er hatte den Rechenschaftsbericht erstattet –, doch waren seine Gegner, wenn auch systematisch geschwächt, noch von großem Einfluß und nicht gewillt, das Feld kampflos zu räumen, wie der Moskauer Ärzteprozeß bewies, von dessen Anklageeröffnung die Regierungszeitung »Prawda« am 13. Januar 1953 berichtete. Gerade die Absurdität der Beschuldigungen gegen die neun verdienten Mediziner, die einer mörderischen Konspiration gegen führende Repräsentanten des Landes geziehen wurden, schürte die Furcht, die Machtkämpfe innerhalb der Parteispitze könnten in eine Säuberung ähnlich jener der dreißiger Jahre ausufern, unter denen die gesamte Bevölkerung gelitten hatte. Die zunehmende Verschlechterung von Stalins Gesundheitszustand im Verein mit den außenpolitischen Belastungen, die Eisenhowers Übernahme des Präsidentenamtes der USA noch vergrößerte, und die psychologisch angespannte innere Situation des Landes zwangen jedoch zum Zusammenhalt der Führungsgruppe. Als Stalin am Abend des 5. März 1953 an den Folgen eines wenige Tage zuvor erlittenen schweren Schlaganfalls starb, präsentierte sie anläßlich der Beisetzungsfeier am 9. März auf dem Roten Platz in Moskau ein
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Dreigespann als oberstes Führungsgremium. Dieser Troika gehörte neben Malenkow und Berija auch der seit 1949 in den Hintergrund getretene Molotow an, ein Mann, der eher – wenn auch gemäßigt – die politische Linie Shdanows vertrat. Die politischen Meinungsverschiedenheiten und die persönlichen Rivalitäten hatten, so schien es, vor der Aufgabe der Herrschaftskonsolidierung zurückzutreten. Mit Stalin war die zentrale Institution des sowjetischen Machtbereiches von der politischen Bühne abgetreten. Der um ihn gewobene Mythos der universalen Kompetenz, der Unfehlbarkeit und Allwissenheit hinterließ nach seinem Tod eine Leere, die mit neuem Inhalt zu füllen oberstes Gebot der imperialen Machtbewahrung blieb. 4. Die Entwicklung in Westeuropa bis zur Direktwahl des Europäischen Parlaments Von Heiner Raulff I. Die Europäische Einigung Nach der Spaltung Europas 1945–49 erfaßte die aus den unterschiedlichsten geistigen Strömungen gespeiste »Europa-Bewegung« nur die westeuropäischen Staaten. Der 1949 gegründete »Europarat« ist inzwischen mit 21 Mitgliedern zwar die größte europäische Vereinigung, fiel aber in seiner politischen Bedeutung immer weiter hinter andere europäische Organisationen zurück. Das offene Forum des »Europa-Rats« hielt auf der ideellen Grundlage der Menschenrechte (»Europäische Konvention zum Schütze der Menschenrechte und Grundfreiheiten«, 1950) dank vielfältiger kultureller Aktivitäten den ursprünglich gesamteuropäischen Gedanken aufrecht. Der von vielen Verzögerungen, Umwegen und Brüchen gekennzeichnete westeuropäische Einigungsprozeß erhielt seine politische Dynamik vom Zusammenschluß Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland, Italiens, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs zur »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS oder »Montan-Union«) 1951. Das mit der »Montanunion« verbundene Projekt einer »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« schloß von vornherein die neutralen Länder aus, und auch Großbritannien blieb aufgrund britisch-französischer Differenzen über die Rolle der USA vor der Tür, obwohl der Gedanke einer Europa-Armee von Churchill ins Spiel gebracht worden war. Immerhin war der von Politikern wie Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi, Konrad Adenauer oder PaulHenri Spaak symbolisierte Wille zur Einigung so stark, daß die EGKS mit der deutsch-französischen Aussöhnung, dem Beweis der Arbeitsfähigkeit einer gemeinschaftlichen Institution und der Schaffung weitgehender Interessensolidaritäten ihre wichtigsten Ziele in kurzer Frist erreichte und die sechs »Schuman-Plan-Länder« darangingen, in einer zweiten Phase durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes den gesamten Wirtschaftsbereich in die
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Integration einzubeziehen. Die »Römischen Verträge« vom 25. März 1957, die die »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) und die »Europäische Atomgemeinschaft« (Euratom) ins Leben riefen, setzten den freien Warenverkehr (Zollunion), den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie den freien »Personenverkehr« (Freizügigkeit in der Wahl des Arbeitsplatzes und der Niederlassung) als Ziele. Weitere ordnungspolitische Absichten wurden nur für den Agrarsektor und die Verkehrspolitik festgelegt. Die Euratom sollte die atomare Forschung und die friedliche Nutzung der Kernenergie koordinieren1. Die Hoffnungen, Westeuropa könne sich langfristig als dritte politische Kraft neben den Supermächten installieren, gründeten sich auf das Vertrauen in einen marktwirtschaftlich zu steuernden Prozeß der Wirtschaftsunion, die durch ihre Ergebnisse zwangsläufig auf andere politische Bereiche übergreifen und in eine politische Union einmünden müsse (»spill over«). Im Kräfteverhältnis zwischen den neu geschaffenen Institutionen – der »Europäischen Kommission«, dem »Europäischen Parlament« als gemeinsamer Versammlung von EGKS, EWG und Euratom, dem Ministerrat und dem Gerichtshof – lag das Schwergewicht zunächst bei der Kommission, dem »Motor« der Einigung nach einem Wort ihres ersten Vorsitzenden und langjährigen Vertrauten Adenauers, W. Hallstein. Solange es um den Abbau integrationshemmender, nationalstaatlicher Gesetze und Verordnungen ging (»negative Integration«), wie bei der Zollunion, reichte dieses von nationalen Willensbildungsprozessen und parlamentarischen Kontrollen losgelöste technokratische Gremium aus. Sobald es aber um die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaften ging (»positive Integration«), wie beim Agrarmarkt, der zudem höchst unterschiedliche Interessen nationaler »pressure groups« tangierte, gewannen der Ministerrat und die seit den späten sechziger Jahren immer häufiger einberufenen und als »Europäischer Rat« institutionalisierten »Gipfelkonferenzen« an Bedeutung. Um unpopuläre Kompromisse oder vertagte Entscheidungen zu rechtfertigen, mobilisierten die Regierungen zu Haus dabei nicht selten das weitverbreitete Mißtrauen gegen die Brüsseler »Eurokraten«2.
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Abb. 5: Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Freihandelszone (EFTA). Ein Fusionsvertrag, ab 1. Januar 1967 in Kraft, faßt EWG, EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) und EURATOM zur EG (Europäische Gemeinschaft) zusammen, der 1973 Dänemark, Irland und Großbritannien (vorher Mitglieder der EFTA), am 1. Januar 1981 Griechenland beitreten. Der EFTA schließt sich 1970 Island an, seit 1978 besteht eine gemeinsame Arbeitsgruppe zwischen der EFTA und Jugoslawien.
Die Zollunion wurde durch etappenweise Zollsenkungen im Inneren ab 1959 und einen gemeinsamen Außentarif bis Juli 1968 verwirklicht. Die Umlenkung der Handelsströme zugunsten der EWG, die sich in verbesserten Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten und einem Anstieg des innergemeinschaftlichen Warenaustausches niederschlug, brachte den Präsidenten der USA, J.F. Kennedy, dazu, auch den Welthandel in die neuformulierte amerikanische Außenpolitik einzubeziehen. Mit dem Schlagwort von der »Atlantischen Partnerschaft« strebten die USA Zollsenkungen im Handel mit Westeuropa an, die im Rahmen des »General Agreement on Tariffs and Trade« (GATT, seit 1947) in zwei Etappen 1961–62 (»Dillon-Runde«) und 1964–67 (»Kennedy-Runde«) realisiert wurden. Gleichzeitig nahmen über die Vereinten Nationen Länder der Dritten Welt und die Staatshandelsländer des »Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW oder Comecon) an den Verhandlungen teil. Auf der UN-Konferenz über Handel und Entwicklung
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(1964) wie bei der Abschlußsitzung der Kennedy-Runde in Genf (1967), bei der 35–40%ige Zollsenkungen beschlossen wurden, trat die Kommission als Verhandlungsführer aller EWG-Staaten auf. Großbritannien blieb aufgrund seiner Wirtschaftsbeziehungen zum Commonwealth 1951 und 1957 den Europäischen Gemeinschaften fern. Nachdem die Bemühungen, innerhalb der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, ab 1961 OECD) eine große europäische Freihandelszone zu bilden, 1959 gescheitert waren, verfolgte Großbritannien das Projekt einer über Zollsenkungen zu schaffenden und damit auch für die neutralen Länder offenen kleinen Freihandelszone. Die Konvention der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) wurde am 20. November 1959 in Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz unterzeichnet. Bei der geographischen Zersplitterung der EFTA bildete nur Skandinavien einen geschlossenen Raum. Finnland schloß sich 1961 der Freihandelszone an, ohne seine besonderen Beziehungen zum Comecon aufzugeben, die 1973 in einem Abkommen zur multilateralen Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik festgehalten wurden3. Damit war Westeuropa 1959 handelspolitisch dreigeteilt, denn neben EWG und EFTA existierte noch die Gruppe »europäischer Entwicklungsländer« Island, Irland, Griechenland, die Türkei und Spanien. Während Island der EFTA beitrat (1970), suchten Griechenland und die Türkei um Assoziierung an die EWG nach (Assoziierungsabkommen 1961; das Abkommen mit Griechenland ruhte während der »Obristen-Herrschaft«). Irland blieb trotz seiner engen Handelsbeziehungen mit Großbritannien der EFTA fern und stellte 1961 – noch vor Großbritannien – seinen Antrag auf Mitgliedschaft in der EWG. Spanien, das wie Portugal aufgrund seines Regimes vom Europa- Rat in politischer »Quarantäne« gehalten wurde, schloß erst 1970 ein Präferenzabkommen mit der EG. Nach dem Tod Francos (1975) vollzog sich die Annäherung an Europa schneller: 1977 wurde es in den Europarat aufgenommen, seit 1979 laufen Verhandlungen über einen Beitritt zur EG. Unter dem Eindruck der Erfolge der EWG suchten Irland, Großbritannien, Dänemark (1961) und Norwegen (1962) um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach, die der französische Präsident de Gaulle in seiner Pressekonferenz vom 14. Februar 1963 mit dem berühmt gewordenen Satz »L’Angleterre n’est pas prête à entrer dans le Marché commun« unterbrach4. Der Anspruch auf die Rolle einer unabhängigen Großmacht beherrschte auch die gaullistische Europapolitik. Auf der einen Seite war Frankreich dazu auf das Wirtschaftspotential des kontinentalen Westeuropa, vor allem auf das der Bundesrepublik angewiesen, auf der anderen Seite konnte es aus demselben Anspruch heraus weder die Konkurrenz des »atlantischen« Großbritannien akzeptieren, noch dem Integrationswillen der »Europäer« – besonders in der Kommission – nachgeben. So beschwor Frankreich mit der Politik des »leeren Stuhls« im Ministerrat 1965/66 und der Ablehnung des zweiten englischen
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Beitrittsgesuchs 1967 eine schwere Krise für die inzwischen unter einer Kommission zusammengefaßten Europäischen Gemeinschaften herauf. Für die Rückkehr Frankreichs in den Ministerrat, der bisher mehrheitlich entschieden hatte, zahlten die übrigen EG- Länder im Januar 1966 mit ihrer Einwilligung in das Prinzip der Einstimmigkeit »im Falle vitaler Interessen« einen hohen Preis. Die Landwirtschaftsminister der EWG einigten sich am 14. Januar 1962 auf den Grundsatz einheitlicher Agrarpreise im Inneren und eines Abgabesystems an den Außengrenzen der Gemeinschaft. Aber erst nach der Krise 1965/66 konnte die Einführung eines gemeinschaftlich finanzierten Agrarmarktes zum 1. Juli 1968 beschlossen werden. Strukturpläne der Kommission zur »Gesundschrumpfung der Landwirtschaft«5, die auf eine Annäherung zwischen Produktion und Verbrauch und damit auf die Wiederherstellung von Marktmechanismen zielten, stießen – wie der Streit um das »Memorandum« des Vizepräsidenten der Kommission, S.L. Mansholt, im Winter 1968/69 zeigte – auf erbitterten Widerstand bei Bauernverbänden und Regierungen. Das praktizierte System der Preisgarantien hat in den meisten Fällen die strukturelle Anpassung in der Landwirtschaft verzögert. Die Erweiterung der EG 1973 und 1981, die geplante Aufnahme von Spanien und Portugal, unterschiedliche Inflationsraten und Währungsschwankungen, regionales Gefälle und nicht zuletzt das Verhältnis zu Ländern der Dritten Welt, die auf den Export landwirtschaftlicher Produkte angewiesen sind, haben den gemeinsamen Agrarmarkt zusätzlich belastet. In diesem Bereich ist die Integration zwar am weitesten vorangeschritten, von den EG-Ausgaben in der Gesamthöhe von 37 Mrd. DM (1979) verschlingt der Agrarhaushalt allein drei Viertel, wovon wiederum der Löwenanteil auf Preisstützungsmaßnahmen entfällt. Der 1979 ausgebrochene Streit zwischen Großbritannien und den übrigen EG-Ländern über die Neuverteilung der Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts machte die Notwendigkeit einer Reform des gemeinsamen Agrarmarktes überaus deutlich. Nach seiner Schwächung infolge der Mai-Unruhen 1968 und nach dem Rücktritt von General de Gaulle nahm Frankreich eine konziliantere Haltung ein. Auf der Haager Gipfelkonferenz 1969 gab Präsident Pompidou grünes Licht für Beitrittsverhandlungen mit Irland, Großbritannien, Dänemark und Norwegen. Gleichzeitig beschlossen die Regierungschefs eine Integration »auf höherer Stufe«, die nach dem »Werner- Bericht« 1970 in drei Etappen über eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Währungspolitik, der Kapitalmärkte und der Steuern bis 1980 verwirklicht werden sollte. Nach der Erweiterung der EG zur Neuner- Gemeinschaft am 1. Januar 1973 (die Bevölkerung Norwegens lehnte am 26. September 1972 den Beitritt zur EG ab) hielten die Länder der RestEFTA die Freihandelszone aufrecht und schlössen mit Ausnahme Finnlands Präferenzabkommen mit der EG ab. Einen wichtigen Impuls zur Gründung der EWG hatte die vorausgegangene Kapitalkonzentration gegeben. Der Gemeinsame Markt begünstigte seinerseits, besonders nach dem Ende der Hochkonjunktur 1963/64, einen neuen
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Konzentrationsprozeß, der dem politischen Einigungsprozeß ständig um Längen vorauseilte. Die »amerikanische Herausforderung«, d.h. die dank der größeren Konzentration höhere Risikobereitschaft amerikanischer Konzerne in Forschung und Technologie, konnten europäische Unternehmen mit Beginn der siebziger Jahre durchaus aufnehmen, um die »technologische Lücke« zu den USA zumindest nicht größer werden zu lassen. Obwohl die Unternehmenskonzentration längst über den europäischen Rahmen hinausgewachsen ist und in vielen Sektoren einen funktionierenden Markt außer Kraft gesetzt hat, fehlt bis heute eine europäische Wettbewerbsordnung. Auch die nationalen Gewerkschaften verfügen über keine wirkungsvolle europäische Organisation als Gegengewicht zur internationalen Kapitalkonzentration6. Die Erweiterung der EG und der Anlauf zur Wirtschafts- und Währungsunion fielen zusammen mit der ersten Ölpreisoffensive der erdölexportierenden Länder im Herbst 1973 und der dadurch ausgelösten Weltwirtschaftskrise. Der 1972 erschienene Bericht des »Club of Rome«, eines informellen Gremiums angesehener Wissenschaftler und Industrieller, zur »Lage der Menschheit« hatte das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit über die Gefahren exponentiellen Wachstums der Weltbevölkerung, des Verbrauchs nicht regenerierbarer Rohstoffe und der Umweltverschmutzung geschärft7. Das vorhergesagte »Ende der Wachstumsgesellschaft« rief bei vielen den Wunsch hervor, aus der modernen Gesellschaft »auszusteigen«, sich in die vermeintliche Idylle vorindustrieller Lebensformen im überschaubaren Umkreis der eigenen Region oder Provinz zurückzuziehen. Der fehlende Dialog zwischen den – überwiegend jugendlichen – Anhängern solcher »Gegenkulturen« und Befürwortern der überkommenen Konsum- und Leistungsgesellschaft hat in vielen westeuropäischen Ländern ein Klima der Gewalt begünstigt, das mittlerweile auch »Inseln der Ruhe« wie die Schweiz erreicht hat. Angesichts der »Dauerkrise«, in der die EG »seit Beginn der siebziger Jahre, spätestens seit 1973« steckt8, neigten die Regierungen zu Alleingängen und zögerten, »Kompetenzen in empfindlichem Bereichen der Politik an die Gemeinschaft abzutreten«. Die verspätete Einführung der Mehrwertsteuer, der einzig echten »Gemeinschaftssteuer«, in Belgien und Italien, separate handelspolitische Schritte Italiens, die Isolierung der Niederlande beim arabischen Ölembargo 1973, die westdeutsche Währungspolitik unter Wirtschaftsminister Schiller, das Ausscheiden Frankreichs, Großbritanniens und Italiens aus der »Währungsschlange« (die seit 1972 über das Zusammenwirken der Zentralbanken Währungsschwankungen auf eine geringe Bandbreite beschränken sollte) und wechselnde konjunkturpolitische »Koalitionen« innerhalb der EG dokumentieren nachdrücklich die eingetretene Ernüchterung. Mit der vom US-Dollar unabhängigen Europäischen Rechnungseinheit (1975) und der Schaffung eines Europäischen Währungssystems (1979), an dem
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Großbritannien allerdings nicht teilnimmt, hat der Europäische Rat zumindest erste Schritte zur Währungsunion gemacht. Bei Energieversorgung und Umweltschutz, Problemen, denen die Krise besondere Aktualität verliehen hatte und die nur im europäischen Maßstab zu lösen sind, beharrten alle Regierungen auf nationalen Rezepten. Infolge der Rezession gingen die Rohöleinfuhren 1974/75 im Vergleich zum »Rekordjahr« 1973 zurück, stiegen dann aber bis 1979 wieder an, bis der zweite und sehr viel stärkere Ölpreisschub und die Aufwärtsentwicklung des US-Dollar ab 1980 die Importe erneut dämpften. Staatliche Prognosen über den zukünftigen Energiebedarf erwiesen sich als wenig zuverlässig und mußten ständig korrigiert werden. Um die Abhängigkeit von Erdölimporten zu verringern, forcierte allein Frankreich in der Stromversorgung den Bau von Kernkraftwerken und nahm die ungeklärten Risiken der Endlagerung von abgebrannten Brennstäben bewußt in Kauf. 1978 liefen in Großbritannien 18, in der Bundesrepublik Deutschland 15, in Schweden 6, in der Schweiz, in Italien und Belgien je 4, in Spanien 3 Kernkraftwerke, und in den Niederlanden gab es eines; in Frankreich waren 13 in Betrieb, aber 37 weitere im Bau oder in der Planung9. Unter dem Aspekt der Rohstoffsicherung griff die EG im Verhältnis zur Dritten Welt auf die in den Verträgen von Jaunde (1963 und 1969) und Arusha (1968) eingeleitete Politik von Zollerleichterungen für Länder aus Afrika, der Karibik und dem Pazifik (AKP-Staaten), ehemalige Kolonien Belgiens, Frankreichs, Italiens und der Niederlande zurück. Die Verträge von Lomé (1975 und 1979), in die die englischsprachigen Gebiete Afrikas einbezogen wurden – was die Zahl der assoziierten Entwicklungsländer bis 1980 auf 59 erhöhte –, hoben Zölle und Mengenbeschränkungen für 99,5% der Exportgüter aus dem AKP-Raum auf. Die Öffnung des europäischen Marktes ist allerdings so lange relativ unproblematisch, wie die AKP-Staaten außer Rohstoffen wenig anzubieten haben. Bei Agrarprodukten hielt die EG angesichts der eigenen Überschüsse noch an Importbeschränkungen fest. Die Gemeinschaft gestand hier aber die Schaffung eines Stabilisierungsfonds zum Ausgleich von Einbußen beim Export agrarischer Grundstoffe (STABEX) zu. Während die handelspolitischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, waren die restlichen Teile des Abkommens umstritten. Es gelang der EG nicht, die AKP-Staaten auf den Schutz europäischer Investitionen in den Entwicklungsländern und auf die Menschenrechte zu verpflichten; auf der anderen Seite konnten die AKP-Staaten die Gemeinschaft nur durch Druck zu einer Erhöhung ihres Entwicklungsfonds von 10 Mrd. DM (1975) auf 14 Mrd. DM (1979) bewegen, was in vielen Fällen gerade als Inflationsausgleich ausreicht. Auf mehreren Konferenzen der Vereinten Nationen und der »Bewegung der blockfreien Staaten« bemühten sich Entwicklungsländer, die moralische Verpflichtung der industrialisierten Staaten zur Entwicklungshilfe durch eine rechtliche Verpflichtung zur Entwicklungspolitik zu ergänzen. Dabei traten die EG-Staaten nicht mit einer Stimme auf; besonders die Bundesrepublik lehnte die
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von den Entwicklungsländern ins Spiel gebrachten Vorschläge ab, durch internationale Reglementierung Schwankungen von Rohstoffpreisen zuvorzukommen und eine neue »Weltwirtschaftsordnung« zu schaffen. Ebenso wurde die konkrete Entwicklungshilfe aus Westeuropa nicht über die EG, sondern bilateral vereinbart. Obwohl z.B. allein die öffentliche Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland 1975 mit ca. 1,7 Mrd. US- Dollar doppelt so hoch war wie die Entwicklungshilfe aller RGW-Staaten zusammen, blieben die meisten westeuropäischen Länder unter der von der UNO und von 77 Entwicklungsländern in der »Charta von Manila« (1976) geforderten Hilfe in Höhe von 0,7% des jeweiligen Bruttosozialprodukts bis 1980. Auf der von Frankreich angeregten Konferenz von Industrie- und Entwicklungsländern über Energie, Rohstoffe und Entwicklungshilfe (1975) sowie im Bericht der von der Weltbank ins Leben gerufenen »Nord-Süd- Kommission« unter Vorsitz von W. Brandt anerkannten die OECD-Länder zumindest prinzipiell die Notwendigkeit von Reformen der Weltwirtschaftsordnung und stärkerer Mitwirkung der Dritten Welt an den Entscheidungsprozessen10. Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung haben am Ende der fünfziger Jahre eine große Wanderungsbewegung von ausländischen Arbeitnehmern aus wirtschaftlich schwach entwickelten Regionen in die am stärksten industrialisierten Länder Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, die Schweiz, Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Schweden in Gang gesetzt. Auf Seiten der »Gastarbeiter« war der Wunsch nach höheren Löhnen, auf seiten der westeuropäischen Arbeitgeber der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften, vor allem »Handlangern« maßgebend. Den höchsten Ausländeranteil an der Bevölkerung wies Mitte der sechziger Jahre die Schweiz auf. Während die Integration von qualifizierten und kulturell »ähnlichen« Arbeitnehmern aus Westeuropa kaum Probleme mit sich brachte, wie die Beispiele von Deutschen und Franzosen in der Schweiz oder von Finnen in Schweden zeigen, barg der Zustrom von Algeriern nach Frankreich, von Türken in die Bundesrepublik und von Farbigen aus den Commonwealth-Ländern nach Großbritannien erheblichen sozialen Konfliktstoff, nicht nur im Bereich der staatlichen Integration (Sprache, Einschulung von Kindern ausländischer Arbeitnehmer, Wohnungen), sondern auch im Verhältnis zur einheimischen Arbeiterschaft und zu den Gewerkschaften. Dadurch, daß »Gastarbeiter« in der Regel Arbeitsplätze besetzen, die von den einheimischen Arbeitnehmern gemieden werden, entstand ein neues Proletariat, das aufgrund kultureller und ethnischer Andersartigkeit in einem gesellschaftlichen Getto lebt. In den Herkunftsländern wurde durch die Abwanderung zwar kurzfristig manches soziale Problem entschärft, langfristig aber die Unterentwicklung verfestigt. Mit dem Anstieg der Arbeitslosenzahlen seit 1973 versuchten die westeuropäischen Regierungen auf verschiedenen Wegen und mit unterschiedlichem Erfolg, den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer abzubremsen oder zurückzuschrauben, wogegen sich nicht nur die betroffenen Ausländer selbst, sondern auch die
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Arbeitgeber aus den Branchen wehrten, die ohne ausländische Arbeitnehmer nicht mehr auskommen11. Das Europäische Parlament hat den Willensbildungsprozeß innerhalb der Gemeinschaften nicht demokratisieren können. Die Entscheidung des Europäischen Rats von 1976, die Abgeordneten ab 1978 nicht mehr von den nationalen Parlamenten delegieren, sondern von den Völkern wählen zu lassen, wurde von Großbritannien und Frankreich an die Bedingung geknüpft, daß die ohnehin geringen Befugnisse des Parlaments nicht erweitert würden. Die Mitgliedstaaten konnten sich auf ein einheitliches Wahlrecht gar nicht, auf die Zahl von 410 Mandaten und ihre nationale Verteilung erst nach langen Debatten einigen, so daß der Wahltermin auf Juni 1979 verschoben werden mußte. Den sich auf europäischer Ebene locker formierenden Parteien gelang es bisher nicht, sich als Transmissionsriemen zwischen Bevölkerung und europäischer Einigung darzustellen, zumal sich kaum Politiker der »ersten Garnitur« bewarben und viele sich mit dem Sitz im Europäischen Parlament auf das politische Altenteil zurückzogen. Ob das Konzept einer »Demokratisierung von oben«, z.B. über die Erweiterung der Befugnisse des Parlaments, ausreicht, die fehlende demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft zu beseitigen, darf im Blick auf die Entwicklung von 1957 bis 1979 bezweifelt werden12. Das Beispiel moderner Guerilla-Kriege und das Übergreifen von PalästinenserOrganisationen auf Westeuropa riefen ab Ende der sechziger Jahre eine Welle terroristischer Gewaltakte hervor. Geheimorganisationen aus traditionellen Krisengebieten wie Nordirland und dem Baskenland vermischten sich mit einem neuen Terrorismus linksextremer Gruppen wie der »Roten Armee Fraktion« in der Bundesrepublik und den »Roten Brigaden« in Italien. Bevorzugte Zielscheiben terroristischer Gewalt waren neben israelischen und amerikanischen Staatsbürgern und Einrichtungen einheimische Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Justiz. Der Anschlag von Palästinensern auf die Olympiamannschaft Israels in München 1972, die Mordanschläge auf Kammergerichtspräsident Drenkmann in Berlin (1974), auf Generalbundesanwalt Buback (1977) und Bankdirektor Ponto (1977), die Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Schleyer (1977) und des Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten, A. Moro, (1978), der Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm (1975), auf die Tagung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) in Wien (1975), die Entführung eines Flugzeuges der »Air France« von Paris nach Entebbe (Uganda) und die Befreiung der Geiseln durch ein israelisches Kommando (1976) wie der Parallelfall einer »Lufthansa«-Maschine von Mallorca nach Mogadischu (Somalia) (1977) waren die gleichermaßen bestürzenden wie spektakulären Höhepunkte des Terrors. Die westeuropäischen Staaten reagierten z.T. mit einer Verschärfung von Strafgesetzen, Prozeßordnungen und Haftbedingungen. Unter Führung des Bundeskriminalamts in Wiesbaden wurden die Methoden computergestützter Fahndung und grenzüberschreitender Zusammenarbeit der
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Polizeien verbessert. Auf europäischer Ebene trafen die Mitgliedstaaten des Europarats am 27. Januar 1977 ein »Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus«. Der linksextreme Terror, bei dem sich politische und kriminelle Motive zu einem nicht zu entwirrenden Knäuel verwoben, hat den immer latenten Terrorismus von rechtsextremen Organisationen neu entfacht, wie die Bombenanschläge auf den Bahnhof von Bologna, bei dem 84 Menschen starben, und das Münchner Oktoberfest 1980 belegen13. II. Bundesrepublik Deutschland Bundeskanzler Adenauer führte die Christdemokraten (CDU/CSU) 1957 unangefochten in die Bundestagswahl. Unter dem Eindruck der großen internationalen Krisen (Polen, Ungarn, Suez) stand der Wahlkampf ganz im Zeichen außen- und sicherheitspolitischer Themen. Dabei profitierten die regierenden Christdemokraten von der antikommunistischen Grundhaltung der Bevölkerung und präsentierten die Westintegration und die wachsende internationale Anerkennung der Bundesrepublik als Teil einer geschlossenen westlichen Konzeption. Doch hinter der Fassade zeigten sich schon 1957 Risse, die dem Kanzler selbst und seinen engsten Beratern keineswegs verborgen blieben. Der Wandel in der amerikanischen Strategie zur »massiven atomaren Abschreckung« auf Kosten der konventionellen Streitkräfte und das britische und französische Abrücken vom Junktim zwischen deutscher Wiedervereinigung einerseits, Abrüstung und europäischer Sicherheit andererseits kündigten das Ende einer gemeinsamen westlichen »Politik der Stärke« an. Vorstellungen, der sowjetische Machtbereich könne nach Osten zurückgedrängt werden (»roll back«), waren im Zeichen des atomaren Patts zwischen den Weltmächten ohnehin obsolet geworden. Faktisch rückte die ständig als vornehmstes Ziel proklamierte Wiedervereinigung durch die Westintegration in weite Ferne. Die Kluft zwischen Realität und deklamatorischem Anspruch trat spätestens 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer für jedermann sichtbar zutage14. Der »Schock« (Alfred Grosser), den die Wiederbewaffnung ein Jahrzehnt nach der Kapitulation des deutschen Militarismus in der innenpolitischen Diskussion ausgelöst hatte, war abgeklungen. Nach dem warnenden Appell Göttinger Wissenschaftler (April 1957) rückte die Möglichkeit einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr in den Vordergrund der Auseinandersetzungen. Zwar hatte sich die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet, auf die Produktion eigener ABC-Waffen zu verzichten und alle Verbände dem Oberkommando des Nordatlantik-Paktes (NATO) zu unterstellen, jedoch äußerte die Bundesregierung wiederholt die Absicht, die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen als »Weiterentwicklung der Artillerie« (Adenauer) und Trägersystemen für Atomsprengköpfe auszurüsten. Allerdings schlugen diese wie spätere Bemühungen fehl, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen oder
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an ihrer Verfügungsgewalt beteiligt zu werden (im Gespräch waren eine »Multilaterale Nuklearstreitmacht« und eine Beteiligung an Frankreichs »Force de frappe«). Die zwiespältige Haltung in dieser Frage wurde erst von der Regierung der »Großen Koalition« und endgültig von der ersten sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt mit der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages am 28. November 1969 aufgegeben15. Nach der politischen Rückkehr des Saargebiets zur Bundesrepublik am 1. Januar 1957 war der Weg frei zum Zusammenschluß der sechs »Schuman-PlanLänder« zur EWG und Euratom. Die »Römischen Verträge«, die West-Berlin einbezogen und die Aufrechterhaltung des Interzonenhandels gewährleisteten (Deutschland-Klausel), wurden am 5. Juli 1957 vom Bundestag ratifiziert. Aus deutscher Sicht blieben die Verträge allerdings weit hinter der angestrebten politischen und militärischen Einigung Westeuropas zurück. Mit Ludwig Erhards Schlagwort »Wohlstand für alle« wurden im Wahljahr 1957 eine Reihe sozialer Reformen verwirklicht, die den Eindruck auslöschen sollten, Gruppen im Schatten des »Wirtschaftswunders« würden vergessen. Das Kernstück bildete die Rentenreform, die im wesentlichen zwei Ziele verfolgte: Die Rente bekam eine »Lohnersatzfunktion«, d.h. das verfügbare Haushaltseinkommen sollte nicht wie bisher bei Eintritt des Versicherungsfalles abrupt zurückgehen, sondern dynamisch über die Preissteigerungsrate hinaus der allgemeinen Lohnentwicklung angepaßt werden. Soziale Reformen und wirtschaftlicher Erfolg (Steigerung des Bruttosozialprodukts, Verdreifachung des Umsatzes der Industrie von 1950 bis 1962, realer jährlicher Einkommenszuwachs von ca. 5% bis 1966) wurden Erhards »Sozialer Marktwirtschaft« gutgeschrieben, der die oppositionelle Sozialdemokratische Partei (SPD) programmatisch nichts entgegenzusetzen hatte. Bei der Bundestagswahl 1957 erreichten CDUCSU mit einem Stimmenanteil von 50,2% die absolute Mehrheit, ihr bestes Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte. Kanzler Adenauer stand im Zenit seiner Laufbahn. Die SPD erhöhte ihren Stimmenanteil um mehr als die ihr zugefallenen kommunistischen Wählerstimmen nach dem KPD-Verbot von 1956. Der Abstand zur regierenden CDU/CSU hatte sich indessen vergrößert, so daß nur ein inhaltlicher und methodischer Wandel und die Öffnung zur »Volkspartei« einen entscheidenden Einbruch in neue Wählerschichten versprachen. Das Wahlergebnis verstärkte den schon in den Landtagswahlen sichtbaren Konzentrationsprozeß: Regionale Parteien verloren an Bedeutung oder wurden zwischen den bürgerlichen Parteien zerrieben; neben den Freien Demokraten (FDP) gelangte nur noch die Deutsche Partei (DP) dank eines Wahlabkommens mit der CDU in den Bundestag. Der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) scheiterte ebenso wie die anderen kleinen Parteien an der verschärften 5%-Klausel des Bundeswahlgesetzes, die am 23. Januar 1957 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden war16.
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Die Wahlniederlage verlieh denjenigen Kräften in der SPD Aufschwung, die – anknüpfend an Kurt Schumacher – die Partei für den »neuen Mittelstand« attraktiv machen wollten, ohne die traditionellen Wähler aus der Arbeiterschaft zu verprellen. Mit Willy Brandt als Regierendem Bürgermeister in Berlin und Herbert Wehner (bis zu seiner Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden 1958), Carlo Schmid und Fritz Erler als stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden erlangten die »Reformer« größeres Gewicht gegenüber dem vorwiegend mit Funktionären aus der Zeit vor 1933 besetzten »Apparat« um den Parteivorsitzenden Ollenhauer. Nach der Episode des Wehnerschen »Deutschlandplanes« deuteten Erler und andere an, daß die SPD die von der Westintegration geschaffenen Tatsachen – allerdings nicht die gewünschte atomare Bewaffnung – akzeptiere. Demnach ist das in Godesberg 1959 beschlossene Grundsatzprogramm – das erste seit dem Heidelberger Programm von 1925 – kein »Damaskus« der SPD, sondern der Abschluß einer Entwicklung. Unter Verzicht auf historischen Ballast wurde »demokratischer Sozialismus« nicht als paradiesischer Endzustand einer Gesellschaft, sondern als Aufgabe begriffen, praktische Reformen im Rahmen des Grundgesetzes anzustreben. Der Satz aus dem Schlußabschnitt »Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden« belegt, daß die funktionelle Bedeutung des Programms nach innen und außen ebenso hoch zu veranschlagen ist wie die inhaltliche. Von rechts und links wurde das Godesberger Programm als »Anpassungskurs« kritisiert. Den »Reformern« mit Erler an der Spitze ging es darum, die SPD in der Bundesrepublik und vor allem der Schutzmacht USA gegenüber inhaltlich und personell als regierungsfähig zu qualifizieren. Von daher kamen Wehners aufsehenerregende Rede vor dem Bundestag am 30. Juni 1960 und die Aufstellung von Brandt (der nach dem Berliner Mauerbau 1961 in Amerika große Sympathien genoß) als »Kanzlerkandidat« an Stelle des loyal verzichtenden Ollenhauer nicht überraschend. Mit Brandt und dem Einsatz moderner Werbemethoden wurde den plebiszitären Zügen der Wahl Rechnung getragen, die sich in der Verfassungswirklichkeit durch die Vermittlung von Politik über die Massenmedien herauskristallisiert hatten. Die SPD konnte jedoch in den Bundestagswahlen 1961 und 1965 wie generell in den Landtagswahlen (»Genosse Trend«) ihre Position zwar ausbauen, den Abstand zur CDU/CSU aber nicht erheblich vermindern. Vor diesem Hintergrund reifte die Bereitschaft, den Beweis der Regierungsbefähigung auch in einer Koalition mit den Christdemokraten zu erbringen.17 Die historische Spaltung der Liberalen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der Freien Demokratischen Partei überwunden, die Spannungen zwischen »Rechts–« und »Linksliberalen« lebten indessen innerhalb der FDP weiter und bescherten ihr eine wechselvolle Geschichte. Meistens Regierungs-, zeitweilig Oppositionspartei, »liberales Korrektiv« (Erich Mende) oder »Wurmfortsatz« (Schumacher) der CDU/CSU, geriet sie nach der Abspaltung der »Freien
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Volkspartei« bei den Bundestagswahlen 1957 in bedenkliche Nähe der 5%Klausel. Die folgenden Landtagswahlen zeitigten ohne Ausnahme katastrophale Ergebnisse. Bis 1957 war die FDP eher ein Verband von Landesparteien und in hohem Maße von Spenden abhängig. Von den großen Parteien wurde sie ab Ende der fünfziger Jahre mit einer Wahlrechtsreform und der Aussicht auf eine »große Koalition« bedroht (eine Drohung, derer sich Adenauer, wenn auch meistens nur taktisch, wiederholt bediente). Mit einer klaren Koalitionsaussage – der Gretchenfrage an die FDP vor jeder Wahl – und dem Slogan »Mit der CDU, aber ohne Adenauer« erreichten die Liberalen 1961 den überraschend hohen Stimmenanteil von 12,8%. Der Zuwachs rekrutierte sich vor allem aus Wählern, die die Kanzlerschaft des in der Berlin- Krise vom August 1961 schwer angeschlagenen und mittlerweile 84jährigen Adenauer beendet sehen wollten. Im Laufe der langwierigen Regierungsbildung »fiel« der nationalliberale FDPVorsitzende Mende »um« und akzeptierte eine »bürgerliche« Koalition unter dem alten Kanzler in der rechtlich fragwürdigen Konstruktion eines von tiefem Mißtrauen zwischen den Regierungsparteien geprägten »Koalitionsvertrages«. In der »Spiegel«-Krise 1962 gelang es der FDP zusammen mit der oppositionellen SPD, den belasteten Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) zum Rücktritt zu zwingen. Nach dem Ausscheiden Adenauers aus dem Kanzleramt (1963) setzte die FDP die Koalition mit ihrem »Wunschkanzler« Erhard fort, auch nach den leichten Stimmenverlusten bei der Bundestagswahl 1965. Als das zweite Kabinett Erhard im Herbst 1966 über die Frage von Steuererhöhungen auseinanderbrach, konnte die FDP sich nicht zu einem Zusammengehen mit der SPD entschließen und zog weder die Möglichkeit, zusammen mit der Opposition den Kanzler zur Stellung der Vertrauensfrage zu bewegen, noch ein konstruktives Mißtrauensvotum in Betracht. Auf den Oppositionsbänken während der »Großen Koalition« (1966–69) machte die FDP einen tiefen Regenerationsprozeß durch. Ausgangspunkt hierfür war nicht die parlamentarische Ablehnung der Notstandsgesetze, sondern die Deutschlandund Außenpolitik: Auf dem Parteitag in Hannover 1967 wurden die deutschland- und ostpolitischen Thesen von Schatzmeister Rubin und Parteireferent Schollwer zum Hebel innerparteilicher Reformen. Mende wurde als Parteivorsitzender 1968 von Walter Scheel abgelöst, der zusammen mit seinen Stellvertretern Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick das Ziel verfolgte, die FDP auch gegenüber der SPD koalitionsfähig zu machen. Die Wahl des Bundespräsidenten 1969 wurde zur »Nagelprobe«: Die Parteiführung konnte die überwiegende Mehrheit der liberalen Mitglieder der Bundesversammlung nach langem Ringen auf den sozialdemokratischen Kandidaten Gustav Heinemann festlegen, der im dritten Wahlgang gewählt wurde. Programmatisch gelang es der FDP, sich auf den Feldern der Deutschland-, Rechts- und Bildungspolitik als fortschrittliche Kraft darzustellen. Dabei wechselte die Partei auch einen großen Teil ihrer Anhänger aus: Während national gesinnte Wähler und Mitglieder in Richtung CDU/CSU oder NPD abwanderten, fand die
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»linksliberale« FDP Rückhalt in der jüngeren Generation, an Hochschulen und im »neuen Mittelstand«.18 Für die seit 1949 regierenden Christdemokraten hatte sich »das Hauptproblem ..., die Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Parteileitung, Regierung und Parlamentsfraktion«19, jahrelang überhaupt nicht gestellt, zu dominierend war die Position von Bundeskanzler Adenauer, der von der Unterstützung der westlichen Alliierten, dem »Wirtschaftswunder« und den Wahlerfolgen getragen wurde. Weder die »Schwesterparteien« CDU und CSU noch die gemeinsame Fraktion, die Adenauers patriarchalischen Regierungsstil und seine Alleingänge immer wieder hingenommen hatten, waren vorbereitet, als Adenauer 1959 seine Bereitschaft erklärte, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren, und diese ebenso schnell wieder zurückzog, als die Fraktion Erhard als Nachfolger im Kanzleramt favorisierte. Mit dem Verlust der Kanzlerautorität zu Beginn der sechziger Jahre erwuchsen den CDU-Kanzlern im CSU-Vorsitzenden Strauß und dem Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (1964–72) Konkurrenten. Die konjunkturelle und in einigen Bereichen strukturelle Krise brachte 1965/66 Bundeskanzler Erhard und mit ihm den »Mythos« von der »sozialen Marktwirtschaft« als dem »modernen, risikofreien Kapitalismus« zu Fall20. Schrumpfende Investitionen im produktiven Bereich, Verschuldung der Öffentlichen Hände – die Bundesregierung senkte im Wahlkampf 1965 um den Preis erhöhter Kreditaufnahme die Einkommensteuer – und die Steigerung der privaten Einkommen über die tatsächliche Wirtschaftsleistung hinaus führten in eine Rezession, auf deren Nährboden die rechtsradikale Nationaldemokratische Partei (NPD) gedieh, die bei den Bundestagswahlen 1965 und 1969 respektable Ergebnisse erzielte und in die Landesparlamente von Hessen, Bayern, Rheinland- Pfalz, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und BadenWürttemberg einzog. Die »Große Koalition« aus CDU/CSU und SPD unter Kurt Georg Kiesinger (1966–69) überwand die Wirtschaftskrise mit einem verbesserten konjunkturpolitischen Instrumentarium (»Globalsteuerung«) und kam den Zielen Preisstabilität und Vollbeschäftigung relativ nahe. Wie die Beratungen über Haushalt und »Stabilitätsgesetz« (1967) aber zeigten, konnten Wirtschaftsminister Schiller und Finanzminister Strauß die durch Gruppen- und Verbandseinflüsse gewucherten Subventionen und Steuerprivilegien nicht nennenswert stutzen. Kiesinger und Außenminister Brandt (SPD) lockerten die übernommene außenpolitische Erstarrung: Die seit 1965 unterbrochenen Beziehungen zu den arabischen Staaten verbesserten sich wieder, die »HallsteinDoktrin« wurde gegenüber Rumänien und Jugoslawien nicht mehr angewandt und das gestörte deutsch-französische Verhältnis wieder bereinigt21. Die Notstandsgesetzgebung – neben der Finanzreform und der (nicht verwirklichten) Änderung des Wahlrechts eines der Vorhaben, mit denen CDU/CSU wie SPD die Bildung der »Großen Koalition« gerechtfertigt hatten – stellte nach den Wehrgesetzen von 1956 die bisher tiefste Zäsur in der
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Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik dar. Das »17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes«, am 24. Juni 1968 mit der erforderlichen ZweidrittelMehrheit gegen die Stimmen der FDP-Opposition und einiger SPDAbgeordneter verabschiedet, unterscheidet zwischen »innerem Notstand«, »Spannungs–« und »Verteidigungsfall«. Es sieht im wesentlichen vor: 1. den unabhängig von einem »Notstand« wirksamen Ausschluß des Rechtsweges bei der Verletzung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses und die Einführung eines »Widerstandsrechts«; 2. die Möglichkeit zur Zwangsverpflichtung der arbeitenden Bevölkerung; 3. den Einsatz der Bundeswehr als »Polizeikräfte« bei Naturkatastrophen, schweren Unglücksfällen und »bewaffneten Aufständen« und 4. den Übergang gesetzgeberischer Befugnisse auf einen »Gemeinsamen Ausschuß« im »Verteidigungsfall«. Die Notstandsgesetzgebung traf auf erbitterten Widerstand bei Gewerkschaften, Hochschullehrern und Studenten, die die Möglichkeiten des ursprünglichen Grundgesetzes zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung als ausreichend erachteten und das Argument verwarfen, die Gesetze seien zur Ablösung alliierter Vorbehaltsrechte und damit zur Erlangung der vollen Souveränität nötig. Die studentische Protestbewegung, angetreten, Hochschul- und Studienreform in Gang zu setzen, hatte unter Führung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) ein allgemeines »politisches Mandat« in Anspruch genommen. Die für die Bundesrepublik neuen Themen und Protestformen der »Außenparlamentarischen Opposition« (APO) stießen in der auf Antikommunismus eingestimmten Gesellschaft weitgehend auf Unverständnis. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, einen der Sprecher der APO, zu Ostern 1968 kam es zu gewaltsamen Demonstrationen gegen das Verlagshaus Axel Springer. Anders als in den Mai-Unruhen in Frankreich waren die deutschen Gewerkschafter im »Kuratorium Notstand der Demokratie« nicht bereit, die Waffe des politischen Streiks einzusetzen. So markierte die fehlgeschlagene Kampagne gegen die Notstandsgesetze zugleich das Ende der APO22. Die Unruhen an den Hochschulen gaben den Anstoß zu einer Bildungsreform. Der Deutsche Bildungsrat – ein 1966 von Bund und Ländern eingesetztes Gremium aus Wissenschaftlern – stellte schwerwiegende Mängel im westdeutschen Bildungssystem fest, die in einem internationalen Vergleich der OECD 1970 bestätigt wurden: Halbtagsunterricht, fehlende vorschulische Erziehung, quantitativ schlecht ausgebaute weiterführende Schulen, scharfe Abgrenzung der Schulen im Sekundarbereich und »soziale Diskriminierung beziehungsweise Privilegierung«. Durch den forcierten Ausbau von Gymnasien und Universitäten erhöhte sich die Zahl von Abiturienten und Studenten, der Mangel an Ingenieuren und Technikern indessen zeigt an, daß naturwissenschaftliche und technische Fächer vernachlässigt worden sind. Die Diskussion über Bildungsinhalte und Schulformen (»Integrierte Gesamtschule«) verlief höchst kontrovers und verführte die Bundesländer zu einem »Rückfall in
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die Kleinstaaterei« mit der Folge eines undurchschaubaren Wirrwarrs im schulischen Bereich.23 Der Ausgang der Bundestagswahl 1969 erschien völlig offen, zumal nicht vorauszusehen war, ob die NPD den Sprung über die 5%-Hürde schaffen würde. Wichtiger als das Wahlergebnis, das einer SPD/FDP-Regierung 1969 nur drei Mandate mehr als 1965 gab, war das Vertrauen der SPD-Führung in die Geschlossenheit der FDP seit der Wahl von Heinemann zum Bundespräsidenten, so daß sich die Parteivorsitzenden Brandt und Scheel noch in der Wahlnacht auf eine Koalition verständigten. Der erste Machtwechsel seit der Gründung der Bundesrepublik vollzog sich in den vom Grundgesetz vorgesehenen Formen. Das sozialliberale Kabinett mit Brandt als Kanzler und Scheel als Außenminister verstand sich als Regierung der »Reformen«. In der Außenpolitik – speziell in der so getauften »Ostpolitik« – vollzog die Bundesrepublik in Übereinstimmung mit den Westmächten den Anschluß an weltpolitische Entwicklungen. Sie gewann damit außenpolitische Bewegungsfreiheit zurück und erreichte im innerdeutschen Verhältnis nach Jahren des Stillstands eine Reihe »menschlicher Erleichterungen«. Brandt erhielt dafür 1971 den Friedensnobelpreis. Bei Abschluß der Ostverträge war keineswegs klar, ob sie überhaupt die zur Ratifizierung nötige parlamentarische Mehrheit finden würden. Speziell bei der FDP waren mit den Stimmen neuer linksliberaler Wähler eine Reihe von rechtsliberalen Abgeordneten wiedergewählt worden, die einer Koalition mit der SPD skeptisch und der »Ostpolitik« ablehnend gegenüberstanden. Durch den Übertritt dieser und zweier SPD-Abgeordneter zur CDU/CSU schien die Kanzlermehrheit verlorengegangen zu sein, so daß der CDU/CSUFraktionsvorsitzende Barzel sich am 26-/27. April 1972 zu einem konstruktiven Mißtrauensvotum nach Artikel 67 Grundgesetz entschloß, das aber scheiterte. Allerdings lehnte der Bundestag am Tag darauf mit Stimmengleichheit auch den Haushalt des Bundeskanzlers ab, eine parlamentarische Pattsituation war eingetreten. Die Ratifizierung der Verträge mit der Sowjetunion und Polen (17. Mai) – die CDU/ CSU-regierten Länder ließen die Gesetze im Bundesrat durch Stimmenthaltung passieren – wurde zu einer Zerreißprobe für die CDU/CSU. Nachdem Brandt am 20. September 1972 die Vertrauensfrage gestellt hatte, war der im Grundgesetz erschwerte Weg zu vorzeitigen Neuwahlen frei. Gleichzeitig verabschiedete der Bundestag eine Rentenreform auf der Grundlage des Entwurfs der CDU/ CSU, die die Rentenversicherung für Selbständige, Hausfrauen und andere Gruppen öffnete, die flexible Altersgrenze und die Rente nach Mindesteinkommen einführte. Die Rentenreform wie die vorausgegangenen sozial- und gesellschaftspolitischen Gesetze erhöhten die »soziale Sicherheit«, wurden aber mit steigender staatlicher Kreditaufnahme erkauft und waren langfristig nur bei Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum zu finanzieren. Das Warnsignal, das Finanzminister Alex Möller mit seinem Rücktritt setzte, wurde durch die Übernahme sowohl des Wirtschafts- wie des Finanzministeriums durch Karl Schiller überspielt. Neben
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Staatsverschuldung und Geldwertschwund blieben Dollarschwäche und Aufwertungsdruck auf die DM ein ungelöstes Problem, das im Juli 1972 zum Rücktritt von Schiller führte. Die Bundestagswahlen vom November 1972 gerieten trotz der Schwierigkeiten der sozialliberalen Koalition zu einem Plebiszit über die Ostverträge im Zeichen des Duells Brandt – Barzel. Eine hohe Wahlbeteiligung, ein Rekordergebnis für die SPD in Nordrhein-Westfalen, überproportionale Zustimmung von Seiten der zum ersten Mal wählenden 18- bis 20jährigen sowie eine Mehrheit bei weiblichen Wählern brachten den Regierungsparteien den Sieg und machten die SPD zur stärksten Fraktion.24 Bei der CDU/CSU deckte die Wahlniederlage erneut die Schwierigkeit des Wandels vom »Kanzlerwahlverein« zur (oppositionellen) Partei auf. Zu traditionellen Interessengegensätzen in der Partei traten Auseinandersetzungen zwischen einer konservativ und auf kompromißlose Opposition eingestellten Richtung (CSU, hessische CDU) und Politikern, die für eine Öffnung zur »linken Mitte« plädierten. Die Debatte über eine sachliche Alternative zum Regierungsprogramm blieb hinter dem Streit über Personen zurück, der durch die erstmaligen Verhandlungen über die Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft und die Möglichkeit einer bundesweiten Ausdehnung der CSU angeheizt wurde. Der gescheiterte Kanzlerkandidat Barzel legte Fraktions- und Parteivorsitz nieder. Die Regierungserklärung des zweiten Kabinetts Brandt/Scheel war stärker innenpolitisch orientiert und beanspruchte für SPD und FDP die politische »Mitte«. Mit dem Wahlerfolg waren für die SPD auch die inneren Probleme gewachsen: Zum einen hatten sich die Beziehungen in der Führungstroika Brandt, Finanzminister Helmut Schmidt und Fraktionsvorsitzender Wehner verschlechtert, zum anderen hatte der »linke Flügel« starben Zulauf von jungen Politikern erhalten, die nach dem Scheitern der »APO« der SPD beigetreten waren und den »langen Marsch durch die Institutionen« angetreten hatten. Neben der Kritik an Einzelproblemen wie dem von Brandt angeregten Ministerpräsidenten-Beschluß gegen die Beschäftigung von »Extremisten« im öffentlichen Dienst (1972) verlangten sie im wesentlichen: 1. stärkere staatliche Planung im ökonomischen Bereich, um sozialen Anspruch und den Wettbewerbscharakter der durch Kapitalkonzentration gefährdeten »sozialen Marktwirtschaft« durchzusetzen; 2. durch demokratische Lösungen über staatliche Gemeinschaftsaufgaben den technologischen und ökologischen Gefahren der hochindustrialisierten Gesellschaft vorzubeugen; 3. das Bewußtsein von der »einen Welt« zu schärfen und die Ausbeutung der Entwicklungsländer auch durch die Bundesrepublik zu beenden. Der letzte Gedanke fand in der neukonzipierten westdeutschen Entwicklungspolitik durch Erhard Eppler zumindest teilweise Berücksichtigung25. Nach dem Rücktritt von Brandt im Mai 1974, der die »politische Verantwortung« für »Fahrlässigkeiten« bei der Einstellung DDR-Agenten im
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Kanzleramt übernahm26, und der Wahl von Scheel zum Bundespräsidenten leiteten die bisherigen »Kronprinzen« Schmidt als Bundeskanzler und Genscher als Außenminister angesichts ökonomischer Zwänge und der Mehrheit der CDU/CSU-regierten Länder im Bundesrat eine pragmatischere Phase der sozialliberalen Politik ein. Die weltweite Wirtschaftskrise im Gefolge des Erdölpreisschubs trieb die Arbeitslosenzahlen in die Höhe. Die Regierung versuchte von 1974 bis 1978 mit verschiedenen »Konjunkturprogrammen« die Investitionstätigkeit anzuregen und der Verschlechterung der Beschäftigungslage entgegenzuwirken; sie mußte dabei Abstriche im Bereich der Sozialpolitik vornehmen. Trotzdem war das »Einsammeln« sozialer Leistungen angesichts der »Anspruchsgesellschaft« auch bei Haushaltsdefiziten kaum zu realisieren. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 für Unternehmungen mit mehr als Beschäftigten (ausgenommen »Tendenzunternehmen« und Betriebe der Montanindustrie) blieb hinter der paritätischen Montanmitbestimmung zurück27. Bei der Bundestagswahl 1976 verloren die Regierungsparteien Stimmen, die CDU/CSU verfehlte mit einem Anteil von 48,6% nur knapp die absolute Mehrheit, blieb aber aufgrund der Koalitionsaussage der Liberalen in der Opposition. Obwohl sie das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte erreicht hatte, brach die CSU mit der Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft erneut eine Diskussion über den Kanzlerkandidaten, dieses Mal Helmut Kohl, vom Zaun. Mit der Wiederherstellung der gemeinsamen Fraktion am 12. Dezember 1976 war der Konflikt keineswegs ausgeräumt, denn die CDU mußte 1980 den CSUVorsitzenden und (seit 1978) Ministerpräsidenten von Bayern, Strauß, als gemeinsamen Kanzlerkandidaten akzeptieren. Erst die im wesentlichen mit den Aversionen einer breiten Öffentlichkeit gegen den Politiker Strauß zu begründende Wahlniederlage entschärfte die Krise im Kräfteverhältnis zwischen CDU und CSU. Obwohl bei Wahlen in der Regel über 95% der abgegebenen Stimmen auf CDU/CSU, SPD und FDP entfallen, wuchs die Distanz zwischen »etablierten« Parteien und der Bevölkerung. Untrügliches Anzeichen dafür ist die zunehmende Bereitschaft vieler, sich in »Bürgerinitiativen« zu engagieren. Da die jeweilige Opposition im Bundestag zugleich in vielen Ländern die Regierung stellt und über den Bundesrat die Gesetzgebung des Bundes mitverantwortet, fehlt bei aller verbalen Schärfe des politischen Kampfes eine saubere Trennung von Regierung und Opposition. Da es den Parteien kaum gelingt, bei ihrer Kandidatenauslese über wenige Berufsgruppen hinaus »Fachleute« zu rekrutieren und die Abgeordneten in vielen Bereichen ihre Kompetenzen an die besser informierte und ausgestattete Bürokratie abgetreten haben, droht die Demokratie im »Priesterhochmut der Experten« und in der von ihnen produzierten Flut von Gesetzen und Verordnungen zu ersticken28. III. Frankreich
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Der 1954 ausgebrochene Algerienkrieg wurde zum Stolperstein für die Vierte Republik, die in ihrer gut zwölfjährigen Geschichte 25 in den Kulissen der Nationalversammlung formierte Kabinette mit rund 600 Ministern, vorwiegend aus den Reihen des Zentrums (MRP), der konservativ-liberalen Radikalen und der Sozialisten erlebt hatte. Die Republik hatte die Folgen des Zweiten Weltkriegs überwunden und Frankreich wirtschaftlich den Weg zu einem modernen Staat geebnet. Die koloniale Erbschaft war bis auf Algerien liquidiert. Während der designierte Ministerpräsident Pflimlin (MRP) im Frühjahr 1958 wochenlang über die Neubildung einer Regierung verhandelte, rollten die Ereignisse über Parteien und Parlament hinweg. Sowohl die am 13. Mai 1958 in Algier putschenden Generäle, die von der Mehrheit der ca. eine Million Algerienfranzosen unterstützt wurden, als auch der Präsident der Republik, Coty, drängten de Gaulle, der sich 1946 auf seinen Landsitz zurückgezogen hatte, zur erneuten Machtübernahme. Dabei glaubten beide Seiten, de Gaulle würde in ihrem Sinne handeln: Die Ultras in Algerien, die im Mai als »Generalprobe« für die Metropole Korsika in ihre Gewalt brachten, erwarteten, daß der noch nicht entschiedene Kolonialkrieg mit dem Ziel der »Algérie Française« weitergeführt würde; Coty sah in de Gaulle die einzige Persönlichkeit, die unter Wahrung der legalen Formen einen Staatsstreich von rechts abwenden könnte. Ausgestattet mit außerordentlichen Vollmachten, ließ de Gaulle eine Präsidialverfassung auf sich zuschneiden, die durch die Volksabstimmung vom Oktober 1958 bestätigt wurde. Die Geburt der Fünften Republik bedeutete zugleich das Ende des französischen Algerien, das de Gaulle gegen den Widerstand der Algerienfranzosen und den Terror der »Organisation de l’Armée secrète« (OAS) in die Unabhängigkeit entlassen mußte29. Die Regierung des Generals, die mit Pflimlin und Guy Mollet und den Gaullisten Debré und Malraux die Gegner von gestern vereinigte, zeigte, daß die Symbiose zwischen Großbürgertum und Macht Bestand hatte und sich das bürgerliche Frankreich wie schon 1799, 1851 und 1940 in der Stunde der Gefahr unter die Fittiche eines »starken Mannes« flüchtete. Bei den Parlamentswahlen 1962 unterlag vor allem das Zentrum dieser Sogwirkung. Die Polarisierung in zwei große innenpolitische Lager (»la droite« – »la gauche«) ließ keinen Platz für eine dritte Kraft: Das oppositionelle Restzentrum unter Lecanuet wurde nach und nach vom Regierungslager absorbiert (Lecanuet trat 1974 als Staatsminister in die Regierung des Gaullisten Chirac ein); alle Versuche, eine überregionale sozialdemokratische Partei ins Leben zu rufen, scheiterten. Die dominierende Stellung des auf sieben Jahre vom Volk gewählten Präsidenten der Republik, der den Premierminister bestimmt, die Nationalversammlung auflösen und sich per Referendum direkt ans Volk wenden kann, sowie das Wahlrecht drängten die Parteien in eine Nebenrolle und zwangen sie zur Konzentration. Dem Regierungslager, der »Majorité presidentielle« aus Gaullisten und bürgerlichen Nichtgaullisten, fiel im wesentlichen die Aufgabe zu, die Politik des Präsidenten
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in der Legislative zu untermauern. Innerhalb der Opposition, die durch das Wahlrecht benachteiligt und durch die gouvernementale Drohung, Machtwechsel bedeute Systemwechsel, kurzgehalten wurde, formierten sich neben der straff organisierten Kommunistischen Partei (KPF) die zersplitterten sozialistischen Strömungen unter dem Einfluß von François Mitterrand zu einer einheitlichen Sozialistischen Partei (PS)30. Von Anfang an ließ de Gaulle keinen Zweifel daran, daß Frankreich wie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs einen gleichberechtigten Platz an der Seite der USA und Großbritanniens begehrte. Fragen der westlichen Strategie sollten in einem »Dreierdirektorium« entschieden und das Einsatzgebiet der NATO auf die Sahara und den Mittleren Osten ausgedehnt werden, Regionen, in denen Frankreich traditionell »lebenswichtige Interessen« geltend machte. Die kostspielige französische Atomstreitmacht wollte de Gaulle als »Eintrittskarte ... in den Klub der Weltmächte« einlösen31. Als der Einlaß durch die amerikanischen Präsidenten Eisenhower und Kennedy und die britische Anlehnung an das Nuklearpotential der Vereinigten Staaten versperrt wurde, rückte für de Gaulle eine unabhängige Großmachtrolle in den Vordergrund. Der deutsch-französische Vertrag vom 22. Januar 1963, bei dem auf Frankreichs Seite auch die historisch begründete Furcht vor einem wiedererstarkten, mit modernen amerikanischen Waffen gerüsteten Deutschland mitgespielt hat, sollte es der Bundesrepublik ermöglichen, sich aus der atlantischen Abhängigkeit zu lösen; in die gleiche Richtung zielte die Parole vom »Europa der Vaterländer ... vom Atlantik bis zum Ural«. Frankreich konnte sich 1966 ohne Risiko aus dem NATO-Oberbefehl zurückziehen, da es faktisch auch weiterhin zur amerikanischen Interessensphäre gehörte und den militärischen Schutz der USA genoß. In der Nichtunterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages, dem Fernbleiben von der Genfer Abrüstungskonferenz, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China, deren Weg zur Großmacht analog zu dem Weg Frankreichs interpretiert wurde, den Ermunterungen an die Adresse der blockfreien Staaten, der Fortsetzung von oberirdischen Kernwaffenversuchen in der Südsee und dem Entschluß von Präsident Giscard d’Estaing, die Entwicklung der Neutronenwaffe einzuleiten (1976), steckte derselbe außenpolitische Kern, der zu Zeiten de Gaulles allerdings häufig hinter dessen metaphorischer Sprache verborgen blieb. Die atomare Abschreckungsstreitmacht (»Forces atomiques de dissuasion« oder »Force de frappe«) wird mittlerweile auch von Sozialisten und Kommunisten in Frankreich nicht mehr in Frage gestellt. Der Entschluß zum Bau der Atombombe war schon während der Vierten Republik gefallen, der erste Kernwaffenversuch fand am 13. Februar 1960 statt. Die »Force de frappe« bindet einen großen Teil der personellen und finanziellen Forschungsanstrengungen. 1980 machte sie mit rd. 13 Mrd. DM ein Drittel des Militärhaushalts aus. Unter de Gaulles Nachfolgern Pompidou (1969–74) und Giscard d’Estaing (1974–81)
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wich die Selbstüberschätzung einer realistischeren Beurteilung: In der Satellitenaufklärung und im Frühwarnsystem verläßt sich Frankreich ganz auf die USA, in der teuren Entwicklung neuer Waffensysteme arbeitet es eng mit anderen westlichen Staaten zusammen. Mit Ausnahme einiger bevorzugter Bereiche (Rüstungsund rüstungsverwandte Industrie, Elektronik, Computer, integrierte Schaltkreise, Nukleartechnik) blieben strukturelle Defekte der französischen Wirtschaft in der Ära de Gaulle bestehen. Im Agrarbereich überwogen entgegen der erklärten Absicht preisstützende Subventionen die Investitionen. Die staatliche Subventionspolitik konnte nicht verhindern, daß sich die Einkommensunterschiede in der Landwirtschaft und das regionale Gefälle vergrößerten. Landflucht und Verödung ganzer Landstriche, vor allem südwestlich der Loire, nahmen zu. Neben den Kleinbauern gehörten die für Frankreich typischen Kleinhändler und Handwerker zu den sozialen Problemfällen. Zwar hatte sich die vorübergehende Massenbewegung des »Poujadismus« in der Mitte der fünfziger Jahre in viele Organisationen aufgesplittert, die indessen mit nicht geringerer Vehemenz gegen Steuern und Sozialabgaben, Supermärkte, Gewerkschaften, Hochfinanz, Großindustrie und Zentralismus protestierten. Diese Gruppen und die zahlreichen, in der »Confédération générale des petites et moyennes entreprises« (CGPME) organisierten kleinen und mittleren Unternehmer repräsentierten das provinzielle und kleinbetriebliche Frankreich, das als Klientel politisch zwar umhegt, in seiner Existenz aber vom wirtschaftlichen Konzentrationsprozeß immer stärker bedroht wurde. Die hohe Zahl kleiner und mittlerer Betriebe wie die im internationalen Vergleich geringe Kapitalkonzentration in der französischen Großindustrie lieferten ein wichtiges Motiv für die gaullistische Europa-Ideologie. Das defensive Herangehen an den Gemeinsamen Markt, das Mißtrauen gegenüber den Brüsseler »Eurokraten« und die Ablehnung des britischen Beitrittsgesuchs zur EWG fanden im Bürgertum ein breites Echo. In der gaullistischen Wirtschafts- und Finanzpolitik waren auf eigentümliche Weise Modernität mit Anachronismen, liberale mit merkantilistischen Zügen verwoben. Nach der Währungsreform vom 8. Januar 1959 (»neuer Franc«) konnten die Staatsfinanzen saniert und bis 1962 eine relative Preisstabilität erreicht werden. Die erzielten Zahlungsbilanzüberschüsse ließ de Gaulle auf Drängen seines Finanzberaters J. Rueff in Gold anlegen, weil dieser in der Erhöhung des Goldpreises und der Rückkehr zur strikten Goldwährung einen Ausweg aus den Währungskrisen sah. Die ehrgeizige Außen-, Rüstungs- und Währungspolitik war nur über eine hohe steuerliche Belastung der Bevölkerung zu finanzieren und ging auf Kosten notwendiger innerer Reformen. Frankreich wies von allen vergleichbaren Industriestaaten das größte Einkommensgefälle auf; die zur Zeit der Vierten Republik eingeleitete Regionalisierung blieb stecken, von der Landesplanung profitierten nur wenige städtische Ballungszentren, die
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dennoch weiter hinter Paris zurückfielen. Der ländliche Raum verfügte nur über eine höchst rudimentäre Infrastruktur. Der Zentralismus in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens weckte in den Provinzen an der Peripherie sprachlichkulturelle Autonomiebestrebungen, die sich in der Bretagne, im Baskenland, in »Okzitanien« und auf Korsika auch in Gewaltakten entluden. Obwohl die französische Wirtschaft auf ausländische Arbeitskräfte – vor allem aus dem Maghreb – angewiesen war, bestand immer ein Sockel an Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot trafen vor allem die jüngere Generation, die de Gaulles Rhetorik ohnehin nicht erreichte. Vor diesem Hintergrund und den ab 1962 steigenden Lebenshaltungskosten nahm die Zahl der Arbeitskämpfe zu. Dabei erwuchs dem Regime der mächtigste innenpolitische Gegner in der französischen Gewerkschaftsbewegung. Die kommunistische CGT mit den Generalsekretären Frachon und Séguy (ab 1967) zählt rund zwei Millionen Mitglieder. Die aus der CGT abgespaltene »Force ouvrière« (ca. 600000 Mitglieder) ähnelt in ihrem Selbstverständnis den westdeutschen Gewerkschaften. Neben der CGT entwickelte sich aus der katholischen Gewerkschaftsbewegung eine sozialistische Gewerkschaft, die 1964 in der »Confédération Française et démocratique du travail« (CFDT) ihre eigene Organisationsform fand und etwa 700000 Mitglieder umfaßt. Die dynamische CFDT stand – oft in Aktionseinheit mit der CGT – an der Spitze vieler Arbeitskämpfe. Der Streik von 200000 Bergarbeitern der staatlichen Zechen in Nordfrankreich und Lothringen im Winter 1963 führte die Wirtschaft an den Rand des Abgrunds, weil de Gaulle entgegen dem Rat seines Premierministers Pompidou den Ausstand mit der Zwangsverpflichtung der Arbeiter beenden wollte, worauf die Gewerkschaften mit Solidaritätsstreiks in anderen Branchen antworteten. Der Sieg der Gewerkschaft war zugleich die erste große innenpolitische Niederlage des Generals. Die Präsidentschaftswahl 1965, bei der sich de Gaulle erst in der Stichwahl gegen Mitterrand durchsetzen konnte, und die Parlamentswahlen von 1967, als das Regierungslager nur dank Wahlkreiseinteilung und Überseedepartements gerade noch die absolute Mehrheit erreichte, zeigten den innenpolitischen Vertrauensverlust an. Premierminister Pompidou setzte ab 1966 auf industrielles Wachstum. Wirtschafts- und Finanzminister Debré drängte Industrieunternehmen, Banken und staatliche Versicherungen zur Konzentration, um der westdeutschen Konkurrenz gewachsen zu sein. Das gaullistische Regime, jetzt ein Bündnis aus Bourgeoisie und Technokraten, mußte die Modernisierung einer widerstrebenden und archaischen Gesellschaft aufzwingen32. Das französische Erziehungswesen basierte auf einem strengen Ausleseverfahren. Schulische und universitäre Examen sind in der Regel »Concours«, d.h. Ausleseverfahren, bei denen nicht selten 70–80% der Kandidaten abgelehnt werden. Die Elite in den Führungspositionen von Staat und Wirtschaft rekrutiert sich aus den Absolventen der »Grandes Ecoles«, der »Ecole Normale Supérieure« und der
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»Ecole Nationale d’Administration«. Die Universitäten hatten wie in anderen europäischen Ländern den tiefgreifenden technischen und gesellschaftlichen Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg verpaßt. In den nach wie vor dominierenden »Sciences humaines« wurden die Studenten zwar zu kritischem Denken erzogen, besaßen aber kaum Aussicht auf berufliche Selbstverwirklichung33. Die Studentenrevolte, die sich am Problem Hochschulund Studienreform entzündete, stellte die unkontrollierte, als Herrschaft und Ausbeutung erfahrene Modernisierung grundsätzlich in Frage. Die an der Universität Nanterre und der Sorbonne ausgebrochenen Unruhen eskalierten im Mai 1968 zu einer Staatskrise, weil ein Teil der Pariser Bevölkerung für die rebellierenden Studenten Partei ergriff und die Wiedereröffnung der Sorbonne auf Veranlassung von Pompidou den Eindruck erweckte, als gäbe die Regierung nach. Die großen Gewerkschaften schlössen sich den ersten Streikaufrufen von Studenten- und Lehrergewerkschaften an und riefen am 13. Mai den Generalstreik aus, an dem sich überall in Frankreich mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen beteiligte. Während die CFDT eine grundlegende Gesellschaftsreform verlangte, verstand die CGT die Auseinandersetzung als herkömmlichen Arbeitskampf. Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung und Herabsetzung der Altersgrenze konnten nur von »seriösen und angemessenen Partnern« (Séguy), von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung, ausgehandelt werden. Während Pompidou den von der CGT aufgezeigten Ausweg aus der Krise beschritt, bot de Gaulle in einem Fernsehappell vom 24. Mai soziale Reformen an; andererseits flog er, ohne die Regierung zu unterrichten, am 29. Mai nach Baden-Baden, um mit dem Oberkommandierenden der französischen Streitkräfte in Deutschland, Massu, eine mögliche »Rückeroberung« von Paris für den Fall einer kommunistischen Machtübernahme zu besprechen. Am 30. Mai verzichtete er auf Anraten Pompidous auf das angekündigte Referendum und löste die Nationalversammlung auf. Die von den Gaullisten organisierte Massenkundgebung am Abend des 30. Mai und der große Erfolg der Gaullisten bei den Parlamentswahlen im Juni zeugten vom »Reflex der Angst« bei vielen Franzosen34. Ein Jahr später verlor de Gaulle dieses Vertrauen, als er mit sozialen Reformen Ernst machte und das Referendum über die Regionalisierung mit seinem Verbleiben im Amt verknüpfte. Die Volksbefragung war 1945 von de Gaulle »zum Symbol der Wiedergeburt der Demokratie in Frankreich« gemacht worden35. Seit 1958 hatte er sich dieses Instruments wiederholt bedient. Die Fragestellungen waren stets einfach und die Verknüpfung mit seiner Person aufgrund ihrer Bedeutung einleuchtend. Warum er die komplizierte Regionalisierung zum Thema einer Volksbefragung machte, mag hier unerörtert bleiben. Sicher ist, daß er die Identität zwischen seiner Person und Frankreich gefährdet sah, nachdem 1967/68 mit einem starken Premierminister, der sich auf die mittlerweile gut organisierte gaullistische Partei und Fraktion stützen konnte,
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ein Gaullismus ohne de Gaulle denkbar geworden war. So unterlag de Gaulle – wie später Giscard – der Gefahr, die Bereiche, in denen der Präsident allein entscheidet, ständig auszudehnen. Die viel gelobte Stabilität der Fünften Republik galt ohnehin nur für den Präsidenten; Premier und Minister wechselten ebenso häufig wie zu den Zeiten ihrer Vorgängerin. Der Abschied de Gaulles war kein Erfolg der Linken. Bei der Präsidentschaftswahl, die im zweiten Wahlgang mit Pompidou und Senatspräsident Poher nur zwischen bürgerlichen Bewerbern ausgetragen wurde, erreichten Kommunisten, Sozialisten und diverse Linke eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte. Mit dem liberalen Gaullisten ChabanDelmas als Premierminister führte der neue Präsident Pompidou den sozialen Reformkurs fort. Widerstände im eigenen Lager und die wirtschaftlichen Folgen der Mai-Krise zogen dieser Politik jedoch enge Grenzen, so daß Chaban im Juli 1972 gegen den orthodoxen Gaullisten Messmer ausgewechselt wurde. Auf der Linken lösten die Gründung der Sozialistischen Partei (1969), das gemeinsame Regierungsprogramm von PS und KPF und die Einigung auf Mitterrand als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten 1974 eine Dynamik aus, die einen Machtwechsel in greifbare Nähe rückte. Nach Pompidous Tod entwickelte sich die Präsidentschaftswahl zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen, das Giscard d’Estaing knapp vor Mitterrand für sich entschied. Giscard, Absolvent der ENA, aus dem Zentrum von Pinay mit den eigenen »Unabhängigen Republikanern« ins Regierungslager gewechselt, mehrmals Finanzminister, hatte dank der Unterstützung eines Teils der Gaullisten unter Landwirtschaftsminister Chirac den gaullistischen Kandidaten Chaban- Delmas distanzieren können. Er kündigte an, das Verhältnis zwischen den innenpolitischen Machtblöcken entkrampfen zu wollen. So fallen wichtige Entscheidungen wie die Herabsetzung des Wahlalters und der Volljährigkeit auf 18 Jahre und die Liberalisierung der Abtreibung (»Projet« Simone Weil) in die erste Phase seiner Amtszeit. Versuche, die Regierungsmehrheit um unabhängige Persönlichkeiten wie J.J. Servan-Schreiber und F. Giroud zu erweitern, blieben ein »schöner Traum eines unverbesserlichen Liberalen«36, da gerade aus diesen Kreisen die heftigste Kritik an gaullistischen Statussymbolen wie der »Force de frappe« und dem Überschallflugzeug »Concorde« kam. Die Wirtschaftspolitik unter Premierminister Chirac schwankte zwischen Bremsen und Beschleunigen. Nach dem Bruch mit Chirac (1976) räumte Giscards neuer Premierminister Barre dem Kampf gegen die Inflation den Vorrang ein. Dabei vertraute er auf Marktmechanismen und hob staatlich festgelegte Preise auf. Auf den Weltmärkten konnte Frankreich seine Position deutlich verbessern. Mit einer Arbeitslosenquote von 7–8% und einer Preissteigerungsrate von 12% (1980) nahm Frankreich einen Mittelplatz zwischen Großbritannien und Italien einerseits und der Bundesrepublik Deutschland andererseits ein. Statt über eine Änderung der Steuersätze und -einziehung eine Verringerung des Einkommengefälles zu erreichen, hob die Regierung Renten und staatlich
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garantierte Mindestlöhne überdurchschnittlich an. Im Zeichen der Energiekrise wurde der Anteil des Erdöls an der Energiebilanz von 66% (1973) auf 53% (1980) verringert, die Entwicklung anderer Energieträger (Wasser +2,7%, Gas +3,9%, Kernenergie +5%) vorangetrieben. Das ehrgeizige Bauprogramm für Kernkraftwerke rief anders als im übrigen Westeuropa keine starke innenpolitische Opposition hervor. Zwar blieb die zentralistische Verwaltungsstruktur unangetastet, auf der Ebene der »Collectivités locales« indessen wurde in der größeren finanziellen und administrativen Autonomie für Kommunen und Departements der Anfang zu einer größeren Reform gemacht. Die Schulreform von Unterrichtsminister Haby mit dem Ziel, die Chancengleichheit zu verbessern, wurde durch mangelnde Unterstützung im Regierungslager und den Widerstand von Opposition und Lehrergewerkschaften auf eine Erleichterung der schulischen Übergänge verkürzt. Als überzeugter Europäer forderte Giscard den Widerstand der Gaullisten heraus. Sein oft als »französisch-deutsches Direktorium« interpretiertes Einvernehmen mit Bundeskanzler Schmidt verärgerte Großbritannien und die kleineren EG-Länder, die ohnehin durch die »Gipfel«-Diplomatie der wichtigsten OECD-Staaten von vielen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen waren. Die Übernahme der gaullistischen Erbschaft im frankophonen Afrika gestaltete sich überaus schwierig, galt es doch, die Versprechungen und Hoffnungen, die der General geweckt hatte, in die Tat umzusetzen. Durch längst fällige Besuche konnte Giscard das Verhältnis zu Marokko, Algerien und Tunesien verbessern. Das von Frankreich inszenierte Schauspiel der Kaiserkrönung in Zentralafrika und der dann provozierte Sturz des Diktators Bokassa haben Giscard vor allem innenpolitisch geschadet. Das gestörte Verhältnis zu Libyen führte im Bürgerkrieg im Tschad zum Verlust des französischen Einflusses. Ob die Verstärkung der militärischen Präsenz in Gabun und in Zentralafrika die französische Position stabilisieren kann, ist fraglich; Frankreich unterstrich jedoch damit, wie auch durch die militärische Intervention in Kolwezi/Zaire (Mai 1978), daß es seine Einflußsphären in Westund Mittelafrika nicht ohne weiteres aufgeben wird. Während Giscards Präsidentschaft veränderten sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der innenpolitischen Machtblöcke. Chirac lenkte nach seinem Ausscheiden aus der Regierung und seiner Wahl zum Bürgermeister von Paris (1977) die in »Rassemblement pour la République« (RPR) umgetauften Gaullisten auf einen oppositionellen Kurs innerhalb der Präsidentenmehrheit; die verbliebenen gaullistischen Regierungsmitglieder und Chaban-Delmas wurden aus den Führungsgremien der Partei entfernt. Allerdings trug Chiracs Kurs effektiv zur Schwächung der Mehrheit bei, da die Gaullisten angesichts der Stärke der linken Opposition einen echten Machtwechsel nicht riskieren konnten. Auf der anderen Seite gelang es Giscard nicht, die Gaullisten zu spalten und die
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ihn stützenden Kräfte des alten Zentrums über ein Wahlbündnis hinaus zu einer echten Partei zusammenzuführen. Auf der Linken profitierten vor allem die Sozialisten von der Dynamik des »Programme commun«. Die Partei baute einen schlagkräftigen Apparat auf und erweiterte regelmäßig ihr Wählerpotential. In vielen Kommunen stellte sie seit 1977 den Bürgermeister und die Mehrheit im Stadtrat. Die Kommunistische Partei, die unter Führung von G. Marchais auf dem 22. Kongreß 1976 die marxistische Position der »Diktatur des Proletariats« geräumt und sich um das Image einer gemäßigten eurokommunistischen Partei bemüht hatte, kündigte angesichts der sozialistischen Wahlerfolge das gemeinsame Regierungsprogramm auf und fand unter dem Eindruck der verschärften internationalen Lage – Marchais bewertete den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan als »globalement positif« – zu einem orthodoxeren Kurs zurück37. Zur Bilanz der Amtszeit von Präsident Giscard d’Estaing und damit zur Frage nach den Ursachen für seine Wahlniederlage gegen den Sozialisten Mitterrand 1981 gehört der Regierungsstil. Giscard führte Frankreich in den Augen vieler wie ein aufgeklärter Monarch. Als brillanter Technokrat war er nie volksnah, obwohl er sich wie kein anderer Präsident vor ihm des Mediums Fernsehen bediente. Allerdings stand ihm die unabhängige Presse äußerst kritisch gegenüber. Viele angekündigte Reformen, viele Maßnahmen blieben an der Oberfläche und erweckten den Eindruck prinzipienloser Effekthascherei. Der Wunsch nach einem Wechsel trug nach über zwanzig Jahren Herrschaft im Besitz der »Rechten« entscheidend zum Wahlausgang von 1981 bei. Der Sieg der Sozialisten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hat überdies die jahrelang gepflegte propagandistische Drohung, Machtwechsel bedeute Systemwechsel, widerlegt und gezeigt, daß die Verfassung der Fünften Republik nicht nur den Abschied von de Gaulle, sondern auch einen sozialistischen Präsidenten ertragen kann. IV. Grossbritannien Die Nachkriegsentwicklung Großbritanniens bis zur Gegenwart wurde weitgehend von drei miteinander verbundenen Problemen beeinflußt: – der außen- wie innenpolitischen Loslösung aus den Traditionen des Empire und der Suche nach einer neuen Rolle im Commonwealth und in der Weltpolitik; – der Hinwendung zum kontinentalen (West-)Europa; – den wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die man in Westeuropa häufig vereinfachend als »englische Krankheit« apostrophiert. Mit dem offenen Ausbruch der Unruhen in Nordirland trat ein vierter Problemkreis hinzu, der das Verhältnis der Machtzentrale zu den Regionen insgesamt berührt38. Der gescheiterte englisch-französische Suez-Feldzug 1956, der vom konservativen Premierminister Anthony Eden und seinem aus der alten Führungselite rekrutierten »Inneren Kabinett« inszeniert worden war, führte
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nicht nur zum Sturz von Eden, sondern markierte auch den Beginn einer lang anhaltenden Vertrauenskrise für die Konservative Partei. Der dominierende Einfluß des »Establishment« – einer den imperialen Traditionen verpflichteten, durch Erziehung und verwandtschaftliche Beziehungen relativ homogenen und standesbewußten Schicht – auf die Konservative Partei, das Bankwesen und viele Industriezweige nahm ab. Angesichts der ungelösten Wirtschaftsprobleme griff der neue Premier Harold Macmillan, obwohl im Erscheinungsbild »alte Elite«, verstärkt auf Ideen und Persönlichkeiten aus den Reihen der 1951 gegründeten »Bow group« zurück, einem Kreis aus Intellektuellen, Technokraten und Wirtschaftsmanagern, der innerhalb der Partei einen pragmatischen, an den ökonomischen Erfordernissen orientierten und Europa zugewandten Kurs repräsentierte39. An den Ursachen der strukturellen Dauerkrise, die die einst führende Industrienation Großbritannien im internationalen Vergleich hatte zurückfallen lassen, änderten die Liberalisierung und der Verzicht der Konservativen auf staatliche Wirtschaftslenkung nach dem Aufschwung von 1953 nichts. Das SuezAbenteuer provozierte eine neue Schwäche des Pfund Sterling. Das Pfund war zugleich Handelswährung von 34 Ländern des Sterling-Blocks und neben dem US-Dollar Reservewährung und als solche zu einem festen Kurs konvertibel in Gold oder Devisen. Die regelmäßig wiederkehrenden Währungskrisen wurden stets nach dem gleichen Rezept angegangen: Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF), der USA und anderer Staaten verhinderten kurzfristig das Abfließen von Gold und Devisen, die Ursachen der Pfund-Krise blieben unangetastet. Die Verschuldung im Ausland nötigte die Regierung, die Verteidigungsausgaben durch den Abbau militärischer Präsenz in Übersee, die Reduzierung der Streitkräfte und schließlich die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht (1960) zu vermindern. Der als Ausgleich gedachte Aufbau einer Atomstreitmacht in eigener Regie ließ sich finanziell nicht durchhalten, sondern konnte nach dem Treffen von Macmillan mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Kennedy, auf den Bahamas (1962) nur in enger Anlehnung an die USA fortgesetzt werden. Die Konservativen beschränkten sich darauf, in Rezessionen (1952, 1958) durch Senkung des Diskontsatzes, Anheben der Obergrenzen bei Krediten und Ratenkäufen und anderen Erleichterungen, in Aufschwungphasen (1953–55,1959–60) durch restriktive Maßnahmen entgegenzusteuern. Versuche, die Löhne, die Preise und den privaten Verbrauch über staatliche Interventionen zu dämpfen (»price freeze« 1956–57, »pay pause« 1961–62), blieben erfolglos. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern verschlechterte sich die Lage zusehends: geringe reale Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts, steigende Inflationsrate, Lohnerhöhungen ohne entsprechenden Produktivitätszuwachs, niedrige private Investitionen und schneller Anstieg der Exportpreise waren die Hauptsorgen. Die Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führte allein in den letzten zehn Monaten der konservativen Regierung Sir Alec Douglas-Home zu Handelsschulden von über 7 Mrd. DM40.
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Bei Abschluß der Römischen Verträge 1957 war Großbritannien der EWG ferngeblieben und hatte statt dessen einer lockeren europäischen Freihandelszone (EFTA) den Vorzug gegeben. Das lag größtenteils in der im Vergleich zu Westeuropa höheren Kapitalkonzentration und in der weltweiten Ausrichtung vieler britischer Konzerne begründet. Erst das Scheitern der in die EFTA gesetzten Hoffnungen und die wachsende Konzentration in Westeuropa drängten Regierung und Unternehmer dazu, 1961 »schweren Herzens – denn es handelt sich um das Eingeständnis des unvermeidlichen Verlusts der unabhängigen Rolle einer Klasse«41 – um Aufnahme in die EWG nachzusuchen. Über Rezession und erneuter Pfund-Krise 1961, in der sich Schatzkanzler Selwyn Lloyd mit restriktiven Maßnahmen nicht durchsetzen konnte, und über SkandalAffären stürzten die Konservativen in eine Vertrauenskrise, aus der sie auch durch den Rücktritt von Macmillan und die Bildung des Kabinetts DouglasHome nicht herausgelangten. Bei den Wahlen 1964 gewann die Labour-Partei mit 317 Abgeordneten eine knappe Mehrheit im Unterhaus (Konservative 303, Liberale 9 Mandate). Labour, seit 1922 wichtigster Konkurrent der Konservativen Partei, war schon aus den ersten Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg als Sieger hervorgegangen. Die Besonderheit der Partei liegt in ihrer Mitgliederstruktur: Neben rund 800000 Einzelmitgliedern gehören gut 60 Einzelgewerkschaften mit ca. 5,5 Millionen Mitgliedern und 6 Verbände mit etwa 20000 Mitgliedern der Partei an. Die Gewerkschaften tragen zu gut 80% die Parteifinanzierung. Daraus resultiert der übermächtige Einfluß des gewerkschaftlichen Dachverbands »Trade Union Congress« (TUC) auf die Partei. Bei Entscheidungen warfen die Gewerkschaften ihr Gewicht nicht nur zugunsten primär gewerkschaftlicher Zielsetzungen, sondern häufig auch zur Abwehr von Forderungen linker Theoretiker in die Waagschale. Der Parteiführer wird – wie bei Konservativen und Liberalen – nicht von den jährlichen Parteitagen, sondern von der Unterhausfraktion gewählt, der damit eine besondere Bedeutung zufällt42. Die für einen Kontinentaleuropäer oft chaotisch anmutenden Beziehungen zwischen Unternehmern, Beschäftigten und Staat, die »industrial democracy«, zeichnen sich »in einer bis heute nahezu ungebrochenen Tradition von mehr als hundert Jahren stärker aus durch ›self government‹ und ›voluntarism‹, gesellschaftliche Autonomie und Gegenmachtkonzeption sowie durch eine bemerkenswerte ›abstention of law and State‹«43. Im Zentrum stehen die kollektiven Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften (»collective bargaining«), die auf der Ebene von Branchen (»industrywide« oder »industrial bargaining«) und auf betrieblicher Ebene (»Workshop« oder »domestic bargaining«) ablaufen. Diese voluntaristische, auf Macht und Gegenmacht gegründete Tarifautonomie wurde sowohl von den Gewerkschaften als auch vom Arbeitgeberverband, der »Confederation of British Industry« (CBI, seit 1965), gegen Staatseingriffe und rechtliche Formalisierung verteidigt. Tarifabschlüsse auf Branchenebene durch paritätisch besetzte Kommissionen
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führten in der Regel zu schriftlich fixierten, aber nicht einklagbaren Kollektivverträgen. Tatsächlich wurde das Lohngefüge jedoch durch die meistens nur mündlich getroffenen Absprachen zwischen Managern und den »Shop Stewards«, den Obleuten von Gruppen von 30 bis 40 Arbeitnehmern im Betrieb, stark zersplittert. Neben der Vielfalt der nach Berufen, nicht nach Branchen gegliederten englischen Gewerkschaften (1967: 591, 1975: 450 Einzelgewerkschaften, davon nur ein knappes Drittel dem TUC angeschlossen) haben vor allem die »Shop Stewards« zu dem chaotischen Bild beigetragen, das sich viele Westeuropäer und vor allem die an Einheitsgewerkschaft und gewerkschaftliche Disziplin gewöhnten Westdeutschen von Arbeitskämpfen auf der Insel machen. Im »domestic bargaining«, das innerbetriebliche Überstunden, Akkordzuschläge, Arbeitsplatzbeschreibung, Lohnstufen, Beurteilung, Besetzung von Maschinen u.a.m. regelt, setzten »Shop Stewards« die ganze Palette von Kampfmaßnahmen ein – vom »Bummelstreik« bis zum »wild cat strike«, dem nicht durch die Gewerkschaften gedeckten »wilden Streik« – mit verheerenden volkswirtschaftlichen Folgen. »Wilde Streiks«, die über 90% aller Streiks ausmachten, hatten nach dem Ende der Vollbeschäftigung 1958 zunehmend die Sicherung von Arbeitsplätzen auf Kosten von Modernisierung und Automation zum Ziel. Das lähmte die unternehmerische Bereitschaft zur technischen Innovation und führte in vielen Betrieben – etwa bei den Staatskonzernen British Leyland Motor Corporation und British Steel Corporation wie bei den Presseverlagen der Fleet Street – zu einer personellen Überbesetzung von durchschnittlich 40%, mit Spitzen bis zu 300%. Veraltete Produktionsapparate ließen einst florierende Industriebranchen und Bereiche des Tertiärsektors (Häfen, Seeschiffahrt) zu Problemfällen werden. Die Labour-Regierung mit dem neu geschaffenen Departement for Economic Affairs unter dem dynamischen George Brown stand vor der schwierigen Aufgabe, die Vollbeschäftigung zu sichern, die Teuerungsrate zu bremsen, die Zahlungsbilanz auszugleichen und die Schwächung des Pfunds aufzuhalten, ohne das Wirtschaftswachstum zu gefährden. 1964 gewährten IWF und westliche Zentralbanken einen 12-Mrd.-DM-Kredit. Über die angestrebte Verdoppelung der Exporte und die Dämpfung von Import und privatem Verbrauch (Sondersteuern auf eingeführte Industriegüter, Erhöhung der Luxussteuern, Kontrolle der Kapitalausfuhr, Beschränkung von Ratenkäufen, Reduzierung der Staatsausgaben) glich Großbritannien im Juni 1967 tatsächlich seine Zahlungsbilanz aus. Das Kernproblem bestand jedoch darin, Lohn- und Einkommenssteigerungen an den realen Produktivitätszuwachs zu binden (»Productivity agreements«). Die von Premier Harold Wilson 1964 begonnene »Preis- und Einkommenspolitik« krankte »an ihrem charakteristischen Schwanken zwischen offiziellen Maßhalteappellen und freiwilliger Kooperation der Spitzenverbände ... auf der einen sowie exekutiven Drohgebärden und gesetzlicher Lohnregulierung auf der anderen Seite«44, ohne sich an die grundsätzlichen
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Mängel des »collective bargaining« heranzuwagen. Mit dem Wahlsieg von 1966 im Rücken und der Lohn-Preis-Spirale vor Augen verordnete Wilson am 20. Juli 1966 einen totalen Preis-, Lohn- und Dividendenstopp für ein halbes Jahr, auf das weitere sechs Monate »strenger Zurückhaltung« folgen sollten. Nach einem Jahr relativer Ruhe kündigten einzelne Gewerkschaften im September 1967 im Widerspruch zur Linie des Generalrats des TUC das Stillhalteabkommen auf. Angesichts einer neuen Streikwelle zeigte sich auch der Unternehmerverband CBI nicht länger zu Preiskontrollen bereit, so daß die 1967 und 1968 jeweils erneuerten Stillhalteabsprachen praktisch ausgehöhlt waren. Nach dem Nahost-Krieg im Juni 1967 lösten arabische Kunden ihre SterlingKonten in London auf und stürzten die britische Währung in eine neue Krise. Die Zentralbanken des »Zehnerklubs« gewährten im November zwar einen Kredit über 6,6 Mrd. DM, ein zweiter Kredit scheiterte indessen am Widerstand des französischen Staatspräsidenten de Gaulle, so daß sich die Labour-Regierung am 18. November zur Abwertung des Pfunds um 14,3% entschloß. Damit wurde dieser Schritt, vor dem konservative Regierungen stets zurückgeschreckt waren, nach 1931 (MacDonald) und 1949 (Attlee) zum dritten Mal von einem Regierungschef aus den Reihen der Arbeiterpartei vollzogen. Den chronischen Wirtschafts- und Währungskrisen war ohne »radikale Reformen« (A. Sampson) nicht beizukommen, zu denen sich die Labour-Regierung nur halbherzig entschloß. Die viel zu zögernde Rückkehr britischer Truppen aus Übersee belastete nach wie vor die Zahlungsbilanz. 1967 wurden die Positionen »östlich von Suez« aufgekündigt. Die einseitige Unabhängigkeitserklärung Rhodesiens (1965) und der Bürgerkrieg in Nigeria/Biafra (1967–70) erschütterte Großbritanniens Stellung im Commonwealth. Die Immigration Farbiger aus CommonwealthLändern brachte zusätzlich innenpolitischen und sozialen Sprengstoff, den die Regierung mit der Festlegung von Einwanderungsquoten (Februar 1968) einerseits und einem Gesetz gegen die Rassendiskriminierung (Juli 1968) andererseits zu entschärfen versuchte. Die von Arbeitsministerin Barbara Castle 1969 vorgelegten Pläne zur Reform des Streikrechts sahen eine Einschränkung von zwischengewerkschaftlichen Streitigkeiten, Verfahrensvorschriften für Tarifverhandlungen, ministerielle Anordnung von Schlichtungspausen und Urabstimmungen vor und gingen in der Androhung von Sanktionen weit über die Empfehlungen des 1968 veröffentlichten Abschlußberichts der »Royal Commission on Trade Unions and Employers’ Associations« (Donovan-Report) hinaus. Der durch die Frage des britischen Beitrittsgesuchs zur EWG belastete und zwischen Premierminister/Parteiführung, einzelnen Ministern, Fraktion und TUC nur schwer auszutarierende Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß brach damit völlig auseinander45. Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1970 nahm Edward Heath erheblich schärfere Vorschläge seiner Partei im »Industrial Relations Act« (1972) auf.
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Aufgrund der katastrophalen Lage (über eine Million Arbeitslose, Konkurse, beschleunigte Lohn-Preis-Spirale) sollte das Gesetz vor allem die Streiklust brechen. Neben der – von den Gewerkschaften allerdings unterlaufenen – Registrierpflicht für »Trade Unions« konnten nach Ausrufen des »nationalen Notstands« Sanktionen angedroht, Abkühlungsfristen bei Streikdrohungen verfügt, Urabstimmungen angesetzt und die Einhaltung von Tarifverträgen gerichtlich überwacht werden. Die Zustimmung des Unterhauses zum EWGBeitritt (28. Oktober 1972) verblaßte hinter dem Kampf zwischen Regierung und Gewerkschaften. Das zeitliche Zusammentreffen von Ölkrise und Bergarbeiterstreik, der am 12. November 1973 über die Ablehnung von Überstunden ausgebrochen und am 1. Februar 1974 in einen totalen Förderungsstopp eingemündet war, verlangsamte die Industrieproduktion und rief Engpässe in der Stromversorgung hervor. Da Heath befürchtete, ein Eingehen auf die Forderungen der Bergleute würde eine Welle von Lohnforderungen auslösen, hoffte er, über vorzeitige Neuwahlen (Februar 1974) seinen Plan von einem Lohn- und Preispakt abzusichern. Die Labour-Partei, die im Wahlkampf kein Konzept zur Lösung der aktuellen Wirtschaftsprobleme anbot, machte die Inflation zur Zielscheibe ihrer Kritik und versprach, die Beitrittsbedingungen für den Gemeinsamen Markt neu auszuhandeln. Das Wahlergebnis, das Labour einen knappen Vorsprung von fünf Mandaten, nicht aber die absolute Mehrheit brachte, spiegelte den Vertrauensschwund der großen Parteien wider, von dem Liberale und verschiedene regionale Formationen profitierten. Da Heath eine Koalition mit den Liberalen um den Preis einer Wahlrechtsänderung ablehnte, fand sich die an Ideen und Persönlichkeiten reiche Liberale Partei, die seit 1945 keinem Kabinett angehört hatte, zur Duldung einer Labour-Minderheitsregierung unter Wilson bereit. Auch bei den Neuwahlen im Oktober 1974 blieben die kleinen Parteien aus den ehemals keltischen Gebieten Schottland, Wales und Nordirland im Aufwind. Die drei unterentwickelten Regionen hofften stärker als die Zentralregierung in London auf Zuteilungen aus dem Regionalfonds der Europäischen Gemeinschaft. In Schottland erhielt die 1970 bereits totgesagte »Scottish National Party« unerwarteten Auftrieb in Zusammenhang mit der für 1975 vorgesehenen Aufnahme der Erdölförderung aus der Nordsee, da man im »Armenhaus« des Vereinigten Königreichs befürchtete, der Öl-Boom könne an Schottland vorbeilaufen und im traditionell vom Fischfang und Tourismus geprägten Nordosten (St. Fergus/Peterhead, Orkneys, Shetlands) nur Umweltprobleme zurücklassen. Die walisischen Autonomisten (»Plaid Cymru«) pochten auf größere sprachlich-kulturelle Eigenständigkeit und regionale Verfügungsgewalt über die Kohlereserven und mögliche »Off-shore«-Erdölvorkommen. Den Forderungen versuchte die Labour-Regierung mit einem Weißbuch über eine begrenzte Autonomie Schottlands und Wales’ (1976) zu begegnen, die entsprechende Gesetzesvorlage, die erst 1978 im zweiten Anlauf das Unterhaus passierte, scheiterte indessen an den Volksabstimmungen in Wales und
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Schottland (1979), so daß der Premierminister zumindest das Gesetz über die schottische Teilautonomie zurückzog46. Die Labour-Regierung legte den »Industrial Relations Act« ihrer konservativen Vorgängerin zu den Akten und nahm die 1964 begonnene Politik der Verhandlungen mit den Gewerkschaften über Produktivitätsabkommen wieder auf. Unter Verzicht auf interventionistische Mittel sollten über Lohnleitlinien, die Bindung von überdurchschnittlichen Lohnerhöhungen an den Produktivitätszuwachs, die Vereinheitlichung des zersplitterten innerbetrieblichen Lohngefüges und die Besetzung von technisierten Arbeitsplätzen nach sachlicher Qualifikation die Hauptursachen für »wild cat strikes« beseitigt werden. Diese Politik wollte Wilson über einen »Sozialkontrakt« zwischen Regierung und Tarifpartnern absichern, in dem Themen wie Preispolitik, Vermögensverteilung, Investitionskontrollen, Steuern und Sozialabgaben informell abgesprochen werden sollten. Dabei muß ungeklärt bleiben, ob die Unternehmerverbände von der Regierung zur Mitarbeit aufgefordert waren oder von sich aus den Gesprächen fernblieben.47 Obwohl sich Wilson gegen ein Votum seines Parteivorstands in der Frage des Beitritts zur EG dank der Zustimmung in der Volksbefragung (5. Juni 1975: 67,2% JaStimmen) behaupten konnte, warf er angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung am 16. März 1976 das Handtuch und begründete seinen Schritt damit, daß er nicht die Kraft habe, Probleme, die sich schon einmal gestellt hätten, von neuem anzugehen. Die Arbeitslosenzahl war über 1,5 Millionen, die Preissteigerungsrate über 20% jährlich gestiegen; Arbeitsminister Michael Foot hatte eine 32%ige Lohnerhöhung im Bergbau gutgeheißen, und der Staat hatte immer mehr konkursreife Betriebe in eigene Regie übernehmen müssen. In einer Kampfabstimmung der Labour-Fraktion setzte sich James Callaghan gegen Foot als Nachfolger von Wilson in Downing Street 10 durch. Sein Kabinett stürzte im März 1979 über einen Mißtrauensantrag im Unterhaus, bei den Wahlen im Mai errang die Konservative Partei mit ihrer Vorsitzenden Margaret Thatcher (seit 1975) die absolute Mehrheit.
Nordirland Nach einem Jahrzehnt relativer Ruhe brach der jahrhundertealte Konflikt zwischen protestantischer Bevölkerungsmehrheit und katholischer Minderheit in Nordirland 1968 wieder auf. Premierminister O’Neill (seit 1963) hatte mit vorsichtigen wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen sowie über eine Annäherung an die Republik Irland versucht, den konfessionellen Graben zu überwinden. In dem Maße, wie der Lebensstandard in Ulster dank der – zu einem gewichtigen Teil von Großbritannien finanzierten – Reformen anstieg, verlor das Ziel einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland gegenüber dem Wunsch nach politischer und sozialer Gleichberechtigung für die katholische
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Minderheit an Bedeutung. Eine heterogene und in ihrer Mitgliederschaft stark fluktuierende Bürgerrechtsbewegung, die sich 1967 zur nordirischen Civil Rights Association (NICRA) zusammenschloß, verstand es, mit Mitteln des gewaltlosen Protestes bisher passive Kreise und die katholische Kirche für ihre Ziele zu mobilisieren. Unter Abkehr vom traditionellen Nationalismus verlangten die Bürgerrechtler ein neues Kommunalwahlrecht (»One man – one vote«), das Ende der Wahlkreismanipulationen, die Reform der Arbeitsplatz- und Wohnungsvergabe, die Aufhebung exekutiver Sondervollmachten (»Civil Authorities Act« oder »Special Powers Act«, seit 1922) und die Auflösung der Sonderpolizei (»B-Specials«). Zielgruppe der Bürgerrechtler war vor allem die Labour-Regierung in London, die Druck auf die Protestanten ausüben sollte. Waren die Reformen der unionistischen Elite unter O’Neill schon beim OranierOrden, in protestantischen Betrieben, der Unionistischen Partei und der Verwaltung auf Widerstand gestoßen, so alarmierten die gewaltfreien Aktionen der Bürgerrechtsbewegung die protestantischen Mittel- und Unterschichten, aus denen radikale Politiker wie der Sektenführer Ian Paisley ihre Anhänger rekrutierten. Paisley, treibende Kraft hinter der 1966 verbotenen Ulster Volunteer Force und deren Nachfolgeorganisationen (Ulster Constitution Defence Committee, Ulster Protestant Volunteers), rief gleichermaßen zum Kampf gegen die unionistische Elite wie gegen die Katholiken auf. Übergriffe von Protestanten gegen Bürgerrechtler im Sommer und Herbst 1968 leiteten eine neue Phase der Gewalt in Nordirland ein, die bis in die Gegenwart andauert und bis 1980 fast 2000 Todesopfer gefordert hat. Einzelne Aktionen spielten in der Eskalation des Konflikts eine wichtige Rolle, weil sie die Solidarisierung in den feindlichen Lagern vorantrieben, den Gegner zu Antworten herausforderten, die – um das Interesse der internationalen Öffentlichkeit zu gewinnen – spektakulär sein mußten, und weil sie das als Schiedsrichter angetretene Großbritannien immer tiefer in die Auseinandersetzungen verstrickten. Ein typisches Ablaufmuster dafür lieferte der Bürgerrechtsmarsch in Derry am 5. Oktober 1968: Nicht nur daß die Polizeikräfte die Bürgerrechtler nicht vor Übergriffen von Seiten der Protestanten schützten, es kam zu Überreaktionen der Polizei gegen die Marschierer. Die politische Verantwortung dafür trug Innenminister Craig, der die Bürgerrechtsbewegung als Ableger der – zu jenem Zeitpunkt bedeutungslosen – Irish Republican Army (IRA) bezeichnete und das Kabinett über den bevorstehenden Marsch nach Derry bewußt falsch informiert hatte. Craig sah in einer verschärften Repression der Bürgerrechtsbewegung auch die Möglichkeit, den konzessionsbereiten Premierminister zu kippen. Craig wurde im Dezember 1968 von O’Neill entlassen, zählte aber als Gründer der »Vanguard«-Bewegung weiterhin zu den Scharfmachern auf protestantischer Seite. Die Brüche in der unionistischen Führung waren nicht mehr zu übersehen. O’Neills Stellvertreter, Brian Faulkner, trat offen als Konkurrent auf. Nach den Parlamentswahlen im Februar 1969 und O’Neills Rücktritt im April behielt Major Chichester-Clark knapp vor Faulkner die Oberhand.
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Eine Amnestie zu seinem Amtsantritt entspannte die Krise nicht. An der integrierten Belfaster Universität hatte sich nach den Ereignissen vom Herbst 1968 ein radikaler Flügel der Bürgerrechtsbewegung, die »People’s Democracy«, gebildet, die mit der Parole »Nicht Glaubens-, sondern Klassenkampf« eine sozialistische Republik Irland anstrebte, die protestantischen Arbeiter aber durch ihren Aktionismus nur verschreckte. Bei Nachwahlen zum Unterhaus 1969 setzte sich ihre Kandidatin Bernadette Devlin durch; die PD verlor jedoch nie ihren sektenhaften Charakter und schloß sich 1972 der provisorischen IRA an. Erste Terroranschläge im Frühjahr 1969 gingen auf das Konto radikaler Unionisten. Die jährliche Parade der Oranier-Orden und der Marsch der protestantischen »Apprentice Boys«48 in Derry arteten in Straßenschlachten aus und versetzten das katholische Getto Bogside in Aufruhr. Die Ulster-Regierung erkannte auf britischen Druck im August 1969 zum ersten Mal das Prinzip der Gleichberechtigung beider Bevölkerungsteile an und ließ eine Reihe von Reformen folgen: Die »B-Specials« wurden aufgelöst, ein allgemeines Kommunalwahlrecht sowie Beschwerde- und Schiedsstellen geschaffen. Die Maßnahmen blieben indessen weitgehend wirkungslos oder wurden – wie im Falle der Polizei durch die Schaffung von Privatmilizen – unterlaufen. Die reguläre Polizei (etwa 3000 Mann) war überfordert, so daß mit der Entsendung britischer Truppen eine neue Stufe des Konflikts erreicht wurde. Angetreten, die Streitparteien zu trennen, erwiesen sich die Soldaten (1970: 11000 Mann) aufgrund ihrer Ausbildung und Bewaffnung schnell als ungeeignet für diese Aufgabe; die katholische Minderheit sah in ihnen ohnehin nur ein neues Herrschaftsinstrument der Unionisten. Die Präsenz britischer Truppen sowie Drohgebärden der Republik Irland, die die Entsendung einer UNFriedenstruppe nach Ulster forderte und Feldlazarette entlang der Grenze errichtete, gaben den Anstoß zur Wiederbelebung der schon totgesagten IRA. Die 1916 gegründete Irish Republican Army hatte sich nach der letzten Terrorwelle mit dem Höhepunkt 1957 wie so oft in ihrer Geschichte ideologisch und regional zersplittert. Marxisten und nationalistische Traditionalisten stritten um Einfluß in der politischen Führung der IRA (Sinn Fein), die Aktivisten im Norden verlangten nach Waffen, um die »freien Zonen« (»Free Derry«, »Free Belfast«) gegen Protestanten und britische Armee zu verteidigen, das Hauptquartier der IRA in Dublin verweigerte Waffenlieferungen. Die Regierung Lynch unterstützte die nationalistischen Republikaner mit Waffen und Munition, um ihnen gegen die Marxisten in der IRA den Rücken zu stärken. 1969 vollzog sich die Spaltung in die offizielle IRA, die eine sozialistische Republik Irland anstrebte, und die provisorische IRA, die vorwiegend Traditionalisten umfaßte und eine wahllose Terrorkampagne begann, die sie auch nach Großbritannien selbst trug. Premierminister Chichester-Clark verkürzte den Konflikt auf die Formel »at war with the IRA«. Mit Hilfe britischer Truppen wurden katholische Stadtviertel
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durchgekämmt, bei mehreren Verhaftungswellen fast ausschließlich Katholiken festgenommen und in Internierungslager gesteckt, die erst nach internationalen Protesten 1975 aufgelöst wurden. Zwischen den unverändert harten Fronten suchte die überwiegend katholische Social Democratic and Labour Party (SDLP) nach Verständigungsmöglichkeiten mit Clarks Nachfolger Faulkner. Ebenso riß die Tradition des zivilen Protestes ohne Gewalt nicht ab. Spätestens mit dem 30. Januar 1971, als britische Soldaten das Feuer auf einen Bürgerrechtsmarsch eröffneten, scheiterte der Versuch endgültig, Nordirland mit Hilfe der Armee zu befrieden. Im Herbst 1976 nahm die »Friedensbewegung« katholischer und protestantischer Frauen die Tradition der Gewaltlosigkeit wieder auf. Betty Williams und Mairead Corrigan wurden dafür 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die internationale Anerkennung solcher Bestrebungen war größer als die politische Wirkung in Nordirland, weil die Mehrheit jegliches Zugeständnis an die Minderheit als Gefahr für die eigene Stellung empfand und bekämpfte. In dieser verfahrenen Lage suspendierte der britische Premierminister Heath am 24. März 1972 Regierung und Parlament in Belfast und unterstellte die Provinz der direkten britischen Verwaltung. Auf dem Verfassungskonvent von Ulster (1975) lehnten es die Protestanten erneut ab, der katholischen Minderheit stärkere politische Beteiligung einzuräumen. An der kompromißlosen Haltung der Unionisten scheiterten auch alle englischen Bemühungen, die nordirischen Parteien zu einer Einigung über eine provisorische Autonomie der Provinz zu bewegen. Vorläufig letzter Höhepunkt des Konflikts war die Hungerstreikkampagne von IRA-Häftlingen, die auf diesem Wege die Anerkennung als politische Gefangene erreichen wollten. Jedoch blieb die konservative Regierung Thatcher unbeugsam, auch als der IRA-Angehörige Bobby Sands – im April 1980 ins Unterhaus gewählt – und bald darauf weitere Häftlinge an den Folgen des Hungerstreiks starben. V. Italien Der seit Anfang der fünfziger Jahre andauernde wirtschaftliche Aufschwung in Italien beschleunigte sich nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957. Die italienische Wirtschaft, die sehr stark von den Europäischen Gemeinschaften profitierte, erzielte von 1958–62 außerordentlich hohe Zuwachsraten. Obwohl sie den höchsten Anteil an Staatsunternehmen in Westeuropa aufweist, hat sie ihren kapitalistischen Charakter nicht verloren. Die Verdoppelung des Nationaleinkommens in knapp zehn Jahren erlaubte staatliche Programme zur Verbesserung der Infrastruktur, die vor allem das Gefälle zwischen dem industrialisierten Norden und den Entwicklungsregionen des Südens vermindern sollten. Mit etwa einem Drittel machten die »öffentlichen Arbeiten« den Löwenanteil an den Investitionen des Staates aus. So wuchs z.B. das Autobahnnetz auf 5800 km im Jahr 1978 (1938: 575 km, 1968: 2400 km). Mit einem Anteil von fast einem Viertel folgten die Aufwendungen für die »Cassa
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per il mezzogiorno« (»Südkasse«), aus der umfangreiche Maßnahmen zur Landreform und Industrieansiedlung im Süden finanziert wurden. Für den Zeitraum 1976–80 billigten Kammer und Senat ein letztes Investitionsprogramm in Höhe von 16500 Mrd. Lire für den »Mezzogiorno«, bevor die Kasse 1980 nach dreißigjähriger Existenz aufgelöst wurde. Das italienische »Wirtschaftswunder«, das Italien in die Gruppe der modernen Industriestaaten einreihte, beschleunigte die Verstädterung, verringerte bis in die Mitte der sechziger Jahre die strukturelle Arbeitslosigkeit und ersetzte die traditionelle Auswanderung durch Landflucht und Binnenwanderung, die die explosive Agrarfrage entschärften. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft, die erst 1930 vom Sekundärsektor eingeholt worden war, ging rapide zurück: Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt sank bis 1977 auf 7% (zum Vergleich: Bundesrepublik Deutschland 3%, Frankreich 5%); der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten, der 1966 noch 24,3% aller Beschäftigten betragen hatte, verringerte sich 1977 auf 13% (Bundesrepublik 5%, Frankreich 10%). Auto- und Konsumgüterindustrie, die zu den größten Wachstumsbranchen zählten, führten Italien wie die Bundesrepublik und Frankreich zur Konsumund »Wegwerf«-Gesellschaft, deren Bedarf an Rohstoffen und Energie über die Europäischen Gemeinschaften und mit Hilfe einer anpassungsfähigen Energiepolitik gedeckt werden konnte. Unter Führung des Christdemokraten E. Mattei schloß die halbstaatliche »Azienda Generale Italiana Petroli« (AGIP) vorteilhafte Explorationsverträge mit erdölfördernden Staaten ab und erschloß große nationale Erdgasvorkommen. Mattei gründete die staatliche »Ente Nazionale Idrocarburi« (ENI), das größte staatskapitalistische Unternehmen Italiens neben dem »Istituto per la ricostruzione industriale« (IRI) und der im Zuge der Reformpolitik 1962 zur »Ente nazionale per l’energia elettrica« (ENEL) zusammengefaßten Stromwirtschaft. Der hohe Kapitalbedarf für die Erneuerung des Produktionsapparats löste in den meisten Branchen Konzentrationsprozesse und Fusionen aus. Dank modernster Produktionsverfahren und z.T. aufgrund internationaler Kapitalverflechtung konnten sich »Montecatini Edison« und »Snia Viscosa« (Chemie), FIAT (Automobile), »Pirelli« (Gummi) und »Olivetti« (Büromaschinen, Datenverarbeitung) auf den Weltmärkten gut behaupten. Die mehrfach umgruppierte Stahlindustrie (»Finsider«, »Italsider«) produzierte 1974 zum ersten Mal mehr Rohstahl als Großbritannien und belegte ab 1975 knapp vor Frankreich den zweiten Rang in Westeuropa hinter der Bundesrepublik Deutschland. Den wirtschaftlichen Aufschwung verdankt Italien auch einer wachsenden und schulisch wie beruflich zunehmend qualifizierten Bevölkerung. Die demographische Entwicklung – die Bevölkerung wuchs bei sich abflachender Geburtenrate und höherer Lebenserwartung von 47 Millionen (1951) auf 57 Millionen Einwohner (1978) – zeigte mit einiger Verspätung gegenüber anderen hochindustrialisierten Ländern besonders in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang des Geburtenüberschusses49.
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Trotz aller Regionalisierungsprogramme vertiefte das Tempo der Industrialisierung das Gefälle zwischen Norden und Süden. Der 1957 verfügten gesetzlichen Verpflichtung für Großunternehmen, 40% ihrer Investitionen im Süden zu tätigen, kamen nur die Konzerne IRI und ENI nach, so daß die Industrialisierung dort nicht mit der Urbanisierung Schritt hielt. Ohnehin vollzog sich der gesellschaftliche Wandel im stärker traditionsverhafteten und in vielen Bereichen von Geheimbünden wie der Mafia kontrollierten Mezzogiorno langsamer als im Norden, wo sich im Städtedreieck Mailand – Turin – Genua das Kapital konzentrierte und Mailand zum wirtschaftlichen Zentrum des Landes aufstieg. Die Existenz eines »Entwicklungslandes« innerhalb eines Industriestaates löste eine Wanderungsbewegung in den Norden aus, wobei die Integration der Süditaliener in Norditalien nicht weniger Probleme aufwarf als der Strom von »Gastarbeitern« in die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland, in der 1973 über 400000 Italiener beschäftigt waren. Es lockten nicht nur Arbeitsplätze in der Industrie, sondern auch in der Verwaltungsmetropole Rom, die vielen Süditalienern und Sizilianern Aufstiegschancen bot, die ihnen ihre Heimat nicht bieten konnte. Während die Industrie das überschüssige Arbeitskräftepotential des Südens abschöpfte, entzog die Bürokratie den südlichen Regionen mit den örtlichen Gegebenheiten vertraute Fachkräfte, so daß im Süden selbst der Agrarbereich zusehends verfiel50. In Südtirol verschleppte Italien die im Abkommen mit Österreich (1946) versprochene Gleichberechtigung der deutschsprachigen Bevölkerung. Südtirol blieb im Schatten der wirtschaftlichen Entwicklung. Erst durch internationalen Druck über die Vereinten Nationen nahm Italien 1958 mit Österreich Verhandlungen auf und gestand – von zahlreichen Terrorakten begleitet – schließlich 1969 Südtirol mehr regionale Autonomie zu (»SüdtirolPaket«)51. Das regionale Gefälle spiegelte sich auch im künstlerisch-kulturellen und geistigen Leben wider, das sich vorwiegend in Rom und den großen Städten des Nordens abspielt. Der Idealismus eines Benedetto Croce und seiner Schüler wich neorealistischen und materialistischen, dabei um die Verwertung psychologischer und psychoanalytischer Erkenntnisse bemühten Strömungen. Literaten und Cineasten (Moravia, Fellini, Pasolini, Visconti) zeichneten ein ungeschminktes Bild des modernen Italien, die »Neue Linke« und Intellektuelle aus den Reihen der Kommunistischen Partei (KPI) beherrschten die geistige Auseinandersetzung. Wie in keinem anderen parlamentarischen Regime Westeuropas enteilten sie in Italien »der ungemein ›rechten‹ Realität des Landes mit der Macht der Kirche und der Stärke uralter Traditionen«52. Dennoch offenbarte gerade die Distanz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Intellektuellen, die in ihren Visionen vieles von der Krise der siebziger Jahre vorwegnahmen, einen tiefen politisch- gesellschaftlichen Wandel. Italien, dessen nationalstaatliche Geschichte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs viele Parallelen zur deutschen Entwicklung aufwies, ähnelte als
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Republik innenpolitisch in manchem der Vierten Republik in Frankreich. Sieht man von Monarchisten und Faschisten auf der Rechten und diversen extremen Gruppen auf der Linken ab, so kristallisierte sich im Verhältnis der vier Hauptströmungen – den lange dominierenden Christdemokraten (»Democrazia Cristiana«/DC), den sich mehrfach umformierenden Sozialisten und Liberalen sowie den Kommunisten – die Mehrheitsbildung als zentrales Problem der italienischen Parteiendemokratie heraus. Unter dem Einfluß ihres Generalsekretärs Fanfani, seines Nachfolgers Moro und des Staatspräsidenten Gronchi (1955–62) gewann in der DC die Idee einer »Öffnung nach links« an Boden, die auch von der christdemokratischen Gewerkschaft CISL befürwortet wurde53. Klerus und Vatikan hatten sich dieser Absicht lange widersetzt und Einparteienregierungen der DC gefördert. Die katholische Kirche, die anders als der mit der Industriellen Revolution eng verwobene Protestantismus stärker in Agrargesellschaften verhaftet geblieben war, hatte auf die Säkularisierung der Industriegesellschaften mit Dogmen und Verboten reagiert. Nach dem Tode von Pius XII. (1958) leiteten Papst Johannes XXIII. (1958–63) und Paul VI. (1963–78) einen Reformkurs ein, der der veränderten Rolle der Kirche Rechnung tragen sollte. Dabei standen innerkirchliche Reformen (Liturgie, ökumenische Bewegung), die in mehreren Enzykliken betonte soziale Verantwortung der Kirche, besonders in der Dritten Welt, und eine neue, offene Auseinandersetzung mit dem Kommunismus im Zentrum der Diskussionen. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) stiftete aber in mancherlei Hinsicht Verwirrung bei Traditionalisten wie Progressisten. Während die Segregation von Traditionalisten in Frankreich und Holland eine gewisse Anhängerschaft fand, neigten progressive Amtsträger dazu, »aus Karl Marx einen fünften Evangelisten zu machen«54. Die Verunsicherung der katholischen Kirche kam mit der Wahl des polnischen Kardinals Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. (1978), dem ersten Nichtitaliener auf dem Stuhle Petri seit dem 16. Jahrhundert, vorerst zum Abschluß. Ebenso umstritten wie bei den Christdemokraten war die »Öffnung nach links« bei den Sozialdemokraten von Saragat und den Sozialisten von Nenni. Das Wahlergebnis von 1958 verstärkte die Annäherung der Sozialisten an die Sozialdemokraten und legte rechnerisch die Bildung einer Regierung der linken Mitte nahe. 1962 fanden sich die Nenni-Sozialisten zur Duldung des Kabinetts Fanfani bereit. Nach den Wahlen von 1963 bildete Aldo Moro die erste »Mittelinks«-Koalition. Von den Sozialisten spaltete sich daraufhin die »Sozialistische Partei der Proletarischen Einheit« ab, die das historische Aktionsbündnis mit den Kommunisten weiterverfolgte und in manchen Punkten »links« von der KPI agierte. Die Koalitionen der linken Mitte, die eine Reihe struktureller Reformen in Angriff nahmen (Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft, Abschaffung des feudalen Pachtsystems, staatliche Wirtschaftsplanung, Regionalisierung), blieben labil, weil die Mitte der sechziger Jahre beginnende Rezession die gängige Praxis
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des Klientel- und Patronagewesens begünstigte. Die DC, die über die politische Führungsrolle hinaus über viele gesellschaftliche Einflußfelder verfügte, so z.B. im staatlichen Unternehmensbereich, bot zunehmend das Bild einer von Verteilungskämpfen und Korruption erschütterten Partei, die nur noch vom Erhalt der Macht zusammengehalten wurde. Die Wiedervereinigung von Sozialisten und Sozialdemokraten 1966 schuf, anders als in Frankreich, auf der Linken keine den Kommunisten ebenbürtige Sozialistische Partei, denn schon drei Jahre später trennten sich nach Unruhen in Turin ihre Wege erneut. Nenni demissionierte als Parteivorsitzender und Außenminister, wurde dann aber 1973 mit einem triumphalen Ergebnis in die Parteispitze der Sozialisten zurückgewählt. Nichts illustrierte die Uneinigkeit und die mangelnde Kompromißbereitschaft im Regierungslager so deutlich wie die Einführung der Ehescheidung in das italienische Recht. Nach einem ersten Gesetzentwurf 1962 begleitete diese Streitfrage alle Kabinette der linken Mitte bis zum Referendum von 1973, das eine klare Mehrheit für die Zulassung der Scheidung brachte. Damit erlitt die DC eine schwere Niederlage, wurde doch mit der Ablehnung christlicher Grundsätze als Leitprinzipien der staatlichen Ordnung ihre ideologische Grundlage schwer erschüttert55. Der »heiße Herbst« des Jahres 1969 läutete mit seinen Massenstreiks für Italien eine bis heute nicht überwundene gesellschaftliche Krise ein, die mit den Stichworten wirtschaftliche Rezession, verschärfte Verteilungskämpfe, politisch motivierte Gewalttaten, andauernde politische Führungsschwäche und Verschwörungen umrissen werden kann. Das reale Wachstum des Bruttosozialprodukts verlangsamte sich (»Problemjahre« in ihrer Veränderung zum Vorjahr: 1971 = +1,4% / 1975 = -3,7% / 1977 = +1,7%). Aufgrund geringer Investitionstätigkeit im privaten Bereich und großer Fehlinvestitionen bei den Staatskonzernen schwächten sich die Zuwachsraten der Industrieproduktion ab, die in einzelnen Jahren sogar zurückging. Durch hohe Auslandsverschuldung und Zahlungsbilanzdefizite verlor die Lira ständig an Wert. Kapitalflucht war an der Tagesordnung. Der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Verbraucherpreise (mit Spitzen von 25,2% 1974 und 21,3% 1976) und der Streikhäufigkeit ist für Italien offensichtlich. Von 1969 bis 1974 kamen in Italien 5083 Streiktage auf je 100 Erwerbstätige (in Großbritannien 3035, in Frankreich 901, in der Bundesrepublik 240). Die Arbeitslosenzahlen überschritten Anfang der siebziger Jahre die Millionengrenze; 1977/78 waren 1,5 Millionen Italiener arbeitslos (7,1%), wobei allerdings die offiziellen Angaben über regionale Unterschiede (10,5% im Mezzogiorno) und die hohe Zahl von Unterbeschäftigten nichts aussagen56. Die kommunistische Gewerkschaft CGIL zählte 1974 3,8 Millionen Mitglieder, die christdemokratische CISL 2,2 Millionen und die sozialdemokratischrepublikanische UIL 0,8 Millionen. Im Herbst 1969 versuchten die Gewerkschaften über Lohnforderungen hinaus, der schwachen politischen Führung ein Mitspracherecht in allen sozialen und wirtschaftlichen Fragen
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abzuringen. Im Generalstreik gegen die Wohnungsnot (19. November 1969) griffen sie eines der brennendsten sozialen Themen auf. Ständig unter dem Druck, von maoistischen und trotzkistischen Aktivisten überholt zu werden, wie das »Tribunal« gegen den Präsidenten des FIAT-Konzerns, Agnelli, zeigte, und vor der Gefahr, auf der Rechten Anhänger an den neofaschistischen Gewerkschaftsbund CISNAL zu verlieren, schlössen sich die drei Gewerkschaften 1972 zu einem lockeren Dachverband zusammen57. Bei den Wahlen 1972 verzeichnete der neofaschistische »Movimento Sociale Italiano« (MSI) starke Gewinne. Nach dem Zusammenschluß von Faschisten und Monarchisten im Juli 1972 hatte die »Neue Nationale Rechte« mit 8,7% der Stimmen und 56 Deputierten die Sozialdemokraten überholt und zur PSI fast aufgeschlossen. Da die Rechte auf Sympathien in Kreisen der Streitkräfte zählen konnte, spielte die Gefahr eines Rechtsputsches nach dem Muster der griechischen Obristen in der politischen Diskussion eine große Rolle58. Nach dem Scheitern der Regierungen der linken Mitte wies auch die 1972 gebildete Koalition der Mitte aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen unter Andreotti keinen Weg aus der Krise. Es bestand keine Aussicht, daß sich um die DC auf der einen und die KPI auf der anderen Seite als Kristallisationspunkte zwei große parteipolitische Lager bilden könnten, die Italien ein Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ermöglichen würden. Vor diesem Hintergrund rief die KPI 1973 Christdemokraten und Sozialisten auf, gemeinsam einen Weg aus den politischen Schwierigkeiten zu suchen. Dieser Appell war außen- wie innenpolitisch bemerkenswert. Er zog aus dem Scheitern der Volksfrontregierung Allendes in Chile die Konsequenz, daß eine linke Regierung unter kommunistischer Führung in einem Land innerhalb der amerikanischen Einflußsphäre vor unüberwindbare Hindernisse gestellt würde. Schon bei der Entfremdung zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China hatte die KPI die Ansicht vertreten, daß jedes Land seinen eigenen Weg zum Sozialismus gehen müsse, und damit jeder Wiederbelebung der alten »Komintern« eine Absage erteilt. Die Linie des Polyzentrismus wurde mit der Verurteilung der Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR 1968 weitergezogen und ab 1970 durch eine neue »Westpolitik« ergänzt: Die italienischen Kommunisten erklärten sich zu konstruktiver Mitarbeit in der Europäischen Gemeinschaft bereit und akzeptierten die NATO bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. Unter ihrem Generalsekretär Togliatti (gestorben 1964), der von der Zeit des antifaschistisch-demokratischen Blocks 1944–47 entscheidend geprägt worden war, wuchs die KPI zur stärksten kommunistischen Partei außerhalb des Ostblocks. Die offen geführte ideologische Diskussion in der Partei knüpfte an die voluntaristischen und rätedemokratischen Ideen von Antonio Gramsci (1891–1937) an, dessen Schriften vom angesehenen Verlag Einaudi von 1947 bis 1955 in einer Gesamtausgabe neu ediert wurden. Auf dem XIV. Kongreß im März 1975 erhob die KPI den »Historischen Kompromiß«, die Wiedergeburt des Bündnisses aller
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demokratischen Kräfte aus der Zeit des Widerstands, zur politischen Generallinie. Auf dem Weg zu dem Fernziel einer »großen Koalition« aus DC und KPI, für die wegen der Ablehnung in Italien selbst und im westlichen Ausland die Zeit noch nicht reif war, rechneten die Kommunisten mit Zwischenetappen. Die Kommunal-, Provinzial- und Regionalwahlen vom Juli 1975 brachten die KPI ein großes Stück voran. Der Abstand zur DC schmolz auf wenige Prozentpunkte, in vielen Großstädten und Regionen Nord- und Mittelitaliens wurde die KPI stärkste Partei und bildete – oft zusammen mit den Sozialisten – die Regierungen: so in Turin, Mailand, Venedig, Florenz, Neapel und ab 1976 in Rom wie in der Emilia Romagna, der Toskana, Umbrien, Piemont, Ligurien und Latium. Von der Wählerschaft her ist die KPI auf dem Weg zur linken Volkspartei, die über ihre traditionelle Anhängerschaft unter Arbeitern, Handwerkern und Genossenschaftsbauern hinaus bei Angestellten, in der Intelligenz und sogar bei kleinen und mittleren Unternehmern neue Wählergruppen erschließen konnte. Gegenüber der uneinigen DC bot die KPI das Bild einer offenen, aber zugleich disziplinierten und rationalistischen Partei, die in vielen Arbeitskämpfen sowie bei der Abwehr des Terrorismus einen Ordnungsfaktor ersten Ranges darstellte. Zwar liegt sie mit etwa 1,8 Millionen Mitgliedern noch hinter der DC zurück (über 2 Millionen), sie ist aber besser organisiert und hat ihren Einfluß in der Gewerkschaftsbewegung über die CGIL hinaus ausdehnen können. Dennoch regte sich auch in ihren eigenen Reihen Widerspruch gegen eine »große Koalition«, zumal hohe Arbeitslosenzahlen und Haushaltsdefizite in den kommunistisch geführten Kommunen den Verantwortlichen der KPI drastisch vor Augen geführt haben, wie gering der politische Spielraum in wirtschaftlichen Krisenzeiten ist und daß sich Regierungsbeteiligung nicht unbedingt in besseren Wahlergebnissen auszahlen muß. So fiel der Anteil der KPI bei den Parlamentswahlen vom Rekordergebnis 1976 (34,4%) im Jahre 1979 auf 30,4% zurück, während die DC (38–39%) und die Sozialisten (um 9,5%) eine erstaunliche Konstanz aufwiesen. Die vom Generalsekretär der KPI, Berlinguer, 1976 geforderten »neuen Formen der Zusammenarbeit« schlugen sich nieder in einer lockeren Kooperation der »Parteien des Verfassungsbogens« (DC, KPI, Sozialisten, Sozialdemokraten, Republikaner, Liberale), die sich nach der Ermordung von Aldo Moro auf ein gemeinsames Programm zur inneren Sicherheit sowie zur Sanierung der Wirtschaft und zur Regionalisierung verständigten. Nach dem Sturz der Regierung Andreotti im Januar 1978 erklärten sich die Kommunisten zur Duldung eines neuen, von Andreotti geführten Kabinetts bereit und erhielten als Gegenleistung ein Mitspracherecht bei der Ausarbeitung von Regierungsprogrammen und Gesetzesvorlagen. Es bleibt abzuwarten, ob die so geschaffene »parlamentarisch-programmatische Mehrheit« in eine Regierungsbeteiligung der KPI einmünden und Italien tatsächlich stabile Mehrheitsverhältnisse finden wird59.
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VI. Die Neutralen a) Österreich Nach Abschluß des Staatsvertrags am 15. Mai 1955 und dem Abzug der Besatzungstruppen verabschiedete der Nationalrat am 26. Oktober 1955 die Verfassung mit dem Passus über die immerwährende Neutralität. Dennoch brauchte es zwei Jahrzehnte, bis sich das Prinzip der Neutralität als konstitutives Element der Politik Österreichs durchgesetzt hatte. Schon im Dezember 1955 wurde Österreich in die Vereinten Nationen, im März 1956 in den Europa-Rat aufgenommen. Die Große Koalition aus Volkspartei (ÖVP) und Sozialisten (SPÖ), die ihre Existenzberechtigung aus der Besatzungszeit und den Verhandlungen um den Staatsvertrag gewonnen und unter dem Stichwort »Sozialpartnerschaft« Österreich die schweren sozialen Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit erspart hatte, lähmte mit ihrem Proporzsystem zusehends das gesamte öffentliche Leben. Die folgenden Wahlen, bei denen die ÖVP zunächst vom Prestige des »Staatsvertragskanzlers« Julius Raab (bis 1961) und dann vom Ansehen des Bundeskanzlers Joseph Klaus profitierte, machten Koalitionsverhandlungen immer schwieriger, so daß Klaus 1966 eine Alleinregierung der ÖVP bildete. Nach anfänglichen Erfolgen (Reform des Rundfunks, Außenpolitik, Universitätsgründungen in Linz und Klagenfurt) blieb die Regierung Klaus gegenüber dem seit 1968 verzeichneten Preisanstieg untätig und mußte 1970 eine schwere Wahlniederlage einstecken. Die ÖVP fiel in Stimmen- und Mandatszahl hinter die SPÖ zurück, die mit Bruno Kreisky zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik den Kanzler stellte. Die SPÖ hatte marxistische Positionen weitgehend geräumt und in der Großen Koalition lange Regierungsverantwortung getragen. Zudem waren alle Bundespräsidenten, die jeweils für sechs Jahre vom Volk gewählt werden, aus den Reihen der Sozialisten hervorgegangen (Renner 1945–51, Körner 1951–57, Schärf 1957–65, Jonas 1965–74, Kirchschläger 1974–80, 1980 wiedergewählt). Kreisky bildete ein Minderheitskabinett und erreichte für die SPÖ 1971 bei Neuwahlen die absolute Mehrheit an Stimmen und Sitzen (SPÖ 93 Mandate, ÖVP 80, Freiheitliche Partei – FPÖ – 10). Der Reformkurs der sozialistischen Regierung ähnelte in vielem der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Gegen den erbitterten Widerstand konservativer und katholischer Kreise wurde die Fristenlösung bei der Schwangerschaftsunterbrechung durchgesetzt. Die Organisation von Rundfunk und Fernsehen wurde modernisiert, eine Rechtsreform schloß sich an, und die Universitäten erhielten größere Autonomie. Bei der Verwirklichung von Artikel 7 des Staatsvertrags über Minderheitenschutz, z.B. bei der Aufstellung von zweisprachigen Ortsschildern in Kärnten, regten sich deutschnationale Geister der Vergangenheit.
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Die Wirtschaftskrise erreichte Österreich später als vergleichbare Staaten. Im Vergleich zu früheren Zeiten und zu anderen westlichen Industrieländern blieben die Arbeitslosenzahlen relativ niedrig, allerdings wuchs die Verschuldung der öffentlichen Hände rasch an. Der Anteil ausländischen Kapitals in der östereichischen Wirtschaft, namentlich aus der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und den USA, ist stetig gestiegen. Der Widerstand von Umweltschützern gegen die Inbetriebnahme des einzigen Kernkraftwerkes Zwentendorf zwang die Regierung über einen Volksentscheid 1978 zum Rückzug. Der Nationalrat beschloß anschließend ein für Westeuropa einmaliges Gesetz, das den Einsatz von Kernenergie bei der Stromerzeugung verbietet. Außenpolitisch nutzte Kreisky den einem neutralen Land gegebenen Spielraum für Vermittlerdienste in den West-Ost-Beziehungen. 1978 besuchte er als erster westeuropäischer Regierungschef die DDR. Seit der Ungarn-Krise 1956 sieht sich Österreich als Asyl- und Transitland für Flüchtlinge und Emigranten aus Osteuropa erheblichen Problemen gegenüber. Dem Erfolg der sozialistischen Regierung – die SPÖ konnte ihren Stimmenanteil über 50,49% (1975) auf 51,03% (1979) ausbauen – taten Skandale um einzelne Minister keinen Abbruch; allerdings ist er untrennbar mit der Person des Bundeskanzlers Kreisky verbunden60. b) Die Schweiz Die Schweiz hat ihren Ruf als Hort der Stabilität über den Zweiten Weltkrieg hinaus bewahren und dank einer langen Hochkonjunktur noch steigern können. Innen- und Außenpolitik entwickelten sich kontinuierlich, Reformen vollzogen sich – wenn überhaupt – nur in kleinen Schritten. Die Tradition der »direkten Demokratie« in Kantonen und im Bund erwies sich als Faktor der Mäßigung und des Beharrens. Das Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf Bundesebene wurde erst 1971 über eine Volksabstimmung eingeführt, nachdem mehrere Kantone in dieser Frage vorangegangen waren, während in anderen Kantonen die männliche Bevölkerung das Stimmrecht für Frauen nach wie vor ablehnt. 1981 erhielt die Verfassung ebenfalls per Referendum einen Artikel über Gleichberechtigung, der Frauen u.a. gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit sichern soll. Mit dem Instrument des Plebiszits gelang es Autonomisten, zum ersten Mal in der Geschichte der Eidgenossenschaft einen neuen Kanton, den (Berner) Jura, ins Leben zu rufen. Nach Abstimmungen in den betroffenen Amtsbezirken über die Grenzziehung sprachen sich im September 1978 82,3% der Bevölkerung für den neuen (23.) Kanton aus. Das konstitutive Verfassungselement des Volksentscheids zu den verschiedensten Themen des öffentlichen Lebens behauptete sich gegenüber demagogischen Anfechtungen. Das von rechten Gruppierungen wie der »Republikanischen Bewegung« und der »Nationalen Aktion« 1974 lancierte Referendum über die Ausländer
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(»Überfremdungsinitiative«) scheiterte; bei einem Ausländeranteil um 15% (1980: 5,4 Millionen Schweizer, 893000 Ausländer), knapp 100000 Grenzgängern und 12000 Wanderarbeitern setzten sich aber in der Folgezeit Absichten durch, den Zustrom von Fremden zu begrenzen. Der Proporz zwischen den großen Parteien (Freisinn, ChristlichDemokratische Volkspartei, Sozialdemokraten, Schweizerische Volkspartei) in der Kollegialbehörde Bundesrat (Regierung) verurteilt die zwei Kammern des Parlaments (Stände- und Nationalrat) zu einer Nebenrolle, zumal eine nennenswerte Opposition fehlt und der Löwenanteil der Gesetzesinitiativen auf das Konto des Bundesrats geht. In dem föderalistischen Musterland Schweiz haben sich die Akzente zwischen Bund und Kantonen zugunsten des Bundes verschoben, weil der Konföderation neue Aufgaben – etwa bei der Reform der Finanzen und der Armee, im Fernstraßenbau, in der Entwicklungshilfe und in der Atomenergie – zugewachsen sind, die ihr Gewicht stärken. Unter dem Leitsatz »Neutralität und Solidarität« blieb die Schweiz allen internationalen Organisationen mit ausgesprochen politischem oder militärischem Charakter fern. Selbst nicht Mitglied der Vereinten Nationen, schloß sie sich aber vielen Unterorganisationen der UNO, der Freihandelszone EFTA (1960) und dem Europa-Rat (1963) an. Mit der Europäischen Gemeinschaft besteht seit 1972 (Referendum) ein Freihandelsabkommen, dem GATT ist die Schweiz seit 1958 assoziiert. Genf blieb wie vor dem Zweiten Weltkrieg ein bevorzugter Platz internationaler Organisationen und Konferenzen. Begünstigt von einer in kurzen Wellen ablaufenden Hochkonjunktur zeichneten sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse durch große Stabilität aus. Die feste Währung, der Ruf als Steueroase und das Bankgeheimnis lockten einen immensen Kapitalzufluß ins Land. Nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 wurde die – von Schriftstellern wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt übrigens schon immer geäußerte – Kritik an der schweizerischen Gesellschaft lauter. Wie zur Illustration des vom Genfer Nationalratsmitglied Jean Ziegler erhobenen Vorwurfs vom »sekundären Imperialismus« brachten Verkaufspraktiken des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé in der Dritten Welt und Preisabsprachen des Pharma-Unternehmens Hoffmann-La-Roche Schweizer multinationale Konzerne ins Gerede. Die Giftgaskatastrophe in einem Schweizer Chemiewerk in Seveso (Oberitalien) 1976, die rücksichtslose Belastung der Umwelt u.a. am Oberrhein bei Basel und das Vordringen des Skitourismus in den Alpen brachten das Bild von der »heilen« Schweiz ins Wanken. Krisensymptome wie in anderen westlichen Ländern zeigten sich: Als Transitland wurde die Schweiz auch Aktionsfeld von Terroristen. Jugendunruhen, vor allem in Zürich, erschütterten nachhaltig das Selbstverständnis vieler Schweizer61. c) Schweden – »ein Modell«?
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In vielerlei Hinsicht galt Schweden in anderen westeuropäischen Ländern als nachahmenswertes oder abschreckendes Beispiel, das für die einen den Visionen von Aldous Huxleys »Brave New World« nahekommt, den anderen als »Zukunftsmodell« und den dritten als gescheitertes Experiment eines sozialdemokratischen Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus erscheint. Nach 1945 setzte Schweden seinen traditionellen Neutralitätskurs fort, nachdem die Sowjetunion aus der Befürchtung heraus, Schweden könnte sich dem westlichen Block anschließen, darauf verzichtet hatte, Finnland als »Volksdemokratie« in ihren Machtbereich einzubeziehen. Schwedens Neutralität, die dem Land eine über anderthalb Jahrhunderte währende Friedenszeit beschert hatte, fußt auf starken Streitkräften und einer modernen Rüstungsindustrie. Anders als die vertraglich oder verfassungsrechtlich verankerte Neutralität Österreichs und der Schweiz ist die Schwedens immer wieder von Parlament und Regierung neu definiert worden. Schweden fand sich zur Zusammenarbeit mit den anderen skandinavischen Staaten bereit und trat der EFTA bei, blieb jedoch den Europäischen Gemeinschaften fern62. Unter der Führung der seit 1932 regierenden Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) erreichte Schweden dank nationaler Ressourcen, einer homogenen Bevölkerung und hoher Zuwachsraten in der Produktivität und beim Bruttosozialprodukt im internationalen Vergleich Spitzenpositionen auf allen Feldern der Sozial- und Gesellschaftspolitik sowie bei den öffentlichen Leistungen für Entwicklungshilfe. Mit dem sozialen Fortschritt wuchsen der Staatsanteil am Bruttosozialprodukt und die Belastung des einzelnen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Während die Sätze für Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer höher als in vergleichbaren Ländern liegen, hielt sich die Besteuerung für Unternehmen in Grenzen. Die »eigenartige Mischung« aus »totaler Sozialpolitik« und »Hätschelkur für die private Industrie«63 erlaubte hohes Wirtschaftswachstum, so daß Schweden 1979 mit einem jährlichen Bruttosozialprodukt von 9340 US-Dollar pro Einwohner nach Kuweit und der Schweiz den dritten Platz in der Welt belegte. Nach der Rezession von 1968/69 nahm die Regierung, in der Ministerpräsident Erlander nach 23 Amtsjahren von O. Palme abgelöst wurde, zugunsten der Vollbeschäftigung höhere Preissteigerungsraten und Staatsverschuldung in Kauf. Der Stimmenanteil der SAP, die bei den Reichstagswahlen 1968 noch 50,1% der Stimmen erhalten hatte, ging 1970 und 1973 kontinuierlich zurück, so daß die Wahlen von 1976 eine knappe Mehrheit für eine Koalition aus Zentrum, Konservativen und Liberalen unter T. Fälldin brachten (Mandate und Veränderungen gegenüber 1973: SAP 152/-4; Zentrum 86/-4; Konservative 55/ + 4; Liberale 39/ + 4; Kommunisten 17/-2). Die bürgerlichen Parteien profitierten wie 1973 in Norwegen von »Protestwählern« aus den Reihen der Bauern und der Kernkraftgegner, die 1979 zu einem großen Teil wieder absprangen. Nicht das Wahlergebnis von 1976, sondern die weltweite Wirtschaftskrise seit 1973/74 hat
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die Grenzen des »schwedischen Modells« aufgezeigt, allerdings kann Schweden dank seiner Sozial- und Gesellschaftspolitik die sozialen Folgen der Krise besser auffangen als andere Staaten. VII. Die Militärdiktatur in Griechenland Die Geschichte des modernen Griechenland ist eine »Bilanz der Instabilität«64. Die Diktatur von General Metaxas hatte das Land in die blutigste Epoche seiner Geschichte geführt, die erst 1949 mit der Niederlage der kommunistischen Verbände im Bürgerkrieg zu Ende ging. Rechte Kräfte dominierten in den folgenden Jahren, gestützt auf Militär und Polizei. Zwar hatte Ministerpräsident Karamanlis (ab 1955) – um den Preis der militärischen und finanziellen Abhängigkeit von den USA – die Industrialisierung des Landes vorangetrieben, Griechenland an Westeuropa herangeführt (Assoziierung an die EWG 1961) und den immer wieder aufbrechenden Konflikt um Zypern 1959 vorläufig beendet. Die politische Macht lag indessen außerhalb von Regierung und Parlament beim König und seinen Beratern, bei der Armee, ihrem von der CIA kontrollierten Geheimdienst, ihren Geheimbünden, bei Polizei sowie paramilitärischen Milizen, die das ländliche Griechenland kontrollierten. Hoffnung auf ein Ende der illegalen und scheinlegalen Praktiken, die in der Wahlmanipulation von 1961 und der Ermordung eines linken Abgeordneten 1963 gipfelten65, kam mit dem Wahlsieg der Opposition auf, der liberalen und sozialdemokratischen Zentrumsunion unter G. Papandreou, die 1963 die relative, 1964 die absolute Mehrheit erreichte. Mit einer vorsichtigen Reformpolitik zielte Papandreou auf eine Liberalisierung des Regimes und auf eine expansive und soziale Wirtschaft. Die für ausländische Investoren äußerst vorteilhaften Verträge wurden z.T. neu ausgehandelt. Diese Politik stieß nicht nur bei der extremen Rechten, sondern auch bei Oligarchie und König auf Widerstand, weil die eingeleitete politische und soziale Entwicklung langfristig das Ende ihrer Privilegien bedeutet hätte. Papandreou mußte in der heterogenen Regierung eine mittlere Linie steuern und scheute davor zurück, eine Säuberung des Staatsapparates und den Kampf gegen Korruption und Nepotismus zu beginnen. Gegenüber den USA zeigte sich Papandreou weniger willfährig als seine Vorgänger. In der Zypernfrage unterstützte er die unabhängige Politik von Erzbischof Makarios, der amerikanische Pläne zur Teilung der Insel sowie eine ständige Stationierung von NATO-Truppen verwarf und die Integrität der Insel über die UNO anstrebte, wozu er auch bei der Sowjetunion und Nassers Ägypten Rückhalt suchte. Papandreou scheiterte, als er daranging, die Armee zu säubern. Eine nie aufgeklärte Affäre um den Bund linker Offiziere ASPIDA, der angeblich eine Diktatur à la Nasser im Sinn gehabt und in Verbindung zu Papandreous Sohn Andreas sowie einigen Ministern gestanden hatte, diente König Konstantin als Vorwand, seine Unterschrift unter das Entlassungsdekret für den Verteidigungsminister und den Generalstabschef zu verweigern (15. Juli 1965). Nach seinem Gewaltstreich gegen die Verfassung versuchte der König ohne
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großen Erfolg, mit der rechten Sammlungsbewegung ERE und einzelnen Zentrumsabgeordneten zu regieren. So diskreditierte die scheinparlamentarische Politik des Königs nur das parlamentarische System selbst und schuf im Zeichen bevorstehender Neuwahlen (Mai 1967) ein Klima, in dem Putschgerüchte gediehen. Aber nicht der Staatsstreich einer »großen Junta« aus Krone und Generalität, den Griechenland wiederholt erlebt hatte, sondern eine kleine Verschwörergruppe um Oberst Papadopoulos, Generalleutnant Pattakos und General Zoitakis putschte in der Nacht zum 21. April 1967 und stellte Konstantin vor vollendete Tatsachen. Nach dem gescheiterten Gegenputsch des Königs im Dezember 1967 schaltete Papadopoulos seine Konkurrenten im »Revolutionskomitee« aus und schwang sich mit Hilfe karrierebewußter Offiziere aus mittleren Rängen zum alleinigen Diktator auf. Zwar konnten die in Geheimdienstarbeit geschulten Obristen mit einem dichten Spitzelnetz, Ausnahmegesetzen, Massenverhaftungen, Deportationen und grausamer Folter spektakuläre Aktionen des Widerstands verhindern – die Demonstrationen beim Begräbnis von Georgios Papandreou, die Unruhen an der Athener Technischen Universität und die Revolte der Bauarbeiter waren Ausnahmen –, jedoch gelang es den Militärs weder durch Terror noch durch eine neue Verfassung, noch durch die Ausrufung der Republik, den passiven Widerstand der Facheliten und des Volkes zu brechen. Von der Beratenden Versammlung des Europa-Rats wurde Griechenland wegen seiner Menschenrechtsverletzungen im Januar 1969 verurteilt, einem Ausschluß kamen die Obristen mit dem Austritt aus dem Rat zuvor. Mit der Ablösung von Papadopoulos durch Joannides, Oberstleutnant und Kommandeur der Militärpolizei, trat die »härteste« Diktatur Griechenlands in ihre »dümmste« Phase66: Der wirtschaftspolitische Dilettantismus, der dank ausländischen Kapitals und Tourismus zunächst verborgen geblieben war, trat 1973 voll zutage und bescherte Griechenland mit Wachstumsstillstand, hohem Zahlungsbilanzdefizit, Verringerung der Devisenreserven und Inflation (1973 über 30%) ein wirtschaftliches Fiasko. Die Entscheidung, die griechisch-zypriotische Garde unter General Grivas zum Putsch gegen Erzbischof Makarios zu animieren, um den sich viele griechische Regimegegner versammelt hatten, stellte einen Bruch aller bestehenden Verträge dar, provozierte die Türkei zur militärischen Intervention auf der Insel und führte Griechenland an den Rand eines aussichtslosen Krieges gegen seinen östlichen NATO- »Partner«. Vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik warfen die Militärs im Juli 1974 das Handtuch. Karamanlis, 1955–63 Ministerpräsident und Führer der Bewegung ERE, wurde als »Nothelfer« aus seinem Exil in Paris zurückgerufen. Eine pragmatische Wirtschaftspolitik, eine vorsichtige Demokratisierung und die Wiederannäherung an Westeuropa (1974 Wiederaufnahme in den Europa-Rat, 1981 Vollmitglied der EG) führten Griechenland in eine ruhigere Phase seiner jüngsten Geschichte.
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VIII. Die Iberische Halbinsel Das anachronistische Portugal des Diktators Salazar zeigte sich am Ende der fünfziger Jahre unfähig, die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung, der Demokratisierung und der Entkolonialisierung zu lösen. Nachdem Salazar infolge eines Gehirnschlags 1968 seine politischen Ämter an Caetano abgetreten hatte, verschärften rechte Salazaristen unter Führung von General Kaulza de Arriaga den Krieg gegen die Unabhängigkeitsbewegungen in den afrikanischen Kolonien Angola, Moçambique und Guinea-Bissau. Portugiesische Industrielle und Bankiers, die die Industrialisierung des Mutterlandes und ihre Interessen in den Kolonien durch den harten Kurs gefährdet sahen, publizierten Anfang 1974 einen Artikel des ehemaligen Befehlshabers von Guinea-Bissau, General Spínola, in dem dieser für einen Rückzug aus den Kolonien und für einen lockeren portugiesischen Staatenbund plädierte. Der Artikel schlug wie eine Bombe ein, weil der seit 1961 andauernde Kolonialkrieg große Teile der Armee ernüchtert hatte. Die Meuterei der »Bewegung der Streitkräfte« (MFA) vom 25. April 1974 leitete den Sturz der über fünfzigjährigen Diktatur ein, der sich in einer Art Volksfeststimmung rasch und unblutig vollzog: Die politischen Gefangenen wurden freigelassen, die Zensur abgeschafft, die polizeilichen Verfolgungen eingestellt, oppositionelle Politiker wie der Sozialist Soares und der Kommunist Cunhal kehrten aus dem Exil zurück. Eine Militärjunta mit Spínola an der Spitze berief eine provisorische Regierung aus Politikern der Mitte und der Linken und kündigte Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung an. Der Zwang zur schnellen Beendigung der Kolonialkriege überdeckte zunächst noch die Gegensätze innerhalb der neuen Führung. Der MFA trieb, z.T. gegen den zögernden Spínola, die Entkolonialisierung voran: Guinea-Bissau (1974), Kap Verde (1975), Moçambique (1975) und São Tomé-Principe (1975) wurden unabhängig. In Angola schwankte Portugal zwischen den rivalisierenden Unabhängigkeitsbewegungen MPLA (Neto, Anrade), FNLA (Roberto) und UNITA (Savimbi); nach dem Abkommen von Alvor (Januar 1975) überließ Portugal das Land dem Bürgerkrieg, aus dem die marxistische MPLA dank kubanischer Hilfe als Sieger hervorging67. Nach dem Umsturz durchlief Portugal eine anderthalb Jahre dauernde »Doppelherrschaft« aus politischer und militärischer Führung. Während die Sozialisten das Land über Wahlen zu einer pluralistischen Demokratie führen wollten und Anschluß an Westeuropa suchten, gewann eine Gruppe jüngerer Offiziere um den Organisator des Putsches vom 25. April, Carvalho, maßgeblichen Einfluß auf den MFA. Diese Offiziere strebten mit direkten Aktionen die Einheit von Volk und Armee an und wurden dabei von den Kommunisten unterstützt. Cunhals KP beherrschte die Massenmedien und organisierte die Enteignungen von Großgrundbesitzern durch Kleinbauern und Landarbeiter. Auf Gerüchte, der inzwischen entmachtete Spínola plane einen
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Gegenputsch, reagierte der MFA mit einer teilweisen Wiedereinführung der Zensur und der Verschiebung des Wahltermins. Die politischen Parteien mußten sich verpflichten, die Macht des MFA für die nächsten Jahre nicht anzutasten. Dennoch wurden in den Wahlen vom 25. April 1975 die Sozialisten mit 37,8% der Stimmen stärkste Partei, dagegen erreichte die KP nur 12,5%. Der MFA und die Kommunisten versuchten, sich über das Wahlergebnis hinwegzusetzen. Sie gaben den Forderungen der Sozialisten nach Kommunalwahlen nicht nach. Eine Welle von Betriebsbesetzungen und Landenteignungen rief eine erste breite gegenrevolutionäre Strömung hervor, die im Sommer 1975 das gesamte Nordportugal erfaßte. Die Bildung eines Triumvirats aus den Generälen Gomes, Gonçalvez und Carvalho am 25. Juli 1975 und die Konzentration militärischer Verbände unter dem Kommando von Carvalho, die die Entmachtung der gemäßigten Militärs im Revolutionsrat zum Ziel hatten, bewirkten das Gegenteil. Gemäßigte Offiziere nötigten den Chef der provisorischen Regierung, Gonçalvez, zum Rücktritt und ersetzten ihn durch Admiral Azevedo (5.9.1975). Die Sozialisten traten daraufhin in die sechste provisorische Regierung ein. Im Dezember erkannten die Militärs den Primat der zivilen politischen Führung an, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1976, die die Sozialisten und den von Sozialisten und Parteien der Mitte unterstützten General Eanes als Sieger sahen, besiegelten diese Entwicklung68. Spanien blieb nach dem Zweiten Weltkrieg lange isoliert und in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurück. Zwar hatte das militärische Interesse der USA an Stützpunkten auf der Iberischen Halbinsel das Land für finanzielle Hilfe und Auslandskapital geöffnet, doch leitete erst der Wandel der spanischen Wirtschaftspolitik 1958–63 eine allerdings rasante Industrialisierung ein. Der »Caudillo« Franco berief 1958 ökonomisch geschulte Mitglieder des katholischen Laienordens »Opus Dei« in Schlüsselpositionen. Nach dem Beitritt zum Internationalen Währungsfonds und zur OECD wurde die Volkswirtschaft modernisiert und liberalisiert. Mit der Verstaatlichung der Bank von Spanien entstand eine moderne Zentralbank, in Mehrjahresplänen ein Minimum an staatlicher Planung. Ausländische Investoren, die Spanien wegen seines geringen Lohnniveaus und seiner politischen Führung schätzten, wurden zum Motor der Industrialisierung. Setzt man die Zahlen von 1961 gleich 100, so betrugen sie 1974 in den Bereichen Stahl 474, Zement 385, Düngemittel 217, Textilien 133, Fernsehgeräte 644, Automobile 1196, Traktoren 308, Nutzfahrzeuge 565 und Telefone 365. Der Anteil ausländischen Kapitals stieg in den Branchen Chemie, Maschinenbau, Elektro- und Elektronikindustrie schnell über 50%. Die chronischen Zahlungsbilanzdefizite konnten durch den Tourismus und die Überweisungen spanischer Gastarbeiter in Überschüsse verwandelt werden. Besuchten 1952 etwa 1,2 Millionen ausländischer Touristen Spanien, waren es 1961 bereits 7,4 Millionen und 1975 über 30 Millionen, die ca. 3,4 Milliarden Dollar ausgaben. Die spanischen Gastarbeiter in Westeuropa überwiesen 1966 rund 346 Millionen Dollar in ihre Heimat, 1973 erreichten die Überweisungen die
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Rekordhöhe von 913 Millionen69. Der Kontakt zu Westeuropa brachte viele Grundsätze des katholischen und puritanischen Franco-Spanien ins Wanken. Die bäuerliche Bevölkerung schrumpfte durch Landflucht und Emigration um drei Viertel, der Einfluß der Großgrundbesitzer schwand. Der Graben zwischen dem ländlichen Innerspanien auf der einen und den wuchernden Ballungszentren und für den Tourismus erschlossenen Küstenstreifen auf der anderen Seite vertiefte sich. Ein wachsender Mittelstand drängte auf Liberalisierung. Die Industriearbeiter, die die staatlichen »vertikalen« Gewerkschaften nicht zu integrieren vermochten, organisierten sich in sozialistischen und anarchistischen Gewerkschaften oder den christlich und kommunistisch beeinflußten »comisiones obreras« (Arbeiterkommissionen). In den freien Gewerkschaften erwuchs dem Regime der mächtigste innenpolitische Gegner. Unter den verbotenen oppositionellen Parteien verfügten die Kommunisten über die schlagkräftigste Organisation. Seit dem Bürgerkrieg litt die KP Spaniens unter dem Vorwurf der »Moskauhörigkeit«, den andere oppositionelle Gruppen erhoben. Zwar war sie von finanziellen Zuwendungen aus dem Ostblock abhängig (wie die Sozialisten von der Hilfe der Sozialistischen Internationale), verfolgte indessen unter dem Einfluß ihres Generalsekretärs Carillo einen »eurokommunistischen« Kurs. Carillo behauptete sich gegen den Moskauer Versuch, einer orthodoxen Linie um alte Kämpfer wie Lister und die »Pasionaria« in der KP Spaniens mehr Einfluß zu verschaffen. Ehe Autonomiebestrebungen einzelner Regionen (Katalonien, Baskenland) bekam Franco nicht mehr in den Griff. Nicht die baskische Exilregierung und die Baskische Nationalpartei, sondern extremistische Gruppen unter Führung der ETA (»Baskenland und seine Freiheit«) bestimmten mit ihren Forderungen nach völliger Unabhängigkeit und einem nur vage umrissenen Sozialismus den Gang der Ereignisse. Die Spirale von Terror- und Gegenterror erreichte im Prozeß von Burgos 1970 einen ersten Höhepunkt. Die verhängten Todesurteile wurden von der internationalen Öffentlichkeit einhellig verurteilt. Franco steuerte einen Kurs zwischen Liberalisierung (Aufhebung der Vorzensur 1966, Designation von Juan Carlos zum König 1969) und Repression (Ausnahmezustand 1969, Todesurteile). 1973 stürzten die beiden wichtigsten Säulen des Regimes, die Kontinuität der Herrschaft und der Wohlstand, ein. Ministerpräsident C. Blanco, falangistische Symbolfigur des Bündnisses von Armee und Kirche, fiel einem Attentat der ETA zum Opfer; die Wirtschaftskrise führte zu 20%igen Inflations- und 5% igen Arbeitslosenraten, zu einer negativen Zahlungsbilanz, zur Schwächung der Peseta, zu einem Rückgang der Auslandsinvestitionen und zu ständigen Streiks. Doch erst mit dem Tode Francos im November 1975 war der Weg zur Demokratie frei. Armee und Kirche – letztere hatte sich erstaunlich anpassungsfähig gezeigt – sorgten für einen störungsfreien Ablauf der Krönung von Juan Carlos. Der König ließ Parteien und freie Gewerkschaften zu und ordnete Wahlen in den Kommunen und Provinzen an. Seit der Ernennung von Adolfo Suárez Gonzales zum Ministerpräsidenten im
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Juli 1976 stellten auch die großen Oppositionsparteien der Kommunisten und Sozialisten den Reformkurs und seine Voraussetzungen – Monarchie, liberaler Kapitalismus, Mitgliedschaft in der OECD, enge Verbindung mit der NATO und die Hinwendung zu Westeuropa – nicht mehr in Frage. Das Ergebnis der freien Wahlen zur verfassunggebenden »Cortes« am 15. Juni 1977 bestätigte den eingeschlagenen Weg70. 5. Vom Tod Stalins zur Ära Breshnew. Die RGW-Staaten seit 1953 Von Gert Robel I. Das Erbe Stalins a) Kollektive Führung Der Tod Stalins stellte die sowjetische Führung vor eine schwierige Aufgabe: Es galt, die Lücke zu füllen, die die zentrale Figur des Diktators hinterlassen hatte. Doch nach dem Tode Shdanows hatte keiner aus dem engeren Kreis der Macht jene Autorität erringen können, die ihn befähigt hätte, Stalins Platz einzunehmen, zumal auch die Personalisierung der Herrschaft der Profilierung der politischen Elite Grenzen gesetzt hatte. Der designierte Nachfolger, Georgij Maximilianowitsch Malenkow, war zwar durch seine langjährige Tätigkeit als Privatsekretär Stalins und – ab 1939 – als Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU und Leiter der ZK-Kaderabteilung mit der Handhabung der Machtinstrumente wie mit Stalins Politik und Plänen wohlvertraut, doch fehlte es ihm an den erforderlichen Führungsqualitäten. Einst ganz im Schatten Shdanows stehend, war der wenig profilierte Apparatschik erst nach dessen Tod allmählich nach vorn gerückt, der breiteren Öffentlichkeit erst seit Beginn der fünfziger Jahre vertraut. Die Vorbehalte gegen ihn in der Parteispitze wurden auch von den Militärs geteilt; man betrachtete ihn als guten zweiten Mann, doch für den ersten Platz fehlte es ihm an Format, an Ausstrahlung. Angesichts der angespannten inneren wie äußeren Lage der Sowjetunion und der Ungewißheit, in welchem Maße die Satellitenregime belastbar waren, mußten diese Bedenken jedoch zurücktreten, im Interesse der Stabilität war ein Höchstmaß von Geschlossenheit der Partei- und Regierungsspitze zu demonstrieren. Auch war Stalins Macht noch so groß, daß eine Entscheidung gegen sein Votum zusätzliche Krisen heraufbeschwören mußte. So nahm Malenkow gemäß den am 7. März 1953 bekanntgegebenen Beschlüssen von Partei- und Staatsführung das Amt des Ministerpräsidenten der UdSSR und den ersten Platz im Präsidium des ZK der Partei ein. Dem Defizit an zentraler Autorität suchte man dadurch entgegenzuwirken, daß anstelle des Systems der personalen Herrschaft Stalins nun eine »kollektive Führung« gesetzt wurde, deren Prinzip sich auf Lenin zurückführen ließ und damit sakrosankt war. Schon bei der Beisetzungsfeier Stalins am 9. März traten neben Malenkow Außenminister
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Molotow und der Chef der Geheimpolizei, Lawrentij Pawlowitsch Berija, hervor, und am 14. März übernahm der ebenso eigenwillige wie energische Nikita Sergejewitsch Chruschtschow zur Entlastung Malenkows dessen früheres Amt im ZK. Es zeigte sich schon bald, daß das neue Führungsgremium verschiedene Richtungen innerhalb der Partei vereinte, deren divergierende Auffassungen um so stärker in Erscheinung treten mußten, je mehr sich das neue System konsolidierte. Allen gemein war jedoch die Überzeugung, daß zumindest eine Änderung des Stalinschen Wirtschaftssystems unumgänglich sei. Zwar wiesen die Planerfüllungsdaten kontinuierlich ein eindrucksvolles wirtschaftliches Wachstum aus, doch blieb die Qualität der Produkte weithin ungenügend, der technologische Fortschritt gering. Gerade in der Konfrontation des »Kalten Krieges« und des Korea-Krieges wurden diese Mängel deutlich spürbar. Die »Tonnen-Ideologie«, die die industrielle Produktion beherrschte, erwies sich mehr und mehr als Hemmnis: Die Einführung neuer, rationeller Technologien in den Betrieben mußte zur – wenn auch nur kurzfristigen – Stagnation oder gar zum Absinken der Produktionsziffern führen. Dies aber wirkte sich systemgemäß auf die gesamte Belegschaft aus. Die Leitung geriet dadurch in Gefahr, der Unfähigkeit, ja der Sabotage geziehen zu werden, für die Belegschaft aber brachte es finanzielle Einbußen: Verlust der Prämien oder gar Abzüge wegen Nichterfüllung der Produktionsnormen. Die Planungsbehörden verstärkten diese innerbetriebliche Rationalisierungs- und Innovationsabneigung noch: Die Zuteilung der Investitionsmittel benachteiligte den Ausbau unterentwickelter Industriezweige, so etwa der chemischen Industrie, die gerade in jenen Jahren in den westlichen Staaten außerordentliche Zuwachsraten aufwies. Die Engstirnigkeit einer solchen »konservativen« Investitionspolitik konnte auch nicht durch Nutzung der in den industriell am weitesten entwickelten USA gewonnenen Erfahrungen korrigiert werden: Der Totalitätsanspruch der Ideologie verbot im Zeichen der »Anti-KosmopolitismusKampagne« eine derartige Anleihe beim »Kapitalismus« strikt. Der »Kalte Krieg« erwies sich zudem als eine immer stärker werdende Belastung der Wirtschaft. Die Vermehrung der Truppen von 2,9 Millionen im Jahre 1948 auf 5,8 Millionen 19551 (wobei wohl schon 1952 der größte Teil dieses Zuwachses erreicht war) entzog der Wirtschaft Arbeitskräfte, die überproportionale Steigerung der Rüstungsausgaben Investitionsmittel; und schließlich ging die Erhöhung der Rüstungsproduktion zu Lasten ziviler Gütererzeugung: Zu der branchenmäßigen kam die traditionelle sektorale Disproportionalität mit der Unterentwicklung der Konsumgüterindustrie und des Dienstleistungssektors. Gegenüber der Vorkriegszeit hatte sich die Versorgung der Bevölkerung nicht gebessert, die Qualität des zu geringen Warenangebotes blieb weiterhin schlecht. So war es fraglich, ob die konstant schlechte Versorgungslage nicht zu einem Sinken der Arbeitsmoral führen würde, was bei den arbeitsintensiven Fertigungsweisen das weitere rasche Wirtschaftswachstum gefährden mußte,
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wie es in dem – erst im Oktober 1952 verabschiedeten – Fünfjahrplan für 1951– 1955 vorgesehen war. Vordringlich jedoch war die außenpolitische Entlastung der Sowjetunion, denn nur der Abbau der internationalen Spannungen konnte die Belastungen der forcierten Rüstung abbauen und die notwendigen inneren Reformen ermöglichen. Zwar galt nach wie vor Stalins These von der Verschärfung des Klassenkampfes im »imperialistischen Lager«, wie er sie in den »Ökonomischen Problemen des Sozialismus in der UdSSR« vom September 1952 entwickelt hatte, doch befand die neue Führung nun, die Sowjetunion sei ausreichend gerüstet, um einen Angriff erfolgreich abzuwehren. Die Fortschritte in der Waffentechnik der Sowjetarmee – wie die Rote Armee seit 1946 hieß – waren beträchtlich (die Umrüstung konnte Anfang 1955 abgeschlossen werden), die Entwicklung von Raketenwaffen hatte einen hohen Stand erreicht und auch auf dem Gebiet der Atomwaffen – seit 1949 besaß die Sowjetunion die Atombombe – konnte man mit den USA gleichziehen: Am 8. August 1953 – dem Jahrestag von Hiroshima – verkündete Malenkow die erfolgreiche Zündung der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe. Zugleich hatte sich erwiesen, daß der amerikanischen Politik, die mit dem Übergang vom »containment« zum »roll back«, unter der neuen Eisenhower-Regierung, als so bedrohlich eingestuft worden war, im westlichen Lager erhebliche Schwierigkeiten erwuchsen, so daß eine ernsthafte Gefährdung des sowjetischen Dominiums nicht gegeben war. Eine auf Entspannung zwischen den beiden Blöcken angelegte sowjetische Politik mußte zudem den militärischen und politischen Integrationsbemühungen der USA entgegenwirken. Schon im März 1953 demonstrierte die neue sowjetische Führung mit einigen Schritten ihre Ausgleichsabsichten, die einvernehmliche Wahl Dag Hammarskjölds zum Generalsekretär der UNO am 31. März setzte ein deutliches Zeichen. Auch im Fernen Osten wurde der strikte Konfrontationskurs beendet, mit dem Abschluß des Waffenstillstandsvertrages in Korea am 27. Juli 1953 endeten die Feindseligkeiten. Parallel zu diesen außenpolitischen Entlastungsbemühungen gingen die Bestrebungen, die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion zu lösen. Die Besetzung der Ministerien mit Spitzenfunktionären der Partei, eine der Sicherungsmaßnahmen des neuen Führungsgremiums nach Stalins Tod2, brachte zwar eine administrative Straffung durch eine personalbedingte Reduzierung der Branchenministerien (so wurden etwa die Ministerien für Landwirtschaft, Sowchosen und Baumwollanbau vereinigt, die Ministerien für Eisen- und Nichteisenmetalle u.a.m.), doch wurde sie bis zum Jahresende wieder allmählich rückgängig gemacht. Hingegen blieb die Erweiterung der Kompetenzen der zentralen Planungsbehörde (GOSPLAN), die ihr einen erheblichen Teil der 1947 verlorenen Zuständigkeiten wiederverlieh, und der Ministerien bestehen. Daß damit die Schwierigkeiten der zentralen Lenkung einer Volkswirtschaft, deren Struktur gegenüber der Entstehungszeit dieser Steuerungssysteme sehr viel komplexer geworden war, nicht zu beheben waren,
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erwies sich bald und führte zu neuerlichen, wenig erfolgreichen Änderungen der Wirtschaftsadministration. Sehr viel bedeutsamer waren die Bemühungen um eine Verbesserung der Versorgung, die mit Malenkows Namen verbunden sind. Schon am 1. April 1953 verkündete er eine Senkung der Ladenpreise um durchschnittlich 10%, für einzelne Lebensmittel bis zu 50%. Angesichts der notorischen Engpässe der sowjetischen Agrarproduktion dürfte diese verbraucherfreundliche Maßnahme, die den Realitäten so wenig Rechnung trug, primär dazu gedacht gewesen sein, in jener Übergangsphase kurzfristig der Unzufriedenheit der Bevölkerung durch Versprechungen zu steuern, denn das vorhandene Lebensmittelangebot reichte in keiner Weise aus, die durch die Preissenkung erhöhte Nachfrage zu decken – was der Partei- und Staatsführung nicht verborgen gewesen sein dürfte. Auch die Reduzierung der Kaufkraft-Abschöpfung durch drastische Verminderung der Ausgabe von Staatsanleihen, deren Zeichnung für die Bevölkerung »freiwilligen Zwang« bedeutete, vergrößerte die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nur noch. Erst mit den am 8. August 1953 auf der Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR verkündeten Beschlüssen der Parteiführung über eine neue, stärker konsumorientierte Wirtschaftspolitik wurden die Grundlagen für eine wirkliche Verbesserung geschaffen, die Investitionen in die Konsumgüterindustrie erhöht und ihre Produktion beträchtlich gesteigert. Wenn auch die erhöhten Planziele nicht ganz erreicht wurden, so wies die Konsumgüterproduktion des Jahres 1955 gegenüber der des Jahres 1952 doch eine außerordentliche Steigerung auf3. Ähnliche Anstrengungen wurden zur Erhöhung der Agrarproduktion unternommen. Chruschtschow hatte dem Obersten Sowjet in Ergänzung zu Malenkows Ausführungen über die Industrie ein recht ungeschminktes Bild der landwirtschaftlichen Verhältnisse gegeben; vor allem rügte er die niedrige Produktivität der Staatsgüter (Sowchosen). Seinen Vorschlägen entsprechend wurde eine Reihe von Reformmaßnahmen beschlossen, die den traditionellen Engpaß der sowjetischen Versorgung beseitigen sollten. Um den Kolchosen in ihrem chronischen Kapitalmangel aufzuhelfen, der Rationalisierungsmaßnahmen verhinderte, und um zugleich die Einkünfte der Kolchosbauern anzuheben, wurden die staatlichen Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte drastisch erhöht – sie stiegen 1954 auf durchschnittlich 207%, 1955 gar auf 251% des Niveaus von 1952. Auch die private Hoferzeugung wurde durch eine Senkung der Steuern gefördert. Weitere Maßnahmen ergänzten diese Schritte; ferner war man bemüht, die Effektivität der Maschinen-Traktoren-Stationen zu erhöhen. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die solche Neuerungen mit sich brachten (im administrativen Bereich läßt sich von einer Phase des Experimentierens sprechen), führten die materiellen Anreize und Investitionen zu einer erheblichen Steigerung der Agrarerzeugung und einer Zunahme der Viehbestände4. Gleichzeitig wurden in der sogenannten »Neuland-Kampagne« große Flächen neu unter den Pflug
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genommen, bis 1956 wurde die Anbaufläche um ca. 40 Millionen ha vergrößert. Diese ungeheure Ausweitung ging allerdings zu Lasten der traditionellen Anbaugebiete, denen Landmaschinen wie Arbeitskräfte entzogen wurden. Die großen Anstrengungen zur Hebung des Lebensstandards konnten ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht verfehlen, zumal sie durch eine Abkehr von der stalinistischen Kulturpolitik begleitet waren. Im Sommer des Jahres 1953 begann hier unerwartet eine Änderung, die nach dem Titel einer Novelle Ilja Ehrenburgs, der sich zum beredten Fürsprecher dieser neuen Linie machte, bald allgemein als »Tauwetter« bezeichnet wurde. Die starre Bindung von Kunst und Wissenschaft an die orthodoxe Ideologie wurde allmählich aufgehoben, die gelockerte Atmosphäre führte dann rasch zu einem (zwar immer noch begrenzten) Aufblühen der Künste. Die bisher vom Ausland abgeschlossenen sowjetischen Wissenschaftler sahen sich von Fesseln befreit, sie gewannen Anschluß an die internationale Forschung und konnten schließlich auch an ihrer Diskussion auf Kongressen und Tagungen teilnehmen. Dieser Wandel der geistigen und materiellen Lebensverhältnisse (wenn auch die letzteren weit nachhinkten) wirkte als neue Motivation in der Bevölkerung. Die Erstarrung der Stalin-Zeit war überwunden, eine neue Hoffnung griff Platz. Ungeachtet der Bedenken, die gegenüber dieser begrenzten Freiheit von orthodoxen Stalinisten erhoben wurden, die einen Mißbrauch im Sinne einer Gefährdung des sowjetischen Gesellschaftssystems fürchteten, hielt die Parteiführung in modifizierender Weise jene Freiräume offen, wenngleich sie bemüht blieb, sich die Kontrolle nicht entgleiten zu lassen und Entwicklungen zu wehren, die eventuell an die Grundlagen des sowjetischen Systems rühren konnten. Dieses Tabu blieb selbstverständlich (auch anderorts sind herrschende Eliten nicht bereit, ihre Macht in Frage stellen zu lassen) bestehen, doch die stalinistische Totalität der Ideologie, d.h. ihr das gesamte gesellschaftliche wie private Leben umfassender, die Normen und Urteile ausschließlich von Stalin als quasi höchster Inkarnation der Vernunft erhaltender Geltungsanspruch – so theoretisch er in praxi auch gewesen sein mochte – war damit zerstört. In der Folgezeit wurde der Raum geduldeter Freiheiten (bei strikter Wahrung der Grundpositionen) sehr behutsam und allmählich erweitert. Diese vorsichtige Haltung, die durch häufige Rückschläge gekennzeichnet ist, hatte ihre Ursache in der tiefgreifenden Beunruhigung, die ein derartiger Wandel bei den vom Stalinismus geprägten Funktionären in Partei und Administration auslösen mußte, die zwei Jahrzehnte lang gedrillt worden waren, jede nichtkonforme Erscheinung als »klassenfeindlich«, »reaktionär« u.ä. abzuqualifizieren. Insgesamt wird man die sogenannte »Entstalinisierung« – und dies nicht nur im kulturellen Bereich – als einen langwierigen, mit z.T. erheblichen Friktionen belasteten »Lernprozeß« bezeichnen dürfen, den nicht nur die Funktionäre aller Ebenen, sondern die gesamte Gesellschaft der Sowjetunion zu durchlaufen hatte (und hat). Die sehr sorgsame Dosierung seitens der Parteileitung hat ebenso wie die Vorsicht der sich der Grenzen bewußten intellektuellen Elite dazu
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beigetragen, daß ein tieferer Konflikt zwischen den Herrschaftsträgern und den Intellektuellen, den geistigen Repräsentanten und Wortführern der Gesellschaft, bis in die sechziger Jahre vermieden werden konnte. Daß dieser Prozeß – der in der Folgezeit eine gewisse Eigendynamik gewann – in Gang gesetzt wurde, noch dazu von Männern, die viele Jahre, ja Jahrzehnte enge Mitarbeiter Stalins gewesen waren, ist nicht allein aus der Befürchtung zu erklären, es könne nach Stalins Tod zu spontanen Aktionen der Bevölkerung gegen das System kommen. Die Befürchtung ist – das beweist Berijas blitzschnelle Massierung von Einheiten des Staatssicherheitsdienstes in Moskau – nach Stalins Ableben vorhanden gewesen, und auch die überhasteten, weil auf ihre Folgen hin nicht überprüften Maßnahmen in den ersten Wochen der neuen Führung waren vorbeugend gemeint. Die Beschlüsse des 8. August 1953 jedoch wurden zu einem Zeitpunkt gefaßt, da das System der kollektiven Führung sich durchgesetzt hatte und seine Herrschaft konsolidiert war. Wie insbesondere Chruschtschows ungeschminkte Darlegung der Situation im Agrarbereich zeigt, war eine umfassende Bestandsaufnahme voraufgegangen, die nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die gesellschaftlichen Defizite des Stalin-Erbes sichtbar gemacht hatte, deren schwerwiegendstes die Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten von der stalinistischen Partei bildete. Der »neue Kurs« zielte daher auf einen Konsens von Führung und Geführten, der die Lösung der vielfältigen Probleme des Landes ermöglichen sollte. Dem erweiterten geistigen Spielraum, den das kulturpolitische »Tauwetter« den ob ihrer Teilhabe an dem vielstufigen materiellen Privilegierungssystem wenig zu motivierenden Intellektuellen einräumte, kam eine Doppelfunktion zu: Er bot den Intellektuellen nicht nur eine neue Identifikationsmöglichkeit mit der Partei, sondern trug auch zu einer größeren geistigen Mobilität bei, die vonnöten war, um die Erstarrung im stalinistischen Schematismus und den Mangel an Eigeninitiative zu überwinden. Zu den Maßnahmen, mit denen die Männer um Malenkow das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und das aufgestaute Konfliktpotential abzubauen suchten, gehörte ferner die Abkehr von den massiven Russifizierungstendenzen der vergangenen Jahre. Es wäre zweifelsohne verfehlt, wollte man als einziges Motiv für den eingeleiteten Wandel bei den Männern des »neuen Kurses« schieren, auf bloße Machterhaltung gerichteten Opportunismus annehmen. Sie waren selbstverständlich überzeugte Kommunisten, dieser ihr Glaube war zwei Jahrzehnte lang in immer neuen und harten Erprobungen erwiesen, und sie zweifelten nicht daran, daß das Sowjetsystem grundsätzlich die fortschrittlichste, die unter den gegebenen Umständen beste Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens darstellte. Aber sie mußten deshalb seinen Fehlern gegenüber nicht blind sein und sie perpetuieren. Das Wohl der Menschen, über die sie kraft ihres Amtes herrschten, war ihnen nicht gleichgültig – allerdings legte ihnen ihre Systembefangenheit enge Grenzen auf, wenn es um die Frage ging, worin das gemeine Wohl bestand und wie es zu fördern sei.
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Systemimmanent, unter Berücksichtigung dieser Begrenztheit, wird man ihnen aber gute Absichten nicht absprechen können. Auch das ist bei der Betrachtung des »neuen Kurses« im Auge zu behalten. Der Kurswechsel, das Abweichen von erprobten und bewährten Herrschaftsprinzipien, ist im engeren Führungskreis nicht unbestritten gewesen, auch im Hinblick auf die Verunsicherung, die er unter den mittleren und unteren Führungskadern hervorrief. Die Auseinandersetzungen um das Maß an Humanisierung und das damit verbundene Risiko waren aufs engste mit den persönlichen Machtambitionen der führenden Männer verknüpft und von Gruppenrivalitäten beeinflußt, so daß im einzelnen kaum zu klären ist, welche Position aus machtpolitischen Motiven bezogen wurde und welche Argumente innerer Überzeugung entsprangen. Von den Konflikten im innersten Kreis der Macht erhielt die Öffentlichkeit zum ersten Male Kenntnis, als die sowjetische Presse am 10. Juli 1953 die überraschende Nachricht veröffentlichte, daß der langjährige Chef des Sicherheitsdienstes und Stellvertretende Ministerpräsident Berija seiner Ämter enthoben, aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet worden sei. Die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen waren teilweise höchst unglaubwürdig, sie dienten lediglich der Verschleierung der tatsächlichen Gegensätze. Neben seiner Ablehnung der Landwirtschaftspolitik Chruschtschows und seinem Eintreten für eine stärkere kulturelle Autonomie der Nationalitäten der UdSSR, möglicherweise auch für einen größeren Bewegungsspielraum der Satellitenstaaten, neben – andererseits – einer durch seine Funktion mitbestimmten Mißbilligung der kulturpolitischen Lockerung war ein grundsätzlicher Dissens in der Frage nach der Stellung der Sicherheitskräfte gegeben. Sie waren in der Stalin-Zeit zu einer quasi exemten, der Kontrolle von Partei und Staat entzogenen und allein Stalin verantwortlichen Macht geworden, deren Schlagkraft und Stärke auch Berijas Moskauer Aktion vom 5. März nachdrücklich demonstriert hatte. Nach Stalins Tod waren sie ausschließlich an Berija fixiert – es galt, sie der Partei in ihrer neuen kollektiven Führung unterzuordnen. Diese Machteinbuße hinzunehmen, war Berija offenkundig nicht bereit. Er verlor jedoch die entscheidende Auseinandersetzung vom 26. Juni (deren Verlauf – höchst publikumswirksam – als äußerst dramatisch geschildert wurde), nicht zuletzt, weil auch die Militärs gegen ihn standen. Seine engsten Mitarbeiter wurden ebenfalls verhaftet, mit ihm unter Anklage gestellt und Ende Dezember hingerichtet. Auch unter den mittleren Kadern des Sicherheitsdienstes gab es starke personelle Veränderungen, der Dienst wurde vorübergehend dem Innenministerium unterstellt, bis er nach seiner Umorganisation im März 1954 unter Iwan Alexandrowitsch Serow als Ministerium für Staatssicherheit (MGB = Ministerstvo Gosudarstvennoj Bezopasnosti) erneut eigenständig wurde, ohne allerdings die frühere Sonderstellung je wiederzuerlangen. Bei der Aktion gegen Berija standen die Streitkräfte entschieden an der Seite der Männer des »neuen Kurses«, bereit, sich nötigenfalls gegen die
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Sicherheitstruppen zu stellen. Ihre Loyalität hatte die neue Regierung durch eine Reihe von Maßnahmen gestärkt. Der von Stalin auf einen drittrangigen Posten verbannte populäre Marschall Georgij Konstantinowitsch Shukow war von dem neuen Verteidigungsminister Bulganin zu seinem Stellvertreter ernannt worden, was bei der Truppe allgemein begrüßt und als eine Art Wiedergutmachung empfunden wurde. Seine Forderungen – so nach einer Solderhöhung für das Offizierskorps – fanden Billigung, auch wurde die Rüstungswirtschaft durch die Änderung der Wirtschaftspolitik nicht berührt, und die Regierung trug auch weiterhin Sorge um die Sicherung des militärischen Vorfeldes der Sowjetunion: Die Bindung der Satellitenstaaten wurde nicht gelockert, der »neue Kurs« blieb auf die inneren Angelegenheiten beschränkt. Unter Shukows Führung – seit 1955 amtierte er als Verteidigungsminister – konnten sich Generalität und Offizierskorps ganz auf ihre Aufgabe, die Stärkung der militärischen Schlagkraft, konzentrieren; »die militärpolitischen Erfordernisse, erhielten in jeder Beziehung absolute Priorität«5, auch in der politischen Schulung, nachdem A.S. Sheltow zum Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Streitkräfte ernannt worden war. Das Ende des Jahres 1953, dessen Beginn das Land noch in der Furcht vor neuen, weitreichenden »Säuberungen« des Diktators gefunden hatte, sah die Sowjetunion unter der neuen Führung innerlich gefestigt und außenpolitisch weniger bedrängt. Eine tiefgreifende Krise war dank neuer politischer Initiativen und Zielsetzungen vermieden worden. b) Der »neue Kurs« der Volksdemokratien Der »neue Kurs« der Moskauer Führung mit seinem Primat der Innenpolitik hatte zur Voraussetzung, daß die imperiale Stellung der Sowjetunion unangefochten, ihre Herrschaft in den osteuropäischen Ländern gewahrt blieb. Einbußen in diesem Bereich hätten die orthodoxen Kommunisten um den Chefideologen der KPdSU, Suslow, und Außenminister Molotow ebensowenig hingenommen wie die Streitkräfte, sie hätten das Selbstverständnis der Partei zutiefst angegriffen und auch die Bevölkerung verwirrt. Angesichts der Lage in den Volksdemokratien, deren Regime ihre – noch immer nur bedingte – Stabilität weitgehend der massiven sowjetischen Hilfe zu danken hatten, war das Vorfeld der Sowjetunion nur mittels der schon von Stalin benutzten Machtinstrumente zu behaupten. Die nationalen, unter Stalin etablierten kommunistischen Führungen blieben weiterhin die besten Garanten der sowjetischen Herrschaft, und sie fanden naturgemäß in den »Orthodoxen« im Kreml ihre Fürsprecher. Ohnedies war das Verhältnis der Männer des neuen Kurses zu den KP-Führern der Volksdemokratien nicht einfach: Etliche der letzteren hatten sich schon um die internationale kommunistische Bewegung verdient gemacht, hatten in verantwortungsvollen Stellungen an der Seite und im Dienst Stalins gewirkt, als die nunmehrigen Führer der Sowjetunion noch am Anfang ihrer Laufbahn
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standen. So war das Verhältnis zwischen beiden Gruppen nicht frei von Spannungen und Irritationen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des »neuen Kurses« erhöhten diese noch: Die zusätzlichen Investitionen in Konsumgüterindustrie und Landwirtschaft der UdSSR und die weiteren finanziellen Belastungen der Reformen zwangen zu einer Reduzierung der sowjetischen Kredite für die Volksdemokratien, die damit auf ihre eigenen Kräfte verwiesen wurden, zu einem Zeitpunkt, da sie höchst ehrgeizige wirtschaftliche Projekte gestartet hatten. In der DDR führte diese restriktive sowjetische Kreditpolitik faktisch zum Kollaps der Ulbricht-Herrschaft. Der deutsche Teilstaat war nicht nur aufgrund der Eigentümlichkeiten der deutschen Situation besonders gefährdet, auf ihm lasteten auch noch vielfältige, über die Reparationsforderungen hinausgehende Leistungen für die Sowjetunion. Nachdem die negativen Auswirkungen der ehrgeizigen – auch in der Konkurrenz mit den anderen Volksdemokratien zu sehenden – Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik seit 1950 zu Anfang des Jahres 1953 bedrohliche Ausmaße annahmen, suchte die SED-Führung im April in Moskau um Hilfe nach. Die Antwort enthielt (wegen des sowjetischen Eigenbedarfs) keine Unterstützungszusagen, sondern nur den Rat, » ... die SED [müsse] ihre Politik ändern. Die Sozialisierung, der ›harte Kurs‹, müsse gestoppt werden«6. Doch Ulbricht konnte sich dazu nicht verstehen. Am 28. Mai 1953 wurde eine Normerhöhung um 10 Prozent dekretiert, um durch erhöhte Produktion der Schwierigkeiten Herr zu werden. Als sich der Widerstand der Arbeiter gefährlich steigerte, mahnte Moskau am 3. Juni erneut zur Mäßigung; zwei Tage später erschien Semjonow als neuer Hochkommissar der UdSSR in Berlin, auf dessen Betreiben die SED-Führung eine Kursänderung beschloß und öffentliche »Selbstkritik« übte. Da die Normerhöhung jedoch noch nicht zurückgenommen war, kam es am 16. Juni in Ost-Berlin zu einem sich rasch ausweitenden Streik, der am folgenden Tag in einen Aufstand gegen das Regime umschlug und sich über das ganze Land ausbreitete. Erst der Einsatz sowjetischer Truppen rettete Ulbricht und die SED-Herrschaft. Das Menetekel schreckte die Moskauer Führung auf. Wenn die SED-offizielle Darstellung, wie sie dem eilig zusammengerufenen 14. Plenum des ZK der SED sprachregelnd vorgelegt wurde, den Aufstand als »faschistische Provokation« hinzustellen suchte7, so gaben sich damit nur ihre Verfasser der Lächerlichkeit preis, über die Ursachen konnte sie nicht hinwegtäuschen. Der desolate Zustand von Partei und Staat, die tiefe Verbitterung der Bevölkerung mußten überwunden werden, wenn die Herrschaft der SED erhalten werden sollte. Personelle Konsequenzen waren ebenfalls unvermeidbar, auch in der SEDFührung, wo sich um den Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, und Rudolf Herrnstadt eine Ulbrichts orthodoxem Stalinismus opponierende Gruppe gebildet hatte. Es traf sich gut für Ulbricht, daß Malenkow und Chruschtschow zu eben dieser Zeit auf Berijas Sturz hinarbeiteten, der ja Zaissers eigentlicher Chef war. So fiel paradoxerweise nicht Ulbricht, dessen Intransigenz – gegen die
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ausdrücklichen Weisungen aus Moskau – den Ausbruch des Volkszornes herbeigeführt hatte, sondern Zaisser, dem Versagen vorgeworfen wurde und »kapitulantenhafte« Haltung – eine Anklage, die sich gegen Berija gut verwenden ließ. Nach dessen Sturz wurde mit der Einstellung der Reparationsverpflichtungen (22.6.1953) und der Senkung der Besatzungskosten die DDR finanziell entlastet, einen Monat später gewährte Moskau zwei umfangreiche Kredite von insgesamt 1075 Millionen Rubel, die sich als »unschätzbare Hilfe«8 für die DDR-Wirtschaft erwiesen. Sie waren zum Teil ausdrücklich für Investitionen in der Konsumgüterindustrie bestimmt. Mit dem 15. Plenum des Zentralkomitees der SED, das zwei Tage nach der Reparationsregelung zusammentrat und bis zum 26. Juli tagte, hatte sich der »neue Kurs« der Moskauer Führung in der DDR durchgesetzt. Der sowjetische Kredit rettete das SED-Regime. Er war zugleich ein deutliches Zeichen, daß Moskau nicht bereit war, die DDR aufzugeben – eine moralische Unterstützung für die schwer angeschlagene SED. In den Beziehungen zwischen beiden Staaten wurde damit eine neue Periode eingeleitet. Die Ursachen des Aufstandes vom Juni 1953 waren nicht auf die DDR beschränkt. Aus Ungarn trafen Anfang 1953 ähnlich alarmierende Nachrichten über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage des Landes in Moskau ein. Mátyás Rákosi, Generalsekretär und Ministerpräsident, wurde im Mai nach Moskau zur Berichterstattung beordert, doch wie Ulbricht schlug er die Moskauer Vorschläge für eine Kursänderung aus. Nach dem 17. Juni allerdings wurde die Kreml- Führung massiv. Rákosi wurde gezwungen, Imre Nagy zu rehabilitieren, der am 4. Juli 1953 das Amt des Ministerpräsidenten übernahm und sogleich eine weitgehende Reform der Wirtschaftspolitik einleitete. Sie stieß jedoch auf den Widerstand des stalinistischen Parteiapparates. Nagy hat bis zu seinem Sturz einen mühsamen Kampf gegen Rákosi, für eine Verbesserung der Lebensbedingungen geführt. Er hat dabei vor allem die Unterstützung Malenkows gefunden. Sein Scheitern war damit schon vorprogrammiert, denn nach der Liquidierung Berijas spitzte sich der Machtkampf im Kreml auf die Auseinandersetzung zwischen Malenkow und Chruschtschow zu. Mit dem Fall seines Mentors war auch Nagys politisches Schicksal besiegelt. Die Verknüpfung persönlicher Rivalitäten mit politischen Entscheidungen – hier jene Chruschtschows zugunsten Rákosis –, die an den Erfordernissen der Realität vorbeigingen, führte schließlich auch in Ungarn zur Katastrophe. Nagy hat allerdings in Verkennung der unabdingbaren Positionen der Sowjetunion sein Schicksal selbst herausgefordert, denn er strebte »bereits 1954 für Ungarn eine praktisch neutrale Stellung zwischen den beiden Mächtegruppierungen [an], um der Aufgabe, den Kommunismus aufzubauen, angemessen nachkommen zu können«9. Damit aber stellte er die sowjetische Hegemonie in Frage und verletzte ein Tabu: Die Souveränität der Volksdemokratien, auf die sich seine Forderung stützte, war auch nach Stalins Tod durch die Interessen der Sowjetunion begrenzt. In der ČSR war wenige Tage
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nach Stalin Klemens Gottwald gestorben (14. März 1953), hier etablierte sich, sowjetischem Vorbild folgend, eine »kollektive Führung« mit Staatspräsident Antonín Zápotocký, Ministerpräsident Viliam Široký und Antonín Novotný als erstem Sekretär des ZK-Sekretariats. Die wirtschaftliche Lage des Landes war zwar nicht so schwierig wie die der DDR und Ungarns, denn die ČSR war von Kriegsschäden weitgehend verschont geblieben und ihre Industrie hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg einen hohen Entwicklungsstand aufzuweisen, der sich auf eine entsprechende technische Intelligenz und geschulte Arbeiterschaft stützte, doch hatte sie nach 1948 gerade wegen dieser industriellen Leistungskraft in hohem Maße und zu diktierten Preisen für sowjetische Bedürfnisse produzieren müssen. Außerdem war die forcierte Industrialisierung des Stalinismus auch hier zu Lasten der Konsumgüterproduktion gegangen, und die Kollektivierung der Landwirtschaft ließ im Verein mit der Abwanderung von Arbeitskräften in die Industrie die Agrarerzeugung so stark sinken, daß das Land auch auf Nahrungsmittelimporte aus der UdSSR angewiesen war. Der durch den Mangel an Verbrauchsgütern hervorgerufene Kaufkraftüberhang führte zu einer inflatorischen Entwicklung, die zu stoppen die Regierung am 30. Mai 1953 eine radikale Währungsreform verkündete. Mit Ausnahme der Sparkonten und eines Grundbetrages wurde die Krone im Verhältnis 50:1 abgewertet, reduzierte man Renten und Löhne auf ein Fünftel. Als einen Monat später neue Normerhöhungen angekündigt wurden, kam es in Pilsen und anderen Industriezentren zu Protestaktionen (die rasch und ohne große Mühe unterdrückt wurden). Sie gaben den Ausschlag für einen Kurswechsel. Die Normerhöhung wurde aufgehoben, eine Preissenkung und Erhöhung der Konsumgüterproduktion wirkten ebenso beruhigend wie die Sistierung der Zwangskollektivierung und eine Reorganisation in Partei- und Staatsapparat. In Polen änderte sich zunächst in der Führungsspitze nichts – Bierut vereinte weiterhin das Amt des Ministerpräsidenten mit dem des Parteichefs. Da seine Herrschaft unangefochten und von Krisen wie in der DDR und der ČSR verschont blieb, drängte die Kreml-Führung auf keinen Wandel/und erst am 28./30. Oktober 1953 wurde vom ZK der PZPR die Einführung des »neuen Kurses« beschlossen. Im März 1954 erfolgte dann die Gewaltenteilung nach Moskauer Vorbild; Bierut blieb – nunmehr als »Erster Sekretär« – Parteiführer, Ministerpräsident wurde Cyrankiewicz. Zu dieser Machtminderung trug die sogenannte Światło-Affäre, die Flucht eines Oberstleutnants des polnischen Sicherheitsdienstes im Dezember 1953, bei, dessen Enthüllungen im Westen um so mehr Aufsehen erregten, als durch die Hinrichtung Berijas (13.12.53) die kommunistischen Geheimdienstpraktiken ohnehin schon erhöhte Aufmerksamkeit gefunden hatten. Als Folge dieser Affäre verlor auch in Polen der Sicherheitsdienst seine Sonderstellung. Die Fehlleistungen des Systems – die Verkündung des »neuen Kurses« war wie üblich mit einer Kritik der bisherigen Fehler verbunden, denn der wirtschaftspolitische Wandel bedurfte der Begründung – stärkten jene Gruppen in Polen, die auf eine weitergehende
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Liberalisierung des öffentlichen Lebens setzten: den »Dritten Stand«, die Intelligenzschicht, die »noch weitgehend aus dem Bewußtsein älterer privater Ordnungen« lebte. Die Regierung war bei der Verwirklichung der politischen Zielsetzungen auf ihre Mitwirkung angewiesen, und so wuchs diese Schicht zu einem politischen Faktor, dessen Haltung zu einem »eigenartigen Wechselspiel von halben Zugeständnissen und weitergehenden Forderungen [führte], das die Beziehungen zwischen Staat und Nation bis zum ›Polnischen Oktober‹ kennzeichnete«10. Ähnlich Bierut in Polen verstand Hoxha in Albanien seine Position zu wahren. Als er schließlich am 20. Juli 1954 das Amt des Ministerpräsidenten niederlegte, hatte er Vorsorge getroffen, daß seiner Macht durch den Nachfolger kein Abbruch getan wurde: mit Mehmed Shehu hatte er die Regierungsgeschäfte einem ergebenen Mann übertragen, der auch in den späteren Konflikten loyal zu ihm stand. Weniger geschickt traf Tscherwenkow seine Wahl. Er blieb Regierungschef Bulgariens und überließ im Februar 1954 das Amt des Ersten Sekretärs der Partei seinem Schützling Todor Shiwkow, der mehr und mehr an Einfluß gewann und seinen ehemaligen Förderer 1956 verdrängen konnte. In Rumänien war Gheorghiu-Dej im August 1953 in Bedrängnis geraten, als eine von der Kreml-Führung begünstigte Opposition ihn ob seines Beharrens auf stalinistischen Praktiken heftig angriff. Es mag die offenkundige Liaison seiner Gegenspieler mit Moskau gewesen sein, die den »Nationalkommunisten« Dej rettete. Als er dann im April 1954 Tscherwenkows Beispiel folgte, hatte er einen verläßlicheren Statthalter im Parteiamt gefunden als der Bulgare, und es fiel ihm nicht schwer, im Dezember 1955 den Posten des Ministerpräsidenten mit jenem des Ersten Sekretärs der Partei zu vertauschen, als die Veränderungen der Machtkonstellation im Kreml offenkundig wurden. So vollzogen sich in den Volksdemokratien im Verlauf von etwas mehr als einem Jahr Veränderungen, die sie dem »sowjetischen Modell« anpaßten. Die personelle Einheit von Partei- und Staatsführung wurde aufgelöst, die Partei sollte sich auf eine die politischen Leitlinien und Prioritäten bestimmende, im übrigen aber – wenn auch wachsam – kontrollierende Funktion beschränken, die Exekutive eine größere Selbständigkeit und Selbstverantwortung und damit stärkere Eigeninitiativen entwickeln können. Zur Stalin-Zeit hatte die Identität von Partei und Staatsapparat alle Fehler und Mängel der Exekutive zugleich als Fehlleistungen der Partei ausgewiesen; sie hinfort davon zu entlasten, war die Absicht dieser Trennung. Die Partei sollte dadurch in die Lage versetzt werden, gegebenenfalls gegen Fehlentscheidungen der Exekutive als Sachwalter der Bevölkerung aufzutreten, so daß das gestörte Vertrauensverhältnis allmählich überwunden und der Konsens zwischen der Partei als »führender Kraft« und der Bevölkerung hergestellt wurde. Allerdings barg die neue Eigenständigkeit der Exekutive die Gefahr von Friktionen mit der Partei, die politischen Realitäten konnten zu Problemlösungen verleiten, die den Intentionen der Partei zuwiderliefen. Dieser Prozeß der Gewaltenteilung ist in den Volksdemokratien
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nicht nur zeitlich, sondern auch funktional unterschiedlich verlaufen. Während in den drei balkanischen Volksdemokratien Rumänien, Albanien und Bulgarien (ungeachtet von Tscherwenkows Versuch) sich de facto an der Herrschaftsstruktur ebensowenig etwas änderte wie in der DDR, in der Ulbricht sein Regime behaupten konnte, vollzog sich in Polen und Ungarn – obwohl Nagy scheiterte – ein stiller Wandel. Die selbstbewußten traditionellen, geistigen und technischen Eliten dieser Länder entwickelten sich in ihrem Patriotismus zum eigentlichen Widerpart des Regimes, so daß der kaum verhohlene Stalinismus der Parteiapparate nicht, wie in den vorgenannten Volksdemokratien, unangefochten erhalten blieb. In der Tschechoslowakei ist diese Minderung der Parteiherrschaft nicht erfolgt, da sich hier gerade die Intelligenzschicht stark an die Sowjetunion gebunden fühlte und nach ihr orientierte. Die Kreml-Führung hat zwar aus den erwähnten Gründen immer wieder auf eine Reorganisation nach sowjetischem Vorbild gedrängt und die Auflösung der Personalunion von Partei- und Regierungschef formal auch durchsetzen können. Das angestrebte Ziel einer Modernisierung aber wurde damit nicht erreicht. Zum einen gewährten die bisherigen Machthaber die maximale Sicherheit, daß die sowjetische Hegemonie erhalten blieb, sie waren erprobt und erfahren, und so mußte ihnen ein Ermessensspielraum zugestanden werden. Er dürfte aus Moskauer Sicht größer als beabsichtigt ausgefallen sein, da die nationalen KPFührer die internen Auseinandersetzungen im Kreml zu nutzen wußten. Zum anderen aber war die Verzahnung von Partei und Exekutive keineswegs leicht zu lösen; dies konnte sogar zu schweren Krisen führen, war doch die kommunistische Herrschaft hier bei weitem nicht so durch Dauer gefestigt wie in der Sowjetunion. So hat der Kreml sich mit gewissen nationalen Eigenarten der kommunistischen Herrschaft in den Volksdemokratien abgefunden. Er war aber zugleich darauf bedacht, angesichts dieser Teilemanzipation neue Sicherungsinstrumente seiner Herrschaft zu schaffen. c) Der Warschauer Pakt Eine präventive Änderung der sowjetischen Herrschaftsinstrumente im osteuropäischen Vorfeld war auch aus außenpolitischen Gründen notwendig. In seiner vielbeachteten Rede vom 8. August 1953, die den Beginn der sowjetischen »Entspannungspolitik« markiert, hatte Malenkow die Formel von der »friedlichen Koexistenz« zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten verkündet, das außenpolitische Prinzip des »neuen Kurses«. Diese Strategie, einem bewaffneten Konflikt zwischen den beiden Weltmächten vorzubeugen, bedurfte aber grundsätzlicher vertraglicher Bindungen zwischen den RGWLändern. Die stalinistische Herrschaftspraxis und ihre Instrumente waren diskreditiert, sie standen der Entspannung im Weg und mußten daher vorsichtig abgebaut werden – zu einem Zeitpunkt, da die Gefahr »nationaler«
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Entwicklungen in den Volksdemokratien nicht auszuschließen war. Denn im Abkommen mit der Volksrepublik China vom Oktober 1954 hatte die sowjetische Delegation die chinesischen Forderungen akzeptieren müssen, daß die Beziehungen zwischen kommunistischen Staaten auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und Souveränität beruhen sollten, und die Bemühungen um eine Rückgewinnung Titos, des »nationalistischen Abweichlers«, mußten zu einer Sanktionierung besonderer »nationaler Wege zum Sozialismus« führen. Es hatte sich gerade im Falle Jugoslawiens gezeigt, daß die Ideologie und das Interesse der Herrschaftsbewahrung allein nicht genügend Konsolidierungskraft besaßen. Die Volksdemokratien waren allerdings auch durch das wirkungsvolle Mittel der wirtschaftlichen Abhängigkeit an die Sowjetunion gebunden; ihre Volkswirtschaften konnten sich aus dieser Bindung auf lange Sicht nicht befreien: Die strukturelle Einseitigkeit der Industrialisierung und das niedrige technologische Niveau der Produkte brachten sie gegenüber der internationalen Konkurrenz in eine fast aussichtslose Lage und schlössen sie weitgehend vom Weltmarkt aus, auf dem sie nur mit volkswirtschaftlich ruinösen DumpingPreisen Absatz fanden. Der RGW-Binnenmarkt mit seinem enormen Bedarf, von internationaler Konkurrenz abgeschlossen, nahm hingegen die Waren sehr viel leichter auf. Die stärkere Entwicklung dieses Marktes durch Aktivierung des nach seiner Gründung so rasch zu einem Schattendasein verkümmerten Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, die Malenkow schon in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet der UdSSR im April 1954 in Aussicht stellte, bot nicht nur den Vorteil eines intensiveren Intra-RGW-Handels mit verstärkter Nutzung der nationalen wirtschaftlichen Ressourcen, sondern förderte gleichzeitig die volkswirtschaftliche Verflechtung innerhalb des Wirtschaftsblocks und damit die Abhängigkeit der einzelnen Volkswirtschaften. Die dominierende Stellung der Sowjetunion war dabei gewahrt. Ihre überlegene Wirtschaftskraft, vor allem aber ihre Rohstoffvorräte garantierten der Kreml-Führung das entscheidende Wort. Die Auflösung der »gemischten Gesellschaften«, mit der 1954 begonnen wurde, war ein Scheinzugeständnis an die Souveränität der Volksdemokratien – die sowjetischen Eigentumsanteile mußten mit zumeist langjährigen Verpflichtungen abgelöst werden, die dem sowjetischen Kapitalmarkt zugute kamen. Auch in den politischen und kulturellen Beziehungen wurden neue Formen praktiziert, die dem Geist der »Gleichberechtigung« zwischen den kommunistischen Staaten entsprachen. Die Kontroll- und Steuerungsfunktionen wurden im Rahmen der bestehenden Beistands- und Freundschaftsverträge formalisiert, offizielle Konsultationen der kommunistischen Parteien und Regierungen – mit dem obligaten Ritual einer Beschwörung der Gemeinsamkeit der Interessen wie des kommunistischen Bekenntnisses und einer Warnung vor einer Gefährdung der ideologischen Einheit – traten an die Stelle der verdeckten Einflußnahmen der Stalinzeit. Der kulturelle und wissenschaftliche Austausch, den Stalin sistiert hatte, wurde allmählich aktiviert, wobei die vermittelnden
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staatlichen Instanzen als Kontrollorgane gegen den Transfer unerwünschter Gedanken fungierten, und damit ein weiteres Netz von Kontakten, Informationsund Beeinflussungsmöglichkeiten geschaffen (für Auslandsreisende ist eine detaillierte Berichterstattung obligatorisch). Auch erhielten die Gesellschaften für die Freundschaft mit der Sowjetunion nun entsprechende sowjetische Organisationen als Partner. Solche Maßnahmen konnten jedoch bestenfalls unterstützenden Charakter haben, die sowjetische Hegemonie garantierten sie allein nicht. Der eingeleitete Prozeß, der aus den stalinistischen Satelliten allmählich Partner – wenn auch Juniorpartner – der Sowjetunion machen, sie aus der Position stummer Befehlsempfänger entlassen sollte, verlangte Garantien, die eine ähnliche Gefährdung des Hegemonialbereichs, wie sie Jugoslawiens Abfall mit sich gebracht hatte, zuverlässig ausschlössen. Sie konnten allein im militärischen Bereich gegeben sein. Ansätze zu einer stärkeren Koordinierung der nationalen Streitkräfte und ihrer Verteidigungsmaßnahmen waren schon im letzten Jahre Stalins zu verzeichnen. Die neue Führung setzte sie einstweilen nicht fort, um ihre Entspannungspolitik nicht zu gefährden. Als 1954 die Diskussion über den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft aufflammte, versuchte Moskau angesichts des Widerstandes vor allem in Frankreich, eine europäische Sicherheitskonferenz zusammenzurufen, jedoch vergebens. Auch die durch polnische und tschechoslowakische Initiativen unterstützte Konferenz für kollektive Sicherheit in Europa, die Ende November/Anfang Dezember des Jahres in Moskau stattfand, sah nur Vertreter der kommunistischen Regierungen unter den Teilnehmern. In ihrem Schlußkommuniqué warnte die Konferenz vor einer Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und kündigte für diesen Fall gemeinsame Maßnahmen zur Intensivierung der eigenen Rüstung an. Als am 5. Mai 1955 die Pariser Verträge ratifiziert wurden, durch die die Bundesrepublik die Aufnahme in die NATO erlangte, erwies sich Moskau als wohlvorbereitet: Am 14. Mai signierten die Regierungschefs der RGW-Länder in Warschau den »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand«, den sogenannten »Warschauer Pakt«. Die DDR, die als Beobachter teilnahm, wurde im Frühjahr 1956 nach der Umbenennung der Kasernierten Volkspolizei in Nationale Volksarmee (NVA) Vollmitglied. Der multilaterale Vertrag ergänzte die bisher bestehenden bilateralen Beistandsabkommen; auch entlastete er, zumindest theoretisch, die Sowjetunion etwas, denn im Falle eines Angriffes auf ein Mitgliedsland waren nun sämtliche Partnerstaaten zur Hilfe verpflichtet. Der Sowjetunion gelang es mit diesem Pakt, die RGW-Länder fest und auf Dauer an sich zu binden. Der Vertragstext verbot nicht nur jeglichen Beitritt zu anderen Bündnissen, er enthielt auch keinerlei Bestimmungen über den eventuellen Austritt eines Signatarstaates. In Ausführung des Vertrages wurde 1956 ein Beratender Politischer Ausschuß mit einer Reihe von Unterorganen konstituiert, doch hat er die ihm zugedachte Rolle
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eines eigenständigen Gremiums mit beschließender Gewalt nicht verwirklichen können, die nationalen Vorbehalte gegen eine Majorisierung waren zu groß. Im militärischen Bereich wurde ein Vereinigtes Oberkommando in Moskau geschaffen, dessen Oberbefehl in sowjetischer Hand liegt, auch nachgeordnete Kommandostellen sind mit Vertretern der Sowjetarmee besetzt.
Abb. 6: Mitglieder und Organisation des Warschauer Pakts in Europa
Neben regelmäßig abgehaltenen Manövern, in denen das Zusammenwirken der nationalen Verbände geübt wird, schuf man in den Volksdemokratien als ständige Koordinations- und Kontrollorgane des Oberkommandos eigene Militärstäbe, die ausschließlich mit sowjetischen Militärs besetzt wurden. Ihre Angehörigen erhielten 1962 sogar diplomatischen Status.11 Damit war die Kontrolle über die Armeen der Volksdemokratien fest in sowjetischer Hand, die nationalen Oberkommandos wurden auch formal weisungsgebunden. Der Pakt selbst bot darüber hinaus die Möglichkeit, gegebenenfalls gegen unerwünschte Entwicklungen militärisch zu intervenieren. Er institutionalisierte so in den osteuropäischen Staaten die sowjetische Herrschaft, die in der Fortdauer der Stationierung sowjetischer Truppen aufgrund neuer bilateraler Abkommen auch ihren sichtbaren Ausdruck fand. Der Einschränkung der Souveränität ihrer Länder haben die Führer der Volksdemokratien nicht nur auf Druck Moskaus hin zugestimmt. Die
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Wiederaufrüstung der Bundesrepublik wurde allgemein als ein bedrohlicher, gegen die RGW-Länder gerichteter Akt aufgefaßt, als Bestätigung der stets unterstellten aggressiven Tendenzen der NATO, die im Kontext der amerikanischen »roll-back«-Devise damit eine neue Qualität erhielten. Neben der DDR, die sich auch ob der Wiedervereinigungsforderung als besonders gefährdet ansah, wuchs vor allem in Polen und der ČSR, in denen die Erinnerung an die Gewaltpolitik des nationalsozialistischen Deutschland noch höchst virulent war (und gehalten wurde), die Furcht vor einem deutschen »Revanchismus«. In Polen war es die Sorge um die sogenannten »wiedergewonnenen Westgebiete«, die man durch das Festhalten der Bonner Regierung an den aus dem Potsdamer Kommuniqué sich ergebenden Rechtspositionen gefährdet sah. In Prag war man wegen der Ansprüche der sudetendeutschen Vertriebenen besorgt, deren Organisationen nicht ohne Einfluß auf die Bonner Politik waren. In Warschau wie in Prag waren sich die Regierungen bei der Zurückweisung der Bonner Ansprüche breiter Unterstützung auch durch die nichtkommunistische Bevölkerung sicher, erhielten sie patriotische Zustimmung für die zu ergreifenden Abwehrmaßnahmen. Im übrigen bildete die Einschränkung der Souveränität durch den Warschauer Pakt die zuverlässigste Garantie für die Erhaltung ihrer Macht, eine Garantie, die das formalrechtliche Zugeständnis an die bislang schon praktizierte Moskauer Herrschaft wert war. Wie ambivalent die Haltung der nationalen Führungen war, zeigt das Beispiel Rumäniens. Obwohl sich Gheorghiu-Dej 1953/54 gegen sowjetische Einflußnahme zur Wehr gesetzt hatte, bat er 1955 um weitere Stationierung sowjetischer Truppen in seinem Lande, als die Rechtsgrundlage für deren Anwesenheit durch den Abschluß des Staatsvertrages mit Österreich nicht mehr gegeben war. d) Der Aufstieg Chruschtschows Die Verrechtlichung der sowjetischen Hegemonie über die RGW-Staaten in der Ablösung vom Stalinismus und seinen Herrschaftspraktiken diente wesentlich den Bemühungen der Moskauer Führung, der UdSSR jenes internationale Vertrauen zu verschaffen, das eine Abkehr von der primär auf die Behauptung und Festigung des eigenen Imperiums gerichteten Außenpolitik, wie sie bis 1952 verfolgt worden war, zur Voraussetzung hatte. Mit der Etablierung kommunistischer Regime im Fernen Osten mußten zwangsläufig – unter Sicherung des RGW-Bereiches – auch neue Strukturen der kommunistischen Weltbewegung gefunden werden, denn eine Integrierung Chinas und Nordkoreas sowie Nordvietnams in das stalinistische System überstieg die politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Sowjetunion bei weitem. Hierbei kam dem Verhältnis zum national-kommunistischen Jugoslawien eine Schlüsselrolle zu. Eine Aussöhnung mit Tito konnte als Beweis für die ehrliche Abkehr der sowjetischen Führung von der Vergangenheit und für ihre
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Bereitschaft zur gleichberechtigten Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Staaten gelten und die Politik der »friedlichen Koexistenz« glaubhafter machen. Die Verständigung mit Jugoslawien besaß zusätzliches Gewicht, da Tito seit 1954 gemeinsam mit Nehru und Nasser an der Spitze der »BlockfreienBewegung« stand, die die Länder der Dritten Welt ohne Ansehung der jeweiligen Gesellschaftsordnung zu vereinen suchte. Die Verfestigung der beiden Blöcke – des sozialistischen und des kapitalistischen – ließ Machtgewinne nur noch in diesem »neutralen« Raum zu, dem sich die Politik Moskaus seit 1954 mit gesteigerter Intensität widmete. Gewann man Tito, so mußte das die sowjetischen Erfolgsaussichten und Einflußmöglichkeiten beträchtlich erhöhen. Motor einer Normalisierung der Beziehungen zu Jugoslawien war Chruschtschow. Er knüpfte gegen den Widerstand der Orthodoxen an die recht vagen Offerten an, die der um eine Entlastung seines Regimes von dem fortgesetzten Druck der RGW-Länder bemühte Tito der neuen Kreml-Führung im Mai 1953 machte. Trotz des am 17. Juni erfolgten Botschafteraustausches dauerte es aber länger als ein Jahr, bis die Annäherung ernsthafte Formen annahm. Nicht nur in der sowjetischen Führung fanden sich Opponenten, auch die Führer der Volksdemokratien und Chinas hatten Bedenken. Bewogen die chinesischen Kommunisten vor allem grundsätzliche ideologische Fragen zu einer ablehnenden Haltung, so waren es in den Volksdemokratien innenpolitische Erwägungen. In den Säuberungen der Partei ab 1949 hatte »Titoismus« als gewichtigster Anklagepunkt bei der Ausschaltung der innerparteilichen Gegner gedient, die Propaganda hatte sich in Verunglimpfungen und Schmähungen Titos und seiner Mitarbeiter schier überschlagen. Zwei Ereignisse brachten schließlich die Entscheidung: Titos triumphale Asienreise (17.12.1954–11.2.1955), die sein Ansehen in der Dritten Welt unter Beweis stellte, und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Sie rief in Jugoslawien eine tiefe Verstimmung gegen die USA hervor und führte zur Annäherung an die Sowjetunion. In Moskau aber wurde sie zum Anlaß für Malenkows Sturz. Am 8. Februar 1955 gab er selbst vor dem Obersten Sowjet seinen Rücktritt bekannt; als Gründe nannte er neben den üblichen Schwierigkeiten in der Landwirtschaft auch das ungenügende Wachstum der Investitionsgüterindustrie. Nun war die Steigerung der Konsumgüterproduktion, die zum »neuen Kurs« gehörte, zwangsläufig mit einer Minderung der Zuwachsraten jenes Sektors verbunden, die Minderung also kalkulierte Folge einer nicht nur von Malenkow befürworteten Wirtschaftspolitik. Auch die mangelnden Erfolge in der Landwirtschaft, die schon in der Vergangenheit nach immer neuen Remedien hatten suchen lassen, wogen nicht schwer genug. Malenkows Entmachtung ist eng mit der Krise der Entspannungspolitik Ende 1954/ Anfang 1955 verbunden, wobei im einzelnen nicht zu entscheiden ist, ob sie einen Anlaß oder den Grund bildete. Interpretierte man in Moskau die Einbeziehung der Bundesrepublik in das
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westliche Verteidigungsbündnis als Absage an die Entspannung, dann war nicht nur diese Politik gescheitert, sondern erwies sich auch die relative Minderung der Industriegüterproduktion, die auf einer Verringerung der Spannungen basierte, als politische Fehlentscheidung. Ihr Gewicht erhielt sie jedoch erst dadurch, daß Chruschtschow im Spätherbst 1954, unter dem Eindruck seiner Unterredungen mit Mao Tse-tung, von der Wirtschaftspolitik des »neuen Kurses« abrückte und eine Rückkehr zum bevorzugten Ausbau der Industriegüterproduktion forderte. Dies entsprach dem chinesischen Interesse an einer möglichst großen Unterstützung ihrer eigenen Industrialisierung durch sowjetische Lieferungen. Mit seiner Forderung fand sich Chruschtschow an der Seite der orthodoxen Gruppe in der Kremlführung, und er entsprach damit auch den Wünschen der Militärs, deren Wort in dieser »Krise« besonderes Gewicht besaß. Die Allianz mit der Führung der Streitkräfte war für ihn, den in einer Reihe von Fragen, etwa im Verhältnis zu Jugoslawien, tiefe Meinungsunterschiede von der Molotow-Gruppe trennten, höchst wertvoll; sie wurde durch die Ernennung Bulganins zum Nachfolger Malenkows und Shukows zum neuen Verteidigungsminister bekräftigt. In dieser neuen Führungsspitze war Chruschtschow die dominierende Figur. Zuerst ging er an die Verwirklichung der Aussöhnung mit Tito, denn seiner Auffassung nach war die »Verstoßung« Jugoslawiens ein schwerer Fehler Stalins gewesen12. Wenige Tage nach Abschluß des österreichischen Staatsvertrages (15. Mai 1955) reiste er nach eingehender diplomatischer Vorbereitung mit Bulganin nach Belgrad. Die Gespräche mit der jugoslawischen Führung brachten trotz weiterhin bestehender Differenzen und manchen Befremdungen – so, als Chruschtschow die Schuld für den Bruch allein Berija anlastete – eine teilweise Aussöhnung. Die Deklaration, die hier am 2. Juni beschlossen wurde, klammerte die strittigen ideologischen Fragen aus; die in der Bukarester Kominform-Resolution vom 18.6.1948 erhobenen Vorwürfe blieben bestehen. Vereinbart wurde, auf der Grundlage der Prinzipien der Nichteinmischung, der Souveränität und Gleichberechtigung der beiden Staaten das gegenseitige Verhältnis zu normalisieren und die Beziehungen zu verstärken. Abkommen über politische, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit folgten. Damit blieb an der westlichen Grenze des sowjetischen Herrschaftsbereiches nur noch die deutsche Frage offen. Die Genfer Konferenz vom 18.–23. Juli 1955, auf der neben Chruschtschow, Bulganin und Außenminister Molotow auch Shukow die Sowjetunion vertrat, brachte keine Einigung. Das österreichische Modell ließ sich auf die deutschen Verhältnisse nicht übertragen. Dennoch wurde klar, daß auch die USA an einer Fortsetzung der Entspannungspolitik ernsthaft interessiert waren, um die sich auch die sowjetische Seite – schon im Hinblick auf die wirtschaftlichen Probleme, zu deren Lösung man Zeit benötigte – ehrlich bemühte. Um in der Deutschlandfrage zu einer Lösung zu gelangen, suchte die Sowjetunion nun, wie Molotow schon auf der Berliner Außenministerkonferenz vom 25.1.–18.2.1954 angedeutet hatte, zu separaten Regelungen mit den beiden
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Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches zu gelangen. Bereits am 7. Juni 1955 war an die Bundesregierung eine Einladung nach Moskau zu Gesprächen ergangen, die » ... zur Lösung des gesamtnationalen Problems des deutschen Volkes – der Wiederherstellung der Einheit des demokratischen deutschen Staates – beitragen sollen«13. Doch schon in den Vorverhandlungen wurde – wie auch in Genf – sichtbar, daß die Wiedervereinigung kein Gegenstand ernsthafter Erörterung sein werde. Die deutsche Delegation, die Anfang September 1955 in Moskau eintraf, stieß denn auch ungeachtet aller ehrenvollen Behandlung auf unverrückbare Positionen. So blieb die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Freilassung der »verurteilten« Kriegsgefangenen alleinige Ausbeute dieser schwierigen Mission. Drei Tage nach dem Abschluß der Verhandlungen (14. September) traf eine DDR-Delegation in Moskau ein. Mit ihr wurde der Vertrag vom 20.9.1955 geschlossen, in dem die DDR die volle Souveränität erhielt, allerdings mit den Einschränkungen, die sich für beide Partner aus den Deutschland betreffenden internationalen Abkommen ergaben. Damit ließ sich die Deutschlandfrage künftig nur unter Beteiligung der DDR lösen, wie es Chruschtschow bereits in seiner Ostberliner Rede vom 26. Juli 1955 erklärt hatte: »Man kann die deutsche Frage nicht auf Kosten der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik lösen.«14 Die westlichste Bastion der Sowjetunion, deren Stabilität gerade im Hinblick auf Polen von Bedeutung war, wurde in der Folgezeit nicht nur erneut durch Kredite wirtschaftlich gestärkt, auch ihre internationale Anerkennung bemühte sich die sowjetische Führung durchzusetzen. Währenddessen verfolgte man in Moskau intensiv die Linie einer weltweiten Entspannungspolitik, wobei die Bemühungen um Gewinnung der »Dritten Welt« im Vordergrund standen. Chruschtschows und Bulganins Reise nach Indien, wo sie Nehrus Moskauer Besuch vom Juni 1955 erwiderten, und nach Burma (November/Dezember 1955) warb um die Führer der BandungKonferenz. Im April 1956 folgte ein Besuch in Großbritannien. Solche Auslandsreisen wurden durch zahlreiche Staatsbesuche in Moskau und intensive diplomatische Bemühungen ergänzt; die Isolierung, in der sich die Sowjetunion während der späten Stalin-Zeit befunden hatte, war überwunden. Daß diese Politik weitgehend dem Engagement Chruschtschows zuzuschreiben war, zeigte seine Mitwirkung bei der »Reisediplomatie«. Als Erster Sekretär der KPdSU war es keineswegs seine Aufgabe, diplomatische Verhandlungen, noch dazu im Ausland, als der eigentliche Sprecher seines Landes zu führen; ohnehin wurden die Gastländer bei den Staatsbesuchen, die Bulganin und er gemeinsam unternahmen, vor ein diffiziles protokollarisches Problem gestellt. Zwar fungierte bei offiziellen Anlässen Bulganin als erster Repräsentant der UdSSR, doch mußte Chruschtschows Position sorgsam berücksichtigt werden, was bei dessen Empfindlichkeit eine schwierige Aufgabe war. Er hat sich mit der ihm eigenen Unbekümmertheit über Bedenken, wie sie in dem auf korrekteste Einhaltung der Formen bedachten sowjetischen außenpolitischen Apparat
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bestanden, hinweggesetzt; der Prestigegewinn, den er auch bei der eigenen Bevölkerung dadurch erreichte, stärkte auch seine Stellung innerhalb der Partei. II. Chruschtschow und die Entstalinisierung a) Der XX. Parteitag der KPdSU Binnen dreier Jahre hatte die Politik der neuen Führung die innere und äußere Lage der Sowjetunion grundlegend gewandelt. Ansätze zur Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung waren gemacht worden, das kulturpolitische »Tauwetter« begann die geistige Verkrampfung langsam zu lockern. Es war allerdings immer wieder von »Frosteinbrüchen« gefährdet, die von den Wächtern der ideologischen Rechtgläubigkeit ausgelöst wurden, denen die neue limitierte Freiheit suspekt war, stand sie doch im Gegensatz zu dem reglementierenden Immobilismus des hierarchischen Systems der Stalin-Zeit, dessen machtstabilisierende Funktion bewährt schien. Die Flexibilität der neuen politischen Führung mußte auf die Kader des Partei- und Staatsapparates irritierend wirken. Mißtrauen hegten auch die nationalen Führer der Volksdemokratien gegen die neue Politik, die ihre bewährte Herrschaftstechnik in Frage stellte – selbst wenn Moskau ihnen einen erweiterten Entscheidungsspielraum zugestand. Chruschtschow und seine Mitstreiter haben trotz der Widerstände und der Schwierigkeiten, die sich ergaben, grundsätzlich an der neuen Politik festgehalten. Den Schlüssel zum Verständnis dieser politischen Aktivitäten hat Chruschtschow selbst geliefert, als er erklärte, der Stalinismus als politisches und gesellschaftliches System entspreche nicht mehr dem fortgeschrittenen Entwicklungsstand der Sowjetunion und der Volksdemokratien, er sei überholt. Tatsächlich trägt die sowjetische Politik der Nach-Stalin-Zeit dynamischere Züge, ist von der Suche nach neuen Wegen und Möglichkeiten zur Erfüllung des ideologischen Auftrags geprägt, dem Sozialismus weltweit zum Siege zu verhelfen. Die Periode der Konsolidierung des »sozialistischen Lagers« wurde mit der Institutionalisierung der sowjetischen Suprematie durch vertragliche Bindungen weitgehend abgeschlossen. Parallel hierzu hatte sich die Integration der amerikanischen Hegemonialsphäre vollzogen, und da beide Lager an ihren Positionen festhielten, war die Überwindung der erstarrten Fronten nur durch Gewinne in der Dritten Welt zu erreichen. Folgerichtig knüpfte der Kreml hier an Indien und Burma an, deren politische Führer, vor allem U Nu, für die Gestaltung ihrer aus der Kolonialherrschaft entlassenen Länder einem – wie immer gearteten – sozialistischen Weg den Vorzug gaben. In diesem komplexen System von internationalen Beziehungen kam neben China auch Jugoslawien als kommunistischem Land ein wichtiger Platz an der Seite der Sowjetunion zu, für den Tito gewonnen werden mußte. Seine Anerkennung als Kommunist war dazu jedoch Voraussetzung, und das hieß Widerruf des Stalinschen Anathemas.
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Er erfolgte, wenn auch unter Vorbehalt: Die ideologischen Differenzen über die Rechtmäßigkeit des jugoslawischen Weges blieben bestehen. Der Ausgleich mit Jugoslawien aber stellte den Stalinismus und Stalin selbst in Frage. Die neue Politik war über seine politischen Prinzipien als nicht mehr zeitgemäß hinweggegangen, der Fall Jugoslawien aber brachte das Thema in grundsätzlicher Form in die Debatte. Molotows scharf formulierte Vorbehalte gegen den Abschluß des österreichischen Staatsvertrages und die Vereinbarung mit Tito (auf dem ZK-Plenum vom 4.–12. Juli 1955) riefen eine ebenso scharfe Kritik der Jugoslawien-Politik Stalins (die Molotow mitgetragen hatte) durch Chruschtschow hervor: Sie habe durch Willkür, Ausbeutung und Rechtsverletzungen den Sozialismus in Jugoslawien in Gefahr gebracht und auch der internationalen sozialistischen Bewegung schwer geschadet. Mikojan erweiterte diese Beschuldigungen noch: auch im Verhalten gegenüber den Volksdemokratien seien die gleichen Verfehlungen Stalins festzustellen. Der latente Konflikt zwischen den Stalinisten und den Chruschtschow-Anhängern in der Parteiführung war damit als offener Dissens in die Partei hineingetragen. Es wäre ein folgenschweres Fehlurteil, wollte man diese Auseinandersetzung als bloßen Machtkampf persönlicher Ambitionen betrachten, wie auch eine Unterscheidung zwischen »Falken« und »Tauben« lediglich etwas über die Mittel zur Verwirklichung der beiden Gruppen gemeinsamen politischen Zielsetzung aussagen kann. Die Frage nach der Bewertung Stalins und seiner Herrschaftspraxis war auch innenpolitisch von höchster Relevanz, weil sie an das Selbstverständnis der Partei rührte. Sie war mit einem moralischen Anspruch – Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Verwirklichung der sozialen Gleichheit – angetreten und begriff sich als Vollender der mit der Französischen Revolution begonnenen Entwicklung. Daß im Kampf gegen den »Kapitalismus« moralische Kriterien nicht gefragt waren, verstand sich von selbst. Verzichtete man aber innerhalb der Gemeinschaft der Sozialisten darauf, arbeiteten hier Sozialisten mit jenen Mitteln, die man dem Kapitalismus zum Vorwurf machte, dann fiel die moralische Rechtfertigung sozialistischer Politik und Ideologie fort, sie depravierte zur reinen Machtpolitik und verlor ihre Glaubwürdigkeit. Die letzten Jahre Stalins hatten in der Entfremdung von Partei und Bevölkerung gezeigt, wie groß der Vertrauensschwund war, den das System erlitten hatte, und in den ersten noch zögernden Schritten der Intelligenz während des »Tauwetters« war dies bestätigt worden. Auch die Einbußen der internationalen kommunistischen Bewegung forderten eine Erneuerung und Rückbesinnung auf den eigentlichen Auftrag – unter voller Wahrung der von Lenin aufgestellten und vom X. Parteikongreß angenommenen Prinzipien für die Parteiorganisation und -arbeit, wie sie Chruschtschow noch in den Verhandlungen mit Tito als verbindlich bekräftigt hatte, als er an den in der ersten Kominformresolution gegen Jugoslawien erhobenen Vorwürfen festhielt.
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Ob überhaupt und, wenn ja, inwieweit die Molotow-Gruppe der moralischen Erneuerung der Partei zustimmte, läßt sich nicht genau feststellen. Mit Sicherheit aber setzte sie sich für eine ungebrochene Legitimität der Partei ein und gegen eine Verurteilung Stalins ex post, die eine schwere Erschütterung nicht nur der Partei und des ganzen sozialistischen Lagers, sondern auch der internationalen kommunistischen Bewegung hervorrufen mußte. Darüber hinaus stellte sich die Frage, welchen Teil die jetzigen Führer der Sowjetunion an Stalins Herrschaftspraxis hatten. Eine stillschweigende Abkehr von den Exzessen Stalins, eine der üblichen Änderungen der »Parteilinie«, vermied das Risiko mit seinen unkalkulierbaren Konsequenzen. Chruschtschow aber sah weiter. Der Stalinismus hatte nicht nur die Sowjetunion, sondern die kommunistische Idee weltweit diskreditiert. Man konnte zwar innerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereiches Stalins Terrorherrschaft mit Stillschweigen übergehen, gefährdete aber gerade damit die internationale Politik der Sowjetunion. Die Krise im eigenen Lager ließ sich unter Kontrolle halten, ein freimütiges Eingeständnis der Fehler der Vergangenheit als entschiedene Distanzierung in aller Offenheit mußte weltweit sehr viel mehr Glaubwürdigkeit besitzen. In dieser Abrechnung mit dem Stalinismus ist Chruschtschow von Tito bestärkt worden, für den sie eine Teilwiedergutmachung bedeutete. Auch haben persönliche Ressentiments und Sentiments die Beteiligten beeinflußt – so hat Chruschtschow, der Ukrainer, besonders die Liquidierung der ukrainischen Parteiführer durch Stalin angeführt. Dies alles, auch die Machtfrage, hatte aber in diesem Konflikt nur akzidentielle Bedeutung – was nicht ausschließt, daß hie und da opportunistische Erwägungen Entscheidungen beeinflußten. Ausgetragen wurde der Konflikt auf dem XX. Parteikongreß der KPdSU (14.– 25. Februar 1956). Mikojan, der sich schon auf dem ZK-Plenum im Juli 1955 hervorgetan hatte, brachte das Thema in seiner Rede am 16. Februar zur Sprache, in der er an seine früheren Ausführungen anknüpfte. Chruschtschow hielt sich anfänglich zurück, er schlug nur die Abfassung eines neuen Lehrbuches der Parteigeschichte vor, das den Stalin zugeschriebenen »Kurzen Lehrgang« des Jahres 1938 ersetzen und das auf den historischen Tatsachen gegründet sein sollte. Erst in seiner großen »Geheimrede« – so genannt, weil der Text in der Sowjetunion nicht veröffentlicht wurde – am Schluß des Kongresses schritt er zur grundlegenden Abrechnung mit Stalin. Sie begann mit dessen Verhalten bei Lenins Tod und endete mit den letzten »Säuberungen«, eine Anklage, die kaum etwas ausließ, was dem toten Diktator vorgeworfen werden konnte – nur Stalins Verfolgung Trotzkis, Bucharins und beider Anhänger kam nicht zur Sprache. Angesichts dieses Kataloges von Verbrechen, begangen an überzeugten und der Sache ergebenen Kommunisten, war der Mythos vom »großen Stalin« irreparabel demontiert, der Kult, der um ihn entfacht worden war und noch in den Gedenkartikeln der sowjetischen Presse am 21. Dezember 1954 anläßlich seines Geburtstages nachwirkte, hinfort eine »Entartung«. In der Folgezeit sind denn auch die Opfer des Stalinismus – mit Ausnahme Trotzkis – allmählich
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rehabilitiert worden, die großen und kleineren Parteifunktionäre öffentlich, die vielen Namenlosen, die in den Lagern der Geheimpolizei umgekommen waren, im verborgenen – ihre Angehörigen erhielten lediglich die dürre Mitteilung (oftmals zusammen mit der offiziellen Sterbeurkunde), daß das Urteil gegen den Betroffenen aufgehoben sei. Die »Geheimrede«, bestimmt für die mittleren Parteikader und die anwesenden Führer der kommunistischen Parteien des Auslandes, denen damit Beurteilungs- und Verhaltensregeln gegeben wurden, hat in der Sowjetunion selbst das System nicht erschüttert. Kommunistische Ideologie und Sowjetpatriotismus erwiesen sich auch bei den folgenden Auseinandersetzungen mit den Stalinisten als zuverlässige Stabilisierungsfaktoren. Während sie im Westen, wohin man ihren Text zur Förderung der Entspannungspolitik gelangen ließ, als ex-officio-Verurteilung der mit Stalins Namen verknüpften Verbrechen spektakuläres Aufsehen erregte, bildete sie im »sozialistischen Lager« nur einen markanten Punkt in einer Entwicklung, die seit Stalins Tod im Gange war, ergänzte sie Chruschtschows Rechenschaftsbericht unter einem ganz speziellen Aspekt. Dieser Bericht war in seinen Ausführungen über die Aufgaben der kommunistischen Parteien zukunftsweisend. Ausgehend von dem durch Nuklearwaffen und Umrüstung verstärkten Sicherheitspotential der RGWStaaten und einer differenzierteren Beurteilung der Weltlage, die durch fünf Gruppen – die UdSSR, die anderen Staaten des »sozialistischen Lagers«, die »Blockfreien«, die kapitalistischen Länder und schließlich die USA – charakterisiert sei, hat er nicht nur die These von der Unvermeidbarkeit des Krieges zwischen Kapitalismus und Sozialismus revidiert und damit die »friedliche Koexistenz« in der Ideologie verankert, sondern auch mit der These vom ausschließlich revolutionären Übergang zum Sozialismus gebrochen, wobei er sich auf die Entwicklung in der ČSR und Ungarn in den Jahren 1945–1948 berief, die die Möglichkeit einer parlamentarischen Machteroberung der Kommunisten erwiesen hatte. In Zukunft, so fügte er hinzu, würden die Formen des Überganges zum Sozialismus immer vielfältiger werden, je nach dem Widerstand der »Ausbeuterklasse«, nach dem sich die Aktionen der revolutionären Marxisten zu richten haben und der die Frage ihrer Gewaltanwendung bestimmt. Entscheidend also waren die jeweiligen nationalen Gegebenheiten. Diese Thesen standen als Konsequenz der veränderten Weltlage in engem Zusammenhang: Der Weg einer evolutionären Umgestaltung bot bei Wahrung der »friedlichen Koexistenz« die Möglichkeit, den Parteiauftrag – weltweiter Sieg des Sozialismus – zu realisieren, ohne das Risiko von Gewaltanwendung (und die Gefahr militärischer Interventionen) eingehen zu müssen. Die Aktualisierung der Ideologie rechtfertigte die veränderte politische Strategie. Damit waren zugleich die nationalen Entwicklungen in Jugoslawien und China legitimiert, auch der parlamentarische Weg der mitgliederstarken französischen und italienischen KP, die darob in der Vergangenheit oftmals
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ideologischen Tadel erfahren hatten. Ihnen erwuchs aus diesem komplexen Spektrum politischer Verhaltensweisen zudem ein größerer Handlungsspielraum; parlamentarische Zusammenarbeit und Koalitionen mit den sozialistischen Parteien und Gruppen wurden hiermit gerechtfertigt. Wenn auch der revolutionären Gewalt nicht abgeschworen wurde – in einer Reihe kapitalistischer Länder werde ein gewaltsamer Sturz des bisherigen Regimes wohl erforderlich sein –, so schien dies doch mehr die obligatorische Drohgebärde. b) Systemkrisen in Polen und Ungarn Die Hoffnung auf eine neue »Volksfront« in den westlichen Staaten erfüllte sich jedoch nicht, und die sowjetische Intervention in Ungarn im Herbst 1956 rückte sie ferner denn je. Statt dessen zeitigte die These von den verschiedenen nationalen Wegen zum Sozialismus Ergebnisse, die die sowjetische Hegemonie sowohl im machtpolitischen wie im ideologischen15, also herrschaftslegitimierenden Bereich ernsthaft gefährdeten und die KremlFührung zur Erhaltung des sowjetischen Machtbereiches zu Aktionen zwangen, die – vorübergehend – die Entspannungspolitik weit zurückwarfen. Denn mit dem Zugeständnis alternativer Entwicklungsmöglichkeiten zum Sozialismus endete die Alleingültigkeit des sowjetischen Vorbildes und damit auch die Rolle Moskaus als der zentralen ideologischen Instanz. Der »Polyzentrismus«, wie der italienische KP-Chef Togliatti die neue Lage programmatisch nannte, beinhaltete nicht mehr und nicht weniger als die Existenz gleichberechtigter ideologischer – und damit auch politischer – Entscheidungszentren, ohne eine institutionalisierte führende Partei. Unterstützt wurden diese Bemühungen von Tito, dessen Vorstellungen bei Chruschtschow ein ungewöhnliches Gewicht besaßen. Auf Titos »ausdrücklichen Wunsch hin« wurde das Kominform-Büro am 17. April 1956 aufgelöst16, seine Reise durch die Sowjetunion (1.–23. Juni) wurde zu einem persönlichen Triumph. Das gemeinsame Kommuniqué vom 20. Juli bestätigte nochmals, »daß die Wege der sozialistischen Entwicklung in den verschiedenen Ländern und Verhältnissen unterschiedlich sind, daß der Reichtum der Formen der Entwicklung des Sozialismus zu seiner Stärkung beiträgt ...«17. Damit ging die sowjetische Führung über die Thesen des XX. Parteikongresses hinaus: Nicht nur der Weg zur Machtergreifung, sondern auch die weitere Entwicklung des Sozialismus konnte sich in verschiedenen Formen vollziehen, eine Feststellung, die erhebliche Folgerungen in sich barg. Denn wenn auch die kommunistische Politik primär Machtpolitik, Wahrnehmung der eigenen Interessen ist, so besteht doch aufgrund der herrschaftslegitimierenden Funktion der Ideologie eine gewisse Notwendigkeit, politische Entscheidungen als im Einklang mit den ideologischen Postulaten stehend erscheinen zu lassen – wobei der Interpretation wenig Schranken gesetzt sind, sich auch in dem schier unerschöpflichen Fundus der Hinterlassenschaft Lenins plötzlich Rechtfertigungen finden lassen wie etwa
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im Falle des »leninschen Prinzips der friedlichen Koexistenz«18. Andererseits aber können die ideologischen Prinzipien auch eine Eigenwirksamkeit gewinnen und Entscheidungen legitimieren, die mit ihren ursprünglichen politischen Motiven nicht in Einklang stehen. Als Chruschtschow in seinem Rechenschaftsbericht die sozialistischen Länder als eine eigene, von der UdSSR unterschiedene Gruppe anführte, womit er der Wirklichkeit Rechnung trug, und den nationalen Führern Verantwortung für die Entwicklung ihrer Länder auferlegte, ist er sich offenbar des Charakters dieses Unterschiedes nicht bewußt gewesen. Die Volksdemokratien waren von jenem Grad der inneren Konsolidierung des Systems, wie ihn die Sowjetgesellschaft aufwies, noch weit entfernt, ihre sozialen und ökonomischen Konflikte kaum ausgetragen, der geistigkulturelle Bereich voller Spannungen, zu denen nun neuerlich nationale Ressentiments hinzutraten. Die Aufdeckung der Verbrechen Stalins und die Rehabilitierung Titos schufen eine zusätzliche Belastung, denn gerade »Titoismus« war einer der Hauptanklagepunkte in den Parteisäuberungen gewesen, mit dessen Hilfe sich die Stalinisten der »nationalen« Kommunisten entledigt hatten. Ihre Rehabilitierung mußte zu einer Zerreißprobe für das Regime werden. So haben jene Parteien, die schon der Politik des neuen Kurses wenige Zugeständnisse machten (Rumänien, auch Bulgarien, ganz besonders aber Albanien), an einem wenig modifizierten stalinistischen System festgehalten. Außer verbalen Absagen an den »Personenkult« und allenfalls der Opferung einiger mißliebiger Funktionäre der zweiten Reihe änderte sich dort nichts. Auch Ulbricht, der mit seiner Stellungnahme vom 4. und seiner Rede vom 17. März die Flucht nach vorn antrat und Chruschtschows Verurteilung Stalins voll übernahm – er zieh ihn schwerer Verletzungen der »Leninschen Normen des Parteilebens«19 –, stützte seine Herrschaft in der DDR weiterhin auf die bewährten Instrumente, desgleichen Novotný in der ČSR. Aufkommende Unmutserscheinungen der Intelligenz wurden rasch unterdrückt, vorübergehende Lockerungen und Konsumzugeständnisse, wie gering sie auch waren, genügten, um die Masse der Bevölkerung zu beruhigen. In Polen hingegen nutzte die Kreml-Führung den Tod Bieruts (12. März 1956), um mit Edward Ochab einen Mann zum Nachfolger wählen zu lassen, von dessen Loyalität wie Tatkraft man überzeugt war. Er sah sich jedoch einer breiten Opposition gegenüber, die durch den XX. Parteikongreß der KPdSU noch ermuntert wurde. Die ständig wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes ließen die Wirtschaftsfachleute gründliche Reformen fordern, die Kirche drängte auf Aufhebung der Restriktionen, und die Intelligenz machte sich über ihre eigenen Interessen einer erweiterten geistigen Freiheit hinaus zum Sprecher der breiten Bevölkerung im Verlangen nach Hebung des Lebensstandards und der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Da im wirtschaftlichen Bereich die kritische Lage keine Erleichterungen erlaubte, begnügte sich Ochab mit einer weitreichenden Amnestie und einer personellen Veränderung in der Partei- und Staatsführung. Der Unzufriedenheit wurde er damit nicht Herr; sie machte sich
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im »Posener Aufstand« vom 28. Juni 1956 Luft. Er wurde rasch niedergeschlagen, doch unterschätzte die Parteiführung dieses warnende Anzeichen nicht. Es beunruhigte auch die sowjetische Führung, zumal auch nationale Forderungen laut geworden waren. Zur Plenartagung des ZK der PZPR am 18.–28. Juli 1956 sandte die Kreml-Führung Ministerpräsident Bulganin und Verteidigungsminister Shukow, die unmißverständlich klarmachten, daß die »Solidarität des Friedenslagers« Vorrang vor nationalen Eigenentwicklungen und Demokratisierungstendenzen haben müsse. Die geopolitische Lage Polens als Verbindung zwischen der Sowjetunion und ihrem mitteleuropäischen Glacis DDR-ČSR setzte der nationalen Freiheit im sozialistischen Lager die harte Grenze. Doch auch das ideologische Motiv ist anzuführen: Die Kreml-Führung wollte – und konnte – nicht dulden, daß ein Land, in dem schon das »fortschrittliche« sozialistische System sowjetischer Provenienz eingeführt war, sich nun davon abwandte, Partei und Ideologen Lügen strafend. Um der bedrängten Parteiführung Erleichterung zu verschaffen, wurden sowjetische Lieferungen zur Überwindung der ärgsten Versorgungslücken zugesagt. Die polnische Bevölkerung ließ sich dadurch jedoch nicht kaufen, und in der Intelligenz breitete sich die Erkenntnis aus, daß ohne grundlegende Reformen das Land nicht genesen könne. Während in der Parteiführung noch die Stalinisten – die sog. Natolin-Gruppe – und die auf Reformen und Minderung der Moskau-Orientierung (bei strikter Beibehaltung der Alleinherrschaft der Partei) Drängenden zu einer gemeinsamen politischen Linie zu gelangen suchten, erwuchs dem Partei- und Regierungsestablishment in dem wegen »nationalistischer Abweichungen« inhaftierten, aber 1955 wieder entlassenen früheren Parteichef Władysław Gomułka ein Konkurrent, auf den sich die Hoffnungen der Unzufriedenen im Lande richteten. Von seiner Rehabilitierung erhoffte sich die Warschauer Führung einen Stabilisierungseffekt. Die Gegensätze zwischen der »Natolin-Gruppe« und Gomułka aber ließen keinen Kompromiß zu. Es war Ochabs Patriotismus zu danken, daß er unter Verzicht auf seine eigene Machtstellung eine Lösung des eskalierenden Konfliktes in der Parteiführung herbeiführte, die Gomułka schließlich wieder in das Amt des Ersten Sekretärs der PZPR brachte und die Konfrontation des nationalen Polen mit der Sowjetunion verhinderte. Er galt als Garant für die Wahrung nationaler polnischer Interessen und besaß jene Integrationskraft, die die Partei und das Land benötigten, um die Krise zu überwinden, eine Krise, die nur vordergründig ökonomischer Natur war. Die Stalinisten der Natolin-Gruppe versuchten Gomułkas Wahl zum Ersten Sekretär der Partei durch das ZK am 19. Oktober 1956 unter Einsatz all ihrer Möglichkeiten zu verhindern. Von ihnen und dem Gomułka -feindlichen Warschauer Botschafter der UdSSR alarmiert, traf am Morgen des 19. Oktober eine umfangreiche sowjetische Delegation mit Chruschtschow und Molotow an der Spitze sowie einer großen Zahl Militärs in Warschau ein, um von der polnischen Führung Rechenschaft zu fordern. Gomułka hat in seiner Rede, die das Zentralkomitee am folgenden Tage von den
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Verhandlungen unterrichtete, die Verhandlungen als »aufrichtig, schwierig und erbittert« bezeichnet. Es gelang der polnischen Delegation schließlich, die sowjetischen Führer davon zu überzeugen, daß die personellen Veränderungen in der polnischen Parteiführung -u.a. wurde auch Verteidigungsminister Rokosowski abgesetzt – zur Festigung des Systems und damit zur Stärkung der polnischsowjetischen Beziehungen beitrügen. Die Versicherung, daß Polen auch fürderhin nicht an ein Ausscheiden aus dem Warschauer Pakt denke, und die Verpflichtung, auch weiterhin die Stationierung sowjetischer Truppen auf polnischem Territorium zu gewähren (wohl das überzeugendste Argument), bewogen sowohl Chruschtschow wie Molotow, der polnischen Partei selbst die Entscheidung über ihre Führung zuzugestehen. Das Ergebnis dieser so martialisch begonnenen Mission – gleichzeitig fanden »Manöver« der an den Grenzen zu Polen stationierten sowjetischen Truppen statt, die nach der Einigung beendet wurden – überraschte, zumal insbesondere die sowjetischen Militärs für eine Intervention plädiert hatten. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß eine gewaltsame Niederwerfung Polens – an dessen Entschlossenheit zum Widerstand kein Zweifel bestand – der politischen Zielsetzung der KremlFührung, wie sie auf dem XX. Parteikongreß verkündet worden war, schweren Abbruch getan hätte, so zeigt doch der Blick auf die ungarischen Ereignisse, daß dies keinen Hinderungsgrund bildete, wenn der sowjetische Hegemonialanspruch ernstlich bedroht war. Man wird im Falle Polens in Anschlag zu bringen haben, daß die sowjetische Führung offenkundig von ihren stalinistischen Gewährsmännern – einschließlich ihres eigenen Botschafters – einseitig und bewußt übertreibend informiert worden war. Auch in Ungarn verschärften sich die innenpolitischen Spannungen zu einer Krise des stalinistischen Regimes Rákosi. Um einem offenen Konflikt vorzubeugen, entsandte die sowjetische Führung unter dem Eindruck des Posener Aufstandes Anastas Mikojan, der in diesen kritischen Monaten als trouble shooter des Kreml fungierte, im Juli nach Budapest. Auf seine Vorstellungen hin trat Rákosi vom Amt des Ersten Sekretärs der Partei zurück, doch sein Protégé Ernö Gerö vermeinte an der stalinistischen Wirtschaftspolitik festhalten, die Bevölkerung durch geringfügige Verbesserungen für sich gewinnen und die opponierende Intelligenz durch Repressionen zum Einlenken zwingen zu können. Die Rehabilitierung einer Reihe prominenter Rákosi-Opfer wirkte jedoch nicht beschwichtigend, sie trug vielmehr den Streit um den Stalinismus in die Parteiführung hinein. Anfang Oktober mußte Mikojan, diesmal von Suslow unterstützt, sich erneut der ungarischen Schwierigkeiten annehmen, die die Kreml-Führung um so mehr beunruhigten, als die polnische Entwicklung nun auch auf Ungarn übergriff. Um den 20. Oktober kam es auch in Budapest zu Demonstrationen gegen das Regime, bei denen sich Intellektuelle, Studenten und Arbeiter zusammenfanden. Am 23. Oktober eskalierten die Unruhen zum Generalstreik. Mit der erneuten Berufung des »Nationalkommunisten« Imre Nagy zum Ministerpräsidenten, der Verhängung
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des Ausnahmezustandes und des Einsatzes sowjetischer Stationierungstruppen konnte die von den eilig herbeigerufenen Mikojan und Suslow beratene Parteiführung die Unruhen kurzfristig unterdrücken. Doch gerade der Einsatz sowjetischer Einheiten schürte die nationale Erregung und die revolutionäre Bereitschaft, auf die auch die Ablösung Gerös durch János Kádár nicht mehr dämpfend wirkte. Da die ungarischen Truppen sich bereits als »unzuverlässig« erwiesen hatten, wurde mit der am 27. Oktober umgebildeten Regierung Nagy der Abzug der sowjetischen Truppen vereinbart, deren Kräfte – sie bestanden aus etwa 50000 Mann – für eine rasche Liquidierung der nationalen Bewegung ohnehin nicht ausreichten. Dieser Erfolg der Revolution, die von ihren Fortschritten zu immer weitergehenden Forderungen stimuliert wurde, führte zu einer verhängnisvollen Fehleinschätzung der sowjetischen Positionen. Als Nagy am 30. und 31. Oktober erklärte, Ungarn werde weiterhin sozialistisch bleiben, jedoch eine Mehrparteien-Demokratie einführen, auch aus dem Warschauer Pakt austreten und den Status eines neutralen Landes annehmen, war die Grenze der sowjetischen Toleranz überschritten. Der Entschluß zur militärischen Intervention ist der Kreml-Führung durch den anglo-französischen Überfall auf Ägypten (29. Oktober) erleichtert worden, der insbesondere die Dritte Welt empörte und westliche Proteste gegen den Einmarsch in Ungarn unglaubwürdig erscheinen ließ. Am 1. November 1956 begannen die sowjetischen Verbände, verstärkt durch in der Karpato-Ukraine und in Rumänien stehende Einheiten (sie befanden sich seit Ende Oktober in Alarmzustand)20, den Vormarsch auf Budapest, das trotz der Erklärung des Neutralitätsstatus für Ungarn (Nagy am 1. November) zerniert wurde. Während der ungarische General Pál Maleter mit sowjetischen Generälen noch über den Abzug der Sowjetarmee verhandelte (er wurde, allem internationalen Recht hohnsprechend, am Morgen des 4. November verhaftet), führten die Sowjets neue Truppen heran und verstärkten so ihre Kampfkraft. Am 4. November begann ihr Angriff auf die Hauptstadt, nach vier Tagen war der erbitterte Widerstand gebrochen, nur in der Provinz dauerten die Kämpfe bis zum 10. November an. Offiziell entsprach Moskau mit dem sowjetischen Angriff der Bitte einer Gegenregierung, die Kádár unter sowjetischem Schutz am 4. November gebildet hatte, doch es lag klar zutage, daß er damit nicht dem Willen der Nation, sondern der Hegemonialmacht gehorchte21. In Ungarn wurde deutlich, daß die neue sowjetische Führung trotz der von Chruschtschow verkündeten Gleichberechtigung und nationalen Souveränität der sozialistischen Staaten nicht gewillt war, die Entscheidung einer Nation hinzunehmen, wenn diese sich gegen die Interessen der Sowjetunion richtete. Die Kreml-Führung praktizierte hier jenes politische Prinzip, das später als »Breshnew-Doktrin« formuliert und für die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten als verbindlich erklärt wurde. Die Souveränität der RGWStaaten ist durch die vorrangigen Interessen des »sozialistischen Lagers« und des »proletarischen Internationalismus« beschränkt. In praxi bedeutet dies, daß die
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Sowjetunion sich für berechtigt erklärt, alle Staaten, die sie ihrem Imperium zurechnet und in denen ein kommunistisches Regime einmal etabliert ist, am Ausscheiden aus ihrem Herrschaftsbereich notfalls mit Gewalt zu hindern – sei es die ČSSR oder sei es Afghanistan. Während es der polnischen Führung gelang, einen – wenn auch schwer errungenen – Kompromiß zwischen den nationalen und den sowjetischen Interessen zu stabilisieren und weitergehende Forderungen, die vor allem während des Oktober laut wurden, zu übergehen, überschritt Nagy, getragen von einer nationalen Bewegung, die ein sehr breites Spektrum politischer Kräfte und Anschauungen vereinte, im Vertrauen auf die Prinzipien Chruschtschows, wohl auch auf die Weltmeinung, jene Grenze, die ihm und seinem Lande von Moskau gesetzt war. Die Sowjetunion hat durch ihre militärische Intervention in Ungarn international einen schweren Prestigeverlust hinnehmen müssen; selbst unter westeuropäischen Kommunisten erhoben sich kritische Stimmen. Der mühsam verhütete Abfall Ungarns aber gab in der Kreml-Führung selbst Anlaß zu Auseinandersetzungen über Chruschtschows Politik. Die Gruppe der »Orthodoxen«, die den bewährten Mitteln stalinistischer Politik zumindest gegenüber den Volksdemokratien den Vorzug gab, nahm vor allem an den ideologischen Zugeständnissen Anstoß, die Chruschtschow als Vorleistung für die Annäherung an Jugoslawien erbracht hatte. Ungarn, auch Polen, hatte die Anziehungskraft der nationalkommunistischen Richtung Titos erwiesen; sie hatte diese Entwicklung stark beeinflußt. Nicht von ungefähr war es Enver Hoxha, der albanische KP-Chef, ein entschiedener Gegner Titos und harter Stalinist, der mit einem in der »Prawda« am 8. November 1956 veröffentlichten Artikel die Auseinandersetzung eröffnete – als Führer einer kleinen Partei war er der Geeignete, die Reaktionen auf einen solchen noch indirekten Angriff zu testen. Er nannte keine Namen – »einige Leute ... mit ihren Losungen von einer Art besonderem Sozialismus‹ ...«22 hieß es nur –, doch das Ziel war klar. Als Tito in seiner Pulaer Rede drei Tage später die Herausforderung annahm und darauf beharrte, daß nicht, wie in der sowjetischen Erklärung vom 30. Oktober über die Ereignisse in Ungarn behauptet, Umtriebe von Horthy-Anhängern und Rechtsextremisten, unterstützt von den kapitalistischen Feinden des sozialistischen Systems, den Aufstand verursacht hätten, er vielmehr das Ergebnis der Fehler und Verbrechen des stalinistischen Systems dieser Länder gewesen sei, war die Konfrontation unvermeidlich. Den kaum verhohlenen Vorwurf, nichts oder nicht genügend dagegen unternommen zu haben, konnte auch Chruschtschow nicht hinnehmen. In Moskau wartete man noch mit einer Stellungnahme, bis Nagy, dem freies Geleit garantiert worden war, am 22. November beim Verlassen seines Asyls in der Budapester jugoslawischen Botschaft verhaftet worden war. Tags darauf griff die »Prawda« Tito massiv an, vor allem seine Forderung nach Unabhängigkeit der sozialistischen Länder und Parteien von der Sowjetunion. Diese Klarstellung
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schien um so erforderlicher, als bisher neben Albanien lediglich die DDR, ČSR und Rumänien eindeutig gegen Tito Stellung genommen hatten. Auf der Plenartagung des ZK der KPdSU im Dezember 1956, bei der vor allem über die Beziehungen zu den Volksdemokratien und internationale Fragen diskutiert wurde, bedurfte es einiger Anstrengungen Chruschtschows, sich gegen die Angriffe der Orthodoxen zu behaupten, die den Fall Jugoslawien zum Anlaß nahmen, die gesamte Konzeption der Entspannungspolitik und die FünfGruppen-Theorie in Frage zu stellen. Chruschtschow hatte es nicht zuletzt den mittleren Funktionären zu danken, daß er sich durchsetzen konnte, denn diese Schicht hatte durch ihre engeren Kontakte zur Bevölkerung erkannt, welch starken Anklang eine Politik, die eine Vermeidung des Krieges und die Verbesserung des Lebensstandards zu ihren Zielen erklärte, hier fand. Auch war die Instabilität des »sozialistischen Lagers« bei weitem nicht so bedenklich, wie sie die Molotow-Gruppe sehen wollte. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der anderen RGW-Staaten von der Sowjetunion und die Stationierung sowjetischer Truppen auf ihren Territorien boten eine ausreichende Garantie für die Wahrung der sowjetischen Hegemonie, und gerade die Verhandlungen mit der polnischen Führung im November hatten gezeigt, daß die ökonomischen Bindungen auch Nationalkommunisten wie Gomułka zum Einlenken zwangen. Chruschtschow konnte sich mit seiner auf eine Verstärkung der wirtschaftlichen Abhängigkeit zielenden Politik schließlich durchsetzen: die Alternative – Rückkehr zu den Herrschaftspraktiken Stalins – hätte das sowjetische Imperium ernsthaft gefährdet. Er mußte dabei auch den Widerstand seiner Wirtschaftspolitiker überwinden, denn die Festigung der volksdemokratischen Parteien und Regierungen erforderte Zugeständnisse in der nationalen Wirtschaftspolitik, die ohne massive sowjetische Unterstützung nicht zu verwirklichen waren und Korrekturen der Moskauer Zielsetzung wie auch Opfer der sowjetischen Bevölkerung verlangten. Allerdings war die sowjetische Führung nun stärker darauf bedacht, ihre Hegemonie auch vertraglich abzusichern. In den bilateralen Verträgen mußten die Volksdemokratien für die sowjetische Wirtschaftshilfe nun die führende Rolle der Sowjetunion anerkennen, auch andere Formulierungen fanden darin Aufnahme, die die sowjetische Suprematie bekräftigten. Die Ereignisse in Polen und besonders in Ungarn veranlaßten die sowjetische Führung zu einer eingehenden Untersuchung der Ursachen. Ungeachtet ihrer propagandistischen Verschleierung erkannte man die wahren Gründe sehr wohl, und die »Erklärung der Sowjetregierung über die Beziehungen der UdSSR zu den anderen sozialistischen Staaten« vom 31. Oktober 1956 stellte denn auch »zahlreiche Schwierigkeiten, ungelöste Aufgaben und direkte Fehler« fest. Abgestellt werden sollte danach »jedwede Möglichkeit einer Verletzung des Prinzips der nationalen Souveränität, des gegenseitigen Vorteils und der Gleichberechtigung in den Wirtschaftsbeziehungen«23. Zur Überwindung der aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten stellte die Sowjetunion Polen nicht nur langfristige Kredite in Höhe von 700 Millionen Rubel für den Import
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sowjetischer Lebensmittel zur Verfügung, um die Versorgung zu verbessern, sie fand sich auch bereit, als Entschädigung für die seit 1946 weit unter Weltmarktpreis bezogenen polnischen Kohlelieferungen Kreditschulden in Höhe von 500 Millionen zu erlassen. Auch die ungarische Wirtschaft erhielt Kredite, außer zusätzlichen Warenlieferungen für 1957 im Wert von 1,1 Milliarden Rubel ein langfristiges Darlehen von 700 Millionen. Die DDR, die ČSR und Bulgarien stellten dem Land zusätzlich nochmals fast 300 Millionen Dollar zur Verfügung. Die anderen RGW-Staaten bekamen ebenfalls von der Sowjetunion wirtschaftliche Unterstützung. Der DDR, die durch den Ausfall der polnischen Importkohle in Bedrängnis geraten war, wurden 340 Millionen Rubel in frei konvertierbarer Währung neben erweiterten Rohstofflieferungen angeboten. Bulgarien und Albanien erhielten Kredite, der ČSR wurden Uranlieferungen durch Schuldentilgung nachvergütet. Der Abbau der Übervorteilung der Volksdemokratien bei der Preisgestaltung wurde in den neuen Handelsverträgen allgemein beachtet, die terms of trade verschoben sich damit zugunsten der sowjetischen RGW-Handelspartner. Die Belastungen, die sich für die sowjetische Volkswirtschaft daraus ergaben, waren beträchtlich, allein der Schuldenerlaß machte die Summe von 1,8 Milliarden Dollar aus24. Dies war zwar nur ein Bruchteil der sowjetischen Surplus-Profite aus dem bisherigen Intra- RGW-Handel, erforderte jedoch neue Plansätze als Ausgleich. Die Zugeständnisse sind insbesondere den sowjetischen Wirtschaftsfachleuten und der Finanzbürokratie nicht leichtgefallen, als Präventivmaßnahme war jedoch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Volksdemokratien unumgänglich. Die Bemühungen um eine konsolidierende Beschwichtigung nötigten ferner dazu, den nationalen Führern eine erweiterte Entscheidungsfreiheit zuzugestehen, die sich vor allem in Polen und Ungarn augenfällig auswirkte. Kádár gelang es nach einer kurzen Phase harter Maßnahmen – Bestrafung der Revolutionäre, unnachsichtige Säuberung der Partei und massive Kollektivierung ragten dabei heraus –, nicht nur das Vertrauen der sowjetischen Führung zu gewinnen, sondern auch allmählich die Vorbehalte gegen sein Regime in der Bevölkerung zu verringern, und zwar durch eine behutsame Entpolitisierung innerhalb des durch die Parteidoktrin Möglichen, durch einen Abbau der ideologischen Indoktrination und nicht zuletzt durch eine Steigerung des Wirtschaftswachstums; die Produktion stieg in den Jahren 1955–1959 um 24%, woran die unorthodoxe, an Effektivitätskriterien sich orientierende Wirtschaftsführung großen Anteil hatte. Bei der Erhaltung der Arbeiterräte, die er gegen den harten Widerstand der Orthodoxen durchsetzte, fand Kádár ebenso die Unterstützung der sowjetischen Führung wie bei der Zurückdrängung der Altstalinisten in der politischen Führung des Landes. Moskau wollte die Stabilisierung dieses loyalen und konformen Regimes nicht durch Kräfte gefährden lassen, die in der Sowjetunion selbst eben überwunden wurden und die als Repräsentanten einer Politik, die zu der Katastrophe von 1956 geführt hatte, den Prozeß der Vertrauensbildung in der Bevölkerung
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störten. Da Kádár es zudem vermied, die nationalen Sentiments zu verletzen, auch der Intelligenz mehr Mitspracherecht gewährte und im künstlerischen Bereich Toleranz walten ließ, sofern nicht die Grundsätze der politischen und gesellschaftlichen Ordnung tangiert wurden, da ferner durch die drastische Erhöhung der Investitionen für die Konsumgüterproduktion – das Verhältnis für Investitions- und Konsumgüterindustrie hatte 1950–1955 12:1 gelautet, 1956 bis 1960 betrug es 5:1 – das Angebot an Verbrauchsgütern beträchtlich stieg und Kádár schließlich auch eine vorsichtige Öffnung nach Westen einleitete (die Zahl der ungarischen Westreisenden z.B. stieg gegenüber 1000 im Jahre 1953 auf 21000 1958, betrug 1960 32000, 1962 65000 und 1963 sogar 120000), gewann sein Regime mit der praktizierten pragmatischen kommunistischen Politik eine Stabilität, die dem Lande auch in den Beziehungen zu der sowjetischen Führungsmacht und innerhalb des RGW zum Vorteil gereichte. Erheblich schwieriger als mit dem Kádár-Regime war die Interessenabstimmung mit Polen, wo Gomułka als Repräsentant nationaler, gegen die sowjetische Hegemonie gerichteter Strömungen zur Macht gelangt war. Zugleich hatten sich auf unteren Ebenen Entwicklungen vollzogen, die aus sowjetischer Sicht zwar antisozialistischen Charakter besaßen, aber nicht kurzfristig reversibel waren, wenn man nicht die Gefahr schwerer Unruhen heraufbeschwören wollte. Die geduldete Entkollektivierung in der Landwirtschaft – sie hatte noch unter Ochab eingesetzt und führte zur Reprivatisierung der bäuerlichen Betriebe von 85% aller Kollektivwirtschaften – und die Entstehung von Arbeiterräten, die ein ähnliches Mitbestimmungsrecht im Betrieb wie in Jugoslawien forderten und nur mit Hilfe des Betriebsverfassungsgesetzes vom 19. November 1956 allmählich der zentralen Wirtschaftslenkung wieder untergeordnet werden konnten, besonders aber die freimütige Kritik an der marxistischen Doktrin betrachtete die sowjetische Führung mit Sorge. Da eine brauchbare Alternative zu Gomułka fehlte, dieser auch an einer leninistischen Parteistruktur stets festhielt, konzedierte man ihm in Moskau seinen »polnischen Weg« im Vertrauen auf die langfristige Wirkung der zentripetalen Kräfte, die im RGW und im Warschauer Pakt institutionalisiert waren. Mit der Neuregelung des polnischsowjetischen Verhältnisses vom 18. November 1956, in der das Prinzip der Gleichberechtigung beider Staaten sowie eine neuerliche Garantie der Oder-Neiße-Grenze durch die Sowjetunion fixiert wurde, mit einem neuen, die polnischen Rechte berücksichtigenden Stationierungsabkommen (7. Dezember 1956) und mit den neuen Handelsverträgen erhielt Gomułka den notwendigen Rückhalt, um die Neuordnung der Führung des Landes auch auf die Regierung und den Sejm auszudehnen. Im übrigen zeigte sich bald, daß er gewillt war, die absolute Vormachtstellung der Partei wiederherzustellen. Die Zensurpraxis wurde verschärft, die Partei rigoros gesäubert (rund 200000 Mitglieder wurden ausgeschlossen), die Zentralisierung der Wirtschaftslenkung wiederhergestellt und das Versammlungs- und Vereinigungsrecht beschnitten. Die Stärkung der
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Partei- und Staatsautorität durch eine neuerliche Zentralisierung machte vor der dritten Kraft Polens, der katholischen Kirche, halt. Der Befreiung Kardinal Wyszyńskis aus der klösterlichen Isolation folgte ein Abkommen, das dieser in der Gesellschaft tiefverwurzelten Institution wieder einen Platz in der Entwicklung des Landes einräumte. Das Kirchenabkommen vom 7. Dezember 1956 gab der Kirche das Recht der Ämterbesetzung zurück (die vier von der Regierung eingesetzten »Generalvikare« wurden entfernt) und gestattete ihr, in Schulen, Strafanstalten und bei den Streitkräften wieder religiösen Unterricht und Seelsorge zu betreiben. Damit war die Loyalität der Kirchenführung gegenüber dem neuen Regime gewonnen. »Die Kirche handelte damit keineswegs ›kollaborationistisch‹, sondern lediglich in ihrem eigenen, wohlverstandenen Interesse; sie erkannte nur allzugut, daß die jetzt gewährten Freiheiten das Höchstmaß dessen darstellten, was die Sowjetregierung zuzugestehen bereit war, und daß mithin jedes Weitertreiben der Revolution, ja jede energische Opposition nur zu einer Verhärtung des Regierungskurses führen würden.«25 In dieser Überzeugung fanden sich auch die besonnenen nichtkommunistischen politischen Gruppen des Landes bereit, Gomułka zu unterstützen, um eine der ungarischen ähnliche Entwicklung in Polen abzuwenden. In der Sowjetunion nahm man, und besonders die Altstalinisten bis zu ihrer Entmachtung durch das ZK-Plenum vom Juli 1957, Anstoß an Gomułkas Beharren auf dem Prinzip der Gleichberechtigung der kommunistischen Parteien und Staaten. Gomułkas Reise nach Belgrad, wo er mit Tito eine gemeinsame Haltung für die Moskauer kommunistische Weltkonferenz vom November 1957 erörterte, erregte Argwohn, auch seine hartnäckige Weigerung, der Sowjetunion die »Führungsrolle« in der kommunistischen Bewegung zuzugestehen. Daß er Tito zur diplomatischen Anerkennung der DDR bewogen hatte26, zählte wenig. Erst nach der Anerkennung des Primats der KPdSU und der Sowjetunion, zu der er sich auf der Moskauer Konferenz doch genötigt sah, konnte er mit sowjetischer Billigung die neostalinistische »Natolin- Gruppe« entmachten und ein Regime institutionalisieren, das ungeachtet aller Fehlentscheidungen der polnischen Nation beachtliche Erfolge und ein deutliches Wachstum des Wohlstandes wie auch der nationalen Kultur ermöglichte. c) Leninismus contra Stalinismus Schon die Verurteilung der Verbrechen Stalins und des stalinistischen Systems auf dem XX. Parteikongreß der KPdSU hatte innerhalb der Parteiführung und elite einen tiefen Dissens zwischen den »Orthodoxen« um Molotow, die einer Veränderung des Herrschaftssystems abgeneigt waren, und den »Leninisten« um Chruschtschow, die gemäß dem Prinzip der »kollektiven Führung« und unter Berufung auf Lenin eine Demokratisierung des Entscheidungsprozesses auf den verschiedenen Ebenen (bei Wahrung der hierarchischen Struktur und
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Kompetenzen) anstrebten, zur Folge gehabt. Die Rückwirkungen der Entstalinisierung in den Volksdemokratien verschärften den Gegensatz noch, und durch die wirtschaftlichen Hilfen und Erleichterungen für die Volksdemokratien Ende 1956 und Anfang 1957 erhielt die Molotow-Gruppe Unterstützung aus den Reihen der Wirtschaftsbürokratie, die nun die Interessen der Sowjetunion beeinträchtigt sah. Der 1955 beendete 5. Fünfjahrplan hatte ein rasches Wachstum der Industrieproduktion gebracht: » ... this was a reasonable successful quinquennium, in quantitative terms«27. Das Jahresende 1956 aber ließ beträchtliche Planrückstände erwarten, die den Planungsbehörden angelastet wurden. Es hatte sich herausgestellt, daß die im Plan vorgesehenen Investitionsprogramme nicht durchführbar waren – die Maschinen, Bauten etc. für die Erweiterung der Produktionskapazität wurden nicht rechtzeitig fertiggestellt. Eine Planrevision war unumgänglich. Chruschtschow nutzte die Chance, um gegen die Allianz zwischen der Wirtschaftsführung und der Molotow- Gruppe vorzugehen, die sich auf dem Dezember-Plenum gegen ihn formiert hatte. Seinen erstmals im Februar 1957 vorgebrachten Reformplänen lagen jedoch nicht nur machtpolitische Motive zugrunde. Das Problem der Koordination von Planungsbehörden und etwa 30 Branchenministerien der Industrie war alt, die Friktionen zwischen den verschiedenen Instanzen hatten schon Malenkow zu Strukturänderungen veranlaßt. Das Dezember-Plenum hatte außerdem die Gefahr gezeigt, die von einer Wirtschaftsbürokratie ausgehen konnte; die wachsende Macht der Technokraten und Manager drohte die politische Entscheidungskompetenz der Partei zu beeinträchtigen. Am 30. März formulierte Chruschtschow seine Reform vor schlage, wie sie dann der Oberste Sowjet der UdSSR im Mai annahm. »Man hat die Durchführung dieser Maßnahmen die größte innere Umwälzung der Sowjetunion seit 1928 genannt.«28 Sie brachte die Auflösung fast aller Branchenministerien (nur die Ministerien für die Rüstungs- und chemische Industrie sowie für Elektrizitätserzeugung blieben bestehen). Die Verwirklichung und Kontrolle der vom Plankomitee (GOSPLAN) vorgelegten langfristigen Wirtschaftsziele wurde regionalen Behörden, den sogenannten Volkswirtschaftsräten (sovnarchozy), übertragen, die die Koordination der wirtschaftlichen Entwicklung eines bestimmten Gebietes leiteten. Damit sollten die vielfältigen Aspekte einer Volkswirtschaft besser aufeinander abgestimmt werden, etwa der Arbeitskräfteeinsatz, die Investitionspolitik, die Kreditvergabe u.a.m. Insgesamt 105 Wirtschaftsräte wurden geschaffen, 70 davon auf dem Territorium der RSFSR (der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet- Republik). Ihnen waren alle Betriebe (mit Ausnahme der lokalen) des Gebietes unterstellt, sie selbst unterstanden dem Ministerrat ihrer Republik, wobei in der RSFSR, der Ukraine, Kasachstan und Usbekistan (in den anderen Republiken bestand nur ein Wirtschaftsrat) die Zusammenarbeit der verschiedenen Wirtschaftsräte der jeweiligen Republik durch den GOSPLAN der Republik koordiniert wurde. Das All-Unions-Plankomitee war für die Gesamtplanung, die Abstimmung der Pläne
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der einzelnen Republiken und einige ähnlich zentrale Fragen zuständig; es besaß allerdings keine exekutiven Befugnisse, die formal bei der Unionsregierung lagen. Das bedeutete die Entmachtung der zentralen Wirtschaftsbürokratie. Ihr Widerstand gegen die Reform hatte keinen Erfolg, denn die mangelhafte Planerfüllung im Jahre 1956 wurde ihr angelastet, und zudem unterstützten die mittleren Funktionärskader, deren Einfluß dadurch vergrößert wurde, Chruschtschows Forderungen. Die Orthodoxen, die mit Recht fürchteten, daß eine derart tiefgreifende Umstrukturierung der gesamten Wirtschaftslenkung große Reibungsverluste, d.h. einen Rückgang der Produktion nach sich ziehen werde, versuchten nachträglich, im Bunde mit der Wirtschaftsbürokratie, den reformeifrigen Chruschtschow zu Fall zu bringen. Die Mehrheit der Mitglieder des Parteipräsidiums stimmte Ende Juni 1956 für seine Abwahl als Erster Sekretär, doch da dies in die Kompetenz des ZK gehörte, wurde kurzfristig für den 29. Juni eine Sitzung dieses Gremiums einberufen. Die Molotow-Gruppe rechnete offensichtlich nicht damit, daß innerhalb der kurzen Zeit die ZKMitglieder aus der Provinz Moskau erreichen würden. Dank der Hilfe Shukows und der Luftwaffe waren sie jedoch rechtzeitig zur Stelle, um Chruschtschow bei der Abstimmung obsiegen zu lassen. Mit Molotow, Malenkow, Kaganowitsch und Schepilow wurden seine schärfsten Opponenten aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen (Bulganin verlor sein Amt als Ministerpräsident im März 1958). Anders als zur Zeit Stalins blieb die »parteifeindliche Gruppe« jedoch von Weiterungen verschont; sofern die ihr Zugehörenden nicht untergeordnete Funktionen erhielten, konnten sie als Pensionäre sich eines geruhsamen Lebensabends erfreuen – auch dies ein Zeichen des inneren Wandels, der sich seit 1953 vollzogen hatte. Damit war der Widerstand innerhalb der Partei ausgeschaltet, ihr absoluter Führungsanspruch gegenüber den »Ökonomisten« und Managern durchgesetzt. Als Aufgabe blieb nur noch die Unterordnung der Streitkräfte. Hier hatte Shukow, dessen ganzes Bemühen einer maximalen Effektivität des militärischen Apparates galt, die Parteiarbeit, d.h. die ideologische Indoktrinierung, mehr und mehr zurückgedrängt, die Befehlsgewalt der Kommandeure verstärkt. Solange Chruschtschow die Partei noch nicht ganz in seiner Hand hatte, mußte er diese Eigenmächtigkeit seines Verteidigungsministers hinnehmen, der die ihm zugestandene Macht auch in den für Chruschtschow kritischen Junitagen zu danken wußte. Doch die starke Position des Marschalls, der seine militärischen Erfordernissen entspringenden Auffassungen allzu selbstbewußt vertrat, ließ den Eindruck entstehen, daß hier ein Machtkomplex aufgebaut wurde, der sich der Kontrolle der Partei entzog. Nun ist die Furcht vor dem »Bonapartismus«, d.h. einer Militärdiktatur, ein altes Trauma der kommunistischen Ideologie, hergeleitet aus der Entwicklung der Französischen Revolution zur Diktatur Bonapartes. Und so sah der Erste Sekretär seine nächste und dringlichste innenpolitische Aufgabe in der Unterordnung der Streitkräfte unter den Willen
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der Partei. Wie groß die Befürchtungen waren, beweist die Sorgfalt, mit der Shukows Entmachtung vorbereitet wurde. Am 4. Oktober 1957 trat der Verteidigungsminister eine schon länger geplante Reise nach Jugoslawien und Albanien an, die ihn bis zum 26. von Moskau fernhielt. Am 19. Oktober fand eine Sitzung des Parteipräsidiums statt, auf der Shukows Arbeit aus der Sicht der Partei überprüft wurde. Eine Sitzung des ZK zu dieser Frage folgte, und als Shukow am 26. Oktober 1957 nach Moskau zurückkehrte, erfuhr er, daß er sein Amt als Oberbefehlshaber und Verteidigungsminister verloren hatte. Wenig später schloß man ihn trotz einer reuevollen »Selbstkritik« aus dem Parteipräsidium und dem ZK aus. Sein Nachfolger wurde Rodion Malinowski, ein Ukrainer, der bei der Rückeroberung der Ukraine mit Chruschtschow zusammengearbeitet hatte. Auch die engeren Mitarbeiter Shukows wurden in der Folgezeit abgelöst. Damit war die absolute Führungsrolle der Partei wiederhergestellt, die in den Richtungskämpfen nach Stalins Tod geschwächt worden war, als die rivalisierenden Machtgruppen innerhalb der Parteiführung sich die Unterstützung der verschiedenen »Säulen« des Systems – Staatsapparat, Wirtschaft und Militär – durch Zugeständnisse an deren Eigeninteressen gesichert hatten. Die vierte (die Partei nicht gerechnet) »Säule«, die Intelligenz des Landes, hatte bislang den Führungsanspruch der Partei nicht in Frage gestellt, mit ihrer Forderung nach größerer geistiger Mobilität entsprach sie sogar Chruschtschows Auffassung. Die Führung des Landes lag nun ungeschmälert in der Hand der Partei, und das hieß in der ihres Ersten Sekretärs. Es schien nur folgerichtig, wenn dieser auch sichtbar die Einheit von Partei und Staat verkörperte. Am 26. März 1958 wurde Chruschtschow, nachdem der Oberste Sowjet Bulganin von seinem Amt entbunden hatte (später folgte der Ausschluß aus dem ZK und der Partei, da er der »parteifeindlichen Gruppe« zugehört habe), zum Ministerpräsidenten der UdSSR ernannt – die Führung von Partei und Staat war wie unter Stalin vereint. Die Machtfülle seines Vorgängers hat Chruschtschow allerdings nie erreicht und wohl auch nicht angestrebt. Dazu hätte es der Restitution der stalinistischen Geheimpolizei bedurft und all jener Praktiken, die der neue Führer des Landes auf dem XX. Parteitag gebrandmarkt hatte. Auch hatte Chruschtschow einen ganz anderen Charakter. War Stalin zutiefst mißtrauisch, verschlossen, mit zunehmendem Alter immer starrsinniger, zeigte sich Chruschtschow hingegen aufgeschlossen und zur Impulsivität neigend; bei allem Gespür für politische Opportunität, auch für Publikumswirksamkeit, ließ er sich jedoch stets von seinem »wachen Sinn für die realen Möglichkeiten auf der Grundlage eines glühenden Optimismus in bezug auf die Verwirklichung der kommunistischen Idee leiten«29. Gerade hier aber hatte die Entwicklung der Jahre 1953–1956 Schwierigkeiten heraufbeschworen. Das Ideal war zwar unverändert und allen kommunistischen Führern gemein, doch gab es nun hinsichtlich der Instrumente und Methoden zu seiner Verwirklichung erhebliche Unterschiede, von dem gewisse korporative
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Züge aufweisenden Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung des Titoismus und der privatkapitalistischen Landwirtschaft im Polen Gomułkas bis hin zum Stalinismus Mao Tse-tungs und Enver Hoxhas. Der Führer der italienischen KP, Palmiro Togliatti, hat 1956 die Situation der kommunistischen Weltbewegung mit konkurrierenden Machtzentren in die Formel des »Polyzentrismus« gefaßt, mit der Konsequenz eines permanenten »sozialistischen Wettbewerbs« um optimale Lösungen. Der Fall Ungarn aber hatte die Labilität dieser Konstruktion gezeigt und die Notwendigkeit eines verbindlichen Regulierungsmechanismus zur Koordinierung in ideologischen und politischen Fragen. Denn nach der Abkehr von den Herrschaftspraktiken Stalins und der Wiedereinsetzung der Partei als »führende Kraft« lag die Einheit der kommunistischen Bewegung, aller zusätzlichen Sicherungsmechanismen wie Truppenstationierung und wirtschaftlicher Abhängigkeit ungeachtet, die nur die Kontrolle der sowjetischen Hegemonialsphäre, der Warschauer- Pakt-Staaten also, erleichterten, in der Zusammenarbeit der kommunistischen Parteien; ein Verfahren, das sich auf Lenin gründete, der nunmehr – neben Marx und Engels – wieder zur alleinigen Leitfigur und Legitimierungsinstanz im sowjetischen Machtbereich wurde, und das zudem zukunftsorientiert war, weil es dem Theorem vom »Absterben des Staates« entgegenkam. Die Ideologiekonformität ergänzte sich trefflich mit dem machtpolitischen Interesse einer neuerlichen stärkeren Bindung aller kommunistischen Parteien an die Moskauer Zentrale, die ein vielfältiges Geflecht bi- und multinationaler Verträge und Organisationen mit komplexen Steuerungsmechanismen absicherte. Den Kern der kommunistischen Weltbewegung bildete nach den Vorstellungen der Kreml-Führung – und hierin stimmte ihnen der größte Teil der kommunistischen Staatsparteien zu – die KPdSU mit den Parteien der Warschauer-Pakt-Staaten. An ihn schlössen sich die Parteien Chinas, Nord-Koreas (bald auch Nord- Vietnams) und in Europa Jugoslawiens an. Den äußeren Ring des Systems bildeten die übrigen kommunistischen Parteien, deren Gewicht sich nach ihrer Stärke und ihrem Einfluß auf die Politik ihres Landes richtete bzw. nach ihrer Unabhängigkeit von Moskauer Subsidien. Die Rückkehr zur Zweigleisigkeit internationaler kommunistischer Politik, wie sie in den Zeiten der Komintern bestanden hatte, als die Außenpolitik eines kommunistischen Staates und die politischen Aktionen der nationalen Parteien zur Förderung der weltrevolutionären Zielsetzung koordiniert gewesen waren, erfolgte allerdings unter veränderten Voraussetzungen: Statt des einen sozialistischen Staates gab es nunmehr deren zwölf, unter denen zumindest China und Jugoslawien eine Sonderstellung einnahmen. Eine neue kommunistische Weltzentrale als Steuerungsorgan bot die Möglichkeit, gestützt auf die Stimmen der zuverlässigen Warschauer-PaktStaaten, durch Mehrheitsbeschlüsse auch diese beiden Staaten stärker an Moskaus Politik zu binden und so den Quell der Irritationen in der internationalen kommunistischen Bewegung zuzuschütten.
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Chruschtschow nutzte die Gelegenheit der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, um mit den in Moskau versammelten Führern der kommunistischen Parteien die sowjetischen Pläne zu erörtern. Schon in der Vorbereitungsphase der Konferenz hatten Tito und Gomułka auf ihrem Treffen Anfang August 1957 in Belgrad schwerwiegende Vorbehalte angemeldet; beide fürchteten, daß ihrer mühsam errungenen innenpolitischen Entscheidungsfreiheit und im Falle Jugoslawiens auch der unabhängigen Außenpolitik ein Ende gesetzt werden sollte. Chruschtschow besaß jedoch die Unterstützung Mao Tse- tungs, und die konservativen Parteien der ČSR, der DDR, Bulgariens und Albaniens hatten sich in ihren Stellungnahmen geschlossen hinter ihn gestellt. Unter diesen Umständen trat Tito die Reise nach Moskau gar nicht erst an, und der jugoslawischen Delegation, die schon während der Verhandlung der zwölf Staatsparteien (11. bis 14. November 1957) in die Isolierung geraten war, nachdem Gomułka sich dem massiven Druck hatte beugen müssen, blieb nur, die Unterzeichnung des Schluß-Kommuniqués der anschließenden Vollkonferenz (bis 19.11.1957) aller 64 Parteien abzulehnen. Dennoch errang Chruschtschow nur einen partiellen Erfolg, und selbst die Zustimmung zur Gründung eines zentralen, von den Sowjets geleiteten Informationsorgans – es erschien unter dem Titel »Probleme des Friedens und des Sozialismus« seit September 1958 in Prag-, das die allgemeinen politischen Richtlinien für alle kommunistischen Parteien verbindlich formulieren sollte, konnte nur als Kompromiß eingestuft werden: Zwar war ein Steuerungsorgan gebilligt worden, nicht jedoch eine Kontrollinstanz. Der Sowjetunion wurde ihre Führungsrolle in der kommunistischen Bewegung wie auch innerhalb des »sozialistischen Lagers« eindrucksvoll bestätigt, doch wurde zugleich deutlich, daß Führung hinfort nicht durch eine disziplinierende machtstaatliche, sondern nur durch eine argumentative Politik durchgesetzt werden konnte. Im Kommuniqué der Konferenz erhielt die Volksrepublik China den gebührenden Platz: Sie erschien, hinter der KPdSU, an zweiter Stelle. Auch während der Verhandlungen war das Gewicht des volkreichsten Staates der Erde deutlich geworden. Mao Tse- tungs Unterstützung der Sowjetunion lag ein Motivbündel zugrunde: die Abhängigkeit des international isolierten Landes, dessen wirtschaftliche Entwicklung von der Lieferung von Investitionsgütern aus den RGW-Ländern abhing, die fortdauernde Drohung der von den USA unterstützten Kuo Min-tang-Regierung auf Taiwan, aber auch das Bemühen, zentrifugalen Tendenzen entgegenzutreten, die die Geschlossenheit der Bewegung und damit ihre Schlagkraft minderten. Die Ablehnung und Feindschaft, die dem kommunistischen China unverhüllt begegneten, resultierten in einer Überreaktion extremer Militanz. Hieraus entwickelten sich tiefgreifende Differenzen zur Entspannungspolitik Chruschtschows; der Unterschied zwischen den sozio-ökonomischen Entwicklungsstufen Chinas und der UdSSR und die unterschiedliche Konsolidierung des »Sozialismus« in beiden Ländern schufen eine sehr verschiedene Interessenlage, die schließlich zum
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Bruch zwischen den Parteien und Staaten führte. Die VR China stand mitten in jenem gesellschaftlichen Disziplinierungsprozeß, der allein die forcierte Transformation einer agrarischen zu einer sozialistischen industriellen Gesellschaft kommunistischer Provenienz garantierte, ein Prozeß, den die Sowjetunion in den Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg weitgehend hatte abschließen können30. Nicht von ungefähr bediente sich die Pekinger Führung dabei stalinistischer Herrschaftsmethoden; Maos Experiment des »Laßt hundert Blumen blühen« war ebenso kurzlebig wie peripher gewesen. Auch hier stand die Militanz nach innen in Wechselwirkung mit einer Militanz nach außen. So drängte Peking mit dem billigen Radikalismus der Habenichtse auf Verschärfung des Klassenkampfes und der Konfrontation mit dem kapitalistischen Erbfeind, um den weltweiten Sieg des Kommunismus zu beschleunigen. Die Sowjetführung aber sah sich einer ganz anderen inneren wie äußeren Lage gegenüber. Sie hatte Rücksicht auf die komplexe soziale Wirklichkeit der eigenen Bevölkerung wie auf deren Wunsch nach Frieden zu nehmen, sie wußte zudem, daß trotz der Sensation des Starts des ersten »Sputnik« am 4. Oktober 1957, der die 40-Jahr-Feier der Oktoberrevolution wirkungsvoll vorbereitete, die waffentechnische Überlegenheit noch immer bei den USA lag. Bei nüchterner Analyse des internationalen Kräfteverhältnisses ergab sich kein Grund für die Abkehr von der in den Jahren 1953–1955 formulierten Politik. Das »sozialistische Lager« sah sich imstande, Bedrohungen abzuwenden; die politische Entwicklung würde gemäß der Doktrin des Historischen Materialismus zugunsten der kommunistischen Bewegung verlaufen. Es war opportun, der Bevölkerung nach 40jährigen entbehrungsreichen Anstrengungen ein besseres und leichteres Leben zu verschaffen. Dieser »Gulasch- Kommunismus« Chruschtschows ließ sich aber nur verwirklichen, wenn der Ertrag der sowjetischen Volkswirtschaft im Lande verblieb, die sowjetische Wirtschaftshilfe für die anderen sozialistischen Staaten sich in Grenzen hielt. Die mit außerordentlichen wirtschaftlichen Problemen belastete chinesische Führung hat sich über den Mangel an »proletarischer Solidarität« später bitter beklagt. Chruschtschow – und hierin hatte er die Unterstützung wohl der gesamten Kreml-Führung – folgte dabei auch der vorsichtigen China-Politik Stalins: ein rascher Machtzuwachs Chinas lag nicht im Interesse der Sowjetunion. Die chinesische Führung konnte sich – in begrenztem Umfang, der durch die Abhängigkeit von der Sowjetunion definiert war – der Unterstützung der konservativen RGW-Länder sicher sein, besonders Albaniens, Rumäniens und Bulgariens, die einen ähnlichen Transformationsprozeß durchliefen, wenngleich sie nicht vor so extremen, durch die Bevölkerungsverhältnisse gegebenen Schwierigkeiten standen. Insbesondere der im Rahmen der Arbeitsteilung im RGW auftauchende, den entwickelteren Industrieländern wie ČSR und DDR willkommene Plan, den Balkanstaaten die Rolle von Agrar- und Rohstoffproduzenten innerhalb des RGW zuzuschreiben, führte zu intensiveren
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Kontakten dieser Staaten mit Peking. Die rumänische Führung nützte die Situation, um sich der sowjetischen Bevormundung weitgehend zu entziehen. Gheorghiu-Dej hatte 1957 die Parteiführung mit ergebenen Männern besetzen können, und die so gewonnene Geschlossenheit gestattete ihm nach dem Abzug der in Rumänien stationierten Sowjettruppen (Juni 1958) eine politische Wendigkeit in der Verfolgung nationaler Ziele, die dem Lande in der Folgezeit bei strenger formaler Wahrung der bestehenden Verträge und striktem Festhalten an den Prinzipien der Parteiherrschaft eine, nicht immer ungefährdete, Sonderstellung innerhalb des RGW-Bereiches sicherte. Mit Hilfe westlicher Kredite gelang es, die Industrialisierung, gestützt auf die reichen natürlichen und menschlichen Ressourcen des Landes, auf einer breiten Basis voranzutreiben, wobei ein wohlkalkulierter und -kultivierter, gelegentlich die Grenzen des für die sowjetische Führung Tolerablen streifender rumänischer Nationalismus die Bevölkerung zum Ertragen der erforderlichen Opfer ebenso motivierte wie die rigorose Handhabung der Arbeitsgesetzgebung und die Furcht vor einer stets gegenwärtigen Geheimpolizei. In Bulgarien dagegen gelang es Chruschtschow, den kurzfristigen Flirt Sofias mit Peking rasch zu beenden, der sich in Opposition zu dem RGW-Entwicklungsprogramm anspann. Analog zu Rumänien und der Pekinger Industrialisierungskampagne des »Großen Sprungs nach vorn« mit Beginn des 2. chinesischen Fünfjahrplanes (1958–1962) hatte Shiwkow ein ehrgeiziges wirtschaftliches Programm gestartet, das aber ob des Fehlens der eigenen Rohstoffbasis bald in ein Desaster umzuschlagen drohte. Für die Unterstützung in der sowjetisch-chinesischen Kontroverse gewährte die Sowjetunion dem wegen seiner strategischen Lage so wichtigen Land großzügige Kredite, mit deren Hilfe die Industrialisierung fortgesetzt werden konnte, wenn auch mit beschränkter Zielsetzung. Hingegen scheiterten alle Bemühungen, Albanien die Zustimmung zu der, wie es Hoxha nannte, »kapitulantenhaften«, »revisionistischen« Politik Moskaus abzugewinnen. Als die Spannungen, die nach der Moskauer Konferenz vom November 1957 das jugoslawisch-sowjetische Verhältnis kennzeichneten, Ende 1958 allmählich abklangen, machte sich in Tirana eine zunehmende Reserviertheit gegenüber Moskau bemerkbar, die auch in diesem Falle durch die RGW-Arbeitsteilungspläne noch verstärkt wurde und auch durch sowjetische Wirtschaftshilfen nicht zu überwinden war. Hoxha war dadurch ebensowenig wie Mao Tse-tung zu bewegen, Chruschtschows Prinzip der »friedlichen Koexistenz« zu akzeptieren. Neben ideologischer Starrheit wirkte hier auch die relative sozio-ökonomische Rückständigkeit dieses kleinen Balkanlandes und Hoxhas tiefwurzelnde Feindschaft gegen Tito mit, denn ein Einlenken auf die Moskauer Linie hieß zugleich, Titos außenpolitische Prinzipien, wie sie seit Beginn der fünfziger Jahre formuliert waren, anerkennen und mit dem »revisionistischen« Jugoslawien seinen Frieden machen. Die Weiterungen für das Hoxha-Regime waren nicht abzusehen. So blieb der Albaner hartnäckig, und paradoxerweise erleichterte ihm dies just Jugoslawien: Die geographische
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Isolierung von den anderen RGW-Ländern schuf eine der Voraussetzungen für Tiranas Alleingang. Die anderen Staaten des RGW konnten an einen ernstlichen Widerspruch gegen Moskau nicht denken. Die ČSR wie die DDR waren wirtschaftlich von der Sowjetunion in hohem Maße abhängig, die staatliche Existenz der DDR wurde allein durch die Sowjetunion garantiert. Ungeachtet der eigenen dogmatischen Haltung gebot die Staatsraison eine Parteinahme für Moskau. Das kaum gefestigte Kádár-Regime in Ungarn gar konnte an eine von Moskau abweichende Haltung nicht einmal denken. Und der Tito nahestehende Gomułka neigte eher zu einem noch umfassenderen »Revisionismus« als Chruschtschow. So formierten sich während der Jahre 1958/59 zwei gegensätzliche Positionen, nachdem Chruschtschows Versuch, die Chinesen zum Nachgeben zu bewegen, Anfang 1959 gescheitert war und auch eine sowjetische Anleihe von 5 Milliarden Rubel für Peking politisch wirkungslos blieb. Der Dissens zwischen »Revisionisten«, wie Peking in Anspielung auf den Streit mit Jugoslawien Chruschtschows Haltung abqualifizierte, und realitätsfremden »Dogmatikern«, wie Chruschtschow die intransigente Pekinger Führung schalt, überschritt mehr und mehr die Grenzen des ideologischen Bereichs und wurde zur offenen Auseinandersetzung zweier konkurrierender Mächte, die weniger auf die beiderseitigen Hegemonialbereiche als vielmehr auf die Dritte Welt zielte. Der Zuspitzung des Konfliktes, den die Chinesen auf dem Pekinger Kongreß des Weltgewerkschaftsbundes im Juni 1960 in die Öffentlichkeit trugen und den die sowjetische Führung mit einem neuen kommunistischen Weltkongreß im November 1960 vergeblich zu ihren Gunsten zu entscheiden suchte, führte nach neuen Enthüllungen über den Stalinismus auf dem XXII. Parteitag und der Entfernung von Stalins Leichnam aus dem Lenin- Mausoleum – was Peking als schwere Provokation auffaßte – schließlich 1962 zum offenen Bruch, wobei der Abzug der sowjetischen Spezialisten aus China und die folgende Einstellung der sowjetischen Lieferungen Chinas Wirtschaft aufs äußerste belasteten. Die Zwischenfälle an der über 5000 km langen gemeinsamen Grenze und die erstmals 1963 erhobenen chinesischen Ansprüche auf das 1858 und 1860 von Rußland annektierte Amur- und Ussurigebiet aber konfrontierten die sowjetische Führung und die Streitkräfte mit einer neuen, schwer zu sichernden Flanke des Imperiums, von der zwar wegen der militärtechnischen Überlegenheit der Sowjetunion keine akute Gefahr ausging, wohl aber eine latente Verunsicherung, der die Asien-Politik der Kreml-Führung mit verstärkten Bemühungen um Indien, Nordkorea und Nordvietnam ein Gegengewicht zu schaffen suchte. Demgegenüber wog der Abfall Albaniens wenig, das nach dem mißglückten sowjetischen Versuch, das stalinistische Regime Hoxhas zu beseitigen, schon auf dem Moskauer Weltkongreß der kommunistischen Parteien vom Dezember 1960 offen gegen Chruschtschow frondiert hatte und auch durch wirtschaftliche Pressionen nicht zu beeinflussen war, da China sich zu seiner Unterstützung verpflichtete; der Verlust der sowjetischen Flottenstützpunkte Vlorë (Valona)
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und Sazan war zu verschmerzen, zumal die sowjetische Führung annahm, das Land werde auf die Hilfe der Sowjetunion nicht lange verzichten können. Die sowjetische Führung hat sich in dieser Phase der Entspannungspolitik keineswegs gescheut, ihre wie auch die Interessen ihrer Klientelstaaten nachdrücklich zu vertreten, wo immer das geboten schien. Entspannungspolitik bedeutete für Moskau ja keineswegs eine détente um jeden Preis, vorrangig blieb stets die Erhaltung der sowjetischen Macht und die Sicherheit ihrer Hegemonialsphäre. Dies hat in der westlichen Welt häufig zu Irritationen geführt, so die Aufkündigung des Berlin-Abkommens im November 1958 (die im März 1959 zurückgezogen wurde), mit der Chruschtschow sich der Sorgen der SED-Führung annahm, die durch die Abwanderung qualifizierter Kräfte via Berlin ihre bildungspolitischen und volkswirtschaftlichen Anstrengungen beeinträchtigt sah, so in der U-2-Affäre des Jahres 1960, in der sicherheitspolitische Erwägungen geltend gemacht wurden. Derartige Aktionen sind in ihrer Terminierung stark von den Auseinandersetzungen innerhalb des »sozialistischen Lagers« bestimmt worden, an dieser taktischen Determinante besteht kein Zweifel, aber sie dienten vorrangig der Markierung politischer Grundpositionen. Chruschtschows USA-Reise im September 1959 nach der ergebnislos verlaufenen Genfer Außenministerkonferenz, in der die Vorschläge der Westmächte an eben diesen essentiellen Voraussetzungen sowjetischen Selbstverständnisses scheiterten (und vice versa), war eine Demonstration des Festhaltens an den Entspannungsbemühungen, das allerdings im folgenden Jahr empfindlich gestört wurde. Die U-2- Flüge der US-Air Force waren den Sowjets längst bekannt, doch der Abschuß des Piloten und seine Aussage boten die Gelegenheit zu einer massiven Abrechnung mit einer Praxis, die das sowjetische Sicherheitsdenken tief verletzte. Chruschtschow ließ die Pariser Gipfelkonferenz vom Mai 1960 platzen, sein spektakulärer Auftritt auf der UN-Vollversammlung im Oktober war ebenso wohl kalkulierte Demonstration. Vor diesem Hintergrund gewann auch der Abbruch der Genfer Abrüstungsverhandlungen, die an der Unvereinbarkeit der sicherheitspolitischen Maximen scheiterten, eine andere Deutung. Zu sichtbar fügte sie sich in das Bild des neuen »Kalten Krieges«. Die Afrika-Reise des neuen Staatspräsidenten der UdSSR, Leonid Iljitsch Breshnew, und die Entwicklung im Kongo machten den Einflußgewinn einer imperialen sowjetischen Politik in einem Gebiet sichtbar, das bislang als selbstverständliche Domäne der westlichen Welt gegolten hatte, und mit der Annäherung an Fidel Castro, die erstmals durch Mikojans Reise nach Havanna im Februar 1960 dokumentiert wurde und schließlich mit der Eingliederung Kubas in das »sozialistische Lager« endete, erhielt die Sowjetunion ein mittelamerikanisches Glacis, das in den folgenden Jahren der revolutionären kommunistischen Bewegung in Süd- und Mittelamerika als logistische Basis diente. Die Entwicklung in der Dritten Welt gab denn auch Anlaß für eine Präzisierung des Theorems der Vermeidbarkeit von Kriegen: »nationale Befreiungskriege« und »revolutionäre Volkserhebungen«, so erklärte
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Chruschtschow am 6. Januar 1961, seien im Kampf gegen die Kolonialmächte wie für die Errichtung neuer sozialistischer Staaten unvermeidbar. Die Sowjetunion, seit langem schon beredter Fürsprecher der Völker der Dritten Welt, zeigte sich mehr und mehr auch als materieller Förderer der Unabhängigkeitsbewegungen, von den anderen sozialistischen Staaten dabei unterstützt, und versuchte durch den so gewonnenen Einfluß die Entkolonialisierung direkt in eine »sozialistische Revolution« umzuleiten. Hatte schon das Jahr 1960 eine deutliche Verschlechterung im West-Ost-Verhältnis gebracht, so verschärfte sich dieser Prozeß nach dem Wiener Treffen Chruschtschows mit dem neuen US-Präsidenten John F. Kennedy im Juni 1961. Die angekündigte Truppenreduzierung wurde aufgehoben, am 8. Juli der Verteidigungsetat drastisch erhöht. Am 13. August 1961 errichtete Ulbricht mit sowjetischer Billigung und Rückendeckung unter Bruch des Potsdamer Abkommens die Berliner Mauer, die die Teilung Berlins vollendete und den Fluchtweg aus der DDR versperrte. Und schließlich brach Moskau mit einer Reihe von Nuklearwaffenerprobungen einseitig die Vereinbarungen über den Stopp der Kernwaffenversuche. Der raketentechnische Vorsprung der Sowjets, die im September 1959 eine unbemannte Rakete auf dem Mond landen konnten und ihren weiteren aufsehenerregenden Unternehmen mit dem ersten bemannten Raumflug im April 1961 einen Höhepunkt hinzufügten, verleitete Chruschtschow zur Stationierung sowjetischer Raketenwaffen auf Kuba, mit der er ein Gegengewicht gegen die in der Türkei stationierten US-amerikanischen Raketen zu schaffen meinte. Die Entschlossenheit, mit der die USA dieser Herausforderung begegneten, zwang Chruschtschow am 28. Oktober 1962 zum Nachgeben – er hatte seine Kräfte fatal überschätzt. Die Vereinigten Staaten aber, die bereits durch den »Sputnik-Schock« aufgeschreckt worden waren, erhöhten ihre Anstrengungen, den rüstungstechnischen Rückstand aufzuholen, was ihnen dank ihrer überlegenen Wirtschaftskraft in kurzer Zeit gelang. Aber auch die sowjetische Führung verstärkte die Modernisierung und den Ausbau ihrer Streitkräfte. Das transatlantische Unternehmen hatte die Schwäche der traditionellen Kontinentalmacht, ihre unzureichenden Seestreitkräfte, bloßgelegt31. Ohne eine effektive Flottenunterstützung konnte die sowjetische Führung die Ansprüche ihres Landes nicht geltend machen. Dem Oberkommandierenden der sowjetischen Marine (seit 1956), Flottenadmiral Gorschkow, einem ebenso bedeutenden maritimen Strategen wie fähigen Organisator, gelang es innerhalb des folgenden Jahrzehnts, seinem Land dieses Machtinstrument zu schaffen. d) Sozialistische Partnerschaft Die Auseinandersetzung zwischen der sowjetischen und der chinesischen Führung im kommunistischen Revisionismusstreit förderte den von Chruschtschow in der Entstalinisierungsphase eingeleiteten Prozeß einer
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Mitbeteiligung der kommunistischen Parteien Osteuropas an den internationalen und supranationalen Entscheidungen. Das anfangs konzedierte begrenzte Mitspracherecht in nationalen Belangen, das die Sowjetunion entlastete und eine neue Loyalität der nationalen Führer, aber auch ein erhöhtes Verantwortungsbewußtsein schuf, weitete der Versuch, die ideologischen Differenzen durch Diskussionen und verbindliche Majoritätsbeschlüsse auszuräumen, erzwungenermaßen zur Teilhabe an den Entscheidungen über Fragen der kommunistischen Weltbewegung aus, und gerade das Zögern der dogmatischen KP-Führer, die dies (wie etwa Ulbricht) zudem mit »nationalen« Notwendigkeiten zu begründen wußten, erheischte sowjetische Zugeständnisse. Mit dem Wachstum der nationalen Volkswirtschaften gewannen die Volksdemokratien auch im wirtschaftlichen Bereich erweiterte Kompetenzen, und die neue, weltweite imperiale politische Zielsetzung (wie auch der Konflikt mit China) erforderte eine neue sicherheitspolitische Aufgabenteilung, die den nationalen Armeen der Warschauer- Pakt-Staaten vermehrte Verantwortung zuwies. Für den parteipolitischen Bereich mußte Chruschtschow auf die Institutionalisierung eines gesamtkommunistischen Leitungsorgans, wie es einst das Exekutiv-Komitee der Komintern (EKKI) gebildet hatte, angesichts der vielfältigen Einwände und Vorbehalte verzichten. Da die chinesische und albanische Führung auf ihren ideologischen Positionen beharrten, konnte auch eine zentrale Institution diesen Konflikt nicht beilegen; für die Abstimmung mit den anderen Führern der kommunistischen Parteien Osteuropas hatten sich die bi- und multinationalen Konsultationen als völlig ausreichend und effizient bewährt. Seit 1957 verstärkten sich diese Kontakte zunehmend, nationale Parteiund Staatsfeierlichkeiten wie die Treffen im Rahmen des RGW und des Warschauer Paktes boten genügend Anlaß für gemeinsame Treffen. Die IntraRGW-Beziehungen wurden nun ganz in die Hände der Parteien gelegt, ihre Funktionäre nahmen, einem eigenen Abteilungsleiter des ZK untergeordnet, die Botschafterposten ein; Außenministerium und Diplomaten waren auf die Beziehungen zu den nichtsozialistischen Staaten beschränkt, dem Theorem entsprechend, wonach die Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten von besonderer Art seien. Am tiefgreifendsten war der Wandel, der sich ab 1960 in der Warschauer-PaktOrganisation vollzog. In den ersten fünf Jahren nach der Signierung des Vertrages konnte von einer Integration der nationalen Streitkräfte keine Rede sein, auch die sowjetischen Beauftragten zeigten sich mehr an einer Überwachung der Regimetreue denn an einer Steigerung ihrer Schlagkraft interessiert. Die »Unzuverlässigkeit« der ungarischen Verbände, die während des ungarischen Aufstandes gegen die sowjetischen Interventionstruppen kämpften, bestätigte die Bedenken sowjetischer Militärs hinsichtlich der Loyalität der nationalen Armeen. Weder Shukow noch die anderen sowjetischen militärischen Führer hatten freilich etwas dazu getan, sich dieser Loyalität zu
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versichern. Für diese Sieger des Zweiten Weltkrieges ruhte die Sicherheit der Sowjetunion und ihres Hegemonialbereiches nach stalinistischer Denkweise allein auf der kampferprobten Sowjetarmee, die nationalen Armeen hatten weitgehend innenpolitische Funktion: als Stabilisierungsfaktor der volksdemokratischen Regime. Die strikte Unterordnung der Streitkräfte unter die Führung der kommunistischen Parteien nach Shukows Sturz machte auch aus den nationalen Armeen zuverlässige Instrumente. Als die Berlin-Krise 1961 die sowjetischen Militärs vor die Alternative stellte, entweder die Mannschaftsstärke der Sowjetarmee zu erhöhen oder die nationalen Armeen verstärkt für die gemeinsamen militärischen Aufgaben heranzuziehen, entschieden sie sich für deren Integration und Modernisierung. Hierfür sprachen der neue Geist der Partnerschaft und außerdem wirtschaftliche Gesichtspunkte: Die sowjetische Wirtschaft befand sich in einer kritischen Phase, so daß es bedenklich erschien, ihr ein größeres Arbeitskräftepotential zu entziehen. Gemeinsame Manöver mit sowjetischen Truppen, bi- und multilateral, bereiteten die nationalen Armeen auf ihre neue Aufgabe vor: im Kriegsfall zusammen mit sowjetischen Truppen die europäischen NATO-Länder zu überrennen32. Die (besonders geforderten) Armeen Polens, der ČSR und DDR wurden in ihrer Ausrüstung der Sowjetarmee angeglichen. Auch der »Beratende Politische Ausschuß«, der seit 1955 nur dreimal zusammengetreten war, nahm in der Folgezeit seinen satzungsgemäßen Turnus der Konferenzen (zweimal jährlich) auf. Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, 1949 als Zuordnungs- und Kontrollorgan der Volkswirtschaften der Volksdemokratien errichtet, seitdem jedoch mit geringer Effizienz dahindämmernd, gewann bald nach Stalins Tod neue Bedeutung. Auf der vierten Tagung des Rates (26.–27. März 1954) wurden erste Ansätze zu einer integrativen Funktion dieser Institution sichtbar. Die stalinistische Kopierung des sowjetischen Modells durch die Volksdemokratien hatte zu einer Übernahme der den Vorkriegsverhältnissen entsprechenden sowjetischen Entwicklungsstrategie einer autarken Volkswirtschaft, vielfach unter Hintansetzung ökonomischer Zweckmäßigkeit und ohne Berücksichtigung der ländereigenen Ressourcen, bestimmt von nationalem Prestigedenken, und damit zur Parallelentwicklung der einzelnen Volkswirtschaften geführt, die eine gleichförmige Struktur mit einer extremen Disproportionalität auch in dem bevorzugten Investitionsgüterbereich zugunsten der eisenschaffenden und verarbeitenden Industrie zur Folge hatte. Die extreme Kapitalintensität des Aufbaus der Schwerindustrie ließ dabei keinen finanziellen Raum für den Ausbau anderer Produktionen, etwa im chemischen und elektrotechnischen Bereich. Die sowjetische Wirtschaftshegemonie mit der Ausrichtung der nationalen Produktionen auf die sowjetischen Bedürfnisse bei strikter Bilateralisierung der Beziehungen hatte zudem eine effektive Zusammenarbeit der Volksdemokratien verhindert. Nunmehr sollte die Koordination der Volkswirtschaftspläne der Volksdemokratien ihrer Planabstimmung mit der
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Sowjetunion vorausgehen. Auch eine organisatorische Straffung der RGWArbeit und intensivere Kontakte der Regierungsvertreter wurden vereinbart. Schon im Juni folgte eine neue Ratstagung mit ergänzenden Beschlüssen. Malenkows Sturz ließ diese Aktivitäten des Rates faktisch zum Stillstand kommen, im Dezember 1955 beriet man lediglich die Handelsverträge bis 1960. Die kleineren RGW-Partner nutzten diese Zeit, um ihren Westhandel zu erhöhen, der ihnen gestattete, neue Technologien, wenn auch in bescheidenem Rahmen, einzuführen. Die 1954 beschlossene vermehrte Abstimmung der Volkswirtschaften barg insbesondere für die industriell weniger entwickelten die Gefahr, daß ihre eigene Industrialisierung zur Vermeidung von Parallelentwicklungen und des Aufbaus von Überkapazitäten durch die entwickelten RGW-Mitglieder empfindlich beschnitten und ihnen der Aufbau zukunftsträchtiger, gewinnintensiver Branchen verwehrt würde. Erst nach dem XX. Parteikongreß der KPdSU, vom 18.–25. März 1956, tagte der Rat wieder, und er stand ganz im Zeichen der in Moskau gesetzten wirtschaftspolitischen Ziele. Das Sinken der Wachstumsraten 1955/56 gab den unmittelbaren Anlaß, die 1954 beschlossene Koordination voranzutreiben. Die optimale Auslastung der vorhandenen Kapazitäten, Berücksichtigung von Standortfragen und schließlich Rationalisierung des gesamten Produktionsprozesses wurden erörtert, eine Arbeitsteilung der Partnerstaaten mit Ausnahme der Sowjetunion für den Maschinenbau wurde vereinbart, auch ihre Produktions- und Investitionspläne sollten auf sowjetisches Drängen aufeinander abgestimmt werden. Um die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit zu intensivieren, bildete man die ersten zehn Ständigen Fachkommissionen, die in der Folgezeit einen regen Austausch von Spezialisten, Erkenntnissen und Erfahrungen zwischen den Mitgliedsländern einleiteten. Um die Außenhandelsverrechnung zu erleichtern, errichtete der Rat 1957 bei der sowjetischen Staatsbank eine Clearingstelle, die jedoch keine multilaterale Verrechnung vornehmen konnte, so daß damit faktisch nur ein neues sowjetisches Kontrollinstrument für den (bilateralen) Handel zwischen den Volksdemokratien geschaffen wurde. Immerhin standen damit dem Rat konkrete Zahlen für seine Verhandlungen zur Verfügung. Im übrigen aber gestand man ein, daß die bisherigen sowjetischen Anforderungen die nationalen Volkswirtschaften überlastet hatten. Der Energie- und Rohstoffmangel zwang zu einer Verringerung der Investitionen um etwa 20%, die Planziele wurden entsprechend reduziert. Die noch immer höchst materialintensiven Produktionsweisen waren hier an eine Grenze gestoßen, die ein Umdenken und die Einführung neuer Technologien erforderte, aber auch eine Änderung des Planungs- und Leitungssystems und eine langfristige Planung der Gesamtentwicklung. Das Problem war inzwischen so schwerwiegend geworden, daß es die Kompetenz des Rates und der Wirtschaftsfunktionäre überstieg: die nationalen Interessen blockierten eine Lösung, wie dies etwa im Widerstand der mehr agrarischen Staaten, besonders
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Rumäniens, Bulgariens und Albaniens, gegen die Arbeitsteilungs-Bemühungen zum Ausdruck kam; sie war nur auf politischer Ebene möglich. Als sich die Parteiführer der RGW-Staaten auf energisches Betreiben Chruschtschows hin im März 1958 in Moskau zusammenfanden, standen sie nicht nur unter dem Druck der eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die zum Abbruch der laufenden Fünfjahrpläne gezwungen hatten, sondern auch unter dem Eindruck der mit der Konstituierung von EWG und Euratom am 1. Januar des Jahres einsetzenden wirtschaftlichen Integration Westeuropas. Hiervon waren die RGW-Länder noch weit entfernt, wenngleich seit 1955 eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie begonnen worden war und 1956 das gemeinsame Forschungszentrum in Dubna bei Moskau seine Arbeit aufgenommen hatte. Chruschtschow drängte beharrlich auf eine länderspezifische spezialisierte Arbeitsteilung, von der er sich eine effektivere Nutzung der vorhandenen Kapazitäten und Investitionsmittel versprach. Er fand wiederum die Unterstützung der fortgeschrittenen Industrieländer ČSR und DDR, während die anderen Mitgliedstaaten an ihren Bedenken festhielten und eine wirkliche Lösung nicht vereinbart werden konnte. Immerhin beschloß die folgende Ratstagung in Prag im Dezember, durch den gemeinsamen Bau der »Freundschafts-Pipeline« die Erdölversorgung der Partnerländer zu verbessern und so die Rohstoffbasis für die von Chruschtschow vorgetragenen Pläne eines umfassenden Ausbaus der chemischen Industrie zu schaffen. Hierfür waren auch die »agrarischen« Länder zu gewinnen, denn allein die Düngemittelproduktion sollte dabei um 300% gesteigert werden, um der chronisch unzureichenden Agrarerzeugung aufzuhelfen. Im folgenden Jahr vereinbarte man in Tirana eine Spezialisierung in diesem Industriebereich. Ein grundsätzlicher Fortschritt jedoch war bis zu diesem Zeitpunkt nicht erzielt, selbst die politisch fügsame und ökonomisch daran interessierte DDR-Führung erhob Einspruch gegen eine Konzeption, wie sie etwa auf dem XXI. Parteikongreß der KPdSU (1959) sichtbar wurde: Die Sowjetunion sollte aus der arbeitsteiligen industriellen Entwicklung ausgenommen bleiben, ihre Industrie in allen Bereichen gleichsam autark, wenn auch durch die Vereinbarungen über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit unter Nutzung der in den Partnerländern gewonnenen Erfahrungen ausbauen können. Auf der Dezembertagung 1959 in Sofia mußte die Sowjetunion daher Zugeständnisse machen. Bisher waren die Entscheidungen des Rates ad hoc erfolgt, wobei das überlegene ökonomische Potential der Sowjetunion dieser das Übergewicht garantiert hatte. Das in Sofia verabschiedete Statut des RGW und die »Konvention über die Rechtsfähigkeit, Privilegien und Immunitäten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe« gaben dem Rat erstmals eine klare Rechtsgrundlage, und der auf rumänische Vorstellungen hin aufgenommene Paragraph 3 des Art. IV bot eine rechtliche Garantie gegen Majoritätsbeschlüsse: »Empfehlungen und Beschlüsse [des Rates] gelten nicht für Länder, die erklärt haben, daß sie an der betreffenden Angelegenheit nicht interessiert sind«33. Die
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Hegemonie der Sowjetunion blieb trotz des Statuts weitgehend gewahrt, da die wichtigsten Funktionen in den ständigen RGW-Organen mit sowjetischen Spezialisten besetzt waren. Die Resistenz der Partnerländer gegen die Integration aber blieb, und Chruschtschow, der ihre Unterstützung im Streit mit China benötigte, mußte seine Ambitionen zurückstellen. Die Priorität der nationalen Interessen wurde offenkundig, als Gheorghiu-Dej Ende 1961 vor dem ZK der rumänischen Partei eine Ausweitung des Westhandels zur Förderung der rumänischen Industrialisierung – selbstverständlich im Interesse eines rascheren Voranschreitens auf dem Weg zum rumänischen Sozialismus – verkündete. Gomułka hatte schon im Juni 1961 das Grundproblem angesprochen, wobei er sich auf den polnischen Nationalökonomen Oskar Lange berufen konnte: Das Kapitalaufkommen der weniger entwickelten RGW-Staaten blieb hinter jenem der entwickelteren immer weiter zurück, obwohl gerade die ersteren einen hohen Kapitalbedarf für die erforderlichen Investitionen hatten. Solange hier keine befriedigende Regelung getroffen war, mußte die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb des RGW divergierend verlaufen, kurz gesagt: die »reichen« Länder wurden immer reicher, die »armen« relativ immer ärmer, so daß innerhalb des RGW-Raumes erhebliche Spannungen auftreten mußten; die Unterschiede im ökonomischen Entwicklungsniveau wären dadurch perpetuiert worden. So kam es auf der 15. Ratstagung in Warschau zum Konflikt, als das RGW-Programm, die »Grundsätze der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung«, angenommen und die Errichtung einer supranationalen Institution beschlossen wurde, der Chruschtschow Mitte 1962 die Entscheidung über die Investitionstätigkeit im RGW zuschreiben wollte und damit eine defacto-Lenkung der Volkswirtschaften. Rumänien weigerte sich konsequent, seine Souveränität im wirtschaftlichen Bereich begrenzen zu lassen, es konnte sich dabei auf das Gleichberechtigungsprinzip berufen, das Chruschtschow zur Grundlage der zwischenstaatlichen Beziehungen erklärt hatte, und war sich der Unterstützung Chinas sicher. Da Rumänien ansonsten seinen Verpflichtungen nachkam, auch die politische und gesellschaftliche Ordnung des Landes den ideologischen Forderungen entsprach, mußte Chruschtschow Gheorghiu-Dej den eigenen »rumänischen« Weg zum Sozialismus 1963 zugestehen, wobei Rumänien von dem sowjetisch-chinesischen Konflikt profitierte, denn Moskau wollte der chinesischen Propaganda keine neuen Argumente liefern. Die Konferenz der Parteiführer in Moskau im Juli 1963 konnte lediglich – gleichsam als Ersatz für das 1961 ausgeschiedene Albanien – die Absicht des durch »Beobachter« vertretenen Jugoslawien, sich dem RGW anzuschließen, als Fortschritt verbuchen. Auch Chruschtschows Versuche, durch Einschüchterungen und Drohungen Bukarest zum Einlenken zu bewegen, schlugen fehl; seine Pläne, Gheorghiu-Dej durch einen genehmeren Mann zu ersetzen, verhärteten die Fronten noch mehr, und die Drohung, eine Grenzrevision zugunsten Ungarns in Siebenbürgen vorzunehmen, stärkte nur den rumänischen Nationalismus, der dagegen kaum verhüllte Ansprüche auf
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Bessarabien und die Nordbukowina erhob. Unter diesen Umständen kam die RGW-Integration nicht voran, erschöpfte sich in der Koordination des Außenhandels der RGW-Staaten und ihrer Wirtschaftsplanung, die dadurch aber noch komplexer, bürokratischer und unflexibler wurde. Damit aber war der Wachstumskrise der RGW-Volkswirtschaften, die diese in der ersten Hälfte der sechziger Jahre durchliefen, nicht abzuhelfen. Und da die bisherige Struktur ihrer zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen zur Bewältigung der Probleme nicht ausreichte, eine supranationale Lösung aber blockiert war, blieb nur der nationale Weg, d.h. Reformen der jeweiligen Volkswirtschaft selbst. Die RGW-Staaten haben hierbei in der Folgezeit unterschiedliche Wege beschritten. e) Wirtschaftsexperimente Das sowjetische Zugeständnis prinzipieller Gleichberechtigung der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Staaten, das die Phase einer monolithischen Struktur des sowjetischen Imperiums in Osteuropa beendete und an seiner Stelle eine Gemeinschaft von Staaten etablierte, die durch die Grundsätze der kommunistischen Parteidoktrin und ihr gemeinsames Ziel verbunden waren, führte zu einer recht unterschiedlichen Entwicklung der einzelnen Staaten, wobei die sozialistische Partnerschaft die sowjetische Führung vor unerwartete Probleme stellte. Das Selbstverständnis der KPdSU erheischte die Führungsrolle der Sowjetunion, denn zum einen besaß sie eine lange Erfahrung, hatte als erste die sozio-ökonomische Struktur ihres Landes revolutionär umgestaltet, und zum anderen waren – von Jugoslawien und China abgesehen – die anderen kommunistischen Regime Osteuropas nur dank des massiven Einsatzes der sowjetischen Machtinstrumente überhaupt zur Herrschaft gelangt. Nicht von ungefähr wurde daher in Fällen von Interessenkonflikten zwischen Moskau und anderen sozialistischen Staaten das Wort vom Undank gegenüber der Sowjetunion laut, und gleichfalls nicht von ungefähr waren es Jugoslawien und China, wo die Kommunisten weitgehend ohne sowjetische Hilfe die Macht erobert hatten, die sich dem sowjetischen Einfluß zu entziehen vermochten. Chruschtschows gescheiterter Versuch, eine neue zentrale Lenkungsinstanz der kommunistischen Weltbewegung zu schaffen, verwickelte ihn gerade ob dieses sowjetischen Selbstverständnisses in Konflikte mit Jugoslawien und China, in denen er der Unterstützung der ehemaligen Satellitenregime und nunmehrigen Partner bedurfte, und trug so zu deren Aufwertung und einem neuen Rollenverständnis bei. Das gesteigerte Selbstbewußtsein der volksdemokratischen Führungen, das durch die innersowjetische Kritik am Stalinismus, also an einem letztendlich sowjetischen System, eine Art Initialzündung erfuhr, ist insbesondere durch die Probleme gewachsen, vor die sich die RGW-Länder zu Beginn der sechziger Jahre gestellt sahen und die tiefgreifende strukturelle Reformen des sowjetischen Wirtschaftsmodells erforderlich machten.
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Reformpläne sind bereits Mitte der fünfziger Jahre in den Volksdemokratien erörtert worden, vor allem in Polen im Kreis um den Nationalökonomen Oskar Lange, doch blieben sie weitgehend akademisch, denn der ungarische Aufstand ließ Parteiführungen wie Bürokratien vor dem Wagnis von Reformen zurückschrecken. Zudem gab die insgesamt positive Wirtschaftsentwicklung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mit steigendem Nationaleinkommen und hohen Wachstumsraten der Industrieproduktion Anlaß zum Optimismus. Sie war vor allem für Chruschtschow von Vorteil, der sich dadurch gegenüber seinen Kritikern gerechtfertigt sah. So nahm er auch die Herausforderung an, als Mao Tse-tung, unter Berufung auf seine Theorie der bauernproletarischen Revolution, 1959 erklärte, mit der Errichtung der bäuerlichen »Volkskommunen« habe China das Stadium des Übergangs zum Kommunismus erreicht. Chruschtschow zog im folgenden Jahre für die Sowjetunion nach, und das neue Parteiprogramm der KPdSU, das nach ausführlichen Diskussionen vom XXII. Parteikongreß der KPdSU (17.–31. Oktober 1961 in Moskau) angenommen wurde, bestätigte diese neue Etappe, die die Sowjetunion auf dem Wege zum Kommunismus erreicht habe. (Daß auf dem Kongreß zugleich neue ausführliche »Enthüllungen« über den Stalinismus und seine Adepten in der Sowjetunion sich mit Angriffen gegen den albanischen Stalinisten Hoxha verbanden, machte das Ziel deutlich.) Seine Ankündigung, die UdSSR werde bis zum Jahre 1980 das Stadium des Kommunismus erreicht haben und die USA wirtschaftlich überholen, erregte jedoch schon damals Zweifel – wobei freilich im Parteiprogramm der Vorbehalt formuliert war, daß der in der Formel »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« enthaltene Anspruch keineswegs individuell zu interpretieren sei, sondern daß die Partei bestimme, was die Bedürfnisse seien. (Durch dieses neue Entwicklungsstadium der Sowjetunion wurde es dem eifrigen Prager Regime 1960 erlaubt, ohne Beeinträchtigung der sowjetischen »Führungsrolle« offiziell die Umgestaltung der ČSR in eine »Sozialistische Republik« – ČSSR – zu verkünden, ein Schritt, den die anderen sozialistischen Staaten bald nachvollzogen.) Es zeigte sich indes sehr rasch, daß Chruschtschows Optimismus unbegründet war. Das rapide Absinken der Zuwachsraten stellte die gesamte wirtschaftliche Entwicklung in Frage, die Ergebnisse der Jahrespläne waren derart alarmierend, daß sich die Parteiführung wie die Wirtschaftsbürokratie zu einer Überprüfung des gesamten Systems entschließen mußten. Das System der Volkswirtschaftsräte, wie es 1957 geschaffen worden war, um die Immobilität der Zentralbehörden zu überwinden, hatte die Schwierigkeiten der Wirtschaftslenkung nur verlagert. Zwar war die Entscheidungskompetenz damit näher an die Produktionsbasis gelegt worden, doch im wesentlichen hatte sich nichts geändert: Der Plan blieb weiterhin die Grundlage aller Wirtschaftsentwicklung, wie er durch die aus der Statistik gewonnenen Indikatoren aufgestellt wurde, die auf den schwer kontrollierbaren Produktionsmeldungen der Basis beruhten. (Die Kontrolle der von den Betrieben gemeldeten Produktionszahlen oblag dem Betriebs-
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Parteikomitee, das an den Prämienzahlungen selbst beteiligt war und auch den Ärger der Belegschaft auf sich zog, falls es die Angaben nicht bestätigte.) Zudem berücksichtigten die 105 Sownarchosen vorrangig ihre regionalen Interessen, schon 1958 wurden Klagen darüber laut. Um dem entgegenzuwirken und die gesamtwirtschaftlichen Prioritäten zu wahren, mußten dem GOSPLAN immer neue Entscheidungskompetenzen übertragen werden, die die Zuständigkeit der Volkswirtschaftsräte mehr und mehr einschränkten. Damit aber gewannen die Betriebe größere Eigenständigkeit, es entstand eine Grauzone, die nicht alle Manager zum gemeinen Wohle nutzten. Die Einführung der Todesstrafe für bestimmte Wirtschaftsverbrechen (am 7. Mai 1961) war ein alarmierendes Zeichen. Da die Dezentralisierung nicht den erhofften Erfolg gezeitigt hatte, griff man wieder auf das bewährte Mittel einer Zentralisierung der Wirtschaftslenkung zurück. Schon 1962 wurde eine große Zahl von Staatskomitees geschaffen, die allerdings nur empfehlende Funktion, aber keine exekutive Gewalt besaßen. Weitere, z.T. kurzlebige Experimente im Bereich der Planungsbehörden folgten, 1962 reduzierte man schließlich die Zahl der Sownarchosen, und selbst die Parteiorganisation blieb von der fieberhaften Suche nach einem Remedium nicht verschont: 1962 wurde sie in eine industrielle und eine landwirtschaftliche Sektion aufgeteilt. 1963 trat so ein Zustand ein, in dem niemand mehr wußte, wer für was eigentlich zuständig war, die erste Kritik wurde laut. Chruschtschows »Chemie-Kampagne«, die eine Verdreifachung der chemischen Produktion innerhalb von sieben Jahren zum Ziel hatte, war mit neuen Planänderungen verbunden, die ganze Produktionszweige betrafen. Auch andere, planabweichende Prioritätssetzungen verraten die gleiche Überstürzung, waren ebensowenig ausgereift und spontanen Entschlüssen entsprungen. Diese geradezu fieberhafte Suche nach institutionellen Remedien zur Erhöhung der Wirtschaftseffizienz, die von immer neuen, sich jedoch rasch abnutzenden psychologischen Leistungsstimulationen begleitet wurde, erklärt sich aus dem rapiden Rückgang des Wirtschaftswachstums, wie es sich in den Zuwachsraten der Investitionen spiegelt. Betrug sie 1958 noch 13%, so fiel sie bis 1961 auf 4% und erreichte in den beiden Folgejahren 5%. Das Nationaleinkommen soll 1963 sogar nur etwa 2,5% gestiegen sein, woran allerdings das schlechte Ernteergebnis erheblichen Anteil hatte. Gleichzeitig stiegen die Anforderungen an die Wirtschaftskraft des Landes durch die 1959 begonnene Auf- und Umrüstung der Streitkräfte. Besonders der Aufbau der Raketenwaffen und die Einführung elektronischer Waffensysteme beanspruchten die ohnehin nicht großen Kapazitäten hochentwickelter Technologie, und sie banden zu dem noch enormes Kapital – 1961 allein erhöhten sich die Rüstungskosten um 30%.34 Ähnliche Probleme warf die Entwicklung der Landwirtschaft auf. Der 1959 beginnende Siebenjahrplan sah eine Produktionssteigerung um 70% vor – der tatsächlich erreichte Zuwachs betrug (1965) 14%. Dieser Mißerfolg der Agrarpolitik Chruschtschows ist zum größten Teil durch die verfehlte Reform des Kolchos-Systems von 1958 verursacht worden. Ihr lag der Gedanke
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zugrunde, den Kolchosen größere wirtschaftliche Kompetenzen einzuräumen und dadurch ihre Eigeninitiative zu beleben. Da es jedoch an flankierenden Maßnahmen fehlte, die die verstärkte Selbstbestimmung abgestützt hätten, erhöhte sich im Endeffekt nur ihre Belastung, so daß, was als Leistungsanreiz gedacht war, sich letztlich als leistungshemmend erwies. Durch die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen waren die Kolchosen gezwungen, die erforderlichen landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte zu kaufen, was ihre Produktionskosten steigen ließ. Doch wurden die Abnahmepreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht entsprechend angehoben – und zudem fehlte es an qualifiziertem technischen Personal, dessen Abwanderung in die Industrie bei sinkendem Kolchoseinkommen nicht zu verhindern war. Da weder die Preise noch die Anbauvorschriften regional differenziert waren und den natürlichen Gegebenheiten wie Klima und Bodenbonität nicht genügend Rechnung trugen, konnten nur die Kolchosen der Schwarzerde-Gebiete und die (etwa auf Baumwollanbau) spezialisierten landwirtschaftlichen Betriebe prosperieren – gute Witterungsverhältnisse vorausgesetzt. Chruschtschow hat durch immer neue »Kampagnen« versucht, die landwirtschaftliche Erzeugung zu verbessern, doch abgesehen von der Verunsicherung, die er damit verursachte, war ihm kein bleibender Erfolg beschieden. Die im Kontext des »Übergangs zum Kommunismus« ergriffenen Maßnahmen, mit denen das private Hofland der Kolchosbauern, dieses Relikt kapitalistischer Produktionsweise, aufgehoben werden sollte, führten nicht nur zu einem erheblichen Rückgang dieser privaten landwirtschaftlichen Produktion (die bis zu einem Viertel der Agrarerzeugung des Landes ausmachte), sondern sie drohten den Bauern auch ihre wichtigste Einkommensquelle zu nehmen, ohne daß ihnen für einen (intendierten) intensiveren Einsatz im Rahmen des Kolchos dafür ein Ausgleich hätte erwachsen können. Ein Leistungsanreiz jedenfalls war es nicht. Dieser systembedingten Krise war mit organisatorischen Experimenten und Flickwerk nicht beizukommen, und noch weniger war ihr mit dem Auswechseln der zu Sündenböcken gestempelten Minister zu steuern. Die Erkenntnis der Notwendigkeit wirklicher Reformen gewann auch in der Parteiführung allmählich Raum – nur so ist erklärbar, daß die Parteizeitung »Prawda« im Herbst 1962 schon den Artikel des sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlers Liberman veröffentlichte, in dem dieser in Anlehnung an die Gedanken des polnischen Nationalökonomen Oskar Lange eine Beteiligung der Betriebe bei der Planerstellung vorschlug, um den ständigen Revisionen der Plandaten mit ihren negativen Folgen vorzubeugen, und zudem eine kostendeckende Preisfestsetzung, um zu einer rationelleren Produktion zu gelangen und das kaum durchschaubare Geflecht der Subventionierungen abzuschaffen. Damit brachte er freilich nicht nur die zentrale Bürokratie gegen sich auf – im November 1962 belehrte ihn das ZK-Plenum, nicht die Erzielung von Gewinnen, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse sei Aufgabe der Sowjetwirtschaft, eine
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Antwort der Dogmatiker, die in eklatanter Weise an Libermans Intentionen vorbeiging. Erst als Chruschtschow am 14. und 15. Oktober 1964 auf der Sitzung des Zentralkomitees – recht überraschend für die Außenwelt – seine Partei- und Regierungsämter verlor, war der Weg für Reformen frei. III. Die Herrschaft Breshnews a) Wirtschaftsreformen Wie schon nach Stalins Tod wurde nach Chruschtschows Sturz das »Leninsche Prinzip der kollektiven Führung« reaktiviert, Leonid Iljitsch Breshnew, seit 1960 als Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR Staatsoberhaupt, übernahm die Parteiführung, die Regierungsgeschäfte leitete Alexej Nikolajewitsch Kossygin, der bisherige Stellvertreter Chruschtschows in diesem Amt, ein Mann, der durch seine Karriere die Staats- und Wirtschaftsbürokratie wie auch die anstehenden Probleme vorzüglich kannte, von nüchterner Exaktheit und penibler Akkuratesse. Er hat bis zu seinem Tod (1980) den gewaltigen und überaus schwerfälligen bürokratischen Apparat des Landes mit beachtlichem Erfolg dirigiert – eine Leistung, die kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Als dritter Mann dieser »Trojka« fungierte anfangs der erfahrene Wirtschaftsund Handelsfachmann Anastas Mikojan im Amte des Staatsoberhauptes, doch konnte man auf seine fachliche Kompetenz gerade während der Wirtschaftsreformen nicht verzichten, so daß ihn schon 1965 der farblose Podgorny als Präsident ersetzten mußte, bis endlich im Juni 1977 Breshnew selbst diese Funktion mit übernahm. Zwischen den beiden Hauptakteuren – Breshnew und Kossygin – entwickelte sich über eineinhalb Jahrzehnte hinweg eine gute Zusammenarbeit. Breshnew widmete sich vor allem der Parteiarbeit – bereits im November 1964 machte er die Reorganisation Chruschtschows rückgängig – und, gemäß dem Anspruch der Partei, der eigentlich politischen Führung des Landes, während Kossygin die Lenkung des staatlichen Apparates als Exekutivorgan des politischen Willens der Partei übernahm. Die neue Leitung von Partei und Staat begann schon 1965 – in Anlehnung an Libermans Gedanken – mit den ersten Schritten einer Wirtschaftsreform, die einen tiefgreifenden Wandel der sowjetischen Wirtschaft einleiteten und damit auch die soziale Lage breiter Bevölkerungskreise – vor allem der Kolchosangehörigen – verbesserten. Verglichen mit dem sprunghaften und kurzatmigen Experimentieren Chruschtschows verrät sie (systemimmanent) eine sehr viel größere Folgerichtigkeit und Zielstrebigkeit. Die nachstalinistische Dynamik erscheint hier durch langfristige klare Zielvorstellungen kanalisiert, die – bei expliziter Wahrung ideologischer, d.h. zentralwirtschaftlicher Grundpositionen – einen Prozeß der permanenten Anpassung an die sich wandelnden wirtschaftlichen Erfordernisse intendieren. Wie immer man auch die einzelnen Maßnahmen aus westlicher Sicht beurteilen mag, so läßt sich doch insgesamt eine Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz durch die Reformen
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nicht übersehen, ebensowenig wie das ständige Bestreben nach systematischer Beseitigung von Schwachstellen. Schon der Landwirtschaftsplan vom März 1965 setzte an einem notorischen Übel an: dem Mangel an Kapital und an Leistungsanreizen im Agrarsektor. Trotz der »Neulandkampagne« Chruschtschows, die die Getreideanbaufläche erweitert hatte, war die Agrarproduktion des Landes insgesamt hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Hinzu kam, daß sich im industriellen Bereich eine Arbeitskräfteverknappung abzeichnete, die angesichts der geringen ProKopf- Produktivität der Landwirtschaft auch nicht durch weitere Zuwanderung bäuerlicher Bevölkerung in die Industrie aufgefangen werden konnte. Beide Gesichtspunkte drängten auf eine spürbare Erhöhung der Effektivität der landwirtschaftlichen Betriebe, d.h. zu verstärkter Rationalisierung und Mechanisierung. Dazu aber fehlte es an Kapital und Leistungsanreizen. Der Agrarplan sollte hier Wandel schaffen: die beträchtlichen Schulden der Kolchosen wurden getilgt, die Investitionen im landwirtschaftlichen Bereich beträchtlich erhöht. Außerdem wurden die (staatlichen) Ablieferungsquoten für die Kolchosen herabgesetzt, was diesen ermöglichte, größere Mengen von Lebensmitteln auf den freien (»Kolchos«-)Märkten anzubieten, für die zudem noch eine Preiserhöhung beschlossen wurde. Neben diesem Kapitalzufluß wurde mit Rücksicht auf die durch Bodenbonität etc. bedingte unterschiedliche Ertragslage der einzelnen Kolchosbetriebe ein Lohnfixum für die Kolchosmitglieder eingeführt, das ihre bisherige völlige Abhängigkeit von den erzielten Gewinnen (sieht man vom Ertrag des privaten Hoflandes ab) beendete. Die Einführung der staatlichen Altersrente für Kolchosangehörige war der Beginn einer Reihe von Maßnahmen, mit denen die Lage der bäuerlichen Bevölkerung verbessert und diese bislang unterprivilegierte Schicht dem sozialen Status der übrigen Bevölkerung angeglichen wurde. Im September des gleichen Jahres beschloß das ZK dann, auch im industriellen Bereich das »Prinzip der materiellen Interessiertheit« als Leistungsstimulans einzuführen. Die Betriebe erhielten in den »Gesellschaftlichen Fonds« Mittel zur Prämienzahlung etc. (die zugrunde liegenden »Kennziffern« wechselten in den folgenden Jahren verschiedentlich, ab 1981 sollte auch eine Gewinnbeteiligung mit eingeführt werden), so daß die Leistung der Belegschaften honoriert wurde. Auch gestand man im Verlauf der Reformen den Betrieben ein gewisses Maß an Mitspracherecht bei der Planfestsetzung zu; vor allem im Bereich der Konsumgüterindustrie war man bemüht, Rentabilität und Bedarf als Kriterien in die Planung einzuführen. Im Bereich der Investitionsgüterindustrie hielt man stärker am alten System der zentralen Plandatenbestimmung fest, um die politische Zielsetzung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie sie von der Parteiführung beschlossen und mittels des staatlichen Apparates umgesetzt wurde, besser zur Geltung zu bringen. Allen administrativen Maßnahmen zur Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz und allen Anstrengungen der Beschäftigten blieben jedoch Grenzen
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gesetzt. Die Ausweitung der modernen industriellen Produktion – die Zahl der Produktionswege stieg von 120 im Jahre 1918 auf über 400 Ende der siebziger Jahre – hatte das Arbeitskräftepotential des Landes erschöpft, ein weiteres Wirtschaftswachstum war nur durch Rationalisierung, d.h. Einführung neuer Technologien zu erreichen. Unter dem Druck der Zeit und im Wettbewerb mit der »kapitalistischen« Wirtschaft hat die sowjetische Führung in der Folgezeit in verstärktem Maße durch Importe aus den westlichen Industrieländern – sei es in Form von Maschinen, ganzen Produktionsanlagen, Lizenzen oder Patenten – die Modernisierung der Wirtschaft vorangetrieben, ja ganze Produktionszweige, etwa die chemische Industrie, aufgebaut, wobei freilich darauf geachtet wurde, daß im Bereich militärisch-strategischer Güter keine Abhängigkeiten (durch Ersatzteillieferungen etwa) entstanden. Die Entscheidung der sowjetischen Führung für diese wirtschaftlichen Reformmaßnahmen ist durch die Erfolge der vorausgegangenen Änderungen der DDR-Wirtschaftspolitik zumindest begünstigt worden. Das rapide Absinken der wirtschaftlichen Zuwachsrate von 12% (1959) auf 6% (1961) hatte die sonst so konservative DDR-Führung die innersowjetische Reformdiskussion rasch aufgreifen lassen. Schon 1962 verstärkte sich der Einfluß ausgewiesener Fachleute im Wirtschaftsbereich, der dann 1963 in der Zusammensetzung des neuen Politbüros der SED auch zahlenmäßig seinen Ausdruck fand. Die DDR verfügte – neben der ČSSR – über eine alte industrielle Tradition, eine relativ hoch entwickelte Technologie, eine gute Infrastruktur und, nicht zuletzt, über eine komplexe Wirtschaftsstruktur, so daß hier die Unzulänglichkeiten des Wirtschaftssystems eher sichtbar wurden als in den weniger entwickelten RGWStaaten. Zugleich erleichterte die geringe Größe des Landes die Steuerung und Kontrolle der Wirtschaft, etwa gegenüber der Sowjetunion, erheblich. Hinzu kam der besondere Ehrgeiz der DDR-Führung, sowohl gegenüber den anderen RGWStaaten, in deren Kreis der deutsche Teilstaat lange um die gebührende Anerkennung hatte kämpfen müssen, wie auch gegenüber der wirtschaftlich und international erfolgreicheren Bundesrepublik. Ökonomische und politische Gesichtspunkte drängten also auf eine Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz. Zugute kam den DDR-Wirtschaftsplänen – von denen nicht anzunehmen ist, daß sie ohne Billigung Moskaus ins Werk gesetzt wurden – die seit 1962 offen geführte innersowjetische Debatte, aber auch das erhöhte Eigengewicht und der erweiterte Entscheidungsspielraum, der den einzelnen RGW-Staaten aus der sowjetischen Führungsschwäche zuwuchs, die aus dem Konflikt mit China samt seinen Weiterungen sowie den Wirtschaftsproblemen resultierte. Schon auf dem VI. Parteitag der SED (15.–21. Januar 1963) hatte Ulbricht in seinem Grundsatzreferat eine neue Wirtschaftspolitik angekündigt, deren Richtlinien dann im Juni von den kompetenten Gremien der Partei- und Staatsführung beschlossen wurden. Das »Neue ökonomische System der Planung und Leitung« (NÖSPL) brach mit einer ganzen Reihe von Tabus der stalinistischen Wirtschaftspolitik und manchen sozialistischen
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Klischeevorstellungen, wobei man sich vor Anleihen aus dem »kapitalistischen« System nicht scheute. Das bislang verschämt verkappte Leistungsstimulans des Prämiensystems wurde nun als »Prinzip der materiellen Interessiertheit« offen eingeführt, da Appelle an das ideologische Bewußtsein und die sozialistische Moral sich als unzureichend erwiesen hatten. Und für die Betriebe wurde der so verfemte »Gewinn« wieder zur Richtlinie erhoben. Die Entstalinisierung der Wirtschaftspolitik ging jedoch noch weiter. Der Staatlichen Planbehörde wurde nur noch eine Richtlinien- und Koordinationsfunktion zugemessen, die zu einer Art sozialistischer Konzerne (»Kombinate«) gewordenen »Vereinigungen Volkseigener Betriebe« (VVB) erhielten innerhalb der langfristigen Wirtschaftsplanung erhebliche Selbständigkeit, seit 1971 selbst im Bereich des Außenhandels. Auch die Kompetenzen der Betriebe wurden – etwa in Fragen der Kredit- und Materialbeschaffung – erweitert. Diese Dezentralisierung wurde durch die Einführung einer »Arbeitermitverwaltung« ergänzt, die über den »ökonomischen Hebel« der Prämien die Initiative aller Betriebsangehörigen stimulieren sollte. Tiefgreifender jedoch war die Abschaffung des bisherigen Fixpreissystems, dem das Preisniveau des Jahres 1936 zugrunde lag. Dies hatte zu einer kaum mehr zu handhabenden Subventionierungspraxis gezwungen und drohte das Gewirr von Preisen und Kosten gänzlich undurchschaubar zu machen. Nunmehr wurde den Betrieben wirtschaftliche Rechnungsführung vorgeschrieben. Die Einführung des Rentabilitätsprinzips und der kostendeckenden Preisgestaltung aber führte zwangsläufig zu einer Preisreform, mit deren Einführung im industriellen Bereich man 1964 begann und die später immer weiter ausgedehnt wurde. Lediglich Grundnahrungsmittel und die meisten Sozialleistungen wurden weiterhin subventioniert. (Die Preisangleichung hat in der Folgezeit, verstärkt noch durch die Hinwendung zum Weltmarkt, zu einer verdeckten Inflation geführt, die zur Lohn- und schließlich auch Rentenanpassung zwang.) Diese Reform hat trotz zentralistischer Abstriche Ende der sechziger Jahre der Wirtschaft der DDR neue Impulse gegeben und neue Initiativen geweckt, die Identifikation der Arbeitenden mit ihrer Tätigkeit und ihrem Betrieb vermehrt. So konnte in den folgenden Jahren die Rezession überwunden und der Anschluß an die Wirtschaftsentwicklung der modernen Industriestaaten gewonnen werden. Erhebliches hat dazu auch der Import neuer Technologien und technischen Know- hows aus den westlichen Staaten beigetragen, wenngleich Pläne einer weiterreichenden Weltmarktorientierung, wie sie der führende Wirtschaftsfachmann der DDR, Erich Apel, hegte, 1965 am Veto der Sowjetunion scheiterten. Die übrigen RGW-Staaten – mit Ausnahme Polens, das die schon im Juli 1964 angekündigten Reformen im folgenden Jahr durchführte – unternahmen erst nach der sowjetischen Reform Schritte zur Umgestaltung ihrer Volkswirtschaften; in Bulgarien traten die entsprechenden Beschlüsse 1966, in der ČSSR und Rumänien 1967 und in Ungarn erst 1968 in Kraft. Als Grundzug
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läßt sich eine Abkehr vom extensiven Wachstum des Stalinismus, seiner einseitigen Ausrichtung auf eine Maximierung der Produktion (output) feststellen; die Erhöhung der wirtschaftlichen Effektivität suchte man verstärkt durch eine rationellere Verwendung der Produktionsmittel – unter Hinzuziehung von Kosten-Nutzen-Analysen – zu erreichen, der Produktionszuwachs sollte nicht mehr primär durch vermehrten Einsatz von Arbeit und Kapital, sondern durch Produktivitätssteigerungen erzielt werden. Der Außenhandel, der bisher nur zur Devisenbeschaffung für die erforderlichen Importe diente, wurde als Wachstumsfaktor eingesetzt. Investitionen werden nicht mehr aus dem Staatshaushalt, sondern aus Betriebsgewinnen und mit Hilfe der Banken finanziert, die Subventionierungen sind einschneidend reduziert worden. Den Widersprüchen zwischen Planungsbehörden und unteren Einheiten, also Betrieben, suchte man durch eine Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf die mittlere oder untere Ebene zu begegnen. Das Instrumentarium der »ökonomischen Hebel« und der qualitativen Kennziffern ist in der Folgezeit zwar quantitativ wechselnd gehandhabt worden, grundsätzlich aber hielt man daran fest. Die Entwicklung in der ČSSR im Jahre 1968 hat – mit Ausnahme Ungarns – tendenziell zu einer gewissen Re-Zentralisierung geführt (wie in der DDR durch Schaffung der »Kombinate«); dem lag die Sorge zugrunde, eine weitreichende Dezentralisierung der Wirtschaft führe auch zu einer Pluralisierung der Gesellschaft. Im einzelnen weisen die Reformen erhebliche Unterschiede von Land zu Land auf. Dies war zum Teil durch die ideologischen Positionen der Parteispitzen bedingt, zum Teil aber trug es auch dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der einzelnen Nationalwirtschaften Rechnung. Am weitesten ging in seiner Reform Ungarn, hier sind die Betriebe – ähnlich wie im benachbarten Jugoslawien seit 1965 – mit Kompetenzen ausgestattet, die eine Art »sozialistischer Marktwirtschaft« verwirklichen lassen, während etwa in Rumänien und Bulgarien, den beiden am wenigsten entwickelten Ländern, die Dezentralisierung vorsichtig dosiert blieb. Im Rahmen dieser wirtschaftlichen Veränderungen hat man auch der strukturellen Disproportionalität zu begegnen gesucht, die durch die einseitige Wachstumsförderung hervorgerufen worden war. Man hat dabei, dem jugoslawischen Vorbild folgend, in Handwerk und Dienstleistungsgewerbe auch auf die Privatinitiative zurückgegriffen, wohl in der Erkenntnis, daß sie am raschesten wirksam werde. Ungarn begann schon 1963 den Aufbau privater Handwerksbetriebe zu fördern, Polen folgte bald nach, und schließlich ließ die Entdeckung und Entwicklung des Fremdenverkehrs als willkommene Devisenquelle auch in Bulgarien und Rumänien ein begrenztes privates Dienstleistungs- (vor allem Beherbergungs-) und Handwerksgewerbe entstehen. Selbst die so strikt sozialistische DDR sah sich angesichts des Schwindens bestimmter, für die Versorgung der Bevölkerung notwendiger Berufe Ende der siebziger Jahre zu Zugeständnissen veranlaßt. Wenngleich es sich hierbei um eine quantité négligeable – sowohl hinsichtlich der Zahl der
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Handwerke wie der Betriebe – handelt, so ist doch dieser Schritt prinzipiell bemerkenswert. Derart weitreichende Wirtschaftsreformen konnten nicht ohne Auswirkungen auf den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe selbst bleiben. Hier fehlte es nach Chruschtschows gescheitertem Integrationsversuch an einer neuen Konzeption und weiterführenden Initiativen, ja es erwuchsen ihm aus den Modernisierungsund Rationalisierungstendenzen sogar gewisse Gefahren. Denn diese produktivitätssteigernden Maßnahmen ließen sich nur durch erweiterte Importe aus den westlichen Industriestaaten verwirklichen, die denn auch seit Mitte der sechziger Jahre zu verzeichnen sind. Auf sowjetischer Seite hat man die Gefahr, die aus einer verstärkten wirtschaftlichen Westorientierung der eigenen Hegemonialstellung erwuchsen, auch gesehen – das Veto gegen die als zuweit gehend verurteilten DDR-Pläne im Jahre 1965 zeigt dies –, doch mußte man, auch für die Sowjetunion selbst, dem Druck der ökonomischen Notwendigkeit nachgeben: Die Krisenzeichen – sinkende Arbeitsproduktivität, abnehmender Wirkungsgrad der Investitionen und Verknappung der Arbeitskräfte – waren nicht zu übersehen. Problematisch war insbesondere die Finanzierung der Importe. Da die Produkte der RGW-Länder auf dem Weltmarkt nur in geringem Maße konkurrenzfähig waren und erst die Auswirkungen der Reformen hier einen begrenzten Wandel schufen, blieben – sieht man von der leistungsfähigeren DDR und ČSSR ab – Rohstoff- und Nahrungsmittelexporte die wichtigsten Devisenquellen. Die Erlöse reichten freilich nicht aus, die Importkosten zu decken, umfangreiche Kreditaufnahmen waren erforderlich. Insgesamt hat die Zunahme der RGW-Westimporte, deren Anteil 1973 auf fast 32% der gesamten Importe der RGW-Staaten stieg, zu einer zunehmenden, im Falle Polens die Volkswirtschaft bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastenden Verschuldung geführt; auch Rumänien, Ungarn und die DDR weisen hohe Verschuldungsraten auf, während sich die ČSSR, Bulgarien sowie die Sowjetunion deutlich zurückhielten. Diese Umorientierung der Exportwirtschaft mußte sich auf den RGWBinnenmarkt auswirken, solange die Modernisierungsmaßnahmen nicht zu entsprechender Produktionssteigerung führten. Dennoch hat die Sowjetunion bis zum Beginn der siebziger Jahre ihre Pläne, die RGW-Integration durch Schaffung supranationaler Leitungsinstrumente voranzubringen, nicht verwirklichen können. Die nationalen Egoismen mit ihrer zunehmenden Tendenz der Bevorzugung von Westexporten aber gefährdeten die Gesamtentwicklung; auch die wirtschaftlichen Pressionen gegen Rumänien wirkten sich nicht förderlich aus. Anstöße zu einer RGW-Reform kamen hingegen von Ungarn und Polen. Ungarn, dessen seit 1965/66 vorbereiteter und 1968 in Kraft getretener »Neuer ökonomischer Mechanismus« eine Marktorientierung der Wirtschaft einführte, forderte eine grundlegende Überprüfung der RGW-Praxis. Die ungarischen Vorschläge liefen faktisch auf eine Regulierung des Intra-RGW-Handels durch Marktmechanismen hinaus; Fragen des Wechselkurses, der Kreditgewährung,
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Konvertibilität und Multilateralität waren hier zu lösen und kostendeckende Preisgestaltung zu vereinbaren. Auch polnische und tschechoslowakische Nationalökonomen brachten ähnliche Vorschläge in die Reformdiskussion ein, die die Ratstagung im Dezember 1967 beherrschte. »The USSR’s view in 1967 was somewhat enigmatic, in part reflecting the fact that, since Khrushchev had forced the supranational issue in 1962 and had been defeated, the USSR knew much better what it didn’t want for Comecon than what it did want.«35 Zu den Gründen, die die sowjetische Führung zögern ließen, ihre Entscheidung zu treffen, zählt neben ihrer durchwegs konservativen, auf Beibehaltung bewährter Herrschaftsinstrumente bedachten Mentalität und einer gewissen Unsicherheit der neuen Führung auch die Ungewißheit, wie sich die im September 1965 eingeführten Reformmaßnahmen auf die Sowjetwirtschaft auswirken würden. So suchte man die Entscheidung zwischen vermehrter Marktorientierung und herkömmlichem Dirigismus hinauszuschieben. Die Vorgänge in der ČSSR während des folgenden Jahres aber machten die Gefahr einer stärkeren wirtschaftlichen Verflechtung mit den westlichen Industrienationen deutlich. Um ihr vorzubeugen, entschloß man sich zu einem neuerlichen Integrationsschub. Auf der Konferenz der Partei- und Regierungschefs der RGW-Länder in Moskau (23.–26. April 1969) wurde erstmals offiziell der Begriff der »sozialistischen Integration« verwendet und die Gründung einer Investitionsbank des RGW beschlossen. Doch grundlegende Reformen erfolgten nicht. Angesichts der Widerstände, als deren Sprecher Rumänien hervortrat, hatten die sowjetischen Vertreter während der Debatte 1968 resignierend erklärt, sie erachteten die vorhandene Struktur des RGW bei pragmatischer Handhabung des verfügbaren Instrumentariums als ausreichend. Unter diesen Umständen kam die RGW-Integration nicht grundsätzlich voran, sie erschöpfte sich weitgehend in der Koordination des Außenhandels der RGWStaaten und ihrer Wirtschaftsplanung, die dadurch aber noch komplexer, bürokratischer und unflexibler wurden. Die Ständigen Kommissionen – ihre Zahl stieg bis 1971 auf 20 – konnten mit ihren Empfehlungen immerhin zu einer gewissen Spezialisierung und Kooperation in bestimmten Bereichen beitragen, auch die Tätigkeit der 1964 gegründeten »Internationalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit« als multilaterale RGW-Clearingstelle, schließlich die Einführung des transferablen Rubels brachten gewisse Fortschritte. Schwerpunkte der RGW-Tätigkeit, wie sie auf der 25. Ratstagung (Juli 1971) in einem »Komplexprogramm« niedergelegt wurden, blieben weiterhin Probleme der Arbeitsteilung zwischen den RGW-Ländern und eine Koordinierung der Wirtschaftspläne (auch der langfristigen), die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, die Kreditgewährung und die Durchführung gemeinsamer Großprojekte. Trotz intensiver Diskussion der Währungs- und Finanzbeziehungen kam die notwendige Reform der Preisbildung nicht voran. Erst die weltweiten drastischen Erhöhungen der Erdölpreise im Jahre 1973, die den Einfluß des Wirtschaftsgiganten Sowjetunion
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auf die anderen RGW-Staaten verstärkt haben, führten zu einer Revision des Preisbindungsmechanismus, die das Problem aber nicht löste. b) Prager Frühling und Breshnew-Doktrin Das Erbe, das die neue sowjetische Führung von Chruschtschow übernommen hatte, wog schwer. Hierbei war die Aufgabe, die Wirtschaft des Landes sowohl im Produktions- wie im Managementbereich zu modernisieren, noch relativ einfach; sie war – mit Rücksicht auf die Investitions- und Personalkapazitäten – zwar nicht schlagartig, aber schrittweise lösbar. Sehr viel schwieriger war es hingegen, den divergierenden Tendenzen im RGW-Bereich zu begegnen, da diese auch mit dem eskalierenden sowjetisch-chinesischen Konflikt eng verknüpft waren. Denn die Spaltung im Weltkommunismus, die 1964 mit den territorialen Ansprüchen Chinas (Amur- und Ussuri-Gebiet sowie an der Grenze Kasachstans) gegenüber der Sowjetunion einen Höhepunkt erreichte, erwies sich als irreversibel, ja die Auseinandersetzungen mit dem China Mao Tse-tungs nahmen bis zum Ende der sechziger Jahre an Schärfe zu. Welchen Anteil daran die Intransigenz Maos hatte, läßt sich schwerlich bestimmen. Die Sprunghaftigkeit seiner politischen Entschlüsse aber, selbst wenn sie aus der Ungeduld seines an der Zeitdimension scheiternden revolutionären Modernisierungswillens verständlich sein könnte, mußte die nüchtern abwägenden, nach den Erfahrungen mit der Experimentierfreudigkeit Chruschtschows eher zögernd agierenden neuen Männer im Kreml abschrecken. Ihre Irritation ob des »Abenteurertums« der maoistischen Politik wurde durch das Chaos der chinesischen »Kulturrevolution« noch verstärkt; die Ausschreitungen gegen die sowjetische diplomatische Vertretung in Peking, die zu Rückberufung des sowjetischen Botschafters und langjähriger Vakanz dieses Postens führten, dokumentierten nur den Grad der beiderseitigen Entfremdung. Sie steigerte sich im Verlauf der Jahre 1968/69, gerade als sich die sowjetische RGW- und Westpolitik in einer schwierigen Lage befand, zur offenen Feindseligkeit: Im März 1969 kam es im Streit um die territoriale Zugehörigkeit einer Insel zu den aufsehenerregenden Kämpfen am Ussuri, im August des gleichen Jahres zu chinesischen Übergriffen an der Grenze Kasachstans. Da beiden Seiten jedoch daran gelegen war, einen folgenreichen militärischen Konflikt zu vermeiden – Peking mit Rücksicht auf die rüstungstechnische Unterlegenheit Chinas und seine innere Situation, Moskau angesichts der Folgen der Intervention des August 1968 in der ČSSR –, nahm man im September 1969 erstmals Verhandlungen auf, um den Streit beizulegen. Sie führten zu keiner Übereinkunft, denn beide Partner beharrten auf ihren Standpunkten, die sie auch in den ergebnislosen Verhandlungen während der nächsten Jahre aufrechterhielten. Ihre Unvereinbarkeit und damit die Fortdauer der Spannungen war letztlich Ausdruck konkurrierender Machtansprüche der beiden kommunistischen Großmächte. Wenn China auch keine ernsthafte
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Gefährdung der Sowjetunion bildete, so haben die Aktionen Pekings doch eine Unsicherheit der langen und empfindlichen Ostflanke des sowjetischen Imperiums demonstriert. Gerade wegen der Unberechenbarkeit der maoistischen Politik mußte dies bei allen politischen Überlegungen von der sowjetischen Führung mit ins Kalkül gezogen werden. Dies hat der Politik der Sowjetunion Grenzen gesetzt – sowohl gegenüber den anderen RGW-Staaten wie auch gegenüber dem Westen. Innenpolitisch hatte sich der Führungswechsel des Oktober 1964 ja fast reibungslos vollzogen, zumal die »neuen« Männer der »alten« Führungsspitze angehörten. Einige Konzessionen hatten den Übergang der Macht erleichtert; so hatte man die Besorgnis der Bevölkerung, mit Chruschtschow könne auch dessen konsumentenfreundlichere Politik zu Fall gekommen sein, durch eine »Inaugurationsgabe«36 in Form erhöhter Investitionen in der Konsumgüterindustrie und im Wohnungsbau zu zerstreuen gewußt – eine Methode, sich der Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung zu versichern, die bereits 1953 nach Stalins Tod mit Erfolg praktiziert worden war. Um so schwieriger war es, die Intra-RGW-Beziehungen neu zu ordnen. Die »Entstalinisierung« hatte das Dogma der ideologischen Unfehlbarkeit der KPdSU zerstört, Chinas Abfall wie die Kuba-Krise die hegemoniale Stellung der Sowjetunion erschüttert. Die von Chruschtschow initiierte »sozialistische Partnerschaft« hatte zwar zu einer größeren politischen und wirtschaftlichen Flexibilität der Politik der kommunistischen Staatengemeinschaft geführt, aber notwendigerweise auch zu einem erweiterten Entscheidungsspielraum der nationalen Führungen, die diese zur Stärkung der eigenen Position im Kräftefeld der RGW-Staaten zu nutzen suchten. Hier galt es für Moskau, die konkurrierenden nationalen Interessen einzugrenzen, so daß sie die gemeinsamen Belange, vor allem in der Sicherheitspolitik, nicht beeinträchtigten. Ihren Vorposten an der Adria hatte die Sowjetunion verloren. Im Revisionismus/Dogmatismus-Streit hatte sich Albanien auf die Seite Chinas geschlagen, und wie dieses ließ es sich durch die wirtschaftlichen Pressionen der Sowjetunion nicht gefügig machen. Den Ausfall der RGW-Hilfe konnte zwar die wirtschaftliche und technische Hilfe, die Tirana zu gewähren Peking sich angelegen sein ließ, nicht wettmachen, aber dank des geringen Entwicklungsniveaus des Landes und der niedrigen Konsumerwartungshaltung seiner Bevölkerung gelang es dem Regime, die Rückschläge zu überwinden. Versuche Moskaus, bilateral oder im RGW-Rahmen an die alten Beziehungen zu den eigenwilligen Skipetaren anzuknüpfen, wurden brüsk zurückgewiesen. Der albanische Parteiführer beharrte auf seiner Ablehnung der »friedlichen Koexistenz« und hielt am stalinistischen Herrschaftssystem fest, ein treuer Gefolgsmann Mao Tse-tungs. Dies hinderte ihn allerdings nicht, sich um eine Verbesserung der Beziehungen zu anderen RGW-Staaten zu bemühen. Auch hierin folgte er Mao Tsetung, wie er auch dessen »Kulturrevolution« 1967 auf Albanien übertrug. Seine Versuche, angesichts der Feindschaft zu der
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übermächtigen Sowjetunion sein Land von anderen außenpolitischen Bürden zu entlasten, führte schließlich zu einer Entspannung des Verhältnisses zu Jugoslawien – dem Vorkämpfer eben jenes »revisionistischen Verrätertums«, dessen Hoxha die sowjetische Führung beschuldigte. Beunruhigender aber als der Bruch mit dem kleinen Albanien war für die Moskauer Führung die Entwicklung in Rumänien und ihre Ausstrahlung in andere RGW-Staaten. Rumänien blockierte hartnäckig die von Moskau geplante arbeitsteilige Spezialisierung der nationalen Volkswirtschaften, diesen »neuen, sozialistischen Typ internationaler Arbeitsteilung«, wie auch die Errichtung supranationaler Institutionen im Rahmen des RGW; seine Führung trieb indessen mit enormem Energieaufwand die Industrialisierung des Landes voran, um die Entwicklungsrückstände gegenüber den fortgeschritteneren RGWStaaten aufzuholen. Da die anderen RGW-Staaten, vor allem die Sowjetunion, die hierfür gewünschte Unterstützung verweigerten und auch die seit 1959 verstärkten Wirtschaftsbeziehungen zu den westlichen Industriestaaten den Bedarf (infolge des rumänischen Kapitalmangels) nicht decken konnten, appellierte Gheorgiu-Dej an den Nationalstolz der Bevölkerung. Sowjetische Pressionen, darunter ein stümperhafter Versuch Chruschtschows, den Parteichef zu stürzen, verstärkten den auflebenden rumänischen Nationalismus nur noch, der trotz des rigorosen Konsumverzichts, der der Bevölkerung auferlegt wurde, einen engen Konsens zwischen der Nation und ihren Führern herstellte. Es konnte bei der Unvereinbarkeit des sowjetischen und des rumänischen Standpunktes nicht ausbleiben, daß dieser Nationalismus eskalierte und sich gegen die Sowjetunion richtete; die Historiographie wurde in seinen Dienst gestellt, auch Kunst und Literatur. Sogar rumänische Ansprüche auf das 1944 erneut von der Sowjetunion annektierte Bessarabien wurden reaktiviert, die auch mit dem drohenden Hinweis auf die ungarische Minderheit in Siebenbürgen nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Als Gheorghiu- Dej am 19. März 1965 starb, mag dies in Moskau Hoffnungen geweckt haben, doch schon am 22. März folgte ihm sein engster Mitarbeiter Nicolae Ceauşescu, der 1963 mit dem Schlagwort »Rumänien zuerst« die Unbotmäßigkeit Rumäniens öffentlich artikuliert hatte, als Erster Sekretär der rumänischen KP. So rasch, wie sich die rumänische Führung auf den jungen und dynamischen Nachfolger geeinigt hatte, sicherte dieser seine Stellung. Er war sich der Gefahr, die die Gratwanderung Rumäniens zwischen nationaler Souveränität und sowjetischer Intervention in sich barg, wohl bewußt, und er war erfahren genug zu wissen, welche Ansatzpunkte parteiinterne Konflikte der Sowjetunion für ein Eingreifen bieten konnten. Daher wurde absolute Loyalität zu dem bald als »conducator« (Führer) Apostrophierten oberstes Gebot eines jeden Funktionärs, sie ging noch über das geforderte nationale Engagement und über die berufliche Befähigung hinaus. Angesichts der äußeren Gefährdung dieser Nationalisierung der rumänischen KP kann es nicht verwundern, daß Ceauşescu an einer nur geringfügig modifizierten stalinistischen Herrschaftspraxis festhielt: sie hatte in
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schwierigen Phasen ihre Effizienz bewiesen. Ihre Alternative aber – eine Öffnung der rumänischen Gesellschaft – bedeutete ein Experiment, dessen Ausgang ungeachtet eines wahrscheinlichen Solidarisierungs- und Mobilisierungseffektes ungewiß blieb und den Sowjets Ansatzpunkte für Interventionen bieten mochte. Es entstand eine gesellschaftliche Atmosphäre, die jener in der Sowjetunion unter Stalin ähnelte; die geforderten Loyalitätserweise depravierten zu Servilitätsdemonstrationen, und die Integrationsfunktion des »conducator« schlug in einen »Personenkult« mit seinen sattsam bekannten negativen Zügen um. Hierzu trug der mit 47 Jahren – eine Seltenheit in den osteuropäischen Hierarchien – an die Spitze der Partei Berufene nach Kräften bei. Um sein Image nicht zu trüben, wurden Mißmanagement und politische Fehler seinen Mitarbeitern angelastet; um seine Herrschaft zu sichern, besetzte er mehr und mehr die wichtigsten Schlüsselstellungen in Partei und Staat mit den Angehörigen seiner Familie. Rumänien, so schien es in den ausgehenden siebziger Jahren, war eine Art Privatbesitz des Ceauşescu-Clans. Die Breshnew-Führung griff, um dieser nationalen Politik und ihren möglichen Weiterungen entgegenzuwirken, auf die beiden supranationalen Institutionen zurück, den RGW und die Warschauer-Pakt-Organisation. Doch wie schon in den Verhandlungen über die weitere Integration der RGW-Staaten auf wirtschaftlichem Gebiet verstanden es die Rumänen auch, sich den sowjetischen Forderungen, supranationale politische und militärische Koordinationsinstitutionen der Mitgliedsländer zu errichten (die faktisch als Leitungsinstrumente fungiert hätten), zu entziehen, indem sie sich auf das Prinzip der »Partnerschaft« beriefen, das auf Chruschtschow zurückging. Trotz der vielfältigen bi- und multinationalen Beratungen und Konferenzen der Jahre 1965/66 kamen die Integrationsbestrebungen der Sowjetunion weder im wirtschaftlichen noch im politisch-militärischen Bereich voran. Vergebens blieben die sowjetischen Beschwörungen, die Geschlossenheit und Aktionsfähigkeit des »sozialistischen Lagers« angesichts seiner »Bedrohung« durch die NATO durch Schaffung zentraler Organe zu verstärken: Nicht die Erhöhung des militärischen Potentials, sondern weltweite Abrüstung, Auflösung der Militärblöcke und Truppenabzug von fremden Territorien seien zur internationalen Friedenssicherung notwendig, konterten die Rumänen, deren Argumentation nicht nur ihrem Eigeninteresse entsprach, sondern sich auch mit den Forderungen der Führer der »Dritten Welt« deckte. Eine derart hartnäckige Obstruktion gegen die politischen Ziele der Hegemonialmacht war risikoreich, aber von Bukarest wohl kalkuliert. Denn in den multinationalen Gremien des RGW und der Warschauer- Pakt-Organisation konnten sich die rumänischen Vertreter der Sympathie und auch der partiellen Unterstützung anderer Mitgliedsländer sicher sein, deren Interesse nicht eben in einer Institutionalisierung des sowjetischen Führungsanspruchs lag. Auch kam Rumänien zugute, daß es enge Kontakte zu den Ländern der »Dritten Welt« gewonnen hatte – nicht zuletzt in der Diskussion so zentraler Fragen wie
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nationale Souveränität und internationale Friedenssicherung. Zudem hatte die rumänische Führung gute Beziehungen zu Jugoslawien entwickelt und erfreute sich auch in Peking, zum Teil ob seiner Mittlerstellung im sowjetischchinesischen Konflikt, erheblichen Ansehens. So verbot sich, solange Rumänien seinen Verpflichtungen im Rahmen der Verträge nachkam und die Herrschaft der rumänischen KP so stabil blieb, eine gewaltsame Disziplinierung des rumänischen Nationalkommunismus gleichsam von selbst: Die internationalen Auswirkungen mußten den Nutzen einer derartigen Aktion bei weitem übersteigen. Moskaus mühsam erworbenes Prestige hätte, besonders in der umworbenen »Dritten Welt«, einen Schaden erlitten, dessen Ausmaß nicht abzuschätzen war, und die Erfolge der außenpolitischen Bemühungen des letzten Dezenniums wären in Frage gestellt worden. Die sowjetische Führung begnügte sich damit, die Integration mit den kooperationsbereiten RGW-Mitgliedern voranzutreiben. Der Außenseiter Rumänien bekam dies zu spüren, wenn auch der Rückgang des Anteils der RGW-Länder am rumänischen Außenhandel – er sank von 72% im Jahre 1960 auf 47% im Jahr 1967 – nicht allein auf restriktive Maßnahmen der RGW-Partner (so wurden die langfristigen Liefer- und Abnahmevereinbarungen durch die Sowjetunion nicht eingehalten) zurückzuführen ist. Rumänien bemühte sich intensiv, neue Märkte zu gewinnen, vor allem in den Entwicklungsländern. Allein der Kapitalbedarf für das Industrialisierungsprogramm war dadurch ebensowenig zu decken, wie das technologische Defizit des Landes auszugleichen war. Hierzu bedurfte das Land der Hilfe der westlichen Industrienationen, unter denen der Bundesrepublik Deutschland eine Schlüsselrolle zukam. Nachdem die Bonner Große Koalition des Jahres 1966 einen Sinneswandel in der Ostpolitik signalisierte, nahm Bukarest Kontakt auf, und trotz der eindringlichen Warnungen aus Moskau, Ost-Berlin und Warschau wurden am 31. Januar 1967 die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten aufgenommen. Gegen die heftige Kritik der Sowjetunion führte Bukarest ins Feld, daß Moskau ja bereits 1955 Rumänien mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Bonn vorangegangen sei, auch berief es sich auf die Tagung des Beratenden Politischen Ausschusses der Warschauer-PaktOrganisation vom Juli 1966, auf der die Sowjetunion den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt hatte, bilaterale Beziehungen zu allen europäischen Staaten aufzunehmen. Da auch Ungarn, Bulgarien und die ČSSR Neigung zeigten, dem rumänischen Beispiel zu folgen, nahm im Frühjahr 1968 der Druck der Sowjetunion, unterstützt von der DDR und Polen, besorgniserregend zu. Die Ereignisse in der ČSSR jedoch verschafften der rumänischen Führung eine Atempause. Das demonstrative nationale Selbstbewußtsein der Rumänen ist nicht ohne Auswirkungen auf andere RGW-Länder geblieben. So fanden sich in Bulgarien, das als allzeit getreuer Gefolgsmann der Sowjetunion galt, Anfang 1965 nationalkommunistische Generäle und Funktionäre zusammen, den Moskauer
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Wünschen gegenüber allzu willfährigen Shiwkow zu stürzen. Zwar gelang es den Sowjets, dem Aufstand zuvorzukommen und die Verschwörer zu verhaften, doch gewannen ihre Beobachter den Eindruck, daß Zugeständnisse an das Nationalgefühl der Bevölkerung unerläßlich seien. Die bulgarische Parteiführung ließ es sich daher angelegen sein, einem »sozialistischen Patriotismus« den Weg freizugeben, in dessen Gefolge dann auch großbulgarische Tendenzen aufkamen. Gleichzeitig konnte Shiwkow sein angeschlagenes Image durch außenpolitische Aktivitäten aufbessern: Ihm wurde eine Mittlerfunktion im sowjetisch-rumänischen Streit übertragen. Die häufigen Spitzenkonsultationen zwischen Sofia und Bukarest haben eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den Balkanstaaten herbeigeführt, den Dissens in Grundsatzfragen – China-Politik, Integration im Rahmen des RGW und der Warschauer-Pakt-Organisation, Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland – allerdings nicht beseitigt. Auch das Verhältnis zu Jugoslawien verbesserte sich; im September 1965 kam Tito einer Einladung nach Sofia nach, selbst im Streit um Makedonien schienen sich neue Wege abzuzeichnen. Es dürften die Kontakte zu Jugoslawien gewesen sein, die Breshnew zum Einschreiten bewogen. Wenige Tage vor Titos Besuch war er selbst nach Sofia gereist, um der Gefahr einer rumänisch-bulgarischjugoslawischen Zusammenarbeit vorzubeugen. Shiwkow schwenkte erneut auf die sowjetische Linie ein und befleißigte sich, seine Ergebenheit und Treue zur Sowjetunion unter Beweis zu stellen. In Ungarn gelang es Kádár bald, den Argwohn Moskaus, das Land könne mit dem rumänischen Nationalismus infiziert werden, zu zerstreuen. Er mußte zwar, sowjetischem Vorbild folgend, sich auf die Parteiführung beschränken – das Amt des Ministerpräsidenten gab er im Juni 1965 ab –, aber durch seine entschiedene Unterstützung der sowjetischen Politik in allen wichtigen Fragen – in der UNO, im Konflikt mit China u.a.m. – konnte er seinem Lande einen gewissen innenpolitischen Freiraum schaffen, den er nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, mit der Einführung des »Neuen ökonomischen Mechanismus«, zu einer vorsichtigen Liberalisierung zu nutzen verstand. Dieser Prozeß ist nicht ohne Störungen von Dogmatikern wie auch von allzu eilig auf eine Demokratisierung Drängenden verlaufen; er hat aber dem Lande und seiner Bevölkerung insgesamt ein relativ hohes Maß an Freiheit gebracht. Und er hat dadurch zu einer Reduzierung der gesellschaftlichen Konflikte und, letztendlich, zur Stabilität des Regimes beigetragen. Die DDR stellte die sowjetische Führung vor keinerlei Probleme. Sie war auf die sowjetische Unterstützung angewiesen, ihr Wohlverhalten war existentiell begründet. Zwar ist auch hier im Gefolge des wiedererstandenen Nationalgedankens in den RGW-Ländern ein »sozialistischer Patriotismus« entstanden, der in den siebziger Jahren zu einer bemerkenswerten Identifikation mit den »fortschrittlichen Traditionen« des ehemaligen preußischen Staates geführt hat, doch hat er sich nicht gegen die sowjetische Hegemonie gerichtet.
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Die DDR-Führung hat sich in konsequenter Ausrichtung auf Moskau stets als zuverlässigste Stütze der Sowjetunion unter den RGW- Ländern erwiesen; ihr zunehmender Einfluß als eine Art Juniorpartner der UdSSR ist letztlich – so wichtig die Wirtschaftskraft des Landes ist – auch eine Honorierung dieser Politik durch die sowjetische Führung. In Polen hatte das Bukarester Beispiel die Gruppe der sogenannten »Partisanen« um Innenminister Moczar zu einer nationalen Politik stimuliert, für die sie in dem traditionell nationalbewußten Lande auf breite Unterstützung rechnen konnte. Um einer der rumänischen analogen Entwicklung in diesem, für die Behauptung des mitteleuropäischen Glacis so wichtigen Lande vorzubeugen, suchte Moskau die Position des hart bedrängten Gomułka zielstrebig zu stärken. Der Parteichef, dessen Rückkehr zur Macht 1956 begeistert begrüßt worden war, hatte mehr und mehr den Rückhalt in der Bevölkerung verloren; die Spannungen im Verhältnis zur katholischen Kirche wie auch die Restriktionen seiner Kulturpolitik, die ihm die Intelligenzschicht entfremdet hatte, ließen die Opposition wachsen. Auch in den breiten Kreisen der Partei war seine Autorität geschwunden, neben den »Partisanen« waren es die »Technokraten« um Edward Gierek, die ihm eine verfehlte Wirtschaftspolitik anlasteten. Ihrer Kritik wurde mit einer massiven Ausweitung des sowjetisch-polnischen Handels – das Abkommen vom November 1966 sah für die Jahre 1966–1970 eine Steigerung von 63%, d.h. jährlich über 15% vor – begegnet. Um zumindest sein Prestige in der Partei zu erhöhen, zog ihn die sowjetische Führung demonstrativ in wichtigen Fragen zu Rate. Als Moczar den israelischen »Sechstagekrieg« zum Anlaß nahm, um durch eine »antizionistische« Kampagne im Frühjahr und Sommer 1968 einige von jüdischen Funktionären besetzte Positionen in seine Hand zu bringen, konnte sich Gomułka endlich dieses Gegenspielers entledigen: Moczar wurde auf dem V. Parteitag der PZPR im November 1968 entmachtet; im Dezember 1971 mußte er dann endgültig von der politischen Bühne abtreten. Das Erstarken Gomułkas, der sich in der noch immer offenen Frage der »wiedergewonnenen Westgebiete« auf die Sowjetunion angewiesen sah, aber bot der sowjetischen Führung Gewähr für die Loyalität Polens. In der ČSSR war der Altstalinist Novotný, der Chruschtschows Versuche einer Neuorientierung im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich mit Mißbehagen verfolgt hatte, zwar Garant für die sowjetische Hegemonie, allein die in Prinzipienfestigkeit erstarrte Prager Führung zeigte sich unfähig, den gewandelten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Erst 1963 hatte sie, massivem sowjetischen und innerem Druck nachgebend, sich zu einer kargen »Entstalinisierung« bereit gefunden. Dabei wurden auch der Intelligenz des Landes einige Konzessionen gemacht, die sich in der Folge höchst negativ für das Regime auswirkten: Aus kritischer Intelligenz, unzufriedener Arbeiterschaft und reformbereiten Parteifunktionären erwuchs ihm eine Gegenkraft, die schließlich zum Kollaps des gesamten Systems führte. Die parteiinterne Opposition formierte sich vor allem in der Slowakei. Sie forderte nicht nur eine
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Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus – sowohl Clementis wie Slanský waren Slowaken gewesen –, sondern auch einen Abbau des Prager Zentralismus, der die Belange der Slowakei sträflich vernachlässigt hatte. Dieser wiedererwachende slowakische Nationalismus, der schließlich zu föderativen Forderungen führte, verband sich mit der allgemeinen Kritik an der Wirtschaftspolitik Prags. Notwendige Investitionen waren unterblieben, die Produktionsanlagen überaltert, eine Modernisierung auch des Leitungsapparates dringend erforderlich. Während aber Ulbricht, dem gewiß keine Neuerungssucht nachgesagt werden kann, aus dem Absinken der wirtschaftlichen Zuwachsraten Anfang der sechziger Jahre rasche Konsequenzen zog, verzögerte die Prager Führung die notwendigen Reformen: Zwar wurden sie nach einem von tschechoslowakischen Nationalökonomen schon 1963 entwickelten Programm 1964 beschlossen, doch Novotný schob ihre Inkraftsetzung bis zum Beginn des Jahres 1967 hinaus – nicht ohne daran Abstriche vorzunehmen. Mitte 1965 allerdings wurde die Wirtschaftskrise unübersehbar, die Mißernte dieses Jahres verschärfte die schwierige Lage des Landes zusätzlich. Novotný blieb nur der bittere Bittgang nach Moskau. Hier fand er zwar Hilfe, mußte aber nicht nur wirtschaftlich einen hohen Preis dafür zahlen, sondern auch politisches Wohlverhalten bezeugen. Wie Bulgarien, das zur gleichen Zeit von Breshnew in die Pflicht genommen wurde, hatte auch die ČSSR gegen »Westorientierung«, Nationalismus und Maoismus Stellung zu beziehen. Da diese Moskauhörigkeit im Lande auf Kritik stieß – nicht zu Unrecht sah man die tieferen Gründe der Krise in einer Willfährigkeit gegenüber sowjetischen Zielvorstellungen, die die Interessen des eigenen Landes hintangesetzt hatte –, suchte er ihr durch eine restaurative Innenpolitik entgegenzuwirken, die dem Regime die offene Opposition der Intelligenz einbrachte. Mit den Herrschaftspraktiken des Stalinismus aber war der Krise des Systems nicht mehr zu steuern. Sein Autoritätsverfall wurde im Verlaufe des Jahres 1967 unübersehbar. Der Prager Schriftstellerkongreß Ende Juni geriet zu einer schonungslosen Abrechnung mit den vielfältigen Fehlleistungen der Novotný-Führung, und das düstere Bild, das er von der Lage des Landes entwarf, entsprach zu sehr der Wirklichkeit, als daß die Repressionen der Parteiführung gegen ihre schärfsten Kritiker noch hätten fruchten können. Der Unmut in Partei und Bevölkerung wuchs so stark, daß Breshnew, von Beobachtern alarmiert, im Dezember selbst nach Prag kam. Angesichts des desolaten Zustandes des Parteiapparates und der Unfähigkeit seiner Führung aber versagte er Novotný die erhoffte Unterstützung. Dessen Tage als Erster Sekretär des ZK der KPČ waren damit gezählt: Am 5. Januar 1968 wurde Alexander Dubček sein Nachfolger, und Ende März verlor er auch das Amt des Staatspräsidenten. Auf den slowakischen Parteiführer richteten sich nun die Hoffnungen des Landes. Auch Breshnew, der ihn auf seinem Rückweg von Prag im Dezember in Preßburg gesprochen hatte, begrüßte seine Wahl. Man erwartete in Moskau, daß der Slowake Partei und Staat konsolidieren und die notwendigen Reformen durchführen werde. Dubček, ein der Sache des
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Kommunismus ergebener Mann, fand mit seinem Programm breite Zustimmung, wenn er formulierte: »Die Partei ist für das arbeitende Volk da, sie hat weder oberhalb noch außerhalb der Gesellschaft zu stehen ... Demokratie bedeutet nicht nur das Recht und die Möglichkeit, seine Meinung auszudrücken, sondern auch die Berücksichtigung dieser Meinung durch die Regierenden ...«37 Wie ernst es ihm mit der Freiheit der Meinungsäußerung war, zeigte er mit der Abschaffung der Vorzensur. Doch dieses Bemühen, das gesellschaftliche Leben zu demokratisieren, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten zu schließen, setzte eine ausführliche Diskussion sowohl innerhalb der Partei wie auch mit der Gesellschaft selbst voraus. Die Politisierung der Gesellschaft aber entwickelte eine eigene Dynamik, die auch vor den Grundprinzipien kommunistischer Herrschaft nicht haltmachte. Im Taumel der Erneuerung gerieten besonders die Prager Intellektuellen mehr und mehr in Gefahr, die Grenzen außer acht zu lassen, die ihrem Lande durch die Machtinteressen der Sowjetunion gezogen waren. Dubček, ein Mann der Mitte, wurde durch den Enthusiasmus der Reformer mehr und mehr in die Rolle einer bloßen Gallionsfigur der nationalen Erneuerungsbewegung gedrängt, in deren Verlauf die nationalen und demokratischen Traditionen der Tschechoslowakei zunehmend an Einfluß auf die öffentliche Meinung gewannen. Seine Bemühungen, die verschiedenen politischen Kräfte zu integrieren, schlugen fehl. Statt dessen nahm die Polarisierung innerhalb der Führungskader der Partei zu, wobei die Radikalisierung der Reformer auch eher gemäßigte Kräfte den Konservativen zutrieb. Die Nachbarstaaten der ČSSR haben diese Entwicklung schon frühzeitig mit Argwohn betrachtet. Ulbricht und Gomułka sparten nicht mit kritischen Ermahnungen an die Adresse der tschechoslowakischen Genossen – wozu sie wohl auch die Befürchtung trieb, daß sich auf Dauer ein Übergreifen der Demokratisierungsbewegung auf die eigene Intelligenz nicht ausschließen ließ (mit der ja besonders der polnische Parteiführer seine Schwierigkeiten hatte). Die sowjetische Führung hielt sich anfangs mit Stellungnahmen zurück. Erst im März/April begann man in Moskau zu besorgen, die Reformbewegung könne einen unerwünschten Verlauf nehmen. Anfang Mai berieten sich Breshnew, Ulbricht, Gomułka, Kádár und Shiwkow – die »Warschauer Fünf« – in der polnischen Hauptstadt; die Nichteinladung Dubčeks war ein deutliches Zeichen des Mißtrauens und der Isolierung, in die die ČSSR-Führung inzwischen geraten war. Als die sowjetischen Versuche, Prag zu einem gütlichen Einlenken auf die Moskauer Linie zu bewegen, im Mai scheiterten, traf die sowjetische Führung Vorkehrung für den Fall einer gewaltsamen Lösung. Eine der rumänischen – oder gar jugoslawischen – ähnliche Entwicklung in der ČSSR hinzunehmen, war sie nicht bereit. Dadurch wäre nicht nur die strategische Verbindung zwischen dem balkanischen und ostmitteleuropäischen Vorfeld der Sowjetunion und die wirtschaftliche Zielsetzung der RGW-Länder gefährdet worden, sondern die sowjetische Hegemonie in ihrem gesamten, nach 1945 gewonnenen europäischen
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Einflußgebiet. So verlegte Moskau – mit dem Einverständnis Prags – die vereinbarten Manöver sowjetischer und tschechoslowakischer Truppen auf den Juni vor; am 30. Mai rückten die ersten sowjetischen Kontingente in die ČSSR ein. Noch während des Manövers, das die sowjetische Macht und ihre Interessen so nachdrücklich vor Augen führte, erschien in Prag das »Manifest der 2000 Worte« – eine scharfe Anklage kommunistischer Herrschaftspraxis. Obwohl Dubček es auf Moskaus Beschwerde hin sogleich verbot, mobilisierte es die antisowjetischen und antikommunistischen Kräfte des Landes in einem Ausmaß, das die »Warschauer Fünf« in der Auffassung bestärkte, die KPC habe die Kontrolle über die Entwicklung verloren. Ihre Mahnungen, den »gemeinsamen Interessen« des »sozialistischen Lagers« eingedenk zu sein, häuften sich – nur Jugoslawien und Rumänien sprachen sich für das Selbstbestimmungsrecht der ČSSR aus. Ende Juli trafen sich die tschechoslowakische und die sowjetische Führung noch einmal zu einem eingehenden Gespräch in Čierna nad Tisou, daran schloß sich eine Beratung mit den »Warschauer Fünf« in Preßburg an. Es schien, als sei es der KPC-Führung in diesen Verhandlungen gelungen, gegen entsprechende Zusagen die Bedenken der Partner zu beschwichtigen. Doch Dubček hatte seine Möglichkeiten überschätzt. Es gelang ihm nicht, die Medien zu disziplinieren; Titos und Ceauşescus Besuche in Prag verstärkten nur die nationalen Emotionen. Als gar die Wahlen für den Parteitag eine breite Majorität für die Reformer brachten, wurde klar, daß die in Čierna nad Tisou getroffenen Abmachungen nicht eingehalten würden. So entschloß sich die sowjetische Führung zur Intervention als ultima ratio. Sie war wohlvorbereitet, durch einen »Hilferuf« moskautreuer Funktionäre legitimiert, und verlief präzis nach Plan. Auch war es dank der Beteiligung polnischer, ungarischer, bulgarischer und DDR-Truppen keine einseitig sowjetische Aktion, wie dies 1956 in Ungarn der Fall gewesen war. Und mehr als passiver Widerstand störte die Besetzung des Landes nicht, die in der Nacht vom 20. zum 21. August begann; ein blutiger Kampf konnte dank der Besonnenheit der Bevölkerung, die die Vergeblichkeit des ungarischen Widerstandes vor Augen hatte, vermieden werden. Dennoch war der politische Schaden hoch. Daß die öffentliche Meinung der westlichen Nationen die Intervention verdammen würde, hatte man bei der Risikoabwägung zweifellos in Betracht gezogen, ebenso die zu erwartende Schelte aus Peking und Tirana, wohl auch Kritik aus Belgrad und Bukarest. Die weltweite Verurteilung der Gewaltanwendung als eine flagrante Verletzung der Prinzipien der UNO erregte aber ebenso wie die heftigen Reaktionen westeuropäischer Kommunisten Betroffenheit – sie scheint in den Auseinandersetzungen in der sowjetischen Parteispitze in der Folgezeit weitergewirkt zu haben. Und auch in dem besetzten Lande erwuchsen den Okkupanten Schwierigkeiten. Noch während der Intervention hatte in einem Prager Industriebetrieb der XIV. Parteitag der KPC getagt, der die Verlogenheit des »Hilferufes« entlarvte und den gewaltlosen Widerstand bestärkte; die
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Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf, Presse und Rundfunk arbeiteten im Untergrund weiter. Den Kollaborateuren gelang es auch trotz sowjetischen Druckes nicht, eine moskautreue Regierung zu bilden – die Okkupation begegnete der geschlossenen Ablehnung der Bevölkerung. So blieb nur, sich mit ihren legitimen Führern auseinanderzusetzen. Vom 23. bis 26. August währten die Verhandlungen in Moskau, zu denen dank der Standhaftigkeit des Staatspräsidenten der ČSSR, Ludvík Svoboda, schließlich auch die zwischenzeitlich verhafteten Reformer mit herangezogen wurden. Ihnen blieb, wollten sie ihrem Lande ein Schicksal wie das ungarische ersparen, nur die Annahme der sowjetischen Forderungen, d.h. Rücknahme der Reformen und Akzeptierung der Stationierung sowjetischer Truppen auf dem Territorium der ČSSR, ferner die Verpflichtung zu engeren Bindungen innerhalb des Warschauer Paktes und zur KPdSU. Doch der geforderte »Normalisierungsprozeß« in der ČSSR erwies sich als schwierig. Antisowjetische Demonstrationen im Oktober und November ließen einen Teil der Prager Führung weitere sowjetische Eingriffe befürchten, und so suchte eine Funktionärsgruppe um Gustav Husák selbst die geforderten innenpolitischen Maßnahmen vorzunehmen. Dabei war es unausbleiblich, die Reformer, die gleichsam die nationalen Wünsche und Hoffnungen verkörperten, aus ihren Funktionen zu entfernen und ihre Autorität zu zerstören. Als es Ende März 1969 aus Anlaß des Eishockey-Triumphes über die UdSSR bei den Freudenfeiern auch zu – geringfügigen – Ausschreitungen kam, nutzten die Sowjets dies, um Dubček und seine noch verbliebenen Gefolgsleute endlich ihrer Funktionen zu entkleiden: Auf der Sitzung des ZK am 17. April wurde Husák Erster Parteisekretär. Er hat es in der Folgezeit verstanden, unter Absage an die Reformen und voller Wahrung der sowjetischen Interessen seinem Lande einen gewissen nationalen Spielraum zu schaffen. Hierfür waren Säuberungen der Partei, im Staatsapparat und der Armee unerläßliche Disziplinierungsmaßnahmen; daß sie, an den Vorstellungen der Altstalinisten gemessen, nicht allzu drastisch ausfielen, dürfte auch den Intentionen der sowjetischen Führung entsprochen haben, der an einer möglichst reibungslosen, Aufsehen vermeidenden Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft im Lande gelegen war. Die Entwicklung der ČSSR während des Jahres 1968 hat die Beziehungen der Sowjetunion zu Rumänien und Jugoslawien schwer belastet. Dies kam besonders im Verhältnis zu Jugoslawien zum Ausdruck – die sowjetisch-rumänischen Beziehungen waren ja ob der nationalen Politik Ceauşescus ohnehin gespannt, sie wurden durch seine Verurteilung der Intervention in der CSSR (an der sich Rumänien als einziges Mitgliedsland des Warschauer Paktes nicht beteiligt hatte) und die darauf folgende sowjetische Drohgebärde einer unmißverständlichen sowjetisch- bulgarischen Truppenkonzentration an der rumänischen Grenze nur noch mehr belastet. Gerade Tito gegenüber hatte sich jedoch die BreshnewFührung bemüht, die Verbindungen enger zu gestalten und den Senior unter den kommunistischen Führern, dessen Stimme auch durch sein Ansehen in der
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Dritten Welt von Gewicht war, dem »sozialistischen Lager« zurückzugewinnen. Moskau kam Belgrad dabei entgegen: Die Ausweitung des beiderseitigen Handels im Vertrag vom November 1964 und das langfristige Abkommen des Jahres 1965 halfen Jugoslawien bei der Überwindung der akuten wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Eine weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der weltpolitischen Fragen wurde bei den intensiven Kontakten sichtbar. Als jedoch Anfang Juli 1966 der moskauorientierte jugoslawische Geheimdienstchef Aleksandar Ranković mit der Beschuldigung, im Auftrag der Sowjetunion subversiv die Interessen Jugoslawiens geschädigt zu haben, gestürzt wurde, führte dies zu einer spürbaren Abkühlung. Die jugoslawische Parteireform, die eine »Entpersonalisierung« der Herrschaftsausübung durch ein rollierendes System in der Funktionsausübung zum Ziel hatte, sah Moskau mit Mißtrauen, doch schon 1967 zeichnete sich eine neuerliche Annäherung ab. Tito nahm an zwei kommunistischen Gipfeltreffen teil, und im Nahost-Konflikt dieses Jahres teilte er die Moskauer Ansichten. Als er gegen die allzu liberale Zeitschrift »Praxis«, deren Ideologiekritik Moskau schon lange ein Dorn im Auge gewesen war, vorgehen ließ, auch in dem innerjugoslawischen Nationalitätenkonflikt eine harte Hand bewies, schien das gute Einvernehmen wiederhergestellt – selbst die Unterdrückung der schweren Studentenunruhen vom Juni 1968 fand Moskaus Zustimmung. Dabei war das Verhältnis beider Staaten schon seit März durch die nationale Entwicklung in der ČSSR ernsthaft gestört, für die die Sowjetunion Jugoslawien mitverantwortlich machte. Tito, der eigentliche Wegbereiter eines nationalen Kommunismus, ließ sich durch die sich steigernden Angriffe nicht zurückhalten; er hat massiv für die tschechoslowakischen Reformer Stellung genommen, in den kritischen Tagen des August seine Unterstützung noch durch einen Besuch in Prag manifestiert. Seine scharfe Verurteilung der Intervention wurde von der Sowjetunion mit einer extrem scharfen Pressekampagne gegen Jugoslawien als Hort des »Revisionismus« und Nationalismus beantwortet, der sich auch die Verbündeten Moskaus anschlössen. Auf dem Höhepunkt der Krise, Ende August/Anfang September, schien sogar eine Intervention sowjetischer Truppen in Jugoslawien zu drohen. Es war vor allem die zur Begründung der Intervention in der ČSSR aufgestellte sowjetische These von der »begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten«, die sogenannte Breshnew-Doktrin, die Tito beunruhigte. Die »internationale Pflicht der Kommunisten«, so besagt sie, gebiete ein – notfalls auch militärisches – Eingreifen, wann immer in einem kommunistisch beherrschten Lande der »Sozialismus« bedroht sei; denn dadurch werde das gesamte »sozialistische Lager« geschwächt: » ... wenn innere und äußere, dem Sozialismus feindliche Kräfte die Entwicklung eines sozialistischen Landes umzukehren und auf die Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse zu drängen versuchen, wenn also eine Gefahr für den Sozialismus in diesem Lande, eine Gefahr für die Sicherheit der ganzen sozialistischen Gemeinschaft entsteht,
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dann wird dies nicht nur zu einem Problem für das Volk dieses Landes, sondern auch zu einem gemeinsamen Problem, zu einer Sache der Sorge aller sozialistischen Länder«, formulierte die sowjetische Parteizeitung38. Es versteht sich von selbst, daß die Entscheidung, wann eine Intervention erforderlich sei, der sowjetischen Führung zukommt. Da es eine Ermessensfrage ist, wann und durch welche sozialen und politischen Prozesse diese von Moskau dekretierte Solidargemeinschaft »bedroht« ist, besitzt die sowjetische Führung praktisch eine Blankovollmacht, jederzeit gegen alle ihr mißliebigen Entwicklungen in ihrem Einflußbereich vorzugehen. Die so statuierte Irreversibilität der »sozialistischen« Revolution war in der Krise des Jahres 1968 wohl primär als Legitimation der Intervention gedacht. Mit dem Rekurs auf den »proletarischen Internationalismus« aber schuf man sich damit auch ein Instrument der Machtbewahrung gegen die nationalkommunistische Bewegung. Langfristig und im Konnex mit der »internationalen Pflicht der Kommunisten«, die »sozialistischen Kräfte« weltweit nach Kräften zu fördern, gesehen, wurde hier, während man der übrigen Welt gegenüber »Entspannung« vorgab, nicht nur das alte weltrevolutionäre Ziel bekräftigt: jede Selbstbefreiung eines sozialistischen Landes wird unterdrückt, sondern gleichzeitig auch darauf hingearbeitet, immer mehr Staaten dem »sozialistischen Lager« einzuverleiben. Obwohl Breshnew im November 1968 den Gültigkeitsbereich der »Doktrin« auf die Warschauer-Pakt- Staaten begrenzte, zeigte sich Belgrad weiterhin besorgt, wozu die Manöver in Ungarn und Bulgarien, die in dieser gespannten Lage als Demonstrationen der militärischen Macht aufgefaßt werden mußten, und die andauernden, gegen Tito gerichteten Aktivitäten moskautreuer jugoslawischer Kommunisten im sowjetischen Exil beitrugen. Da auch die wirtschaftliche Lage Jugoslawiens durch die hohe Inflationsrate wieder schwierig wurde, suchte Belgrad die Kontakte zu den USA und China zu verbessern. Der Besuch Präsident Nixons im Oktober 1970 in Belgrad zeigte denn auch ein verstärktes amerikanisches Engagement auf dem Balkan, wie sich auch China bemühte, Jugoslawien in seiner Selbständigkeit zu unterstützen. Der Kommunist Tito verstand es mit diesen taktischen Zügen, die sowjetischen Pressionen erfolgreich zu konterkarieren; das Ärgernis eines unabhängigen Jugoslawiens, das sich seinen eigenen Weg als sozialistischer Staat suchte, bestand fort. Dabei hat die jugoslawische Führung sich durchaus bereit gezeigt, als souveräner Staat nach Maßgabe der eigenen, nationalen Interessen mit den RGW-Staaten zusammenzuarbeiten. Besonders im Rahmen des RGW wurden die wirtschaftlichen Beziehungen trotz der politischen Differenzen ausgebaut – für Jugoslawien bildeten die RGW-Länder einen willkommenen Markt. Moskau andererseits war daran gelegen, Tito nicht in das gegnerische Lager abgleiten zu lassen. So hat es während der schweren inneren Krise des Landes, die durch das Vorgehen Titos gegen die kroatische Parteiorganisation Ende 1971 ausgelöst wurde, sich wohlwollend verhalten und auch Bulgarien angehalten, den
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jugoslawischen Nationalitätenkonflikt nicht makedonischen Frage noch weiter anzuheizen.
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Schüren
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c) Im Zeichen der »Entspannung« Die Ereignisse in der ČSSR im Jahre 1968 und der sich gleichzeitig zuspitzende Konflikt mit China veranlaßten die sowjetische Führung, ihre Bemühungen um eine Entlastung in Europa zu intensivieren, und die sich abzeichnende chinesisch-amerikanische Annäherung forcierte dieses Bestreben noch zusätzlich. Bei den westlichen Industrienationen hatte diese Politik der détente mehr und mehr Geneigtheit gefunden, schien sie doch auch geeignet, die rapid wachsenden Rüstungslasten abzubauen. Voraussetzung dafür war – auf beiden Seiten – die Sicherung des Besitzstandes, deren Kernproblem die Regelung der deutschen Frage bildete. Solange die Bundesrepublik Deutschland bei ausstehenden Friedensverträgen mit den ehemaligen Feindstaaten an ihrem Alleinvertretungsanspruch, der »Hallstein-Doktrin«, festhielt, war eine vertragliche Einigung über Entspannungs- und Abrüstungsmaßnahmen nicht möglich; militärische, wirtschaftliche und politisch-ideologische Gründe machten die Erhaltung und völkerrechtliche Anerkennung der DDR als eines souveränen sozialistischen Staates für die Sowjetunion zu einer conditio sine qua non. Die immer stärkere Verstrickung der USA in den Vietnam-Krieg aber ließ auch Washington nach einer Entlastung in Europa suchen, zugleich wuchs angesichts der Stabilisierung des SED-Regimes und der internationalen Entwicklung in Bonn die Überzeugung, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands in absehbarer Zeit eine Utopie bleiben mußte. Der Aufstieg der Bundesrepublik zum bevorzugten Handelspartner der RGW-Staaten förderte das Umdenken in Bonn zweifellos, und die »Große Koalition« hatte durch den Vertrag mit Rumänien bereits einen Sinneswandel signalisiert. Doch erst nach dem Regierungsantritt der sozial-liberalen Koalition im Oktober 1969 gelang der Durchbruch. Am 1. Dezember des Jahres fand in Moskau ein Gipfeltreffen der RGW-Staaten statt. Es dürfte der Information und der Koordination des weiteren Vorgehens gedient haben: Am 2. Dezember bot die Sowjetunion der Bonner Regierung die Aufnahme von Verhandlungen über die Normalisierung des beiderseitigen Verhältnisses an. Bereits Anfang 1970 begannen die vorbereitenden Gespräche in Moskau, schon am 12. August 1970 wurde der Vertrag von beiden Regierungen unterzeichnet. Damit war auch nach außen die sowjetische Führungsrolle im RGW-Bereich sehr deutlich herausgestellt. Der Weg für analoge Abkommen für die anderen RGW-Staaten war nun frei – sie folgten in kurzen Abständen. Mit den Ostverträgen der Bundesrepublik aber waren diejenigen Rechtsansprüche aufgehoben, die gegen den sowjetischen Besitzstand in Ostmitteleuropa noch hätten vorgebracht werden können. Die Erweiterung der Hegemonialsphäre der Sowjetunion nach dem Zweiten
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Weltkrieg war damit völkerrechtlich fixiert; die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO bekräftigte diese Regelung nur noch. Die Bereinigung der deutschen Frage öffnete den Weg zu gesamteuropäischen Verhandlungen. Breshnew hatte die »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) bereits im März 1969 erstmals angeregt, um den Staatsmännern und der erregten Öffentlichkeit des Westens nach der Intervention in der ČSSR eine Entspannungsbereitschaft der Sowjetunion anzuzeigen. Die Vorbereitungen der Konferenz waren schwierig, zumal auch die USA und Kanada – als außereuropäische NATO-Staaten – die Teilnahme beanspruchten. Moskau fand sich nur zögernd dazu bereit, doch konnte es damit die erwünschte Normalisierung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses voranbringen. Wie sehr Breshnew daran gelegen war, bewies der MoskauBesuch des ob seiner China- und Vietnam-Politik heftig angegriffenen Präsidenten Nixon im Mai 1972 – der freilich durch den Abschluß des sowjetisch-amerikanischen Handelsabkommens einen handfesten Nutzen einbrachte. Die Konferenz, die schließlich die Staatsmänner Europas (außer Hoxha) und Nordamerikas vom 3.–8. Juli 1973 in Helsinki vereinte, fand dann in den Genfer Experten-Verhandlungen und in vielfältigen bilateralen Gesprächen führender Politiker ihre Fortsetzung. Die unterschiedlichen Interessen waren nicht leicht zu vereinen. Lag der Sowjetunion an einer unumstößlichen Besitztumsgarantie, so beharrte der Westen auf einer verbindlichen Verpflichtung auf die Garantierung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten als Voraussetzung einer wirklichen Entspannung. Besonders die geforderte Informations- und Meinungsfreiheit stieß auf starken sowjetischen Widerstand, sah man hierin doch die Gefahr einer ideologischen Infiltration. Relativ einfach hingegen war der grundsätzliche Konsens in den wirtschaftlichen Fragen herzustellen: Alle RGW-Staaten suchten westliche Hilfe für die Durchführung ihrer Industrialisierungsprogramme, die Industrienationen des Westens konnten dieser Markterweiterung gern entgegenkommen. Sie zu bewegen, der Sowjetunion die Meistbegünstigungsklausel in den Handelsverträgen zuzugestehen, gelang den sowjetischen Vertretern allerdings nicht. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich bei der Realisierung dieses programmatischen Vertrages im einzelnen ergaben, hat dieser hart und zäh ausgehandelte Kompromiß zwischen den beiden Staatengruppen, der mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte durch 35 Staaten am 1. August 1975 in Helsinki fixiert wurde, die Lage entspannt, besonders in Mitteleuropa. Sie hat auch die von den NATO-Staaten seit 1968 geforderten Abrüstungsverhandlungen in gewissen Grenzen vorangebracht: 1972 führte SALT (Strategie Arms Limitation Talks) zu einem ersten Interimsabkommen, ein zweites, von der Regierung Carter vereinbartes scheiterte nach der sowjetischen Intervention in Afghanistan. Die seit 1974 in Wien geführten Gespräche über den Abbau der Streitkräfte und der Rüstung (MBFR) allerdings führten zu keinem
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Ergebnis. Das Mißtrauen auf beiden Seiten und die Sorge vor einer Übervorteilung waren ebenso groß wie die Gegensätze in der Beurteilung der einzelnen Faktoren, gemeinsame Kriterien ließen sich nicht finden. Die KSZE-Konferenz war ein Erfolg für ihren Initiator Breshnew. Sie hat seine Stellung sowohl im eigenen Lande wie auch gegenüber den anderen kommunistischen Parteien erheblich gestärkt, agierte doch die Sowjetunion ebenso sichtbar wie eindeutig als wortführende Vormacht der kommunistischen Staaten. Zwar war Breshnew schon im April 1966 – keine zwei Jahre nach seiner Amtsübernahme – vom XXIII. Parteikongreß der KPdSU der Titel eines Generalsekretärs der Partei verliehen worden, doch hatte dies vor allem parteiinterne Gründe. Daß die Meinung über die »richtige« politische Linie innerhalb der Führung der KPdSU nicht einhellig war, wurde bei der Beurteilung der tschechoslowakischen Reformbewegung 1968 deutlich. Die unterschiedlichen Positionen entsprangen dem sozialen Grunddilemma, das unter kommunistischer Herrschaft und ihrer Losung von der Diktatur des Proletariats eine erneute Zuspitzung erfahren hatte: Wo war die Grenze zwischen Freiheit und Reglementierung zu ziehen? Eine »harte« Gruppe, deren Führung dem Chefideologen der Partei, Suslow, zugeschrieben wird, machte die Politik der Partnerschaft, die Chruschtschow angestrebt hatte, für die Schwierigkeiten verantwortlich, die der Vormachtstellung der KPdSU aus dem Mitspracherecht der anderen kommunistischen Parteien und – innersowjetisch – aus dem Abbau des strikten Konformismus erwachsen waren. Fixiert auf den weltgeschichtlichen eschatologischen Anspruch der Sowjetunion drängte sie mit einer gewissen Militanz auf Wiederherstellung der Geschlossenheit der kommunistischen Weltbewegung unter sowjetischer Führung, auf Disziplinierung auch innerhalb der Sowjetunion. Ihr gegenüber stand eine Gruppe, die angesichts der Vielfalt und Vielschichtigkeit der Probleme, mit denen sich die Sowjetunion durch ihren Aufstieg zur zweiten Weltmacht konfrontiert sah, und der gleichfalls komplexen innersowjetischen sozioökonomischen Problematik eine flexiblere, »technokratische« Haltung einnahm und die pluralistischen Ansätze – sowohl hier wie dort – als Chance begriff, neue Kräfte zu mobilisieren, um effizienter, mit geringeren Friktionen die kommunistischen Zielvorstellungen zu verwirklichen. Zwischen diesen beiden (als Extrempositionen markierten) Gruppen, die keineswegs in sich geschlossen oder gar institutionalisiert waren, hat Breshnew offenbar eine vermittelnde Position eingenommen, aus der ihm eine Integrationsfunktion zuwuchs, die seinen Aufstieg zur zentralen Bezugsperson und überragenden Autorität ermöglichte, die das Land wie die Partei benötigten. Denn die ideologische Diversifizierung des Kommunismus als Folge von »Entstalinisierung« und Koexistenz-Streit hatte auch in der Sowjetunion ihre Spuren hinterlassen. Zwar sicherte das Informationsmonopol der Partei ihr die Beeinflussung der breiten Masse, aber die Intelligenzschicht besaß – darin auch begünstigt durch die zunehmenden Westkontakte – Zugang zu
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nichtkonformistischen, zumeist westlichen Informationen. Eine weitere, allgemein zugängliche Informationsquelle bildeten die offiziellen Medien selbst; die weitverbreitete Fähigkeit, »zwischen den Zeilen« zu lesen, ließ aus dem publizierten Material die Argumente der anderen Seite zumindest in ihren Umrissen erschließen. Bestand unter Chruschtschow trotz seiner gelegentlichen Schelte und der Repressalien gegen allzu vorwitzige Kritiker noch ein Konsens mit der auf einen Fortgang der Liberalisierung hoffenden intellektuellen Elite, so zerstörte sie die Teilrehabilitierung Stalins, die die Partei 1965/66 verfügte. Die Intervention in der ČSSR aber führte zu einem tiefen Dissens. Es entstand eine illegale Publizistik des »Samizdat« (Selbstverlag), in der die verschiedenen kritischen Positionen aufscheinen; trotz aller Gefährdung der daran Beteiligten bestand sie bis zum Anfang der achtziger Jahre fort. Die Regimekritik wies ein breites Spektrum der Themen wie der Meinungen auf, sie reichen von marxistischen, dem Eurokommunismus oder der Sozialdemokratie nahestehenden bis hin zu christlichen Standpunkten. Auch nationale Forderungen wurden artikuliert. Das Ausmaß dieser alternativen Bewegung ist schwer abzuschätzen, es dürfte sich dabei um kleine Zirkel handeln. Noch schwieriger ist ihre Wirkung zu beurteilen, denn die von ihr ausgehenden Anstöße und Anregungen sind kaum zu fassen. Sie waren jedoch Symptom eines sozialen Verantwortungsbewußtseins, das sich in Kenntnis des damit verbundenen Risikos – selbst für Leib und Leben – nicht scheute, die Fehler des Systems namhaft zu machen, in der schier wahnwitzigen Hoffnung, eine Humanisierung der Sowjetgesellschaft und eine Demokratisierung des Herrschaftssystems zu bewirken. Die Dissidentenbewegung erhielt durch die Beschlüsse von Helsinki, vor allem den sogenannten »Korb 3«, und die Folgekonferenzen in Belgrad (1977) und Madrid (1980), auf denen die westlichen Staaten die Repressalien gegen Dissidenten zur Sprache brachten, neue Kräfte. Erst zu Beginn der achtziger Jahre war es durch ein System feingestufter Repressionen – von offiziellem Tadel über Reglementierung und Ausweisung bis hin zur Inhaftierung in Zwangsarbeitslagern und der »Behandlung« in psychiatrischen »Kliniken« – gelungen, die öffentlichen Aktivitäten der Dissidentenbewegung wieder in Schranken zu halten. Auch die anderen RGWStaaten sahen sich von dieser Bewegung heimgesucht. Während sie im »liberalen« Ungarn Kádárs wenig Nährboden fand und Ceauşescu schon die Ansätze durch die allgegenwärtige Geheimpolizei unterdrücken ließ, das polnische Regime sich schon lange an eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz mit der kritischen Intelligenz gewöhnt hatte, reagierte die DDRFührung ebenso wie die Prager Parteispitze nervös. Besonders in Prag, wo sich in der Vorbereitungsphase der Belgrader KSZE-Nachfolgekonferenz die »Charta 77« formierte, wurden die Dissidenten unnachsichtig verfolgt. Das HusákRegime glaubte eingedenk der Entwicklung des Jahres 1968 sich keine Nachsicht gestatten zu dürfen. Das erzwungene Verstummen der Bewegung löst freilich
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das Problem nicht: Der Dissens könnte allenfalls aufgehoben werden, indem man seine Ursachen beseitigt. Der Dissentismus bildet jedoch nur das auffälligste Phänomen einer Entwicklung, die aus den Ansätzen der Chruschtschow-Zeit heraus in den siebziger Jahren eine Veränderung des geistigen Klimas in den RGW-Staaten bewirkte. Sie wies von Land zu Land Unterschiede auf, sowohl im zeitlichen Ablauf wie auch ihrer Intensität nach. In Rumänien fiel sie dem Konformitätszwang der nationalen Politik Ceauşescus zum Opfer, in Polen führte sie bis hin zur Emanzipation von Partei und Staat. Besonders in den breitenwirksamen Medien Literatur und Film vollzog sich eine zunehmend freimütigere Diskussion gesellschaftlicher Probleme, die ihren Autoren auch internationale Beachtung schuf. Der hier sichtbare Tabu-Abbau beschränkte sich jedoch nicht nur auf den kulturellen Bereich, sondern griff auch auf das Alltagsleben über: Die von Parteibeauftragten immer wieder beklagte »Westernisierung« war nur ein Symptom für eine zunehmende Pluralisierung der Verhaltensweisen. Diese Tendenz der Nutzung von Freiräumen als nichtsystemkonformes Verhalten ist durch die Selbstverantwortung, die das Prinzip der »materiellen Interessiertheit« dem einzelnen auferlegte, sicher verstärkt worden; sie war letztlich auch Ausdruck jener Mobilität, die eine moderne Industriegesellschaft voraussetzt, und weist trotz der sozialistischen Specifica analoge Züge zu den gesellschaftlichen Entwicklungen in den westlichen Industriestaaten auf. Der von Chruschtschow eingeleitete Prozeß, eine »sozialistische Partnerschaft« zwischen den kommunistischen Parteien und Staaten zu praktizieren, fand im Verhältnis Staat-Bürger eine Entsprechung und in der neuen Verfassung der UdSSR 1977 seine Fixierung: Der Untertan des Stalin-Systems wurde allmählich zum Bürger. Selbstverständlich war dies ein schwieriger, durch das Beharrungsvermögen der Apparate oftmals retardierter, ja gefährdeter Prozeß. Die Trennung von Partei und Staat hat dies wesentlich erleichtert, denn so konnte das zentrale Tabu erhalten werden: der absolute Führungsanspruch der kommunistischen Partei und ihrer herrschaftslegitimierenden Ideologie als einzige politische Kraft. Diese von Chruschtschow initiierte Entwicklung, die ganz wesentlich auf der Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit (»sozialistische Gesetzlichkeit«) beruht, ist unter Breshnew geduldet worden: Das neu gewonnene Selbstbewußtsein der Bürger korrespondierte mit einer machtvollen Selbsteinschätzung der Parteien im ungefährdeten Besitz der Herrschaft. Der KPdSU wuchs dies – trotz des Fehlschlagens der Bemühungen um die Restituierung einer monolithischen kommunistischen Weltbewegung unter ihrer Führung – neben der wachsenden eigenen militärischen Stärke auch aus dem Machtverfall ihres Gegenspielers zu, den die Krise des amerikanischen Selbstbewußtseins im Dissens der Gesellschaft über den Vietnam-Krieg mit sich brachte. An ihrer Selbstgewißheit aber partizipierten auch die anderen sowjetkonformen Parteien.
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Im Gegensatz zu den bewegten 50er und 60er Jahren ist die Entwicklung des folgenden Dezenniums durch eine gewisse Konstanz der politischen Leitlinien gekennzeichnet. Außenpolitisch entsprachen diese ganz den sowjetischen Vorstellungen: Man hielt an der bewährten Politik der Entspannung bei verstärkter ideologischer Aktivität in den »kapitalistischen« Ländern und Intensivierung der Expansionsbestrebungen in der Dritten Welt sowie konsequenter Stärkung des militärischen Potentials fest. Der Machtzuwachs, der dem »sozialistischen« Lager daraus insgesamt erwuchs, bestätigte die Richtigkeit dieser risikovermeidenden Konzeption. Allerdings hob der Abbau der Konfrontation mit den Westmächten auch jenen RGW-internen Solidarisierungszwang auf, den die gemeinsame Gefährdung durch den »Kapitalismus« – sei es instrumental, sei es funktional – bewirkt hatte, und gab so den Weg frei für eine Verfolgung und Durchsetzung nationaler Interessen. An diesem Partikularismus scheiterten die sowjetischen Integrationsbemühungen, soweit sie auf eine grundlegende institutionelle Reform des RGW zielten, auch weiterhin. So blieb statt der umfassenden Lösung nur die Politik der kleinen Schritte. Zwar hatten die sowjetischen Vertreter während der Beratungen des Rates 1968 erklärt, sie erachteten die Struktur des RGW bei pragmatischer Handhabung des vorhandenen Instrumentariums für ausreichend, doch diente dies der Beschwichtigung der durch die Intervention in der ČSSR beunruhigten Partnerländer. Schon auf der Moskauer Konferenz der Partei- und Regierungschefs der RGW-Staaten (23.–26. April 1969) wurde der programmatische Begriff der »sozialistischen Integration« eingeführt – ein Zeichen, daß Moskau auch weiterhin an seiner Zielsetzung festhielt. Ihr erwuchs jedoch mit der 1969 (die entsprechenden »nationalen« Entscheidungen folgten 1970) beschlossenen Intensivierung des RGWWesthandels ein unerwartetes Hindernis. Sie diente der vermehrten Einfuhr hochentwickelter Technologien aus den westlichen Industrieländern in Form von Maschinen und Ausrüstungen, aber auch Lizenzen, durch die die Modernisierung der Industrie beschleunigt werden sollte. Sie war dringend erforderlich geworden, da die Arbeitskräftereserven der RGW-Länder ausgeschöpft waren: Nur durch Rationalisierung ließ sich ein weiteres Wirtschaftswachstum verwirklichen, nur Importe konnten den schwach entwickelten Produktionszweigen aufhelfen. Dieser Modernisierungsschub ließ jedoch die nationalen Widerstände gegen die Integration, wie sie vor allem Rumänien formulierte, weiter wachsen: Die einzelnen Staaten tendierten zu einer Vernachlässigung des Intra-RGW-Handels zugunsten eines erhöhten Westhandels. Daran änderte auch die 1969 beschlossene Gründung der »Internationalen Investitionsbank« nichts, die 1971 ihre Tätigkeit aufnahm. »Berufen, die Entwicklung der sozialistischen Integration zu fördern«39, soll sie vor allem jene Unternehmungen kreditieren, die von supranationalem Interesse sind, doch hat sie zugleich die Aufgabe, frei konvertible Währungen für die Mitgliedsländer zu beschaffen, die für Technologie-Importe benötigt werden –
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sie ist also auch eine gewisse Kontrollinstanz, die jedoch für bilateralen Westhandel nicht zuständig ist. So mußten sich die Integrationsbemühungen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre weitgehend auf die Koordination des Intra-RGWHandels und der Wirtschaftsplanung beschränken. Die Bukarester Ratstagung vom Juli 1971 verabschiedete ein langfristiges »Komplexprogramm«, das die Entwicklung der nationalen Volkswirtschaften für einen Zeitraum von 20 Jahren aufeinander abstimmen sollte. Verstärkt wurde auch die Arbeit der Ständigen Kommissionen – ihre Zahl war bis 1971 auf 20 gestiegen –, die in der Folgezeit mit ihren Empfehlungen zu einer gewissen Spezialisierung und zur Kooperation in bestimmten Bereichen beigetragen haben. Allerdings ist die ohnehin schon schwerfällige Planungsapparatur dadurch noch komplexer, bürokratischer und unflexibler geworden – und damit die Produktion störungsanfälliger. Die Auswirkungen der drastischen Erhöhung der Erdölpreise des Jahres 1973 auf die westlichen Industrienationen schlug der Sowjetunion sehr zum Vorteil aus: Die anderen RGW-Staaten sahen sich angesichts des ohnehin vorhandenen Mangels an frei konvertierbarer Währung und ihrer zunehmenden Westverschuldung vermehrt auf die sowjetischen Rohstofflieferungen angewiesen. Dies war zu honorieren. So konnte die Moskauer Führung unter Berufung auf die Preissteigerungen am Weltmarkt und die ungarische Maxime der »Preiswahrheit« eine Revision des Preisbildungsmechanismus für den RGW durchsetzen; seither werden die Preise, orientiert am internationalen Markt, jährlich neu bestimmt – ihnen liegt der Durchschnitt der Weltmarktpreise der letzten fünf Jahre zugrunde. Den brennstoffarmen Ländern wie Ungarn, der DDR und Bulgarien erwuchsen daraus hohe Belastungen (innerhalb eines Jahres verteuerten sich ihre Erdölimporte um 130%). Das gesteigerte Gewicht des Wirtschaftsgiganten UdSSR zwang auch zu weiterem Entgegenkommen, wie etwa zur Annahme der Vorschläge einer verstärkten Koordination der Volkswirtschaftspläne für das Planjahrfünft 1976–1980. Die veränderten außenwirtschaftlichen Bedingungen innerhalb des RGW führten schließlich zu einer bedeutsamen Änderung: Der bis dahin faktisch nur als bilaterale Verrechnungseinheit fungierende sogenannte »transferable Rubel« wurde im RGW-Raum tatsächlich transferabel. Allerdings standen einer echten RGWBinnenmarktbildung auch weiterhin die nationalen Interessen am Westhandel und die verschiedenen Preisfestsetzungssysteme entgegen. Seit dem Jahre 1973 haben sich die zuständigen Gremien des RGW intensiv der Frage der Energieversorgung der Mitgliedsländer gewidmet, und man ist bei ihrer Lösung zu einem Verfahren gelangt, das bald auch bei anderen Projekten von gemeinsamer Bedeutung angewandt wurde. Um die hohen Kosten für die Erschließung neuer Vorkommen nicht über den Preis regulieren zu müssen, wurde eine Beteiligung der Abnehmerstaaten an diesen Arbeiten wie auch am Bau und am Betrieb der Energieleitungen vereinbart, zu denen sie mit der Gestellung von Kapital, Maschinen und Material sowie Arbeitskräften
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beizutragen hatten. Die Vorteile dieser »internationalen sozialistischen Zusammenarbeit« für die Sowjetunion – Entlastung des Kapital- und Arbeitskräftepotentials – haben tendenziell dazu geführt, daß die Sowjetunion diese Kooperation nach dem Modell der Energiebeschaffung in jüngster Zeit auch bei anderen Vorhaben durchzusetzen sucht, etwa bei den dringend erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Infrastruktur, eine notorische Schwachstelle des RGW-Wirtschaftssystems. So praktiziert man diese Zusammenarbeit mit anderen RGW-Partnern beim Bau des großen Fernstraßensystems. Als Begründung für diese Praxis bringt die Sowjetunion das gemeinsame Interesse, die »sozialistische Integration« und den Arbeitskräftemangel der UdSSR vor, doch sind seitens der Partnerländer Klagen gegen eine »Übervorteilung« laut geworden. Sie haben wenig Aussicht, in Moskau Gehör oder gar Beachtung zu finden, denn die grundlegenden Veränderungen der terms of trade während der siebziger Jahre haben die wirtschaftliche Hegemonie der Sowjetunion, die diese aufgrund ihrer Rohstoffund industriellen Kapazitäten besaß, noch erheblich verstärkt – damit aber auch die Immobilität und Reformfeindlichkeit des RGW. In den Unternehmen, die durch diese Zusammenarbeit geschaffen wurden, ist eine neue Kategorie des »internationalen sozialistischen Eigentums« entstanden, von der ein starker integrativer Zug ausgeht. Hier sind unter Wahrung des Prinzips der nationalen Souveränität wirtschaftliche – und daraus resultierend politische – Bindungen entstanden, die durch die normative Kraft des Faktischen bereits eine Souveränitätseinschränkung beinhalten. Die sowjetische Politik, die Integration bei Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes der Mitgliedsländer zu fördern, hat inzwischen den RGW von einer regionalen Organisation souveräner Staaten in eine multinationale Institution verwandelt, in der die Sowjetunion aufgrund ihrer ökonomischen Potenz eine bestimmende Stellung einnimmt. Im Bereich der Entwicklungshilfe hat sich der selektive Einsatz der Wirtschaftshilfe der RGW-Staaten nicht geändert. Der 1974 beschlossene und 1977 in Kraft getretene Internationale Fonds für Wirtschaftshilfe, der für Entwicklungshilfe-Projekte geschaffen und bei der Internationalen Investitionsbank domiziliert wurde, blieb ebenfalls im traditionalen Rahmen »sozialistischer« Politik: 95% seines Kapitals bestehen aus nichtkonvertibler Währung, d.h. die kreditnehmenden Entwicklungsländer sind gezwungen, dafür Güter aus den RGW-Ländern zu beziehen. Die zunehmend schärfere Konkurrenz auf dem Weltmarkt hat die Attraktivität des RGW als eines »sozialistischen Binnenmarktes« erhöht und zu seiner territorialen Erweiterung geführt; nach Kuba (1972) trat 1978 Vietnam als Vollmitglied bei; außer Finnland (1973) assoziierten sich auch der Irak und Mexiko, Beobachterstatus erhielten Afghanistan, Äthiopien, Angola, Südjemen, Laos und Nordkorea. Gerade in Zeiten einer weltwirtschaftlichen Restriktion besaß dieser Markt einige Anziehungskraft auch für die Entwicklungsländer.
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Dagegen hat Rumänien, das – ebenso wie Jugoslawien – die Auswirkung der Wirtschaftskrise 1973/74 besonders hart zu spüren bekam, versucht, sich stärker nach der Dritten Welt hin zu orientieren. Es hatte dabei vor allem im Iran Erfolg, doch mit dem neuerlichen Ölpreisschub des Jahres 1978 und dem Sturz des Schahs, auf den Ceauşescu gesetzt hatte, geriet das Land, das nächst Polen die höchste West-Verschuldung der RGW-Staaten aufweist, in eine tiefe wirtschaftliche Krise. Sie war angesichts des überproportionalen Ausbaus der petrochemischen und metallurgischen Industrie um so verhängnisvoller, als ein wirtschaftliches Entgegenkommen der Sowjetunion allenfalls durch weitgehende politische Zugeständnisse zu erkaufen ist. Auch Jugoslawien, seit 1964 beim RGW assoziiert, hat während der Wirtschaftskrise der Jahre 1973/75, als die Inflationsrate des Landes auf mehr als 20% und seine Arbeitslosenquote auf 13% stieg, sich stärker auf den Handel mit den RGW-Staaten ausgerichtet. Tito war aber keineswegs bereit, seine Eigenständigkeit aufzugeben. Von seiten der Sowjetunion hat man hier offenbar langfristig geplant, wohl auch darauf gesetzt, daß nach dem Tod des greisen Marschalls eine Kursänderung in Jugoslawien erfolgen könnte. Ungeachtet der Störungen, wie sie etwa 1977 im Zusammenhang mit der Kampagne gegen den Eurokommunismus eintraten, hat die Sowjetunion mehrfach dem Lande Kredite gewährt, ohne jedoch dadurch seine Fügsamkeit oder auch nur Nachgiebigkeit erwirken zu können. Die Erfolge der Entspannungspolitik, deren politische wie ökonomische Zweckmäßigkeit die Regelung der deutschen Frage und die KSZEVereinbarungen ebenso erwiesen wie die Intensivierung des Ost-West- Handels mit seinem hohen Technologie-Import, sicherten der Breshnew-Führung eine unangefochtene Machtposition, sowohl in der Sowjetunion, wo sich um die Person des Generalsekretärs der Partei bald eine dem »Personenkult« der StalinZeit ähnliche Glorifizierung entfaltete, wie auch im RGW-Bereich. Während die westliche Öffentlichkeit – auch im Hinblick auf eine erhoffte Minderung der Rüstungsausgaben – nur allzu geneigt war, den Begriff »Entspannung« als umfassenden Abbau von Konfrontationen und Beseitigung von Konfliktstoffen anzunehmen, ließ die Sowjetunion trotz KSZE-Akte nie einen Zweifel daran, daß sie zumindest im ideologischen Bereich keinerlei Konzessionen gewähre und der »Kampf gegen den Kapitalismus« fortzusetzen, ja im Zeichen der Détentepolitik mit verstärkter Intensität zu führen sei. Denn an ihrem messianistischen Selbstauftrag, den »real existierenden Sozialismus« weltweit zum Sieg führen zu müssen, hielt die Moskauer Führung fest. Er mußte denn auch dazu herhalten, die gleichzeitig mit der »Entspannungspolitik« betriebene massive Aufrüstung zu rechtfertigen: Die Sowjetunion als Vormacht des »sozialistischen Lagers« müsse weltweit in der Lage sein, die »vom Kapitalismus bedrohten sozialistischen Länder« zu schützen. Mochten die Modernisierung der Waffentechnik und der Ausbau der Roten Flotte während
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der sechziger Jahre noch einem Nachholbedürfnis entsprechen, um mit den USA gleichzuziehen, so änderte sich dies im folgenden Jahrzehnt. Die Entscheidung für einen Kurswechsel von einer deklariert defensiven zu einer offensiven Weltpolitik dürfte gegen Ende des Jahres 1973 zu datieren sein. Auf dem Treffen der ZK-Sekretäre für internationale und ideologische Fragen in Moskau (19. bis 20. Dezember 1973) wurde die veränderte Weltlage diskutiert. Mit der völkerrechtlichen Sicherung des europäischen Suprematiebereiches der Sowjetunion durch die sogenannten »Ostverträge« der Bundesrepublik Deutschland (und die späteren KSZE-Vereinbarungen) war die Sowjetunion in Europa entlastet und konnte ihre politischen Aktivitäten verlagern und erweitern, wozu die durch die Vietnam-Politik verursachte Identitätskrise und Führungsschwäche der westlichen Vormacht geradezu aufforderten, schienen sie doch ein Ende des bisherigen Systems der bipolaren Friedenssicherung durch Sowjetunion und USA anzuzeigen. Diese Minderung der amerikanischen Machtausübung erhielt in der Analyse der Tagungsteilnehmer symptomatischen Charakter. Sie wurde als Indiz eines systemspezifischen Machtverfalls interpretiert, dessen ökonomische Ursachen in der durch den »Erdölschock« des Jahres 1973 hervorgerufenen Rezession in den westlichen Industrieländern offenkundig wurden. Man folgerte hieraus in flagranter Verkennung der Marktmechanismen eine generelle »Krise des Kapitalismus«, dem neben den sozialistischen Ländern nun auch in den selbstbewußt gewordenen, ihre nationalen Interessen verfechtenden Entwicklungsländern entschiedene Gegner erwachsen seien. Dies eröffne die Aussicht auf einen baldigen »Sieg des Sozialismus«. So galt es, unter Wahrung der vorteilhaften, weil nützlichen Kooperation mit dem Westen, für eine entscheidende anstehende Konfrontation gerüstet zu sein. Ponomarjows, des sowjetischen Vertreters, Rede auf der neuerlichen Konferenz der RGW-Ideologen in Prag im Januar 1974 bekräftigte dies, und auch die Konferenz von Brüssel 26. bis 28. Januar 1974), an der die Vertreter von 20 kommunistischen Parteien des Westens teilnahmen, schloß sich dieser Auffassung an. Die zeitliche Abfolge dieser Beratungen zeigt, daß Moskau dieser Frage außerordentliche Bedeutung zumaß. Die Revision der sowjetischen Politik wurde im militärischen Bereich bereits 1974 sichtbar: Während die USA ihre Truppen auf 2,17 Millionen Mann reduzierten, erhöhte die Sowjetunion ihren Mannschaftsstand auf 3,52 Millionen. Die Modernisierung von Waffen und Ausrüstung (Einführung elektronischer Systeme) wurde in der Folgezeit mit Nachdruck betrieben, die Raketenwaffen und die Seestreitkräfte wurden enorm ausgebaut. Mit diesen trotz der offiziellen »Entspannungspolitik« unverändert hohen Rüstungsanstrengungen entstand ein besorgniserregendes militärisches Potential. Insbesondere die enorme Flottenrüstung begann sich auszuzahlen: Die sowjetische Marine unterstützte den verstärkten Expansionsdrang in der Dritten Welt: Sie wurde zu einem offensiven Instrument sowjetischer Machtpolitik, die in die durch den Rückzug der ehemaligen Kolonialmächte entstandenen machtleeren Räume vorzudringen
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begann und in Afrika und dem Nahen Osten wichtige strategische Positionen zu erringen (wenn auch nicht immer zu behaupten) verstand. Die Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes sind von dieser Entwicklung nicht ausgenommen worden, auch sie hatten intensive Bemühungen um Modernisierung ihrer Streitkräfte und Erhöhung der Schlagkraft zu unternehmen. Diese Angleichung war mit einer vermehrten Standardisierung von Waffen und Ausrüstung der Truppen aller Mitgliedsländer verbunden, desgleichen mußte im Interesse eines effektiven Zusammenwirkens der nationalen Verbände die Ausbildung aufeinander abgestimmt werden; multinationale Manöver, Stabsübungen etc. dienten gleichfalls der Homogenisierung. Für die Koordination auf dem Militärsektor waren schließlich gemeinsame Institutionen zu schaffen, etwa im Bereich der Luftabwehr. Mit der Errichtung eines supranationalen Generalstabes der Warschauer- Pakt-Organisation, dem auch das lange widerstrebende Rumänien schließlich zustimmen mußte, fand die militärische Integration 1976 ihren Höhepunkt und vorläufigen organisatorischen Abschluß. Die Sowjetunion erhielt hierdurch ein Äquivalent für die seit Beginn der sechziger Jahre zugestandenen nationalen Freiheitsräume, die Bindung der Streitkräfte wurde zu einem wirksamen Instrument, zentrifugalen Tendenzen entgegenzuwirken, wie sich im Dezember 1981 offenbarte. Diesem Wandel der globalen politischen Strategie war eine Ernüchterung über die Entwicklungshilfe- Bereitschaft des Westens vorausgegangen. Die Kooperationsentscheidung des Jahres 1969 war mit der Erwartung verknüpft gewesen, daß sich die westlichen Industrienationen – einschließlich Japan – unter massivem Einsatz ihres Kapitals und ihrer Technologie an der umfassenden Modernisierung der Sowjetunion und der Erschließung ihrer Ressourcen beteiligen würden. In den oft geäußerten Angeboten sprach man von einem langfristigen, auf 30 bis 50 Jahre projektierten Prozeß. Diese gigantischen Entwürfe aber überschätzten die Möglichkeiten des Westens ebenso, wie sie die Mechanismen des westlichen Wirtschaftssystems verkannten. Um den exzessiven Vorstellungen der sowjetischen Führung zu entsprechen, hätte es einer folgenschweren wirtschaftlichen Umorientierung des Westens bedurft. Eine derartige Veränderung der wirtschaftspolitischen Leitlinien aber ließ – von anderen Auswirkungen ganz abgesehen – auch eine starke Abhängigkeit vom Ostmarkt befürchten. Hält man sich vor Augen, welche Bedeutung den ökonomischen Faktoren im System des Marxismus-Leninismus zukommt, so stellt sich die Frage, ob die sowjetische Führung bei diesem Kooperationsanerbieten die Prinzipien ihrer Ideologie außer acht ließ, die – eigenem Bekunden nach – 50 Jahre die Geschichte der Sowjetunion bestimmt hatten, oder ob es sich dabei um Bauernfängerei handelte. Das Versprechen politischen Wohlverhaltens gegenüber dem Westen – »Entspannung und Zusammenarbeit« – wog gering, betrieb Moskau doch seine Machtausweitung in der Dritten Welt engagiert weiter. Unter diesen Voraussetzungen mußte es bei einer wesentlich kleiner dimensionierten Kooperation bleiben. Sie hat dennoch
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im Verlaufe eines Jahrzehnts eine stattliche Anzahl großer gemeinsamer Unternehmen verwirklicht, etwa das Kursker Stahlwerk, das »Togliatti«Automobilwerk, die große Pipeline. Die riesigen Vorhaben in Sibirien aber kamen, trotz des am 25.11.1974 abgeschlossenen sowjetisch-amerikanischjapanischen Abkommens über die Erschließung der sibirischen Erdgaslager, nicht voran, selbst die schon weit gediehenen Verhandlungen über eine japanische Beteiligung am Abbau der großen ostsibirischen Kupfervorkommen zerschlugen sich. Und auch der Besuch Nixons in Moskau (28.6.1974) diente mehr dazu, dem Ansehen des angeschlagenen US-Präsidenten aufzuhelfen, als daß er die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen voranbrachte. Für das europäische Szenarium hielt Moskau dessenungeachtet an der Fortsetzung der »Entspannungspolitik« fest, um so mehr, als die amerikanischchinesische Annäherung seit 1972 es zu gespannter Aufmerksamkeit im Fernen Osten veranlaßte. An der Ruhe Europas war ihm und den anderen RGWLändern um so mehr gelegen, als sie die Fortsetzung des so vorteilhaften OstWest-Handels verbürgt. Nach dem Fehlschlag des Maximalprogrammes ermöglichte er als die kleinere Lösung den notwendigen Technologie-Import. Bei den westeuropäischen Staaten, die von der sowjetischen Militärmacht überschattet wurden, fand man hierfür Verständnis und weitgehendes Entgegenkommen. Im Zeichen dieser so zweckmäßigen Entspannungspolitik konnte die Sowjetunion den RGW-Staaten die Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten selbst überlassen und sich auf eine beratend- überwachende Funktion beschränken. Mit der Breshnew-Doktrin waren die Grenzen der nationalen Entscheidungsfreiheit unmißverständlich gezogen, und der August 1968 hatte die Entschlossenheit der sowjetischen Führung gezeigt, keine Überschreitungen hinzunehmen. Zudem besaß sie im RGW und der Warschauer-Pakt-Organisation effektive Leitungsinstrumente. Im außenpolitischen Bereich wurde der Beratende Politische Ausschuß mehr und mehr zum Führungsorgan, ergänzt durch die regelmäßigen Konsultativtreffen der ZK-Sekretäre für internationale und ideologische Fragen der »Bruderländer«. Daß die oft beschworene »Gleichberechtigung« der RGW-Staaten eine bloße Formel blieb, zeigte sich, als Moskau Ungarn aus den MBFR-Verhandlungen ausklammerte: Den Partnerstaaten kam lediglich eine beratende Funktion zu, auch sie sind über politische Kursänderungen – etwa in den Ost-WestVerhandlungen – von der sowjetischen Führung nicht vorher informiert worden, die sich die Entscheidung in allen wichtigen Fragen vorbehält. Angesichts der Machtverhältnisse haben die kleinen RGW-Länder gelernt, dies zu respektieren. Die DDR- und ČSSR-Führung stimmen ebenso wie Bulgarien im wesentlichen ohnedies mit der Moskauer Linie überein; auch Polen, wo Edward Gierek nach den von Preiserhöhungen ausgelösten Dezemberunruhen des Jahres 1970 Gomułka in der Parteiführung abgelöst hatte, und Ungarn erwiesen sich als ergeben. Der Technokrat Gierek konzentrierte seine Bemühungen auf die Verwirklichung eines ehrgeizigen Industrialisierungsprogrammes, für das er
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vielfältige westliche Hilfe erhielt. Er nahm dabei in Kauf, daß dem bereits unter Gomułka beeinträchtigten Führungsanspruch der PZPR in Kirche und kritischer Intelligenz eine ernsthafte Konkurrenz erwuchs; doch er durfte darauf zählen, daß zumindest der polnische Episkopat sich der Verantwortung bewußt war und der Machtkonstellation, in die das Land eingebettet war, Rechnung trug. In Ungarn baute Kádár seinen liberalen Sozialismus ungarischer Prägung weiter aus: Im Januar 1978 wurde ein Gesetz über Arbeiter-Mitbestimmung (»Betriebsdemokratie«) verabschiedet, sogar der Visum-Zwang im Verkehr mit Österreich wurde durch einen Vertrag vom 5.5.1978 mit Beginn des Jahres 1979 hinfällig. In der DDR brachte die Ablösung des altgedienten Ulbricht am 3. Mai 1971 durch den flexibleren Erich Honecker keine Veränderung mit sich. Ulbricht hatte seit Mitte der sechziger Jahre ohnehin an Macht verloren, in der oligarchischen Führungsspitze hatten die Technokraten um Honecker mehr und mehr Einfluß gewonnen. Auch im Hinblick auf die neue deutsch- deutsche Situation war es von Vorteil, den durch Stalinismus und Mauerbau mit einem Odium belasteten Ulbricht durch einen Jüngeren zu ersetzen, der sich zudem der Moskauer Führung gegenüber nicht auf alte Verdienste berufen konnte. Unter Honeckers Führung ist die strikte Ausrichtung auf die Sowjetunion fortgesetzt worden. Die DDR agierte in den siebziger Jahren mit viel Geschick als rechte Hand Moskaus, auch auf der internationalen Ebene, und sie entlastete die Sowjetunion etwa in Afrika erheblich. Der durch die Verträge mit Bonn veränderten innerdeutschen Situation trug die Verfassungsänderung vom 7.10.1974 – zum 25. Jahrestag der DDR – Rechnung: Der Passus »deutsche Nation« wurde aus der Verfassung gestrichen, die DDR war nun nur noch ein »sozialistischer Arbeiter-und-BauernStaat«, der seine Souveränität u.a. durch die nunmehr auch formale Eingliederung Ost-Berlins – unbekümmert um die verbalen Proteste der drei Westalliierten – demonstrierte. Das wachsende internationale Ansehen und das Gewicht im RGW haben das Selbstbewußtsein seiner Führung wie auch seiner Bevölkerung gestärkt, sie trugen damit auch zu einer Entkrampfung des deutsch-deutschen Verhältnisses bei. Der Balkan blieb in den siebziger Jahren auch für die Sowjetunion eine diffizile und problembeladene Zone, hier besaß sie nur in Shiwkow einen getreuen Gefolgsmann. Er hat konsequent an seiner Politik einer strikten Ausrichtung auf die Sowjetunion festgehalten, zum wirtschaftlichen und politischen Nutzen seines Landes, dessen Wohlverhalten – darin nur vergleichbar der DDR – von Breshnew honoriert wurde. Zwar ist der wiedererwachte Nationalgedanke auch an Bulgarien nicht vorübergegangen, 1978 regten sich sogar Dissidenten (»Deklaration 78«); doch es gelang der Parteiführung, ihn im Makedonienstreit mit Jugoslawien zu kanalisieren und zu instrumentalisieren. Hingegen blieb Jugoslawien auch nach dem Tode Titos (4. Mai 1980) ein Unsicherheitsfaktor für die Sowjetunion. Das politische Wechselbad, dem es nach Chruschtschows Sturz seitens der Sowjetführung ausgesetzt war, hielt auch weiterhin an. So versicherte
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Breshnew während seines Belgrad-Besuches im November 1976, daß es durchaus verschiedene Wege zum Sozialismus gebe, doch nachdem Tito mit seinem Gegenbesuch im August 1977 eine Visite in Pjöngjang und Peking verband, just als in Moskau wieder einmal die Einheit der kommunistischen Bewegung auf dem Programm stand, kam es zu einer neuerlichen Trübung des Einvernehmens. Und die Gewährung zusätzlicher sowjetischer Kredite 1978 wurde politisch durch Hua Kuo-fengs Belgrader Besprechungen austariert. Dabei hat Tito, und das machte ihn wiederum berechenbar, nie ein Hehl daraus gemacht, daß er Kommunist war – allerdings ein jugoslawischer. Seine Disziplinierungsmaßnahmen und die Repressalien gegen oppositionelle Strömungen haben stets auch sowjetische Zustimmung gefunden (soweit sie sich nicht gegen Moskautreue richteten). Und er hat es geschickt verstanden, sein internationales Ansehen ebenso wie die Konkurrenz der Großmächte auszuspielen, um sich der Eingliederung seines Landes in irgendeine Hegemonialsphäre zu entziehen. Ob dies seinen Nachfolgern in gleichem Maße gelingt, muß dahingestellt bleiben. Die Belastungen, die ihnen aus dem Nationalitätenkonflikt erwuchsen, der im Kossovo-Gebiet ausbrach, wurden von der Sowjetunion nicht genutzt: Die Sicherung des polnischen – und afghanischen – Besitzes war vordringlich. Wenn von albanischer Seite versichert wurde, Tirana habe die Unzufriedenheit und den daraus erwachsenden Nationalismus der Kossovo-Albaner nicht geschürt, so ist dies angesichts der albanischen Politik nach der chinesischamerikanischen Annäherung zu Beginn der siebziger Jahre glaubhaft. Hoxha führte zwar seine Polemik gegen den »Sowjet-Revisionismus« fort, verstärkte aber die Bemühungen um eine Verständigung mit den Nachbarstaaten, die zu engeren Beziehungen zu Jugoslawien und auf wissenschaftlichem Gebiete zu Priština führten. (Der Kosovo-Konflikt dürfte innerjugoslawischen Ursachen zuzuschreiben sein: Die für das kleine Gebiet übergroße Intelligenzschicht, die aus der überproportionalen Förderung des albanischen Bildungswesens durch Belgrad hervorging, äußerte ihre soziale Unzufriedenheit in nationalen Forderungen.) Nach dem Tode Mao Tse-tungs (9. September 1976) gab Hoxha ein deutliches Zeichen seiner Abkehr vom Maoismus: Am 29.12.1976 wurde Albanien offiziell eine »Sozialistische Volksrepublik« und glich sich damit dem allgemeinen Entwicklungsstand an. Mit dem Beginn der chinesischen Reformen 1977, nach dem Sturz der »Viererbande«, war der Bruch mit dem einstigen Protektor unvermeidlich. Jugoslawien wurde dadurch als Partner noch attraktiver, auch zu Rumänien pflegte Hoxha die Kontakte. Daß indes innerhalb der albanischen Parteiführung – offenbar schwerwiegende – Gegensätze über den politischen Kurs bestanden haben, zeigte der mysteriöse Tod des langjährigen Regierungschefs Mehmed She-hu (bekanntgegeben am 18. Dezember 1981). Rumänien hat trotz allen Druckes, den die sowjetische Führung auf das Land ausübte, an seinem Prinzip der nationalen Souveränität festgehalten und, zum
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Mißvergnügen Moskaus, weder einer supranationalen Integration zugestimmt noch sich an multinationalen Gemeinschaftsarbeiten beteiligt; es zeigte sich zwar grundsätzlich zur Kooperation im RGW bereit, doch nur insoweit, wie dies mit dem erklärten nationalen Prinzip nicht in Widerspruch stand. Doch trotz des langfristigen Wirtschaftsabkommens mit Frankreich vom Juli 1975 und den USA vom August des gleichen Jahres, die ihm sogar die Meistbegünstigung gewährten, mußte es 1976 die Schaffung eines supranationalen Generalstabes der Warschauer-Pakt-Organisation akzeptieren, nachdem schon vorher gemeinsame Übungen sowjetischer und rumänischer Stabsoffiziere stattgefunden hatten. (Gemeinsame Manöver auf rumänischem Boden konnte es allerdings vermeiden.) Breshnew honorierte das Entgegenkommen mit seinem Besuch in Bukarest (22.–24.11–1976), es war das erste Mal, daß der sowjetische Parteichef rumänischen Boden betrat. Dabei wurde zwischen beiden Staaten eine Vereinbarung über wissenschaftlich- technische sowie über ideologische Zusammenarbeit unterzeichnet, auch dies eine Bekundung des guten Willens Rumäniens und eine Besänftigung der ob der West-Handelsverträge von 1975 beunruhigten Sowjetunion. Als sich im Verlauf des Jahres 1975 abzeichnete, daß die westlichen Industrieländer die Rezession unerwartet rasch zu überwinden vermochten, sahen insbesondere die westeuropäischen Kommunisten die von der Moskauer Ideologen-Tagung konstatierte, auf den Konferenzen in Prag und Brüssel bekräftigte These der »Krise des Kapitalismus« in Frage gestellt. Offenbar war die Regenerationsfähigkeit des »Kapitalismus«, die Flexibilität dieses Wirtschaftssystems größer, als man unterstellt hatte. Es galt also, eine neue, dieser Erkenntnis entsprechende politische Strategie zu finden, denn mit dem Entschwinden der »Krise« entschwand auch die Aussicht auf eine Verschärfung der sozialen Konflikte und damit das Heranreifen einer revolutionären Situation und einer kommunistischen Machtübernahme. Anknüpfend an frühere Überlegungen über die Koalition mit sozialistischen und bürgerlichen Parteien, wie sie Berlinguer auch auf der Brüsseler Konferenz vorgetragen hatte, sprachen sich daher besonders die mitgliederstarken kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs für einen parlamentarischen Weg zur Macht und für den Verzicht auf das Postulat der »Diktatur des Proletariats« aus. Sie trugen damit der politischen Mentalität und Kultur ihrer Länder Rechnung, doch ist nicht zu übersehen, daß sich hier auch die Frustration eines über viele Dezennien hin geführten politischen Kampfes niederschlug, dem ungeachtet aller Erfolgserlebnisse das Erreichen des Zieles, die Übernahme der Macht, verwehrt geblieben war. Auch der spanische Parteichef Carrillo befürwortete diesen »Eurokommunismus«, der zwar die Eigentums- und Produktionsverhältnisse sozialistisch umgestalten wollte, aber die parlamentarisch-demokratischen Organisationsformen einer pluralistischen Gesellschaft beizubehalten versprach, einschließlich politischer Opposition und der Möglichkeit des Machtwechsels.
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Dieser Rekurs auf Positionen des demokratischen Sozialismus aber war mit dem Leninismus unvereinbar, und er gefährdete die Herrschaftslegitimation der regierenden kommunistischen Parteien ebenso wie den Hegemonialanspruch der KPdSU und damit der Sowjetunion. Als gar der französische KP-Chef Marchais, ein sonst verläßlicher Gefolgsmann Moskaus, auf dem Parteitag der KPF im Februar 1976 erklärte, die »Diktatur des Proletariats« sei nicht unumgänglich, schien der sowjetischen Führung Eile geboten. Es gelang ihr, die schon lang erörterte große Konferenz der moskauorientierten kommunistischen Parteien einzuberufen, die die Einheit und die Geschlossenheit der kommunistischen Ideologie und Bewegung wiederherstellen sollte. Sie trat am 29. Juni 1976 in Ost-Berlin zusammen. Wie hoch ihre richtungweisende Bedeutung einzuschätzen war, geht daraus hervor, daß der hochbetagte Tito die jugoslawische Delegation selbst anführte. Hier haben die Eurokommunisten, unterstützt von Rumänien und Jugoslawien, sich erfolgreich gegen eine Rückkehr zum monolithischen Prinzip zur Wehr gesetzt, das sich hinter der Formel des »proletarischen Internationalismus« verbarg und die politische Hegemonie der KPdSU beinhaltete. Berlinguer vertrat die Grundsätze des Eurokommunismus in einer brillanten Rede, sekundiert von Carrillo und Marchais, auch von dem Portugiesen Cunhal. Die Moskowiter – die Vertreter der KPdSU samt ihrem Gefolge – konnten weder die Annahme eines allgemein verbindlichen Grundsatzdokuments noch die Verurteilung der KP Chinas durchsetzen; in dem erst zwei Monate später veröffentlichten Abschlußkommuniqué war nur von der »gegenseitigen Solidarität der Werktätigen aller Länder« die Rede, die Prinzipien der Gleichberechtigung, Nichteinmischung und der Unabhängigkeit jeder Partei wurden erneut bekräftigt, die »Achtung der freien Wahl verschiedener Wege« garantiert. Die kommunistische Weltbewegung war sich, wie dies schon diverse frühere Konferenzen erwiesen hatten, wohl über das Ziel – die klassenlose Gesellschaft –, nicht aber über den Weg dahin einig. Die ideologische Diskussion um den Eurokommunismus ist in der Folgezeit fortgeführt worden, wobei sich Marchais wieder der KPdSU annäherte. In der spanischen KP gelang es Moskau, schon bald eine moskautreue innerparteiliche Opposition gegen Carrillo zu mobilisieren, während Berlinguer erst nach seiner entschiedenen Parteinahme für die polnische Reformbewegung und Verurteilung der sowjetischen Einmischung Schwierigkeiten mit sowjetophilen Parteimitgliedern erwuchsen. Die Leninisten strikter Observanz haben die eurokommunistische Bedrohung um so ernster genommen, als sie zeitlich mit der Menschenrechts-Bewegung zusammenfiel, die sich auf die KSZE-Schlußakte von Helsinki berief. In der Sowjetunion, DDR, ČSSR und in Bulgarien wurde seit 1976 die politische Indoktrination verstärkt; das »Parteilehrjahr« der SED, das im September 1977 begann, wie auch die Einführung von »Parteiaktivs«, die in den Hausgemeinschaften propagandistisch wirken sollen, sind als Präventivmaßnahmen gegen ideologische Fremdeinflüsse gedacht. Schließlich
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trat im November 1977 in Moskau eine »Internationale WissenschaftlichTheoretische Konferenz« zusammen, auf der Ponomarjow, der für ideologische Fragen zuständige Sekretär des ZK der KPdSU, ein Verdikt über die Eurokommunisten aussprach – gleichsam ex cathedra. d) Krise der Entspannungspolitik Einen schwerwiegenden, in seinen Auswirkungen noch nicht zu übersehenden Rückschlag erlitt die so erfolgreiche »Entspannungspolitik« Breshnews gegen Ende des Jahres 1979. Während die Aktivitäten der USA und das Interesse der Weltöffentlichkeit ganz auf die Geiselhaft des amerikanischen Botschaftspersonals in Teheran konzentriert waren, nutzte die Sowjetunion die Gunst der Stunde zu einem coup d’état in Afghanistan, um sich des in Moskau mißliebig gewordenen kommunistischen Machthabers Amin zu entledigen und mit Hilfe sowjetischer Truppen den genehmen Babrak Kamal in Kabul zu installieren. Die weltweite Entrüstung über diese militärische Intervention, die auch die Länder der Dritten Welt – vor allem die islamischen – ergriff, war in Moskau nicht vorausgesehen worden; denn die Sowjetunion übte seit langem entscheidenden Einfluß in diesem zentralasiatischen Lande aus. Sie war an der Beseitigung der Monarchie (1973) ebenso beteiligt, wie sie den kommunistischen Putsch vom 27. April 1978 unterstützt hatte, der die Kommunisten in Kabul an die Macht brachte. Aus Moskauer Sicht war die Liquidierung des Regimes Amin eine innerkommunistische Angelegenheit, die Verurteilung der Intervention um so unverständlicher, als der kommunistische Staatsstreich vom April 1978 kaum internationales Echo hervorgerufen hatte. Die scharfen Reaktionen Washingtons mit ihren Embargo-Maßnahmen und dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau waren jedoch nur zum geringen Teil durch die innerpolitische Situation der USA bestimmt, wo die Teheraner Demütigung der westlichen Weltmacht den Unmut über Präsident Carters Politik sans fortune kulminieren ließ. Schon die heftigen Kontroversen über die Menschenrechtsbestimmungen – den »Korb 3« der KSZE-Vereinbarungen von Helsinki – auf der KSZEFolgekonferenz in Belgrad (1977) hatten in den USA negative Eindrücke hinterlassen. Die Anwendung militärischer Gewalt durch die Kremlführung aber rief in der durch die Teheraner Gewaltakte sensibilisierten amerikanischen Öffentlichkeit weitverbreiteten grundsätzlichen Zweifel an der Aufrichtigkeit der sowjetischen Entspannungspolitik hervor und leitete jenen politischen Wandel ein, der mit der Wahl Ronald Reagans (4. 11. 1980) eine neue Phase der Beziehungen zwischen den beiden Supermächten eröffnete. Die Sowjetunion hat angesichts dieses Meinungsumschwunges und seiner Folgen allerdings mit Recht hervorgehoben, daß sich ihre politische Zielsetzung nicht gewandelt habe und sie nach wie vor an ihrer Konzeption der Entspannung zwischen den beiden Machtblöcken festhalte. Dem Kurswechsel der USA aber lag nicht nur die Erkenntnis zugrunde, daß die Détente sowjetischerseits lediglich für das
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Verhältnis zwischen den beiden Weltmächten (unter Einschluß ihrer europäischen Klientel) galt, sondern letztlich auch, daß die programmatischen Erklärungen der KPdSU und der Sowjetführung tatsächlich die sowjetische Politik bestimmten: daß nämlich der Machtkampf zwischen den beiden Gesellschaftssystemen unverändert fortdauerte und lediglich seinen Schauplatz gewechselt hatte – was die westlichen Staaten auch mit Rücksicht auf die finanziellen Konsequenzen und ihre Auswirkungen auf eine wohlstandsorientierte Gesellschaft nicht hatten wahrhaben wollen. Belastet mit der afghanischen Frage, die durch den unerwartet hartnäckigen Widerstand der Mujaheddin gegen die militärisch weit überlegenen Interventionstruppen aktuell gehalten wurde, suchte die sowjetische Führung angesichts der internationalen politischen Vertrauenskrise und des hohen Konfliktpotentials eine weitere Verschärfung der internationalen Spannungen zu vermeiden. Hierzu drängte nicht nur die bevorstehende amerikanische Präsidentschaftswahl, sondern auch die wirtschaftliche Situation der RGWStaaten, wo sich seit Mitte der siebziger Jahre eine Trendumkehr abzeichnete: Die im Planjahrfünft 1971–1975 noch hohen Wachstumsraten begannen nunmehr zu sinken. Hier wirkten sich die Energie- und Rohstoff frage, der Arbeitskräftemangel und die niedrige Arbeitsproduktivität, die Transport- und die allgemeinen Strukturprobleme der Volkswirtschaften aus. Eine rapide Verschlechterung der Außenhandelsbilanz gegenüber dem Westen führte zu einer massiven Verschuldung – sie wurde für das Jahr 1980 auf 80 Milliarden USDollar geschätzt – und machte die RGW-Staaten von der Konjunkturentwicklung des Westens abhängig. Als der »zweite Erdölschock« hier 1978 eine Rezession hervorrief, wirkte sich dies wie schon 1973/74 auch auf die RGW-Staaten aus: Die westlichen Märkte zeigten sich für RGW-Produkte weniger aufnahmebereit. So gerieten die Volkswirtschaften der RGW-Staaten in ernstliche Schwierigkeiten. Selbst die Sowjetunion wurde trotz ihrer Öl- und Erdgasverkäufe hiervon betroffen, auch sie mußte wie die anderen RGW-Staaten ihre Plandaten reduzieren – äußeres Zeichen, daß die Krise sich auch auf die zentralen Planwirtschaften auswirkte. Dies zwang dazu, die Belastungen an die Bevölkerung weiterzugeben. In Ungarn erfolgte dies gemäß dem Prinzip der »Preiswahrheit« marktwirtschaftlich, doch auch die am Subventionierungsprinzip festhaltenden RGW-Staaten sahen sich zu Preiserhöhungen gezwungen, die zum Teil (für sogenannte Luxuswaren) offen, zum größten Teil jedoch verdeckt vorgenommen wurden. Insbesondere Bulgarien und Ungarn, die eine gut entwickelte Landwirtschaft und hohe Kreditwürdigkeit besaßen, konnten die Auswirkung der Rezession in Grenzen halten; die allein im Westen mit ca. 10 Milliarden US-Dollar hochverschuldete DDR jedoch sah sich trotz der Vorteile, die sie aus dem innerdeutschen Handel zog, vor großen Schwierigkeiten. An den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs gerieten hingegen jene beiden Staaten, die die westliche Kreditbereitschaft exzessiv genutzt hatten: Polen und Rumänien. Beide hatten
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mit westlicher Hilfe eine ehrgeizige Industrialisierung betrieben, doch der überdimensionierte einseitige Aufbau einzelner Industriezweige – in Rumänien der petrochemischen und metallurgischen Industrie, in Polen des Schiff- und Maschinenbaus – bei völliger Vernachlässigung der Landwirtschaft hatten eine strukturelle Disproportionalität zur Folge, die sich als besonders krisenempfindlich erwies. Diese falsche Entwicklungsstrategie führte in beiden Ländern zu schweren sozialen Erschütterungen. In Rumänien, wo es 1978 schon zu Unruhen unter der Bergarbeiterschaft gekommen war, gelang es Ceauşescu nur mühsam und dank beträchtlichen westlichen Entgegenkommens, die Lage zu stabilisieren. In Polen jedoch erwuchs aus der Krise der Volkswirtschaft eine offene Krise des Systems. Ausgelöst wurde sie durch das Fiasko der Wirtschaftspolitik Edward Giereks. Er hatte sich als tatkräftiger Woiwode Oberschlesiens in den sechziger Jahren nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung, sondern auch der Partei erworben; sie berief ihn zum Nachfolger Gomułkas, als dieser, belastet mit der blutigen Niederschlagung der Arbeiterunruhen 1970/71, nicht mehr tragbar war. Giereks ehrgeizige Industrialisierungspolitik, für die er enorme westliche Kredite in Anspruch nehmen konnte, verschärfte jedoch die Strukturprobleme durch die Bevorzugung einzelner Industriezweige noch mehr. Für die Landwirtschaft, ob ihres großen privatwirtschaftlichen Anteils (ca. 80–85%) von der Partei ohnehin wenig geliebt, blieb dabei kaum Investitionskapital übrig: Ihre Mechanisierung (und damit Rationalisierung) wurde dem Industrieausbau ebenso geopfert wie ihre – ertragssteigernde – Versorgung mit Düngemitteln. Diese offene Benachteiligung der bäuerlichen Bevölkerung wirkte sich nicht eben produktivitätssteigernd aus. Aber auch in der Arbeiterschaft und unter der Intelligenz verlor Gierek bald den Vertrauensvorschuß, dessen er sich bei seinem Amtsantritt erfreut hatte. In der »offenen« sozialistischen Gesellschaft polnischer Art glaubte die Parteiführung, Kritik negieren und auf die Mitwirkung der intellektuellen Elite des Landes an der Entscheidungsfindung verzichten zu können. Unter der Arbeiterschaft aber rief besonders die Konsumbeschränkung Unwillen hervor, zu der die forcierte Industrialisierung zwang. Daher gelang es Gierek auch nicht, die dringend erforderliche Reduzierung der Preissubventionierungen durchzusetzen (sie verschlangen 1980 rund 15% des gesamten Staatshaushaltes). Wie schon 1970/71 kam es auch im Juni 1976 zu Streiks, als Preiserhöhungen für Lebensmittel angekündigt wurden. So geriet das Land durch die Rezession des Jahres 1978 in eine schier ausweglose Lage, die zudem durch die schlechten Ernteerträge der Jahre 1978– 1980 noch eine zusätzliche Belastung erfuhr. Zwar konnten 1978/79 die Verbindlichkeiten – allein die Westverschuldung des Landes wird auf ca. 20–23 Milliarden US-Dollar geschätzt – durch drastische Exporterhöhungen und Importeinschränkungen noch beglichen werden, doch die weiteren – notwendigen – Konsumeinschränkungen lösten Unruhe aus. Die Preiserhöhungen vom 1. Juli 1980 waren der Anlaß für eine Streikwelle, die das
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ganze Land erschütterte. Der Streik der Danziger Lenin-Werft, der am 14. August begann, leitete nicht nur den Sturz Giereks ein, sondern führte auch zur Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft »Solidarność«, die in Kürze eine Millionenmitgliederschaft erreichte. Sie wurde zum Sammelbecken der auf Reformen drängenden Kräfte, die Intellektuellen fanden sich hier mit den Arbeitern zusammen. Angesichts der Massenbewegung, in der sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die zahlreichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fehlleistungen von Partei- und Staatsführung manifestierte, blieb auch Stanisław Kania, dem Nachfolger des am 5. September abgelösten Parteiführers, nur der Versuch einer gütlichen Einigung mit der »Solidarnosc«. Sie wurde um so schwieriger, als die im Verlaufe des einsetzenden unumgänglichen gesellschaftlichen Reinigungsprozesses gegen Gierek und seine Gefolgsleute erhobenen Anklagen auch die Partei selbst belasteten. Und dieser Dissens zwischen der Partei, die ihre Glaubwürdigkeit schon lange eingebüßt hatte, und einer Gesellschaft, die nicht mehr bereit war, nur widerspruchslos die Folgen von Entscheidungen zu tragen, sondern auch eine Beteiligung an deren Zustandekommen forderte, stellte schließlich die kommunistische Herrschaft in Polen in Frage. Denn was hier geschah, traf das kommunistische Selbstverständnis. Zuzugestehen war, daß Mitglieder der PZPR-Führung schwere Fehler gemacht hatten. Nicht akzeptabel aber war, daß diese Fehler als systemimmanent galten und daraus die Notwendigkeit einer Systemänderung gefolgert wurde. Auch konnte gemäß der Doktrin nicht geduldet werden, daß sich eine nicht der Partei unterstellte und nicht in ihrem Auftrag handelnde Gewerkschaft als selbständige Kraft konstituierte – auch wenn sie tatsächlich ihre Mitsprache-Forderungen auf soziale und ökonomische Fragen begrenzte und weder den Führungsanspruch der Partei noch die Zugehörigkeit Polens zum »sozialistischen Lager« in Frage stellte. Gerade die Forderung nach ihrer Unabhängigkeit war es, die mit den Grundlagen der kommunistischen Herrschaft unvereinbar war. Ihr galt es zu wehren, denn selbst die Teilbeschränkung der absoluten Macht der Partei schuf einen gefährlichen Präzedenzfall, dessen Weiterungen nicht abzusehen waren. Für die kommunistischen Führer der osteuropäischen Länder war die Entwicklung in Polen um so alarmierender, als sich auch in anderen RGWLändern – selbst in der Sowjetunion – 1978 eine Arbeiteropposition bemerkbar gemacht hatte und sich, vor allem in der ČSSR und der DDR, opponierende Intellektuelle fanden. Auch fürchtete man in Moskau wie in Prag und Ost-Berlin um Polen als Verbindungsland zu den beiden westlichen »Frontstaaten«, denn es war nicht abzusehen, ob sich die »Solidarnosc« nicht weitergehende politische Forderungen, die bereits laut wurden, zu eigen machen würde. Die außenpolitische wie auch die wirtschaftliche Situation der RGW-Länder schränkten jedoch die Handlungsfreiheit Moskaus ein: Eine militärische Intervention der Warschauer- Pakt-Staaten barg angesichts der Unterstützung, die die polnische Reformbewegung im Westen fand, ein nicht kalkulierbares
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Risiko – daran ließen die Erklärungen der westlichen Staaten keinen Zweifel. So blieb nur, die polnische Führung zu unterstützen, wie dies etwa der OstblockGipfel vom 6. Dezember 1980 in Moskau unternahm – gelöst werden mußte der Konflikt in Polen selbst. Hier suchte Kania vergebens einen Ausweg aus der Krise. Denn die Forderungen Moskaus, denen Priorität zukam, waren unvereinbar mit jenen der Solidarność: Das allumfassende Machtmonopol der Partei ließ keine außerparteiliche Kontrollinstanz zu. Das hinhaltende Taktieren gegenüber der Solidarność, der bald (17. April 1981) eine eigene Bauerngewerkschaft zur Seite trat, provozierte jedoch neue Streiks. Die Bereitschaft hierzu wurde durch die sich rapid verschlechternde Versorgungslage, der auch die Rationierung wichtiger Lebensmittel (1. April 1981) nicht steuern konnte, noch verstärkt. Trotz der beschwörenden Appelle Kanias und des am 9. Februar 1981 zum Ministerpräsidenten ernannten Generals Wojciech Jaruzelski dauerte daher die Streikbewegung auch im Jahre 1981 fort und erreichte mit dem großen Bergarbeiterstreik und dem Ausstand der Drucker im August ihren Höhepunkt. Die wirtschaftliche Lage hatte sich durch die Produktionsausfälle inzwischen so verschlechtert, daß die bisherige Subventionierungspraxis nicht mehr zu halten war. Ende August erfolgten massive Preiserhöhungen (bis zu 400%), die auch Brot und andere Getreideprodukte einschlössen. Die massive Drohgebärde gemeinsamer Manöver Warschauer-Pakt-Truppen in Polen Anfang September verfehlte indes ihren Zweck völlig, sie vergrößerte eher den Einfluß radikaler, auf grundlegende Veränderungen des Systems drängender Gruppen auf die Reformbewegung. So verfiel auch die Autorität der zentralen SolidarnośćLeitung unter dem gemäßigten Lech Wałȩsa: Trotz ihrer gegenteiligen Aufrufe fanden Ende Oktober »wilde« Streiks im ganzen Lande statt. Angesichts der um sich greifenden politischen und wirtschaftlichen Anarchie kam am 4. November eine Beratung zwischen Jaruzelski, der am 18. Oktober Kania als Parteichef abgelöst hatte, Wałȩsa und dem Primas der zur Besonnenheit mahnenden katholischen Kirche, Erzbischof Głemp (Nachfolger des am 18. Mai verstorbenen Kardinals Wyszyński), zustande, auf der Jaruzelski die Bildung einer »Front der nationalen Verständigung« vorschlug. Der prinzipielle Antagonismus der Positionen aber machte eine Übereinkunft unmöglich. Als Ende November das ZK der Partei Sondervollmachten für die Regierung verlangte, drohte die Gewerkschaftsleitung mit der Ausrufung des Generalstreiks. Inzwischen war die von einer galoppierenden Inflation betroffene Wirtschaft des Landes faktisch zusammengebrochen. Das Land war nicht mehr in der Lage, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen – weder den Zahlungsverpflichtungen noch den Warenlieferungen. Hieraus erwuchsen den RGW- Partnerländern enorme Belastungen für die eigenen Volkswirtschaften, insbesondere durch den Ausfall der Kohlenexporte. Angesichts der Androhung des Generalstreiks (12. Dezember) griff die Regierung Jaruzelski zur ultima ratio: Sie verhängte am 13. Dezember 1981 den Ausnahmezustand. Ein Militärrat
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übernahm die oberste Gewalt, die bürgerlichen Freiheitsrechte wurden eingeschränkt, gewerkschaftliche Betätigung verboten und führende Mitglieder der Solidarność, darunter Lech Wałȩsa, und der oppositionellen Intelligenz inhaftiert. Die Errichtung der Militärherrschaft war das offene Eingeständnis des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bankrotts der kommunistischen Herrschaft in Polen. Der Staatsstreich der (kommunistischen) Militärs konnte zwar durch eine Militarisierung des öffentlichen Lebens die offene »Doppelherrschaft« im Lande beseitigen und eine äußerliche Ruhe erzwingen, doch der soziale Konsens wurde dadurch in weite Ferne gerückt, denn die Gewaltanwendungen beendeten den schwierigen und mühsamen Dialog zwischen Gesellschaft und Machthabern abrupt. Die Aufgabe, die der Militärrat an sich gerissen hatte, war äußerst schwer. Die Partei, einst Basis der Herrschaftsausübung, war zerfallen: Viele Parteimitglieder waren der Solidarność beigetreten oder sympathisierten mit ihr. Hier mußten »Säuberungen« nach bewährtem Muster für eine Disziplinierung und Konsolidierung sorgen. Problematischer war die Überwindung der wirtschaftlichen Misere, solange der gesellschaftliche Dissens fortbestand. Die von den RGW-Ländern gewährten Kredite – vor allem von der Sowjetunion – waren allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein, eine Stabilisierung erforderte langfristigen Konsumverzicht. Dieser aber perpetuierte die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die es doch zu erhöhter Leistung zu motivieren galt. Die schwierigste Aufgabe aber war es, die Zustimmung eben dieser Bevölkerung zum Kurs der Regierung zu gewinnen. Ihr Vertrauen besaß weit mehr die Reformbewegung, deren Forderungen ihre Wünsche und Bedürfnisse artikulierten und die aus dieser Identifikation ebenso ihre Kraft bezog wie aus der Unterstützung, die sie im Westen fand, und aus dem Wissen, daß der Regierung in der Anwendung von Gewalt durch die wirtschaftliche Lage gewisse Grenzen gesetzt waren: Der notwendige Zahlungsaufschub nötigte sie zu einer begrenzten Rücksichtnahme auf die Öffentlichkeit der westlichen Länder. Die katholische Kirche, die dritte Kraft Polens, mahnte in diesem Konflikt beide Seiten immer wieder zu Besonnenheit und Mäßigung im Interesse der Nation. Ihre Vermittlungsvorschläge intendierten den Dialog zwischen den Kontrahenten; nur dadurch lasse sich die Krise wirklich überwinden und der erforderliche, weil auf lange Sicht allein gedeihliche gesellschaftliche Konsens erzielen. Dies setzte allerdings die Aufhebung des Kriegsrechtes und die Freilassung der »Internierten« voraus. Hierzu konnte sich die Regierung, auch angesichts der Forderungen der Sowjetunion, die von der DDR und der ČSSR sekundiert wurde, nur mit Mühe und partiell entschließen. Jaruzelski setzte darauf, daß die Zeit für ihn arbeite und bei einer wohldosiert erzwungenen Konsolidierung der öffentlichen Ordnung wie der Wirtschaft und der langfristig zu erhoffenden (relativen) Verbesserung der Versorgungslage die Kraft der Opposition schwinde. Wenn sich auch im Frühjahr 1982 auf dem Agrarsektor
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erste Anzeichen einer Verbesserung erkennen ließen – Auswirkung seiner verstärkten staatlichen Förderung, insbesondere durch Erhöhung der Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte –, so ist damit das ökonomische Grundproblem nicht gelöst, sondern eher noch verschärft worden; denn die wirtschaftliche Belastung des Staates wurde dadurch noch vermehrt. Gefordert aber ist ihre Minderung – und dies heißt eine zumindest teilweise Kostenverlagerung auf die Bevölkerung durch Preissteigerung und/oder Subventionsabbau. Dies aber scheint vorerst in außerordentlichem Umfange kaum durchsetzbar, ebenso wie grundlegende Reformen im Industriebereich wenig Realisierungschancen besitzen. Ob die bisher unternommenen halbherzigen Reformversuche zu der notwendigen Regeneration führen, bleibt zweifelhaft. Das Erlahmen der politischen Gestaltungskraft, wie es in der polnischen Krise sichtbar wurde, beschränkt sich nicht nur auf die kommunistische Partei Polens. Der Innovationsmangel der sowjetischen Hegemonialmacht, der seit Kossygins Tod nur noch mühsam kaschiert werden konnte und durch das Nachfolgeproblem der überalterten Breshnew-Führung perpetuiert wurde, wirkte sich auch auf die anderen RGW-Staaten aus. Dabei sind seit dem Ende der siebziger Jahre neue Konzeptionen gefordert als Antwort auf die Herausforderungen durch eine sich rasch verändernde Weltlage. Im Bereich der Wirtschaftspolitik konnte der große Durchbruch, den man mit dem 1969/70 programmierten Modernisierungsschub intendiert hatte, nicht erzielt werden. Die Entwicklungsstrategie, durch Technologie-Importe Wachstum zu induzieren, scheiterte vor allem am Unvermögen des inflexiblen Planungs- und Lenkungsapparates, der auf die sich rasch verändernden Marktbedingungen des Westens nicht angemessen zu reagieren verstand, was zu der hohen Westverschuldung beitrug. Die systemimmanenten Schwierigkeiten der Zentralen-Planwirtschafts-Länder sind in der Begegnung mit der freien Marktwirtschaft nur noch deutlicher hervorgetreten; hier sind dringend neue Konzeptionen gefordert, wenn der Anschluß an die weltwirtschaftliche Entwicklung gehalten werden soll. Die trotz der verheißungsvollen Ansätze der sechziger Jahre im folgenden Dezennium eher restriktive Haltung (mit Ausnahme Ungarns) gegenüber den Reformtendenzen haben diese auf rein plantechnische Verbesserungen reduziert – trotz des Wissens um die Wachstums- und innovationshemmenden Auswirkungen des zentralen Planwirtschaftssystems (lediglich in der Rüstungswirtschaft sind marktwirtschaftliche Mechanismen eingeführt, deren Wirksamkeit durch die hohe Effizienz dieses Wirtschaftszweiges dargetan ist). Zu einer grundlegenden Stärkung der investiven Kompetenzen der Betriebe wie in Ungarn konnte man sich nicht entschließen. Dies indiziert ein orthodoxes Festhalten am staatlichen Wirtschaftsmonopol als Herrschaftsinstrument der Partei. Die außenwirtschaftliche Öffnung des RGW hat auch der angestrebten Integration entgegengewirkt, wie sie im »Komplexprogramm« verwirklicht werden sollte,
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da sie nationalen Präferenzen Raum gewährte. Und schließlich hat auch die Erhöhung der Erdölpreise eine Veränderung der terms of trade zur Folge gehabt, die die strukturpolitische Zielsetzung obsolet machte, zumal die landwirtschaftliche Produktion gegen Ende der siebziger Jahre zumeist stagnierte, was bei steigendem Bedarf zu teilweise erheblichen Versorgungsschwierigkeiten führte. Eine rigorose Rückkehr zum »geschlossenen« RGW-Binnenmarkt, um von den weltwirtschaftlichen Schwankungen unabhängig zu sein, verbietet sich aber, wenn an der Konzeption eines ausreichenden Wirtschaftswachstums zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung festgehalten werden soll. Und dem Ausweichen auf die Märkte der Entwicklungsländer zum Zwecke der Devisenbeschaffung sind ob der technologischen Rückständigkeit vieler RGW-Produkte Grenzen gesetzt. Innenpolitisch beunruhigt die sowjetische Führung weniger die sorgfältig unter Kontrolle gehaltene und Mitte 1982 verstummte Dissidentenbewegung oder die kritische, sich an den wieder enger gezogenen ideologischen Grenzen reibende Intelligenz, deren Privilegien ja an ein gemessenes Wohlverhalten geknüpft sind. Vielmehr ist es der um sich greifende Indifferentismus gegenüber der herrschaftslegitimierenden Ideologie, der Sorgen bereitet. Ihre hohe gesellschaftspolitische Zielsetzung hat in der Konfrontation mit der ernüchternden Wirklichkeit des sowjetischen Alltags an Glaubwürdigkeit verloren, der permanente imperative Appell zu »sozialistischer Lebensweise« sich abgenutzt. Mit der Ideologiemüdigkeit, die bis zur Desillusionierung reicht, droht die Partei aber ein wichtiges Mobilisierungsinstrument zu verlieren. Vor allem das ideologische Desinteresse der Jugend, die in früherer Zeit einen der zuverlässigsten Helfer der Partei bildete, hat die Parteiführung alarmiert. Den Autoritätsverlust der Führung gegenüber der insgesamt doch von einer Aufbruchstimmung und hoffnungsvollen Dynamisierung erfüllten Chruschtschow-Zeit charakterisiert am deutlichsten, daß sich auch einige nationale und religiöse Gruppen dem Machtanspruch der Partei entziehen. Ob allerdings die angestrebte Intensivierung der Propaganda-Arbeit hier den gewünschten Wandel schafft, ist recht fraglich, solange sich diese in den ausgetretenen Bahnen der orthodoxen Lehre bewegt. Die hier erwachsenden Autoritäts- und Legitimitätsprobleme können nur durch neue und überzeugende, d.h. der Realität abgewonnene gesellschaftspolitische Konzeptionen gelöst werden. Von den Identifikationsproblemen und den Abnutzungserscheinungen der Machtausübung sind auch die anderen RGW-Staaten nicht verschont geblieben – wenngleich sie in sehr unterschiedlichem Maße davon betroffen sind. Faktoren wie sozio-ökonomisches Ausgangsniveau und Effizienz der kommunistischen Herrschaft, nationale Tradition und Erwartungshaltung der Bevölkerung, kritisches Potential der Intelligenz u.a. wirken ebenso differenzierend wie die Art der Herrschaftsausübung, die in der Ära der »sozialistischen Partnerschaft« – bei Wahrung der grundsätzlichen Prinzipien – recht unterschiedlich gehandhabt
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wird. Während in Rumänien die kommunistische Führung dem offenen Ausbruch eines gesellschaftlichen Konfliktes nur durch stalinistische Herrschaftspraktiken vorzubeugen weiß, verstand es Kádár in Ungarn, sich durch das Einräumen beträchtlicher Freiräume, d.h. Verzicht auf Herrschaftsanspruch, weitgehender Zustimmung der Bevölkerung zu versichern. Über eine Minderung der Herrschaftsintensität dürfen die destabilisierenden Faktoren insgesamt jedoch nicht hinausführen; wo sie herrschaftsgefährdend werden, wird systemkonformes Verhalten mit Gewalt herbeigeführt. Als verläßlichstes Machtinstrument haben sich im polnischen Konflikt die Streitkräfte erwiesen. Hier haben sich die Sorgfalt und die Intensität, mit der sich die kommunistischen Führungen seit langem ihrer Militärmacht annehmen und die z.B. in der DDR zu einer Militarisierungstendenz in der Jugendpolitik führten, nicht nur systemerhaltend, sondern auch – im Sinne der »Einheit des sozialistischen Lagers« – konfliktmindernd ausgewirkt, da eine Intervention der anderen Warschauer-Pakt-Staaten vermieden werden konnte. Von der Effizienz der militärischen Integration ist man jedoch im wirtschaftlichen Bereich noch weit entfernt. Ein neuer Integrationsschub als Honorierung sowjetischer Unterstützung für in Bedrängnis geratene Volkswirtschaften kleinerer Partnerländer wirft jedoch auch für diese die Frage nach weiteren Technologie-Importen auf, deren Einstellung negative Folgen nach sich zöge, die wiederum auch die Sowjetunion belasten. Sofern die Sowjetunion auch angesichts der internationalen Spannungen sich weiterhin darauf beschränkt, die Rahmenbedingungen zu setzen, bleibt die Abstimmung der nationalen Interessen schwierig, und die Koordinierungsprobleme bestehen fort. Dies gilt auch, und in verstärktem Maße, für die internationale kommunistische Bewegung. Zwar darf Moskau auf die Gefolgschaft jener kommunistischen Parteien in den Ländern der Dritten Welt zählen, deren politische Existenz weitgehend auf den finanziellen Zuwendungen der KPdSU beruht. Doch mit der Errichtung kommunistischer Regime in Entwicklungsländern ist das innerkommunistische Konfliktpotential gewachsen. Die kommunistische Weltbewegung muß in ihren eigenen Reihen den NordSüd- Konflikt austragen, woran sie im Falle der Volksrepublik China bereits einmal gescheitert ist. Durch den Export des kommunistischen Herrschaftssystems hat die Moskauer Zentrale die Interessen von Ländern höchst unterschiedlichen sozio-ökonomischen Niveaus zu berücksichtigen; neben den Industrieländern des RGW stehen Staaten wie Vietnam und Angola, Südjemen und Äthiopien. Daß daraus trotz aller ideologischer Konformität in der politischen Praxis gravierende Interessengegensätze entstehen können, die die »Einheit des sozialistischen Lagers« gefährden, hat sich jüngst erst wieder im Falle Afghanistan gezeigt. Die volkswirtschaftlichen Belastungen (auch wenn sie sehr viel geringer sind als jene durch das volkreiche China), die der Sowjetunion aus ihren Machtgewinnen entstehen und die nur zum geringen Teil auf die
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anderen RGW-Länder überwälzt werden können, sind hoch, selbst wenn den jungen »Volksrepubliken« in Moskau keineswegs jene Priorität eingeräumt wird wie dem – im doppelten Sinne des Wortes – teuren Prestigeobjekt Kuba. Gefordert ist, neben der politischen auch die ökonomische und soziale »internationale proletarische Solidarität« zu realisieren, wenn anders nicht die politische Schaden leiden soll. Zu Beginn der achtziger Jahre sieht sich die Sowjetführung vor einer diffizilen Problematik: Die ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten der RGW-Länder erheischen zur Sicherung der europäischen Hegemonialsphäre – der Priorität zukommt – massive sowjetische Hilfe, aber auch die Subventionierung der »Volksrepubliken« Asiens und Afrikas kann mit Rücksicht auf das Prestige der Sowjetunion nicht ernstlich reduziert werden. (In die Kosten-Nutzen-Rechnung dieser Rolle Moskaus ist außerdem noch einzuführen, daß deren Absicherung ein entsprechendes militärisches Potential verlangt.) Gelassenheit kann Moskau hingegen gegenüber den kommunistischen »Abweichlern« demonstrieren. Die Kraft der »Eurokommunisten« ist gebrochen, die sowjetische Führung muß kaum mehr befürchten, daß diese Spielart des »Revisionismus« ihre osteuropäische Hegemonialsphäre ernstlich tangiert. Zudem haben die Ereignisse in Polen die Funktionsfähigkeit der sowjetischen Sicherheitsinstrumente erwiesen, und die internationale Entwicklung mit ihrer Krise der Wirtschaft und des politischen Vertrauens hat eine zentripetale Tendenz zur Folge, die die Führungsrolle der Sowjetunion verstärkt. Das ehedem so störrische Jugoslawien Titos hat nach dem Tod seiner Integrationsfigur an Ausstrahlung und politischem Gewicht verloren, zumal es sich vor einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise sieht. Und Albanien ist nach dem Bruch mit seinem früheren Protektor China ohnedies zu einer quantité négligeable geworden, um so mehr, als es seine ultraorthodoxe Prinzipienfestigkeit aufgeben mußte. Diffizil bleibt weiterhin Moskaus Verhältnis zu Peking, obwohl das Jahr 1982 eine deutliche Verbesserung und Entkrampfung brachte. Sowohl die lange Vorbereitung – von der Sondierung durch den sowjetischen Fernost-Experten im März bis zu den Verhandlungen des stellvertretenden Außenministers Leonid Iljitschew im Oktober in Peking – wie auch die Dauer der Verhandlungen selbst (4.–29. Oktober) deuten ihre Schwierigkeit an, wobei die Abgrenzung der Einflußsphären in Ost- und Zentralasien das Grundproblem zu sein scheint. Läßt sich die Frage der »abweichlerischen« Parteien und Staaten (von China abgesehen) bei gleicher konstanter Entschiedenheit des politischen Standpunktes dilatorisch behandeln, so führte die sowjetische Afghanistan- und Polenpolitik nicht nur zur Krise des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses, sondern stellte auch das Konzept der »friedlichen Koexistenz« überhaupt in Frage. Die Moskauer Führung hat sich ob der westlichen Reaktionen, die durch USEmbargo, Nichtratifizierung des SALT-II-Abkommens und NATO»Doppelbeschluß« gekennzeichnet sind, irritiert gegeben. Nun war die Politik
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der Regierung Carter gewiß schwer kalkulierbar, ebenso gewiß aber war die Trendwende der amerikanischen Innenpolitik abzusehen. Die divergierende Interpretation des Korbes 3 des KSZE-Abkommens wie die massive Rüstung und die Expansion des kommunistischen Machtbereiches zwangen die Öffentlichkeit der westlichen Staaten, die Grundprinzipien kommunistischer Politik als gegeben zu akzeptieren. Damit aber zerbrach die Illusion der Konvergenztheorie (»Wandel durch Annäherung«), wurden jene politischen Kräfte des Westens gestärkt, die sich gegenüber der sowjetischen Herausforderung entschieden zu behaupten gewillt waren. Politische wie ökonomische Gründe drängen beide Seiten, die internationale politische Vertrauenskrise zu überwinden. Doch die Frage einer wirklichen »friedlichen Koexistenz«, die den Interessen beider Seiten gerecht wird, verlangt der sowjetischen Führung – vorausgesetzt, die westlichen Staaten halten an ihrer Position fest – ein prinzipielles Umdenken ab: Solange Moskau an der Geschlossenheit des »sozialistischen Lagers« gemäß »BreshnewDoktrin«, d.h. der Irreversibilität kommunistischer Machtergreifungen festhält, selbst dann, wenn dies dem bekundeten Willen der Majorität widerspricht, dürfte eine wie immer geartete Entspannung kaum zu erzielen sein. Angesichts der bewährten sowjetischen Praxis des Stillhaltens unter Absicherung der erzielten Gewinne sind bei der Bedeutung dieses Problems, das die Grundlagen kommunistischen Selbstverständnisses berührt, zunächst die politischen und intellektuellen Eliten des Westens gefordert. Solange Moskau annehmen darf, die offenen Gesellschaften des Westens zu einer Rückkehr zur »Entspannungspolitik« der sechziger und siebziger Jahre bewegen zu können, wird es auch hier auf Zeit setzen. Seine Frist ist freilich durch die ungenügende wirtschaftliche Effizienz des Systems und die darin enthaltenen Risiken bemessen. 6. Europa in der Weltpolitik Von Wilfried Loth I. Der schwierige Weg zur Entspannung Die Beziehungen zwischen den beiden Blöcken, in die die meisten europäischen Länder durch die Konfrontation der Weltmächte USA und UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg einbezogen worden waren, bewegten sich zwischen den Polen von Spannung und Entspannung. Einerseits legten die Kosten der Konfrontation und die offensichtliche Unmöglichkeit, der Gegenseite in wesentlichen Punkten den eigenen Willen aufzwingen zu können, immer wieder ein Arrangement zwischen Ost und West nahe; ferner motivierte das wachsende Risiko einer weitgehenden Zerstörung Europas, der Sowjetunion und schließlich auch der USA im Falle eines atomaren Krieges zusätzlich zum Abbau der Konfliktpotentiale. Andererseits standen einem solchen Abbau des Kalten Krieges auch beträchtliche Hindernisse entgegen: Das Gleichgewicht zwischen
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Ost und West mußte gewahrt erscheinen, zumindest aber überdeutliches Ungleichgewicht abgebaut werden; die wechselseitigen Bedrohungsvorstellungen mußten entmythologisiert, d.h. auf ihren realen Kern reduziert werden; die an Entspannung statt (bewußt oder unbewußt) an Aufrechterhaltung der Spannung interessierten Kräfte mußten in Ost und West das Übergewicht erlangen. Weil diese Voraussetzungen nicht sogleich und überhaupt nur selten in dieser Kombination vorhanden waren, wurde der Abbau des Kalten Krieges, nachdem die Blockbildung in Europa erst einmal vollendet war, zu einem langwierigen und ständig von Rückschlägen bedrohten Prozeß. Für die Nachfolger Stalins gab es auch nach dem Scheitern aller Versuche, die Integration der Bundesrepublik in die NATO zu verhindern, eine Reihe guter Gründe, ihre Entspannungsoffensive fortzusetzen: Die USA blieben der Sowjetunion trotz des Beginns der sowjetischen Wasserstoffbomben-Produktion im August 1953 in der nuklearen Rüstung weit überlegen (mit 1350 amerikanischen gegen 350 sowjetische Atombomben in gegenseitiger Reichweite im Jahr 1955); die unerläßliche Neuordnung des sowjetischen Herrschaftsgefüges (»Entstalinisierung«) war noch keineswegs zu einem soliden Abschluß geführt; und am Horizont zeichneten sich bereits die rasch immer tiefer werdenden chinesisch-sowjetischen Differenzen ab. Im Vordergrund der sowjetischen Entspannungsinitiativen stand jetzt das Bemühen um eine vertragliche Absicherung des Status quo in Europa, d.h. insbesondere um eine Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze; darüber hinaus zielten sie auf eine Eindämmung der nuklearen Rüstung und die Schaffung von Mechanismen zur Kriegsverhütung. Als Maximalziel propagierte die Sowjetführung außerdem die Zurückdrängung der amerikanischen Präsenz auf dem europäischen Kontinent; freilich konnte sie nach allem, was vorangegangen war, nicht im Ernst hoffen, bei einer umfassenden Verhandlungslösung auch in diesem Punkte erfolgreich zu sein. Auf der Berliner Außenministerkonferenz der vier Siegermächte Anfang 1954 präsentierte die Sowjetführung erstmals das Projekt eines »Vertrages über kollektive Sicherheit in Europa«, an dem die USA nur mit einem Beobachterstatus beteiligt sein sollten; auf der Genfer Gipfelkonferenz vom Juli 1955 folgte ein erster Vorschlag zur UN-kontrollierten Abrüstung sowie die Forderung nach Anerkennung der DDR; im März 1956 legte die Sowjetführung Pläne für eine Verminderung der konventionellen Streitkräfte und die Errichtung einer Inspektions- und Rüstungsbegrenzungszone in Europa vor. Die gleichzeitig propagierte Doktrin der »friedlichen Koexistenz«, die den Wettbewerb der Systeme auf den wirtschaftlichen und ideologischen Bereich beschränkte und den bewaffneten Konflikt im Zeitalter der nuklearen Bedrohung ausdrücklich ausschloß, sollte den sowjetischen Entspannungskurs innenpolitisch absichern und zugleich die Auflockerungstendenzen im Westen fördern1. Im westlichen Bündnis gab es eine ganze Reihe von Kräften, die daran interessiert waren, die sowjetischen Entspannungsofferten aufzugreifen: Eine
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Entdramatisierung der internationalen Lage versprach der europäischen Linken eine Stärkung ihrer innenpolitischen Position und den traditionellen Eliten ein größeres Maß an Eigenständigkeit ihrer Länder gegenüber den USA; allgemein schien sie notwendig geworden, weil die Hinwendung der USA zur Strategie der »massiven (atomaren) Vergeltung« und die Verstärkung der sowjetischen Atomrüstung die Gefahr vergrößert hatten, daß ein Konflikt zwischen Ost und West als atomarer Krieg auf europäischem Boden ausgetragen werden würde. In den USA sah sich die regierende Republikanische Partei aus innenpolitischen Gründen vor die Notwendigkeit gestellt, die Rüstungsausgaben zu drosseln; führende demokratische Abgeordnete plädierten für eine Ent-Militarisierung der westlichen Eindämmungspolitik, und Präsident Eisenhower verspürte durchaus die Neigung, als Friedenspräsident in die Geschichte einzugehen, der den Kalten Krieg nach der erfolgreichen Eindämmung des sowjetischen Expansionismus beendet hatte. Eine Fülle von »Disengagement«-Plänen verlieh dieser aus unterschiedlichen Motiven erwachsenen westlichen Entspannungsbereitschaft Ausdruck. So schlug der britische Premierminister Anthony Eden auf der Genfer Gipfelkonferenz die Schaffung einer Zone begrenzter Rüstung und wechselseitiger Rüstungsinspektion beiderseits der Ost-West-Demarkationslinie in Deutschland als Teil eines Wiedervereinigungsverfahrens vor; George Kennan forderte in einer Denkschrift vom Frühjahr 1956 die Schaffung eines »neutralen Gürtels« mitteleuropäischer Staaten einschließlich eines wiedervereinigten Deutschlands; der britische Oppositionsführer Hugh Gaitskell plädierte Anfang 1957 öffentlich für den Abzug aller auswärtigen Truppen aus der Bundesrepublik, der DDR, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn und die Errichtung eines internationalen Kontrollsystems für die mitteleuropäische Region2. Indessen waren Bundeskanzler Adenauer und mit ihm der überwiegende Teil der westdeutschen Öffentlichkeit nicht bereit, das Risiko einer Auflockerung der Westbindung der Bundesrepublik einzugehen, und erst recht nicht gewillt, den von der Sowjetführung unterdessen geforderten Preis einer Anerkennung des SED-Regimes als gleichberechtigten Verhandlungspartner zu zahlen; statt dessen versuchten sie, mit dem Anspruch, allein legitimiert für alle Deutschen sprechen zu können, den Weg für eine Wiedervereinigung »in Frieden und Freiheit«, d.h. im Rahmen des westlichen Bündnisses, offenzuhalten – in der vagen Hoffnung, die Sowjetführung werde bei hinreichender Stärke und Geschlossenheit des Westens eines Tages gezwungen sein, einer solch einseitigen Konzession zuzustimmen. Ähnlich hoffte der amerikanische Außenminister Dulles, die sowjetische Herrschaft über die osteuropäischen Länder könne, wenn der Westen nur genügend »Härte« zeige, schon in naher Zukunft aufgeweicht werden. Da sich solche Überlegungen immer noch auf ein breites Spektrum antikommunistischer Ängste in der westlichen Öffentlichkeit stützen konnten und die Bundesrepublik angesichts der Emanzipationstendenzen Großbritanniens und Frankreichs zudem unterdessen zum wichtigsten
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Bündnispartner der USA geworden war, gelang es Adenauer und Dulles, die westlichen Alliierten weitgehend auf ihre Maximalpositionen zu verpflichten und damit zunächst eine Entspannung des Ost- West-Konflikts auf der Basis des Status quo zu verhindern. So konnte Adenauer die westlichen Alliierten schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt (in dem 1952 paraphierten Deutschlandvertrag) auf seine Vorstellung von einer Wiedervereinigung in absoluter Selbstbestimmung und auf das Postulat festlegen, Schritte zur Abrüstung und allgemeinen Entspannung seien von sowjetischen Zugeständnissen in der Deutschlandfrage abhängig; Edens offizieller Entmilitarisierungsplan wurde dahingehend modifiziert, daß die mitteleuropäische Truppenverdünnung erst nach einer deutschen Wiedervereinigung und mit der Oder-Neiße-Linie statt der Elbe-Werra-Linie als Mittelpunkt erfolgen sollte. Da die Sowjetführung keine Notwendigkeit sah, ohne westliche Gegenleistungen auf ihren Einfluß in Deutschland und im östlichen Mitteleuropa zu verzichten, und der Westen tatsächlich über keine Machtmittel verfügte, einen solchen Verzicht zu erzwingen, blieb der Entspannungsdialog zwischen Ost und West schon in den ersten Anfängen stecken. Die Sowjetführung stimmte im Frühjahr 1955 dem von den Westmächten als Voraussetzung für den Beginn von Entspannungsgesprächen geforderten Abschluß eines Staatsvertrags für Österreich zu, der das bisher von alliierten Truppen besetzte Land in die dauernde Neutralität entließ, und lud Adenauer zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen nach Moskau ein; dieser nahm, um über einen direkten Draht zur sowjetischen Führung zu verfügen, an, drohte im übrigen aber jedem anderen Land, das die DDR diplomatisch anerkannte und damit den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch in Frage stellte, den Abbruch der diplomatischen Beziehungen an (»Hallstein-Doktrin« vom Dezember 1955). Die Genfer Gipfelkonferenz vom Juli 1955 blieb ohne konkrete Ergebnisse, und die daran anschließende Genfer Konferenz der alliierten Außenminister im Oktober/November 1955 endete in wechselseitiger Polemik. Freilich verfügte die Bundesregierung nicht über genügend Gewicht, um den Entspannungsprozeß auf Dauer aufhalten zu können, und auch Dulles verlor innerhalb der amerikanischen Administration bald an Einfluß. Schon im Frühjahr 1956 zeigten die britische und die französische Regierung Tendenzen, die deutsche Wiedervereinigung nicht länger als Voraussetzung, sondern allenfalls als Folge von Abrüstungsverhandlungen zu betrachten. Ebenso sondierte der republikanische Abgeordnete Harold Stassen mit Billigung Präsident Eisenhowers in Moskau wegen der Abrüstungsfrage, ohne auf Adenauers Junktim Rücksicht zu nehmen. Während des ungarischen Volksaufstandes im Oktober/November 1956 unterließen die Westmächte jede Art von Intervention im Sinne einer »Politik der Stärke«, vielmehr zeigten sie gerade in diesem Moment ein bisher nicht dagewesenes Maß an Uneinigkeit: Frankreich und Großbritannien nutzten die Konzentration der Weltöffentlichkeit
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auf die Ungarn-Krise zu einer Militärexpedition gegen Ägypten, das zuvor den Suezkanal nationalisiert hatte, mußten ihr Unternehmen aber dann erfolglos abbrechen, als nicht nur die Sowjetregierung, sondern auch die amerikanische Regierung massiven Druck gegen diesen verspäteten Versuch europäischer Großmachtpolitik ausübte. In den USA fiel im gleichen Herbst 1956 die Entscheidung, die konventionellen Streitkräfte in Europa zugunsten der Stationierung von Atomwaffen zu reduzieren (wenn auch nicht so massiv wie im ursprünglichen »Radford-Plan« vom Juni 1956 vorgesehen); damit brachen die militärstrategischen Voraussetzungen für eine tatsächlich offensive »Politik der Stärke«, wenn es sie überhaupt je gegeben hatte, definitiv zusammen; das westliche Militärinstrumentarium beschränkte sich fortan auf die Abschreckung potentieller sowjetischer Angriffe durch atomare Vergeltung. Die Bundesregierung, die dieser defensiven Umorientierung zunächst beträchtlichen Widerstand entgegengesetzt hatte, begann sich Ende 1956 unter dem Einfluß ihres Verteidigungsministers Franz Josef Strauß selbst auf die neue Situation einzustellen: Um einen weiteren Gewichtsverlust der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses und dessen weitere Auflockerung zu verhindern, forderte sie, nun wenigstens auch die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen auszurüsten3. Die Sowjetführung und zahlreiche Entspannungsbefürworter in Osteuropa wie im Westen verstanden allerdings beides, die Steigerung der amerikanischen Atomrüstung und die – von der Eisenhower-Regierung nicht grundsätzlich zurückgewiesene -westdeutsche Forderung nach Ausrüstung mit Atomwaffen, als Signal für eine riskante Eskalation der »Politik der Stärke« und konzentrierten ihre Entspannungspläne darum jetzt auf die Idee einer »atomwaffenfreien Zone« in Europa. Der polnische Außenminister Adam Rapacki propagierte seit dem Frühjahr 1957 den Plan einer Zusammenfassung der Bundesrepublik, der DDR, Polens und der Tschechoslowakei in einer solchen atomwaffenfreien Zone ohne Aufkündigung der jeweiligen Bündniszugehörigkeit – deutlich bemüht, damit zugleich auch seinem Land ein größeres Maß an Handlungsspielraum gegenüber der Sowjetunion zu ermöglichen. Auch die westlichen Disengagement- Befürworter wie Kennan bewegten sich nun in ähnlichen Vorstellungen. Die Sowjetführung griff Rapackis Formel auf, d.h. sie nahm das Risiko einer gewissen Emanzipation der Osteuropäer in Kauf, um die Gegner einer Anerkennung des deutschlandpolitischen Status quo im Westen weiter zu isolieren und die Stationierung von Atomwaffen auf westdeutschem Territorium zu verhindern. Anfang 1958 schien ihr die Entwicklung im Westen weit genug gediehen zu sein, um eine Anerkennung der deutschlandpolitischen Realitäten zu erzwingen; mit großem Propagandaaufwand betrieb sie nun die Einberufung einer neuen Gipfelkonferenz, auf der offensichtlich der Status quo in der deutschen Frage festgeschrieben und eine dauerhafte Barriere gegen eine atomare Bewaffnung der Bundesrepublik errichtet werden sollte.
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Die sowjetischen Hoffnungen erfüllten sich nicht: Die Neigung der Westmächte, sich mit der Sowjetunion zu arrangieren, ohne zuvor eine Preisgabe der SED-Herrschaft in der DDR erreicht zu haben, war zwar inzwischen so stark geworden, daß sich Adenauer gezwungen sah, selbst in Moskau zu sondieren und das Junktim von Wiedervereinigung und Abrüstung umzukehren; doch gelang es ihm gerade mit der Forderung nach Verhandlungen über eine globale Abrüstung, dem regionalen Abrüstungsplan Rapackis den Wind aus den Segeln zu nehmen, und die Konzentration auf die Abrüstungsfrage führte insgesamt dazu, den potentiellen westlichen Dissens über den Stellenwert einer Wiedervereinigung »in Freiheit« in den Hintergrund treten zu lassen. Im Dezember 1957 beschloß eine NATO-Gipfelkonferenz die Stationierung von Atomsprengköpfen im gesamten europäischen Bündnisgebiet; im Februar 1958 erklärte der NATO- Oberbefehlshaber General Norstad die atomare Bewaffnung der Bundeswehr öffentlich zur politischen und militärischen Notwendigkeit; Ende Mai 1958 stimmte der Deutsche Bundestag der Übernahme von Atomwaffen zu, und die westlichen Alliierten erklärten erneut die Bildung einer aus freien Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Regierung zur Voraussetzung für den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland. Das Äußerste, wozu sich Adenauer bereit fand, war das vertrauliche Angebot einer »Österreich-Lösung« für die DDR, d.h. eines vorläufigen Verzichts auf die Wiedervereinigungsforderung, wenn die Sowjetführung bereit war, die DDR zu einem pluralistisch-demokratischen Staat umzugestalten und in die Neutralität zu entlassen4. Selbst dies war weit mehr, als das Gros der westdeutschen Öffentlichkeit zuzugestehen bereit war; als der Philosoph Karl Jaspers mehr als zwei Jahre später einen gleichlautenden Vorschlag öffentlich zur Diskussion stellte, stieß er auf allgemeine Ablehnung. Für die Sowjetführung aber war es natürlich entschieden zu wenig; ihre Bemühungen um eine Absicherung des Status quo waren in eine Sackgasse geraten. Um doch noch zu dem gewünschten Erfolg zu kommen (und sich mit diesem Erfolg auch innenpolitisch abzusichern), drohte Nikita Chruschtschow, der unterdessen zum ersten Mann in der Moskauer Hierarchie aufgestiegen war, den Westmächten nun den Zugang zu West-Berlin zu versperren. In einer Note vom 27. November 1958 forderte er sie auf, sich innerhalb von sechs Monaten mit der Sowjetregierung über einen Friedensvertrag zu einigen, der beide deutsche Staaten aus den bestehenden Bündnissystemen herauslöste und West-Berlin bis zum Zeitpunkt einer eventuellen Wiedervereinigung den Status einer entmilitarisierten freien Stadt gab; für den Fall, daß eine solche Einigung nicht zustande kam, kündigte er an, die Kontrolle der alliierten Zufahrtswege nach West- Berlin in die Hände der DDR zu legen und der DDR bei der Wahrnehmung ihrer Kontrollrechte zur Seite zu stehen. Damit waren die Westmächte – so Chruschtschows Kalkül – geradezu gezwungen, substantiellere Verhandlungsangebote in bezug auf die Anerkennung des Status quo und die Verhinderung der atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik vorzulegen: Einen
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Rückzug aus West-Berlin konnten sie sich nicht leisten, wollten sie nicht eine möglicherweise bis zur Auflösung gehende schwerwiegende Erschütterung des NATO-Bündnisses riskieren; einen bewaffneten Konflikt wegen der Aufrechterhaltung ihrer Rechte in Berlin und des Bonner Alleinvertretungsanspruchs konnten sie aber ebensowenig riskieren, da er infolge der westlichen Konzentration auf die strategische Rüstung alsbald zu einer atomaren Konfrontation zu eskalieren drohte; folglich mußte ihnen jetzt schon die Bewahrung des Status quo als ein Erfolg erscheinen. Daß die amerikanische Führung nicht mehr bereit sein würde, sich über die Aufrechterhaltung des Status quo hinaus zu engagieren, schien Chruschtschow um so wahrscheinlicher, als unterdessen durch den Beginn des sowjetischen Interkontinental-Raketenbaus im Prinzip auch das amerikanische Territorium in die Reichweite einer atomaren Konfrontation geraten war5. In der Tat bewegte sich nun selbst Dulles, um die alliierte Position in Berlin zu retten, auf eine Anerkennung der DDR zu, und der britische Premierminister Harold Macmillan reiste im Februar 1959 nach Moskau, um die Möglichkeit eines beiderseitigen Disengagements in Mitteleuropa zu diskutieren. Adenauer hingegen suchte jede Art von Verhandlungen zu verhindern, nicht nur, weil er ansonsten zu Recht ein endgültiges Fiasko seiner Wiedervereinigungspolitik auf sich zukommen sah, sondern auch, weil er in der Initiative Chruschtschows irrigerweise einen neuen Versuch sowjetischer Machtausdehnung in Mitteleuropa vermutete6, der allein durch »Standfestigkeit« des Westens abgewehrt werden konnte. Unterstützung für seine Haltung fand er überraschenderweise bei dem neuen französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle: Dieser war zwar, wie seine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im März 1959 eigentlich hätte zeigen müssen, keineswegs wie Adenauer an einer Revision des Status quo in der deutschen Frage interessiert, wollte aber andererseits eine Festschreibung oder gar Verstärkung des amerikanischsowjetischen Kondominiums über Europa verhindern und hoffte im übrigen, sich die Bundesrepublik als Bundesgenossen für seinen Kampf um Emanzipation von amerikanischer Vorherrschaft verpflichten zu können. Die These vom sowjetischen Expansionismus half beiden, die amerikanische Verhandlungsbereitschaft wieder etwas einzudämmen; dennoch mußten sie es hinnehmen, daß sich die Position der Bundesrepublik Schritt für Schritt verschlechterte: Nach langem Zögern – Chruschtschow hatte unterdessen im März 1959 sein Ultimatum aufweichen müssen – fanden sich die Westmächte schließlich doch zu Verhandlungen auf Außenministerebene bereit; an diesen Verhandlungen, die vom Mai bis August 1959 in Genf stattfanden, nahmen nicht nur Vertreter der Bundesrepublik, sondern formal gleichgestellt auch Vertreter der DDR als »Berater« der westlichen bzw. sowjetischen Delegationen teil; die sowjetische Delegation erreichte es, daß in der zweiten Konferenzhälfte nur noch über Berlin und nicht mehr über die westlichen Vorstellungen von einer Wiedervereinigung »in Freiheit« verhandelt wurde; zum Schluß ließen die
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Westmächte sogar ihre Bereitschaft zur Einschränkung ihrer Präsenz in Berlin erkennen. Auf die entscheidenden sowjetischen Forderungen – Anerkennung der DDR und Atomwaffenfreiheit in Mitteleuropa – gingen die Westmächte allerdings nicht ein; so blieb die Konferenz ohne greifbares Ergebnis, und Chruschtschow versuchte weiter, mit einer Mischung von demonstrativen good-will-Gesten gegenüber den USA, heftigen Attacken gegen den bundesdeutschen »Revanchismus« und mysteriösen Drohungen den Westen zu dem gewünschten Agreement zu bewegen. Nach einem erfolgversprechenden Auftakt – der USAReise Chruschtschows im September 1959 – blieben jedoch weitere Fortschritte im sowjetischen Sinne aus; um einer neuen Niederlage zu entgehen, sagte Chruschtschow seine Teilnahme an der für Mai 1960 anberaumten Gipfelkonferenz im letzten Moment ab, dann versuchte er im Herbst 1960, sich der Bundesregierung direkt zu nähern, und schließlich erneuerte er bei der ersten Begegnung mit dem neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy am 3./4. Juni 1961 das Berlin-Ultimatum in aller Form. Kennedys Antwort – die öffentliche Bekundung, bezüglich Berlins »three essentials« verteidigen zu wollen, nämlich das Recht der Westalliierten auf uneingeschränkte Präsenz in West-Berlin, ihren freien Zugang zu West-Berlin und das Recht der Westberliner Bevölkerung auf freie Wahl ihrer Lebensform – bestätigte die Sowjetführung in ihrer Vermutung, daß die Westmächte nicht bereit waren, sich über eine Wahrung des deutschlandpolitischen Status quo hinaus zu engagieren; damit war der Weg frei für die Absperrung des DDR-Flüchtlingsstroms durch den Bau der Berliner Mauer vom 13. August 1961 an. In der Tat begnügte sich Kennedy nach dem Mauerbau (der gegen die Viermächte-Verantwortung für GesamtBerlin verstieß) mit verbalen Protesten; Gegenaktionen, wie sie die Bundesregierung erhoffte – etwa ein Aufmarsch westlicher Panzer an den Sektorengrenzen oder eine Wirtschaftsblockade gegen die Sowjetunion –, wurden nicht unternommen7. Der Bau der Berliner Mauer löste im westlichen Bündnis unterschiedliche Reaktionen aus. Die drei Westalliierten nahmen erleichtert zur Kenntnis, daß es der Sowjetführung tatsächlich nur um eine Absicherung ihres Machtbereichs, nicht um eine Machtausdehnung über die bestehenden Grenzen in Mitteleuropa hinaus ging, und suchten nun, wie von der Sowjetführung gewünscht, zu einer Absicherung ihrer Präsenz in Berlin im Austausch für eine Anerkennung der DDR zu kommen; in der Bundesrepublik aber verbreitete sich geradezu schockartig die Einsicht, daß die westlichen Alliierten nicht (oder zumindest nicht länger) bereit waren, sich der Festschreibung des Status quo im Interesse einer (wie auch immer zu erreichenden) Revision der deutschlandpolitischen Realitäten zu widersetzen. Langfristig führte diese Einsicht auch die westdeutschen Politiker dazu, Wiedervereinigung nicht mehr als Voraussetzung, sondern allenfalls noch als Folge der Entspannung zu begreifen; zunächst aber versuchte Adenauer noch einmal, im Vertrauen auf die Allianz mit de Gaulle,
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sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. So blieb auch das nächste westliche Verhandlungsangebot noch unterhalb der Grenze des von der Sowjetführung als notwendig Erachteten: Im April 1962 schlug die amerikanische Regierung die Schaffung einer internationalen ZugangsKontrollbehörde für Berlin vor, an der die Bundesrepublik und die DDR gleichberechtigt beteiligt sein sollten, dazu wechselseitige Erklärungen der »Unverletzlichkeit der Demarkationslinien« in Mitteleuropa – eine de-factoAnerkennung des Status quo, aber mit Rücksicht auf Adenauer noch ohne formelle völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Während sich also in der Frage des Status der DDR ganz allmählich ein sowjetischer Erfolg abzeichnete, begannen sich im übrigen die Perspektiven für die Sowjetführung wieder zu verdüstern: Von der Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa war im Westen nicht mehr die Rede; vielmehr diskutierten die westlichen Alliierten nun über die Einbeziehung der Bundesrepublik in eine multilaterale NATO-Atomstreitmacht. Überhaupt hatte die strategische Rüstung des westlichen Bündnisses infolge des Chruschtschowschen Nervenkrieges seit Herbst 1958 und das Erschrecken über die – vermeintliche – westliche »Raketenlücke« beträchtlich zugenommen; und die Kennedy-Administration bemühte sich, um flexiblere Reaktionen des Bündnisses in Krisensituationen zu ermöglichen, nun auch wieder um eine Ausweitung der konventionellen Rüstung. 1962 verfügten die USA über etwa 300 Interkontinentalraketen für den Transport von Nuklearsprengköpfen, die Sowjetunion aber nur über 70 annähernd vergleichbare Raketen8, und das amerikanische Verteidigungsministerium bekannte sich öffentlich zu der Fähigkeit, die Sowjetunion auch nach einem sowjetischen Atomangriff auf die USA zerstören zu können (»Zweitschlagskapazität«). Auch wenn die Sowjetführung unterdessen aus dem westlichen Verhalten in der Berlin-Krise hatte lernen können, daß die Westmächte nicht daran dachten, den sowjetischen Machtbereich in Europa in Frage zu stellen, blieb die Aussicht auf eine dauerhafte Suprematie der USA in der Weltpolitik bedenklich genug – um so mehr, als inzwischen die chinesische Führung entschlossen war, den Weg zur Atommacht auch gegen sowjetischen Widerstand zu beschreiten. Als im Sommer 1962 militärische Demonstrationen an den Zufahrtswegen nach Berlin bei den Westmächten keinerlei Wirkung mehr zeigten, entschied sich Chruschtschow darum für den Versuch, die USA mit einer massiveren Drohung zu einem Agreement zu bewegen: Vom September 1962 an ließ er insgeheim Mittelstreckenraketen auf der Insel Kuba aufstellen, die die Metropolen an der amerikanischen Ostküste direkt bedrohten – offensichtlich mit dem Ziel, die westliche Öffentlichkeit nach dem Abschluß der Installationsarbeiten mit der neuartigen Bedrohung zu konfrontieren und auf diese Weise nicht nur die Anerkennung der DDR zu beschleunigen, sondern auch einen Friedensvertrag mit Deutschland zu erzwingen, der Mitteleuropa zur kernwaffenfreien Zone werden ließ. So sollte die Grundlage für eine Regelung geschaffen werden, die
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den Besitz von Kernwaffen auf die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beschränkte und den Rüstungswettlauf zwischen Ost und West in kontrollierbare Bahnen lenkte9. Die Entdeckung der sowjetischen Installationen durch amerikanische Aufklärungsflugzeuge am 14./15. Oktober 1962 durchkreuzte dieses Kalkül: Chruschtschow sah sich zum Abzug der Raketen gezwungen (28. Oktober), nachdem die Kennedy-Regierung den Zugang zu der Insel blockiert und mit einer (konventionellen) militärischen Intervention gedroht hatte, der die Sowjetführung, wollte sie nicht einen Atomkrieg riskieren, nichts entgegenzusetzen hatte. Damit war die sowjetische Pressionsoffensive gescheitert; Chruschtschow sah sich genötigt, die amerikanische Suprematie zunächst einmal hinzunehmen und sich in Europa mit einer de-factoRespektierung des Status quo zu begnügen. Von einem Ultimatum bezüglich des westlichen Zugangs nach Berlin war nicht länger die Rede; im Frühjahr 1963 zeigte sich die Sowjetregierung bereit, auf Adenauers »Burgfriedens«-Gedanken einzugehen, der die deutsche Frage für zehn Jahre unangetastet zu lassen versprach; und im Juni 1964 unterzeichneten die Sowjetunion und die DDR einen »Freundschaftsvertrag«, der sich ausdrücklich auf die zuvor bestrittene Viermächteverantwortung für Deutschland bezog. Auch ansonsten hatte die Kuba-Krise ein Nachlassen der Ost-West-Spannung zur Folge: Das westliche Europa hatte sich als widerstandsfähig gegen die vermeintliche sowjetische Expansionsdrohung erwiesen; der westliche Anspruch auf Revision der Verhältnisse im sowjetischen Machtbereich war der Notwendigkeit, einen atomaren Konflikt zu verhüten, untergeordnet worden; das Verhalten der Führungsgruppen in Ost und West hatte bewiesen, daß sich beide Seiten im wesentlichen als saturiert betrachteten. Damit war der ideologischen Deutung des Ost-West-Konflikts als einer auf Sieg oder Untergang angelegten globalen Auseinandersetzung eine wesentliche Grundlage entzogen. Nach der Sowjetführung betrachteten nun auch die westlichen Verbündeten die Normalisierung der Ost-West-Beziehungen auf der Basis des Status quo als ihre Hauptaufgabe. Hinzu kam, daß das Erlebnis der Kuba- Krise auf beiden Seiten das Bewußtsein für die Notwendigkeit verstärkte, Vorsorge gegen einen ungewollten selbstmörderischen Atomkrieg zu treffen; so wurden die Ost-WestGespräche über Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung jetzt wieder aufgenommen; im Juni 1963 wurde eine direkte Fernschreibverbindung zwischen den Entscheidungszentren in Moskau und Washington errichtet; einen Monat später einigten sich die Atommächte USA, Großbritannien und Sowjetunion über ein Verbot weiterer Kernwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. II. Zwischen Kondominium und Emanzipation
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Mit der Wende zum Abbau der Spannungen zwischen Ost und West nahmen die Spannungen innerhalb der beiden Lager naturgemäß wieder zu. Während die Sowjetführung auf ein Arrangement mit den USA hingearbeitet hatte, um ihren Machtbereich zu stabilisieren, und sich die USA nun mehr und mehr bereit zeigten, auf ein solches Arrangement einzugehen, auch wenn es auf Kosten gewisser Interessen ihrer westeuropäischen Verbündeten ging, bot die Entspannung den Westeuropäern die Chance, sich von der amerikanischen Führungsmacht etwas zu emanzipieren, und ähnlich bedeutete sie für die Osteuropäer die Möglichkeit zur Verbreiterung des eigenen Spielraums gegenüber der sowjetischen Hegemonialmacht. Soweit es die jeweilige Gegenseite betraf, unterstützten die beiden Blockführungsmächte natürlich die Tendenz zur Auflockerung der Blockbindungen; innerhalb der eigenen Hemisphäre suchten sie dagegen nach Wegen, die Loyalität der Verbündeten trotz der Reduzierung des Ost-West-Gegensatzes zu sichern. So bewegte sich die Entspannungspolitik in Europa nach dem Ende der Berlin-Krise zwischen Tendenzen zu einer neuen europäischen Autonomie in Ost und West und Ansätzen zu einem amerikanisch-sowjetischen Kondominium über den alten Kontinent, und es dauerte bis zum Ende der sechziger Jahre, ehe zwischen diesen Alternativen ein für alle Beteiligten einigermaßen akzeptables Gleichgewicht gefunden wurde. Der Entspannungsprozeß selbst kam, solange er auf den verschiedenen Ebenen ungleichmäßig verlief, insgesamt nur langsam, von Rückschlägen und Stagnation unterbrochen, voran. Präsident Kennedy hoffte, den Emanzipationstendenzen der westeuropäischen Verbündeten genügend entgegenzukommen, indem er einem substantiell geeinten Europa die »Partnerschaft« der USA anbot: Die europäischen Staaten sollten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft unter Einschluß Großbritanniens ausbauen und, auf diese Weise gestärkt, größere Verantwortung in der Weltpolitik übernehmen; zwischen den USA und einem Vereinten Europa sollten – zum beiderseitigen Nutzen – die Zollschranken vollständig abgebaut werden; darüber hinaus sollte den europäischen Staaten im Rahmen einer multilateralen NATO-Atomstreitmacht ein atomares Mitspracherecht eingeräumt werden. Wieweit Mitbestimmung und Partnerschaft tatsächlich gehen sollten, blieb ungesagt. Deutlich war nur, daß die multilaterale Atomstreitmacht keineswegs an die Stelle der bisherigen amerikanischen Streitmacht treten, diese vielmehr nur im europäischen Bereich ergänzen und entlasten sollte, so daß eine vollständige Gleichberechtigung zwischen Europäern und amerikanischer Bündnisvormacht ausgeschlossen blieb. Sicher war dagegen, daß Kennedys »Grand Design« (so der Titel des Buches, in dem er seine Konzeption darlegte) der dauerhaften Bindung der Europäer an die USA dienen und der Entwicklung einer von den USA unabhängigen europäischen Wirtschafts- und Atommacht zuvorkommen sollte; die Formulierung der Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock fiel in
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seinem Verständnis – wie in seiner Praxis – eindeutig der amerikanischen Führungsmacht zu. Demgegenüber hatte der französische Staatspräsident de Gaulle schon im September 1958 für Frankreich die volle Gleichberechtigung mit den USA gefordert (im Rahmen eines NATO-Dreierdirektoriums zusammen mit Großbritannien und den USA) und, als Präsident Eisenhower diese Forderung unter Hinweis auf die damit gegebene Benachteiligung der übrigen NATOBündnispartner abgelehnt hatte, die Entwicklung einer eigenständigen französischen Atomrüstung forciert. Sosehr er das atlantische Bündnis zur Aufrechterhaltung des Ost-West-Gleichgewichts als notwendig betrachtete, so wenig war er bereit, den Schutz der Europäer ganz der Entscheidung der amerikanischen Führungsmacht anzuvertrauen und sich auf einen über den aktuellen Zweck des Bündnisses hinausgehenden atlantischen Vergemeinschaftungsprozeß einzulassen. Solange die Sowjetführung mit dem Berlin-Ultimatum gedroht hatte, hatte er seine Gleichberechtigungsforderungen um der notwendigen Solidarität der westlichen Allianz willen zurückgestellt (und dabei gegenüber den sowjetischen Drohungen eine besonders »feste« Position bezogen); jetzt aber, nachdem der Ausgang der Kuba-Krise in seiner Sicht die amerikanische Suprematie bewiesen hatte, pochte er mit um so größerem Nachdruck auf die Autonomie Frankreichs gegenüber den USA. Nachdem Macmillan bei einer Begegnung mit Kennedy im Dezember 1962 in Nassau der Integration der britischen Atomrüstung in die geplante multilaterale NATO- Atomstreitmacht zugestimmt hatte (die Entwicklung einer eigenen britischen Atomrakete hatte sich als zu kostspielig erwiesen), erhob de Gaulle auf einer spektakulären Pressekonferenz am 14. Januar 1963 sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG und brachte so das Kernstück von Kennedys »Grand Design« zum Scheitern. Die multilaterale Atomstreitmacht verurteilte er ebenso wie das Atomteststopp- Abkommen, und nach einer Serie weiterer öffentlicher Angriffe auf die Politik der USA erklärte er schließlich am 7. März 1966 den Austritt Frankreichs aus der militärischen Organisation des Atlantikpakts (nicht aus dem Pakt selbst) – die amerikanischen Truppen mußten das französische Territorium verlassen, das Hauptquartier der NATO wurde von Paris nach Brüssel verlegt. Aus Furcht vor einem amerikanisch-sowjetischen Arrangement auf Kosten der Europäer intensivierte er gleichzeitig die Kontakte zur Sowjetunion und betonte die Gemeinsamkeit der Interessen der Europäer »vom Atlantik bis zum Ural«10. Die Problematik der de Gaulleschen Politik lag darin, daß der General zur Durchsetzung seines Autonomieanspruchs gegenüber den USA die Unterstützung der europäischen Bündnispartner brauchte, aber, solange er nicht sicher sein konnte, daß ein vereintes Europa seinem Verständnis von Unabhängigkeit Folge leisten würde, nicht bereit war, sich mit diesen Bündnispartnern unwiderruflich zu verbinden, während die Partner diese Bereitschaft bis zu einem gewissen Grade durchaus zeigten, es jedoch ihrerseits
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ablehnten, sich der französischen Führung unterzuordnen. An diesem Widerspruch scheiterte schon der Plan einer politischen Konsultationsgemeinschaft zwischen den EWG-Staaten, den de Gaulle im Sommer 1960 entwickelt hatte und der dann im Fouchet- Plan vom Oktober 1961 konkretisiert worden war: In dem Maß, wie insbesondere die Repräsentanten Belgiens und der Niederlande auf Bindung an die USA und Supranationalität insistierten, beharrte de Gaulle immer mehr auf der Entscheidungsfreiheit Frankreichs, bis schließlich beide Seiten im April 1962 nur noch die völlige Gegensätzlichkeit ihrer Auffassungen feststellen konnten. Für ein knappes Jahr blieb de Gaulle daraufhin noch die Hoffnung, ein unabhängiges Europa über eine engere deutsch-französische Union zu erreichen, da Adenauer, von der amerikanischen Entspannungspolitik enttäuscht, nun ganz bewußt einen engeren Anschluß an Frankreich suchte. Indessen beruhte diese Annäherung Adenauers an de Gaulle zumindest zu einem Teil auf einem Mißverständnis der Zielsetzungen des Generals, und eine wachsende Mehrheit der bundesdeutschen Öffentlichkeit war nicht bereit, Adenauer bei seiner Distanzierung von der amerikanischen Führung und deren Entspannungspolitik zu folgen, so daß der Deutsche Bundestag am 8. Mai 1963 den deutsch-französischen Konsultationsvertrag vom 16. Januar 1963 mit einer Präambel versah, die all das bekräftigte, was de Gaulle verhindert wissen wollte: die atlantischen Bindungen, das Streben nach Supranationalität und die Bemühungen um einen EWG-Beitritt Großbritanniens. Nach diesem zweiten Fehlschlag begnügte sich de Gaulle in seiner Europapolitik mit der Blockierung aller Ansätze zu einer Ausweitung der mit der EWG begonnenen Integration11, und seinen Feldzug für die Unabhängigkeit von den USA führte er als strikt nationalstaatliche, bisweilen nationalistische Kampagne. Auf sich allein gestellt, verfügte Frankreich freilich nicht über genügend Gewicht, um die amerikanische Vormachtstellung wirkungsvoll zu erschüttern; obwohl de Gaulle mit seiner Kritik an den USA vielfach nur offen sagte, was neben einer Mehrheit der Franzosen auch ansonsten viele Europäer insgeheim dachten, blieben seine Emanzipationsbemühungen folglich weithin im Deklamatorischen stecken. Die zunehmende Isolierung der deutschen »Gaullisten« um Adenauer zeigte sich auch in der Zustimmung der Bundesregierung zum AtomteststoppAbkommen sowie in ersten Bemühungen um eine Entspannung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. Teile der CDU um Außenminister Gerhard Schröder, die mitregierende FDP und die oppositionelle SPD stimmten darin überein, die Lösung der deutschen Frage nicht mehr in einer »Politik der Stärke« zu suchen, sondern in Anlehnung an die amerikanische Entspannungspolitik in einem Wandel der bestehenden Regime im sowjetischen Machtbereich zu größerer Liberalität und Autonomie, die es ermöglichen sollten, die Teilung Europas und damit Deutschlands in einem langfristigen Prozeß schließlich zu überwinden. Mit Rücksicht auf die Anhänger der traditionellen Adenauerschen Politik in der CDU und der Öffentlichkeit hielt die
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Regierungskoalition dabei noch an der Nichtanerkennung der Oder-NeißeGrenze und der DDR fest, doch war das Interesse der osteuropäischen Regierungen an einer Auflockerung der Blockbindungen groß genug, daß es Schröder auf dieser Basis gelang, von März 1963 bis März 1964 Handelsverträge mit Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien abzuschließen, in die stillschweigend auch West-Berlin einbezogen wurde, und in allen diesen Ländern Handelsmissionen zu errichten12. Die mit dieser Politik verbundenen Hoffnungen auf eine Isolierung und schließliche Preisgabe der DDR (so neben Teilen der CDU insbesondere der amerikanische Ostexperte Zbigniew Brzezinski) erfüllten sich jedoch nicht: Die Sowjetführung fand im deutschen Festhalten am Alleinvertretungsanspruch ein Mittel, die Autonomiebewegung der Osteuropäer zu bremsen und die Bundesrepublik gegenüber der »Konkurrenz« der amerikanischen und der französischen Entspannungsbemühungen zu isolieren. Auf Moskauer Druck hin verweigerte die Regierung der Tschechoslowakei die Zustimmung zu einem West-Berlin einschließenden Handelsabkommen; alle Staaten des Warschauer Paktes ließen sich auf die Formel verpflichten, eine weitere Verbesserung der Beziehungen zur Bundesrepublik sei von der Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze, der DDR und der »selbständigen politischen Einheit« West-Berlin abhängig zu machen. Daß die Entspannungspolitik zunächst nicht die von den Deutschen und Europäern erhofften Früchte trug, hing wesentlich mit dem amerikanischen Engagement in Vietnam zusammen. Der Konflikt, der mit der Entsendung amerikanischer Truppen zur Unterstützung des labilen südvietnamesischen Regimes durch die Kennedy-Administration begonnen hatte, eskalierte unter Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson Jahr für Jahr: Um »den Kommunismus« einzudämmen, weitete Johnson das amerikanische Kontingent in Südvietnam allein im Jahr 1965 von 23000 auf 184000 Mann aus; im Februar 1965 begann er mit der Bombardierung Nordvietnams; schließlich, im Sommer 1969, kämpften 543000 amerikanische Soldaten auf vietnamesischem Territorium13. Die bewaffnete Auseinandersetzung der USA mit einer kommunistisch gesteuerten Befreiungsbewegung und einem kommunistischen Land hinderte die Sowjetführung, seit dem Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 ohnehin unsicher und vorsichtig geworden, die Verständigung mit den Westmächten so weit zu treiben, wie sie nach dem Kuba-Debakel im Interesse des Sowjetstaates zunächst notwendig erschienen war; um nicht ihren Kredit bei den kommunistischen Parteien zu verspielen, war sie vielmehr gezwungen, in die weltweite Kritik am amerikanischen »Imperialismus« einzustimmen und die Kooperation der beiden Supermächte sorgfältig zu dosieren. Erleichtert wurde ihr dieser Drahtseilakt durch den Umstand, daß mit zunehmender Verstrickung der USA in den Vietnamkrieg die Notwendigkeit zu Zugeständnissen an die westliche Seite schwand: Die materiellen, moralischen und Prestige-Verluste, die die USA infolge des »schmutzigen Krieges« erlitten, wogen die sowjetische Unterlegenheit gegenüber der westlichen Führungsmacht allmählich auf.
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Folglich unterstützte die Sowjetführung die Nordvietnamesen mit materiellen Hilfslieferungen, die den Krieg in die Länge zogen, und plakatierte sie im europäischen Raum wieder die Idee eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems ohne amerikanische Beteiligung, die, da für die Westeuropäer und die USA inakzeptabel, in Wahrheit ein Mittel war, destabilisierende Fortschritte in der Entspannungspolitik zu verhindern. Präsident Johnson dagegen, in seiner Vietnampolitik von seinen Verbündeten mit Ausnahme der Bundesrepublik nur halbherzig unterstützt, von de Gaulle sogar offen angegriffen, bemühte sich um die diplomatische Hilfe der Sowjetführung in Vietnam; die Verbesserung der Lebensbedingungen im östlichen Europa oder gar die Überwindung der Teilung Europas rückten an den unteren Rand der amerikanischen Prioritätenliste. Der wichtigste Fortschritt, den die Entspannungsbemühungen in der Ära Johnson erzielten, lag darum auf einem Gebiet, das den Europäern keineswegs besonders am Herzen lag, vielmehr die Stellung der beiden Blockführungsmächte in ihren Lagern wieder zu befestigen geeignet war: Schon 1964 zeigte sich die Sowjetführung bereit, den amerikanischen Vorschlag eines Nichtweitergabevertrages für Kernwaffen aufzugreifen, der die Vormachtstellung der nuklearen Supermächte bekräftigen und Abrüstungsverhandlungen durch die Beschränkung des Teilnehmerkreises erleichtern sollte. Ende 1964 gab Johnson daraufhin das im Westen ohnehin umstrittene Projekt einer multilateralen NATO-Atomstreitmacht auf und ebnete damit den Weg für ein Sicherheitssystem, in dem die amerikanisch-sowjetischen Absprachen die beiderseitigen Bündnissysteme im nuklearen Bereich ergänzten. Zwei Jahre später waren die Verhandlungen soweit gediehen, daß die Grundzüge einer sowjetisch-amerikanischen Übereinkunft feststanden; nach weiteren Verhandlungen im Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen, in denen die atomaren »Habenichtse« und »Schwellenmächte« nur geringfügige Erleichterungen der ihnen zugedachten dauerhaften Diskriminierung erreichten, wurde der Atomsperrvertrag am 1. Juni 1968 in Washington, Moskau und London unterzeichnet. Gleichzeitig kündigten die amerikanische und die sowjetische Regierung die Vorbereitung von bilateralen Gesprächen über die Begrenzung der strategischen Rüstung an (»Strategie Arms Limitation Talks« = SALT): Die Sowjetunion hatte ihre Unterlegenheit in der strategischen Rüstung annähernd kompensiert (mit 800 Interkontinentalraketen im Jahr 1968, 1050 im Jahr 1969 gegenüber ganzen 70 im Jahr 1962), und die USA, die die Zahl ihrer landgestützten Interkontinentalraketen 1967 bei 1054 eingefroren hatten, rangen sich angesichts der wachsenden inneren und auswärtigen Kritik am amerikanischen Überengagement zur Anerkennung des Prinzips der atomaren Parität mit der Sowjetunion durch; damit war ein ungefähres strategisches Gleichgewicht erreicht (ausreichende Zweitschlagskapazität bei der Seiten), von dem aus das
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Problem der Rüstungsbegrenzung mit einiger Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden konnte14. Wer es sich leisten konnte, sich dem amerikanisch- sowjetischen Kondominium zu entziehen, blieb dem Atomwaffensperrvertrag fern. Das galt insbesondere für Frankreich, das seine nationale Atomrüstung nach der Abwehr der amerikanischen Integrationsversuche zu einer »force de frappe« ausgebaut hatte, die jeden Angreifer des französischen Territoriums mit atomarer Vergeltung bedrohte und Frankreich damit einen Schutz gegen eine Konfrontation der Supermächte auf französischem Boden gewährte, allerdings das Problem des Schutzes des Vorfeldes der französischen Sicherheit unbeantwortet ließ (und damit den USA gegenüber ein gewisses Mitspracherecht, aber eben keine Gleichberechtigung ermöglichte). Ebenso widersetzte sich China, dem trotz des Entzugs der sowjetischen Unterstützung im Juni 1967 die Zündung der ersten eigenen Wasserstoffbombe gelungen war und dessen Konflikt mit der Sowjetunion unterdessen bis zur militärischen Konfrontation am Ussuri-Grenzfluß im März 1969 eskalierte. Die westdeutsche Bundesrepublik sah sich dagegen förmlich gezwungen, dem Vertrag beizutreten, wenn sie nicht noch weiter in den Windschatten amerikanisch-sowjetischer Verständigung geraten wollte. Die deutschen »Gaullisten« um Adenauer und Strauß lehnten sich zwar noch einmal in einer äußerst emotional geführten Kampagne gegen das Diktat der Supermächte auf; wie ihm begegnet werden sollte, wußten freilich auch sie nicht zu sagen, und so schloß sich die Bundesrepublik im November 1969 dem Sperrvertrag an. Damit war ein wesentliches Ziel der sowjetischen Entspannungspolitik, das Ende 1962 in unerreichbare Ferne gerückt schien, doch noch erreicht: Die Bundesrepublik mußte sich auf Dauer mit dem Status einer mittleren, nichtnuklearen Macht zufriedengeben und auf das Streben nach Machtmitteln zur Revision des Status quo in Mitteleuropa verzichten. In dem Maße, wie sich der weltpolitische Status der Bundesrepublik verfestigte und sie auf diese Weise immer mehr von ihrem Provisoriumscharakter verlor, wuchs in der westdeutschen Öffentlichkeit die Bereitschaft, sich auf ein dauerhaftes Nebeneinander mit den Regimen im sowjetischen Machtbereich einzurichten. Im Dezember 1966 bildete die CDU mit der SPD eine Regierung der »Großen Koalition« (mit Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt als Außenminister), zu deren Geschäftsgrundlage es gehörte, die Politik des »Wandels durch Annäherung«, wie von dem SPD-Politiker Egon Bahr schon 1963 gefordert, auch auf die DDR auszudehnen und sich bei der Verbesserung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten nicht mehr von der Hallstein-Doktrin einengen zu lassen. Obwohl es die neue Regierung (aus innenpolitischen Gründen und in der Hoffnung auf einen raschen Wandlungsprozeß im sowjetischen Machtbereich) immer noch vermied, sich verbindlich über den Status der Oder-Neiße-Grenze und der DDR zu äußern, gelang es ihr alsbald, aus der Isolation auszubrechen, in
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die die Bundesrepublik infolge der Maximalforderungen der sowjetischen Regierung geraten war, und – damit verbunden – den Auflockerungsprozeß im sowjetischen Block zu beschleunigen. Rumänien behauptete immer deutlicher den seit 1963 eingeschlagenen Kurs außenpolitischer Unabhängigkeit von der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei begann mit der Ablösung Novotnýs durch Dubček Ende 1967 ein tiefgreifender Liberalisierungsprozeß, in Polen, in der DDR und selbst in der Sowjetukraine mehrten sich die Zeichen der Opposition gegen das traditionelle, von Moskau kontrollierte Regime. Um den Auflockerungsprozeß zu bremsen, gingen die Sowjetführung wie auch die DDRMachthaber nach ersten Kooperationsgesten alsbald wieder auf Distanz zur Bundesrepublik. Nur das rumänische Regime war bereits unabhängig genug, um im Januar 1967 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik durchzusetzen; die übrigen Warschauer-Pakt-Staaten forderten auf der Karlsbader Konferenz kommunistischer Parteien im April 1967 erneut die völkerrechtliche Anerkennung der DDR als Vorbedingung für weitere Entspannungsgespräche, und als die Entwicklung in der Tschechoslowakei im Frühjahr 1968 der sowjetischen Kontrolle zu entgleiten drohte, beschuldigte die Sowjetführung die Bundesregierung in immer heftiger werdenden Angriffen erneut des Revanchismus. Indessen verfing diese neue Isolierungskampagne angesichts der demonstrativen westdeutschen Gesprächsbereitschaft nicht mehr. Die Emanzipation der Tschechoslowakei ließ sich nur durch die bewaffnete Intervention der übrigen Warschauer-Pakt-Staaten (mit Ausnahme Rumäniens) am 21. August 1968 stoppen; der Versuch, diese Intervention mit angeblichen Subversionsplänen der Bundesrepublik zu rechtfertigen, scheiterte. Mit der Intervention konnte so zwar die unmittelbare Gefahr einer Auflösung des Sowjetblocks abgewehrt werden; zur erneuten Stabilisierung des sowjetischen Herrschaftsbereichs wurde es jedoch nun für die Moskauer Führung unumgänglich, stärker als bisher auf die westdeutschen Entspannungsofferten einzugehen. Eine solche Annäherung war um so mehr angezeigt, als unterdessen mit dem Beginn amerikanisch-nordvietnamesischer Waffenstillstandsverhandlungen der Weg zu einer Verständigung der USA mit dem chinesischen Rivalen freigeworden war und die Kooperation mit den westlichen Industrienationen für die vielfach blockierte Sowjetwirtschaft immer notwendiger wurde. Ein rascher »Wandel« durch diesen Annäherungsprozeß war freilich für die Westdeutschen nicht mehr zu erhoffen; an die Stelle umfassender Neuordnungspläne trat die Aussicht auf eine Verständigung auf der Basis des Status quo, die die Herrschaftsordnung im Ostblock im Prinzip unangetastet ließ, sie allenfalls in ihren Erscheinungsformen liberalisierte, dafür aber der Bundesrepublik eine stärkere Berücksichtigung ihrer spezifischen Interessen im Rahmen der westlichen Entspannungspolitik und damit ein größeres Maß an Sicherheit (insbesondere im Hinblick auf West-Berlin) bot15.
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Auf der Budapester Tagung des Warschauer Paktes Anfang März 1969 signalisierte die Sowjetführung erstmals ihre Gesprächsbereitschaft: Verhandlungen wurden nicht länger von der vorherigen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR abhängig gemacht (wenn diese auch nach wie vor als Ziel proklamiert wurde); an die Stelle der Forderung nach einem europäischen Sicherheitssystem trat der Vorschlag einer europäischen Sicherheitskonferenz, die die bestehenden Paktsysteme unangetastet ließ. Die Initiative spaltete die Große Koalition in der Bundesrepublik: Während die CDU aus Enttäuschung über die bislang kaum greifbaren Ergebnisse der Annäherungspolitik und in instinktiver Sorge um den Erhalt ihrer traditionellen Machtpositionen weithin auf die Maximalpositionen der Adenauer-Ära zurückgriff, bekundeten die SPD und die oppositionelle FDP immer deutlicher ihre Bereitschaft, die DDR und die OderNeiße-Grenze de facto anzuerkennen, wenn nur die rechtliche Möglichkeit zu einer deutschen Wiedervereinigung erhalten blieb, die bestehenden Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik dauerhaft gesichert wurden und Kontakte zwischen den Deutschen in Ost und West erleichtert wurden. Substantielle Verhandlungen konnten darum erst beginnen, nachdem die Regierung Kiesinger im September 1969 durch eine SPD/FDP-Koalition abgelöst worden war. Im Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 akzeptierte die Sowjetführung die westdeutschen Formeln von der »völkerrechtlichen Verbindlichkeit« eines Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie der »Unverletzlichkeit« der bestehenden Grenzen in Europa; von einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und einer Endgültigkeit insbesondere der Oder- Neiße-Grenze war nicht länger die Rede, ebensowenig von dem bislang immer behaupteten Einmischungsanspruch der Sowjetunion gegenüber der Bundesrepublik aufgrund der UN-Feindstaatenklausel. Im ViermächteAbkommen über Berlin vom 3. September 1971, von dessen Zustandekommen die Brandt/Scheel-Regierung die Ratifizierung des Moskauer Vertrages abhängig gemacht hatte, gestand die Sowjetführung der Bundesrepublik über die »drei Essentials« Kennedys hinaus die Wahrnehmung von Vertretungsrechten für West-Berlin sowie die Aufrechterhaltung und Entwicklung besonderer »Bindungen« West-Berlins an die Bundesrepublik zu; dafür bestätigte die westliche Seite, daß West-Berlin nicht Bestandteil der Bundesrepublik war. An den Moskauer Vertrag schlössen sich der Vertrag der Bundesrepublik mit Polen vom 7. Dezember 1970, Transit-, Besuchs- und Verkehrsabkommen mit der DDR sowie schließlich der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 21. Dezember 1972 an; dabei akzeptierte die DDR-Führung zwar auf massiven Moskauer Druck hin – Parteichef Ulbricht mußte schließlich im Mai 1971 Erich Honecker Platz machen – die Verweigerung der völkerrechtlichen Zementierung der deutschen Teilung, blieb aber im übrigen um ein Höchstmaß an Abgrenzung bemüht, so daß im wesentlichen nur Absichtserklärungen im Hinblick auf pragmatische Zusammenarbeit notifiziert werden konnten. So schufen die Ostverträge zwar die Grundlage für die
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Entwicklung eines Beziehungsgeflechts zwischen Ost und West; die östlichen Machthaber behielten sich aber die Kontrolle über diese Entwicklung vor. Die Befreiung der Bundesrepublik von ihrem Sonderkonflikt mit dem Osten führte zu einer aktiveren Rolle der Westdeutschen im westlichen Bündnis. An eine Verwirklichung des französischen Anspruchs auf Führung eines unabhängigen Europas war ohnehin nicht zu denken gewesen, seit die Bundesrepublik Frankreich wirtschaftlich weit hinter sich gelassen hatte; jetzt, da die Bundesrepublik auch politischen Handlungsspielraum zurückgewann, drohte sogar ein politisches Übergewicht der Deutschen in Europa. Um es abzuwenden, sah sich de Gaulle in seinen letzten Amtsmonaten Anfang 1969 gezwungen, den von ihm bislang verhinderten Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft selbst in die Wege zu leiten; unter seinem Nachfolger Pompidou wurde der Beitritt dann zum 1. Januar 1973 vollzogen.16 Die Stärkung der Europäischen Gemeinschaft, die dieser partielle Kurswechsel der französischen Politik ermöglichte, erlaubte es den Europäern, stärker als bisher eigenständige Interessen gegenüber den USA zu behaupten; freilich ging die Unabhängigkeit Europas angesichts der britischen Bindung an die amerikanische Atomstreitmacht und mehr noch des Angewiesenseins der Bundesrepublik auf atomaren und konventionellen Schutz der USA längst nicht so weit, wie dies de Gaulle einst vorgeschwebt hatte. Frankreich blieb außerhalb der militärischen Organisation der NATO und behielt seine nur zur Verteidigung des nationalen Territoriums bestimmte atomare »force de frappe«, sah sich aber, um nicht in die Isolierung zu geraten, zu beständiger Konsultation mit seinen europäischen Verbündeten und auch mit den USA gezwungen. Ebenso wuchs die europäische Wirtschaftskraft gegenüber den USA – so war der amerikanische Anteil an den Weltwährungsreserven von 49,8% im Jahre 1950 auf 15,7% im Jahre 1970 gefallen, der Anteil der EWG-Länder hingegen von 6,1% auf 32,5% gestiegen17 –; die Europäer mußten es aber hinnehmen, daß die USA sie mit einer Preisgabe des Systems fester Wechselkurse (Einschränkung der Konvertibilität des Dollars in Gold im März 1968 und vollständige Aufhebung der Golddeckung im August 1971) zu Aufwertung und Inflationierung zwangen und damit zumindest einen Teil der Kosten für das amerikanische Überengagement in Vietnam und den über die eigenen Ressourcen hinausgehenden amerikanischen Verbrauch auf sie abwälzten. Ähnlich wie im Ostblock (wenngleich wegen der Unterschiedlichkeit der Systeme ganz anders strukturiert) entstand auf diese Weise auch im westlichen Bündnis ein Gleichgewicht zwischen Hegemonialinteressen der Blockführungsmacht und Autonomietendenzen der Bündnismitglieder, das es bei allen latenten Spannungen im Innern ermöglichte, den Entspannungsdialog zwischen Ost und West substantiell voranzubringen. Am 26. Mai 1972 unterzeichneten der amerikanische Präsident Richard Nixon und der KPdSU-Generalsekretär Leonid Breshnew in Moskau erste Abkommen im Rahmen der SALT-Verhandlungen: einen wechselseitigen Verzicht auf den
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Aufbau umfassender Raketenabwehr-Flugkörpersysteme, die die Zweitschlagskapazität beider Seiten in Frage zu stellen drohten (und technisch freilich ohnehin nur schwer zu realisieren waren), sowie eine auf fünf Jahre befristete Festlegung von Höchstgrenzen für die Ausstattung mit Interkontinentalraketen, die der Sowjetunion eine gewisse quantitative Überlegenheit zugestand, zugleich aber den sowjetischen Bemühungen um einen Abbau ihrer qualitativen Unterlegenheit (insbesondere der Einführung »schwerer« Interkontinentalraketen vom Typ SS-9) Schranken setzte und beiden Seiten die Option auf eine Ausstattung ihrer Raketen mit Mehrfachsprengköpfen (MIRV) erhielt. Sechs Monate später begannen in Helsinki die Vorgespräche zur »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE). Nachdem die Sowjetführung eingewilligt hatte, auf dieser Konferenz nicht nur, wie von sowjetischer Seite angestrebt, über eine Absicherung des Status quo in Europa und einen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost und West zu verhandeln, sondern auch, worauf insbesondere die Westeuropäer drängten, über einen vermehrten Austausch von »Menschen, Informationen und Meinungen«, und die Warschauer-Pakt-Staaten darüber hinaus der von den NATO-Staaten bislang immer vergeblich geforderten Eröffnung von Gesprächen über einen beiderseitigen ausgewogenen Truppenabbau in Mitteleuropa zugestimmt hatten (MBFR-Gespräche in Wien), konnte im Juni 1973 eine detaillierte Tagesordnung für das KSZE-Projekt bekanntgegeben werden. Im gleichen Monat unterzeichneten Nixon und Breshnew in Washington ein Abkommen über die Verhinderung von Atomkriegen, mit dem sich beide Seiten verpflichteten, in Krisensituationen, die zur nuklearen Konfrontation zu eskalieren drohten, miteinander in Konsultation zu treten. Die Verhandlungen zwischen den Blockführungsmächten und die Kontakte zwischen den Blöcken in Europa verliefen nun weitgehend (wenngleich keineswegs vollständig) koordiniert, und das Beziehungsgeflecht zwischen Ost und West wurde allmählich dichter. Der Ost-West-Konflikt war keineswegs beendet, aber es war zumindest im europäischen Bereich über die de-facto-Bestätigung des Status quo hinaus ein von beiden Seiten ausdrücklich anerkannter Modus vivendi gefunden worden. Die Notwendigkeit, die Ost-West-Spannung zu verringern, war in allen beteiligten Ländern von einer Mehrheit der politischen Kräfte anerkannt worden, und es waren institutionelle Rahmen für die Steuerung des Konflikts und für den Abbau der Konfliktpotentiale geschaffen worden18. III. Krisen im Westen und Krise der Entspannung Die Hoffnungen auf eine gesamteuropäische Friedensordnung, die viele Europäer in Ost und West mit den deutlichen Fortschritten der Entspannungspolitik Anfang der siebziger Jahre verbanden (und die die Fortdauer einer europäischen Identität über die Jahrzehnte der Ost-West-
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Spaltung hinweg bezeugten), ließen sich freilich nicht rasch realisieren: Der Abbau der Ost-West-Konfrontation und die Entwicklung paralleler Interessen zwischen Ost und West erwiesen sich auch weiterhin als ein ungemein schwieriger Prozeß, der Rückschläge geradezu provozierte. Die östlichen Machthaber wünschten zwar den Ausbau der Kooperation auf der Ebene der Staaten und Machtapparate, mußten aber der Annäherung der Völker enge Grenzen setzen, um nicht eine – allmähliche oder gar rapide – Erosion ihres Herrschaftsgefüges zu riskieren, während die westlichen Regierungen, um die Kooperation innenpolitisch durchsetzen und absichern zu können, auf vorzeigbare Annäherungen des Ostens an westliche Prinzipien angewiesen waren. Zudem erschwerte die weitgehend eigengesetzliche Entwicklung der Rüstungstechnologie eine Verständigung über die Begrenzung des Rüstungswettlaufs und bereitete der Anfang der siebziger Jahre einsetzende weltwirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß dem Ausbau der Ost-WestWirtschaftsbeziehungen zusätzliche Schwierigkeiten. Blieben aber Fortschritte an Kooperation und Annäherung aus, so kamen die Eskalationsmechanismen des Konflikts, von jenen Kräften in Ost und West, die durch die Wende zur Entspannung tendenziell benachteiligt worden waren, kräftig gefördert, alsbald wieder in Gang: Die wechselseitigen Bedrohungsvorstellungen nahmen wieder zu, es wuchs die Neigung, sich präventiv Vorteile auf Kosten der Gegenseite zu verschaffen, und der Spielraum für vertrauensbildende Maßnahmen wurde wieder enger. Für die weitere Rolle des westlichen Europa im Entspannungsprozeß wurde es nun bedeutsam, daß es den Amerikanern ungleich schwerer fiel, den Modus vivendi mit dem Ostblock aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln, als den Europäern. Das hing zum einen damit zusammen, daß die USA gleichzeitig mit der Ost-West-Entspannung das schwierige Problem zu lösen hatten, ein weltpolitisches Überengagement abzubauen, und erst lernen mußten, die Sowjetunion auch in der Praxis als im Prinzip gleichrangigen Partner zu akzeptieren, während das westliche Europa, sofern es am Entspannungsprozeß beteiligt war, nur an Autonomie und Bewegungsfreiheit gewinnen konnte. Zum zweiten waren Erfolge im Abbau von Barrieren zwischen dem östlichen und dem westlichen Europa, die den Europäern besonders am Herzen lagen, viel leichter greifbar als Fortschritte in der für die USA zunächst vorrangigen Rüstungskontrolle. Drittens schuf die Dynamik der rüstungstechnologischen Entwicklung weit mehr Gefahren für die in unmittelbarer Nachbarschaft zur sowjetischen Weltmacht lebenden Europäer als für die in ihrer Zweitschlagskapazität praktisch unverwundbaren USA. Und viertens konnten die Europäer auf eine lange Tradition diplomatischer Koexistenz gegensätzlicher Gesellschaftssysteme zurückgreifen, während es den von einer idealistischeren politischen Kultur geprägten Amerikanern schwerfiel, das für die Entwicklung solider Ost-West- Beziehungen notwendige Maß an Geduld aufzubringen. Zu den traditionellen Interessengegensätzen zwischen Amerika und Westeuropa,
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die seit der Wende zur Entspannungspolitik ohnehin wieder stärker hervorgetreten waren, kamen daher im Laufe der siebziger Jahre zunehmende Divergenzen über die westliche Politik gegenüber der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Verbündeten, und den Westeuropäern fiel es immer schwerer, die Balance zwischen unverzichtbarer Bündnissolidarität und ebenso notwendiger Entspannungspolitik zu halten. Henry Kissinger, der Initiator der Nixonschen Außenpolitik, suchte dieser Entwicklung zuvorzukommen, indem er sich bemühte, die Entspannung zwischen den Supermächten durch substantielle Abmachungen gegen Krisen abzuschotten und die Europäer zugleich wieder fester an die USA zu binden. Wirkliche Erfolge blieben ihm jedoch in beiden Fällen versagt. Von den Europäern verlangte er im Frühjahr 1973 präzise Verpflichtungen in einer »neuen Atlantik-Charta«: eine bessere Koordination in allen Bereichen, eine Erhöhung des europäischen Anteils an den Verteidigungslasten und einen Abbau der Handelsschranken – im wesentlichen also eine Neuauflage des Kennedyschen »Grand Design«, nur nicht mehr so deutlich auf eine Integration der Europäer untereinander drängend und Europa nun eindeutig eine Juniorrolle im Bündnis zuweisend. Die Europäer antworteten nicht gänzlich ablehnend – an einer besseren Koordination war auch ihnen gelegen, um nicht gegenüber dem amerikanisch-sowjetischen Dialog ins Hintertreffen zu geraten, und eine präzisere Definition der Rolle Europas im Bündnis schien auch ihnen notwendig. Indessen sahen sie kaum Möglichkeiten, größere Lasten innenpolitisch durchzusetzen, und forderten sie vor allem die Rückkehr zu einem geordneten Weltwährungssystem (d.h. die Beseitigung des permanenten amerikanischen Aufwertungsdrucks) als Voraussetzung für weitere Liberalisierungsschritte. Hinzu kam, daß die gerade in diesem Jahr einsetzende weltweite Rezession und die Vervierfachung des Erdölpreises im Winter 1973/74 die wirtschaftliche Konkurrenzsituation zwischen Europa und den USA entscheidend verstärkte. Während des Jom-Kippur-Krieges um Israel im Oktober/November 1973 agierten die USA ohne jede Konsultation mit ihren europäischen Verbündeten, und daraufhin verweigerten die Europäer jede militärische Hilfestellung – mit dem Ergebnis, daß die Frustrationen auf beiden Seiten weiter zunahmen. Die Grundsatzerklärung, die der NATO-Rat am 19. Juni 1974 in Ottawa verabschiedete, blieb folglich weit hinter den Erwartungen Kissingers zurück: Die Amerikaner erhielten für die Garantie fortdauernder Anwesenheit »substantieller« US-Streitkräfte auf dem europäischen Kontinent lediglich vage Versprechungen der Europäer, »den erforderlichen Beitrag« zur Verteidigung zu leisten und auf »harmonische Beziehungen« auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet »hinzuwirken«; die Konkurrenzsituation blieb bestehen, und die Kommunikationsstrukturen blieben ungeklärt19. Statt dessen begannen nun die Europäer, ihre Rolle in der internationalen Politik untereinander zu koordinieren. Wenn auch die Rezession die strukturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Europäischen
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Gemeinschaft verstärkte und so Fortschritte in der wirtschaftlichen Integration außerordentlich erschwerte, ja sogar die schon bestehenden Gemeinschaftssektoren immer neuen Belastungsproben aussetzte20, so waren doch ihre Interessen an Behauptung gegenüber den USA, Sicherheit vor der Sowjetunion, Konsolidierung der Entspannung und Verbesserung der Beziehungen zur »Dritten Welt« hinreichend identisch, um auf weite Strecken gemeinsame Positionen in der auswärtigen Politik zu begründen. Zum Motor der Zusammenarbeit wurde eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Union: Großbritannien fiel aufgrund seiner inneren Schwäche und seiner fortdauernden Anlehnung an die USA als Partner für Frankreich weitgehend aus, Pompidous Nachfolger Valery Giscard d’Estaing teilte kaum noch dessen Sorge vor einer West-Ost-Schaukelpolitik der Bundesrepublik auf Kosten Frankreichs, Brandts Nachfolger Helmut Schmidt nutzte die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik zunehmend dazu, im Namen der europäischen Interessen zu sprechen, und wußte dem französischen Partner zugleich allmählich die Furcht vor einer deutschen Übermacht zu nehmen. Im Dezember 1974 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft in Paris, künftig nicht nur sporadisch zu Gipfelkonferenzen zusammenzukommen, sondern ihre Konsultation in einem mindestens dreimal im Jahr tagenden Europäischen Rat zu institutionalisieren. Auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Genf stimmten die Westeuropäer ihre Politik bald so gut aufeinander ab, daß sich nun die USA über mangelnde Konsultation beschwerten, und auch in der UNO trat das westliche Europa immer mehr als eigenständiger Block auf21. In der Entspannungspolitik bemühte sich Kissinger, den Anschlußvertrag an das SALT-Interimsabkommen von 1972 spätestens bis zum Herbst 1975 zustande zu bringen, um die Rüstungskontrolldiskussion möglichen Belastungen und Verzögerungen durch den für 1976 anstehenden amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zu entziehen und einer Eskalation der wechselseitigen Modernisierungsprogramme vorzubeugen, die eine Verständigung über das Gleichgewicht in der strategischen Rüstung technisch immer schwieriger werden ließ. Im November 1974 waren die SALT-IIVerhandlungen so weit gediehen, daß Breshnew und Präsident Gerald Ford (der unterdessen den über die Watergate-Affäre gestürzten Nixon abgelöst hatte) in Wladiwostok Eckdaten für die Fortschreibung und Präzisierung der strategischen Parität vereinbaren konnten: Beide Seiten sollten bis 1985 bis zu 2400 offensive Trägerwaffensysteme (land- und seegestützte Raketen sowie interkontinentale Bomber) unterhalten dürfen, davon je 1320 mit Mehrfachsprengköpfen (MIRV) ausgerüstet. Ein »Durchbruch« auf dem Weg zu strategischer Stabilität, als den Kissinger die Vereinbarung dem heimischen Publikum präsentierte, war damit gewiß noch nicht erreicht, da die hohe Zahl erlaubter Mehrfachsprengköpfe beide Seiten in die Lage versetzte, in einem Überraschungsangriff große Teile der gegnerischen landgestützten Raketen
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außer Gefecht zu setzen; doch hatte man sich immerhin überhaupt zu einer Drosselung des Wettlaufs um qualitative Überlegenheit durchringen können, und die Sowjetunion mußte die ihr verbliebene quantitative Überlegenheit im strategischen Bereich (250 Abschußvorrichtungen) abbauen. Verhandlungen über die in Europa und im europäischen Bereich des Atlantiks stationierten amerikanischen Kurz- und Mittelstreckenraketen (Forward Based Systems) wurden, dies ein Zugeständnis an die westliche Seite, auf eine spätere Verhandlungsrunde (SALT III) vertagt22. Indessen kamen bereits zu diesem Zeitpunkt – in Europa, aber mehr noch in den USA – erste Zweifel an der Richtigkeit des westlichen Entspannungskurses auf23. Im südlichen Europa hatte das Entspannungsklima der frühen siebziger Jahre eine Reihe gesellschaftlicher Umwälzungen begünstigt, die mit den herkömmlichen Ordnungsvorstellungen nicht mehr in Einklang zu bringen waren und darum Verwirrung und Unsicherheit hervorriefen: In Portugal hatte eine marxistisch orientierte »Bewegung der Streitkräfte« im April 1974 das bisherige autoritäre Regime abgelöst, und es war in Anbetracht der Rolle, die die moskauorientierte kommunistische Partei Portugals in dieser Revolution zu spielen suchte, unsicher geworden, ob das Land den Weg zu einer Demokratie westlicher Prägung finden würde; in Frankreich hatte eine Koalition aus Sozialisten und Kommunisten bei den Präsidentschaftswahlen vom Mai 1974 nur knapp den Sieg verfehlt; in Italien waren die regierenden Christdemokraten mehr und mehr auf die Unterstützung durch die Kommunisten angewiesen; Griechenland trat nach dem Sturz des bislang von den USA gestützten Obristenregimes im August 1974 aus der militärischen Organisation der NATO aus; und die Türkei schloß, durch ein amerikanisches Waffenembargo am militärischen Sieg auf der Insel Zypern gehindert, die Militärbasen der USA auf ihrem Territorium. Die Ansicht, daß alle diese Entwicklungen zu einer Schwächung des Westens gegenüber dem Ostblock führen mußten, war nicht zwingend, aber sie lag nahe, nachdem sowjetische Ideologen die zunehmenden Schwierigkeiten der westlichen Industriegesellschaften öffentlich als Chancen für die kommunistische Revolutionsbewegung gedeutet hatten; folglich wurde die Koexistenzbereitschaft der Sowjetführung wieder zunehmend in Frage gestellt. Hinzu kamen Enttäuschungen über die Fortdauer von Repressionsmaßnahmen im Sowjetsystem und Besorgnisse über den unverminderten Fortgang der sowjetischen Aufrüstung sowie über die geringe Bereitschaft der Sowjetführung, im Rahmen der Wiener MBFR-Gespräche über einen Abbau ihres konventionellen Übergewichts in Europa zu verhandeln. Zusammengenommen mündeten diese Eindrücke in die Überzeugung, der östlichen Seite bereits genügend oder gar schon zuviel Vorleistungen erbracht zu haben und jetzt mit Recht zunächst einmal Gegenleistungen fordern zu können. An der Vereinbarung von Wladiwostok, die beiden Seiten gleiche Risikobereitschaft abverlangte, entzündete sich darum sogleich Kritik, und Ende 1974 versah der amerikanische Senat das sowjetisch-amerikanische Handelsabkommen mit
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einem Zusatz, der die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel und die Zusage vorteilhafter Kredite von sowjetischen Garantien für die freie Auswanderung sowjetischer Juden abhängig machte (Jackson-VanikAmendment). Tatsächlich modernisierten die Sowjets ihr strategisches Potential zwar schneller als zum Zeitpunkt der SALT-I-Vereinbarungen erwartet, doch konnten sie bei dem amerikanischen Tempo in der Ausstattung mit Mehrfachsprengköpfen und in der Verbesserung der Zielgenauigkeit noch längst nicht mithalten. Sie suchten daher ihre fortdauernde Unterlegenheit im Bereich der Interkontinentalraketen durch ein Übergewicht gegenüber den westeuropäischen »Geiseln« zu kompensieren; dabei war ihre konventionelle Überlegenheit in Europa keineswegs gesichert, wenn man den Vorsprung der westlichen konventionellen Technik, das Problem der »inneren Front« sogenannter »konterrevolutionärer Kräfte« und die Möglichkeit, massive amerikanische Truppenkontingente in kurzer Frist nach Europa zu verlegen, in die Kalkulation einbezog. Auch mußten sie um den Ausbau ihres konventionellen Arsenals besorgt sein, wenn sie sich gleich den USA über ihren Hegemonialbereich hinaus als weltpolitische Ordnungsmacht behaupten wollten. Im Bereich der auf Westeuropa gerichteten Mittelstreckenraketen entschieden sie sich zu einer durchgreifenden Modernisierung, nachdem die westlichen Verbündeten offensichtlich nicht bereit waren, die amerikanischen Forward Based Systems in Europa abzubauen. Der Versuchung, die Schwächen des Westens für die Stärkung der eigenen Position auszunutzen, hatte die Sowjetführung zwar nicht ganz widerstehen können, aber sie war dabei in der Regel mit großer Vorsicht vorgegangen, um das Entspannungsklima nicht zu gefährden. Der Aufstieg autonomer »eurokommunistischer« Parteien in den südeuropäischen Ländern bereitete ihr selbst erhebliche Sorgen, und diese Sorgen waren weit begründeter als die westlichen Ängste, drohte doch eine Verwirklichung »eurokommunistischer« Projekte in Westeuropa das sowjetische Sozialismus-Modell in Osteuropa einmal mehr in Frage zu stellen24. Das Jackson-Vanik-Amendment stellte die Sowjetführung vor die Wahl, den USA öffentlich ein Mitspracherecht über ihre Herrschaftspraxis einzuräumen und damit das Risiko neuer Erschütterungen ihres Herrschaftssystems einzugehen, oder auf die Entwicklung weitreichender Wirtschaftsbeziehungen mit den USA zu verzichten. Die Entscheidung fiel angesichts der Brüchigkeit und mangelnden Reformfähigkeit des Sowjetsystems sehr schnell für die zweite Alternative: Im Januar 1975 kündigte die Sowjetführung das amerikanischsowjetische Handelsabkommen auf. Nachdem auf diese Weise erst einmal ein wesentliches Ziel sowjetischer Entspannungspolitik in unerreichbare Ferne gerückt war, legte sie sich weniger Zurückhaltung bei der Ausnutzung westlicher Schwächen auf (bzw. setzten sich innerhalb des sowjetischen Führungsapparates Kräfte durch, denen die Vorleistungen der sowjetischen Seite unterdessen schon zu weit gingen): Die portugiesische KP wurde im Laufe des
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Jahres 1975 stärker unterstützt; in Angola verhalfen 1975/76 kubanische Truppen mit sowjetischer Unterstützung dem marxistischen Flügel der Befreiungsbewegung zum Sieg, und auch ansonsten bemühte sich die Sowjetführung fortan – mit wechselndem Glück – darum, die nachkolonialen Auseinandersetzungen im südlichen Afrika mit kubanischen Interventionstruppen, Waffen und Geld für sich auszunutzen. Daß sie damit die westlichen Ängste weiter förderte, sah die Sowjetführung entweder nicht oder sie nahm es, weil sie nur so die Gleichrangigkeit als Supermacht behaupten zu können glaubte, bewußt in Kauf.
Abb. 7: Die Entwicklung des nuklearstrategischen Kräfteverhältnisses zwischen den USA und der UdSSR 1966–1980. Bezüglich der Zahl der Trägerwaffen hat die Sowjetunion an der Schwelle zu den 70er Jahren ihren vorherigen Rückstand aufholen und dann die USA sogar deutlich überrunden können; qualitativ behielten die USA jedoch auch danach noch einen beträchtlichen Vorsprung. Insbesondere der Abstand zwischen sowjetischem und amerikanischem Potential an Sprengköpfen verringerte sich erst an der Schwelle zu den 80er Jahren.
Daß unter diesen Umständen die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa überhaupt noch zu einem positiven Abschluß geführt werden konnte, war erstaunlich genug. Jedenfalls zeigte sich die sowjetische Delegation jetzt deutlich bemüht, die Konferenz vor einer weiteren
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Verhärtung der westlichen Position zu Ende zu bringen; ihre Konzessionsbereitschaft in den Verhandlungen nahm darum zu, und so konnten die 35 Staats- und Regierungschefs Europas, Kanadas und der USA am 1. August 1975 in Helsinki eine Schlußakte unterzeichnen, die westlichen Vorstellungen wesentlich entgegenkam: Um eine kollektive Garantie des Status quo in Europa und die Zusicherung weiterer Kooperation auf staatlicher Ebene zu erhalten, mußte die sowjetische Seite zugestehen, daß ein einvernehmlicher friedlicher Wandel der bestehenden Grenzverhältnisse auch in Zukunft möglich sein sollte, daß die Menschenrechte als Grundprinzipien der inneren Ordnung in Ost und West propagiert wurden und daß Kommunikation und Kontakt auf allen Ebenen ohne Einschränkung als förderungswürdig anerkannt wurden; sowjetische Hoffnungen auf eine Sanktionierung der Abschirmungspolitik, dauerhafte Kontrollmöglichkeiten im westeuropäischen Bereich und günstige Konditionen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit (Meistbegünstigungsklausel) blieben unerfüllt. Der Weg zu einem »Wandel durch Annäherung« im westlichen Sinne war offengehalten, die erneute Anwendung der »Breschnew-Doktrin« zur gewaltsamen Aufrechterhaltung des Sowjetsystems in Osteuropa aber zumindest erschwert25. Der westliche Erfolg auf der KSZE reichte jedoch nicht aus, den Kritikern des Entspannungskurses den Wind aus den Segeln zu nehmen – vor allem nicht in den USA, wo man der Annäherung zwischen west- und osteuropäischen Staaten ohnehin geringere Bedeutung beimaß. Statt dessen formierte sich dort eine breite, von Experten des politischen und akademischen Establishments wesentlich mitgetragene Oppositionsbewegung gegen ein SALT-II-Abkommen, wie es sich seit der Übereinkunft von Wladiwostok abzeichnete. Immer mehr Amerikaner glaubten Belege für eine globale Aggressionsstrategie der Sowjetunion gefunden zu haben und forderten unter dem Deckmantel »ausgewogener« Rüstungskontrollvereinbarungen nichts weniger als ein Abrücken vom Prinzip der strategischen Parität, das seit dem Beginn der NixonKissinger-Ära die Grundlage des sowjetisch-amerikanischen Dialogs gebildet hatte. Anfang 1976 war die Bewegung so stark geworden, daß Präsident Ford, um sich seine Chancen für eine erneute Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten nicht zu verbauen, einen von Kissinger und dessen sowjetischem Kollegen Gromyko erzielten Kompromiß über die Einbeziehung neuer Mittelstreckenwaffenträger (sowjetische Backfire-Bomber und amerikanische Marschflugkörper) in das zu vereinbarende Plafond für strategische Waffen ablehnte; damit kamen die durch wachsendes Mißtrauen und technologische Neuerungen auf beiden Seiten ohnehin erschwerten SALT-IIVerhandlungen nahezu zum Erliegen. Im März 1976 erklärte Ford emphatisch, den Begriff »Détente« fortan nicht mehr verwenden zu wollen. Den Wahlkampf gewann dennoch Fords demokratischer Gegenkandidat Jimmy Carter – mit einem Programm der moralischen Erneuerung, das, von Carters zukünftigem
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Sicherheitsberater Brzezinski formuliert, die Ankündigung stärkeren Einwirkens auf eine Liberalisierung des Sowjetimperiums einschloß26. Den Ansatzpunkt für eine solche Politik, die das erschütterte Selbstbewußtsein der Amerikaner wieder zu festigen versprach, fand Carter in den Menschenrechtsbewegungen, die die Veröffentlichung der KSZE-Schlußakte unterdessen in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion ausgelöst hatte. Diese Bewegungen, die ein von allen Beobachtern und auch von der Sowjetregierung unerwartetes Ausmaß angenommen hatten und neue spektakuläre Repressionsmaßnahmen der östlichen Machthaber hervorriefen27, schienen ihm ein ideales Mittel zu sein, um dem eigenen Volk und der Welt die moralische Stärke der USA zu beweisen und die Sowjetunion nach einer Serie vermeintlicher Erfolge wieder in die Defensive zu zwingen. So begann er seine Amtszeit 1977 mit einer massiven Kampagne gegen die Verletzung von Menschenrechten und unterstützte demonstrativ die sowjetischen Dissidenten. In den SALT- Verhandlungen konfrontierte er die Sowjetführung mit dem Vorschlag, entweder die Mittelstreckenwaffen vorläufig auszuklammern (deren Entwicklung der Sowjetführung besondere Sorgen bereitete) oder sogleich über ein neues umfassenderes Abkommen zu verhandeln, das die in Wladiwostok vereinbarten Höchstzahlen um ein Viertel verringern sollte (und damit die vorwiegend seegestützte US-Abschreckungsmacht tendenziell bevorzugte). Als Carters Außenminister Cyrus Vance die neuen Vorschläge Ende März 1977 in Moskau präsentierte, lehnte Gromyko nicht nur ab, sondern erklärte auch öffentlich seine Konsternation über den neuen Kurs der amerikanischen Politik – die Krise der amerikanisch-sowjetischen Entspannung war nun offenkundig. Im westlichen Europa zeigte man sich besorgt über die Verhärtung der amerikanischen Position. Gewiß waren die Befürworter der Entspannungspolitik auch hier mehr und mehr unter Rechtfertigungszwang geraten; auch trugen große Teile der europäischen Linken, darunter die »Eurokommunisten«, die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen im Ostblock mit. Die Erleichterungen im zwischenmenschlichen Kontakt zwischen Ost- und Westeuropa (vor allem zwischen Ost- und Westdeutschen) waren aber soweit gediehen und das Interesse am Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen zum Ostblock hatte sich (trotz Engpässen infolge des geringeren Entwicklungsgrades der sozialistischen Volkswirtschaften) soweit entwickelt,28 daß von einer Störung der Ost-WestBeziehungen sogleich ernsthafte Nachteile für die Europäer zu erwarten waren. Nicht zuletzt deshalb behielten auch in den meisten westeuropäischen Ländern, anders als in Amerika, Kräftekonstellationen die Regierungsgewalt, die ihre Position im Zeichen der Entspannungspolitik errungen oder befestigt hatten und darum allein schon aus innenpolitischen Gründen an ihrer Fortsetzung interessiert waren. Die Regierungen in Bonn, Paris und London übten folglich starken Druck auf Carter aus, zur bisherigen Linie in der amerikanischen Entspannungspolitik zurückzukehren; Frankreichs Staatspräsident Giscard
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d’Estaing kritisierte die Cartersche Menschenrechtskampagne öffentlich als entspannungsgefährdend. Die Kritik aus Europa half den pragmatischen Kräften innerhalb der CarterAdministration (insbesondere im State Department mit Cyrus Vance an der Spitze und Marshall Shulman als Ostexperten), sich stärker durchzusetzen; so kehrte die amerikanische Regierung in den SALT-II-Verhandlungen bereits im Mai 1977 wieder zur alten Verhandlungslinie zurück, im Herbst des gleichen Jahres klang auch die Menschenrechtskampagne ab, und Carter bemühte sich fortan demonstrativ um eine Verbesserung des Verhältnisses zu den Europäern. Die inneramerikanische SALT-II-Kritik blieb allerdings; sie wurde sogar noch dadurch verstärkt, daß nun Vertreter der vormaligen republikanischen Administration – unter ihnen Henry Kissinger – in der Hoffnung auf ein politisches Comeback die These von der globalen sowjetischen Aggressionsstrategie aufgriffen. So konnten die Kräfte um Brzezinski in diesem Klima von Zeit zu Zeit wenigstens Teile ihrer Konzeption durchsetzen. Daher flackerten die europäisch-amerikanischen Spannungen immer wieder auf, etwa auf dem KSZE-Folgetreffen vom Oktober 1977 bis März 1978 in Belgrad, wo die amerikanische Delegation gegen den Willen der Europäer die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in den Mittelpunkt des Konferenzgeschehens rückte – mit dem Ergebnis, daß sich die sowjetische Delegation in die Defensive zu gehen gezwungen sah und ansonsten erreichbar erscheinende Fortschritte auf dem Gebiet der vertrauensbildenden Maßnahmen blockierte. Die Konferenz ging folglich mit einem ziemlich inhaltsleeren, nur den Willen zur Fortsetzung des Entspannungsdialogs dokumentierenden Schlußdokument auseinander. Auch zeigten sich die Europäer besorgt über die demonstrative Verbesserung des chinesisch- amerikanischen Verhältnisses (beginnend mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum 1. Januar 1979 und der USA-Reise des stellvertretenden chinesischen Ministerpräsidenten Deng Xiao-ping Ende Januar/Anfang Februar 1979), die zwar bislang noch nicht zu dem von den Chinesen gewünschten Abschluß eines Militärbündnisses führte, im übrigen aber einen Grad erreichte, der das seit der Nixon-Ära geübte Prinzip gleich guter Beziehungen zur Sowjetunion und zu China weit hinter sich ließ. Immerhin war die Koalition der »Gemäßigten« stark genug, um die SALT-IIVerhandlungen zu Ende zu führen, ohne von der Sowjetführung politische Gegenleistungen für die Begrenzung des Wettrüstens zu verlangen. Am 18. Juni 1979 unterzeichneten Carter und Breshnew in Wien die SALT-IIVereinbarungen: Gemäß den Richtlinien von 1974 wurden für beide Seiten gleiche Höchstzahlen für Abschuß Vorrichtungen beschlossen, je nach Waffenart unterschiedliche Obergrenzen für die Sprengkopfbestückung pro Rakete festgelegt, das Wurfgewicht der Raketen beim derzeitigen Stand eingefroren und die Entwicklung neuer landgestützter Interkontinentalraketensysteme auf je ein System für jede Seite beschränkt. Dabei wurde der Sowjetunion erneut eine größere Zuwachsrate zugestanden, die USA behielten jedoch im Ergebnis immer
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noch ein Übergewicht an Einzelwaffen für interkontinentale Angriffsträger (etwa 11500 zu 9500, davon bis 1981 realisiert etwa 9500 zu 5000). Trotz der Vermehrung und Präzisierung der Zuwachsbeschränkungen gegenüber SALT I blieben allerdings zentrale Bereiche des Wettrüstens von den Vereinbarungen unberührt: Die USA behielten die Möglichkeit, ein landbewegliches Interkontinentalraketensystem (MX) einzuführen, das die Gefahr eines erfolgreichen sowjetischen Überraschungsangriffs auf amerikanisches Territorium praktisch ausschloß, aber das sowjetische Territorium trotz des Dahinschwindens des amerikanischen Übergewichts weiter mit einem überraschenden Erstschlag bedrohte und damit neue sowjetische Gegenmaßnahmen hervorrufen mußte; die Sowjets verzichteten nicht darauf, dem damit erneut drohenden amerikanischen Vorsprung in der strategischen (d.h. interkontinentalen) Rüstung durch eine Verstärkung der »Geiselrolle« Westeuropas zu begegnen, indem sie ihr gegen Westeuropa gerichtetes Mittelstreckenpotential durch Umrüstung von technisch veralteten SS-4- und SS5-Raketen auf zielgenauere, mit Mehrfachsprengköpfen ausgestattete und vor allem mobile (und daher kaum verletzliche) Raketen des Typs SS-20 in seiner Wirksamkeit beträchtlich erhöhten; die europäischen NATO-Partner behielten die Möglichkeit zur Stationierung amerikanischer Marschflugkörper, die Ziele in der Sowjetunion erreichen konnten29.
Abb. 8: Die Entwicklung des nuklearen Mittelstreckenpotentials in und (potentiell) für Europa 1958–1979. Im Bereich der Mittelstreckenwaffen war der Warschauer Pakt seit den 50er Jahren zumindest quantitativ deutlich überlegen. Mitte der 60er Jahre ersetzten die USA ihre landgestützten Mittelstreckenbomber und Mittelstreckenraketen in Europa
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(MRBM = Medium- range ballistic missiles und IRBM = Intermediate-range ballistic missiles) durch seegestützte, d.h. auf U-Booten stationierte ballistische Raketen (SLBM = Submarine- launched ballistic missiles), die durch Angriffe der UdSSR nicht mehr zerstört werden konnten und darum die UdSSR nicht mehr zu einem Präventivschlag herausforderten.
Größere Sicherheit für Europa war mit diesem Ergebnis freilich noch nicht gewonnen; im Gegenteil ließen die Bestimmungen der Eigendynamik der Rüstungstechnologie und dem Ressortegoismus der Militärapparate genügend Raum, um die Sicherheitslage Europas in entscheidendem Maße zu destabilisieren: Perfektionierung der sowjetischen Raketenabwehr, höhere Treffsicherheit der sowjetischen Mittelstreckenwaffen und vor allem die deutlich größer werdende Verletzlichkeit des amerikanischen Territoriums, die die »Abzweigung« strategischer Waffen der USA für die Vergeltung sowjetischer Schläge in Europa immer weniger ratsam erscheinen ließ, erschütterten die im Prinzip (wegen des nie absolut zu beseitigenden Selbstmord-Risikos) immer schon fragwürdige Glaubwürdigkeit der amerikanischen Abschreckungsgarantie für das westliche Europa weiter, während alle Versuche, diese Glaubwürdigkeitslücke durch die Androhung begrenzter und begrenzbarer Gegenschläge zu schließen, die europäische Region, eben weil sie durchaus glaubwürdig waren, erst recht für einen sowjetischen Präventivschlag anfällig werden ließ. In den Diskussionen innerhalb des westlichen Bündnisses, die durch diese objektiv immer prekärer werdende Situation ausgelöst wurden, setzten sich nach einigem Hin und Her schließlich die Anwälte einer weiteren Eskalation der Rüstungsspirale stärker durch – teils, weil es ihnen gelang, die Destabilisierung der eurostrategischen Situation allzu simplifizierend als sowjetisches »Übergewicht« erscheinen zu lassen30, zum Teil aber auch, weil das europäische Interesse am Schutz vor sowjetischer Bedrohung, die amerikanische Abneigung gegen eine Multilateralisierung des Abrüstungsdialogs (die Amerikas Führungsrolle im NATO-Bündnis weiter zu schwächen drohte) und das wachsende amerikanische Interesse an einer glaubwürdigen – weil auf Europa beschränkten – Erstschlagsdrohung gegen die Sowjetunion in der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen auf europäischem Boden ihren kleinen gemeinsamen Nenner fanden.
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Abb. 9: Nukleare Lang- und Mittelstreckenraketensysteme in und für Europa zu Beginn der 80er Jahre. Die Schätzung des Wirkungsgrades der eurostrategischen Waffen, die das Londoner Internationale Institut für Strategische Studien vorgenommen hat, um der Irreführung durch bloß numerische Messungen des Kräfteverhältnisses zu entgehen, zeigt, daß das westliche Bündnis ohne Ausführung des »Nachrüstungs«beschlusses zwar zahlenmäßig unterlegen ist, aber immer noch über nukleare Eskalationsfähigkeit in Europa und eurostrategische Zweitschlagsfähigkeit verfügt, wenn die Waffen tatsächlich eingesetzt werden sollten. Tatsächlich gefährdet ist die Sicherheit Europas dadurch, daß die Glaubwürdigkeit ihres Einsatzes erschüttert ist, das Ausweichen auf die Möglichkeit eines begrenzten Atomkrieges aber Präventivschläge der Gegenseite hervorzurufen droht.
Die Stationierung von 464 Marschflugkörpern (cruise missiles) in Großbritannien, der Bundesrepublik, Italien und eventuell auch den Niederlanden und in Belgien, die von den Außen- und Verteidigungsministern der NATO am 12. Dezember 1979 in Brüssel beschlossen wurde, versprach zwar eine Umgehung der sowjetischen Raketenabwehr wie des amerikanischen Zauderns vor jedem tatsächlichen Raketeneinsatz, lenkte sowjetische Raketen aber im Falle des Versagens der Abschreckung erst recht auf europäischen Boden und lud die Sowjetunion natürlich ein, sich gleichfalls um derartige unverwundbare Zweitschlagswaffen zu bemühen. Die gleichzeitig beschlossene Aufstellung von 108 Pershing-II-Raketen auf westdeutschem Territorium versetzte die USA darüber hinaus in die Lage, von europäischem Boden aus die
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Sowjetunion mit einem Atomschlag bedrohen zu können, ohne einen Gegenschlag auf amerikanisches Territorium befürchten zu müssen, und verschaffte ihnen damit die Fähigkeit zur politischen Erpressung der Sowjetunion, erhöhte aber zugleich (wegen der Verringerung der Vorwarnzeit auf 4 Minuten) die Gefahr eines sowjetischen Präventivschlages gegen das amerikanische Waffenarsenal in Europa und ließ damit das westliche Europa (das einen solchen Schlag unter allen Umständen vermeiden mußte) für sowjetische Erpressungsversuche anfällig werden; damit hatte sich die Sicherheit des europäischen Kontinents bei Vermehrung der Rüstungsanstrengungen entschieden weiter verschlechtert. Daß sich die NATO-Partner gleichzeitig darauf verständigten, erheblich geringere »Nachrüstungs«anstrengungen zu unternehmen, falls die Sowjetunion in den bis zur tatsächlichen Stationierung der neuen Waffen (frühestens Ende 1983, wahrscheinlich erst 1985) zu führenden Verhandlungen ihrerseits einen »zufriedenstellenden« Abbau des SS-20Potentials zugestehen sollte, änderte, anders als europäische Entspannungsbefürworter vielfach glaubten, an diesem Ergebnis nichts Wesentliches mehr: Eine Veränderung in der Relation bei landgestützten Mittelstreckenraketen war nicht verhandelbar, solange die Westmächte nicht zugleich zu Zugeständnissen auf dem Gebiet der Forward Based Systems bereit waren; von diesen war aber in dem sogenannten »Doppelbeschluß« nach wie vor nicht die Rede31. Selbst der für die Sicherheit der Europäer noch positivste Nebeneffekt der Brüsseler Vereinbarungen, die vordergründige Verdeckung tiefgreifender Interessengegensätze und Widersprüche im europäisch-amerikanischen Verhältnis, war nur von begrenzter Reichweite. Als Ende Dezember 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten, da eine Mehrheit der sowjetischen Führung nach dem Fehlschlagen ihrer Entspannungsbemühungen nicht länger bereit war, um des allgemeinen Entspannungsklimas willen im afghanischen Nachbarstaat der Auflösung kommunistischer Parteiherrschaft durch moslemische Revolutionäre tatenlos zuzusehen32, trieb nicht nur die Krise der Entspannung, sondern auch die amerikanisch- europäische Spannung neuen Höhepunkten zu: In den USA verhalf die Nachricht von der sowjetischen Invasion der neuen »Politik der Stärke« endgültig zum Durchbruch. Präsident Carter, der schon vor der Unterzeichnung der SALT-II-Vereinbarungen den Bau der ersten 200 MX-Raketen angekündigt und zwischen NATO-Doppelbeschluß und Afghanistan-Krise ein umfassendes Aufrüstungsprogramm für die achtziger Jahre bekanntgegeben hatte, ohne damit verhindern zu können, daß sich die Aussichten für eine Ratifizierung von SALT II durch den amerikanischen Senat immer weiter verschlechterten, machte sich nun – nicht zuletzt im Hinblick auf die Chancen für seine Wiederwahl – den Mythos vom weltweiten sowjetischen Expansionismus und die dazugehörige Forderung nach weltweiter militärischer »Eindämmung« zu eigen, rief zu Sanktionen gegen den sowjetischen Aggressor auf, vertagte die parlamentarische Behandlung des SALT-II-Pakets und schuf mit
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der Proklamation der Strategie begrenzter Nuklearkriegführung (Bedrohung sowjetischer Militärobjekte und Entscheidungszentren) den politischen Rahmen für die volle Verwirklichung des MX- wie des Pershing- II-Programms; wer weiter Gesprächsbereitschaft mit der Sowjetunion demonstrierte, sah sich bald aller politischen Einflußmöglichkeiten beraubt33. Die Präsidentschaftswahlen vom November 1980 gewann gleichwohl Carters republikanischer Gegenkandidat Ronald Reagan, der im Wahlkampf angekündigt hatte, die SALT-Bemühungen überhaupt auszusetzen, bis die USA ihre verlorengegangene Stärke wiedergewonnen hätten. Reagan verhalf dann konservativen CarterKritikern zur Macht, die – bei unterschiedlichen Konzeptionen im einzelnen – weitere Rüstungskontrollanstrengungen von vorherigem »Wohlverhalten« der Sowjetunion abhängig machten (»Linkage«- Konzept), im Zweifelsfall der Sicherheit durch Aufrüstung größere Plausibilität zumaßen als der Sicherheit durch Verständigung über gemeinsame und komplementäre Interessen und den Westeuropäern im allgemeinen eine gefährliche Neigung zu vertrauensseligem Pazifismus nachsagten34. Dagegen drängte die große Mehrheit der Westeuropäer, von den Osteuropäern so gut es eben ging unterstützt, das Gespräch zwischen Ost und West nicht abreißen zu lassen oder, wo es schon abgerissen war, wieder in Gang zu bringen. Zwar löste das sowjetische Vorgehen in Afghanistan auch hier vielfach neue Unsicherheit über die Ziele der Sowjetmacht aus, doch überwog die Sorge vor den negativen Folgen eines neuen Spannungszustandes in Europa. Die westeuropäischen Regierungen bremsten darum den amerikanischen Sanktionseifer, soweit ihnen das möglich war, drängten weiter auf die Ratifizierung von SALT II und bemühten sich mit großer Energie um Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung des Entspannungsdialogs. Der Gegensatz zwischen der amerikanischen und der europäischen Reaktion auf die Afghanistan-Invasion ließ sich im Rahmen der normalen Konsultationsmechanismen des Bündnisses kaum mehr verringern: In den USA machte sich Erbitterung über die vermeintliche Verweigerung der Solidarität durch die Europäer breit, während sich in Westeuropa allmählich ein eigenständiges europäisches Selbstbewußtsein zu zeigen begann, das sich vom westlichen Konsens früherer Jahre deutlich unterschied und insbesondere die vielfache Interessenidentität von Ost- und Westeuropäern hervorhob35. Die Sowjetführung ging auf die europäischen Initiativen zunächst nicht ein. Bezüglich der eurostrategischen Problematik hatte sie im Vorfeld der Brüsseler Entscheidung die Aussetzung des westlichen Stationierungsbeschlusses als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen gefordert und ein von Bundeskanzler Schmidt verlangtes Moratorium bei der Aufstellung der SS-20Raketen abgelehnt – sei es, weil sie gehofft hatte, die innerwestlichen Widerstände gegen die Stationierung durch Drohung mit Kooperationsverweigerung soweit steigern zu können, daß die westliche »Nach«rüstung auch ohne sowjetische Gegenleistung unterblieb; sei es, daß sie
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die gesamtstrategische Sicherheit der Sowjetunion einfach noch nicht hinreichend gewährleistet gesehen hatte. Jedenfalls verstrich daraufhin die Chance, die Eskalation des eurostrategischen Wettrüstens zu stoppen, ungenutzt, und die Perspektive eines durch keine Rüstungskontrollverhandlungen mehr gebremsten Wettrüstens rückte näher, die Moskau allein schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht genehm sein konnte. Aus der Sackgasse, in die sie sich damit manövriert hatte und die durch das Afghanistan-Abenteuer noch enger wurde, fand sie so schnell nicht wieder heraus; dazu waren die innersowjetischen Entscheidungsprozesse zu schwierig, das innere Legitimationsbedürfnis der Führungsspitze zu groß. Erst im Juni 1980 signalisierte die Sowjetführung wieder Gesprächsbereitschaft: Mit einem Abzug einzelner sowjetischer Truppeneinheiten und schwerer Geschütze aus Afghanistan bekundete sie ihre Bereitschaft, über eine »Finnlandisierung« des Landes zu verhandeln, wie sie Giscard d’Estaing zuvor bei einem überraschend arrangierten Treffen mit Breshnew in Warschau vorgeschlagen hatte, d.h. über eine Lösung, die Afghanistan im sowjetischen Einflußbereich beließ, der Sowjetunion aber die militärstrategischen Vorteile, die sich aus der Präsenz ihrer Truppen in dieser Kernregion des Vorderen Orients gewollt oder ungewollt ergeben hatten, wieder nahm. Kurz darauf, bei einem Besuch Helmut Schmidts in Moskau, gab die sowjetische Führung ihre Weigerung auf, ohne vorherige Aufhebung des Brüsseler Stationierungsbeschlusses über eine Begrenzung der Mittelstreckenraketen im europäischen Raum zu verhandeln, freilich nur – wie nach dem bisherigen Gang der Rüstungskontrolldiskussion nicht anders zu erwarten – unter der Bedingung, daß nun doch die amerikanischen Forward Based Systems in Europa in die Verhandlungen einbezogen würden und mögliche Verhandlungsergebnisse erst nach einer Ratifizierung von SALT II in Kraft treten sollten. Um überhaupt noch ein Verhandlungsergebnis vor dem in Brüssel anvisierten Stationierungstermin zu erreichen, verzichtete sie allerdings (erstmals!) auf die Forderung, auch die französischen und britischen Kernwaffen in die Verhandlungen hineinzunehmen (eine Forderung, die angesichts der strikten Weigerung Frankreichs und des Zögerns Großbritanniens, die eigenen Nuklearsysteme in SALT-III-Gespräche einzubringen, jede Aussicht auf einen wie auch immer gearteten Verhandlungserfolg zunichte zu machen drohte), und erklärte zudem ihre Bereitschaft, mit Verhandlungen über den eurostrategischen Komplex zumindest zu beginnen, noch ehe die Ratifizierung von SALT II vollzogen war36. Damit war es den Europäern gelungen, die allerärgste Blockierung des OstWest-Dialogs, die die Weltpolitik im ersten Halbjahr 1980 überschattet hatte, zu überwinden. Ein Neubeginn des Entspannungsprozesses, wie er im europäischen Interesse lag, ließ aber weiterhin auf sich warten – aus dreierlei Gründen:
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Erstens: Die innere Schwäche des Sowjetsystems ermöglichte es den östlichen Machthabern nicht, dem Kooperationsverlangen der Westeuropäer in dem Maße entgegenzukommen, wie es zu deren Selbstbehauptung gegenüber den USA notwendig gewesen wäre. So scheiterten die Bemühungen um eine »Finnlandisierung« Afghanistans vorerst daran, daß afghanischer Widerstand die Chancen für eine Stabilisierung des sowjetischen Einflusses ohne sowjetische Truppenpräsenz noch geringer werden ließ als vor der Invasion. Die gewaltige Erschütterung des kommunistischen Herrschaftssystems in Polen, die mit einer mächtigen Streikbewegung im Juli/August 1980 begann und mit der Etablierung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung »Solidarität« bald einen offensichtlich nur noch gewaltsam revidierbaren Grad erreichte37, ließ die Sowjetführung wiederholt zum Mittel einer Interventionsdrohung greifen, womit sie zwar – angesichts der offenkundigen schwerwiegenden Nachteile, die sie im Falle einer tatsächlichen militärischen Intervention in Kauf zu nehmen hatte – im Hinblick auf die Entwicklung in Polen nichts erreichte, dafür aber natürlich die Entspannungsbefürworter im westlichen Europa weiter diskreditierte. Weiterhin trieb die Furcht vor einem Übergreifen der polnischen Emanzipationsbewegung auf die eigenen Staaten die übrigen osteuropäischen Machthaber dazu, die Abgrenzung gegenüber dem westlichen Europa wieder stärker zu betonen; insbesondere schob die DDR- Führung einem in ihrer Sicht destabilisierend wirkenden allzu raschen Ausbau der innerdeutschen Beziehungen starke Riegel vor, indem sie Anfang Oktober 1980 die Zwangsumtauschsätze für westdeutsche DDR-Besucher drastisch erhöhte und wenig später die Forderung nach »Anerkennung« der DDR-Staatsbürgerschaft (die für das bundesdeutsche Staatsverständnis nicht akzeptabel ist) wieder in den Vordergrund spielte; ein Besuch Schmidts bei Honecker war schon zuvor an beiderseitiger Nervosität wegen der polnischen Ereignisse gescheitert. Zweitens: Den an Sicherheit durch Entspannung interessierten Kräften im westlichen Europa – nach wie vor ganz deutlich in der Mehrheit – gelang es nicht, sich über die Mittel einer solchen Sicherheitspolitik zu verständigen. Statt die wachsende Unsicherheit infolge der eurostrategischen Problematik dazu zu nutzen, die innere Problematik der NATO- Doktrin aufzuarbeiten und Konsens über ein realistisches Sicherheitskonzept herzustellen, steigerten sich Befürworter und Gegner des NATO-»Nachrüstungs«- Beschlusses in immer polemischer geführte Auseinandersetzungen hinein. Sie ließen die einen vielfach bei einem gänzlich hilflosen Pazifismus landen, endeten für die anderen bei einer ebenso irrationalen Beschwörung traditioneller Sicherheitsformeln und brachten beide weitgehend um die angestrebte Wirkung. In Frankreich führten zudem die Sorge um die Unabhängigkeit der eigenen Nuklearrüstung (die man unter allen Umständen aus eurostrategischen Rüstungskontrollvereinbarungen heraushalten wollte) und eine historisch verspätete und darum um so pauschaler und vordergründig moralisch argumentierende Kritik an der Sowjetunion in den
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Reihen der Linken zu einer teilweisen Abkehr vom bisherigen Entspannungskurs. Diese Tendenz hat sich nach dem Wahlsieg des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand im Mai 1981 noch verstärkt, weil die neue Regierung zur außenpolitischen Absicherung ihres sozialistischen Reformprogramms um Loyalitätsgesten gegenüber den USA bemüht war. Folglich sah sich Schmidt schon von Giscard d’Estaing in seinen Bemühungen um eine differenzierte, die Chancen zur Entspannung nicht durch pauschale Sanktionsdrohungen verschüttende Behandlung der polnischen Problematik im Stich gelassen; die über Schmidt hinausgehenden Kritiker der westlichen Rüstungspolitik erhielten von Mitterrand eine eindeutige Absage. Das deutsch-französische Team fungierte kaum mehr als Sprecher gemeinsamer europäischer Interessen. Drittens: Mithin in doppelter Weise behindert, waren die Europäer, aus strukturellen Gründen ohnehin schwächer, noch weniger in der Lage, von den USA die Rückkehr zum Entspannungsdialog zu erzwingen. Die CarterAdministration sah keine Chance mehr, das SALT-II-Paket ohne vorherigen Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan durch den Senat zu bringen, unternahm aber immerhin im Herbst 1980 noch einmal einen halbherzigen Anlauf zur Aufnahme von Verhandlungen über die MittelstreckenraketenProblematik. In den ersten Monaten der Reagan-Administration sah es dagegen so aus, als wollten sich die USA nicht einmal mehr an den Verhandlungsteil des Brüsseler »Doppelbeschlusses« halten. Unter diesen Umständen erschien es den Europäern schon als Erfolg, daß die Reagan-Regierung auf der NATOMinisterratstagung in Rom Anfang Mai 1981 ihren Verbündeten die Aufnahme von bilateralen Verhandlungen über eine eurostrategische Rüstungsbegrenzung noch vor Ende des Jahres 1981 zusagte. Eine Bereitschaft zu realistischer Einschätzung der Verhandlungsproblematik – etwa durch Einbeziehung der Forward Based Systems – ließ sie freilich nicht erkennen, vielmehr proklamierte sie als Verhandlungsziel, »das wachsende strategische Ungleichgewicht zu beseitigen und eine Sicherheitszone gegenüber den Sowjets wiederherzustellen«38; SALT II sollte zu diesem Zweck neu verhandelt werden. Danach war zu befürchten, daß die Verhandlungen über eurostrategische Abrüstung, die Ende November 1981 in Genf begannen, die weitere Aufrüstung kaum bremsen konnten, sondern lediglich dazu dienten, sie in Westeuropa innenpolitisch abzusichern39. Auf eine solche Wirkung ließ jedenfalls schon die Aufnahme der sowjetischen Ankündigung von Verhandlungsbereitschaft schließen: Breshnews Eingehen auf Schmidts Moratoriumsvorschlag vom Oktober 1979 (erstmals auf dem KPdSU-Parteitag im Februar 1981, präzisiert gegenüber Willy Brandt bei dessen Moskau-Besuch Anfang Juli 1981) wurde auch von der Mehrheit der Europäer nicht mehr honoriert, obwohl Breshnew für den Fall von Verhandlungen den unterdessen durch die Aufstellung weiterer SS20-Raketen entstandenen westlichen Nachteil durch das Angebot weiterer
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Produktionsmöglichkeiten für das vorgesehene »Nachrüstungs«-Potential zu kompensieren versprach. Was Europa in den achtziger Jahren bevorsteht, ist also, soviel lassen die Entwicklungen am Beginn des neuen Jahrzehnts erkennen, weder ein Rückfall in die bipolare Konfrontation des Kalten Krieges noch eine baldige Verwirklichung jener europäischen »Dritten Kraft«, von der die Gegner des Kalten Krieges über drei Jahrzehnte zuvor geträumt hatten, sondern eine stärkere Betonung der europäischen Identität im Rahmen des vom Ost-West-Gegensatz dominierten politischen Weltsystems. Das westliche Europa ist weiterhin, obwohl seine Wirtschaftskraft zugenommen und sein politischer Spielraum gegenüber den USA sich vergrößert hat, von der amerikanischen Sicherheitsgarantie abhängig. Es ist aber wegen der wachsenden Instabilität seines militärischen Sicherheitssystems zugleich in steigendem Maße auf Rüstungskontrollverhandlungen und die Schaffung einer »Struktur des Friedens« angewiesen. Das östliche Europa wird sich bei Fortsetzung der innereuropäischen Entspannung (die von der Sowjetführung nicht ganz verhindert werden kann, weil sie selbst an Kooperation mit den Westmächten interessiert ist) und geringer werdenden Möglichkeiten zur Loyalitätssicherung durch materielle Kompensationen in noch weit stärkerem Maße als bisher schon vom Führungsapparat des Sowjetsystems zu emanzipieren suchen. Die Fähigkeit der Sowjetunion, derartige Entwicklungen durch militärische Gewalt auf die Dauer zu unterbinden, dürfte immer geringer werden. Ob die Europäer freilich die ihnen verbliebenen (bzw. wieder zugewachsenen) Chancen für autonomes Handeln nutzen oder aber sich in neue Spannungen – möglicherweise sogar mit der Konsequenz eines von niemandem gewollten tödlichen Konflikts – treiben lassen, das hängt davon ab – ob und wieweit es den Westeuropäern gelingen wird, einen Konsens über ihre Sicherheitsinteressen herzustellen – ob und wieweit sie in der Lage sein werden, den amerikanischen Ängsten und Ansprüchen mit Aufklärung und kritischer Solidarität statt mit Anpassung oder Aggressionen zu begegnen – ob und wieweit sich osteuropäische Emanzipationsbewegungen und der Führungsapparat des Sowjetblocks über einen Prozeß des »friedlichen Wandels« verständigen können, der größere Freiheiten ermöglicht, ohne dem Sowjetsystem sogleich die Legitimationsgrundlagen zu nehmen. Mehr denn je sind also Engagement, Nüchternheit und Beharrungsvermögen der Europäer vonnöten, wenn die europäische Geschichte noch eine Zukunft haben soll. Mehr denn je tut darum auch eine Entideologisierung der jüngsten Vergangenheit Europas not. Anmerkungen
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Kap. 1: Europa nach 1945: Die Formation der Blöcke
1 Die folgenden Daten nach den Zusammenstellungen bei Walter Laqueur, Europa aus der Asche. Geschichte seit 1945, München, Zürich, Wien 1970, S. 12– 16, und Walter Lipgens, Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945– 1950, 1. Teil: 1945–1947, Stuttgart 1977, S. 6–11 und 474 f. 2 Rudolf von Albertini, Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919–1960, Köln, Opladen 1966; Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, München 1966; Xavier Yacono, Les étapes de la décolonisation française, Paris 1971. 3 Hierzu Warren L. Hickman, Genesis of the European Recovery Program. A Study of the Trend of American Economic Policies, Diss. Genf 1949; Joyce and Gabriel Kolko, The Limits of Power. The World and United States Policy 1945– 1954, New York 1972; Wilfried Loth, Frankreichs Kommunisten und der Beginn des Kalten Krieges, in: Vierteljahrshefte f. Zeitgeschichte 26 (1978), S. 7–65. 4 Anton W. Deporte, De Gaulle’s Foreign Policy 1944–1946, Cambridge (Mass.) 1968; Walter Lipgens, Bedingungen und Etappen der Außenpolitik de Gaulles 1944–1946, in: Viertelsjahrshefte f. Zeitgeschichte 21 (1973), S. 52–102. 5 Vgl. Lipgens (Anm. 1). 6 Die Ursachen für diese Entwicklung zum »Kalten Krieg« sind in der zeitgeschichtlichen Forschung sehr kontrovers diskutiert worden. Vgl. als Beispiel für die »traditionelle« Interpretation, die das sowjetische Expansionsstreben für den Konflikt verantwortlich macht, Herbert Feis, From Trust to Terror. The Onset of the Cold War 1945–1950, New York 1970; exemplarisch für die »revisionistische« Interpretation, die in der Auseinandersetzung eine Auswirkung imperialistischen Ausgreifens der USA sieht, Kolko (Anm. 3); sowie als Versuch einer über die Kontroverse hinausführenden Synthese Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955, München 1980, 19823. 7 Hierzu und zum folgenden die allgemeinen Überblicke bei Andreas Hillgruber, Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, Königstein 1979, und Jörg K. Hoensch, Sowjetische Osteuropapolitik 1945–1975, Kronberg 1977; zur Flexibilität der sowjetischen Osteuropapolitik näherhin Wolfgang Diepenthal, Drei Volksdemokratien. Ein Konzept der kommunistischen Machtstabilisierung und seine Verwirklichung in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetischen
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Besatzungszone Deutschlands 1944–1948, Köln 1974, sowie insbesondere Vojtech Mastny, Moskaus Weg zum Kalten Krieg. Von der Kriegsallianz zur sowjetischen Vormachtstellung in Osteuropa, München, Wien 1980. 8 Vgl. Geir Lundestad, The American Non-Policy towards Eastern Europe 1943– 1947, Tromsö, New York 1975; im einzelnen auch Walter Ullmann, The United States in Prague 1945–1948, New York 1978; Richard C. Lukas, The Strange Allies: The United States and Poland, 1941–1945, Knoxville (Tennessee) 1978; und Paul D. Quinlan, Clash over Romania: British and American Policies towards Romania, 1938–1947, Oakland (California) 1977. 9 Hierzu und zum folgenden Loth, Frankreichs Kommunisten (Anm. 3); Severino Galante, La fine di un compromesso storico. PCI e DC nella crisi dell 1947, Mailand 1980. 10 Zum folgenden John L. Snell, Wartime Origins of the East-West-Dilemma over Germany, New Orleans 1959; Alexander Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941–1945, Stuttgart 1975; Warren F. Kimball (Hrsg.), Swords or Ploughshares? The Morgenthau Plan for defeated Nazi Germany, 1943–1946, Philadelphia 1976; John H. Backer, Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1943–1948, München 1980. 11 Hierzu auch Tony Sharp, The Wartime Alliance and the Zonal Division of Germany, Oxford 1975; Diana S. Clemens, Jalta, Stuttgart 1972; Ernst Deuerlein, Deklamation oder Ersatzfrieden? Die Konferenz von Potsdam 1945, Stuttgart 1970; Charles L. Mee, Die Teilung der Beute. Die Potsdamer Konferenz 1945, Wien usw. 1977. 12 Vgl. Ernst Deuerlein, Frankreichs Obstruktion deutscher Zentralverwaltungen 1945, in: Deutschland-Archiv 1 (1971), S. 455–491; Dietrich Staritz, Sozialismus in einem halben Land. Zur Problematik und Politik der KPD/SED in der Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der DDR, Berlin 1976, S. 84–154; John Gimbel, The Origins of the Marshall Plan, Stanford 1976, S. 67–126; Loth, Teilung (Anm. 6), S. 138–144, 155 f. – Die Deutung der »gesamtdeutschen« Politik der Sowjetführung als auf eine Einverleibung des gesamten Deutschen Reiches in den kommunistischen Herrschaftsbereich zielend bei Walrab von Buttlar, Ziele und Zielkonflikte der sowjetischen Deutschlandpolitik 1945–1947, Stuttgart 1980, ist wenig überzeugend. 13 Vgl. Wilfried Loth, Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940–1950, Stuttgart 1977, S. 52– 71, 79–97, 113–127; und Lipgens (Anm. 1), S. 156–223, 313–319, 435–438.
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14 Richard M. Freeland, The Truman Doctrine and the Origins of McCarthyism. Foreign Policy, Domestic Politics and Internal Security 1946–1948, New York 1972; Gimbel (Anm. 12); Loth, Teilung (Anm. 6, in Auseinandersetzung mit Gimbel), S. 150–171; zum folgenden ebda. S. 172–178. 15 Zit. n. Curt Gasteyger (Hrsg.), Einigung und Spaltung Europas 1942–1965, Frankfurt 1965; vgl. Lilly Marcou, Le Kominform, Paris 1977, S. 39–58; William O. Mccagg, Jr., Stalin Embattled 1943–1948, Detroit 1978, S. 261–284. 16 François Fejtö, Le Coup de Prague 1948, Paris 1946; zur Vorgeschichte auch, von unterschiedlichen Standpunkten aus, Friedrich Prinz, Nikolaus Lobkowicz (Hrsg.), Schicksalsjahre der Tschechoslowakei 1945–1948, München 1981; Karel Kaplan, Der kurze Marsch. Kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei: 1945–1948, München, Wien 1981; Martin Myant, Socialism and Democracy in Czechoslovakia, 1945–48, New York 1981. 17 Vgl. den Überblick bei Hoensch (Anm. 7), S. 44–72. 18 Adam B. Ulam, Titoism and the Cominform, Cambridge (Mass.) 1952; B. Farrell, Yugoslavia and the Soviet Union 1948–1956, Hamden (Conn.) 1956; Marcou (Anm. 15), S. 98–237. 19 Für Einzelheiten der innenpolitischen Veränderungen von 1947 Dominique Desanti, L’Année où le monde a tremblé: 1947, Paris 1977. 20 Vgl. Kolko (Anm. 3), S. 428–452; Horst Lademacher, Die britische Sozialisierungspolitik im Rhein- Ruhr-Raum 1945–1948, in: Claus Scharf, HansJürgen Schröder (Hrsg.), Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die britische Zone 1945–1949, Wiesbaden 1979, S. 51–92; Theo Pirker, Die verordnete Demokratie. Grundlagen und Entscheidungen der »Restauration«, Berlin 1977; Gerold Ambrosius, Die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft in WestDeutschland 1945–1949, Stuttgart 1977; Loth, Teilung (Anm. 6), S. 204–211. 21 Wilfried Loth, The West European governments and the impulse given by the Marshall Plan, in: A History of European Integration, by Walter Lipgens et al., vol. I, Oxford 1982, S. 488–507; Alan S. Mil [Band 35: Das Zwanzigste Jahrhundert II. Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. 19451982. Fischer Weltgeschichte, S. 25907 (vgl. FWG Bd. 35, S. 0 ff.) http://www.digitale-bibliothek.de/band119.htm ]
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