R. A. Salvatore Der Fluch des Alchimisten DAS LIED VON DENEIR 5
Scanned by santana7777 Korrektur: Namuras
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R. A. Salvatore Der Fluch des Alchimisten DAS LIED VON DENEIR 5
Scanned by santana7777 Korrektur: Namuras
Goldmann Verlag Nach einem Abstecher zum Berg Nachtglut ist Cadderly auf dem Weg zu Erhebenden Bibliothek. Doch in seiner Abwesenheit geschehen dort unheimliche Dinge: Der Kleriker Rufo ersteht von den Toten auf und verwandelt die Mönche von Deneir in furchtbare Schattenwesen. Auch nimmt er Cadderlys geliebte Danica gefangen, um mit ihr seinen geheimsten Plan zu verwirklichen. Cadderly, der davon nichts ahnt, findet einen entweihten Ort vor, den ihm sein mächtiger Gegner zur Grabstätte auserkoren hat – ein düsteres Mausoleum, an dem Deneirs Lied nie mehr erklingen soll ISBN 3-442-24736-5 Die amerikanische Originalfassung erschien 1994 unter dem Titel »Forgotten Realms: The Chaos Curse« bei TSR, Inc., Lake Geneva, WI, USA Aus dem Amerikanischen von Imke Brodersen
Deutsche Erstveröffentlichung 6/97
Copyright ª 1994, 1997 TSR, Inc.
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Prolog
Abt Thobicus trommelte mit seinen hageren Fingern auf dem Hartholztisch herum. Er hatte seinen Stuhl so gedreht, daß er zum Fenster blickte, nicht zur Tür, um betont wegzusehen, als ein nervöser Mann sein Arbeitszimmer im ersten Stock der Bibliothek betrat. »Ihr ... Ihr habt gebeten ... «, stotterte der Mann, Vicero Belago, aber Thobicus hob eine zitternde ledrige Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Belago brach der kalte Schweiß aus, während er den kahlen Hinterkopf des alten Abts anstarrte. Er blickte zur Seite, wo Bron Turman stand, einer der Großmeister der Bibliothek und der höchstrangige Oghma-Priester, doch der große, kräftige Mann zuckte nur mit den Schultern, denn er hatte keine Antworten für Belago. »Ich habe nicht gebeten«, stellte Abt Thobicus schließlich richtig. »Ich habe Euch hierher befohlen.« Er drehte sich in seinem Stuhl herum, und der verunsicherte Belago, der jetzt wirklich klein und unbedeutend wirkte, wich unwillkürlich zurück. »Ihr untersteht doch noch immer meinem Befehl, nicht wahr, lieber Vicero?« »Aber natürlich, Abt Thobicus«, erwiderte Belago. Er wagte sich einen Schritt näher, aus dem Schatten heraus. Belago war der Alchemist der Erhebenden Bibliothek, ein ergebener Anhänger von Oghma wie Deneir, obwohl er offiziell keinem der beiden Orden angehörte. Er war Abt Thobicus treu - wie ein Knecht seinem Herrn und wie ein Schaf seinem Hirten. »Ihr seid der Abt«, sagte er aufrichtig. »Ich bin nur ein Diener.« »Genau!« fauchte Thobicus mit einer Stimme, die dem
warnenden Zischen einer wütenden Schlange glich. Bron Turman sah den verwelkten alten Abt mißtrauisch an. Noch nie zuvor hatte er den alten Mann so lebhaft oder gar aufgebracht erlebt. »Ich bin der Abt«, sagte Thobicus mit Nachdruck auf dem letzten Wort. »Ich bestimme über die Pflichten in der Bibliothek, nicht Ca -« Thobicus verschluckte den Rest seiner Worte, aber sowohl Belago als auch Turman hatten den Ausrutscher bemerkt und seine Bedeutung verstanden. Der Abt sprach von Cadderly. »Selbstverständlich, Abt Thobicus«, sagte Belago wieder, noch unterwürfiger. Plötzlich erkannte der Alchemist, daß er mitten in einem Machtkampf steckte. Belagos Freundschaft zu Cadderly war kein Geheimnis. Genausowenig wie die Tatsache, daß der Alchemist häufig an ungenehmigten, privat finanzierten Projekten für den jungen Priester arbeitete, häufig nur zum Preis des Materials. »Ihr habt ein Inventurverzeichnis von Eurem Laden?« fragte Thobicus. Belago nickte. Natürlich hatte er das, und Thobicus wußte das auch. Belagos Laden war vor einem knappen Jahr zerstört worden, als die Bibliothek in den Klauen des Chaosfluchs lag. Die tiefen Schatzkammern der Bibliothek hatten die Reparaturen und die Neubeschaffung der Ingredienzien bezahlt, und Belago hatte prompt eine vollständige Abrechnung abgeliefert. »Genau wie ich«, meinte Thobicus. Bron Turman sah den Abt noch immer fragend an, ohne dessen letzte Bemerkung zu verstehen. »Ich weiß, was alles dorthin gehört«, fuhr Thobicus herrisch fort. »Alles, versteht Ihr?«
Belago, der sich auf seine Ehre besann, richtete sich zum ersten Mal auf, seit er den Raum betreten hatte. »Wollt Ihr mich des Diebstahls beschuldigen?« fragte er. Das Lachen des Abts verspottete die aufrechte Pose des drahtigen Mannes. »Noch nicht«, antwortete Thobicus ungerührt, »denn Ihr seid noch hier, und deshalb dürfte alles, was Ihr vielleicht mitnehmen möchtet, auch noch hier sein.« Das ließ Belago zusammenzucken. Nervös runzelte er die Stirn. »Eure Dienste werden hier nicht mehr gebraucht«, erklärte Thobicus, immer noch in diesem schrecklich kalten, ungerührten Ton. »Aber ... aber«, stotterte Belago. »Ich war doch -« »Geht!« Bron Turman richtete sich auf, denn er erkannte den Beiklang und das Gewicht der Magie in Thobicus' Stimme. Der kräftige Oghma-Großmeister war nicht überrascht, als Belago plötzlich den Kopf einzog und den Raum verließ. Mit einem Blick auf Thobicus ging Turman eilig zur Tür, um diese zu schließen. »Er war ein guter Alchemist«, sagte Turman ruhig. Thobicus starrte schon wieder aus dem Fenster. »Ich hatte Gründe, an seiner Loyalität zu zweifeln«, erklärte der Abt. Da Bron Turman ein Pragmatiker und kein direkter Verbündeter von Cadderly war, fragte er nicht weiter nach. Thobicus war der Abt, und als solcher hatte er das Recht, alle Bediensteten, die nicht dem Klerus angehörten, nach seinem Gutdünken einzustellen und wieder zu entlassen. »Baccio ist schon über einen Tag hier«, sagte Turman, um das Thema zu wechseln.
Der Mann, auf den er sich bezog, war der Befehlshaber der Garnison von Carradoon, der gekommen war, um die Verteidigung der Stadt und der Bibliothek abzustimmen, falls die Feinde aus Burg Trinitatis angreifen sollten. »Habt Ihr mit ihm gesprochen?« »Wir werden Baccio und seine kleine Armee nicht brauchen«, sagte Thobicus voller Zuversicht. »Ich werde ihn bald verabschieden.« »Ihr habt also Nachricht von Cadderly?« »Nein«, antwortete Thobicus ehrlich. Tatsächlich hatte der Abt nichts gehört, seit Cadderly und seine Begleiter am Anfang des Winters in die Berge gezogen waren. Aber Thobicus glaubte, er werde die Armee nicht brauchen, weil Cadderly bei seinem Kampf gegen Burg Trinitatis gesiegt hatte. Denn je mehr die Macht des jungen Priesters wuchs, desto mehr fühlte Abt Thobicus sich selbst vom Lichte Deneirs abgeschnitten. Einst hatte Thobicus die mächtigste Klerikermagie beherrscht, aber nun kam selbst der einfachste Spruch wie der, mit dem er den armen Belago entlassen hatte, nur noch schwer über seine verkniffenen Lippen. Er drehte sich um und stellte fest, daß Bron Turman ihn skeptisch anschaute. »Nun gut«, gestand Thobicus ihm zu. »Sagt Baccio, daß ich mich heute abend mit ihm treffen werde - aber ich bleibe dabei, daß seine Armee eine Verteidigungsstellung einnehmen und nicht durch die Berge tapsen sollte.« Damit war Bron Turman zufrieden. »Aber Ihr glaubt, daß Cadderly und seine Freunde erfolgreich waren«, sagte er lauernd. Thobicus antwortete nicht. »Ihr glaubt, daß die Gefahr für die Bibliothek vorüber ist«,
stellte der vierschrötige Großmeister des Oghma fest. In seine großen grauen Augen trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Jedenfalls glaubt Ihr, daß diese spezielle Gefahr für die Bibliothek vorüber ist«, fügte er hinzu. Thobicus blickte so mißmutig drein, daß seine Brauen sich an der Nasenwurzel fest zusammenzogen. »Das geht Euch nichts an«, warnte er leise. Bron Turman verbeugte sich respektvoll bei diesen Worten. »Das bedeutet nicht, daß ich es nicht verstehe«, sagte er. »Vicero Belago war ein guter Alchemist.« »Bron Turman ... « Der Großmeister hielt ergeben eine Hand hoch. »Ich bin kein Freund von Cadderly«, sagte er. »Aber ich bin auch kein junger Mann mehr. Ich habe genügend Intrigen und Machtkämpfe mit angesehen.« Thobicus schürzte die schmalen Lippen und schien kurz vor einem Wutausbruch zu stehen, was Bron Turman als Zeichen nahm, besser zu verschwinden. Er verbeugte sich schnell noch einmal, dann eilte er hinaus. Abt Thobicus lehnte sich zurück und schwang mit dem Stuhl herum, um wieder aus dem Fenster zu schauen. Er konnte Turman für seine Worte nicht zur Rede stellen, denn die Schlußfolgerungen des Mannes waren unbestreitbar wahr. Thobicus war über siebzig Jahre alt und Cadderly gerade etwas über zwanzig, doch aus einem Grunde, den der alte Bürokrat nicht verstehen konnte, hatte Cadderly vor Deneirs Augen besondere Gnade gefunden. Aber der Abt hatte seine Machtstellung Schritt für Schritt unter großen persönlichen Opfern und auf Kosten vieler Jahre emsigen Studiums erreicht. Er war nicht bereit, seinen Platz zu räumen. Er würde die Bibliothek von Cadderlys Verbündeten säubern und den Orden fest in die Hand
nehmen. Großmeister Avery Schell, Cadderlys Mentor und Ersatzvater, und Pertelope, die für Cadderly wie eine Mutter gewesen war, waren jetzt beide tot, und Belago würde bald fort sein. Nein, Thobicus würde seinen Platz nicht räumen. Nicht kampflos.
Erlösungsversprechen
Kierkan Rufo wischte den hartnäckigen Schmutz von seinen Stiefeln und Kniehosen und fluchte leise in sich hinein, wie er es ständig tat. Er war ein Ausgestoßener, den ein häßliches, blau-rotes Brandzeichen - eine erloschene Kerze über einem geschlossenen Auge - brandmarkte, das mitten auf seiner Stirn prangte. »Bene tellemara«, wisperte Druzil. Das hundsgesichtige, von Schuppen überzogene, knapp zwei Fuß große Teufelchen mit den Fledermausflügeln barg mehr Bosheit in seinem kleinen Körper als die schlimmsten Tyrannen der Menschheit. »Was hast du gesagt?« fauchte Rufo. Er funkelte seinen Gefährten aus der fremden Welt an. Die beiden hatten die zweite Hälfte des Winters zusammen verbracht, und keiner mochte den anderen besonders. Ihre Feindschaft hatte im Wald von Shilmista, westlich der Schneeflockenberge, begonnen, als Druzil Rufo durch Drohungen gezwungen hatte, seinen verruchten Meistern, den Führern von Burg Trinitatis, zu dienen - als Druzil Kierkan Rufos Abfall vom Orden des Deneir eingeleitet hatte. Druzil sah den Mann neugierig an und mußte vom flackernden Licht der Fackel in Rufos Hand blinzeln. Rufo war über sechs Fuß groß, aber klapperdürr. Er stand immer schief zur Seite geneigt, was ihn - oder die Welt hinter ihm seltsam fehl am Platze erscheinen ließ. Druzil, der die letzten paar Monate durch die Schneeflockenberge gezogen war, fand, daß Rufo einem Baum an einem steilen Berghang ähnelte. Das Teufelchen kicherte höhnisch, was ihm einen weiteren bösen Blick des ewig grollenden Rufo einbrachte.
Das Teufelchen starrte ihn weiter an, denn es gab sich große Mühe, den Mann in einem neuen Licht zu sehen. Mit seinen strähnigen, schwarzen Haaren, die ihm am Kopf klebten, diesem stechenden Blick - seine Augen waren schwarze Punkte in einem blassen Gesicht - und dieser ungewöhnlichen Haltung konnte Rufo beeindruckend sein. Er trug seine Haare jetzt in der Mitte gescheitelt, nicht zur Seite gestrichen wie früher, denn Rufo drohte ein qualvoller Tod, wenn er dieses scheußliche Brandzeichen verdeckte, das Zeichen, das ihn in die Abgeschiedenheit zwang, das Zeichen, das dazu führte, das jedermann ihn schnitt, wenn man ihn die Straße entlang kommen sah. »Was guckst du so?« wollte Rufo wissen. »Bene tellemara«, krächzte Druzil wieder in der Sprache der Unteren Ebenen. Das war eine deftige Beleidigung von Rufos Intelligenz. Für Druzil, der im Chaos und im Bösen Experte war, waren alle Menschen armselige Geschöpfe, die zu sehr von Emotionen umwölkt waren, um irgend etwas richtig zu machen. Und der hier, Rufo, war noch stümperhafter als die meisten anderen. Bloß war Aballister, Druzils Zaubermeister, jetzt tot, getötet von Cadderly, seinem Sohn, demselben Priester, der Rufo gebrandmarkt hatte. Und Dorigen, Aballisters Stellvertreterin, war gefangen oder zu Cadderlys Seite übergelaufen. Somit war Druzil auf der Ebene der Materie sich selbst überlassen. Mit seinen angeborenen Kräften und ohne Zauberer, die ihn in ihre Dienste zwangen, hätte das Teufelchen seinen Weg in die Unteren Ebenen zurückfinden können, aber das wollte Druzil nicht - noch nicht. Denn auf dieser Ebene, in den Katakomben genau dieses Bauwerks, ruhte Tuanta Quiro Miancay, der Chaosfluch, einer der mächtigsten und hinterhältigsten Tränke, die je gebraut worden waren.
Druzil wollte ihn wiederhaben, und das wollte er mit Hilfe von Rufo, seiner Marionette, erreichen. »Ich weiß, was du sagst«, log Rufo und gab das »Bene tellemara« an Druzil zurück. Druzil grinste ihn verächtlich an, um deutlich zu zeigen, daß es ihm absolut gleichgültig war, ob Rufo die Bedeutung der Worte kannte oder nicht. Rufo sah in den matschigen Tunnel zurück, der sie unter den Weinkeller der Erhebenden Bibliothek geführt hatte. »Also«, sagte er ungeduldig, »so weit sind wir gekommen. Geh vor, damit wir von diesem verdammten Ort bald verschwinden können.« Druzil sah ihn skeptisch an. Obwohl das Teufelchen die letzten paar Wochen ständig auf Rufo eingeredet hatte, schien dieser immer noch nichts zu begreifen. Von hier verschwinden? Rufo hatte den Sinn der Sache nicht erfaßt. Bald würden sie den Chaosfluch in ihren Händen halten; warum sollten sie dann noch verschwinden wollen? Druzil nickte und ging weiter, weil er seiner Meinung nach nicht viel zur Erleuchtung dieses blöden Menschen beitragen konnte. Rufo verstand die Macht von Santa Quiro Miancay einfach nicht. Einst war er in den Klauen des Fluchs gefangen gewesen - wie die ganze Bibliothek, die dabei beinahe vernichtet worden wäre -, aber dennoch verstand dieser Ignorant es nicht. So war das eben mit den Menschen, befand Druzil. Er würde Rufo an die Hand nehmen und zur Macht führen müssen, wie er ihn über die Felder westlich von Carradoon zurück in die Berge geführt hatte. Druzil hatte den unwilligen Rufo in die Bibliothek zurückgelockt, indem er ihm das falsche Versprechen gegeben hatte, daß der Trank, der in diesen Katakomben eingeschlossen war, sein
Brandzeichen entfernen könnte. Sie liefen durch mehrere langgezogene, feuchte Räume, an verrottenden Kisten und Kästen aus längst vergangenen Zeiten vorbei, als die Bibliothek viel kleiner gewesen war und größtenteils unterirdisch angelegt. Damals hatte man hier Vorräte gelagert. Druzil war nicht mehr hier gewesen, seit der Kampf begonnen hatte, ja, seit vor dem Krieg im Wald von Shilmista. Seit Barjin, der böse Priester, getötet worden war ... von Cadderly. »Bene tellemara!« krächzte das Teufelchen, weil schon der Gedanke an den mächtigen jungen Kleriker es wütend machte. »Ich habe deine Beschimpfungen langsam satt«, protestierte Rufo. »Still«, fauchte Druzil ihn an, denn er war viel zu sehr mit seinen Gedanken an den jungen Priester beschäftigt, um sich um Rufo zu scheren. Cadderly, dieser junge Glückspilz, der Druzil immer wieder in die Quere geriet. Druzil nörgelte weiter, während er mit seinen breiten Klauenfüßen laut scharrend über den Steinboden tapste. Er schob sich durch eine Tür, lief einen langen Gang entlang und drückte eine andere auf. Dann blieb er stehen und hörte auf zu knurren. Sie hatten einen kleinen Raum erreicht, den Raum, in dem Barjin gestorben war. Rufo hielt sich die Nase zu und wendete sich ab, denn der Raum stank nach Tod und Fäulnis. Druzil atmete tief ein und fühlte sich so richtig zu Hause. Zweifelsohne hatte sich hier ein heftiger Kampf zugetragen. An der Wand rechts von Rufo und Druzil lag ein umgekipptes Kohlenbecken, in dessen Asche die Überreste von Holzkohlestücken und Weihrauch verstreut
waren. Dort lagen auch die verbrannten Binden eines untoten Monsters, einer Mumie. Der größte Teil des Ungeheuers war von den Flammen verzehrt worden, aber sein umwickelter Schädel war geblieben - geschwärzte Knochen, von zerrissenen Lumpen umhüllt. Hinter dem Kohlebecken, gleich am Fuß der Wand, zog sich ein scharlachroter Fleck über den Boden: alles, was als Zeugnis von Barjins Tod zurückgeblieben war. Barjin war genau dort hingefallen, als Cadderly ihn versehentlich mit einem explosiven Bolzen getroffen und ihm dadurch ein Loch in Brust und Rücken gesprengt hatte. Der Rest des Raums war auf ziemlich ähnliche Weise verwüstet. Neben Barjins Blutfleck war die Ziegelmauer von einem wutentbrannten Zwerg eingeschlagen worden, und der Querbalken, der die Decke abstützen sollte, hing an einem einzigen Holznagel senkrecht zum Boden. In der Mitte des Raums lag unter unzähligen Verbrennungsspuren ein schwarzer Waffengriff: alles, was von der Kreischenden Maid, Barjins verzaubertem Streitkolben, geblieben war. Dahinter befanden sich die Überreste des unheiligen Altars des Priesters. Jenseits davon ... Druzils vorstehende schwarze Augen weiteten sich, als er hinter dem Altar zu dem kleinen Schrank schaute, der in weißes Tuch gehüllt und mit den Runen und Siegeln des Deneir wie des Oghma geschmückt war, den Brudergott heiten der Bibliothek. Allein das Vorhandensein dieses Tuchs verriet Druzil, daß seine Suche beendet war. Ein Flattern seiner Fledermausflügel brachte das Teufelchen auf den Altar, und er hörte Rufo schlurfend nachrücken. Druzil wagte sich jedoch nicht näher heran, denn er wußte, daß die Priester das Schränkchen mit
mächtigen Zaubern geschützt hatten. »Glyphen«, stimmte Rufo zu, der Druzils Zögern durchschaute. »Wenn wir näher kommen, werden wir verbrannt!« »Nein«, überlegte Druzil. Er reagierte verzweifelt schnell. Tuanta Quiro Miancay war so nah, daß das gierige Teufelchen ihn schon riechen konnte, und Rufo würde ihm nichts abschlagen. »Dich nicht«, fuhr er fort. »Du bist nicht aus meinem Reich. Du warst Priester dieses Ordens. Sicher kannst du ... « »Dummkopf!« fauchte Rufo ihn an. Es war die lebhafteste Antwort, die das Teufelchen je von dem gebrochenen Mann gehört hatte. »Ich trage das Brandzeichen des Deneir! Die Schutzrunen auf diesem Tuch und dem Schrank würden sich hungrig auf mein Fleisch stürzen.« Druzil hüpfte auf den Altar, weil er etwas sagen wollte, aber seine krächzende Stimme brachte nur ein unzusam menhängendes Spucken zusammen. Dann beruhigte sich das Teufelchen und rief seine angeborene Magie zur Hilfe. Druzil konnte jede Magie sehen und messen, ob sie nun von einem Zauberer oder von einem Priester stammte. Wenn die Glyphen nicht zu mächtig waren, würde Druzil selbst zu dem Schrank gehen. Alle Wunden, die er sich zuziehen würde, würden heilen - und dies umso schneller, wenn er erst den kostbaren Tuanta Quiro Miancay in seinen gierigen Händen hielt. Der Name bedeutete »Ultimativer Schrecken«, ein Titel, der für das geplagte Teufelchen wahrhaft köstlich klang. Die Aura, die von dem Schrank ausstrahlte, überwältigte Druzil beinahe, und im ersten Moment wollte er schon verzweifeln. Doch als er seine Suche fortsetzte, erkannte er die Wahrheit und stieß ein lautes, hämisches Lachen aus.
Rufo sah ihn neugierig an. »Geh zum Schrank«, wies Druzil ihn an. Rufo starrte weiter, ohne sich zu rühren. »Geh«, sagte Druzil wieder. »Die armseligen Schutzrunen der dämlichen Priester sind vom Chaosfluch überwältigt worden! Ihre Magie hat sich aufgelöst!« Das entsprach nur teilweise der Wahrheit. Tuanta Quiro Miancay war mehr als ein einfacher Trank; seine Magie trieb ihn an zu zerstören. Tuanta Quiro Miancay wollte gefunden werden, wollte aus dem Gefängnis entweichen, das die Priester um ihn gebannt hatten. Und aus diesem Grunde hatte die Magie des Gebräus die Glyphen angegriffen, hatte monatelang gegen sie angearbeitet und ihre Kraft geschwächt. Rufo traute Druzil nicht (und dies zu Recht), aber er konnte dem Drängen seines Herzens nicht widerstehen. Hier an diesem Ort spürte er das Brandzeichen auf seiner Stirn sehr deutlich und hatte schlimme Kopfschmerzen, nur weil er im Umkreis eines Bauwerks war, das Deneir geweiht war. Er wollte Druzils Worten einfach glauben; deshalb ging er unweigerlich zu dem Schrank und griff nach dem Tuch. Es gab einen blendendhellen Blitz, dann einen zweiten, dann loderte Feuer auf. Zum Glück für Rufo hatte ihn die erste Explosion schon durch den Raum geschleudert, direkt über den Altar gegen ein umgekipptes Bücherregal an der Tür. Druzil kreischte auf, als die Flammen den Schrank umschlossen und das Holz lichterloh brannte. Anscheinend war es mit Öl getränkt oder mit einer Brandmagie versehen worden. Druzil fürchtete nicht um Tuanta Quiro Miancay, denn dieser Trank hielt sich ewig, aber wenn die Flasche
schmolz, in der er steckte, würde die Flüssigkeit verloren sein! Flammen störten Druzil, eine Kreatur der feurigen Unteren Ebenen, überhaupt nicht. Seine Fledermausflügel trugen ihn rasch in die Feuersbrunst, wo er mit eifrigen Händen den Inhalt des Schranks herauszerrte. Ein plötzlicher Schmerz ließ Druzil aufkreischen, so daß er die Schale fast quer durch den Raum geschleudert hätte. Er hielt sich jedoch gerade noch zurück, stellte das Ding vorsichtig auf den Altar und wich dann zurück, wobei er seine von Brandblasen überzogenen Hände rieb. Die Flasche mit dem Chaosfluch war in eine Schale gelegt und in kristallklares Wasser getaucht worden, das durch die Bitte eines toten Druiden und das Symbol Sylvanus', des Gottes der Natur und der natürlichen Ordnung, geheiligt worden war. Und kein Gott der Welt war dem perversen Teufelchen mehr zuwider als Sylvanus. Druzil musterte die Schale und überdachte sein Dilemma. Einen Augenblick später atmete er auf, denn er merkte, daß das heilige Wasser nicht so rein war, wie es sein sollte, denn der Einfluß von Tuanta Quiro Miancay erstreckte sich auch auf dieses Wasser. Druzil rückte an die Schale heran und sang leise, während er eine seiner Klauen benutzte, um sich in den Mittelfinger seiner linken Hand zu stechen. Nachdem sein Fluch beendet war, ließ er einen einzelnen Blutstropfen in das Wasser fallen. Es gab ein Zischen, und die Schale wurde von Dampf überwölkt. Dann war der Dampf verflogen, und verschwunden war auch das reine Wasser, das durch einen schwarzen Morast fauliger, stinkender Flüssigkeit ersetzt war. Druzil sprang auf den Altar zurück und steckte die Hände
in diese Flüssigkeit. Einen Augenblick später fiepte er vor Freude, denn er wiegte die kostbare, runenverzierte Zauberflasche wie ein Baby in den Armen. Er warf einen Blick auf Rufo, obwohl es ihn kaum kümmerte, ob der Mann tot oder lebendig war, dann lachte er wieder. Rufo hatte sich auf die Ellenbogen gestützt. Seine schwarzen Haare standen wild knisternd nach allen Seiten ab, seine Augen zuckten und rollten in ihren Höhlen. Nach einiger Zeit kam er unsicher wieder auf die Beine und näherte sich taumelnd dem Teufelchen, um die Kreatur ein für allemal zu erdrosseln. Druzils zuckender Schwanz, von dessen spitzem Ende tödliches Gift tropfte, brachte Rufo zur Besinnung, aber das konnte ihn kaum beruhigen. »Du hast gesagt ... «, brüllte er los. »Bene tellemara!« fauchte Druzil ihn seinerseits an. Der Zorn des Teufelchens brachte den verblüfften Mann zum Schweigen. »Weißt du nicht, was wir hier haben?« Mit verschlagenem Lächeln händigte Druzil dem Mann die Flasche aus, und Rufo riß die Augen weit auf, als er die darin eingeschlossene Macht des Fluchs spürte. Er hörte Druzil kaum, als das Teufelchen darüber zu schwatzen begann, was sie alles mit dem Chaosfluch vollbringen könnten. Der hagere Mann starrte die wirbelnde rote Flüssigkeit in der Flasche an und phantasierte nicht von der Macht, von der Druzil redete, sondern davon, sein Brandzeichen loszuwerden. Rufo hatte dieses Brandzeichen selbst verschuldet, aber in seiner verzerrten Wahrnehmung spielte das kaum eine Rolle. Er wußte nur, daß Cadderly ihn gebrandmarkt und zu einem Leben als Ausgestoßener gezwungen hatte. Jetzt war die ganze Welt sein Feind.
Druzil plapperte weiter aufgeregt vor sich hin. Das Teufelchen redete davon, die Priester erneut zu beherrschen, einen Schlag gegen das ganze Land zu führen, die Flasche zu entkorken und ... Rufo hörte nur diesen letzten Vorschlag unter den Dutzenden von Ideen, die das Teufelchen ausspuckte. Er hörte ihn und glaubte von ganzem Herzen daran. Es war, als ob Tuanta Quiro Miancay ihn riefe, und das tat der Chaosfluch, dieses Werk einer diabolischen, verruchten Intelligenz, tatsächlich. Das hier war Rufos Erlösung, mehr als Deneir es je gewesen war. Das hier war seine Befreiung von dem verfluchten Cadderly. Dieser Trank war für ihn und nur für ihn. Druzil hörte im selben Moment auf zu reden, als er merkte, daß Rufo die Flasche entkorkt hatte, in dem Augenblick, als er die roten Dämpfe aus dem Trank aufsteigen sah. Das Teufelchen wollte den Mann fragen, was er da tat, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als Rufo plötzlich die Flasche an seine dünnen Lippen hob und einen tiefen Schluck daraus nahm. Druzil setzte wiederholt stammelnd an, seinem Protest Ausdruck zu verleihen. Rufo drehte sich zu ihm um. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich merkwürdig. »Was hast du getan?« fragte Druzil. Rufo wollte antworten, aber statt dessen würgte er und umklammerte seine Kehle. »Was hast du getan?« wiederholte Druzil laut. »Bene tellemara! Idiot!« Rufo würgte wieder, umklammerte seinen Hals und seinen Bauch und übergab sich heftig. Hustend und keuchend taumelte er davon, um trotz der Galle, die in seinem Hals
hochkam, noch Luft zu bekommen. »Was hast du getan?« schrie Druzil ihm nach, der hinter ihm herrennen mußte, um Schritt zu halten. Der Schwanz des Teufelchens zuckte drohend; sobald Rufos Leiden endete, wollte Druzil zustechen und ihn zerreißen, zur Strafe dafür, daß er den kostbaren, unersetzlichen Trank gestohlen hatte. Rufo, der hin und her schwankte, prallte gegen den Türpfosten, als er den Raum verlassen wollte. Er stolperte den Gang entlang, prallte erst von der einen, dann von der anderen Wand ab. Wieder übergab er sich und danach noch einmal, denn sein Magen brannte vor Schmerz und wand sich vor Übelkeit. Irgendwie durchquerte er die Räume und Gänge, überwand halb kriechend den matschigen Tunnel und gelangte ins Licht der Sonne zurück, das ihm Augen und Haut versengte. Er verbrannte, und doch war ihm kalt, eisig kalt. Druzil, der klugerweise unsichtbar wurde, als sie ans entlarvende Tageslicht kamen, folgte ihm. Rufo blieb stehen, übergab sich erneut auf den verhärteten Überresten eines Schneebretts des ausgehenden Winters, und was er ausspuckte, war mehr Blut als Galle. Dann taumelte der hagere Mann um die Ecke des Gebäudes, wobei er viele Male im Schlamm und Schneematsch ausrutschte. Er wollte zur Tür gelangen, zu den Priestern mit ihren heilenden Händen. Zwei junge Akolyten in den schwarz-goldenen Westen, die sie als Oghma-Priester kennzeichneten, genossen an der Tür die Wärme des Spätwintertags. Sie hatten ihre braunen Umhänge weit der Sonne geöffnet. Zunächst bemerkten sie Rufo gar nicht, erst als der Mann nur wenige Fuß von ihnen entfernt schwer in den Schlamm fiel.
Die beiden Akolyten rannten zu ihm und drehten ihn um, zogen sich dann aber erschrocken zurück, als sie das Brandzeichen erkannten. Keiner von ihnen war lange genug in der Bibliothek, um Kierkan Rufo persönlich zu kennen, aber sie hatten Geschichten über den gebrandmarkten Priester gehört. Sie sahen einander achselzuckend an, dann rannte einer zurück in die Bibliothek, während der andere begann, dem gepeinigten Mann Linderung zu verschaffen. Druzil sah von der Ecke aus zu, murmelte wieder und wieder »Bene tellemara« und bejammerte, daß der Chaosfluch und Kierkan Rufo ihm einen so bösen Streich gespielt hatten.
Hoch in den Zweigen eines Baumes in der Nähe der Tür schaute das weiße Eichhörnchen Percival mit mehr als flüchtigem Interesse zu. Percival war erst diese Woche aus seinem Winterschlaf erwacht. Überrascht hatte er festgestellt, daß Cadderly, die Hauptquelle für seine geliebten Cacasanüsse, nicht da war. Noch mehr überraschte es ihn, Kierkan Rufo zu sehen, einen Menschen, für den Percival überhaupt nichts übrig hatte. Das Eichhörnchen erkannte, daß Rufo große Qualen litt. Selbst aus dieser Entfernung konnte es das Widerliche an Rufos Krankheit riechen. Percival hüpfte näher zu seinem Kobel, der hoch oben im Geäst lag, und schaute weiter zu.
Getrennte Wege
Die drei bärtigen Mitglieder der Gruppe, die Zwerge Pikel und Ivan Felsenschulter und der rothaarige Firbolg Vander, saßen an der Seite des Höhleneingangs, wo sie Knochen warfen, Wetten abschlossen und miteinander lachten. Ivan gewann zum fünfzehnten Mal hintereinander, und Pikel riß schwungvoll einen breitkrempigen blauen Hut mit einer orangefarbenen Feder an der Seite und dem Auge-überKerze-Symbol des Deneir in der Mitte vom Kopf, um ihn dem lachenden Ivan um die Ohren zu schlagen. Cadderly, der die Bewegung sah, wollte Einwände erheben. Schließlich war es sein Hut, den er Pikel nur geliehen hatte, und auf Ivans Helm war ein gewaltiges Hirschgeweih markiert. Doch der junge Priester änderte seine Meinung und hielt sich zurück, als er sah, daß der Hut nicht beschädigt worden war, und erkannte, daß Ivan den Hieb verdient hatte. Die Freundschaft zwischen Ivan, Pikel und Vander war nach dem Fall von Burg Trinitatis richtig aufgeblüht. Der riesige, zwölf Fuß große und achthundert Pfund schwere Vander hatte Pikel, der so gern ein Druide sein wollte, sogar geholfen, Haare und Bart grün nachzufärben und den buschigen Pferdeschwanz auf seinem Rücken neu zu flechten. Der einzig kritische Moment kam, als Vander versuchte, etwas von Pikels Farbe in Ivans leuchtendgelbe Haare zu schmieren, was dem breitschultrigen, ernster veranlagten Felsenschulter überhaupt nicht paßte. Aber jeder Streit verlief letztendlich gütlich; die ganzen letzten Wochen waren trotz des scheußlichen Wetters gut verlaufen. Die sieben Gefährten, zu denen neben Cadderly
auch Danica, Dorigen und Shayleigh, die Elfenkriegerin, zählten, hatten ursprünglich vorgehabt, nach dem Sieg über Burg Trinitatis direkt zur Erhebenden Bibliothek zu ziehen. Nach einer knappen Tagesreise durch die Berge war der Winter jedoch mit voller Kraft hereingebrochen und hatte die Wege so blockiert, daß nicht einmal Cadderly mit seiner priesterlichen Magie es gewagt hatte, weiter vorzudringen. Noch schlimmer war, daß Cadderly krank geworden war, obwohl er darauf beharrte, daß es einfach nur Erschöpfung war. Als Priester leitete Cadderly die Kräfte seines Gottes weiter, und während des Kampfes auf Burg Trinitatis (und in den anstrengenden Wochen davor) war zuviel von dieser Energie durch den jungen Priester geflossen. Danica, die Cadderly besser kannte als jeder andere, zweifelte nicht an seiner Erschöpfung, aber sie wußte auch, daß der junge Priester zudem einen emotionalen Schlag erlitten hatte. Auf Burg Trinitatis hatte Cadderly sich an seine Vergangenheit erinnert und die Wahrheit über seine Herkunft erfahren. Er war gezwungen gewesen, sich dem zu stellen, was aus seinem Vater, Aballister, geworden war. Auf Burg Trinitatis hatte Cadderly seinen eigenen Vater getötet. Danica glaubte daran, daß Cadderly dieses Trauma überwinden würde, denn sie vertraute der Tiefe von Cadderlys Charakter. Er war seinem Gott und seinen Freunden ergeben, und sie waren alle bei ihm. Da die Pfade verschneit waren und Cadderly krank, war die Gruppe nach Osten gezogen, aus den Bergen und Vorbergen in das Ackerland nördlich von Carradoon. Selbst das Tiefland war so dicht verschneit, wie man es in den Leuchtenden Ebenen seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Die Freunde hatten in einer geräumigen, vielfach
unterteilten Höhle Schutz gefunden und diesen Ort mit Hilfe der Überlebenskünste von Danica, Vander und den Zwergen sowie der Magie von Dorigen mit der Zeit in ein schönes Zuhause verwandelt. Cadderly hatte geholfen, wann immer er dazu in der Lage war, doch das wichtigste für ihn war nun, zu ruhen und neue Kräfte zu sammeln. Er und Danica wußten, daß dem jungen Priester bei seiner Rückkehr in die Erhebende Bibliothek die wohl schlimmste aller bisherigen Herausforderungen bevorstand. Nach einigen Wochen begann der Schnee zu schmelzen. Obwohl der Winter so hart gewesen war, endete er früh, und die Gefährten konnten allmählich darüber nachdenken, was sie jetzt machen wollten. Das weckte in dem jungen Cadderly, der in den Rängen seines Ordens so rasch aufgestiegen war, gemischte Gefühle. Jetzt stand er am Höhleneingang und starrte über die weißen Felder, deren Helligkeit im Licht der Morgensonne ihm in die Augen stach. Er fühlte sich schuldig wegen seiner Schwäche, denn er spürte, er hätte trotz des Schnees und trotz allem, was er durchgemacht hatte, schon vor Monaten in die Bibliothek zurückkehren müssen, selbst wenn das bedeutet hätte, seine Freunde zurückzulassen. Cadderlys Schicksal wartete dort in der Bibliothek, aber selbst jetzt, wo er sich wieder kräftiger fühlte und das Lied des Deneir wieder seine Gedanken untermalte, war er sich nicht sicher, ob er die Kraft hatte, ihm zu begegnen. »Ich bin bereit«, kam ein Ruf über den Krawall der Zwerge und Vanders hinweg aus der Höhle. Cadderly drehte sich um und ging an den dreien vorbei, wobei Pikel, der wußte, was bevorstand, ein leises »Hihihi« ausstieß. Der grünbärtige Zwerg tippte an den breitkrempigen Hut, als zöge Cadderly wie ein Krieger in die Schlacht.
Cadderly warf dem Zwerg einen finsteren Blick zu und ging an ihm vorbei zu einem kleinen Stein, den der geschickte Ivan als Hocker hergerichtet hatte. Hinter dem Hocker stand Danica, die mit ihren schönen Dolchen in der Hand - einem mit goldenem Griff, der wie ein Tiger geformt war, und einem, der wie ein Silberdrache aussah - auf Cadderly wartete. Wer Danica nicht kannte, mußte beim Anblick dieser Klingen oder anderer Waffen finden, daß sie in ihren täuschend zarten Händen fehl am Platze wären. Danica war kaum fünf Fuß groß, und wenn sie zwei Tage nichts aß, wog sie keine hundert Pfund. Dichte rötlichblonde Locken fielen ihr über die Schultern, und ihre ungewöhnlichen, mandelförmigen Augen hatten eine satt hellbraune Farbe. Auf den ersten Blick wirkte Danica mehr wie eine Kandidatin für einen südlichen Harem, eine schöne, zarte Blume. Der junge Priester wußte es besser, wie jeder, der Danica eine Zeitlang kannte. Diese zarten Hände konnten Steine zerschmettern oder einem Mann die Nase brechen. Danica war eine Adeptin, eine disziplinierte Kämpferin, und sie studierte nicht weniger intensiv als Cadderly, verehrte die Weisheit alter Meister nicht weniger als der junge Priester die seines Gottes. Sie war die perfekteste Kriegerin, die Cadderly je gesehen hatte; sie konnte mit jeder Waffe umgehen und die meisten Schwertkämpfer mit bloßen Händen und Füßen besiegen. Und sie konnte jeden ihrer verzauberten Dolche, die sie nun hielt, auf zwanzig Schritt einem Feind ins Auge schleudern. Cadderly nahm Platz, wandte sich aber betont von den lärmenden Spielern ab, während Danica leise zu singen begann. Cadderly fand in die meditative Versenkung; es
war lebenswichtig, daß er vollkommen reglos verharrte. Plötzlich geriet Danica in Bewegung. Ihre Arme beschrieben komplizierte Muster vor ihr in der Luft, ihre Füße bewegten sich von einer Seite zur anderen und hielten sie perfekt im Gleichgewicht. Die scharfen Klingen begannen sich in ihren Fingern zu drehen. Die erste kam blitzschnell herunter, aber Cadderly, der tief in seine Konzentration versunken war, zuckte nicht mit der Wimper. Er fühlte kaum, wie die Messerschneide seine Wange streifte, hatte kaum Zeit, das geölte Metall zu riechen, als der Silberdrache unter seiner Nase hindurch und über seine Oberlippe fuhr. Es war ein Ritual, das die beiden jeden Tag vollführten, und so war Cadderly immer glattrasiert, und Danicas fein aufeinander abgestimmte Muskeln blieben in Form. Nach nur einer Minute war alles vorüber; Cadderlys Stoppeln waren verschwunden, ohne daß seine gebräunte Haut einen Kratzer davongetragen hätte. »Diesen Urwald könnte ich auch abschneiden«, neckte Danica und packte eine Handvoll von Cadderlys dichtem braunem Lockenschopf. Cadderly langte nach oben, umfaßte Danicas Handgelenk und zog sie über seine Schulter zu sich herunter, damit ihre Gesichter sich näher waren. Die beiden liebten einander, wollten das ganze Leben miteinander verbringen, und der einzige Grund, daß sie noch nicht offen das Ehegelübde abgelegt hatten, war, daß Cadderly die Priester der Erhebenden Bibliothek nicht für würdig hielt, diese Zeremonie zu vollziehen. Cadderly gab Danica einen kleinen Kuß, und beide fuhren zurück, als ein blauer Funken zwischen ihnen aufblitzte und ihnen die Lippen verbrannte. Sofort drehten sich beide
zum Eingang der Kammer an der linken Wand der Höhle um, wo sie das Lachen von Dorigen und Shayleigh grüßte. »Was für ein Band«, bemerkte Dorigen sarkastisch. Sie war diejenige, die den Funken verursacht hatte - natürlich mußte es die Zauberin sein. Obwohl sie einst eine Feindin der Gruppe gewesen war, ja, zu den Anführern der Armee, die nach Shilmista eingedrungen war, gezählt hatte, hatte Dorigen ihrem Leben allem Anschein nach eine neue Richtung gegeben und wollte mit den anderen zurückkehren, um sich dem Urteil der Bibliothek zu unterwerfen. »Noch nie habe ich einen solchen Liebesfunken gesehen«, fügte Shayleigh hinzu und schüttelte den Kopf, so daß die lange, dichte goldene Haarmähne von ihrem Gesicht zurückfiel. Selbst in dem matten Licht, das durch den Osteingang der Höhle hereinströmte, glitzerten die Veilchenaugen der Elfenfrau wie polierte Edelsteine. »Soll ich das der Liste deiner Verbrechen hinzufügen?« fragte Cadderly Dorigen. »Wenn das mein schlimmstes Verbrechen wäre, hätte ich keine Bange, mit dir in die Bibliothek zurückzukehren, kleiner Priester«, erwiderte die Zauberin leichthin. Danica blickte von Cadderly zu Dorigen, denn sie bemerkte die Bindung, die zwischen den beiden gewachsen war. Für die Adeptin war es nicht schwer, den Grund dieser Anziehung zu finden. Mit ihrem schwarzen, von grauen Fäden durchzogenen Haar und den weit auseinanderste henden Augen ähnelte Dorigen Pertelope, der Großmeis terin aus der Bibliothek, die für Cadderly wie eine Mutter gewesen war. Nur Pertelope schien die Verwandlung verstanden zu haben, die mit Cadderly vorgegangen war, das göttliche Lied, das in seinen Gedanken spielte und ihm
Zugang zu klerikalen Kräften gestattete, über die sonst nur die höchstrangigen Priester verfügten. Bei Dorigen konnte Danica teilweise dieselbe Wahrnehmungsfähigkeit erkennen. Die Zauberin dachte viel nach, wog eine Situation sorgfältig ab, ehe sie handelte, und hatte keine Scheu, ihrem Herzen zu folgen. Dorigen hatte sich in Burg Trinitatis gegen Aballister gestellt, war nahezu auf Cadderlys Seite übergelaufen, obwohl sie wußte, daß ihre Verbrechen dadurch nicht vergeben und vergessen waren. Sie hatte das getan, weil ihr Gewissen es von ihr gefordert hatte. Während der Wochen ihrer Zwangsüberwinterung hatte Danica die Frau weder lieben noch mögen gelernt, aber sie respektierte die Zauberin und vertraute ihr sogar bis zu einem gewissen Punkt. »Nun, du spielst schon seit vielen Tagen darauf an«, sagte Dorigen zu Cadderly. »Ist es Zeit für unseren Aufbruch?« Cadderly blickte instinktiv zum Eingang zurück und nickte. »Die Pässe im Süden, nach Carradoon, müßten wieder begehbar sein«, erwiderte er. »Und viele der Pässe oben in den Bergen müßten auch wieder frei sein, sobald der Schnee geschmolzen ist.« Cadderly hielt inne, und die anderen, die nicht verstanden, weshalb die Bergpässe sie überhaupt interessieren sollten, sahen ihn fragend an und warteten auf Aufklärung. »Obwohl ich fürchte, daß die Schneeschmelze auch Lawinen bringen könnte«, endete der junge Priester. »Ich fürchte keine Lawinen«, kam die dröhnende Stimme des Firbolgs vom Eingang her. »Ich habe mein ganzes Leben in den Bergen verbracht und weiß sehr gut, wann ein Pfad sicher ist.« »Du kehrst nicht in die Bibliothek zurück«, warf Ivan ein
und sah seinen Riesenfreund mißtrauisch an. »Ooh«, fügte Pikel hinzu, der offenbar nicht glücklich darüber war. »Ich habe eine eigene Heimat und eine eigene Familie«, sagte Vander. Er, Ivan und Pikel hatten in den letzten paar Wochen viele Male über dieses Thema geredet, aber erst jetzt hatte Vander eine Entscheidung getroffen. Ivan war anscheinend nicht sonderlich begeistert. Er und Vander waren Freunde, und Lebewohl zu sagen, war nie leicht. Aber der stämmige Zwerg konnte die Entscheidung des Firbolg nachvollziehen, und er hatte mehrfach versprochen, eines Tages nach Norden zum Grat der Welt zu reisen und seinen Freund dort zu besuchen. »Aber warum redest du von den Bergen?« fragte Shayleigh Cadderly ohne Umschweife. »Abgesehen von Vander, müssen wir erst in die Berge, wenn wir Carradoon hinter uns haben, und bis dort brauchen wir zu Fuß schon mindestens eine Woche.« »Wir kommen früher hin«, antwortete Danica für Cadderly, weil sie glaubte, seine Gedanken gelesen zu haben. Sie stellte fest, daß sie halb richtig lag. »Nicht alle von uns«, meinte Cadderly. »Das ist nicht nötig.« »Der Drachenschatz!« brüllte Ivan plötzlich. Er spielte auf die Höhle des alten Fyrentennimar an, die sie hinter sich gelassen hatten. Die Freunde hatten den alten roten Drachen in den Bergen erschlagen, wodurch sein Schatz unbewacht zurückgeblieben war. »Du denkst an den Drachenschatz!« Der Zwerg schlug seinem Bruder auf den Rücken. »Ein unbewachter Hort«, stimmte Shayleigh zu. »Aber du wirst uns alle sieben und viele andere brauchen, um diesen
Schatz herauszuholen.« »Wir wissen noch nicht einmal, ob er überhaupt zu finden ist«, erinnerte Cadderly sie. »Der Sturm, den Aballister auf dem Berg Nachtglut entfesselt hat, hat wahrscheinlich viele Höhlen versiegelt.« »Du willst also zurückgehen, um zu prüfen, ob der Schatz geborgen werden könnte«, folgerte Danica. »Geborgen, sobald das Wetter beständiger ist«, sagte Cadderly. »Und deshalb müssen nicht alle die Reise zu dem Berg unternehmen.« »Was schlägst du vor?« fragte Danica, die bereits wußte, welche Strategie Cadderly wählen würde. »Ich werde zum Berg zurückkehren«, antwortete der junge Priester, »zusammen mit Ivan und Pikel, falls sie einverstanden sind. Ich hatte gehofft, daß auch du mitkommen würdest«, sagte er zu Vander. »Einen Teil des Weges«, versprach der rotbärtige Riese. »Aber ich möchte eigentlich ... « Cadderly schnitt ihm mit erhobener Hand das Wort ab. Er verstand die Gefühle des Firbolg und wollte Vander, der so lange von zu Hause fortgewesen war, so lange von dem Assassinen-Geist gequält worden war, nicht bitten, noch länger zu warten. »Jeder Schritt, den du mit uns gehst, wird uns recht sein«, versicherte Cadderly, und Vander nickte. Der junge Priester wandte sich den drei Frauen zu. »Ich weiß, daß du nach Shilmista zurückkehren mußt«, sagte er zu Shayleigh. »König Elbereth braucht einen ausführlichen Bericht über das, was in Burg Trinitatis geschehen ist, bevor er die Elfenwachen auflösen kann. Der schnellste Weg für dich wäre südlich an Carradoon vorbei und dann über die meistbegangenen Wege westlich der Bibliothek.« Shayleigh nickte.
»Und ich soll Dorigen zurückbegleiten«, stellte Danica fest. Cadderly nickte. »Du gehörst keinem der gastgebenden Orden an«, erläuterte er, »deshalb wird Dorigen deine Gefangene sein und nicht der Rechtsprechung der Großmeister unterstehen.« »Denen du nicht traust«, fügte Dorigen scharfsinnig hinzu. Cadderly gab keine Antwort darauf. »Wenn am Nachtglut alles gutgeht, werden die Zwerge und ich nur wenige Tage nach euch in der Bibliothek eintreffen.« »Aber da ich allein gekommen bin, bleibt Dorigen meine Gefangene«, überlegte Danica und lächelte, obwohl sie das Abenteuer am Nachtglut nicht verpassen und sich schon gar nicht von Cadderly trennen wollte. »Dein Urteil wird gerechter sein, da bin ich sicher«, sagte Cadderly augenzwinkernd. »Und für mich wird es leichter sein, die Großmeister zu überzeugen, dieses Urteil anzun ehmen, als sie dazu zu bewegen, selbst eine gerechte Strafe zu verhängen.« Das war ein vernünftiger Plan, wie Danica wußte - einer, der Dorigen wahrscheinlich die Schlinge des Henkers ersparen würde. Dorigens Lächeln zeigte, daß sie den Plan ebenfalls zu schätzen wußte. »Wieder gebührt euch mein Dank«, erklärte sie. »Ich wünsche nur, daß ich mich als würdig erweisen kann.« Cadderly und Danica wechselten einen wissenden Blick. Keiner der beiden war auch nur im geringsten beunruhigt, die Gruppe aufzuteilen. Dorigen war eine mächtige Zauberin, und wenn sie hätte fliehen wollen, dann hätte sie das längst tun können. Sie war wochenlang nicht gefesselt und auch nur in den ersten paar Tagen bewacht worden.
Nie hatte es eine willigere Gefangene gegeben, und Cadderly vertraute darauf, daß Dorigen keinen Flucht versuch unternehmen würde. Darüber hinaus war er sogar überzeugt, daß Dorigen ihre Kräfte benutzen würde, um Danica und Shayleigh beizustehen, falls sie auf dem Weg zur Bibliothek in Schwierigkeiten geraten sollten. Damit war es ohne Meinungsverschiedenheiten entschie den. Ivan und Pikel rieben sich immer wieder die Hände und schlugen einander so oft auf den Rücken, daß es wie Applaus klang. Nichts konnte einen Zwerg so zum Froh locken bringen wie die Aussicht auf einen unbewachten Drachenhort. Später am Morgen, als die anderen sich für die Reise rüsteten, traf Danica Cadderly allein an. Der junge Priester bemerkte ihr Nahen kaum. Er stand einfach auf einem freien Stück Fels vor der Höhle und starrte zu den Schneeflockenbergen. Danica trat zu ihm und hakte sich bei ihm unter, um ihm die Unterstützung zu geben, die er ihrer Meinung nach brauchte. Ihr kam es so vor, als ob Cadderly noch nicht bereit wäre, in die Bibliothek zurückzukehren. Zweifellos machte er sich immer noch Gedanken über den letzten Zusammenstoß mit Abt Thobicus, bei dem er die Gedanken des Abts unter seine Herrschaft gezwungen hatte. Darüber hinaus stand nach all dem, was geschehen war - dem Tod von Avery und von Pertelope und der Enthüllung, daß der böse Zauberer Aballister in Wahrheit Cadderlys Vater war -, die Welt des jungen Priesters Kopf. Cadderly hatte eine Zeitlang an seinem Glauben gezweifelt, hatte nicht mehr gewußt, wo er zu Hause war. Und obwohl er inzwischen treu zu Deneir stand, fragte sich Danica, ob es ihm nicht immer noch schwerfiel, die Erhebende Bibliothek als sein
Zuhause anzusehen. Sie schwiegen minutenlang. Cadderly starrte in die Berge hinauf, und Danica starrte Cadderly an. »Befürchtest du eine Anklage wegen Häresie?« fragte die junge Frau schließlich. Cadderly drehte sich mit fragender Miene zu ihr um. »Wegen deines Vorgehens gegen Abt Thobicus«, erklärte Danica. »Falls er sich an den Vorfall erinnert und erkannt hat, was du ihm angetan hast, wird er dich wahrscheinlich nicht gerade willkommen heißen.« »Thobicus wird sich nicht offen gegen mich stellen«, sagte Cadderly. Danica entging nicht, daß er den Titel des Abts weggelassen hatte, was nach den Regeln des Ordens und der Bibliothek keine Kleinigkeit war. »Obwohl er sich inzwischen höchstwahrscheinlich an vieles von dem erinnert, was bei unserer letzten Unter redung geschehen ist«, fuhr der junge Priester fort. »Ich gehe davon aus, daß er seine Verbündeten auf sich einschwören wird ... und diejenigen hinauswerfen oder aus dem Weg schaffen, von denen er glaubt, daß sie mir ergeben sind.« Trotz der ernsten Überlegungen lag wenig Furcht in Cadderlys Stimme. Das fiel Danica auf, und ihre Miene verriet ihre Überraschung. »Welche Verbündeten kann er haben?« fragte Cadderly, als ob das alles erklärte. »Er ist das Oberhaupt des Ordens«, entgegnete Danica, »und hat auch viele Freunde im Orden des Oghma.« Cadderly lachte leise und rümpfte bei diesem Gedanken die Nase. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß Thobicus Oberhaupt einer falschen Hierarchie ist.«
»Und du willst einfach in die Bibliothek marschieren und diese Behauptung verkünden?« »Ja«, antwortete Cadderly ruhig. »Ich habe einen Verbündeten, dem Abt Thobicus nicht widerstehen kann, einen, der die Priester meines Ordens zu mir überlaufen lassen wird.« Danica brauchte nicht zu fragen, welcher Verbündete das sein mochte. Cadderly glaubte, daß Deneir persönlich über ihn wachte, daß der Gott ihm eine Aufgabe gestellt hatte. Angesichts von Cadderlys Macht zweifelte Danica nicht an dieser Überzeugung. Dennoch verstörte es sie zuweilen, daß Cadderly so kühn, ja arrogant geworden war. »Die Oghma-Priester werden sich nicht einmischen«, fuhr Cadderly fort, »denn sie sind nicht betroffen. Die einzige Herausforderung, die ich von ihnen zu erwarten habe - und zwar zu Recht -, wird sich zeigen, nachdem ich Thobicus als Oberhaupt des Deneir-Ordens abgesetzt habe. Bron Turman wird mich herausfordern, um den Titel des Abtes zu kämpfen.« »Turman zählt schon viele Jahre zu den Führern in der Bibliothek«, sagte Danica. Cadderly nickte. Er wirkte unbesorgt. »Das wird eine mächtige Herausforderung sein«, überlegte Danica. »Es ist nicht wichtig, wer von uns in die Position des Abtes aufsteigt«, erwiderte Cadderly. »Meine erste Pflicht gebührt dem Orden des Deneir. Sobald dort alles zurecht gerückt ist, kann ich mir um die Zukunft der Erhebenden Bibliothek Gedanken machen.« Das akzeptierte Danica, und wieder verbrachten die beiden lange Minuten des Schweigens miteinander, in denen Cadderly abermals auf die majestätischen Schnee
flockenberge starrte. Danica glaubte an ihn und seine Überzeugungen, aber sie hatte Schwierigkeiten, seine scheinbare Ruhe damit zu vereinbaren, daß er tief versunken hier draußen stand statt in der Bibliothek. Cadderlys Zögern verriet den tatsächlichen Aufruhr hinter seiner kühlen Fassade. »Worüber denkst du nach?« fragte sie und legte dem jungen Priester sanft die Hand an die Wange, um seinen Blick von den Bergen abzulenken. Cadderly lächelte warm, denn ihre Besorgnis rührte ihn. »Da oben liegt ein herrenloser Schatz, der mehr wert ist als die gesamte Region«, sagte Cadderly. »Ich wußte gar nicht, daß dir so an materiellem Reichtum gelegen ist«, bemerkte Danica. Wieder lächelte Cadderly. »Ich dachte gerade an Namenlos«, sagte er. Er sprach von einem Leprakranken, den er einst bei Carradoon auf der Straße kennengelernt hatte. »Ich dachte an all die anderen Namenlosen in Carradoon und rund um den Impresksee. Der Reichtum eines Drachenhorts könnte im Land viel Gutes ausrichten.« Er sah Danica direkt in die Augen. »Dieser Schatz könnte so vielen Menschen Namen geben.« »Das wird nicht ganz so einfach sein«, stellte Danica fest, denn sie beide kannten die Gleichsetzung von Reichtum und Macht sehr gut. Wenn Cadderly vorhatte, seinen Schatz mit den Armen zu teilen, würde er auf den Widerstand der »feinen Leute« von Carradoon stoßen, die Reichtum mit Adel und Rang gleichsetzten und ihren Besitz benutzten, um sich überlegen zu fühlen. »Deneir ist mit mir«, sagte Cadderly ruhig, und in diesem Augenblick verstand Danica, daß ihr Geliebter tatsächlich für seinen Kampf bereit war, gegen Thobicus und alle
anderen möglichen Gegner.
Mehrere Priester mühten sich verzweifelt auf dem kalten, nassen Boden vor dem Portal der Erhebenden Bibliothek mit Kierkan Rufo ab. Sie wickelten ihn in ihre eigenen Mäntel, ohne auf den kalten Wind des Vorfrühlings zu achten, aber sie übersahen nicht, welches Brandmal auf seiner Stirn prangte - die erloschene Kerze über dem geschlossenen Auge. Auch die Oghma-Priester verstanden die Bedeutung des Zeichens und wußten, daß sie diesen Mann nicht in die Bibliothek bringen konnten. Rufo würgte und spuckte weiter. Seine Brust hob sich, und sein Magen zog sich zu qualvollen Knoten zusammen. Schwarzblaue Flecken erschienen unter seiner schweißnassen Haut. Die Oghma-Priester, unter denen mächtige Kleriker waren, griffen zu Heilsprüchen, während die Anhänger des Deneir nicht wagten, im Namen dieses Mannes die Kräfte ihres Gottes anzurufen. Nichts schien zu helfen. Abt Thobicus und Bron Turman kamen gleichzeitig an der Tür an, drängten sich durch die wachsende Menge von Zuschauern. Die Augen des verwitterten Abtes weiteten sich beträchtlich, als er sah, daß es Rufo war, der hier draußen lag. »Wir müssen ihn ins Warme bringen!« rief einer der helfenden Priester dem Abt zu. »Er kann nicht in die Bibliothek«, sperrte sich Bron Turman, »nicht mit diesem Brandzeichen. Kierkan Rufo wurde aufgrund seiner Taten verbannt, und der Bann bleibt bestehen!«
»Bringt ihn hinein« sagte Abt Thobicus unerwartet. Turman geriet fast ins Stolpern, als er das hörte. Er legte jedoch keinen offenen Protest ein. Rufo gehörte Thobicus' Orden an, nicht seinem, und als Abt hatte Thobicus durchaus die Macht, den Mann einzulassen. Einige Augenblicke später, nachdem Rufo durch die Menge getragen worden und Thobicus mit den helfenden Priestern abgezogen war, kam Bron Turman zu einer verstörenden Schlußfolgerung, einer Erklärung für die Worte des Abtes, die dem Oghma-Anhänger überhaupt nicht gefiel. Kierkan Rufo war kein Freund von Cadderly gewesen; und es war Cadderly, der den Mann gebrandmarkt hatte. Hatte das die Entscheidung des Abtes, Rufo einzulassen, beeinflußt? Bron Turman hoffte, daß dem nicht so war. In einem leeren Nebenraum, der normalerweise für persönliche Gebete freigehalten wurde, stellten die Priester eine Bank als Notbett auf und setzten ihre heroischen Bemühungen fort, Rufo Linderung zu verschaffen. Doch nichts schien zu helfen. Selbst Thobicus versuchte seine stärksten Heilkräfte aufzurufen, sang über Rufo, während andere den Kranken festhielten. Aber ob nun der Zauber nicht gewährt wurde oder Rufos Leiden ihn einfach abgewiesen hatte, die Worte des Abtes verhallten im Leeren. Weiterhin strömten Blut und Galle aus Rufos Nase, und seine Brust arbeitete verzweifelt in dem Versuch, durch seine verengte Kehle Luft einzusaugen. Ein starker OghmaPriester griff nach Rufo und warf ihn auf den Bauch. Dann klopfte er auf seinen Rücken, um alles aus ihm herauszuholen. Plötzlich fuhr Rufo ohne Vorwarnung und so heftig auf,
daß der Oghma-Priester zurückwich. Dann setzte sich der hagere Mann und beruhigte sich eigenartigerweise, während er Abt Thobicus starr anblickte. Mit matter Hand winkte er den Abt zu sich, und nach einem nervösen Blick in die Runde bückte sich Thobicus und legte sein Ohr an den Mund des Mannes. »Du ... du hast ... mich hereingelassen«, stammelte Rufo. Blut und Galle begleiteten jedes seiner Worte. Thobicus richtete sich auf und starrte den Mann verständnislos an. »Du hast mich hereingelassen«, sagte Rufo deutlich mit allerletzter Kraft. Dann begann er seltsam unbeherrscht zu lachen, und aus dem Lachen wurde ein Gurgeln und dann ein letzter Schrei. Keiner der Anwesenden hatte je einen Menschen schrecklicher sterben sehen.
Die Ultimative Perversion
»Hier gibt's keine verdammte Höhle!« brüllte Ivan, und ein Grollen von oben, von dem instabilen, aufgetürmten Schneebrett her, erinnerte den Zwerg, daß etwas mehr Vorsicht angebracht war. Hätte Ivan das nicht ohnehin schon verstanden, wäre es eine Sekunde später soweit gewesen, als der erschrockene Pikel herbeigerannt kam und ihm einen Schlag auf den Hinterkopf versetzte, bei dem ihm der Helm über die Augen kippte. Ivan packte eine Geweihstange und rückte das Ding wieder zurecht. Dann wandte er sich grollend seinem Bruder zu, der jedoch nicht zurückwich, sondern stehenblieb und vor Ivans Gesicht mit dem Zeigefinger wackelte. »Ruhe jetzt, alle beide!« schimpfte Cadderly. »Ooh«, gab Pikel zurück und sah ehrlich bekümmert aus. Cadderly, der ausgesprochen verwirrt war, bemerkte den Blick gar nicht. Er betrachtete weiter den verwüsteten Berg, denn er war erstaunt, daß die Öffnung - eine Öffnung, die groß genug war, um einen Drachen mit ausgebreiteten Flügeln hindurchzulassen - nicht mehr zu sehen war. »Du bist sicher, daß es nicht nur Schnee ist?« fragte Cadderly, woraufhin Ivan fest aufstampfte, was über ihm einen Schneehaufen abbrechen ließ, der über ihn und Pikel fiel. Pikel kam als erster wieder hoch. Der Schnee glitt von der Kante des breitkrempigen Hutes herab, den er sich von Cadderly geliehen hatte, und Pikel war zum nächsten Klaps bereit, als Ivan wieder auftauchte. »Wenn du mir nicht glaubst, dann geh doch selber rein!«
raunzte Ivan und zeigte auf die Schneemassen. »Da drunter ist Stein. Harter Stein, ich sag's dir! Dieser Zauberer hat mit seinem Sturm alles gut versiegelt.« Cadderly stemmte beide Hände in die Hüften und holte tief Luft. Er erinnerte sich an den Sturm, den Aballister zum Berg Nachtglut geschickt hatte, weil der Zauberer davon ausging, daß Cadderly und seine Freunde noch dort wären. Aballister hatte nicht wissen können, daß Cadderly sich der Hilfe eines feindseligen Drachen versichert hatte und Burg Trinitatis bereits viele Meilen näher war. Als Cadderly nun die Verwüstung an der Bergflanke betrachtete, die von den magischen Schlägen zerrissen war, war er froh, daß Aballister das falsche Ziel gewählt hatte. Dennoch tröstete das den jungen Priester nur wenig. In diesem Berg wartete ein ungeschützter Drachenhort, ein Schatz, den Cadderly brauchen würde, um seine Pläne für die Erhebende Bibliothek und die gesamte Region in die Tat umzusetzen. Und hier war der einzige größere Zugang gewesen, die einzige Öffnung, durch die sie Karren schieben konnten, um den Schatz vor Beginn des nächsten Winters zu bergen. »Die ganze Öffnung?« fragte Cadderly Ivan. Der gelbbärtige Zwerg wollte wie gewohnt laut antworten, besann sich aber nach einem Blick auf seinen Bruder (der sich schon für einen neuen Klaps rüstete) und brummelte statt dessen nur. Ivan hatte seit über einer Stunde in der Schneewand herumgebohrt, hatte es blind an vielen Stellen versucht, bis die Steinwand hinter der Schneedecke ihn unweigerlich wieder zurückstieß. »Wir gehen auf die andere Seite«, sagte Cadderly, »zu dem Loch am Südhang des Berges, wo wir ganz am Anfang eingedrungen sind.«
»Es war ein langer Weg von diesem Loch bis zum Drachenschatz«, erinnerte ihn Ivan. »Ein langer Weg durch enge Tunnel, und dazu noch ein tiefer Sprung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du auf diesem Weg einen Schatz herausschaffen willst!« »Ich auch nicht«, gab Cadderly zu. »Ich weiß nur, daß ich den Schatz brauche, und ich werde einen Weg finden, ihn zu bekommen!« Damit lief der junge Priester zum Weg zurück, um nach einem Pfad zu suchen, der ihn um den ausgedehnten Fuß des Berges führen würde. »Er klingt wie ein Zwerg«, flüsterte Ivan Pikel zu. Nachdem Pikels anschließendes »Hihihi« die nächste Minilawine hervorgerufen hatte, war es diesmal Ivan, der die Kopfruß austeilte. Früh am nächsten Morgen erreichten die drei den Südhang. Auf dem schlüpfrigen, schmelzenden Schnee erwies sich der Aufstieg als schwierig. Ivan schaffte es fast bis zum Loch hinauf (und konnte immerhin noch bestätigen, daß es auf dieser Seite des Berges wirklich ein Loch gab), bevor er ausrutschte, losrollte, sich in einen Zwergenschneeball verwandelte und Cadderly und Pikel mit sich den Hang hinunterriß. »Blöder Priester!« brüllte der Zwerg Cadderly an, als die drei sich weit unten am Berg wieder aufrappelten. »Hast du denn keine Magie, die uns auf diesen blöden Hügel schafft?« Cadderly nickte widerstrebend. Seit sie Burg Trinitatis verlassen hatten, hatte er versucht, mit seinen Energien maßzuhalten. Jeden Tag mußte er Sprüche auf sich und seine Begleiter legen, um die Kälte abzuwehren, aber er hatte gehofft, es dabei belassen zu können, bis er wieder in der Bibliothek war. Er war erschöpfter als je zuvor. Seine
Kämpfe, besonders die gegen Aballister und Fyrentennimar, hatten ihn völlig ausgelaugt und gezwungen, in magische Sphären vorzudringen, die er nicht verstand. Mit reiner Willenskraft hatte er Energien angerufen, die eigentlich weit jenseits seiner Fähigkeiten lagen. Nun zahlte der junge Mann den Preis für diese Anstrengungen. Nicht einmal die relativ ruhigen Wochen, in denen sie in der Höhle festgesessen hatten, hatten ihn neu belebt. Er hörte immer noch Deneirs Lied in seinem Kopf, aber sobald er versuchte, auf stärkere Magie zuzugreifen, pochten ihm die Schläfen, und es kam ihm vor, als müßte sein Kopf explodieren. Pertelope, die gute Pertelope, die allein verstanden hatte, welche Schwierigkeiten Cadderly als erwähltem Priester des Gottes der Künste bevorstanden, hatte ihn vor dieser möglichen Nebenwirkung gewarnt, aber selbst Pertelope hatte eingestanden, daß es so aussah, als hätte er in dieser Hinsicht kaum eine Wahl. Der junge Priester mußte sich Feinden stellen, die alles übertrafen, was Pertelope je erlebt hatte. Cadderly schloß die Augen und lauschte den Tönen des Liedes von Deneir, der Musik, die ihn das Buch der Universellen Ha rmonie gelehrt hatte, sein heiligstes Buch. Zunächst verspürte er eine tiefe Gelassenheit, als ob er nach einer langen, schwierigen Reise heimkehrte. Die lieblichen Harmonien des Liedes erklangen in seinen Gedanken, um ihn zu Wahrheit und Verständnis zu führen. Dann öffnete er gezielt eine Tür, wählte im Geist eine Seite aus seinen Erinnerungen an das heilige Buch seines Gottes und suchte nach einem Spruch, der ihn und seine Freunde den Berg hochtragen würde. Und wieder begannen die Kopfschmerzen. Cadderly hörte Ivan aus der Ferne nach ihm rufen und
schlug gerade lange genug die Augen auf, um Pikels Hand und Ivans Bart festzuhalten - der verwirrte, mißtrauische Ivan hatte Cadderlys entgegengestreckte Hand ausgeschlagen. Ivans Proteste steigerten sich zu Verzweiflung, als die drei dahinschmolzen, ihre Substanz verloren und zu bloßen Schatten wurden. Der Wind schien sie zu erfassen und trug sie unbeirrbar den Berg hinauf. Pikel war lauthals am Jubeln, als Cadderly wieder aus seiner Trance zurückkehrte. Ivan stand eine ganze Weile still, ehe er sich abzutasten begann, als wollte er prüfen, ob alles Greifbare an ihm auch wirklich wiederhergestellt war. Cadderly sackte neben der kleinen Öffnung im Schnee zusammen, bis er wieder ganz bei sich war. Er massierte seine Schläfen, um dem schmerzhaften Pochen abzuhelfen. Es war nicht so schlimm wie beim letzten Mal, als er einen stärkeren Spruch ausprobiert hatte. Damals hatte er in der Höhle vergeblich versucht, eine mentale Verbindung zu Abt Thobicus herzustellen, um sich zu vergewissern, daß keine Armee von Süden auf Burg Trinitatis zumarschierte. Diesmal war es nicht so schlimm, und darüber war Cadderly froh. Wenn sie ihr Vorhaben schnell erledigten, und wenn das Wetter hielt, würden sie innerhalb von zwei Wochen wieder in der Erhebenden Bibliothek sein. Cadderly ging davon aus, daß ihn dort seine bisher größte Herausforderung erwartete, zu deren Bewältigung er das Lied von Deneir brauchen würde. »Wenigstens erwartet uns da drin diesmal kein blöder Drache«, schnaufte Ivan und trat zum Eingang. Das letzte Mal, als Cadderly und die anderen an diese Stelle gekommen waren, hatte hier Nebel geherrscht, und der ganze Schnee um das Loch herum war geschmolzen
gewesen. Die Luft im Loch war immer noch warm, aber nicht annähernd so bedrückend und unheilverkündend wie zu Lebzeiten von Fyrentennimar. Pikel versuchte Ivan beiseite zu schieben, aber der gelbbärtige Zwerg hielt stur die Stellung, wodurch er zeigte, daß ihn die Aussicht auf einen Drachenhort mehr fesselte, als er zugeben wollte. »Ich geh zuerst rein«, beharrte Ivan. »Du bleibst zwanzig Schritt hinter mir«, erklärte er Pikel. »Dann kann ich nach dir rufen, und du kannst nach Cadderly rufen.« Pikel nickte zustimmend, und Ivan wollte in das Loch steigen. Nachdem er kurz überlegt hatte, nahm er seinen Helm ab und warf ihn Cadderly zu. »Ivan«, rief der junge Priester, und als Ivan sich umdrehte, warf er ihm ein kurzes Metallrohr hin. Ivan hatte diesen Gegenstand - eine von Cadderlys vielen Erfindungen - schon zuvor gesehen und wußte, wie man ihn benutzte. Er zog die feste Kappe von einem Ende ab, so daß ein Lichtstrahl herausströmen konnte. In dem Rohr war eine Scheibe, die mit einem mächtigen Lichtzauber belegt war, und das Rohr bestand aus zwei Metallteilen. Die äußere Röhre, die mit der Kappe verschlossen wurde, konnte wie ein Korkenzieher gedreht werden, wodurch das Rohr länger oder kürzer und damit der Lichtstrahl enger oder weiter wurde. Ivan stellte den Strahl jetzt klein, denn der Tunnel war so eng, daß der breitschultrige Zwerg sich oftmals nur seitwärts durchzwängen konnte, so eng, daß Pikel Cadderly widerstrebend seinen breitkrempigen Hut zurückgab, ehe er eintrat. Cadderly wartete minutenlang geduldig auf die Zwerge und dachte dabei an die bevorstehende Konfrontation mit
Abt Thobicus. Er war froh, als Pikel wiederkam und nach einem Seil verlangte, denn jetzt wußte er, daß Ivan es durch den engsten Tunnel geschafft hatte und bei dem senkrechten Schacht angelangt war, der ihn auf die gleiche Ebene wie den Drachenschatz führen würde. Zwanzig Minuten später kamen beide Zwerge aus dem Loch gesprungen. Ivan schüttelte den Kopf. »Es ist alles zu«, verkündete er. »Ich kann in den großen Raum unter dem Schacht gelangen, aber von dort aus geht es nicht mehr weiter. Ich glaube, wir sollten lieber versuchen, den Vordereingang zu durchstoßen.« Cadderly stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich schicke nach meiner Familie«, fuhr Ivan fort. »Natürlich wird es Herbst werden, ehe sie von Vaasa aus hierhergekommen sind, und dann müssen wir noch den nächsten Winter abwarten ... « Cadderly schaltete ab, während der Zwerg weiter überlegte. Mit den üblichen Methoden würde es womöglich Jahre dauern, bis sie den Drachenschatz heben konnten, und die Verzögerung würde einige unerwartete Schwierigkeiten mit sich bringen. Die Nachricht von Fyrentennimars Tod würde sich schnell im ganzen Land verbreiten, und die meisten Bewohner dieser Gegend - ob gut oder böse wußten, daß der Drache im Berg Nachtglut gehaust hatte. Der Tod eines Drachen, besonders von einem, der jahrhundertelang auf einem legendären Hort gehockt hatte, brachte immer Aasgeier. Wie mich, dachte Cadderly und lachte laut über diesen selbstkritischen Gedanken. Dann fiel ihm auf, daß Ivan nicht mehr redete, und als er aufblickte, schauten ihn beide Zwerge forschend an. »Keine Angst, Ivan«, sagte Cadderly, »du brauchst nicht
nach deiner Familie zu schicken.« »Sie würden einen Teil des Schatzes für sich behalten«, gab Ivan zu. »Bei den Göttern, wahrscheinlich würden sie gleich eine Festung in den Berg bauen, und dann sollte es uns schwerfallen, ihnen auch nur ein Kupferstück abzunehmen.« Pikel begann zu lachen, riß sich jedoch zusammen und warf Ivan einen strengen Blick zu. Er hatte gemerkt, daß sein Bruder es ernst meinte und womöglich recht hatte. »Ich kriege uns in den Berg, und wir werden reichlich Hilfe aus Carradoon bekommen, wenn es an der Zeit ist, den Schatz zu heben«, versicherte Cadderly den beiden. »Aber nicht jetzt.« Dabei beließ es der junge Priester. Er fand, mehr brauchten die Zwerge nicht zu erfahren. Seine nächste Aufgabe bestand darin, zur Bibliothek zu gehen und die spirituelle Ordnung wiederherzustellen. Dann konnte er sich auf den Schatz konzentrieren, konnte ausgeruht zurückkehren, wenn er stark genug war, den Weg für die Plünderer auf magische Weise zu öffnen. »Dieser Ort ist dir wichtig«, meinte Ivan. Cadderly sah den Zwerg neugierig an. Ivans Tonfall hatte ihn mehr aufmerken lassen als seine Worte. »Wichtiger, als er sein sollte«, fuhr Ivan fort. »Du hattest immer Geld, besonders seit du diesem verzweifelten Zauberer sein Zauberbuch neu geschrieben hast, aber früher warst du nie so sehr auf Geld aus.« »Das hat sich nicht geändert«, erwiderte Cadderly. »He?« quiekte Pikel, was genau Ivans Gefühle wider spiegelte. Wenn Cadderly nicht auf Geld aus war, warum waren sie dann hier oben in den gefährlichen Bergen und froren sich ihre dicken Füße ab?
»Mir geht es darum, was dieser Schatz uns allen bringen könnte«, fuhr Cadderly fort. »Reichtum«, unterbrach Ivan, der sich begierig seine starken Hände rieb. Cadderly schenkte ihm einen säuerlichen Blick. »Erinnerst du dich an das Modell, das ich in meinem Zimmer hatte?« fragte der junge Priester, mehr an Pikel als an Ivan gewandt, denn Pikel war davon besonders begeistert gewesen. »Das mit der hohen Mauer mit den Fenstern und den Stützpfeilern?« »Ei, ei!« jubelte Pikel zur Antwort. »Du willst eine neue Bibliothek bauen«, überlegte Ivan und spuckte in die frostige Luft, als Cadderly nickte. »Wenn das verdammte Ding nicht kaputt ist, warum willst du es dann neu bauen?« wollte der Zwerg wissen. »Ich will sie verbessern«, stellte Cadderly richtig. »Du hast selbst gesehen, wie gut der Entwurf ist, und das vor allem dank der Fenster. Hohe Fenster, Ivan, die aus der Bibliothek einen Ort des Lichtes machen, an dem man wirklich Bücher schreiben und lesen kann.« »Pah! Du hast doch noch nie etwas gebaut«, protestierte Ivan. »Soviel weiß ich. Du hast keine Ahnung, was ein Bauwerk erfordert, wie du es planst. Menschen leben nicht lange genug, als daß du dein neues ... Wie hast du es noch genannt?« »Eine Kathedrale«, antwortete Cadderly. »Menschen leben nicht lange genug, als daß du deine Kathedrale auch nur halbfertig sehen würdest«, fuhr Ivan fort. »Ein ganzer Zwergenclan bräuchte hundert Jahre ... « »Das spielt keine Rolle«, antwortete Cadderly ruhig, womit er Ivan den Wind aus den Segeln nahm. »Es spielt keine Rolle, ob ich die Fertigstellung sehe, aber ich will mit
dem Bau beginnen. Das ist der Preis des Glaubens - und die Freude daran, Ivan, und du solltest das verstehen.« Ivan war sprachlos. Solche Worte hatte er noch von keinem Menschen gehört, und er hatte schon viele Menschen kennengelernt. Zwerge und Elfen waren diejenigen, die an die Zukunft dachten, die vorausschauend und einsichtig genug waren, ihren Nachkommen einen Weg zu bahnen. Menschen waren in den Augen der meisten längerlebigen Rassen ein ungeduldiges Volk, eine Gruppe, die nur etwas auf sich nahm oder in Schwung blieb, wenn sich praktisch sofort der Gewinn zeigte. »Du hast doch vor nicht allzulanger Zeit von Bruenor Kriegshammer gehört«, fuhr Cadderly fort, »der im Namen seines Vaters die Mithrilhalle wieder für sich beansprucht. Allen Berichten zufolge hat die Arbeit an der Erweiterung der Hallen bereits ernsthaft begonnen, und schon in dieser Generation sind die Hallen um vieles größer, als die Gründer jener Zwergenfestung sich je hätten vorstellen können, als sie die ersten großen Stufen zu der heute berühmten Unterstadt meißelten. Ist das nicht bei allen Zwergenfestungen so? Es beginnt mit einem Loch im Boden, und am Ende hat man die größten Höhlen der Welt, obwohl es viele Generationen - Zwergengenerationen! dauern kann.« »Ei, ei!« warf Pikel ein, was die Art des wortkargen Zwergs war, Zustimmung zu äußern. »Und so soll es mit meiner Kathedrale sein«, erklärte Cadderly. »Selbst wenn ich nur den Grundstein lege, werde ich etwas Großartiges begonnen haben.« Ivan warf Pikel einen hilflosen Blick zu. Dieser zuckte nur die Schultern. Beide Zwerge hatten an Cadderlys Denkweise kaum etwas auszusetzen. Ivan merkte sogar,
daß er Cadderly um so mehr respektierte, denn der junge Mann hatte sich über die üblichen Beschränktheiten der Menschen erhoben und plante tatsächlich etwas typisch Zwergisches. Genau das sagte Ivan nun auch, und Cadderly war anständig genug, dieses vorsichtige Kompliment ohne Widerrede hinzunehmen.
Zwei Oghma-Priester näherten sich dem quadratischen Steinmausoleum, das an die Klippe hinter der Erhebenden Bibliothek angemauert war. »Sie sollten sich um ihre Leute selber kümmern, finde ich«, grummelte der kräftige Berdole, dem man wegen seiner Ringerkünste und seiner knurrigen Art den Beinamen »der Brutale« gegeben hatte. Der andere, Curt, nickte zustimmend, denn keinem von beiden schmeckte diese Sache. Kierkan Rufo war ein Priester des Deneir gewesen, nicht des Oghma, doch wegen seiner Brandmarkung hatte Abt Thobicus verfügt, daß Oghma-Priester die Leiche vorbereiten und beisetzen sollten. Wie es Brauch war, hatte man Rufos Leiche drei Tage lang aufgebahrt, und jetzt wurde es Zeit für die letzten Handgriffe. Berdole fummelte an dem großen Schlüsselring herum, den er am Gürtel trug, bis er schließlich den Schlüssel fand, der in die schwere Tür gehörte. Mit einiger Anstrengung schloß er auf und zog die Tür weit auf. Ein feuchter, muffiger Geruch, in dem ein Hauch von Fäulnis mitschwang, schlug den beiden entgegen. Bevor man Rufos Leiche hier hineingelegt hatte, war dieses Gebäude seit Pertelopes Tod im vergangenen Herbst nicht
mehr geöffnet worden. Curt zündete seine Laterne an und hob sie hoch, winkte aber Berdole zu, voranzugehen. Der kräftige Priester gehorchte. Lärmend stapfte er über den Steinboden. Die Gruft war groß, ungefähr dreißig Fuß im Quadrat, und in beiden Richtungen in Abständen von zehn Fuß von dicken Säulen gestützt. Ein einzelnes Fenster rechts neben der Tür ließ etwas Sonnenlicht hereinsickern, doch das Glas war schmutzig und saß tief in der dicken Steinmauer, so daß die Beleuchtung karg war. In der Mitte des Raums stand eine Reihe steinerner Bahren, alle bis auf eine leer. Auf dieser einen lag zwischen den zwei Säulen, die am weitesten von der Tür entfernt waren, unter einem einfachen Tuch Kierkan Rufos Leiche. »Bringen wir es schnell hinter uns«, sagte Berdole, der einen Rucksack abnahm. Seine sichtliche Nervosität hatte keinen guten Einfluß auf seinen kleineren Begleiter, der sich von Berdole dem Brutalen Schutz erhoffte. Die beiden schlossen nach dem Eintreten nicht die Tür, und keiner von ihnen bemerkte den leisen Luftzug, als ein unsichtbares Wesen hinter ihnen hereinglitt. »Vielleicht hat er schon soviel Blut gespuckt, daß es nicht mehr lange dauern wird«, sagte Berdole mit halbherzigem Grinsen. Curt lachte ebenfalls über den Galgenhumor, denn er wußte, daß Witze wohl seine einzige Waffe gegen den Abscheu vor dieser Aufgabe waren. Hoch in einer Ecke des Mausoleums, rechts von der Tür an der gegenüberliegenden Wand, saß Druzil, kratzte seinen hundeähnlichen Kopf und murmelte Flüche in sich hinein. Seit Rufos Leiche hierhergebracht worden war, hatte das Teufelchen versucht, hier einzudringen, weil es darauf aus
war, dem Leichnam wenigstens einen Teil des Chaosfluchs zu entziehen. Damals waren zu viele Priester dabeigewesen, sogar eines der führenden Mitglieder des Oghma-Ordens, so daß Druzil abgewartet hatte. Er hatte gedacht, er könnte einfach einbrechen, sobald alle weg waren. Doch er fand die Tür verschlossen und das Fenster gesegnet vor, weshalb er es nicht gewagt hatte einzudringen. Das Teufelchen kannte sich mit Menschenritualen gut genug aus, um zu verstehen, was die beiden Männer jetzt vorhatten. Sie würden das Blut aus dem Körper ablassen und es durch eine stinkende, konservierende Flüssigkeit ersetzen. Druzil hatte gehört, daß Rufo nicht die übliche Beerdigung eines Priesters von Deneir oder Oghma erhalten konnte. Darum hatte das Teufelchen gehofft, daß die Priester ihre Zeit nicht mit diesem sinnlosen Einbalsamieren verschwenden würden. Druzil dachte daran, herunterzufegen und beide Männer mit seiner giftigen Schwanzspitze zu stechen. Er konnte sie auch mit magischen Sprüchen angreifen oder ihnen mit kleinen Energieblitzen den Hintern heiß machen, um sie zu verjagen. Doch es war einfach zu riskant, deshalb konnte das Teufelchen nur dasitzen und zusehen und lautlose Flüche murmeln. Jeder Tropfen Blut, den die Priester Rufos Körper entzogen, würde bedeuten, daß das Teufelchen etwas weniger von Tuanta Quiro Miancay zurückholen könnte. Berdole sah seinen Begleiter an und holte tief Luft, während er die große Nadel hochhob. »Ich kann das nicht mitansehen«, gestand Curt, drehte sich um und ging an ein paar Bahren vorbei auf die andere Seite der Säulen. Berdole lachte, denn die Schwäche seines Freundes machte
ihn selbstsicherer. Er stellte sich an die Bahre, schlug das Tuch gerade weit genug zurück, um Rufos linken Arm herauszuziehen, schob die schwarze Robe hoch, in die Rufo gekleidet war, und drehte den Arm so hin, daß die Innenseite des Handgelenks nach oben zeigte. »Jetzt könnte es ein bißchen pieksen«, witzelte der kräftige Mann, was ihm ein mißmutiges Knurren von Curt einbrachte. Oben auf den Dachsparren nagte Druzil enttäuscht an seiner Unterlippe, während er zusah, wie die dicke Nadel sich Rufos Handgelenk näherte. Er würde das Blut stehlen müssen, beschloß er, jeden einzelnen Tropfen! Berdole brachte die Spitze der Nadel an die Vene von Rufos knochigem Handgelenk und setzte sie so an, daß er gut zustechen konnte. Dann holte er tief Luft, sah sich mutheischend nach Curt um und wollte zudrücken. Die kalte, bleiche Hand vollzog eine kreisförmige Bewegung, bis sie die Nadel und Berdoles Hand mit zermalmender Kraft festhielt. »Was?« stammelte der starke Priester. Als Curt sich umdrehte, sah er Berdole tief gebückt vor der Bahre stehen. Seine starken Hände lagen beide um Rufos dünnen Unterarm, doch Rufos klauenartige Finger klammerten sich fest an Berdoles Unterkiefer. Das war Berdole der Brutale, der stärkste der starken Oghma-Jünger. Das war Berdole der Brutale, zweihundertfünfzig Pfund geballte Kraft, ein Mann, der einen Schwarzbären nieder ringen konnte! Doch dieser knochige Arm Kierkan Rufos - des toten Kierkan Rufo! - riß Berdole auf die Bahre herunter, als ob sein starker Körper nichts als ein nasses Handtuch wäre. Dann stieß Rufos Hand unter Curts ungläubigen Blicken
zurück nach oben. Die Muskeln in Berdoles dicken Armen spannten sich bis zum äußersten, konnten den Stoß jedoch nicht aufhalten. Berdoles Kinn fuhr nach oben und nach hinten - für Curt klang es wie das Krachen eines großen Baums, unmittelbar bevor er zu Boden fiel -, und plötzlich starrte der überraschte Berdole die Welt hinter sich verkehrt herum an. Die starken Hände des Oghma-Priesters ließen den mageren, bleichen Arm los und zuckten hilflos in der Luft. Rufos Finger lösten sich, und Berdole fiel rückwärts auf den Boden - tot. Curt dachte kaum noch daran, Luft zu holen. Er sah von Berdole zu dem verhüllten Leichnam, und vor Entsetzen wurde ihm so schwindelig, daß ihm die Sicht verschwamm, als Rufo sich langsam aufsetzte. Das Tuch fiel herunter, und der hagere, blasse Mann wandte seine Augen Curt zu - Augen, in denen ein inneres Feuer rot glühte. Druzil klatschte in seine Klauenhände und quietschte vor Freude, bevor er zur Tür flatterte. Curt schrie auf und floh, so schnell er konnte. Fünf lange Sätze hätten ihn ans Sonnenlicht gebracht, wo Rettung winkte. Auf einen Wink von Rufo knallte die schwere Steintür so laut zu, daß es wie das Beben vor dem Untergang klang. Der Oghma-Priester warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, aber er hätte ebensogut versuchen können, einen Berg zu bewegen. Er kratzte am Stein, bis seine Finger bluteten. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, daß Rufo aufgestanden war und steif auf ihn zukam. Curt schrie und schrie und lief ans Fenster, erkannte jedoch, daß er keine Zeit mehr hatte. Er wich immer weiter
zurück, beobachtete den Leichnam, schrie um Gnade und flehte Oghma an, ihm beizustehen. Dann war die Seitenwand hinter seinem Rücken; es gab keinen Ausweg. Schließlich holte Curt tief Luft und erinnerte sich, wer er war. Er hielt sein heiliges Symbol vor sich, eine silberne Schriftrolle, die er an einer Kette um den Hals trug, und rief Oghma an. »Weiche!« schrie Curt Rufo an. »Im Namen von Oghma, du verruchtes, untotes Wesen, zurück mit dir!« Rufo zuckte nicht mit der Wimper. Er war zehn Schritte entfernt. Neun Schritte entfernt. Plötzlich taumelte er, als er am Fenster vorbeikam, als ob er an der Seite verbrannt worden wäre. Aber das Licht war schwach, und das Ungeheuer zog daran vorbei. Curt begann verzweifelt mit einem Spruch, doch er fühlte sich von seinem Gott auf seltsame Weise abgeschnitten, als ob schon Rufos Gegenwart diesen Platz entweiht hätte. Dennoch sang er, um seine Kräfte zu sammeln. Er fühlte einen Stich im unteren Teil des Rückens und zuckte plötzlich zusammen. Sein Spruch war unterbrochen. Als er sich umdrehte, sah er das Teufelchen mit den Fledermausflügeln verschlagen kichernd davonfliegen. »Was ist das für ein Alptraum?« schrie Curt. Da war Rufo bei ihm, und der entsetzte Mann schwang seine Laterne nach ihm. Rufo erwischte ihn am Handgelenk und hielt ihn ohne Mühe zurück. Curt schlug mit der anderen Hand zu, traf Rufo fest am Kinn und schlug ihm den Kopf zur Seite. Rufo drehte sich ruhig zurück. Curt wollte noch einmal zuschlagen, aber Rufo hakte seinen Arm unter den von Curt, bis seine knochigen Finger hinter Curts Rücken lagen, und ergriff auf der anderen Seite dessen Haare. Mit
furchtbarer Kraft zog Rufo Curts Kopf zur Seite und drückte Curts Wange an seine eigene Schulter, bis die Halsseite des Mannes offen vor ihm lag. Curt glaubte, daß Rufo ihm einfach den Hals brechen wollte, wie er es bei Berdole getan hatte, doch der OghmaPriester wußte es bald besser, als Rufo den Mund aufriß und hundeähnliche Eckzähne zum Vorschein kamen, die ein Stückchen länger waren als die anderen Zähne. Wie heißhungrig beugte Rufo sich vor und biß in Curts Hals, wo er die Halsschlagader öffnete. Curt schrie und schrie, aber Rufo, der genußvoll das warme Blut trank, hörte nichts davon. Für das Ungeheuer war es Ekstase, die Sättigung eines Hungers, der alles übertraf, was er zu Lebzeiten kennengelernt hatte. Es war unglaublich süß. Es war ... Rufos Mund begann zu brennen. Das süße Blut wurde zu Säure. Mit einem Wutgebrüll fuhr Rufo herum und schleuderte den Mann von sich. Der arme Priester flog kopfüber durch den Raum. Mit dem Rücken prallte er gegen die nächste Säule. Er rutschte auf den Boden und blieb reglos liegen. Der untere Teil seines Körpers war gefühllos, doch seine Brust stand in Flammen, denn sie glühte vor Gift. »Was hast du getan?« brüllte Kierkan Rufo dem Teufelchen zu, das auf den Dachsparren hockte. Als Wesen der grausigen Unteren Ebenen hatte Druzil normalerweise keine Furcht vor dem, was diese Welt ihm zu bieten hatte. Diesmal aber spürte das Teufelchen Angst berechtigte Angst vor dem Ding, zu dem Kierkan Rufo geworden war. »Ich wollte dir helfen«, erklärte Druzil. »Er durfte auf keinen Fall entkommen.« »Du hast sein Blut verdorben!« brüllte Rufo. »Sein Blut«,
fügte er ruhiger hinzu, voll Verlangen. »Ich brauche ... brauche es.« Rufo sah zu Curt zurück, doch in den Augen des Mannes war das Licht des Lebens erloschen. Rufo brüllte wieder, ein schreckliches, unnatürliches Geräusch. »Es gibt noch mehr«, versprach Druzil. »Es gibt noch viele andere, gar nicht weit weg!« Da überkam Rufo ein seltsamer Ausdruck. Er sah auf seine bloßen Arme und hielt sie vor sein Gesicht, als ob er erst jetzt erkannte, daß mit ihm etwas sehr Ungewöhnliches vorgegangen war. »Blut?« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung, und er warf einen flehentlichen Blick in Druzils Richtung. Druzils vorquellende Augen schienen noch weiter aus ihren Höhlen zu treten, als das Teufelchen die echte Verwirrung wahrnahm, die sich auf dem Gesicht des toten Rufo abzeichnete. »Verstehst du denn nicht, was mit dir passiert ist?« rief Druzil aufgeregt. Rufo wollte tief durchatmen, erkannte dabei jedoch, daß er gar nicht atmete. Wieder ging sein fragender, flehentlicher Blick zu Druzil, der die Antwort zu kennen schien. »Du hast von Tuanta Quiro Miancay getrunken«, quietschte das Teufelchen. »Der Ultimative Schrecken, das absolute Chaos, und deshalb bist du zur absoluten Perversion der Menschheit geworden!« Rufo schien noch immer nicht zu verstehen. »Die absolute Perversion!« sagte Druzil wieder, als ob das alles erklären müßte. »Das Gegenteil des Lebens als solchem!« »Was redest du da?« fragte Rufo entsetzt und spuckte dabei Curts Blut aus.
Druzil lachte böse. »Du bist unsterblich«, sagte er, und der verwirrte, sprachlose Rufo begann endlich zu begreifen. »Du bist ein Vampir.«
Irreführung
Vampir. Das Wort hing in Rufos Gedanken fest wie ein totes Gewicht auf seinen untoten Schultern. Er kroch zu der Steinbahre zurück und warf sich rückwärts darauf, um mit seinen mageren, blassen Händen die Augen zu bedecken. »Bene tellemara«, murmelte Druzil viele Male, als die Minuten ereignislos verstrichen. »Sollen sie etwa herauskommen und dich finden?« Rufo sah nicht auf. »Die Priester sind tot«, erklärte das Teufelchen mit rauher Stimme. »Zerrissen. Werden die, die sie suchen kommen, genauso überrascht reagieren?« Rufo zog den Arm von seinem Gesicht und sah zu dem Teufelchen hin. Es schien ihm egal zu sein. »Du glaubst, du kannst sie schlagen«, überlegte Druzil, der Rufos Ruhe mißverstand. »Dummkopf! Du glaubst, du kannst sie alle schlagen!« Rufos Erwiderung kam für das Teufelchen unerwartet, ließ Druzil jedoch begreifen, daß die Lethargie des untoten Mannes nicht auf Selbstvertrauen, sondern auf Verzweiflung gründete. »Ich möchte es nicht versuchen«, sagte Rufo ernsthaft. »Du kannst sie schlagen«, improvisierte das Teufelchen eilig, indem es seine Betonung veränderte, so daß die Feststellung plötzlich nicht mehr so lächerlich erschien. »Du kannst sie alle schlagen!« »Ich bin schon tot«, sagte Rufo trocken. »Ich bin schon besiegt.« »Natürlich, natürlich!« krächzte Druzil glücklich, klatschte in die Hände und schlug mit seinen Flügeln, um sich auf
dem Ende von Rufos Bahre niederzulassen. »Tot, ja, aber das ist deine Stärke, nicht deine Schwäche. Du kannst sie alle schlagen, sage ich, und die Bibliothek wird dir gehören.« Diese letzten Worte schienen Rufos Interesse zu wecken. Er hob seinen Kopf so, daß er das hinterhältige Teufelchen besser sehen konnte. »Du bist unsterblich«, verkündete Druzil feierlich. Rufo setzte sein Anstarren einen langen, unangenehmen Moment fort. »Um welchen Preis?« fragte er. »Preis?« wiederholte Druzil. »Ich bin nicht lebendig!« brüllte Rufo ihn an, und Druzil breitete seine Flügel aus, um sofort wegzuspringen, falls der Vampir eine plötzliche Bewegung machte. »Du bist lebendiger, als du es jemals warst!« fauchte Druzil zurück. »Jetzt hast du Macht. Jetzt wird dein Wille geschehen!« »Und wozu?« wollte Rufo wissen, mußte er wissen. »Ich bin tot. Mein Fleisch ist tot. Welche Lust kann ich erleben? Welche Träume verfolgen, die es wirklich wert sind?« »Lust?« fragte das Teufelchen. »Hat das Blut des Priesters nicht süß geschmeckt? Und hast du nicht deine Macht gespürt, als du dich dem jämmerlichen Mann genähert hast? Du konntest seine Angst schmecken, Vampir, und dieser Geschmack war so süß wie das Blut, das hinterherkam.« Rufo starrte ihn weiter an, beschwerte sich jedoch nicht länger. Druzil schien die Wahrheit zu sprechen. Rufo hatte die Angst des Mannes geschmeckt, und dieses Gefühl der Macht, jemandem solches Entsetzen einzuflößen, kam dem Mann, der im Leben so ohnmächtig gewesen war, wunderbar vor.
Druzil wartete ein Weilchen, bis er sicher war, daß er Rufo überzeugt hatte, seine Existenz als Vampir zumindest auszuprobieren. »Du mußt von diesem Ort verschwinden«, erklärte das Teufelchen mit einem Blick zu den Leichen. Rufo schaute zu der verschlossenen Tür, nickte dann und schwang sich herum. Seine Beine baumelten von der Seite der Bahre. »Die Katakomben«, meinte er. »Du kannst nicht rüber«, sagte Druzil, als der Vampir steif auf die Tür zuging. Rufo drehte sich argwöhnisch um, als hielte er die Worte des Teufelchens für eine Drohung. »Es ist hellichter Tag«, erklärte Druzil. »Die Sonne würde dich wie Feuer verbrennen.« Rufos Gesichtsausdruck, der zunächst neugierig gewesen war, wurde mürrisch, dann zutiefst entsetzt. »Du bist jetzt ein Wesen der Nacht«, fuhr Druzil mit fester Stimme fort. »Das Tageslicht ist dein Feind.« Das war eine bittere Pille für Rufo, aber nach allem, was geschehen war, nahm der Mann die Neuigkeit ungerührt hin und zwang sich, sich wieder aufzurichten. »Wie soll ich dann hier rauskommen?« fragte er verärgert. Druzil lenkte Rufos Blick auf Steinreihen mit Inschriften an der gegenüberliegenden Wand des Mausoleums. Dort lagen die früheren Großmeister der Bibliothek, einschließlich Avery Schell und Pertelope, und nicht alle Steine waren mit Namen versehen. Zuerst wirkte der Gedanke, in einen Steinsarg zu kriechen, auf Rufo abstoßend, aber als er seine Vorurteile abwarf, die noch aus seiner Zeit als lebender, atmender Mensch stammten, als er sich erlaubte, die Welt als Untoter zu betrachten, als Wesen der Nacht, fand er den Gedanken an kühlen, dunklen Stein merkwürdig verlockend. Druzil wies auf eine nichtmarkierte Platte in Bauchhöhe.
Da er nicht wußte, was das Teufelchen erwartete, griff der Vampir mit seinen steifen Armen zu und faßte an den Rand des Steins. »Nicht so!« schalt Druzil. Rufo richtete sich auf und warf dem Teufelchen einen bösen Blick zu. Er hatte Druzils hochmütiges Gebaren allmählich satt. »Wenn du die Platte wegziehst, werden die Priester dich finden«, erklärte das Teufelchen. Für sich selbst fügte er, wie zu erwarten, noch ein lautloses »Bene tellemara« hinzu. Rufo antwortete nicht, sondern stand nur da und starrte vom Teufelchen zur Wand. Wie sollte er in die Gruft kommen, wenn er den Stein nicht wegnahm? Das hier waren keine Türen, die man öffnen und schließen konnte; es waren versiegelte Blöcke, die zu Beisetzungen entfernt und dann an Ort und Stelle wieder festgemauert wurden. »Es ist eine Ritze am Boden«, bemerkte Druzil. Als Rufo sich bückte, sah er, daß unter der Deckplatte tatsächlich eine Linie im Mörtel verlief. Der Vampir zuckte die Schultern, aber bevor er Druzil fragen konnte, wie diese Ritze ihm helfen könnte, überkam ihn ein seltsames Gefühl, eine Leichtigkeit, als hätte er seinen Körper irgendwie abgestreift. Rufo sah zu Druzil, der breit lächelte, dann zu dem Riß zurück, der plötzlich viel größer erschien. Mitsamt seiner schwarzen Robe wurde der Vampir zu einer grünen Wolke, die rasch durch den Riß in der Platte verschwand. In der engen, steinernen Grabkammer, die von massiven Mauern begrenzt wurde, nahm er wieder Gestalt an. Einen Augenblick überkam ihn eine Welle von Panik, das Gefühl, gefangen zu sein. Wie lange würde seine Luft reichen, fragte er sich. Er machte den Mund zu, weil er fürchtete, er würde zuviel von der kostbaren Luft verbrauchen.
Gleich darauf ging sein Mund wieder auf, um ein heulendes Gelächter auszustoßen. »Luft?« fragte Rufo laut. Er brauchte keine Luft, und er war sicher nicht gefangen. So leicht, wie er hereingekommen war, würde er durch diesen Spalt wieder hinausschlüpfen, und ansonsten konnte er einfach hinunterrutschen und den Stein wegtreten. Dazu war er stark genug, das wußte er. Plötzlich wurde dem Vampir die Beschränktheit eines schwachen, lebendigen Körpers klar. Er dachte an die vielen Male, als man ihn schikaniert hatte - seiner Meinung nach ganz zu Unrecht -, und er dachte an die beiden OghmaPriester, die er so leicht erledigt hatte. Oghma-Priester! Ringer, Kämpfer, aber er hatte sie mühelos herumgeschleudert! Rufo kam sich vor, als hätte man ihn von diesen Beschränkungen des Lebens befreit. Er war frei, konnte losfliegen und nach der Macht greifen, die ihm rechtmäßig zustand. Er würde es seinen Peinigern schon zeigen. Er würde... Der Vampir hörte auf zu phantasieren und griff nach oben, um das Brandzeichen auf seiner Stirn zu betasten. Ein Bild von Cadderly, dem Mann, der ihm am schlimmsten mitgespielt hatte, erschien vor seinen Augen. Ja, Rufo würde es ihnen allen zeigen. Aber hier, in der kühlen, dunklen Enge seines selbstge wählten Bettes, würde der Vampir ausruhen. Die Sonne, Verbündete allen Lebens - Verbündete der Schwachen -, stand hoch am Himmel. Rufo würde auf die Finsternis warten.
An
diesem
Nachmittag
versammelten
sich
auf
Abt
Thobicus' Ruf hin die höchstrangigen Priester des DeneirOrdens. Sie trafen sich in einem wenig benutzten Raum im dritten und obersten Stock der Bibliothek. Es war ein abgelegener Ort, der garantieren würde, daß sie ungestört blieben. Abgeschiedenheit schien dem gealterten Abt wichtig zu sein, was den anderen endgültig klar wurde, als Thobicus die einzige Tür zu dem Raum fest zumachte und die Läden der zwei kleinen Fenster schloß. Thobicus drehte sich feierlich um und musterte diese überaus wichtige Versammlung. Der Raum war eigentlich nicht für Publikum eingerichtet. Einige Priester saßen auf Stühlen, andere lehnten einfach an der kahlen Wand oder hockten auf dem abgewetzten Teppich, der den Boden bedeckte. Thobicus trat etwa in die Mitte der Gruppe und des Zimmers, wo er sich langsam drehte und jeden einzelnen der dreißig versammelten Priester ansah, um ihnen die volle Wichtigkeit dieses Treffens zu verdeutlichen. Unter dieser Musterung verstummten die Gespräche, wichen gebannter Erwartung. »Burg Trinitatis ist ausgelöscht«, sagte Thobicus nach über einer Minute des Schweigens zu ihnen. Die Priester sahen einander an, denn diese Nachricht verschlug ihnen die Sprache. Dann brach Jubel los, zunächst leise, dann immer lauter, bis schließlich alle versammelten Priester, mit Ausnahme des Abtes, einander auf den Rücken schlugen und siegesbewußt die Fäuste hochreckten. Mehr als einer rief Cadderlys Namen, wobei Thobicus jedesmal zusammenzuckte. Er wußte, daß er nun vorsichtig vorgehen mußte. Als der Jubel abflaute, hob Thobicus eine Hand, um um Ruhe zu bitten. Wieder fiel der durchdringende Blick des
Abtes auf die Priester, brachte sie zum Schweigen und erfüllte sie mit Neugier. »Das ist eine gute Nachricht«, stellte Fester Rumpol fest, der zweithöchste Priester im Orden. »Aber auf deinem Gesicht steht keine Begeisterung geschrieben, mein Abt.« »Weißt du, woher ich von der Niederlage unserer Feinde weiß?« fragte ihn Thobicus. »Cadderly?« antwortete eine Stimme. »Du hast mit einer höheren Macht gesprochen, einem Sendboten des Deneir?« vermutete ein anderer. Abt Thobicus schüttelte zu beiden Vermutungen den Kopf, ohne Rumpol aus den Augen zu lassen. »Ich konnte die Information nicht beschaffen«, erklärte er ihnen. »Meine Versuche, mit Deneir in Kontakt zu treten, wurden blockiert. Ich mußte zu Bron Turman von Oghma gehen, um meine Antworten zu erhalten. Auf meine Bitte hin befragte er Sendboten seines Gottes und erfuhr, daß unsere Feinde geschlagen sind.« Diese Information war fast so erstaunlich wie die Nachricht vom Fall von Burg Trinitatis. Thobicus war der Abt der Erhebenden Bibliothek, der Vater dieses Ordens. Wie konnte er vom Kontakt mit Deneirs Sendboten abgeschnitten sein? Alle anwesenden Priester hatten die Zeit der Unruhen miterlebt, jene schlimmste Zeit für alle Gläubigen, und sie alle befürchteten, daß der Abt meinte, es würde wieder eine so schreckliche Zeit anbrechen. Fester Rumpols Miene zeigte zunächst Furcht, dann Mißtrauen. »Ich habe heute morgen gebetet«, sagte er und zog dabei die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich. »Ich habe um Führung gebeten, weil ich ein altes Pergament suchte - und mein Ruf fand Antwort.« Überall erklang beunruhigtes Flüstern.
»Das liegt daran ...«, sagte Thobicus mit lauter, scharfer Stimme, um sich seiner Zuhörer wieder zu vergewissern. Er legte eine Pause ein, damit wirklich alle zuhörten. »Das liegt daran, daß Cadderly dich noch nicht zur Zielscheibe erwählt hat!« »Cadderly?« fragten Rumpol und mehrere andere gleichzeitig. In der ganzen Erhebenden Bibliothek, besonders aber im Orden des Deneir, wurden dem jungen Priester starke Gefühle entgegengebracht, viele positive und viele negative. Nicht wenige der älteren Priester fanden Cadderly ungestüm und zu wenig ehrfürchtig, nachlässig in den notwendigen, alltäglichen Pflichten seines Ranges. Und viele der jüngeren Priester sahen in Cadderly einen Rivalen, gegen den sie nicht ankamen. Von den dreißig Priestern im Raum war jeder mindestens fünf Jahre älter als Cadderly, aber der junge Priester hatte innerhalb der starren Hierarchie der Bibliothek bereits mehr als die Hälfte überrundet. Und es hielten sich hartnäckige Gerüchte, daß Cadderly in Deneirs Augen bereits zu den Allerstärksten seines Ordens zählte. Abt Thobicus hatte diese Theorie nun bekräftigt. Wenn Cadderly den Abt davon abhalten konnte, mit den Sendboten des Deneir Kontakt aufzunehmen, und das von jenseits der Schneeflockenberge ... ! In allen Ecken brach Gemurmel aus, denn die Priester konnten sich nicht erklären, was das alles zu bedeuten hatte. Fester Rumpol und Abt Thobicus starrten sich weiterhin an, denn Rumpol hatte keine Antworten auf die unglaubliche Anschuldigung des Abtes. »Cadderly hat seine Grenzen überschritten«, erklärte Thobicus. »Er hält die Hierarchie der Erhebenden Bibliothek für unangemessen, und deshalb wünscht er, sie zu ändern.«
»Absurd!« rief ein Priester aus. »Das dachte ich auch«, erwiderte Abt Thobicus ruhig. Er hatte sich auf diese Versammlung gut vorbereitet, hatte auf jede Frage oder Behauptung eine Antwort parat. »Aber jetzt mußte ich die Wahrheit erfahren. Nach dem Tod von Avery Schell und Pertelope ist unser junger Cadderly anscheinend ein wenig außer Kontrolle geraten. Er hat mich getäuscht, um nach Burg Trinitatis ziehen zu dürfen.« Diese Behauptung entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber Thobicus wollte nicht zugeben, daß Cadderly ihn beherrscht und seine Gedanken wie eine Weide im Sturm gebogen hatte. »Und jetzt blockiert er meine Versuche, mit unserem Gott in Verbindung zu treten.« Soweit Thobicus wußte, war diese zweite Behauptung richtig. Der einzige andere mögliche Grund hätte sein können, daß er in der Gunst von Deneir tief gesunken war, und das zu glauben, war der alte Abt nicht bereit. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?« fragte Fester Rumpol, dessen Stimme mehr Argwohn als Loyalität verriet. »Nichts«, erwiderte Thobicus eilig, denn er nahm die Zweifel des Mannes wohl wahr. »Ich möchte euch alle nur warnen, damit wir nicht überrumpelt werden, wenn unser junger Freund zurückkehrt.« Diese Antwort schien Rumpol und viele andere zufriedenzustellen. Daraufhin vertagte Thobicus die Versammlung übergangslos und zog sich in seine Privatgemächer zurück. Er hatte die Saat des Zweifels ausgesät. Seine Ehrlichkeit würde für ihn sprechen, sobald Cadderly zurückkam und der Abt und der junge Emporkömmling einander gegenübertreten würden. Und Thobicus wußte, daß es dazu kommen würde. Er
hatte die Handlungen des jungen Priesters weder vergessen noch vergeben. Er war der Abt der Bibliothek, Oberhaupt seines Ordens, und er ließ sich von niemandem wie eine Marionette behandeln. Das war Abt Thobicus' größte Schwäche. Er konnte immer noch nicht hinnehmen, daß Cadderlys Kraft ihm von Deneir gewährt worden war - gemäß den Geboten ihres Glaubens. Thobicus war schon so lange in der Bürokratie der Bibliothek gefangen, daß er den höheren Zweck der Bibliothek und des Ordens vergessen hatte. Zu viele Dinge hatten die Ziele aus dem Blickfeld verschwinden lassen. Der Abt sah seinen bevorstehenden Kampf gegen Cadderly als politischen Kampf an, dessen Ausgang von Hinterzimmer bündnissen und großzügigen Versprechungen abhängen würde. Tief in seinem Herzen kannte Thobicus natürlich die Wahrheit, wußte, daß sein Kampf gegen Cadderly nach den Geboten des Deneir entschieden werden würde. Aber diese Wahrheit war - wie die Wahrheit im Orden selbst - so von falschen Gedanken überlagert, daß Thobicus es wagte, etwas anderes zu glauben, und sich selbst in dem trügerischen Glauben wiegte, die anderen würden seiner Führung folgen.
Kierkan Rufos Träume waren nicht mehr die eines Opfers. Er sah Cadderly, aber dieses Mal war es der junge Deneir Priester, nicht der gebrandmarkte Rufo, der sich duckte. Dieses Mal, in diesem Traum, griff Rufo, der Sieger, ruhig nach unten und riß Cadderly die Kehle auf. Der Vampir erwachte in absoluter Finsternis. Er konnte die Steinwände spüren, die ihn umgaben, und er hieß ihre
Geborgenheit willkommen, genoß die Schwärze, während die Minuten zur Stunde wurden. Dann vernahm Rufo einen anderen, zwingenden Ruf; ein gewaltiger Hunger überkam ihn. Er versuchte den Hunger zu ignorieren, wollte bewußt nichts weiter, als in der kühlen, schwarzen Leere liegen. Aber bald krallten sich seine Finger in den Stein; und er warf sich herum, von Bedürfnissen überwältigt, die er nicht verstand. Ein tiefes, raubtierhaftes Knurren entrang sich seinen Lippen. Rufo wand sich so lange, bis er seinen Körper in der Gruft völlig umgedreht hatte. Zuerst wollte der unruhige Vampir den verschließenden Stein wegreißen, diese Sperre in eine Million Teile zerspringen lassen, aber er war doch noch klug genug, um zu erkennen, daß er diesen Zufluchtsort vielleicht erneut brauchen würde. Nachdem er sich auf den winzigen Sprung am Ansatz der Platte konzentriert hatte, löste sich Rufo in grünlichen Rauch auf - das war nicht schwierig - und kehrte in den Hauptraum des Mausoleums zurück. Auf der Nachbarplatte hockte Druzil, das Kinn in die Klauenfinger gestützt, und erwartete ihn. Rufo bemerkte das Teufelchen jedoch kaum. Als er körperliche Gestalt annahm, fühlte er sich anders, weniger steif und ungelenk. Er roch die Nachtluft - seine Luft - um sich herum und fühlte sich stark. Schwaches Mondlicht drang durch das schmutzige Fenster herein, aber im Gegensatz zum Licht der Sonne war es kühl und angenehm. Rufo reckte die Arme in die Luft und drehte sich nach allen Seiten, bis er die Nacht und seine Freiheit schmeckte. »Sie sind nicht gekommen«, sagte Druzil zu ihm. Rufo wollte fragen, was das Teufelchen da eigentlich redete, aber als er die beiden Leichname wahrnahm,
verstand er. »Das überrascht mich nicht«, antwortete der Vampir. »Die Bibliothek ist reich an Pflichten. Dauernd Pflichten. Die toten Priester werden vielleicht erst in einigen Tagen vermißt werden.« »Dann heb sie auf«, befahl Druzil. »Bring sie von diesem Ort fort.« Rufo konzentrierte sich mehr auf den Ton des Teufelchens als auf dessen Worte. »Mach es gleich«, fuhr Druzil fort, ohne die rasch wachsende Gefahr zu bemerken. »Wenn wir vorsichtig sind ...« Erst jetzt sah Druzil Rufo an, und der eisige Blick des Vampirs ließ dem normalerweise nicht zu erschütternden Teufelchen einen Schauer über den Rücken laufen. Druzil versuchte nicht einmal, seine Überlegungen fortzusetzen, versuchte nicht einmal, Worte an dem Klumpen vorbeizuzwängen, der ihm in der Kehle steckte. »Komm zu mir«, sagte Rufo sehr ruhig. Druzil hatte nicht die Absicht, diesem Befehl Folge zu leisten. Er wollte den Kopf schütteln, so daß seine großen Ohren lautstark klatschten; er wollte sogar einen verächtlichen Kommentar abgeben. Mit diesen Gedanken war es jedoch vorbei, als das Teufelchen plötzlich feststellte, daß es sich tatsächlich auf Rufo, zubewegte, daß seine Füße und Flügel den Befehl des Vampirs befolgten. Er war am Ende der Platte, dann sprang er herunter, schlug mit seinen Fledermausflügeln, um sich in der Luft zu halten, und setzte sein gleichmäßiges Vorrücken fort. Rufos kalte Hand schoß vor und packte das Teufelchen am Hals, wodurch er es aus seiner Trance riß. Druzil stieß einen schrillen Schrei aus und zog instinktiv den Schwanz nach vorn, den es drohend vor Rufos Gesicht schwenkte. Rufo lachte und begann zuzudrücken.
Druzils Schwanz peitschte in Rufos Gesicht, wo seine Stachelspitze ein kleines Loch bohrte. Rufo lachte boshaft und drückte mit seinem entsetzlich starken Griff weiter zu. »Wer ist der Herr?« fragte der Vampir selbstbewußt. Druzil glaubte, ihm würde der Kopf zerspringen! Er konnte sich nicht einmal winden. Und dieser Blick! Druzil hatte einigen der mächtigsten Herren der Unteren Ebenen gegenübergestanden, aber in diesem Augenblick kam dem Teufelchen keiner derart beeindruckend vor. »Wer ist der Herr?« wollte Rufo wieder wissen. Druzils Schwanz fiel schlaff herunter, und er hörte auf, sich zu wehren. »Bitte, Herr«, wimmerte er atemlos. »Ich habe Hunger«, verkündete der Vampir und warf das Teufelchen achtlos beiseite. Mit selbstsicherem, gewandtem Schritt lief Rufo zur Tür des Mausoleums. Als er sich der Tür näherte, sandte er seinen Willen aus, und sie schwang auf. Als er die Schwelle überschritten hatte, schlug die Tür wieder zu, so daß Druzil allein im Mausoleum zurückblieb, bedrückt vor sich hin murmelnd. Bachtolen Moosgarten, seit Ivan Felsenschulters Fortgehen der Koch der Bibliothek, murmelte an diesem Abend ebenfalls vor sich hin. Bachy, wie die Priester ihn nannten, hatte seine neuen Pflichten satt. Er war als Gärtner eingestellt worden - das konnte er auch am besten -, doch nachdem der Winter die ganze Region fest im Griff hatte und es im Garten nichts mehr zu tun gab, hatten die Priester die Regelung geändert. »Abfall, Abfall und abermals Abfall!« murrte Bachy, während er einen Eimer Kohlreste an einem Hang hinter der Bibliothek auskippte. Er wollte sich in der Nase bohren, änderte seine Meinung jedoch, als der Finger, der nach
altem Kohl stank, sich dem Nasenloch näherte. »Jetzt stinke ich sogar selbst schon danach!« jammerte er und schlug auf den Blecheimer, um die letzten Reste auf dem rutschigen, fleckigen Schnee zu verteilen. Dann drehte er sich um und wollte gehen. Bachy merkte, daß es plötzlich viel kälter geworden war. Und stiller, stellte er einen Moment später fest. Es war nicht die Kälte, die ihn stutzen ließ, sondern die Stille. Sogar der Wind hatte sich gelegt. Bachys Nackenhaare sträubten sich. Etwas war falsch, gehörte nicht hierher. »Wer ist da?« fragte er geradeheraus, wie es seiner Art entsprach. Er wusch sich nicht viel, er rasierte sich nicht oft, und er rechtfertigte dies damit, daß er sagte, die Leute sollten ihn nicht nur wegen seines Aussehens schätzen. Bachy hielt sich gern für tiefschürfend. »Wer ist da?« fragte er wieder, deutlicher, denn es machte ihm Mut, daß beim ersten Mal niemand geantwortet hatte. Er hatte sich fast schon überzeugt, daß seine Phantasie ihm einen Streich gespielt hatte, machte sogar schon den ersten Schritt zur Erhebenden Bibliothek zurück, wo ihn knapp zwanzig Schritte weiter die Hintertür der Küche erwartete, als eine große, schiefe Gestalt vor ihn trat und absolut reglos stehenblieb. Bachy setzte stotternd zu einer Reihe Fragen an, von denen er keine einzige zu Ende brachte. Am deutlichsten kam noch sein tiefes Erstaunen zum Ausdruck, wo dieser Kerl hergekommen war. Der Koch hatte den Eindruck, als wäre der Mann direkt aus der Luft gekommen oder aus den Schatten, die doch gar nicht dunkel genug waren, ihn zu verstecken! Die Gestalt trat einen Schritt näher. Über ihnen brach das
Mondlicht durch eine Wolke, wodurch Rufos bleiches Gesicht enthüllt wurde. Bachy schwankte, als würde er gleich vornüberkippen. Er wollte aufschreien, doch ihm versagte die Stimme. Er wollte losrennen, doch seine Beine trugen ihn kaum noch. Rufo schmeckte die Angst, und seine Augen leuchteten auf. Schaurige rote Flammen tanzten dort, wo seine Pupillen hätten sein sollen. Der Vampir grinste verschlagen, während er langsam seinen Mund weit aufsperrte und lange Reißzähne entblößte. Bachy murmelte etwas, das wie »Bei den Göttern!« klang, dann kniete er im Schnee, weil seine Beine unter ihm weggeknickt waren. Das Gefühl von Angst, von süßer, süßer Angst, vervielfachte sich, überschwemmte Rufo. Es war das reinste, ekstatischste Gefühl, das er je kennengelernt hatte. In diesem Augenblick verstand und genoß er seine Macht. Dieses armselige Stück Mist, dieser Zwerg, den er nicht einmal kannte, konnte ihm keinerlei Widerstand leisten! Rufo bewegte sich langsam, aber entschlossen, weil er wußte, daß sein Opfer vollkommen hilflos war. Und dann schmeckte er Blut - wie der Nektar, den er dem dummen Oghma-Priester im Mausoleum entzogen hatte, ehe Druzils Gift alles verdorben hatte. Dieses Blut war nicht verdorben. Bachy war ein Schmutzfink, aber sein Blut war rein, warm und süß. Die Minuten vergingen, und Rufo trank. Dann begriff er, daß er aufhören sollte. Irgendwie wußte er, wenn er diesen armen Tropf nicht tötete, würde er zum Untoten werden, einer niederen Kreatur, die ihm dienen würde. Instinktiv erkannte der Vampir, daß dieser Zwerg sein Sklave sein würde - jedenfalls bis auch Bachy die gesamte Entwicklung zum Vampir hinter sich hatte.
Rufo trank weiter. Er wollte aufhören, aber kein vernünftiger Grund kam gegen den Genuß an, den der Vampir hierbei erfuhr. Einige Zeit später kugelte Bachys ausgesaugte Hülle hinter dem anderen Abfall her den Hang hinunter. Als die Nacht sich ihrem Ende zuneigte, hatte sich Kierkan Rufo mit seiner neuen Existenz schon gut angefreundet. Wie ein Wolf, der sein Revier abschreitet, wanderte er herum und dachte die ganze Zeit an seine Beute, an den Geschmack des Blutes. Trockene braune Flecken von dem makaberen Festmahl bedeckten Gesicht und Mantel des Vampirs, als er vor der Seitenmauer der Erhebenden Bibliothek stand, die Gargylen anstarrte, die die Regenrinnen säumten, und jenseits des Daches die Sterne seines Reiches. Eine Stimme in seinem Kopf (er wußte, daß sie Druzil gehörte) riet ihm, ins Mausoleum zurückzukehren, in die kühle, dunkle Krypta, wo er sich vor der grausamen Hitze der aufsteigenden Sonne verbergen konnte. Doch in diesem Plan lag auch eine Gefahr, wie Rufo feststellte. Er hatte die Dinge bereits zu weit getrieben. Das entlarvende Licht des Tages würde die Priester womöglich auf der Hut sein lassen, und sie würden sich als mächtige Gegner erweisen. Sie würden wissen, wo sie zu suchen hatten. Der Tod hatte Kierkan Rufo neue Einsichten und Kräfte verliehen, die alles überstiegen, was der Orden des Deneir jemals versprochen hatte. Er konnte spüren, wie der Chaosfluch in seinem Körper kreiste, den er wie ein Partner und Ratgeber bewohnte. Rufo konnte einen sicheren Ort aufsuchen, aber Tuanta Quiro Miancay verlangte mehr als Sicherheit. Rufo war sich kaum bewußt, daß er seine Gestalt
verändert hatte, aber als nächstes bemerkte er, daß seine Fledermausklauen am Rand des Bibliotheksdaches Halt gefunden hatten. Knochen knirschten und streckten sich, als der Vampir seine menschliche Gestalt wieder annahm. Schließlich saß Rufo am Rand des Daches und blickte auf ein Fenster hinunter, das er gut kannte. Kopfüber kletterte er die Wand vom zweiten zum ersten Stock hinunter. Seine starken Untotenfinger fanden sicheren Halt, wo er zu Lebzeiten nur glatten Stein wahrgenommen hätte. Zu Rufos Überraschung hatte man ein Eisengitter vor diesem Fenster angebracht. Er griff durch die Stäbe und schlug das Glas ein. Dann dachte er daran, sich in Rauch zu verwandeln, und einfach in den Raum zu wehen. Aus irgendeinem Grunde jedoch, einem instinktiven, anima lischen Drang heraus, als ob es ihm vorkam, daß das Gitter nur deshalb hier angebracht worden war, um ihn am Vorrücken zu hindern, ergriff er eine Eisenstange und riß mit einer Hand das Gitter ab, das er dann in die Nacht hinaus warf. Die ganze Bibliothek stand ihm offen, und der Vampir hatte nicht die Absicht, wieder zu verschwinden.
Angewandter Glaube
Danica starrte ins Lagerfeuer, betrachtete den orangeweißen Tanz der Flammen und nutzte dessen hypnotische Wirkung, um im Geiste die Meilen zu überwinden. Ihre Gedanken waren bei Cadderly und den Problemen, denen er sich zu stellen hatte. Sie wußte, daß er Abt Thobicus herausfordern und all die bürokratischen Rituale zerfetzen wollte, die der Orden des Deneir mit den Jahren aufgebaut hatte. Die Gegner würden schlau und unnachgiebig sein, und obwohl Danica nicht glaubte, daß Cadderlys Leben in Gefahr war wie auf Burg Trinitatis -, wußte sie, daß sein Schmerz, falls er verlor, niemals nachlassen würde. Diese Gedanken führten Danica unweigerlich zu Dorigen, die ihr, in eine Decke gewickelt, am Feuer gegenübersaß. Was würde aus der Zauberin werden? fragte sie sich. Wenn nun Thobicus vorhersah, was ihm von Cadderly drohte, wenn er Danicas Recht als Siegerin nicht respektierte und Dorigens Hinrichtung anordnete? Danica schüttelte diese beunruhigenden Gedanken ab und schalt sich dafür, daß sie ihrer Phantasie freien Lauf gelassen hatte. Abt Thobicus war schließlich kein schlechter Mensch, und seine Hauptschwäche war immer der Mangel an Entschlossenheit zum Handeln gewesen. Dorigen war wohl kaum in Gefahr. »Die Umgebung ist weiterhin frei«, sagte Shayleigh, womit sie Danica aus ihren Gedanken riß. Die Adeptin sah auf, als die Elfenkriegerin mit dem Bogen in der Hand das Lager betrat. Shayleigh lächelte und nickte zu Dorigen hin, die fest zu schlafen schien. »Die Berge sind noch nicht aus dem Winterschlaf
erwacht«, entgegnete Danica. Shayleigh nickte, aber ihr durchtriebenes, durch und durch elfisches Lächeln zeigte Danica, daß sie spürte, daß die Zeit des Frühlingstanzes nahte. »Schlaf jetzt«, bot Shayleigh an. »Ich werde später meine Andacht halten.« Danica warf Shayleigh einen langen Blick zu, bevor sie zustimmte, denn sie war wie stets davon fasziniert, daß die Elfenfrau ihre »Andacht« erwähnte. Elfen schliefen nicht, jedenfalls nicht so, wie Menschen dieses Wort verstanden. Ihre Andacht war ein meditativer Zustand, scheinbar so erholsam wie echter Schlaf. Danica hatte Shayleigh schon mehrmals dazu befragt und hatte es während ihres Aufenthalts bei den Elfen im Wald von Shilmista oft miterlebt, aber obwohl die Elfen aus ihrem Brauch kein Geheimnis machten, kam er der Adeptin noch immer seltsam vor. Danicas Training erforderte stundenlange tiefe Meditation, und obwohl diese tatsächlich erholsam war, kam sie nicht annähernd der Andacht der Elfen gleich. Eines Tages, beschloß Danica, würde sie dieses Geheimnis enträtseln und wie ein Elf Ruhe finden. »Müssen wir Wache halten?« fragte sie. Shayleigh sah sich zwischen den dunklen Bäumen um. Es war die erste Nacht, die sie wieder in den Schneeflocken bergen verbrachten, nachdem sie lange durch die offenen Felder jenseits von Carradoon Richtung Süden gezogen waren. »Vielleicht nicht«, erwiderte die Elfenfrau. Sie setzte sich ans Feuer und holte eine Decke aus ihrem Gepäck. »Aber schlafe leicht und lege deine Waffen dicht neben dich.« »Meine Waffen sind meine Hände«, erinnerte Danica sie grinsend. Auf der anderen Seite des Feuers blinzelte Dorigen unter
halbgeschlossenen Augenlidern hervor und bemühte sich, ihr Lächeln zu verbergen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben hatte die Zauberin das Gefühl, unter Freunden zu sein. Sie war heimlich hinausgegangen und hatte das Lager mit magischen Schutzrunen umgeben. Aber es war unnötig, Danica und Shayleigh davon zu erzählen, denn Dorigen hatte die Zauber so ausgelegt, daß weder die Adeptin noch die Elfenfrau die Fallen auslösen konnten. Mit diesem tröstlichen Gedanken gestattete Dorigen es sich, langsam in den Schlaf zu gleiten.
Einige Zeit vor Anbruch der Morgendämmerung erwachte Shayleigh aus ihrer Andacht. Der Wald ringsumher war noch dunkel. Die Elfenfrau hatte. das Gefühl, daß etwas nicht stimmte, deshalb erhob sie sich von ihrem Lager, schüttelte die Decke ab und griff zu ihrem Langbogen. Shayleighs scharfe Augen paßten sich schnell an die Nacht an. Gewaltige Berge erhoben sich als dunkle Silhouetten an allen Seiten, und alles wirkte ruhig, ganz so, wie es sein sollte. Dennoch kitzelten die feinen Härchen an Shayleighs Nacken. Einer ihrer Sinne zeigte ihr an, daß Gefahr bestand, und zwar ganz in der Nähe. Die Elfenfrau spähte angestrengt in die Schatten, neigte ihren Kopf in verschiedene Richtungen, um ein ungewöhnliches Geräusch auszumachen. Dann schnupperte sie und verzog angewidert die Nase. Trolle. Shayleigh kannte diesen fauligen Geruch; fast jeder, der in der Welt umherzog, war auf seinen Reisen mindestens einmal so einem verdammten Troll begegnet. »Danica«, rief sie leise. Sie wollte ihren Feinden nicht
zeigen, daß sie von ihrer Anwesenheit wußte. Die reaktionsschnelle junge Frau war sofort wach, machte aber keine plötzliche Bewegung. »Trolle«, flüsterte Shayleigh, »ganz in der Nähe.« Danica schaute zum Feuer, das inzwischen nur noch aus glühender Holzkohle bestand. Alles Holz war völlig verbrannt. Trolle haßten und fürchteten Feuer - sofern sie überhaupt etwas fürchteten. Danica rief leise nach Dorigen, aber die Zauberin rührte sich nicht. Als die Adeptin zu Shayleigh blickte, schob sich die Elfenfrau langsam um das Feuer, bis sie nahe genug war, um Dorigen mit ihrem Bogen anzustoßen. Dorigen knurrte und erwachte langsam, doch dann riß sie die Augen weit auf, als Danica aufschrie. Seitlich von ihnen gab es eine Explosion, denn eine von Dorigens Schutzrunen hatte ein Monster in lodernde, blaue Flammen getaucht. Drei weitere Trolle aber liefen an ihrem brennenden Genossen vorbei, ohne auf dessen schreckliches Schicksal zu achten, und stürmten auf die Lichtung. Ihre roten Augen leuchteten grausam, und ihr Gestank war für die drei Frauen nahezu überwältigend. Die langen, dünnen Gestalten der Ungeheuer überragten die Gruppe - einer war bestimmt an die elf Fuß groß -, und als sie in den Lichtschein kamen, zeigte ihre gummiartige Haut eine eitrig graugrüne Färbung. Shayleighs Bogen war sofort aktiv und sandte augenblicklich drei Pfeile auf den vordersten Troll aus. Bei jedem Treffer zuckte das Ungeheuer zusammen, rückte jedoch stur weiter vor, wobei seine Hände an den mageren Armen abstoßend in weiten, ausladenden Bewegungen herumschlenkerten. Die scheußlichen Bewegungen machten Shayleigh nicht
gerade Mut, denn die drei Finger an diesen Händen endeten in langen, scharfen Klauen, die leicht einem Bären das Fell vom Leibe reißen konnten. Ein vierter Pfeil traf den Troll mitten in die Brust, und Shayleigh sprang beiseite, weil sie es für besser hielt, dieses Wesen aus einiger Entfernung zu beschießen. Zwei Blitze, ein silberner und ein goldener, jagten an der Elfenfrau vorbei - Danica hatte ihre Dolche eingesetzt. Die Adeptin sprang hoch und warf sich über das Feuer, um ihren Waffen (die beide gutgezielt im nächsten Troll steckten) schnellstmöglich zu folgen. Sie schoß heran, sprang und drehte sich so, daß ihr hinterer Fuß herumschwang und den Troll fest in den Bauch traf. Das kränklich matschende Geräusch dieses Tritts ließ Danica zusammenfahren, doch sie wagte nicht zu zögern. Sie fuhr zu einem zweiten Tritt herum, dann fuhr sie senkrecht hoch und verpaßte dem zusammengekrümmten Troll zwei schnelle Boxhiebe gegen das Kinn. »Dorigen!« schrie sie, als sie sah, daß der dritte Troll sich auf die sitzende Zauberin stürzte. Soweit Danica wußte, hatte Dorigen keine Waffen und kaum Zauberkomponenten - noch nicht einmal ein anständiges Zauberbuch, in dem sie hätte lesen können. Da die Adeptin mit ihrem Gegner zu beschäftigt war und Shayleigh noch gegen den ersten Troll kämpfte, glaubte Danica ihre neue Gefährtin verloren, als der Troll nach der Frau in der Decke griff. Es gab ein helles Aufblitzen, und der Troll fiel zurück. Er hielt nur die Decke in der Hand. Diese stand plötzlich in hellen Flammen, verbrannte dem Ungeheuer die Arme und ließ es vor Schmerz aufschreien. Danica hatte keine Ahnung, woher Dorigen diesen Zauberspruch genommen hatte, aber jetzt hatte sie keine
Zeit, darüber nachzudenken. Der Troll schlug mehrmals nach ihr, und sie vollführte einen anmutigen Tanz, um seinen tödlichen Armen auszuweichen. Sie kam dicht heran, bis auf Reichweite ihres Gegners, weil sie vorhatte, sich nach hinten an ihm vorbeizuwinden und einige Treffer zu landen, bevor das riesige Wesen sich umdrehte, aber der Troll erwies sich als schneller und erfahrener, als sie gedacht hatte. Sie wurde beinahe ohnmächtig, als das Monster seinen schrecklichen Mund weit aufriß. Die langen, spitzen Zähne näherten sich Danicas Gesicht, bis sie nur noch einen Fingerbreit entfernt waren - sie konnte den abstoßenden Atem des Wesens riechen! -, und der Troll hätte sie gehabt, wenn die unglaublich bewegliche junge Frau nicht ihren Fuß senkrecht nach oben direkt vor ihr Gesicht gerissen hätte, obwohl zwischen ihr und dem Troll kaum eine Handbreit Platz war. Ihr Tritt traf den Troll an der langen Nase und drückte ihm mit lautem, knirschendem Geräusch das Nasenbein nach oben ein. Sofort hatte Danica sich hingekauert, um den wild schlagenden Armen auszuweichen, und war unter der Achsel des Trolls hindurchgeschlüpft. Hinter ihm prügelte sie wutentbrannt mit einer ganzen Kaskade schwerer Schläge auf ihn ein. Shayleigh wich weiter zurück, während sie Pfeil um Pfeil auf den nachrückenden Troll abschoß. Sie wußte jedoch, daß dies nicht reichen würde, denn die ersten Wunden des Ungeheuers waren schon wieder am Verheilen. Trolle konnten sich regenerieren, denn ihre Gummihaut schloß sich wieder, und sie konnten eine unglaubliche Menge an Treffern einstecken, ehe sie tot umfielen. Nein, nicht tot, fiel Shayleigh zu ihrem Schrecken ein, denn selbst ein toter Troll, selbst ein Troll, der in kleine
Stücke zerhackt worden war, würde wieder als ganzer Körper zum Leben erwachen, wenn seine Wunden nicht vollständig ausgebrannt wurden. Dieser Gedanke lenkte den Blick der Elfenfrau zum Feuer, doch die Kohlen versprachen wenig Hilfe. Es würde eine Weile dauern, bis sie aus dieser Glut überhaupt wieder Flammen hervor locken konnte, und Shayleigh und ihre Begleiterinnen hatten überhaupt keine Zeit. Die Elfenfrau schaute zur Seite des Lagers, stellte aber fest, daß der Troll, der bei der Explosion (die Shayleigh immer noch nicht richtig verstand) verbrannt war, im Schnee lag. Das Feuer, das das Wesen vernichtet hatte, war fast völlig erloschen. Shayleigh murmelte einen elfischen Fluch. Ein neuer Pfeil bohrte sich in den Troll, diesmal hatte Shayleigh ihn ins Gesicht getroffen. Noch immer kam das sture Ungeheuer näher, und Shayleigh warf einen zweifelnden Blick auf ihren halbleeren Köcher. Inzwischen dachte sie daran, in den Wald zu laufen, um diesen Troll wegzulocken, aber ein Blick auf Danica sagte ihr, daß ihre Freundin ihr nicht würde folgen können. Der Troll, der erfolglos auf Dorigen losgegangen war, war jetzt hinter der Adeptin her, die er und sein grausiger Kamerad schnell umkreisten, um eine offene Flanke zu finden. Danica hatte Mühe, sich gegen die Angriffe aus allen Richtungen zur Wehr zu setzen, denn mit ihren langen Armen konnten die Trolle einfach um jede direkte Vertei digung herumgreifen. »Wo ist sie hin?« rief Danica Shayleigh zu. Sie bezog sich offenbar auf die vermißte Zauberin. Shayleigh seufzte hilflos und feuerte einen weiteren Pfeil auf den Troll ab, der sie verfolgte. Ja, wo war Dorigen, fragte sie sich, und sie vermutete, daß die Zauberin
beschlossen hatte, daß dies ein guter Zeitpunkt sei, um zu verschwinden. Danicas kräftiger Hieb traf einen Troll, der sich gerade bückte, mit einem scheußlich platschenden Geräusch seitlich am Kopf. Als sie die Hand zurückzog, bemerkte sie ein Stück Trollhaut an ihren Knöcheln, zusammen mit einigen Haarsträhnen des Wesens. Danica stöhnte vor Ekel auf, denn die Trollhaare wanden sich aus eigenem Antrieb. Sie verwandelte diesen Ekel in Zorn, und als der Troll wieder nach ihr schlagen wollte, kam sie näher und boxte mehrmals auf ihn ein. Dann ging sie klugerweise in die Knie und rollte sich schnell zur Seite, als der zweite Troll auf ihren Rücken zusprang. Beide Ungeheuer waren über ihr, als sie aufsprang und ihren Fuß hochschnellen ließ, um eine zupackende Hand zur Seite zu treten. »Sie heilen schneller, als ich sie verletzen kann!« schrie die erschöpfte Frau frustriert. Danicas Feststellung war nicht ganz richtig, wie Shayleigh herausfand, als ihr nächster Pfeil, der sechzehnte Schuß, ihren Troll zu Boden stürzen ließ. Sie sah ihren Köcher an, in dem nur noch vier Pfeile steckten, und seufzte wieder. Danica fuhr nach links, mußte wieder nach rechts zurückweichen und trat eilends zurück, als plötzlich beide Trolle vorstürmten. Ein schiefer Baumstamm hinter ihr, ein toter Baum, der gegen einen anderen Baum gekippt war, schnitt ihr den Weg ab. »Verdammt!« fauchte sie, sprang hoch und trat mit beiden Füßen zu, wodurch sie einen der Trolle zweimal traf und mehrere Schritte zurückwarf. Doch sie erkannte, daß der andere sie erwischen würde, und warf sich beim Herunterkommen zurück, um ihre lebenswichtigen Organe zu schützen.
Als der Troll zuschlagen wollte, traf ihn ein Pfeil seitlich in den Kopf. Die Überraschung bremste den Schwung des Ungeheuers, und obwohl der vorschwingende Arm Danica tatsächlich traf, lag wenig Kraft in dem Schlag. Danica drehte sich einmal um sich selbst, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, dann schoß sie vor. Ihr schneller Fuß traf ihren Gegner mehrere Male hintereinander. »Und wenn ich mit dir fertig bin«, rief sie trotzig, obwohl das Biest natürlich nicht verstehen konnte, was sie sagte, »dann jage ich eine gewisse feige Zauberin und bringe ihr bei, was Treue bedeutet!« In diesem Augenblick bemerkte Danica eine kleine Feuerkugel, die über dem Kopf des vordersten Trolls auftauchte. Bevor sie fragen konnte, explodierte die schwebende Kugel, und ein Schauer hungriger Flammen ging über dem Körper des Ungeheuers nieder. Der Troll kreischte vor Qual und schlug wild um sich, aber die Flammen ließen nicht von ihm ab und erloschen auch nicht. Danica tat gut daran, vor dem Inferno wegzu schlüpfen. Sie war klug genug, sich auf das zweite Ungeheuer zu konzentrieren, das um seinen brennenden Kameraden herumkam (wobei es einen weiten Bogen um den anderen Troll schlug), und sie empfing das Wesen mit einem weiteren Doppeltritt aus der Luft. Danica hatte die teuflische Idee, den Troll auf seinen brennenden Kameraden zuzutreiben, doch das schlaue Ungeheuer wollte davon nichts wissen. Auf den Tritt hin taumelte es zurück, dann kam es wieder vor und brachte dabei Danica gezielt zwischen sich und den brennenden Troll. Ein Pfeil bohrte sich in seine Seite; das Monster drehte Shayleigh seinen häßlichen Kopf zu.
Danica warf sich wieder auf den Troll, bevor dieser sich zurückdrehte, und das Monster geriet ins Taumeln und kippte. Danica war gleich wieder aufgesprungen, weil sie sich auf ihren Gegner stürzen wollte, hielt jedoch ruckartig inne, als sie sah, wie sich über dem niedergestreckten Troll eine weitere Flammenkugel in der Luft bildete. Einen Augenblick später kreischte auch dieser Troll vor Schmerzen, weil er von den grausamen magischen Flammen eingeschlossen wurde. Shayleigh hielt ihren nächsten Schuß zurück. Als sie seitlich eine Bewegung bemerkte, warf sie sich herum und feuerte - auf den Troll, den sie bereits erledigt hatte. Das Wesen sackte wieder in sich zusammen, zuckte und wand sich jedoch störrisch und wollte wieder aufstehen. Sofort war Danica über ihm und schlug wild drauflos. Shayleigh schloß sich ihr mit dem Schwert in der Hand an und trennte dem Troll mit mächtigen Hieben die Beine ab. Diese abgetrennten Glieder begannen augenblicklich zu zucken, weil sie sich wieder mit dem Rumpf verbinden wollten, aber Danica trat sie klugerweise auf die glühenden Überreste des Lagerfeuers zu. Sobald ein Bein die Holzkohle berührte, ging es in Flammen auf. Danica hob es am anderen Ende auf und benutzte es als groteske Fackel. Sie rannte über die Lichtung und stieß dem unverbrannten Troll das brennende Bein ins Gesicht, denn das erstaunliche Ungeheuer wehrte sich immer noch gegen Shayleighs wiederholte Schläge. Bald jedoch stand auch dieser Troll in Flammen, und die Schlacht war beendet. Jetzt kam Dorigen ins Lager zurück, um ihr Werk an den beiden in Flammen stehenden Trollen zu begutachten. Mittlerweile waren sie kaum mehr als verschrumpelte
schwarze Kugeln, und ihr Regenerationsprozeß wurde durch die Flammen der Zauberin gründlich unterbunden. Danica wagte es kaum, Dorigen anzusehen, denn sie schämte sich wegen ihrer anfänglichen Zweifel. »Ich dachte, du wärst weggelaufen«, gestand sie. Dorigen lächelte sie an. »Ich habe mir geschworen ... «, setzte Danica an. »Mich zu jagen und mir beizubringen, was Treue bedeutet«, brachte Dorigen ihren Satz leichthin und ohne Anklage in der Stimme zu Ende. »Aber, liebe Danica, weißt du denn nicht, daß ihr Freunde mir schon alles über Treue beigebracht habt?« Danica starrte die Zauberin durchdringend an. Sie fand, daß Dorigens Tapferkeit hier und die Tatsache, daß sie freiwillig dageblieben war und ihnen im Kampf beigestanden hatte, zu ihren Gunsten sprechen würde, sobald sie in die Bibliothek zurückkehrten. Wenn sie darüber nachdachte, war Danica eigentlich gar nicht so überrascht über Dorigens Heldenhaftigkeit. Die Zauberin war mit Herz und Seele übergelaufen, und obwohl Danica auch der Meinung war, daß Dorigen für ihre Taten zugunsten von Burg Trinitatis - dafür, daß sie geholfen hatte, Krieg gegen Shayleighs Volk zu führen - streng bestraft werden sollte, hoffte sie doch, daß die Strafe so ausfallen würde, daß Dorigen ihre beträchtlichen magischen Kräfte zum Besten der Region verwenden konnte. »Du hast uns wahrscheinlich das Leben gerettet«, bemerkte Shayleigh, wodurch sie Danicas Aufmerksamkeit auf sich zog. »Ich bedanke mich.« Diese Bemerkung schien Dorigen sehr zu freuen. »Es ist nur ein Bruchteil der Schuld, die ich gegenüber dir und deinem Volk auf mich geladen habe«, erwiderte die
Zauberin. Shayleigh nickte zustimmend. »Eine Schuld, die du gewiß voll bezahlen wirst«, sagte sie streng, aber mit erkennbarem Vertrauen. Danica war froh, dies zu hören. Shayleigh hatte sich Dorigen gegenüber nicht unbedingt kalt verhalten, aber sie war auch nicht freundlich gewesen. Danica wußte den inneren Aufruhr der Elfenkriegerin zu schätzen. Shayleigh war eine intelligente, aufmerksame Elfenfrau, die ihr Urteil am Handeln des einzelnen ausrichtete. Mehr als jeder andere ihres Clans hatte sie Ivan und Pikel als echte Freunde und Verbündete akzeptiert und sich nicht gestattet, daß die üblichen Elfenvorurteile gegen Zwerge ihr Urteil über sie verfälschten. Und jetzt war sie die einzige unter den Elfen von Shilmista, die diese neue Seite von Dorigen erlebt hatte, und war an einem Punkt angelangt, wo sie bereit war, vielleicht zu vergeben, wenn auch nicht zu vergessen. Diese Unterstützung wie auch die von König Elbereth (und Danica vertraute darauf, daß der Elfenkönig Shay leighs Urteil akzeptieren würde) konnte sich für Cadderlys bevorstehenden Kampf gegen Abt Thobicus als entschei dend erweisen. »Es dämmert schon fast«, meinte Dorigen. »Bei diesem Trollgestank in der Luft habe ich keinen Appetit auf Frühstück.« Danica und Shayleigh stimmten ihr von ganzem Herzen zu. Deshalb brachen sie ihr Lager ab und zogen früh los. Schon in drei Tagen würden sie die Erhebende Bibliothek erreichen.
Ein geladener Gast
Abt Thobicus war überrascht, am nächsten Morgen eine Decke vor dem einzigen Fenster seines Arbeitszimmers vorzufinden. Sie bewegte sich, als er näher kam, und er spürte den kalten Morgenwind. Daraufhin ging sein Blick zum Boden, wo unter der Decke zerbrochenes Fensterglas lag. »Was ist denn das für ein Quatsch?« fragte der mißmutige Abt, als er ein paar Scherben mit dem Fuß wegstieß. Er zog den Rand der Decke hoch und war wieder überrascht, denn es war nicht nur das Glas zerbrochen, sondern das Gitter war verschwunden, offenbar aus dem Mauerwerk gerissen. Thobicus fiel es schwer, ruhig zu bleiben, denn er befürchtete, daß Cadderly irgendwie hinter dieser Sache stecken könnte. Vielleicht war der junge Priester zurückgekehrt und hatte seine frisch gewonnene und unbestritten mächtige Magie an dem Gitter ausprobiert. Die Eisenstäbe waren neu gewesen; Abt Thobicus hatte sie bald nach Cadderlys Abmarsch in die Berge einsetzen lassen. Den anderen hatte der Abt erklärt, er wolle damit sicherstellen, daß keine Diebe - womöglich aus Burg Trinitatis - in dieser unruhigen Zeit in sein Arbeitszimmer einbrachen und mit Schlachtplänen verschwanden. Tatsächlich aber hatte Thobicus das Fenstergitter nicht einsetzen lassen, um jemanden auszusperren, sondern um zu verhindern, daß jemand hinausfiel. Als Cadderly den Abt mental beherrscht hatte, hatte der junge Priester seine Überlegenheit bewiesen, indem er gedroht hatte, Thobicus aus dem Fenster springen zu lassen. Thobicus wußte ohne jeden Zweifel, daß er dies auf den entsprechenden Befehl
hin auch getan hätte. Er hätte nicht die Macht gehabt zu widerstehen. Dieses Fenster nun aufgebrochen und ohne Absperrgitter zu sehen, ließ dem mageren Abt einen Schauer über den Rücken laufen. Er zog den improvisierten Vorhang wieder an seinen Platz zurück und drehte sich langsam um, als erwartete er, seinen Herausforderer im Arbeitszimmer stehen zu sehen. Statt dessen sah er Kierkan Rufo. »Was machst du ...«, setzte der Abt an, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als ihm einfiel, daß Rufo vor kurzem gestorben war. Und doch stand der Mann dort in seiner typischen schiefen Haltung! »Nicht!« befahl Rufo, als die Hand des Abtes Halt suchend nach der Decke griff. Rufo zeigte mit seiner eigenen knochigen Hand auf Thobicus, und der Abt fühlte Rufos Willen so greifbar wie eine Steinmauer, die ihn davon abhielt, die Decke anzufassen. »Ich ziehe die Dunkelheit vor«, erklärte der Vampir geheimnisvoll. Abt Thobicus kniff seine dunklen Augen zusammen, um den Mann genauer zu mustern. Er verstand noch nicht. »Du kannst hier nicht rein«, protestierte er. »Du trägst das Brandmal.« Rufo lachte ihn aus. »Das Brandmal?« wiederholte er skeptisch. Er griff nach oben und kratzte mit den Nägeln über die Stirn, riß sich die Haut auf und scheuerte die Zeichen des Deneir ab. »Du kannst hier nicht rein!« sagte Thobicus mit zunehmendem Entsetzen, weil er endlich begriff, daß etwas ganz und gar nicht stimmte, daß Kierkan Rufo zu etwas viel Gefährlicherem geworden war als einem bloßen Ausge
stoßenen. Ein Brandmal, wie Rufo es trug, war magisch, und wenn man es bedeckte oder veränderte, würde es nach innen brennen und den Ausgestoßenen foltern und schließlich umbringen. Rufo jedoch zeigte jetzt keinen Schmerz, nur Selbstsicherheit. »Du kannst hier nicht rein«, wiederholte Thobicus, dessen Stimme nur mehr ein Flüstern war. »O doch, ich kann«, gab Rufo mit einem breiten Lächeln zurück, das seine blutigen Eckzähne zeigte. »Du hast mich eingeladen.« Thobicus' Gedanken überschlugen sich vor Verwirrung. Er erinnerte sich, daß Rufo genau diese Worte im Augenblick seines Todes gesprochen hatte. Im Augenblick seines Todes! »Weiche!« verlangte Thobicus verzweifelt. »Hebe dich hinweg von diesem heiligen Ort!« Das Symbol des Deneir, das der Abt an einer Kette um den Hals trug, kam zum Vorschein, und Thobicus begann zu singen, während er es vor Rufo hielt. Rufo spürte ein Stechen in seinem stillstehenden Herzen, und das Glühen des Anhängers, der ein Eigenleben zu führen schien, tat seinen Augen weh. Aber nach dem ersten Schock spürte der Vampir etwas, eine Schwäche. Das hier war das Haus des Deneir, und Thobicus sollte das stärkste Mitglied seines Ordens sein. Gerade Thobicus hätte in der Lage sein müssen, Rufo zu vertreiben. Doch er konnte es nicht; Rufo wußte ganz sicher, daß er es nicht konnte. Der Abt beendete seinen Spruch und ließ eine Welle magischer Energie auf den Vampir zurollen, aber Rufo zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er starrte das hochgehaltene, heilige Symbol direkt an, das in seinen Augen nicht länger glühte.
»In deinem Herzen ist etwas Schwarzes, Abt Thobicus«, stellte Rufo fest. »Hebe dich hinweg!« antwortete Thobicus. »In deinen Worten liegt keine Überzeugung.« »Verruchtes Ungetüm!« knurrte Thobicus und näherte sich ihm kühn, wobei er die Hand mit dem heiligen Symbol vorstreckte. »Verruchtes, totes Wesen, du hast hier nichts verloren!« Der Vampir begann zu lachen. »Deneir wird dich zermalmen!« versprach Thobicus. »Ich werde ...« Er brach ab und grunzte vor Schmerz, als Rufo seine starke Hand vorschnellen ließ und ihn am Unterarm festhielt. »Du wirst was tun?« fragte der Vampir. Ein Ruck von Rufos Handgelenk ließ das heilige. Symbol aus Thobicus' schwacher Hand rutschen. »In deinen Worten liegt keine Überzeugung«, sagte Rufo wieder. »Und in deinem Herzen ist keine Kraft.« Rufo ließ den Arm los und ergriff den Abt vorn an seinem Gewand, um den dünnen Mann dann mit Leichtigkeit in die Luft zu heben. »Was hast du getan, gefallener Priester?« fragte der selbstsichere Vampir. Diese letzten zwei Worte hallten wie ein verdammender Fluch in den Gedanken des Abtes nach. Er wollte nach den Großmeistern schreien, wollte sich losreißen und zum Fenster laufen und die Decke wegziehen, denn sicher würde das Tageslicht diesem schrecklichen untoten Wesen nicht guttun. Aber Rufos Anschuldigungen stimmten - Thobicus wußte, daß sie stimmten! Rufo warf den Mann achtlos zu Boden und stellte sich dann zwischen ihn und das Fenster. Thobicus lag ganz still,
doch seine Gedanken schwirrten vor Verwirrung und Verzweiflung, bis sie in Selbstmitleid übergingen. Ja, was hatte er getan? Wie hatte er so schnell so tief sinken können? »Bitte«, sagte der Vampir, »steh doch auf und setz dich an deinen Tisch, damit wir in Ruhe bereden können, was geschehen ist.« Frühmorgens hatte Rufo noch in diesem Arbeitszimmer gesessen und geplant, Thobicus hier aufzulauern, um den Mann dann einfach zu zerreißen. Aber jetzt wurde der Vampir nicht mehr von Hunger getrieben er hatte letzte Nacht gut gespeist. Nein, Rufo war einzig und allein deshalb zu Abt Thobicus gekommen, um sich zu rächen. Er hatte beschlossen, gegen die gesamte Bibliothek vorzugehen, weil der Orden des Deneir ihm im Leben so übel mitgespielt hatte. Jetzt hatte der Vampir, der ohne sein Wissen von den Plänen des Chaosfluchs gelenkt wurde, anderes im Sinn. Während ihres Ringens hatte Rufo Abt Thobicus ins Herz geblickt, und dort hatte er einen bösartigen schwarzen Fleck entdeckt. »Hast du heute schon gegessen?« fragte Rufo zuvorkom mend, während er auf der Kante des Eichentisches Platz nahm. Thobicus, der immer noch etwas mitgenommen war, richtete sich trotzig auf und antwortete einfach: »Nein.« »Ich schon«, erklärte Rufo, der über diese Ironie grausam lachte. »Ich habe mich nämlich an dem gelabt, der dein Mahl zubereiten sollte.« Thobicus wandte sich angewidert ab. »Du solltest froh darüber sein!« fauchte Rufo ihn an und schlug auf den Tisch, wodurch er Thobicus zwang, überrascht aufzuspringen und sich ihm wieder zuzu
wenden. »Wenn ich nicht bereits gegessen hätte, hätte mich inzwischen längst der Hunger überwältigt, und du wärst tot!« sagte Rufo wild und fletschte die Zähne, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Abt Thobicus versuchte stillzusitzen, um zu verbergen, daß seine Hände unter der Schreibtischplatte an einer geladenen Armbrust herumfummelten, die er seit kurzem dort aufbewahrte. Die Waffe lag auf Gleitschienen, damit man sie im Notfall schnell und leicht herausziehen konnte. Die Schultern des Abts sackten etwas zusammen, als er an die Waffe dachte und erkannte, daß er die Armbrust nicht für einen Notfall - einen Gegner wie diesen - hier angebracht hatte, sondern für den Fall, daß Cadderly wieder zu ihm kommen und versuchen könnte, ihn zu beherrschen. Rufo war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und schien weder die vorsichtigen Bewegungen des Abts noch den Aufruhr zu bemerken, der in dem alten Mann herrschte. Der Vampir rutschte vom Tisch und trat in die Raummitte. Einer seiner knochigen Finger klopfte gedan kenverloren an seine Lippen, die vom Blut seiner Mahlzeit noch rot waren. Thobicus erkannte, daß er die Armbrust herausziehen und auf das Ungeheuer schießen sollte. Da sich der Abt in der Theologie gut auskannte, wußte er, was Rufo war, daß er irgendwie zum Vampir geworden war. Der Armbrustbolzen würde Rufo wahrscheinlich nicht umbringen, aber er war gesegnet und in Weihwasser getaucht worden, so daß er ihn zumindest verwunden würde. Dann konnte Thobicus möglicherweise aus dem Zimmer entkommen. Die Bibliothek erwachte bereits; es würden Verbündete in der Nähe sein.
Thobicus hielt seinen Schuß und seine Worte zurück, um dem Vampir den nächsten Zug zu überlassen. Rufo drehte sich plötzlich wieder zum Tisch um, und Thobicus hielt unwillkürlich die Luft an. »Wir sollten keine Feinde sein«, meinte der Vampir. Thobicus starrte ihn ungläubig an. »Was hätten wir schon von einem Kampf?« fragte Rufo. »Wir beide?« »Du warst schon immer ein Dummkopf, Kierkan Rufo«, wagte Thobicus zu sagen. »Ein Dummkopf?« spottete Rufo. »Du hast doch keine Ahnung, gefallener Priester.« Rufo warf den Kopf zurück und brach in Gelächter aus. Er fuhr herum, so daß seine schwarze Begräbnisrobe seiner Gestalt wie ein Schatten folgte. »Ich habe Macht gefunden!« »Du hast die Perversion gefunden!« erklärte Thobicus, der die Armbrust fest umklammerte, weil er glaubte, daß das zornige Ungeheuer sich nach dieser Bemerkung auf ihn werfen würde. Rufo blieb stehen und sah den Abt an. »Nenn es, wie du willst! Aber du kannst meine Macht nicht bestreiten Macht, die binnen Stunden gewonnen wurde. Du hast dein ganzes Leben mit Studien vergeudet, sage ich, mit Gebeten zu Deneir.« Unwillkürlich warf Thobicus einen Blick auf sein heiliges Symbol, das an der Wand auf dem Boden lag. »Deneir«, sagte Rufo verächtlich. »Was hat dein Gott dir gegeben? Du schuftest dich endlose Jahre ab, und dann kommt Cadderly ... « Thobicus zuckte zusammen, und Rufo entging diese Bewegung nicht. »Dann kommt Cadderly«, fuhr der Vampir fort, der die
Schwäche richtig erkannt hatte, »greift zu und erlangt Formen der Macht, die dir auf ewig verschlossen bleiben werden!« »Du lügst!« brüllte Thobicus, der sich nach vorn warf. Seine Worte klangen sogar in seinen eigenen Ohren leer. Da ging die Tür auf, und als Thobicus und Rufo sich umdrehten, sahen sie Bron Turman eintreten. Der OghmaPriester schaute vom Abt zu Rufo und riß die Augen auf, als auch er den Vampir als das erkannte, was er war. Rufo zischte, zeigte seine blutigen Eckzähne und winkte heftig, um die Tür hinter Turman magisch zuzuschlagen. Bron Turman hatte ohnehin nicht vorgehabt davonzu rennen. Mit entschlossenem Knurren griff der OghmaPriester an seinen Anhänger und riß sich die Kette vom Hals, um das Abbild der silbernen Schriftrolle vor sich zu halten. Es blitzte auf und strahlte in kraftvollem Licht. Zur Überraschung von Abt Thobicus wich der Vampir zurück, duckte sich hinter seine Robe und zischte. Turman sprach Worte, die denen von Thobicus ganz ähnlich waren, und sein heiliges Symbol loderte noch heller auf, erfüllte den Raum mit einem für Rufo unerträglichen Glanz. Der Vampir wich bis an die Wand zurück, wollte zum Fenster, erkannte dann aber, daß er dort nicht verschwinden konnte - ins Licht der teuflischen Sonne. Turman hatte ihn, stellte Thobicus fest, und Rufo erschien ihm jetzt geradezu mitleiderregend schwach. Ohne es überhaupt zu bemerken, hatte Thobicus die Armbrust auf den Tisch gelegt. Rufo begann sich zu wehren, bemühte sich, aufrecht zu stehen. Schwärze drang aus seinem Körper und erfüllte diesen Teil des Raums. Bron Turman knurrte und hielt sein Symbol vor sich,
dessen Glühen die Finsternis des Vampirs angriff. Rufo zischte böse, als er seine geballten, knochigen Fäuste in die Luft riß. »Schieß endlich!« beschwor Bron Turman den Abt. Das Ringen zwischen den beiden war ein Patt, das der Armbrustbolzen entscheiden konnte. Thobicus nahm die Waffe und legte an. Er wollte den Abzug drücken, zögerte aber, weil eine Mauer des Zweifels sich vor ihm auftürmte. Warum hatte sein eigenes Symbol den Vampir vorhin nicht so angegriffen? fragte er sich. Hatte Deneir ihn im Stich gelassen, oder blockierte Cadderly immer noch seine Bemühungen, im Licht seines Gottes zu schwelgen? Wie Wogen rollten die Zweifel durch die Gedanken des Abts, schwarze Gedanken, die durch die fortwährenden subtilen Einflüsterungen des Vampirs noch schwärzer wurden. Rufo war immer noch da, erzwang und beschwor Zweifel. Wo war Deneir? Dieser Gedanke peinigte den alten Abt. Im Augenblick seiner größten Not war sein Gott nicht da gewesen. In dem einzigen Augenblick seines Lebens, als er Deneir wirklich gebraucht hatte, hatte sein Gott ihn im Stich gelassen! Und dort stand Bron Turman aufrecht und zuversichtlich und hielt den Vampir mit der Macht Oghmas in seiner starken Hand in Schach. Thobicus schnaubte und hob wieder die Armbrust an. Rufo stand hoch aufgerichtet da, hielt sich gegen einen Mann, der ihn leicht hätte besiegen können, als er noch ein Jünger des Deneir war, obwohl auch Rufo jahrelang studiert hatte. Jetzt, drei Tage nach seinem Tod, war Rufo dem Oghma
Priester gewachsen. Thobicus schüttelte den Kopf in dem Versuch, seine wachsende Verwirrung zu durchdringen. Er durchstieß das eine Lügengewebe, nur um ein anderes vorzufinden und festzustellen, daß jenes, welches er gerade verlassen hatte, sich schnell hinter ihm schloß. Wo war Deneir? Warum war Cadderly so verdammt mächtig? Wo blieb die Gerechtigkeit, der Lohn für seine eigenen, langen Jahre des Lernens? So viele Jahre ... Thobicus kam wieder in die Gegenwart zurück, konzentrierte sich, beruhigte seine zitternden Hände und schärfte seinen Blick. Sein Schuß saß perfekt. Bron Turman zuckte zusammen und warf einen ungläubigen Blick zum Tisch. Der Zugriff des OghmaPriesters wurde bald schwächer, und Rufo trat vor, schlug Turman beiläufig das heilige Symbol aus der Hand und fiel dann über ihn her. Kurz darauf wandte sich der Vampir, dessen Gesicht von frischem Blut glänzte, zum Tisch zurück. »Was hat Deneir dir je gegeben?« fragte er den fassungslosen Thobicus. Der alte Abt stand da, als wäre er selbst ein Untoter. Sein runzliges Gesicht war ungläubig erstarrt, als er den toten Oghma-Priester sah. »Er hat dich im Stich gelassen«, schnurrte Rufo, der die sichtlichen Zweifel des Abts gegen ihn ausspielte. »Deneir hat dich im Stich gelassen, aber das werde ich nicht tun! Ich kann dir so viel geben.« Wie betäubt nahm Thobicus wahr, daß der Vampir neben ihm stand. Rufo flüsterte weiter Beteuerungen, versprach unglaubliche Macht und ewiges Leben, versprach Rettung vor dem Tod. Thobicus konnte ihm nicht widerstehen. Der alte Abt fühlte ein Stechen, als die Vampirzähne sich in
seinen Hals gruben. Erst da erkannte er, wie tief er tatsächlich gesunken war. Er erkannte, daß Rufo in seine Gedanken eingedrungen war, die Zweifel genährt und ihn schweigend gedrängt hatte, die Armbrust auf den mächtigen Oghma-Priester abzufeuern. Und er hatte mitgespielt. Zweifel erfüllten den Abt, aber sie betrafen nicht länger das Versagen Deneirs. Hatte Deneir ihn wirklich verlassen, als dieser versucht hatte, sein heiliges Symbol gegen Rufo einzusetzen, oder hatte Thobicus Deneir vor langer Zeit verlassen? Cadderly hatte ihn beherrscht und behauptet, daß diese Macht dem Willen Deneirs entsprach. Und nun Rufo. Thobicus schob den Gedanken von sich, schob die Schuld von sich. So sei es, beschloß er. Er leugnete die Folgen und ließ sich auf die Versprechungen des Vampirs ein. So sei es.
Vom Glauben abgefallen
Fester Rumpol sah mißtrauisch zu. Er verstand die Wandlung nicht, die mit Abt Thobicus vorgegangen war. Als er das letzte Mal mit dem Abt gesprochen hatte, war der Mann besorgt - nein, von dem Gedanken besessen gewesen, daß Cadderly in die Bibliothek zurückkommen und dem Orden des Deneir das Herz herausreißen würde. Jetzt wirkte Thobicus geradezu großmütig. Er hatte heimlich die vier führenden Deneir-Priester, darunter drei Großmeister, zusammengerufen, und zwar zu einer angeblich »höchstwichtigen« Konferenz. Sie waren in einem kleinen Speisezimmer versammelt, das an den Hauptsaal und die Küche angrenzte, und saßen an einem Eichentisch, der bis auf riesige, leere Kelche, die vor den fünf Stühlen standen, leer war. »Lieber Banner«, flötete Thobicus, »geh doch in den Keller und hole uns einen guten Wein, nämlich eine bestimmte, rote Flasche aus dem dritten Regal.« »Eine Flasche Rotwein?« fragte Banner, der das Gesicht verzog. Banner bevorzugte Weißweine. »Eine rote Flasche«, stellte Thobicus richtig. Er drehte sich augenzwinkernd zu Rumpol um. »Magisch aufbewahrt, weißt du. Die einzige Möglichkeit, Mondwein zu erhalten.« »Mondwein?« fragten Rumpol und die anderen einstim mig. Mondwein war ein elfisches Getränk, eine Mischung aus Honig, Blüten und Mondstrahlen, hieß es. Er war selten, selbst bei den Elfen, und es war beinahe unmöglich, eine Flasche davon zu erhalten. »Ein Geschenk von König Galladel, als er noch über Shilmista herrschte«, erklärte Thobicus. »Geh und hole ihn.«
Banner sah zu Rumpol, denn er erkannte sehr richtig, daß der Mann kurz vor dem Explodieren war. Rumpol kochte tatsächlich. Er befürchtete, daß Thobicus irgendwie von Cadderlys Ableben erfahren hatte, und wenn das der Anlaß zu dieser Feier war, dann war der Abt eindeutig zu weit gegangen! Banner wartete noch einen Moment, ehe er vorsichtig zum Gehen aufbrach. »Warte!« platzte Rumpol heraus, und alle anderen wandten sich ihm zu. »Deine Stimmung hat sich aufgehellt, Abt Thobicus«, sagte Rumpol. »Gewaltig. Dürfen wir erfahren, wie es dazu gekommen ist?« »Ich habe heute morgen Kontakt mit Deneir gehabt«, log Thobicus. »Cadderly ist tot«, schloß Rumpol daraus, und die anderen drei Deneir-Priester warfen sofort verstimmte Blicke auf den Abt. Nicht einmal diejenigen, die Cadderly und seinen ungewöhnlichen Aufstieg innerhalb der Rangordnung mißbilligten, würden eine solche Tragödie feiern - jedenfalls nicht öffentlich. Thobicus machte ein entsetztes Gesicht. »Aber nein«, erwiderte er nachdrücklich. »Nach allem, was ich weiß, ist der kluge junge Priester im Moment auf seinem Rückweg in die Bibliothek.« Kluger junger Priester? Da diese Worte von Abt Thobicus kamen, klangen sie für Fester Rumpol wahrlich hohl. »Warum feiern wir dann?« fragte Banner offen. Thobicus stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich hatte gehofft, wir könnten mit Mondwein darauf anstoßen«, murrte er. »Aber schön, ich verstehe eure Ungeduld. Kurz gesagt, es wird keine zweite Zeit der Unruhen geben.«
Die anderen seufzten erleichtert auf oder murmelten in sich hinein. »Und ich habe auch viel über Cadderly erfahren«, fuhr Thobicus fort. »Der Orden wird überleben - ja, er wird sogar stärker werden, wenn Cadderly zurück ist, wenn er und ich gemeinsam daran arbeiten, die Regeln der Bibliothek zu verbessern.« »Ihr könnt euch gegenseitig nicht ausstehen«, bemerkte Rumpol, der sich etwas nervös umschaute. Er hatte seine Meinung eigentlich nicht so offen sagen wollen. Thobicus jedoch lachte nur leise und schien sich nicht an den Worten zu stören. »In Deneirs Augen erscheinen unsere Meinungsverschiedenheiten einfach lächerlich«, gab der Abt zurück. Er sah sich mit ansteckendem, heiterem Lächeln um. »Und deshalb haben wir viel zu feiern!« verkündete er und nickte Banner zu, der nun mit echter Begeisterung zum Weinkeller eilte. Das Gespräch ging in leichtem, hoffnungsvollem Ton weiter, wobei Thobicus besonders auf Rumpol achtete, von dem er im Zweifelsfall die meisten Schwierigkeiten erwar tete. Zwanzig Minuten später war Banner immer noch nicht zurück. »Er kann die Flasche nicht finden«, bemerkte Thobicus, um jeder bösen Vorahnung zuvorzukommen. »Der gute Banner. Wahrscheinlich hat er seine Fackel fallen lassen und stolpert jetzt im Dunkeln herum.« »Banner hat die Macht, Licht zu rufen«, meinte Rumpol, in dessen Stimme immer noch leichter Argwohn mitschwang. »Wo steckt er dann?« fragte Thobicus. »Die Flasche ist gefärbt und sollte auf dem fünften Regal leicht zu finden sein.«
»Du hast gesagt, auf dem dritten Regal«, warf einer der anderen rasch ein. Thobicus starrte ihn an und kratzte sich dann am Kopf. »Wirklich?« flüsterte er. Dann stützte er mit dramatischer Geste sein Gesicht in seine Hand. »Natürlich«, murmelte er. »Der Mondwein war auf dem dritten Regal bis ... bis zu dem Zwischenfall.« Alle wußten, daß der Abt auf die finstere Zeit des Chaosfluchs anspielte, die Zeit, als der böse Priester Barjin in die Bibliothek eingedrungen war und versucht hatte, sie von innen her zu zerstören. »Es gab einigen Ärger da unten im Weinkeller«, fuhr Thobicus fort. »Wenn ich mich recht erinnere, sind sogar ein paar von den befallenen Priestern nach unten gegangen und haben ... na, sagen wir, im Übermaß getrunken.« Rumpol wandte den Blick ab, denn er war einer dieser Säufer gewesen. »Zum Glück hat der Mondwein es überstanden, aber ich weiß jetzt wieder, daß er danach ins fünfte Regal kam, weil das am stabilsten ist«, endete Thobicus. Er zeigte auf einen der anderen. »Geh doch bitte und hilf unserm guten Banner«, bat er ihn, »bevor er wieder hochkommt und Cyric persönlich auf mich hetzt!« Der Priester lief zur Tür, und das Gespräch wurde zwanglos wieder aufgenommen. Fünfzehn Minuten später war es Rumpol, der feststellte, daß die zwei Weinsucher längst überfällig waren. »Wenn einer von den einfachen Priestern diese Flasche gestohlen hat, ist es aus mit meiner guten Laune«, warnte Thobicus. »Es gab doch eine Inventur im Weinkeller«, sagte Rumpol. »Eine Liste habe ich gesehen, aber von Mondwein stand da bestimmt nichts«, fügte der andere hinzu, der fröhlich
lachte. »Und an einen solchen Schatz würde ich mich sehr gut erinnern, kann ich euch versichern!« »Natürlich steht etwas anderes auf dem Etikett«, erklärte Thobicus. Dann nickte er, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, das eigentlich sonnenklar war. »Wenn der gute Banner beschlossen hat, den Wein vor dem Hochkommen zu probieren, dann finden wir unsere zwei vermißten Brüder wahrscheinlich benebelt im Keller vor!« wetterte der Abt. »Mondwein hat auf seine Weise eine stärkere Wirkung als Zwergenbier!« Er stand auf, und die beiden anderen schlossen sich ihm sogleich an. Sie waren guter Laune, da alle Ängste oder Verdachtsmomente von der logischen Folgerung des Abtes erstickt worden waren. Als sie zur Kellertür kamen, nahm Thobicus eine kleine Lampe aus einem Seitenschrank und zündete sie an. Dann schritt er vor den anderen her auf der Holztreppe in die Finsternis hinunter. Sie hörten kein Schwatzen, kein trunkenes Gerede und wurden ein wenig nervös, als sie bemerkten, daß ihre Laterne offenbar die einzige Lichtquelle in dem feuchten, dunklen Weinkeller war. »Banner?« rief Rumpol leise. Thobicus stand schweigend daneben, doch der vierte Priester begann leise zu singen, weil er stärkeres, magisches Licht in den Raum bringen wollte. Dieser Priester zuckte plötzlich zusammen, was ihm die Aufmerksamkeit seiner beiden Begleiter einbrachte. »Ich fürchte, eine Spinne hat mich gebissen«, sagte er auf Rumpols fragenden Gesichtsausdruck hin, bevor er krampfartig zu zucken begann. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Ehe Rumpol ihn erreichen konnte, fiel er mit dem Gesicht
nach vorn auf den Boden. »Was ist das?« rief Rumpol, der den Kopf des gestürzten Priesters in seinen Schoß legte. Rumpol begann verzweifelt zu singen. Er stimmte einen Spruch an, der jedes Gift neutralisieren konnte. »Rumpol«, rief Thobicus, und obwohl der Priester seinen eiligen Zauber nicht unterbrach, sah er doch zum Abt hoch. Ihm versagte die Stimme, als er Kierkan Rufo erblickte. Das Gesicht des Vampirs war von frischem Blut verschmiert. Der Vampir streckte eine seiner bleichen Hände nach Rumpol aus. »Komm zu mir«, gebot er ihm. Rumpol spürte, wie ihn eine Welle zwingender Willenskraft überrollte. Er legte den Kopf des gefallenen Priesters wieder auf den Boden und stand auf, ohne sich seiner Bewegungen auch nur bewußt zu sein. »Komm zu mir«, sagte der Vampir lockend. »Schließ dich mir an, genau wie dein Abt. Komm zu mir und erfahre die Wahrheit.« Rumpol schob unwillkürlich seine Füße über den glatten Boden, trieb auf die Finsternis zu, die Kierkan Rufo ausstrahlte. Irgendwo in seinem Hinterkopf glühte jedoch das Bild eines offenen Auges über einer brennenden Kerze, das Symbol des Lichtes von Deneir, und das rüttelte ihn aus seine Trance. »Nein!« erklärte er und zog sein heiliges Symbol heraus, das er dem Untoten mit all seinem Mut entgegenstreckte. Rufo zischte und hob den Arm, um sich vor dem Schauspiel zu schützen. Abt Thobicus wandte sich beschämt ab. Das Licht seiner Laterne verschwand mit ihm, als er hinter das nächste Regal trat, doch das Licht um Rumpol ließ nicht nach, denn es wurde von der Macht seines Symbols
gespeist, von dem Licht, das im Herzen des aufrichtigen Priesters wohnte. »Dummkopf!« verkündete der Vampir. »Glaubst du, du könntest dich gegen mich behaupten?« Fester Rumpol wankte nicht. Er war in das Licht seines Gottes gehüllt und benutzte seinen festen Glauben, um jeden Zweifel hinwegzufegen, den diese Schrecken hier säen mochten. »Ich trotze dir!« verkündete er. »Und bei der Macht von Deneir ... « Er brach plötzlich ab und wäre beinahe ohnmächtig geworden. Als er hinter sich blickte, sah er ein hunds gesichtiges Teufelchen, das ihn anstarrte und seinen spitzen Giftschwanz schwenkte - denselben Schwanz, der den anderen Priester zu Fall gebracht hatte und mit dem Druzil Rumpol gerade in die Niere gestochen hatte. Rumpol taumelte auf die Treppe zu und ging in die Knie, als Druzil ein zweites Mal zustach. Dann war er wieder auf den Beinen, doch die Welt versank bereits in Schwarz. Das letzte Bild, das er sah, war das von Kierkan Rufo, von Kierkan Rufos Eckzähnen, die auf seinen Hals zukamen. Als der Vampir fertig war, fand er Thobicus am fünften Regal stehen. Dort lag der Priester, den Thobicus Banner nachgeschickt hatte. Seine Brust war aufgerissen, und sein Herz lag neben ihm auf dem Boden. Banner jedoch saß überraschenderweise neben dem Regal - mit gesenktem Kopf, jedoch ausgesprochen lebendig. »Er ist meinem Ruf gefolgt«, erklärte Rufo dem verwirrten Abt beiläufig. »Und deshalb fand ich, ich könnte ihn behalten, denn er ist schwach.« Rufo schenkte dem Abt ein grausiges blutiges Lächeln. »Wie du.« Abt Thobicus hatte nicht die Kraft zu widersprechen. Er blickte erst den zerrissenen Priester an, dann den lebenden
Banner, und Banner tat ihm erheblich mehr leid.
Einige Stunden später hüpfte Druzil flatternd im heißen Dachgeschoß der Bibliothek herum und klatschte bei jeder Drehung glücklich in die Hände. Die Luft war warm, er war dabei, einen heiligen Ort zu entweihen, und unter ihm teilte Rufo mit Hilfe von Abt Thobicus weiterhin die Priester in kleine Gruppen auf, die er restlos vernichtete. Für das bösartige Teufelchen war das Leben plötzlich wunderbar. Druzil schlug mit den Flügeln und erhob sich auf eines der kurzen Balkenenden des Daches, damit er sein jüngstes Werk begutachten konnte. Das Teufelchen kannte alle Runen der Entweihung und hatte gerade direkt über der Hauptkapelle der Bibliothek seine Lieblingsrune vollendet (auch wenn diese Kapelle zwei Stockwerke tiefer lag). Thobicus hatte einen praktisch unbegrenzten Tintenvorrat zur Verfügung gestellt - rote, blaue, schwarze und sogar ein Gläschen in seltsamem Grüngelb (das Druzil am besten gefiel) -, und das Teufelchen wußte, daß jeder Strich, den er über die Bodenbretter zog, die dummen Priester in den Räumen unter ihm etwas weiter von ihren jeweiligen Göttern entfernte. An einer Stelle hielt Druzil inne, um sie dann mit wütendem Zischen zu umgehen. In einem Raum unter ihm sang jemand - dieser verfluchte Chaunticleer, wie Druzil feststellte. Chaunticleer sang zu Deneir und zu Oghma, erhob seine Stimme in reinen, klaren Tönen gegen die herankriechende Finsternis. Es tat Druzils Ohren weh. Er entfernte sich von dieser Stelle, und schon waren die Vibrationen von Chaunticleers
Stimme verschwunden. Bei allem, was in Druzils Sinnen ablief, vergaß das Teufelchen den singenden Priester schnell wieder. Da er nun wieder glücklich war, klatschte Druzil mehrmals in die Hände, bis sein zähnefletschendes Lächeln fast seine eigenen Ohren verschluckte. Als Rufo letzte Nacht im Mausoleum auf Druzil losgegangen war, hatte dieser nicht gewußt, was er zu erwarten hatte. Er hatte sogar überlegt, ob er alle seine magischen Fähigkeiten und sein ganzes Wissen einsetzen sollte, um ein Tor zu öffnen, das ihm den Rückzug auf die Unteren Ebenen gestattete, womit er Rufo und Tuanta Quiro Miancay endgültig verlassen hätte. Jetzt, nur einen halben Tag später, war Druzil begeistert, daß er diesen Weg nicht eingeschlagen hatte. Barjin war gescheitert, aber Rufo würde nicht scheitern, das wußte das Teufelchen. Die Erhebende Bibliothek würde fallen.
Seine zaghaften Schritte in den Weinkeller hinunter verrieten Thobicus' ungebrochene Angst vor Kierkan Rufo. Er konnte noch immer nicht zu seinen Entscheidungen stehen. Er konnte noch immer nicht glauben, daß er Bron Turman getötet hatte, der lange sein Freund und Verbündeter gewesen war. Er konnte noch immer nicht glauben, daß er so weit von den Lehren Deneirs abgewichen war, daß er die Arbeit seines gesamten Lebens weggewor fen hatte. Es gab nur ein Gegengift gegen die Schuldgefühle, die Abt Thobicus aufzufressen drohten. Zorn. Und Zentrum dieses Zorns war ein junger Priester, der wahrscheinlich bald in die Bibliothek zurückkehren würde.
Es war Cadderlys Schuld, befand Thobicus. Mit seiner Gier nach unangemessener Macht hatte Cadderly all dies verursacht. Thobicus trug weder Laterne noch Fackel, als er von der untersten Stufe der dunklen Treppe trat. Mit jeder Stunde, die verging, fühlte sich der Mann in der Finsternis wohler. Jetzt konnte er die Weinregale, ja sogar die einzelnen Flaschen sehen, obwohl er noch vor einer Woche an diesem lichtlosen Ort nicht einmal die Hand vor Augen gesehen hätte. Rufo nannte das einen weiteren Vorteil; der verängstigte Abt fragte sich, ob es eher ein Symptom war. Er fand Rufo in der hintersten Ecke hinter dem letzten Regal, wo er in einem Holzsarg schlief, den der Vampir aus dem Schuppen hinter dem Mausoleum geholt hatte. Thobicus ging auf Rufo zu, blieb dann aber abrupt stehen. Seine Augen weiteten sich vor Angst und Verwirrung. Bron Turman kam auf ihn zu. Als der verwirrte Abt sich zur Flucht wandte, stellte er fest, daß mehrere andere, einschließlich Fester Rumpol, ihm den Weg versperrten. Sie waren wieder lebendig geworden! Irgendwie waren diese Priester wieder auferstanden und waren zurückgekommen, um Thobicus zu vernichten! Der Abt japste und sprang auf das Weinregal zu, an dem er wie eine Spinne hochkletterte. So beweglich war der betagte, ausgedörrte Mann seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen. Er näherte sich dem obersten Brett, das er leicht hätte überklettern können, doch dann erklang ein Befehl in seinem Kopf, der ihn zum Anhalten zwang. Langsam drehte Thobicus den Kopf um und sah Kierkan Rufo, der sich mit breitem, groteskem Lächeln in seinem Sarg aufsetzte. »Mein neues Spielzeug gefällt dir nicht?« fragte der
Vampir. Thobicus verstand gar nichts. Er warf einen genaueren Blick auf den vordersten Mann, Fester Rumpol, und stellte fest, daß dessen Hals von Rufos gierigem Biß noch immer aufgerissen war. Der Mann konnte unmöglich noch atmen, stellte Thobicus fest. Er war immer noch tot. Thobicus sprang, ließ sich zehn Fuß tief fallen und landete mit katzenähnlicher Geschmeidigkeit auf dem Steinboden. Bron Turman, der dicht bei ihm stand, streckte steif einen Arm aus und hielt Thobicus fest. »Sag ihm, er soll dich loslassen«, erklärte Rufo unbeteiligt, doch seine geduldige Maske wich gleich einem abschätzenden, ja gefährlichen Gesichtsausdruck. »Bring ihn unter deine Kontrolle!« Ohne ein Wort zu sprechen, stählte Thobicus seinen Blick und befahl Turman, ihn loszulassen und der Abt war wirklich erleichtert, als der Mann ihn fahrenließ, zurücktrat und schweigend aus dem Weg ging. »Zombies«, flüsterte Thobicus, der begriff, daß Rufo aus den zerrissenen Körpern Untote gemacht hatte, gedankenlose Diener, die in der Hierarchie der Unterwelt auf einer der niedrigsten Stufen standen. »Wer sich unterwirft, wird eine intelligente Existenz führen, wie du es erfahren hast«, erklärte Rufo mit großspuriger Stimme. »Wer lieber für seinen Gott sterben will, soll ein hirnloser Diener werden, ein gedankenloser Zombie, und endlos leiden!« Wie auf Befehl tauchte Banner hinter der Ecke auf und lächelte Thobicus an. Banner hatte sich unterworfen, hatte angesichts von Kierkan Rufo seinen Gott verleugnet. »Sei gegrüßt, Thobicus.« Als Banner den Mund aufmachte, stellte Thobicus fest, daß er wie Rufo überlange Eckzähne
hatte. »Du bist ein Vampir«, flüsterte der Abt, womit er nur aussprach, was offensichtlich war. »Genau wie du«, erwiderte Banner. Thobicus warf einen skeptischen Blick auf Rufo. Danach folgte er einem plötzlichen Impuls und griff in seinen Mund, wo er seine eigenen Reißzähne fühlen konnte. »Wir sind beide Vampire«, fuhr Banner fort, »und mit Kierkan Rufo sind wir drei.« »Nicht ganz«, warf Rufo ein. Beide Männer sahen ihn neugierig an, Banner mit Argwohn in den Augen, Abt Thobicus zusätzlich voller Verwirrung. »Ihr seid noch nicht ganz im Reich der Vampire«, erklärte Rufo, und er wußte, daß er die Wahrheit sprach, obwohl er keine Ahnung hatte, woher er soviel Wissen über diesen untoten Zustand besaß. Wahrscheinlich war es Wissen, das ihm der Chaosfluch mitteilte. »Du hast mir, versprochen, ich würde ein Vampir werden«, sagte Banner. »Das war unsere Abmachung.« Rufo hob die Hand, um ihn zu beruhigen. »Und das sollst du auch«, versicherte er dem Mann. »Beizeiten.« »Du hast schon bald nach deinem Tod die volle Macht erlangt«, beschwerte sich Banner. Rufo lächelte und dachte an den Chaosfluch, der in ihm brodelte, den Trank, der solche Stärke und so viel Begreifen mit sich gebracht hatte. Aber ich hatte einen Vorteil, dummer Banner, dachte Rufo. Banner gegenüber wieder holte er nur sein Versprechen: »Beizeiten.« Rufo wandte sich dem verwirrten Thobicus zu. »Noch heute nacht wird es dich nach Blut dürsten«, erklärte er dem Abt, der ihn mit großen Augen anstarrte. »Und du wirst dir einen der einfachen Priester aussuchen, um zu
trinken. Das gewähre ich dir, aber sei gewarnt: Wenn du je etwas gegen mich im Schilde führst, werde ich dir deine Opfer verweigern. Es gibt keine größere Qual, als wenn dir Blut verweigert wird - du wirst es wissen, sobald dich der Hunger überfällt.« Abt Thobicus' Gedanken schwirrten bei dieser unerwar teten Neuigkeit. Er war zum Vampir geworden! »Noch heute nacht«, sagte Rufo wieder wie zur Antwort auf den lautlosen Ausruf des Abtes. »Und sei gewarnt, daß die Sonne ab morgen für immer dein Feind sein wird. Such dir einen dunklen Platz zum Schlafen, sobald du getrunken hast, Thobicus.« Der Atem des Abtes ging in kurzen Zügen, und als er das bemerkte, fragte er sich ernsthaft, ob dies der letzte Tag sein würde, an dem er überhaupt Luft holte. »Hast du getan, was ich dir aufgetragen habe?« fragte ihn Rufo. Thobicus sah zu dem Vampir auf, denn der unerwartete Themawechsel hatte ihn überrascht. Rasch hatte er seine Gedanken beieinander. »Die fünf Oghma-Priester sind auf dem Weg nach Carradoon«, antwortete Thobicus. »Sie wollten bis morgen warten und haben sich beklagt, daß ihnen nur eine oder zwei Stunden Tageslicht bleiben würden, bis sie anhalten müßten, um ihr Lager aufzuschlagen.« »Aber du hast sie überzeugt«, meinte Rufo. »Ich habe sie losgeschickt«, stellte Thobicus richtig, im trotzigsten Ton, den er dem Vampir gegenüber je angeschlagen hatte. »Aber ich sehe keinen Sinn darin, sie aus der Bibliothek fortziehen zu lassen. Wenn Druzil daran arbeitet ...« Ein scharfer Schmerz in seinem Kopf schnitt ihm das Wort
ab und warf ihn beinahe um. »Du zweifelst an mir?« fragte Rufo. Thobicus fand sich auf den Knien wieder. Er preßte die Hände an die Schläfen, denn er glaubte, sein Kopf müsse explodieren. Aber dann ließ der Schmerz so plötzlich nach, wie er begonnen hatte. Thobicus brauchte einen langen Moment, ehe er den Mut aufbrachte, Kierkan Rufo wieder anzusehen, und als er soweit war, stand der Vampir gelassen da, Banner ruhig neben sich. Aus einem Grund, den Thobicus nicht verstand, haßte er Banner in diesem Augenblick. »Die Oghma-Priester hätten die Entweihung spüren können«, erklärte Rufo. »Oder sie hätten bald erkannt, was aus dir geworden ist. Sie werden die Entweihung ganz begreifen, wenn sie in die Bibliothek zurückkehren, und dann werden sie sie begrüßen.« Thobicus dachte über diese Worte nach und zweifelte nicht mehr an Rufos Behauptung. Es waren nicht einmal mehr sechzig lebende Priester von Deneir und Oghma in der Bibliothek, dazu ganze sechs Besucher, von denen keiner mächtig genug war, sich gegen den Vampirmeister zu behaupten. »Ist die Priesterin der Sune auf ihrem Zimmer?« fragte Rufo plötzlich, womit er Thobicus aus seinen Überlegungen riß. Der Abt nickte, und Rufo nickte mit einem Blick auf Banner ebenfalls. Zwei Stunden später, nachdem die Sonne am Westhorizont gesunken war und überall dunkle Schatten vorherrschten, kam Kierkan Rufo aus der Vordertür der Erhebenden Bibliothek. Er hatte sich in sein schwarzes Gewand gehüllt, und das Teufelchen hockte auf seiner Schulter.
Auf einem hohen Ast eines nahen Baumes kauerte sich ein weißes Eichhörnchen ängstlich zusammen, während es den Weg des Vampirs mit mehr als nur flüchtiger Neugier verfolgte.
Lagerfeuer
Was siehst du?« fragte Danica Shayleigh, als sie an den Rand des Lagers trat, wo die Elfenfrau schweigend verharrte. Shayleigh streckte ihren schlanken Arm aus und zeigte auf ein flackerndes Licht weit unten auf den Bergpfaden. Danicas Herz schlug einen Augenblick lang schneller, weil sie glaubte, sie könnte einen ersten Blick auf die Erhebende Bibliothek erhaschen. »Ein Lagerfeuer«, erklärte Shayleigh, als sie die hoffnungsvolle Miene der Adeptin wahrnahm. »Eine Gruppe Boten oder Händler aus Carradoon auf dem Weg in die Bibliothek oder vielleicht eine Gruppe Priester auf dem Weg in die Stadt. Der Frühling ist da, darum ziehen die ersten Karawanen durch das Land.« »Und du hattest einen Frühling voller Kämpfe erwartet«, erinnerte Dorigen Shayleigh, als sie sich zu den beiden gesellte. Danica warf Dorigen einen neugierigen Blick zu, denn sie fragte sich, was die Frau sich davon erhoffte, daß sie Shayleigh an das Blutbad in Shilmista erinnerte - und an ihre damaligen Befürchtungen, daß bald eine Armee unter Dorigens Führung in den Wald zurückkehren würde. »Das hatte ich«, erwiderte Shayleigh sofort, wobei sie die Zauberin kühl ansah. »Wir wissen nicht, ob die Orks und anderen Ungeheuer, die wir in die Berge gejagt haben, nach Shilmista zurückkehren, sobald die Wege frei sind.« Sie erhoffte sich gar nichts, erkannte Danica. Dorigen akzeptierte einfach weiterhin ihre Schuld. Die Zauberin wich vor dem anklagenden Blick nicht
zurück. »Wenn es dazu kommt«, sagte sie und richtete sich hoch auf, »werde ich fordern, daß ich als Teil meiner Strafe in diesem Krieg der auf Seite der Elfen kämpfen darf.« Gut gesagt, fand Danica. »Wenn die Elfen dich haben wollen«, warf die Adeptin schnell ein, um Shayleighs Aufmerksamkeit auf ihr entwaffnendes Lächeln zu lenken, bevor die mißtrauische Elfenfrau etwas erwidern konnte. »Wir wären dumm, dieses Angebot abzulehnen«, antwortete Shayleigh. Sie sah wieder in die stille Nacht zu dem fernen Flackern hin. »Wahrscheinlich werden sich die Orks der Hilfe von Trollen versichern.« Auf ihre Weise hatte die Elfenfrau gerade zum ersten Mal der Entscheidung zugestimmt, Dorigen in die Bibliothek zurückzubringen und statt einer Bestrafung ein ermutigendes Urteil zu fordern. Seit die Zauberin sich in Burg Trinitatis ergeben hatte, hatte Shayleigh nichts gegen sie unternommen, sich jedoch auch nicht mit ihr angefreundet. Shilmista war schließlich die Heimat der Elfenfrau, und Dorigen war in hohem Maße an der Verwüstung der nördlichen Bereiche des Waldes beteiligt gewesen. Hinter Shayleighs Rücken nickten sich Danica und Dorigen hoffnungsvoll zu. Wenn König Elbereth und die Elfen Dorigen ihre Verbrechen vergeben konnten, dann würde die Anklage der Bibliothek geradezu vernachlässigbar sein. »Wenn es noch nicht so spät wäre, würde ich vorschlagen, daß wir zu diesem Licht hinuntersteigen«, meinte Danica. »Ich könnte etwas Gutes zu essen und vielleicht auch einen Schluck Wein vertragen.« »Mir würde Bier reichen«, sagte Dorigen, worauf Shayleigh prompt herumfuhr und die Zauberin verdrießlich anschaute.
»Wein«, meinte auch die Elfenfrau, und Dorigen und Danica kam es so vor, als ob die ganze Atmosphäre im Lager sich plötzlich verändert hätte. Sie war leichter geworden, als hätte Shayleigh sich mit Dorigens Vergangenheit arrangiert, betrachtete sie jetzt als echte Verbündete. Danica und Dorigen legten sich schlafen, beruhigt von dem Wissen, daß die aufmerksame Elfenfrau über sie wachte. Shayleigh blieb, wo sie war, und beobachtete das Flackern des fernen Lagerfeuers. Ihre zweite Vermutung war richtig gewesen: Eine Gruppe Priester war auf dem Weg nach Carradoon - eine Gruppe Oghma-Priester, die Abt Thobicus losgeschickt hatte. Wie Danica wünschte sich Shayleigh, daß es noch nicht so spät wäre. Dann hätten sie die paar Meilen zu der Gruppe hinuntermarschieren können. Kierkan Rufo, der sich dem flackernden Feuer auf einem anderen Weg näherte, hätte das für eine angenehme Überraschung gehalten.
Er träumte von hohen Türmen, die sich dreihundert Fuß in die Luft reckten. Er träumte davon, daß ganz Carradoon und alle Elfen von Shilmista sich vor der Kathedrale versammelt hatten, dort beteten und sich von den gewaltigen, kunstvoll gestalteten Fenstern und Mauern inspirieren ließen. Das Hauptschiff machte den einzelnen zum Zwerg, denn die gewölbte Decke erhob sich volle hundert Fuß über den Steinboden. Es gab Säulengänge, von Statuen gesäumt, welche verdiente Priester von Deneir und Oghma darstellten. Avery Schell war ebenso unter ihnen wie
Pertelope, für alle Zeiten standen sie da, und am Ende des Hauptgangs war ein leeres Podest, das auf die Statue dessen wartete, der diesen Tribut an Deneir begonnen hatte. Auf die Statue Cadderlys. Er träumte davon, einen Gottesdienst in dieser Kathedrale abzuhalten, bei dem Bruder Chaunticleer zu Ehren der göttlichen Brüder, Oghma und Deneir, seine begnadete Tenorstimme erhob. Dann sah Cadderly sich selbst im Gewand des Abtes der Bibliothek. Er leitete den Gottesdienst, während Danica stolz an seiner Seite saß. Er war hundert Jahre alt, gealtert, ausgelaugt und dem Tode nahe. Das erschreckende Bild rüttelte ihn aus dem Schlaf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den sternenübersäten Himmel. Schnell schloß er die Augen wieder und versuchte, diesen letzten, flüchtigen Eindruck zu bewahren, um zu erfahren, warum er so erschütternd war. Cadderly konnte nur hoffen, daß die neue Bibliothek erbaut sein würde, bevor er hundert Jahre alt war, selbst wenn schon diesen Sommer mit dem Bau begonnen würde und Ivan und Pikel tausend Zwerge zusammenbrächten, die bei der Arbeit halfen. Cadderly, der zutiefst von seinem Glauben erfüllt war, hatte gewiß keine Angst vor dem Tod. Warum war er dann aufgewacht, und warum stand kalter Schweiß auf seiner Stirn? Er blickte auf den Traum zurück, zwang das Bild zum Bleiben. Obwohl es deutlich vor ihm stand, brauchte er Zeit um festzustellen, was fehl am Platze war. Er war es, der alte Abt der Bibliothek. Er sah aus, als hätte er mindestens hundert Jahre hinter sich, aber Danica, die
neben ihm saß, wirkte nicht älter als jetzt, gerade Anfang Zwanzig. Cadderly ließ die unwirkliche Szene los und schaute die Sterne an, um sich daran zu erinnern, daß es nur ein Traum gewesen war. Das wilde Schnarchen der Felsenschulter Brüder - Ivans Schnauben und Pikels pfeifende Antwort beruhigte ihn einigermaßen und sagte ihm, daß alles war, wie es sein sollte. Dennoch vergingen viele Stunden, bis er wieder in den Schlaf fand, und das Bild eines alten, sterbenden Priesters, der einen Gottesdienst in der Kathedrale abhielt, begleitete ihn in seinen Träumen.
Als die dunkelsten Stunden der Nacht anbrachen, saßen zwei der fünf Oghma-Priester wach und unterhielten sich leise, während sie halbherzig die dunklen Bäume beobachteten, die das Lager umstanden. So weit im Süden der Berge befürchtete keiner aus der Gruppe wirklich Schwierigkeiten. Die Wege zwischen Carradoon und der Erhebenden Bibliothek wurden viel bereist, und die fünf waren mächtige Kleriker - nach Bron Turman die mächtigsten aus dem Oghma-Orden in der Bibliothek. Sie hatten im Umkreis des Lagers Schutzrunen gesetzt, die sie nicht nur auf Ungeheuer aufmerksam machen würden, sondern diese mit Blitzschlägen treffen und wahrscheinlich töten würden, bevor sie überhaupt auf die Lichtung traten. Deshalb waren diese zwei Oghma-Priester eher wach, um die Nacht zu genießen, als um das Lager zu bewachen, und ihre Augen ruhten häufiger aufeinander oder auf dem Feuer als auf den dunklen, bedrohlichen Bäumen. In diesen Bäumen saß Kierkan Rufo, der zusammen mit
Druzil die Bewegungen der Priester beobachtete und dem rhythmischen Schnarchen der anderen drei lauschte, die fest schliefen. Rufo nickte und begann langsam vorzurücken, aber Druzil, der immer noch in mancherlei Hinsicht der Erfahrenere war, prüfte die Umgebung des Lagers. Seine wissenden Augen suchten nach den entlarvenden Ausstrahlungen von Magie. Er stieß sich vom Boden ab und schlug mit den Flügeln, bis er unsanft auf Rufos Schulter landete. »Es ist geschützt«, flüsterte er dem Vampir ins Ohr. »Rundherum.« Rufo nickte wieder, als ob er das schon die ganze Zeit vermutet hätte. Mit einem plötzlichen Ruck warf er Druzil von seiner Schulter und hob seine schwarzen Roben hoch über sich in die Luft. Als der Stoff wieder heruntersank, schien Rufos Körper zu schmelzen. Als Fledermaus flatterte Rufo in die Baumkronen, dicht gefolgt von Druzil. »Haben sie auch daran gedacht, sich nach oben hin zu schützen?« fragte die Vampirfledermaus das Teufelchen mit so schriller Stimme, daß Druzil die Ohren weh taten, und obwohl Rufo laut gesprochen hatte, konnten die Männer auf dem Boden das Geräusch nicht einmal hören. Die beiden suchten sich einen Weg durch die Zweige. Rufo stellte fest, daß Druzil sich wie gewöhnlich unsichtbar gemacht hatte, aber der Vampir war angenehm überrascht, als er merkte, daß er den Umriß des Teufelchens immer noch vage erkannte. Ein weiterer Vorteil seines Daseins als Untoter. Einer von vielen, vielen Vorteilen. Einige Augenblicke später hing der Vampir kopfunter am niedrigsten Zweig über dem Lager, gerade mal fünfzehn Fuß über den Köpfen der beiden sitzenden Wachen. Rufo hatte sich eigentlich
gleich auf sie stürzen wollen, doch jetzt hielt er inne, denn er fragte sich, ob er ihrer Unterhaltung etwas Wichtiges entnehmen konnte. »Bron Turman wird überrascht sein, wenn wir ohne Ankündigung in Carradoon eintreffen«, sagte der eine gerade. »Selber schuld«, antwortete der andere. »Sein Rang gestattet ihm nicht, die Gebote von Oghma einfach neu zu schreiben, ohne die anderen Führer zu Rate zu ziehen.« Rufo war beeindruckt, was für ein einfallsreicher Lügner Abt Thobicus sein konnte. Durch all die seltsamen Vorgänge waren die Oghma-Priester in der Bibliothek alarmiert gewesen. Der Abt hatte nicht den Fehler gemacht, ihnen zu erzählen, daß alles in Ordnung sei, sondern er hatte ihren Argwohn erregt. »Wenn es wirklich das ist, was Bron Turman in Carradoon macht«, bemerkte der erste Priester mit reichlich Zweifel in der Stimme. Der andere nickte zustimmend. »Mich haben Abt Thobicus' Worte nicht überzeugt«, fuhr der erste fort. »Auch seine Beweggründe nicht. Er hat Angst vor Cadderlys Rückkehr - darin stimme ich mit Bron Turmans Einschätzung überein.« »Glaubst du, Abt Thobicus wollte alle Oghma-Anhänger aus der Bibliothek entfernen, damit wir uns nicht in seine Pläne mit seinem eigenen Orden einmischen?« fragte der andere, wozu der erste nur mit den Schultern zuckte. Rufo hätte bei der Ironie dieser Frage fast laut aufgequiekt. Wenn die beiden nur wüßten, auf welchen »Orden« sie da anspielten! Der Trick hatte geklappt, dessen war sich der Vampir jetzt sicher. Fast alle führenden Anhänger des Deneir waren tot
oder untot und unter seiner Kontrolle, und nun waren die Oghma-Priester gespalten und nicht mehr auf der Hut. Einer von ihnen gähnte ausgiebig, obwohl er eben noch hellwach gewirkt hatte. Der andere folgte seinem Beispiel, denn ihn überkam ein plötzlicher Impuls, sich hinzulegen und zu schlafen. »Die Nacht wird so lang«, meinte der erste, und ohne auch nur zu seiner Decke zu gehen, legte er sich auf den Boden und machte die Augen zu. Der andere Oghma-Priester fand dieses Verhalten irgendwie lächerlich, bis es ihm plötzlich verdächtig vorkam, daß sein Freund so schnell in den Schlaf gesunken war. Er kämpfte gegen diesen Zwang an, diese leise Versuchung in seinem Hinterkopf, daß Schlaf wirklich etwas Feines wäre. Er riß die Augen weit auf und schüttelte heftig den Kopf. Dann griff er sogar nach unten, hob einen Wasserschlauch hoch und goß sich die Flüssigkeit über das Gesicht. Als der Mann den Kopf zurückwarf, um sein Gesicht ein zweites Mal naß zu machen, hielt ihn der Anblick eines schwarzgekleideten Mannes auf, der fünfzehn Fuß über ihm auf einem Ast stand. Rufo ließ sich mit katzenartiger Geschmeidigkeit herunterfallen. Der Vampir ergriff den Mann am Kinn und hinten an den Haaren, als dieser den Mund zum Schrei aufriß, und zog so gewaltsam, daß der Kopf des Mannes sich mit einem scheußlichen Knacken auf den Schultern herumdrehte. Der Vampir stand hochaufgerichtet da und betrachtete die vier anderen, die alle schliefen. Er würde sie einen nach dem anderen wecken und ihnen Gelegenheit geben, an ihrem Gott zu zweifeln und vor ihm niederzuknien, vor
Tuanta Quiro Miancay.
Die Worte von Romus Scaladi
Lebt wohl«, sagte Shayleigh, als die drei Frauen früh am nächsten Morgen an eine Weggabelung kamen. Einer der Wege bog nach Süden zur Bibliothek ab. Der andere ging ungefähr in westlicher Richtung weiter. »König Elbereth wird sich freuen, alles zu hören, was ich ihm zu sagen habe.« »Alles?« fragte Dorigen, und die aufmerksame Elfen kriegerin wußte, daß die Zauberin auf sich selbst anspielte, auf die Tatsache, daß sie noch am Leben war und bereit, das Urteil für ihre Verbrechen anzunehmen. Shayleighs Lächeln reichte als Antwort für Dorigen aus. »Elbereth ist nicht rachsüchtig«, fügte Danica hoffnungsvoll hinzu. »König Elbereth«, stellte Dorigen rasch richtig. »Ich werde in der Bibliothek bleiben«, sagte sie zu Shayleigh, »wie auch immer das Urteil der Priester ausfällt, und dort auf Nachricht von deinem König warten.« »Ich werde mich freuen, dir einen gerechten Richtspruch zu überbringen«, erwiderte Shayleigh. Mit einem Nicken verschwand sie, eilte so anmutig und lautlos den Westweg entlang, daß sie den beiden Frauen fast wie ein Trugbild vorkam, das Wandbild eines Künstlers, die perfekte Verkörperung der Natur. Innerhalb von Sekunden war sie nicht mehr zu sehen, denn ihr graugrüner Mantel ließ ihre Gestalt mit den Schatten des Waldes verschmelzen, obwohl Danica und Dorigen nicht daran zweifelten, daß Shayleigh sie immer noch sehen konnte. »Ihre Bewegungen erstaunen mich immer wieder«, bemerkte Dorigen. »So leicht und anmutig, und doch kenne
ich keine Rasse, die den Elfen im Krieg an Ingrimm gleichkommt.« Danica hatte keinen Einwand. Während des Krieges in Shilmista hatte die Adeptin ihre ersten persönlichen Erfahrungen mit Elfen gesammelt, und ihr kam es so vor, als hätten all die Jahre ihres Bemühens um harmonische Bewegungen sie dem ähnlich gemacht, was Shayleighs Volk angeboren war. Danica wünschte, sie wäre als Elfenfrau geboren oder bei Elfen aufgewachsen. Dann wäre sie dem Geist von Großmeister Penpahg D'Ahns Schriften jedenfalls näher gewesen. Während sie immer noch den leeren Pfad hinunterblickte, stellte sie sich vor, sie würde nach Shilmista zurückkehren und mit Elbereths Volk arbeiten, ihm die Vision von Penpahg D'Ahn vermitteln. Sie stellte sich eine Lichtung voller Elfen vor, die den anmutigen Tanz des Kampfstils ihres Großmeisters vollzogen, und dieser Anblick ließ ihr Herz einen Sprung machen. Dann schob sie diese Idee von sich, denn sie erinnerte sich an das Wesen der Elfen, daran, was es ausmachte, ein Elf zu sein. Elfen waren ein ruhiges, lässiges Volk. Sie waren leicht abzulenken, und obwohl sie grimmig kämpften, waren sie von Natur aus spielerisch. Die Anmut ihrer Bewegungen war ihnen angeboren, nicht durch Übung erworben, und darin lag der Unterschied zu Danicas Leben. Seit sie ihrem Mentor folgte, war die junge Adeptin selten entspannt, sondern stets konzentriert. Selbst Shayleigh, die sich Danica bei Gefahr jederzeit an ihre Seite wünschen würde, konnte nicht lange bei einem Vorhaben bleiben. Während der Wochen in der Höhle, wo sie das Ende des Winters abgewartet hatten, hatte die Elfenfrau viele Stunden, ja ganze Tage, damit zugebracht, einfach dazusitzen, und den
Schnee zu betrachten. Dann war sie gelegentlich aufgestanden und hatte getanzt, als ob niemand anders da wäre, als ob nichts auf der Welt eine Rolle spielte, nur die fallenden Schneeflocken und die Bewegungen, derer Shayleigh sich kaum bewußt zu sein schien. Die Elfen konnten mit der rigorosen Disziplin von Penpahg D'Ahn nichts anfangen. Danica gab nicht vor, sie zu verstehen, nicht einmal Shayleigh, die ihr so lieb geworden war. Die Elfenfrau war treu wie Gold, das wußte sie, aber Danica konnte Shayleighs Beweggründe nicht annähernd nachvollziehen. Shayleigh sah die Welt aus einer Perspektive, die Danica nicht begreifen konnte, einer Perspektive, die Freundschaft in ein anderes Licht rückte. Danica zweifelte zwar nicht daran, daß Shayleigh sie liebte, aber sie wußte, daß die Elfenfrau wahrscheinlich noch viele Jahrhunderte heraufziehen sehen würde, wenn sie, Danica, längst alt geworden und gestorben war. Wie viele neue Menschenfreunde würde Shayleigh in diesen Jahrhunderten wohl gewinnen? Würde die Erinnerung an Danica die Prüfung einer so langen Zeitspanne überstehen, oder würde sie in Shayleighs künftigen Andachten nur einen flüchtigen Augenblick einnehmen? Schlicht gesagt, es war undenkbar, daß Danica Shayleigh je so wichtig werden könnte, wie Shayleigh es für Danica geworden war. Die junge Frau würde sich bis zu ihrem Tod lebhaft an die Elfenkriegerin erinnern. Danica dachte einen Moment lang über diesen Unterschied zwischen ihnen nach und entschied, daß sie den besseren Teil abbekommen hatte, das leidenschaftlichere Leben. Dennoch stellte sie fest, daß sie Shayleigh und ihre ganze Rasse beneidete. Die goldhaarige Elfenkriegerin besaß von Geburt an das, was Danica suchte: den Frieden und die
Anmut der wahren Harmonie. »Werden wir heute ankommen?« fragte Dorigen, und zum ersten Mal bemerkte Danica ein leichtes Zittern in der Stimme der entschlossenen Frau. »Heute«, bestätigte Danica, als sie den Südweg in Angriff nahm. Dorigen wartete einen Augenblick, denn sie mußte ihren ganzen Mut zusammennehmen. Sie wußte, daß sie das Richtige tat, daß sie der Bibliothek und den Elfen wenigstens dies schuldete. Dennoch fiel ihr der erste Schritt auf dem letzten Wegstück schwer - genau wie der zweite, der dritte und alle folgenden. Ein kleines Stück den Westweg hinunter beobachtete Shayleigh jede Bewegung. Sie zweifelte nicht an Dorigens Aufrichtigkeit. Sie wußte, daß die Zauberin es wirklich zu Ende bringen wollte, aber sie wußte auch, daß die Reise schwerer sein könnte, als Dorigen zugeben wollte. Es war gut möglich, daß Dorigen dem Tod entgegenging. Shayleigh hatte verstanden, daß die Zauberin irgendwann unterwegs gegen ihren Überlebensinstinkt ankämpfen mußte, die grundlegendste und mächtigste Kraft in jedem Menschen. Shayleigh wartete noch einen Augenblick länger, ehe sie leise in das Unterholz entlang des südlichen Wegs schlüpfte. Wenn Dorigen diesen Kampf verlor, würde sie bereitstehen. Zur Zeit zählte Shayleigh Dorigen zu ihren Freunden, aber die Elfenkriegerin konnte die Narben von Shilmista nicht vergessen. Falls Dorigen es nicht über sich bringen würde, sich dem rechtmäßigen Urteil der Sieger zu stellen, dann würde Shayleigh das Urteil von Shilmista ausführen ... in Form eines einzigen, gutgezielten Pfeils.
»Wo ist Bron Turman?« fragte einer der jüngeren Priester nervös. Er lehnte an einem niedrigen Geländer, das den Altar in einer der Kapellen im Erdgeschoß der Bibliothek umgab. »Und wo Abt Thobicus?« fragte ein anderer. Romus Scaladi, ein kleiner, dunkelhäutiger OghmaPriester, dessen Schultern fast so breit schienen, wie der Mann groß war, versuchte seine fünf Mitbrüder aus beiden Orden zu beruhigen, indem er beschwichtigend die Hände hob und »Schsch« sagte, als ob die Männer kleine Kinder wären. »Und bestimmt kommt Cadderly zurück«, sagte ein dritter Priester, der vor dem Altar kniete, voller Hoffnung. »Cadderly wird alles in Ordnung bringen.« Zwei der anderen jungen Priester, die einzigen DeneirAnhänger in dieser Gruppe, hatten Thobicus' Warnung bezüglich Cadderly gehört. Sie sahen einander achsel zuckend an, denn sie teilten die Angst, daß es in Wahrheit Cadderly sein könnte, der hinter all den seltsamen Vorgängen um sie herum steckte. Den ganzen Tag war keiner der Großmeister beider Orden gesehen worden, und sowohl Thobicus als auch Bron Turman waren schon zwei volle Tage vermißt. Zwar konnte es keiner aus dieser Gruppe bestätigen, aber es ging das Gerücht, daß heute morgen ein halbes Dutzend einfacher Priester tot in ihren Räumen aufgefunden worden war. Sie hatten friedlich unter ihren Betten gelegen! Der Priester, der ihnen diese erschreckende Nachricht über bracht hatte, war allerdings nicht die sicherste Quelle gewesen. Er war das neueste Mitglied des Oghma-Ordens, ein kleiner, schwacher Mann, dem schon beim ersten
Ringkampf das Schlüsselbein gebrochen war. Es war allgemein bekannt, daß dieser Mann nicht im Orden bleiben wollte, doch seine Bitten, in den Orden von Deneir aufgenommen zu werden, waren nicht gerade auf offene Ohren gestoßen. Als sie ihn deshalb heute früh mit seinen Siebensachen in einem Sack über der Schulter angetroffen hatten, die Augen nur noch auf den Ausgang gerichtet, waren die sechs nicht in Panik geraten. Dennoch war es nicht zu leugnen, daß die Bibliothek heute seltsam ruhig war - bis auf eine Ecke im ersten Stock, wo Bruder Chaunticleer sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte und zu seinen Göttern sang. Im Bereich der Großmeister rührte sich keine Menschenseele. Es war merkwürdig ruhig und dunkel, selbst für diesen ewig düsteren Ort, denn fast jedes Fenster war verbarrikadiert worden. Normalerweise beherbergte die Bibliothek an die achtzig Priester - bis zu der Tragödie mit dem Chaosfluch weit über hundert -, und dazu stets fünf bis dreißig Besucher. Die Gästeliste war jetzt kurz, da der Winter gerade erst nachließ, aber genauso kurz war die Liste der Priester, die nach Carradoon oder Shilmista gezogen waren. Wo waren sie also alle? Ein weiteres beunruhigendes Gefühl, das die sechs Priester nicht abschütteln konnten, war der unklare, aber sichere Eindruck, daß die Erhebende Bibliothek sich irgendwie verändert hatte, als wäre die Finsternis um sie herum mehr als nur äußerlich. Es war, als hätten Deneir und Oghma sich von diesem Ort zurückgezogen. Selbst das Mittagsritual, bei dem Bruder Chaunticleer in Anwesenheit aller Priester zu beiden Göttern sang, war seit zwei Tagen nicht mehr vollzogen worden. Romus war persönlich zum Zimmer des singenden Priesters gelaufen, weil er befürchtet
hatte, daß Chaunticleer krank sei. Er fand die Tür verschlossen vor, und erst nach minutenlangem, lautem Klopfen hatte Chaunticleer sich gemeldet und ihm gesagt, er solle wieder gehen. »Mir kommt es so vor, als hätte jemand eine Decke über mich geworfen«, meinte einer der Deneir-Priester, der Cadderly verdächtigte, wie Abt Thobicus es beabsichtigt hatte. »Eine Decke, die mich von Deneir trennt.« Der andere Deneir-Priester nickte beipflichtend, während die Oghma-Priester erst einander, dann Romus anschauten, der der stärkste Kleriker unter ihnen war. »Ich bin sicher, daß es eine einfache Antwort gibt«, sagte Romus so ruhig, wie er konnte, doch die anderen fünf wußten, daß er bezüglich der Götter die Einschätzung der Deneir-Anhänger teilte. Diese Bibliothek hatte immer zu den heiligsten Orten gezählt, an denen die Priester jedes guten Bekenntnisses die Nähe ihres Gottes oder ihrer Göttin gespürt hatten. Selbst die Druiden, die zu Besuch gekommen waren, hatten zu ihrem Erstaunen innerhalb dieses Gebäudes von Menschenhand eine Aura von Silvanus gefunden. Und was die Priester von Oghma und Deneir anging, so gab es vielleicht auf ganz Faerun keinen heiligeren Ort. Dies war ihr Tribut an die Götter, ein Ort der Kunst und des Lernens, ein Ort zum Studieren und Rezitieren. Der Ort von Chaunticleers Lied. »Laßt uns ringen!« schlug Romus Scaladi unvermittelt vor. Nach dem ersten Schreck begannen die Oghma-Priester zustimmend zu nicken, während die Deneir-Anhänger den untersetzten Scaladi wie vom Donner gerührt anstarrten. »Ringen?« fragte einer von ihnen. »Zu Ehren unseres Gottes!« antwortete Scaladi, der seine
schwarzgoldene Weste und sein feines, weißes Hemd auszog, woraufhin eine dichtbehaarte Brust voller Muskeln zum Vorschein kam. »Laßt uns ringen!« »Ooooh«, erklang eine sanfte Frauenstimme hinten aus der Kapelle. »Ich ringe doch so gern!« Die sechs Priester fuhren hoffnungsvoll herum, denn jeder von ihnen glaubte, Danica wäre endlich zurück, die Frau, die nicht nur gerne rang, sondern auch jeden Priester der Bibliothek besiegen konnte. Sie erblickten nicht Danica, sondern Histra, die verführerische Priesterin der Sune. Sie trug ihr übliches scharlachrotes Gewand, das vorn so tief ausgeschnitten war, daß man beinahe bis zum Nabel sehen konnte, und einen hüfthohen seitlichen Schlitz hatte, durch den sich die wohlgeformten Beine der Frau zeigten. Ihr langes, glänzendes Haar, das diese Woche beinahe weißblond gefärbt war, fiel ihr offen über die Schulter, und sie war stark geschminkt - noch nie hatten die Priester so knallrote Lippen gesehen! Ihr Parfüm, das sie ebenfalls großzügig angewendet hatte, wehte durch die Kapelle. Etwas stimmte nicht. Alle sechs Priester bemerkten es, obwohl keiner wußte, was es war. Unter Histras kräftiger Bemalung war ihre Haut totenblaß, genau wie das Bein, das unter ihrem Gewand zum Vorschein kam. Und das Parfüm hatte einen krankhaft süßen Duft, der nicht mehr verführerisch war. Romus Scaladi musterte die Frau eindringlich. Er hatte Histra oder ihre Göttin, Sune, deren einziges Gebot offenbar die körperlichen Freuden der Liebe waren, noch nie besonders gemocht. Angesichts der ewig lüsternen Histra hatten sich Scaladi schon immer die Nackenhaare gesträubt, was sie jetzt allerdings mehr als sonst taten.
Es war ungewöhnlich, daß Histra im Erdgeschoß auftauchte, das wußte Scaladi. Es war ungewöhnlich für die Frau, nicht in ihrem Zimmer beziehungsweise ihrem Bett zu sein. »Warum seid Ihr hier?« fragte der mißtrauische Priester, aber Histra schien keine Notiz von ihm zu nehmen. »Ich ringe doch so gern«, gurrte sie wieder voller Lüsternheit. Dann sperrte sie den Mund auf und lachte wild. Alle sechs Priester verstanden. Alle sechs nervösen Priester erkannten die Vampirzähne als das, was sie waren. Fünf von den sechs, darunter Scaladi und die beiden Deneir-Priester, griffen augenblicklich nach ihren heiligen Symbolen. Histra lachte weiter. »Ringt mit denen!« schrie sie, und mehrere zerrissene, faulende, steifbeinige Männer traten in den Raum - Männer, die die Priester kannten. »Du lieber Deneir«, murmelte einer der Priester ohne Hoffnung. Romus sprang vor und präsentierte ihnen kühn das Symbol des Oghma. »Weichet von diesem heiligen Ort, ihr verruchten, untoten Wesen!« rief er, und die schlurfenden Zombies hielten inne. Einige von ihnen drehten sich sogar um. Histra zischte die monströse Gruppe grausam an und zwang sie, weiter vorzurücken. »Ich widerstehe dir!« brüllte Romus Histra an, und es sah aus, als würde sie gleich hintenübersinken. Ein Zombie griff linkisch nach dem Oghma-Priester, der grollend mit seinem heiligen Symbol zuschlug und das Ungeheuer seitlich ins Gesicht traf. Beißender Rauch stieg von der Wunde auf, aber das Monster blieb bei ihm, während seine Kumpane
um Romus herumstapften, um auf die anderen loszugehen. »Ich kann sie nicht vertreiben!« rief einer der Priester hinter Romus. »Wo ist Deneir?« »Und wo ist Oghma?« schrie ein anderer. Ein steifer Arm traf Romus auf die Schulter. Der Priester steckte den Schlag mit einem Grunzen ein, legte eine Hand unter das Kinn des Zombies, bog dessen Kopf nach hinten und schlug ihm dann mit der Kante seines heiligen Symbols in die Kehle. Wieder stieg eine kleine Rauchwolke aus der Wunde auf, und das verwesende Fleisch des Zombies platzte bei dem Schlag des starken Mannes sofort auf. Aber Zombies brauchten keine Luft, so daß es keine gefährliche Wunde war. »Bekämpft sie!« schrie Romus Scaladi. »Schlagt sie nieder!« Um seine Worte zu bekräftigen, bedachte der kräftige Oghma-Anhänger den Zombie mit einem Hagel Schläge, bis er schließlich den untoten Körper über seinen Kopf hob und gegen eine Statue an der Wand warf. Der Oghma-Priester fuhr zu seinen Freunden herum und stellte fest, daß diese nicht kämpften, sondern mit entsetzten Mienen zurückwichen. Natürlich, erkannte Scaladi. Diese Untoten, denen sie jetzt gegenüberstanden, waren ihre Freunde gewesen! »Seht ihnen nicht ins Gesicht!« befahl er. »Sie gehören nicht zu unserem Orden. Sie sind bloß Werkzeuge, Waffen! Waffen von Histra!« endete Romus Scaladi, der zu der Vampirin herumwirbelte. »Diesmal stirbst du!« gelobte er und hielt ihr das Zeichen des Oghma entgegen. »Von meiner Hand.« Histra wollte mit Scaladi nichts zu tun haben. Wie Banner und Thobicus hatte sie noch nicht das volle Ausmaß ihrer Macht erreicht. Und selbst dann hätte sie es sich zweimal
überlegt, ehe sie sich Scaladi gestellt hätte, denn sie erkannte, daß dieser Mann fest zu seinem Glauben stand, daß sie sein Herz haben konnte, aber nicht seine Seele, denn er würde jeder Angst widerstehen - und Angst war die wohl stärkste Waffe eines Vampirs. Trotzig spuckte Histra auf Scaladis hochgehaltenes Symbol, doch der erkannte den Bluff als das, was er war. Wenn er sie erreichen und ihr das Symbol seines Gottes in ihre verfluchte Kehle stoßen konnte, würden die Zombies führerlos sein und wären leichter zu vertreiben. Unerwartet schoß Histra seitlich auf den Altar zu, tiefer in die Kapelle hinein, und plötzlich sah Scaladi zwei Zombies zwischen sich und der Vampirin stehen. Die anderen Priester kämpften jetzt. Die zwei DeneirAnhänger hatten Waffen in die Kapelle mitgenommen, gesegnete Streitkolben, und zwei andere waren zum Altar gesprungen, dem sie schlauerweise die Beine abbrachen, um diese als Keulen zu benutzen. Der letzte Oghma-Priester, der einzige, der nicht sein heiliges Symbol herausgezogen hatte, als Histra sich zu erkennen gab, stand an der Seitenwand und schüttelte in blankem Entsetzen den Kopf. Er war gefangen. Und wie sich sein Entsetzen steigerte, als Histra die Zombies beiseite stieß und ihm lächelnd ihre Eckzähne zeigte! Scaladi hatte mit seinen Zombies sofort alle Hände voll zu tun. Jetzt wußte er in seinem Herzen, daß die Bibliothek nicht länger die Heimat von Oghma oder Deneir war. Die Entweihung war schon fast vollendet. Draußen war ein bewölkter Tag, aber die Sonne blinzelte oft genug durch die Wolken, um ihr Verbündeter zu sein. »Kämpft euch aus der Kapelle!« befahl Scaladi. »Aus der Kapelle und aus der Bibliothek!« Er trat vor und drängte die
zwei Zombies rücklings an die Wand, um seinen Freunden einen Fluchtweg zu eröffnen. Gleich kamen die Deneir-Priester, die mit schweren Streitkolben die Zombies beiseite schlugen. Plötzlich schien der Weg für alle frei, und die Deneir-Priester schossen, gefolgt von Scaladi, zur Tür. Die keulenschwingenden Oghma-Priester eilten ihnen nach, doch einer von ihnen verfing sich bei dem Versuch, über die Altarbrüstung zu setzen, mit dem Fuß und fiel der Länge nach hin. Zombies fielen über ihn her. Sein Begleiter drehte sich um und kam ihm zur Hilfe. Scaladi war bereits an der Kapellentür, als er sich umsah und die Katastrophe bemerkte. Sein erster Impuls war, zurückzulaufen und neben seinen Mitbrüdern zu sterben, und er machte einen Schritt in diese Richtung. Aber die Priester des Deneir hielten ihn an den Schultern fest, und obwohl sie den starken Mann nicht hätten halten können, wenn er auf seinem Weg bestanden hätte, gab dieser Moment Scaladi die Zeit, die Dinge klarer zu sehen. »Du kannst ihnen nicht helfen!« schrie einer der DeneirAnhänger. »Wir müssen überleben und die Stadt warnen!« fügte der zweite hinzu. Scaladi taumelte aus der Kapelle. Die Zombiehorde zerriß die beiden Oghma-Priester. Schlimmer noch war das Schicksal des Priesters an der Wand, eines Mannes, der viele heimliche Nächte mit Histra verbracht hatte. Er war zu schuldbewußt, um der Vampirin jetzt zu widerstehen. In mattem Widerstand schüttelte er den Kopf, flüsterte, bettelte sie an fortzugehen. Sie lächelte und kam näher, und trotz seines Entsetzens bot der Mann ihr seinen Hals dar.
Die drei flüchtenden Priester hetzten die Gänge entlang, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die Vordertüren waren schon in Sicht. Eine von ihnen stand offen, durch sie fiel ein schwacher Sonnenstrahl in die Eingangshalle der Bibliothek. Einer der Deneir-Priester schrie auf und griff sich an den Hals. Dann fiel er vornüber auf die Steine. »Zur Tür!« schrie Scaladi, der den anderen mit sich zog. Der Deneir-Priester sah zu seinem Mitbruder zurück, welcher wild nach einem fledermausflügeligen Teufelchen schlug, das auf seine Schulter sprang, ihn ins Ohr biß und wiederholt mit seinem Giftschwanz zustach. Scaladi warf sich auf die Tür zu - sie entzog sich ihm scheinbar aus eigenem Antrieb und schlug hallend zu, so daß er kopfüber vor ihr landete. »Du lieber Deneir«, hörte er seinen letzten Gefährten flüstern. Scaladi drehte sich um. Er sah Abt Thobicus im Schatten stehen, sah Kierkan Rufo - Kierkan Rufo! - leise hinter dem gealterten Mann hervortreten. »Deneir hat sich von diesem Ort zurückgezogen«, sagte Thobicus leise und ohne Drohung, während er sich mit ausgebreiteten Armen näherte. »Komm jetzt mit mir, damit ich dir den neuen Weg zeigen kann.« Der junge Deneir-Priester wankte, und einen Augenblick glaubte Scaladi, er würde sich Thobicus ergeben, der nur noch zwei Schritte entfernt war. Dann explodierte der junge Priester förmlich und zog dem Abt seinen Streitkolben über das runzlige Gesicht. Thobicus' Kopf flog ruckartig zur Seite, und er taumelte zurück. Aber nur einen einzigen Schritt - dann richtete er sich wieder auf und faßte den ungläubigen jungen Deneir-Anhänger ins Auge. Es folgte eine lange Pause, ein langer, entsetzlicher
Moment, wie wenn sich ein Raubtier vor dem Sprung duckt. Thobicus riß die Arme hoch. Seine Finger waren wie Klauen gekrümmt. Er stieß ein widernatürliches Gebrüll aus, warf sich auf den jungen Priester und begrub ihn unter seinen wild schlagenden Gliedmaßen. Scaladi rappelte sich auf und griff nach der Tür, an der er mit seiner ganzen beachtlichen Kraft zog. »Die geht nicht auf«, versicherte ihm Kierkan Rufo. Scaladi rüttelte wild. Er hörte, wie Rufo direkt hinter ihn trat. »Die geht nicht auf«, sagte der zuversichtliche Vampir wieder. Scaladi fuhr herum und streckte Rufo sein heiliges Symbol entgegen. Der Vampir wich vor dem plötzlichen Glühen zurück. Aber Rufo war nicht Histra. Er war vom Wirbeln des Chaosfluchs erfüllt und viele Male mächtiger. Der Überraschungsmoment war schnell vorüber. »Jetzt stirbst du!« versprach Scaladi, aber bis er diesen kurzen Satz gesagt hatte, war schon alle Überzeugungskraft aus seiner Stimme gewichen. Er fühlte Rufos Willen in seinem Kopf, der ihn zum Aufgeben bringen wollte und ihm ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit vermittelte. Romus Scaladi war immer ein Kämpfer gewesen. Er war als Waise in den rauhen Straßen von Sundabar aufge wachsen, wo jeder Tag eine Prüfung war. Und deshalb kämpfte er jetzt mit seinem eigenen Willen gegen Rufos Einflüsterungen an. Grüne, sengende Energieblitze brannten sich in seine Hand und schlugen sein heiliges Symbol weg. Sowohl Scaladi als auch Rufo blickten zur Seite. Dort hockte der lächelnde Druzil immer noch auf dem Körper des Deneir
Priesters. Scaladi blickte hilflos zurück, als Rufo sein Handgelenk ergriff und ihn vorwärts riß, bis das Gesicht des Vampirs kurz vor seinem eigenen war. »Du bist stark«, sagte Rufo. »Das ist gut.« Scaladi spuckte ihm ins Gesicht, aber im Gegensatz zu Thobicus explodierte Rufo nicht vor Wut. Der Chaosfluch lenkte diesen Vampir und ließ ihn bei dem bleiben, was am vorteilhaftesten war. »Ich biete dir Macht«, flüsterte Rufo. »Ich biete dir Unsterblichkeit. Du wirst Freuden kennenlernen, die alles ...« »Du bietest Verdammnis!« knurrte Scaladi. Auf der anderen Seite der Halle schrie der Deneir-Priester auf. Dann wurde er still, und Thobicus trank. »Was weißt du schon?« fragte Rufo herrisch. »Ich lebe, Romus Scaladi! Ich habe Deneir und Oghma von diesem Ort vertrieben!« Scaladi reckte den Kopf hoch. »Die Bibliothek gehört mir!« fuhr Rufo fort. Er griff Scaladi mit einer Hand in die dichten Haare, und mit einer Kraft, die den Oghma-Priester erschütterte, zog er dem Mann den Kopf zurück. »Carradoon wird mir gehören!« »Das sind nur Orte«, beharrte Scaladi mit der einfachen, unbestreitbaren Logik, die ihn sein ganzes Leben geführt hatte. Er wußte, daß Rufo mehr als die Eroberung von Orten wollte. Er wußte, was der Vampir ersehnte. »Du kannst dich mir anschließen, Romus Scaladi«, sagte Rufo wie erwartet. »Du kannst an meiner Kraft teilhaben. Du liebst die Kraft.« »Du hast keine Kraft«, sagte Scaladi, und seine ruhige Sicherheit schien Rufo zu erschüttern. »Du hast nur Lügen
und falsche Versprechungen.« »Ich kann dir das Herz herausreißen!« brüllte Rufo ihn an. »Und es dir noch schlagend vor deine brechenden Augen halten.« Jetzt kam Histra mit ein paar von ihren Zombies in die Halle. »Willst du werden wie die da?« fragte Rufo mit einem Wink auf die Zombies. »Du wirst mir ja doch dienen!« Scaladi warf einen Blick auf die armen Zombies, und zu Rufos Enttäuschung lächelte der Priester. Das waren lebende Leichen, weiter nichts. Scaladi wußte das, mußte es von ganzem Herzen glauben. Aus diesem Glauben heraus sah der Mann Rufo direkt in seine blutroten Vampiraugen, direkt in das geifernde, tierische Gesicht des Vampirs. »Ich bin mehr als mein Körper«, verkündete Romus Scaladi. Rufo ließ den Kopf des Oghma-Priesters zurückschnellen und brach ihm damit die Halswirbelsäule. Mit einer Hand schleuderte der erzürnte Vampir Scaladi durch die Halle, bis er gegen eine Wand prallte und dort liegenblieb. Histra zischte böse, und Thobicus stimmte mit ein, ein grausiger Applaus, bei dem die beiden ihren Meister umkreisten. Rufo war so wütend, daß er Scaladis verdammende Worte einfach abtat und aus tiefster Inbrunst fauchte und zischte. » ... mehr als mein Körper«, kam ein Flüstern von der Seite. Die drei Vampire hielten in ihrem makabren Tanzen und Singen inne und drehten sich gleichzeitig zu dem Priester um, der sich auf den Ellenbogen hochstützte, obwohl sein Kopf unnatürlich herabbaumelte. »Du bist tot!« rief Rufo, im vergeblichen Versuch, die Worte abzustreiten. Scaladi korrigierte ihn sofort. »Ich habe Oghma
gefunden.« Und in diesem sicheren Glauben starb der Mann.
Vor der Bibliothek hüpfte Percival aufgeregt von Ast zu Ast, denn er hörte die Schmerzensschreie derer, die noch am Leben waren. Das Eichhörnchen hatte dicht vor der Tür auf dem Boden gesessen, als Rufo sie vor Scaladi zugeschlagen hatte. Jetzt hatte sich Percival so hoch in die Bäume geflüchtet, wie er nur konnte, keckerte pausenlos und drehte hüpfend weite Kreise durch den Wald. Er hörte die Schreie, und aus einem Fenster im ersten Stock hörte er auch das Lied des Deneir, das Gebet von Bruder Chaunticleer. Die Schreie waren lauter.
Das Wesen des Bösen
Der Pfad schlängelte sich um eine breite Klippe, aber Danica wurde langsam ungeduldig. Deshalb ging sie zum Fuß der Felsnase, blickte die dreißig Fuß hinauf und begann, sich an einer Felsspalte entlang vorsichtig einen Weg nach oben zu suchen, Dorigen war ihr gefolgt. Die Zauberin redete, aber Danica, die sich darauf konzentrierte, ihre starken Finger in Ritzen zu haken und rauhe Stellen zu finden, auf die sie ihre Füße setzen konnte, hörte nicht zu. Bald darauf griff die Hand der geschmeidigen Adeptin über die Felsnase und tastete herum, bis sie sich am dicken Wurzelstock eines kleinen Busches festhalten konnte. Sie prüfte, ob er ihr Gewicht hielt, und als sie sich von der Sicherheit des Busches überzeugt hatte, zog sie sich daran nach oben. Von diesem Aussichtspunkt aus sah Danica die Erhebende Bibliothek zum ersten Mal wieder. Das Gebäude thronte auf einem flachen Abschnitt eines aufsteigenden Pfades, im Norden eine Klippe, im Süden ein steil abfallender Hang. Es wirkte einfach wie ein gedrungener Block aus gewöhnlichen Steinen und war kein besonders sehenswertes Stück Architektur. Aus dieser Entfernung bemerkte Danica nicht, daß die kleinen Fenster (es gab sowieso nur wenige) von Brettern und Wandbehängen verdeckt waren. Alles wirkte still und ruhig, wie es um die ehrwürdige Bibliothek üblich war, und Danica, die unbedingt die unangenehme Geschichte mit Dorigens Bestrafung hinter sich bringen wollte, war erleichtert, das Gebäude wiederzusehen. Sie drehte sich um, weil sie Dorigen mitteilen wollte, daß die Bibliothek schon ganz nah war,
doch zu ihrer Überraschung kletterte die andere Frau bereits die Klippe hoch. Natürlich langsamer als Danica, aber sie kam voran. Danica warf sich auf den Bauch und rief Anweisungen. In diesem Augenblick war sie stolz auf Dorigen, stolz auf die Bereitschaft der Zauberin, sich Hindernissen zu stellen. Die Klippe war niedrig und für jemanden von Danicas Ausbildung keine echte Herausforderung, aber sie wußte zu schätzen, wie eindrucksvoll sie Dorigen erscheinen mußte, die ihre Nase seit Jahren nur in Bücher gesteckt hatte. Und doch reckte sich Dorigen jetzt nach Danicas hingehaltener Hand und kletterte ohne Murren hoch. Hundert Schritt weiter in einem Gehölz aus Nadelbäumen war die versteckte Shayleigh ebenso beeindruckt. Als Danica so Wehrlos an der Felsklippe gehangen hatte, hätte Dorigen alles mögliche tun können, um sich ihre Freiheit zu sichern. Aber wieder hatte die Zauberin gezeigt, was in ihr steckte, und wie Danica angesichts von Dorigens Hilfe im Kampf gegen die Trolle merkte Shayleigh, daß sie nicht überrascht war. Plötzlich kam sich die Elfenkriegerin wegen ihrer Verdächtigungen dumm vor. Sie griff nach ihrem Lang bogen, löste die Sehne und murmelte in sich hinein, daß sie gleich nach Shilmista hätte gehen sollen, wie sie es behauptet hatte, anstatt den beiden fast bis zur Bibliothek zu folgen. Sie würden binnen einer Stunde dort ankommen, wie Shayleigh wußte, und sie selbst hätte ihrer Waldheimat längst ein gutes Stück näher sein können. Sie wartete in den Bäumen, bis Danica und Dorigen wieder aufgebrochen waren, dann lief auch sie zu dem steinigen Hang. Mit einer natürlichen Behendigkeit, die Danicas erlerntem Können
zumindest gleichkam, kletterte die Elfenfrau nach oben. Dort ließ sie sich auf ein Knie nieder und suchte den dunklen Pfad ab, der sich vor ihr durch baumbestandene Niederungen und um große Felsbrocken wand. Schließlich entdeckte sie Danica und Dorigen, die ein ganzes Stück weiter vorn kräftig ausschritten, und mit der Geduld eines Wesens, das noch Jahrhunderte zu leben hatte, beobachtete Shayleigh ihre Bewegungen über die Pfade den ganzen Weg bis zum Eingang der Bibliothek. Sie erwartete keinen Widerstand mehr von Dorigens Seite, es war eher eine Art Abschied von ihren Freunden.
Percival begrüßte die beiden, als sie auf das Gelände der Bibliothek kamen, indem das weiße Eichhörnchen wild durch die Bäume tanzte und quiekte, als ob es wahnsinnig geworden wäre. »So eine Reaktion habe ich noch nie erlebt«, meinte Dorigen, denn die hektischen Bewegungen des Eichhörnchens waren nicht zu übersehen. »Das ist Percival«, erklärte Danica, »ein Freund von Cadderly.« Sie sahen neugierig zu, wie das Eichhörnchen ein Dutzend Fuß heruntersprang, an das Ende des Astes lief, der ihnen am nächsten kam, und so verrückt auf Danica einschrie, daß die Frau sich fragte, ob er sich eine Krankheit zugezogen hatte. »Was ist denn los?« fragte Danica das Nagetier, und Percival hüpfte weiter kreischend im Kreis, als wäre er in einen Kessel mit kochendem Wasser gefallen. »Ich habe von einer Krankheit gehört, die den Verstand solcher Tiere befällt«, warf Dorigen ein. »Und einmal habe
ich die Folgen bei einem Wolf erlebt. Sieh genau hin«, bat sie die Adeptin. »Wenn man Schaum vor dem Maul des Tieres entdeckt, muß man es sofort töten.« Danica warf Dorigen einen mißtrauischen, wissenden Blick zu. Als die Zauberin diesen Blick bemerkte, straffte sie sich und fragte sich, was sie gesagt hatte, daß eine so heftige Reaktion darauf kam. »Percival ist Cadderlys Freund«, sagte Danica wieder. »Vielleicht Cadderlys bester Freund. Wenn du glaubst, das Eichhörnchen wäre verrückt, dann würdest du staunen, wie verrückt Cadderly würde, wenn er je erführe, daß wir das Tier getötet haben.« Das brachte Dorigen zum Schweigen. Danica sah Percival streng an und befahl ihm, sich in die Bäume zu trollen. Dann gingen die beiden Frauen zur Tür, und Danica klopfte laut. Percival jagte die Zweige entlang, höher in die Kronen, denn er folgte einem Weg, der ihm gestattete, am untersten Rand des Vorderdaches auf die Regenrinnen der Bibliothek zu springen. Das weiße Eichhörnchen hüpfte bis zu einer Stelle direkt über den Türen, weil es auf Danica hinunterspringen und sie aufhalten wollte, aber bis Percival diese Stelle erreicht hatte, waren Danica und Dorigen es leid, auf eine Antwort auf ihr Klopfen zu warten. Danica hatte die unverschlossenen Türen aufgestoßen und die Eingangshalle betreten. Es war still und dunkel. Danica sah sich um. Eine schwere Decke war vor die kleinen Fenster über den Türen gehängt worden. »Was ist denn das?« fragte Dorigen. Sie war noch nie in der Bibliothek gewesen, aber sie vermutete, daß diese Atmosphäre hier nicht normal war. Wo waren die Priester? fragte sie sich. Und warum sträubten sich ihr unwillkürlich
die Haare? »Ich habe die Bibliothek noch nie so erlebt«, antwortete Danica. Die junge Frau war jedoch weder so mißtrauisch noch so nervös wie Dorigen. Sie hatte die letzten paar Jahre in der Bibliothek gelebt und war hier mittlerweile zu Hause. »Vielleicht findet gerade eine Zeremonie statt«, überlegte Danica, »eine, von der ich nichts verstehe.« Die arglose Danica hatte keine Ahnung, wie nah ihre Vermutung der Wahrheit kam.
»Puuh!« Pikel rümpfte seine kleine Nase und wackelte angesichts des schrecklichen Gestanks mit dem Kopf. Er drehte sich plötzlich um und stieß ein gewaltiges Niesen aus, das seinen sauertöpfischen Bruder mit Speichel überschüttete. Der wenig überraschte Ivan sagte - nach so vielen Jahrzehnten neben Pikel - kein Wort. »Trollgestank«, bemerkte Cadderly. »Verbrannter Troll«, entgegnete Ivan, der sich das Gesicht abwischte. Cadderly nickte und ging vorsichtig den Pfad hinunter. Sie waren nur drei Tage von der Bibliothek entfernt und wanderten mühelos denselben Weg entlang, den Danica und die anderen eingeschlagen hatten. Der Weg führte einen kleinen Hang hinauf, dann um eine Kurve und ein paar knorrige Büsche bis auf eine Lichtung, die als Lager gedient hatte. Cadderlys Herz schlug heftig, als er sich diesem Lager näherte. Er war sicher, daß Danica hier gewesen war und anscheinend die Bekanntschaft einiger verdammter Trolle gemacht hatte.
Der Gestank überwältigte den jungen Priester beinahe, als er um die Büsche hastete und dann vor den schaurigen Überresten des Kampfes abrupt zum Stehen kam. Drei große Gestalten, drei Klumpen schwarzen Fleisches, lagen auf der kleinen Lichtung. »Scheint, als hätten sie sie erledigt«, meinte Ivan, der zuversichtlicher hinter Cadderly herkam. Pikel begann »Ei, ei!« zu trällern, mußte dann aber wieder niesen, als sich Ivan gerade zu ihm umdrehte. Ivan antwortete mit einem Nasenstüber, worauf Pikel Ivan das Ende seiner Keule zwischen die Knie steckte, sich dann zur Seite warf und seinen Bruder zu Fall brachte. Gleich darauf rollten die beiden über den Boden. Cadderly, der auf Händen und Knien die Lichtung absuchte, um genau festzustellen, was sich hier abgespielt hatte, zollte den zwei raufenden Zwergen keine Aufmerksamkeit. Sie hatten in den letzten paar Wochen ein Dutzend Male gekämpft, und es schien sich nie einer von ihnen zu verletzen. Der junge Priester untersuchte den vordersten Troll und stellte rasch fest, daß Shayleigh diesen mit einem ganzen Pfeilhagel bedacht hatte, ehe ihn Flammen verzehrt hatten. Der nächste Troll, zu dem er kam, lag quer über dem Weg, weitab vom Lagerfeuer. Es gab keine Anzeichen dafür, daß er niedergeschlagen oder auch nur verwundet worden war, bevor ihn die Flammen erwischt hatten. Cadderly suchte sorgfältig, drehte den verkohlten Körper sogar auf die Seite. Er fand jedoch kein Anzeichen dafür, daß eine Fackel benutzt worden war, um den Troll zu bekämpfen. Er stand auf und ging zu dem Steinkreis des Lagerfeuers zurück, weil er festzustellen hoffte, wieviel Feuer noch gebrannt hatte, als die Trolle angriffen.
Ivan und Pikel rollten mitten durch die Asche und ließen die Steine auseinanderstieben, denn sie waren viel zu sehr in ihren Ringkampf verstrickt, um auf die Bewegungen des jungen Priesters zu achten. Sie prallten gegen die Leiche des dritten Trolls, dessen blasige Haut aufplatzte. Das geschmolzene Fett des Trolls quoll heraus. »Bäh!« quietschte Pikel, der auf die Beine sprang. Ivan sprang ebenfalls auf. Er ergriff seinen Bruder vorn an der Tunika und warf Pikel kopfüber in einen Busch. Dann spannte er seine kräftigen Beine an und sprang hinter ihm her, so daß er Pikel unter sich begrub, als dieser aufzu stehen versuchte. Cadderly, der sich um seine vorgeschickten Freunde sorgte und versuchte, etwas Wichtiges festzustellen, wurde immer ungeduldiger mit den Zwergen, sagte aber noch nichts. Er stürmte einfach an die zerstörte Feuergrube und begann mit seiner Untersuchung. Er vermutete, daß das Feuer zur Zeit des Angriffs nicht mehr hoch gebrannt hatte, sonst hätten die Trolle, die vor Feuer Angst hatten, länger gewartet. Er wußte auch, daß seine Freunde nach dem Kampf nicht mehr hiergeblieben waren - der Gestank mußte zu stark gewesen sein. Und Danica - und besonders Shayleigh, die die Natur so liebte hätte das Lager nicht verlassen, solange das Feuer noch brannte. Wie Cadderly erwartet hatte, fand er keine nennenswerten verkohlten Holzstücke. Das Feuer war heruntergebrannt gewesen. Der junge Priester sah zu dem verbrannten Troll zurück und nickte, denn seine Vermutungen hatten sich bestätigt. »Nimm deine Finger von meinem Hals!« fluchte Ivan, womit er Cadderlys Aufmerksamkeit auf sich zog.
Pikel stand mit dem Rücken zu dem jungen Priester am Rand der Lichtung gegenüber von Ivan, der sich gerade aus den struppigen Büschen befreite. »Nimm deine Finger von meinem Hals!« fluchte Ivan wieder, obwohl er Pikel, der mit ausgestreckten Händen eine leere und eine mit der Baumstammkeule des Zwergs dastand, genau vor sich sah. Als Ivan endlich die wahre Situation erkannte, blieb er stehen und kratzte sich am Bart. »Also, wenn das nicht du bist ... «, murmelte er mißtrauisch. Ivan sprang hoch und warf sich herum, weil er einen Feind hinter sich im Busch erwartete. Tatsächlich griff ein Feind Ivan an den Hals, aber er schwang bei der Drehung mit herum. Cadderly schluckte vernehmlich und bedeckte seine Augen mit einer Hand. »Urgh«, sagte Pikel und würgte. Ein Trollarm, der am Ellenbogen abgetrennt worden war, aber immer noch lebte, hielt sich an Ivan fest. Seine Klauen klammerten sich an den Nacken des Zwergs. »Was?« fragte Ivan, der sich wieder umdrehen wollte. Er wurde blaß, als er sah, wie Pikels schwere Keule auf ihn zusauste. Ihm blieb nichts anderes mehr übrig, als die Augen zu schließen und auf den Schlag zu warten, doch Pikel hatte perfekt gezielt. Der grünbärtige Zwerg schlug den körperlosen Arm von seinem Bruder ab und ließ ihn bis über den Pfad fliegen. Dort prallte er gegen einen Baum und fiel herunter, um dann wie ein fünfbeiniges Spinnentier davonzukrabbeln, wobei der Unterarm hinter der Hand herschleifte. Jetzt war Ivan am Würgen, und er griff sich entsetzt an den Hals.
Der Trollarm kroch unter einen Busch, und Pikel wollte schon hinterherlaufen. Der Zwerg hielt jedoch abrupt an, als er Cadderly bemerkte, der entschlossen mit ausgestrecktem Arm und geballter Faust dastand. »Fete!« rief der junge Priester, und aus einem Onyxring, den er Dorigen abgenommen hatte, kam ein Feuerstrahl, der den Busch wie den Trollarm sofort umschloß. Innerhalb von Sekunden war der Busch nur mehr ein geschwärztes Gerippe, und der verkohlte Arm darunter rührte sich nicht mehr. Zu Cadderlys Überraschung endete der Feuerstrahl jedoch früher, als er erwartet hatte. »Urgh«, sagte Pikel wieder mit einem Blick auf die Überreste. Auch Ivan starrte den verkohlten Busch an. Sein Gesicht war vor Abscheu verzerrt. Cadderly nutzte die Ablenkung, um seinen Arm zur Seite zu drehen, und wieder befahl er dem Ring, Feuer zu speien. Nichts geschah. Da verstand Cadderly, daß die Zauberkraft des Rings begrenzt und jetzt erschöpft war. Wahrscheinlich würde er sich neu aufladen lassen, entweder durch Cadderly selbst oder durch Dorigen oder einen anderen Zauberer. Doch Cadderly machte sich keine besonderen Gedanken deswegen, denn er glaubte, daß in seinen zukünftigen Kämpfen der Wille und nicht äußerliche Gewalt ausschlaggebend sein würde. Als er schließlich aus seinen Überlegungen erwachte und die Zwerge ansah, stritten diese schon wieder, stießen und schubsten sich. »Kann ich euch zwei wohl überreden, euren Streit abzubrechen und mir suchen zu helfen?« fragte Cadderly ärgerlich. Beide Zwerge hörten unverzüglich auf und nickten etwas
dümmlich. »Hier haben unsere Freunde gelagert«, erklärte Cadderly, »und gegen die Trolle gekämpft.« »Gute Arbeit«, meinte Ivan, wobei er sich zu Pikel umdrehte. »Schlaue Mädels, haben das Lagerfeuer benutzt.« »Das haben sie nicht«, stellte Cadderly richtig, was ihm erstaunte Blicke von den Brüdern einbrachte. »Das Feuer war schon heruntergebrannt, als die Trolle angriffen.« »Mir sehen die Trolle aber verbrannt aus«, sagte Ivan. »Es war Dorigen mit ihrer Zauberkunst, die sie gerettet hat«, erwiderte Cadderly. »Ooh«, sagten Ivan und Pikel gleichzeitig und sahen einander an. »Also hattest du recht«, meinte Ivan schließlich. Cadderly nickte. »Scheint so«, gab er zurück. »Die Zauberin hat sich entschieden, und sie ist großmütiger, als ich zu hoffen wagte.« Daraufhin blickte Cadderly nach Südwesten, ungefähr in die Richtung der Erhebenden Bibliothek. Ivan und Pikel konnten aus seiner ernsten Miene seine Gedanken lesen; er überdachte das Wesen und den Wert einer Strafe. »Das Erz ist verborgen«, meinte Ivan. Cadderly sah ihn neugierig an. »Zwergensprichwort«, erklärte Ivan. »Du findest einen Stein, der wertlos aussieht, aber man kann nie wissen, bis man ihn aufgeschlagen hat. Was innen ist, das zählt. Und so ist es auch mit Dorigen.« Cadderly nickte lächelnd. »Laßt uns weiterziehen«, schlug er vor, denn er hatte es plötzlich eilig, in die Bibliothek zurückzukehren. Zu ihrer Erleichterung fanden sie drei Fußspuren, die dicht nebeneinander vom Lager weg führten.
Wie Freunde gehen würden.
Danica und Dorigen fanden die erste Leiche in der kleinen Kapelle seitlich der Eingangshalle. Romus Scaladi war verstümmelt. »Raus hier«, flüsterte Dorigen, und Danica nickte, während sie sich schon zur Tür und zur Halle zurückdrehte. Die beiden Frauen kamen abrupt zum Stehen. Histra von Sune stand im Eingang und zeigte lächelnd ihre spitzen Eckzähne. »Ich bin so froh, daß du zurück bist«, sagte sie ruhig. »Es waren nur noch drei Frauen in der ganzen Bibliothek und so viele, viele Männer. Nicht einmal ich konnte mich um sie alle kümmern.« Die Worte und Histras Erscheinung - die Frau war eindeutig tot! - ließen unzählige Fragen in Danica aufsteigen. Sie hatte jedoch eine klare Antwort, eine, die Histras offensichtliche Absichten anging, und Danica, die sich noch nie so leicht von Angst hatte lähmen lassen, duckte sich rasch und war kampfbereit. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Dorigen und war beruhigt, als sie sah, daß die Lippen der Zauberin sich kaum merklich bewegten. Auch Histra sah diese Bewegung und riß mit protestierendem Zischen den Mund auf. Dann drehte sie sich um, als ob sie fliehen wollte. Danica wollte Dorigens beginnendem Zauber nicht in den Weg geraten, doch ihre Bewegungen kamen instinktiv. Schnell wie eine Raubkatze sprang sie vor und landete mit einer Drehung, bei der ihr einer Fuß weit austrat und fest an Histras Rippen landete.
Die Vampirin flog mehrere Fuß zurück, wirkte aber unverletzt und kam mit weit ausgebreiteten Armen gleich wieder auf Danica zu. Danica zog einen Fuß bis vor die Brust und trat Histra zwischen den Armen durch mitten ins Gesicht. Histras Kopf knickte gewaltsam zurück, aber falls der Treffer der Vampirin Schmerzen bereitete, zeigte sie es nicht. Danica roch Histras stinkenden Atem und antwortete darauf, indem sie der Frau einen ausgestreckten steifen Finger tief in eins ihrer blutroten Augen stieß. Das ließ Histra zurückweichen, aber gleichzeitig brachte sie ihre Hand hoch und ergriff Danica am Unterarm. Danica konnte nicht fassen, welche Kraft in diesem Griff lag. Er war stärker als jeder Zugriff, den sie bei den riesigen, muskelbepackten Oghma-Ringern erlebt hatte, stärker als ein Mensch je sein konnte. Sie versuchte sich herauszuwinden, traf Histra mit einer schnellen Folge aus Tritten und Faustschlägen - alle an Stellen, wo sie die Gegnerin hätten schwer verletzen müssen -, aber die Vampirin hielt hartnäckig fest. Danica spürte wieder den Atem ihrer Gegnerin, viel zu nah. Dorigen beobachte den Kampf gespannt. Sie war gezwungen gewesen, ihren ersten Spruch, einen Blitzschlag, abzubrechen, denn er hätte zuerst Danica getroffen. Jetzt sang die Zauberin wieder, konzentrierte sich diesmal aber auf einen kontrollierteren, gezielteren Angriff. Das leichte Flügelschlagen hinter und neben ihr hörte sie nicht, so daß sie völlig überrascht war, als die Fledermaus mitten in der Luft ihre Gestalt veränderte und Kierkan Rufo sie plötzlich am Hals packte. Er stieß ihren Kopf so gewaltsam zurück, daß Dorigen fast die Besinnung verlor.
Histras gieriger Gesichtsausdruck verriet ihr volles Vertrauen, daß diese sterbliche Frau sie nicht wirklich verletzen konnte. Sie verdrehte Danica stärker den Arm und hatte offenbar Spaß an dem schmerzverzerrten Gesicht ihrer Gegnerin. »Du gehörst mir«, schnurrte sie, aber ihre Miene änderte sich, als ein Dolch, dessen Griff wie ein Silberdrache gearbeitet war, sie tief in den Ellenbogen traf! Aufheulend fuhr Histra zurück. Danica holte rasch ihren zweiten verzauberten Dolch heraus und stand der Vampirin gegen über, ohne auch nur einen Fingerbreit zurückzuweichen. Die Selbstsicherheit der Adeptin nahm jedoch beträchtlich ab, als sie einen Blick über die Schulter warf, wo Kierkan Rufo Dorigen festhielt. Der Kopf der Zauberin war so verdreht, daß der Mann ihr leicht den Hals brechen konnte. Danica spürte eine Welle von Übelkeit, als ihr klar wurde, was Rufos Anwesenheit in der Bibliothek bedeutete. Und Rufo und Histra waren beide Vampire! Jetzt verstand sie die verhängten Fenster und erkannte zu ihrem Entsetzen, daß der Ort offenbar vollständig besiegt war. »Danica«, sagte Rufo lüstern. »Meine liebe, liebe Danica. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf deine Rückkehr gefreut habe!« Danicas Knöchel wurden weiß, so fest hielt sie ihre Dolche. Sie suchte nach einer Blöße. Wie konnte sie eines der verzauberten Messer über Dorigens Schulter in Rufos häßliches Gesicht werfen? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hielt Rufo Dorigen noch fester und riß den Kopf der Zauberin etwas weiter zurück, was sie zu einer schmerzverzerrten Grimasse zwang. »Es wäre mir ein Leichtes, ihr den Kopf von den Schultern
zu reißen«, höhnte Rufo. »Würdest du das gern mit ansehen?« Danicas Muskeln entspannten sich etwas. »Gut«, sagte der aufmerksame Vampir. »Wir haben keinen Grund, deswegen Feinde zu werden. Liebe Danica, ich werde dich zu einer Königin machen.« »Deine Königin wird dir das Herz herausschneiden«, erwiderte Danica. Sie wußte, sie hätte diese Worte nicht sagen sollen, solange Dorigen so deutlich in Gefahr war, aber der Gedanke an Rufos Angebot ließ ihr die Galle hochkommen. Sie hatte mit dem Mann schon zu Lebzeiten nicht mehr freiwillig gesprochen. Jetzt ... »Ich habe auch nichts anderes von dir erwartet, Danica, du Sturkopf«, gab Rufo scharf zurück. »Aber was dich betrifft, Dorigen«, schnurrte er, während er den Kopf der Magierin so drehte, daß sie ihm gut in sein leichenblasses Gesicht sehen konnte. »Wir waren einst Verbündete, und deshalb sollten wir wieder Verbündete sein! Komm zu mir und werde eine Königin und erfahre mehr Macht, als Aballister dir jemals geben konnte!« Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete Danica, Dorigen würde nachgeben. Der Preis der Ablehnung war offen sichtlich. Danica bezähmte ihre Angst jedoch augen blicklich, denn sie dachte an alles, was sie während der Reise zur Bibliothek mit Dorigen erlebt hatte. »Cadderly wird dich vernichten«, warnte Danica Rufo. Der große Vampir lockerte seinen Griff und richtete seine wütenden Augen auf sie. Nichts konnte Rufos Aufmerksamkeit besser erregen als die Erwähnung Cadderlys. Danica erwiderte den Blick des Vampirs, ohne mit der Wimper zu zucken, hatte jedoch zuvor noch bemerkt, daß
Dorigens Lippen sich wieder bewegten. »Er müßte bereits vor den Toren der Bibliothek stehen«, fuhr Danica mit vorgetäuschter Sicherheit fort. »Er ist stark, Rufo. Er hat Aballister und ganz Burg Trinitatis zermalmt.« »Wenn er gekommen wäre, wüßte ich Bescheid!« brüllte der Vampir, und schon sein Tonfall verriet Danica, daß sie ihn getroffen hatte. »Wenn es so wäre, würde ich gleich ... « Rufos Worte verwandelten sich in Kauderwelsch, denn plötzlich zuckte sein ganzer Körper, als blaue Lichtblitze aus Dorigens Händen schossen und über den Körper des Vampirs liefen. Dorigen wand sich, stöhnte und wich zurück. Der letzte Stoß des Zaubers riß beide voneinander weg. Rauchfäden von Rufos brennendem Fleisch stiegen zwischen ihnen in die Luft. Dorigen zauberte sofort von neuem, während Rufo noch versuchte, sich zu sammeln. »Ich werde dich in alle Ewigkeit martern!« drohte der Vampir, und Dorigen wußte, daß sie verloren war. Sie konnte ihren Spruch unmöglich beenden, ehe Rufo über sie herfiel. Ein wirbelnder, metallischer Funke erregte Rufos Aufmerksamkeit. Er hob seinen Arm vor sein Gesicht und kreischte auf, als die Spitze von Danicas Dolch seinen Unterarm durchbohrte. Danica roch Schwefel, der sich mit dem Geruch von verbranntem Fleisch mischte. Sie warf einen Blick auf Dorigen, dann wieder auf Rufo, der ihren Dolch herausriß und ihn auf den Boden schleuderte. »Lauf«, hörte Danica Dorigen sagen, und als sie zu der Zauberin zurücksah, sank ihr das Herz. Dorigen stand ruhig - zu ruhig - da, und über ihrer erhobenen Handfläche tanzte eine kleine Feuerkugel in der Luft. Danica wußte genug
über Zauberei, um zu verstehen. »Nein!« brüllte Rufo. Er zog seine Roben fest um sich und fiel in sich zusammen, denn er suchte die Quelle seiner neuerworbenen Kräfte. »Lauf«, sagte Dorigen wieder mit ruhiger Stimme. Danica hatte zwei Schritte durch den Torbogen gemacht, als sie nach vorn schaute und feststellte, daß Histra wieder auf sie zukam. Sie stieß mit ihrem verbliebenen Dolch zu, mehr um die Vampirin aus dem Gleichgewicht zu bringen als um einen Treffer zu erzielen, dann warf sie sich seitlich zu Boden und vollzog einen kreisrunden Tritt, der die ausweichende Histra von hinten ans Bein traf. Sie hörte, wie Rufo Dorigen befahl aufzuhören, und hörte auch das Lachen, das die zuversichtliche Zauberin darauf erwiderte. Danica trat aus, womit sie Histra durch die offene Kapellentür zurücktrieb, und nutzte den Schwung, um sich selbst weiter aus der Gefahrenzone zu befördern. Dabei geriet sie ins Stolpern, gab der Bewegung nach, fiel und rollte ab, während Rufos Körper sich auflöste und Dorigen einen Feuerball zwischen sich und dem vorherigen Standort des Vampirs auf den Boden warf. Alles kam Danica unwirklich vor, als ob die Welt sich wie in Zeitlupe bewegte. Flammen drangen aus der Kapellentür. Danica sah, wie Histras Haare und Arme von der Wucht des Angriffs zurückgeworfen wurden. Dann war nur noch der Feuerball da, der träge auf Danica zukam. Sie rollte sich zusammen, zog den Kopf ein und wurde durch jahrelange Übung - wie Stein. Die Flammen leckten an ihr, umwirbelten sie, aber Danica spürte die Hitze kaum. Als es einen Augenblick später vorüber war, war sie unverletzt, und nur die Ränder ihres Umhangs waren leicht angesengt.
Die scheinbar ewige Dauer dieses schrecklichen Moments war vorbei, wie umgekehrt, als Danica Histra ansah, die durch den Raum tobte, gegen Wände lief und sich an die Schultern schlug, wo ihr Fleisch unter den hungrigen Flammen brodelte. Die Eichenstützbalken ringsherum glühten, tausend Jahre alte Wandbehänge waren im Nu verzehrt, und beißender, schwarzer Rauch drang aus der zerstörten Kapelle - wo Dorigen ihr Leben gegeben hatte. Danica kämpfte gegen ihre Tränen an, als sie auf die Tür zuhastete. Sie mußte zu Cadderly und den Zwergen gelangen, vielleicht Shayleigh finden. Sie mußte ... Die Tür ging nicht auf. Danica zog mit aller Kraft, doch der Griff brach ab, so daß sie rückwärts auf den Boden fiel. Grüner Nebel drang aus einem Riß in der Wand neben der Tür und wirbelte zu einer trichterförmigen Wolke auf, um sich dann plötzlich aufzulösen und einen wütenden, kaum verwundeten Kierkan Rufo vor der Adeptin zurück zulassen.
Danicas Niederlage
Danicas rechter Haken erwischte Rufo seitlich am Kinn und ließ seinen Kopf zur Seite schnellen. Langsam und drohend wandte sich der Vampir der jungen Frau wieder zu. Danica traf ihn wieder mit einem gemeinen Haken, dann ein drittes Mal mit demselben Schlag an dieselbe Stelle. Rufo lachte, als er ihr den Kopf wieder zuwandte, ohne daß auf seiner weißen Haut ein Bluterguß oder sonst ein Zeichen zu sehen war. »Du kannst mich nicht verletzen«, sagte der Vampir mit ruhiger, gelassener Stimme. Zur Antwort riß Danica direkt zwischen Rufos Beinen ihr Knie nach oben. Der Tritt hatte eine solche Wucht, daß er den Vampir auf die Zehenspitzen stellte. Rufo lächelte nur. »Ich hätte mir denken können, daß da bei dir nichts zu verletzen ist«, sagte Danica, um das Ungeheuer mit Worten zu treffen, nachdem ihre Fäuste versagt hatten. Rufo verzog das Gesicht, denn hinter seiner kühlen Maske stieg der Ärger auf. Ein raubtierhaftes Fauchen entwich seinen Lippen, und er streckte den Arm nach Danicas Hals aus. Deren Dolch mit dem goldenen Tigergriff grub sich tief in Rufos Unterarm. Schneller als Rufo reagieren konnte, zog die Adeptin die Klinge den Arm herunter, riß sie dann heraus und schnitt Rufo damit ins Gesicht. Sie traf dieselbe Seite, gegen die sie geschlagen hatte. Jetzt begann sie zu rasen, aber Rufo ebenfalls. Danica stach hierhin und dorthin, während Rufos Hände vergeblich versuchten, die unangenehme Klinge festzuhalten. Danica
erzielte einen Treffer nach dem anderen, bis sie Rufo den verzauberten Dolch schließlich tief in die Brust stieß, um sein Herz zu suchen. So wie Rufo plötzlich mit entsetztem Gesicht erstarrte und beide Arme weit zur Seite riß, konnte Danica sehen, daß sie ihr Ziel getroffen hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken und ohne jede Spur von Furcht, sah Danica dem Vampir direkt ins Gesicht und drehte den Dolch ruckartig. Rufos Mundwinkel begann zu zucken. Danica erwartete, daß er fallen würde. In dieser makabren Stellung verharrten sie lange, während Rufos Mund ein leises Grollen entwich. Warum fiel er nicht um? fragte sich Danica. Warum starb er nicht einfach? Ihre Zuversicht kam ins Wanken, als Rufos Hand sich auf ihr Handgelenk zuschob, sie drehte ihren Dolch noch einmal kräftig, und der Vampir schnitt eine Grimasse. Wieder drehte sie ihre Klinge, doch obwohl Rufo der Schmerz in sein bleiches Gesicht geschrieben stand, näherte sich seine Hand unaufhaltsam. Plötzlich legten sich seine starken Finger fest um Danicas Handgelenk. Die linke Hand der jungen Frau schlug augenblicklich zu, traf den Vampir am Hals und ins Gesicht. Rufo blinzelte nicht einmal, sondern sah einfach zu, wie er Danica ganz langsam zwang, ihre Klinge zurückzuziehen. Ihre angespannten Muskeln waren der Körperkraft des Vampirs nicht gewachsen. Sobald die Dolchspitze aus seiner Brust trat, riß Rufo Danica den Arm hoch. »Törin!« sagte er. Sein stinkender Atem blies ihr ins Gesicht. Danica rammte ihre Stirn gegen seine Nase. Rufo riß sie zurück, und mit der anderen Hand schlug er
ihr den Dolch aus der Hand und ließ ihn durch die Eingangshalle trudeln. »Du kannst mich nicht verletzen«, erklärte Rufo wieder, trotz seiner sichtlich schmerzhaften Wunden. Diesmal allerdings, da ihre beiden verzauberten Waffen unerreichbar waren, stellte Danica fest, daß sie ihm glaubte. Und sie glaubte, Rufo werde sie in Stücke reißen. »Sieh mich an!« kam ein Schrei von der anderen Seite der Halle. Sowohl Rufo als auch Danica drehten sich um und sahen Histra an der Tür zur Kapelle knien, wo sie ihre Hände anstarrte, die sie vor sich ausstreckte. Von ihren Fingern und Armen war das Fleisch abgeplatzt und hing nun in grotesken Fetzen herunter. Histra warf ihrem Meister einen flehentlichen Blick zu, doch nicht einmal Rufo konnte bei ihrem Anblick seinen Abscheu verbergen, denn Histra, die sich ihr Leben lang ständig gesalbt und gepudert hatte, wirkte wie eine Karikatur ihres früheren Selbst, ein grausamer Scherz über den Orden der Liebesgöttin Sune. Verbrannte Fleischklumpen hingen unter ihrem Gesicht, und ihre Augäpfel waren zwar unversehrt, lagen jedoch bloß, so daß es aussah, als würden sie ihr gleich aus dem Gesicht fallen. Ihre Oberlippe war verschwunden, ebenso das Fleisch auf einer Seite ihrer Nase. Von ihren Haaren, dieser schönen, seidigen, verführerischen Mähne, waren nichts als kurze, graue, verklumpte Stoppeln geblieben. Rufos Ekel zeigte sich als langes, tiefes Knurren, und ohne überhaupt über seine Bewegung nachzudenken, zog er seine Hand fester zusammen und senkte seinen Arm, wodurch er Danica in die Knie zwang. Die junge Frau wollte Rufos Ablenkung zu ihrem eigenen Vorteil nutzen und sich losreißen, aber obwohl ihre freie Hand sich nur an einem von Rufos festen Fingern zu schaffen machte, konnte
sie diesen nicht einmal lösen. Sie versuchte es, indem sie sich nach allen Seiten wand, aber Rufo hielt sie fest, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Bald mußte Danica akzeptieren, daß alle Anstrengungen ihr nur einen verrenkten Ellenbogen einbringen würden. »Du bist ein Vampir«, sagte Rufo, um Histra zu beruhigen. »Deine Wunden werden heilen.« Danica hörte nicht viel Überzeugung aus Rufos Stimme heraus, und sie verstand den Grund. Vampire heilten wie Trolle, indem die Risse in ihrer Haut sich schlossen und verlorenes Blut sich neu bildete. Histras schauerliche Wunden jedoch stammten vom Feuer, und sie würden bleiben. Ein Hoffnungsschimmer legte sich über Histras zerstörte Züge. »Such dir einen Spiegel!« schrie Danica plötzlich. »Schau dir an, was deine Wahl dir eingebracht hat!« Rufo drehte sich um und funkelte sie an. Sie merkte, wie sein Griff sich verstärkte, und das erinnerte sie daran, daß sie hier ein gefährliches Spiel spielte. »Unsterblichkeit?« fragte Danica kühn. Sie stöhnte, als Rufo ihr leicht den Arm verdrehte, ihn über dem Ellenbogen seitwärts abknickte. »Ist es das, was er dir versprochen hat?« fragte sie hartnäckig. »Dann wirst du für alle Ewigkeit häßlich sein!« Danica wußte, daß diese letzte Bemerkung Histra mehr schmerzen würde als alles andere auf der Welt. Rufo wußte das ebenfalls, und der Blick, den er Danica zuwarf, verhieß ihr einen qualvollen Tod. Mit der freien Hand schlug er Danica so fest gegen den Kopf, daß sie fast ohnmächtig wurde. Sie schüttelte den Schlag ab, konnte aber das warme Blut fühlen, das von ihrem Ohr heruntertropfte, als Rufo sie
wieder schlug. »Deine Wunden werden nicht heilen!« schrie Danica durch zusammengebissene Zähne, während sie versuchte, Rufos fortgesetzte Angriffe mit ihrer freien Hand abzuwehren. Rufo riß den Mund weit auf und brachte seine Reißzähne an Danicas Hals. »Sie stammen von Feuer!« kreischte Danica. Dann schrie sie auf, weil sie glaubte, sie würde jetzt sterben. So ergrimmt, daß sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, stürzte sich Histra auf Rufo und drückte ihn an die Wand zurück. Danica stieß sich mit den Beinen ab und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht zur Seite. Sie hörte, wie ihr Ellenbogen aus dem Gelenk schnellte, aber sie mußte den Schmerz ignorieren, mußte sich losreißen. Das gelang ihr, genau als Rufo Histra durch die Halle zurückschleuderte, worauf die entstellte Priesterin mit vor Schluchzen zuckenden Schultern auf den Boden sank. Danica war aufgesprungen, aber Rufo stand bereit. »Wo willst du denn hin?« fragte der Vampir gelassen. Danica schaute wieder zur Eingangstür der Bibliothek, aber bei diesem Blick lachte Rufo nur. »Du gehörst mir.« Der Vampir trat einen Schritt vorwärts, und Danicas Fuß kam hochgeschnellt, trat ihn gegen die Brust und stieß ihn zurück. Dann vollzog Danica eine schnelle Drehung, bei der sie mit dem anderen Fuß weit ausholte. Rufo, der diese Bewegung nicht verstand, lachte nur und blieb zurück, weil er sich außer Reichweite wähnte. Sobald der Fuß vorbeisauste, sprang der Vampir vor, aber Danica hatte perfekt gezielt, denn sie hatte es nicht auf Kierkan Rufo abgesehen gehabt. Ihr Fuß durchschlug die Außentür der Bibliothek, so daß das Holz splitterte. Rufo
trat direkt in einen Sonnenstrahl, der nun hereinströmte. Der Vampir zuckte zusammen und riß die Arme hoch, um sich vor dem sengenden Strahl zu schützen. Danica rannte auf die Tür zu, um sie weiter aufzubrechen und ins Tageslicht zu entkommen, aber Rufo traf sie mit der Faust an der Schulter. Obwohl Danica schnell genug war, sich teilweise auf den Schlag einzustellen, merkte sie, wie sie durch die Luft flog. Viele Schritte von der Tür entfernt kam sie wieder auf die Beine, nachdem sie abgerollt war, um den Aufschlag abzufangen und ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Inzwischen war Rufo dem Sonnenstrahl ausgewichen und versperrte ihr jetzt den Weg. »Verdammt«, murmelte Danica - der passendste Fluch, den es hier geben konnte. Dann drehte sie sich um und floh zur Treppe.
Banner verbrachte diesen Tag schlafend, ein tiefer Schlaf, der mit Träumen von Macht erfüllt war, in denen er in den Freuden schwelgte, die Kierkan Rufo ihm versprochen hatte. Er hatte seinen Gott verraten, hatte im Austausch für diesen persönlichen Gewinn alles weggeworfen, was er in seinem Leben über Moral gelernt hatte. Es gab keine Reue und keine Schuld, die seinen Schlummer störten. Banner war wahrlich ein verdammtes Wesen. Sein Traum führte ihn nach Carradoon in ein Freudenhaus, das er einst, am Vorabend seiner Aufnahme in die Erhebende Bibliothek, aufgesucht hatte. Wie hübsch die Frauen waren! Wie wundervoll sie dufteten! Banner sah in ihnen jetzt seine Königinnen, die mit totenbleichen
Gesichtern sein Leben teilten und in warmes Blut eintauchten. Wärme. Hitzewellen überrollten den schlafenden Vampir, und er genoß sie, denn er sah sie als Blut, ein See voll warmem Blut. Die Wärme nahm einen grausamen Zug an, begann schmerzhaft an Banners Seiten zu lecken. Er riß die Augen auf, und zu seinem Schrecken fand er sich in einer dichten, grauen Wolke wieder. Rauchschwaden stiegen von der glühenden Polsterung seines Sarges auf, der im ersten Stock der Bibliothek, direkt über der Kapelle, in der Dorigen ihren Feuerball losgelassen hatte, unter einem Bett stand. Banners Haare gingen in Flammen auf. Der Vampir kreischte und schlug nach oben, bis seine starken Fäuste das Holz des Sarges durchbrochen hatten und diese zersplitterten, brennenden Bretter fielen auf ihn herunter. Banner schlug und trat wild um sich und zerstörte dabei sein brennendes Gefängnis. Seine Roben loderten in beißenden Flammen auf. Die Haut an einem Arm platzte blasig. Banner dachte daran, die Form zu verändern, wie er es einmal bei Rufo gesehen hatte, aber er war noch nicht tief genug im Reich der Untoten, hatte sein Dasein als Vampir noch nicht bis zu diesem Grad gemeistert. Er hob das von den Flammen eingeschlossene Bett zur Seite und kam taumelnd auf die Beine, um sich von der brennenden Kiste zu entfernen. Sein Zimmer stand in Flammen. Durch das feurige Licht konnte er nicht einmal die Tür erkennen. In dem Flammenmeer standen reglos einige Zombies, darunter Fester Rumpol, denen das Feuer keine Schmerzen bereiten konnte, obwohl sie verbrannten.
Sie waren Wesen ohne Bewußtsein und konnten nicht einmal begreifen, daß sie vor dem Feuer fliehen mußten, denn sie spürten weder Angst noch Schmerz. Als er Rumpol sah, stellte Banner fest, daß er den Zombie beneidete. Heiße Funken trafen den Vampir in die Augen, verbrannten und blendeten ihn. Verzweifelt rannte er dorthin, wo er die Tür vermutete, prallte statt dessen jedoch hart gegen die unnachgiebige Steinmauer. Wieder lag er am Boden und schlug vor Qual um sich, denn die hungrigen Flammen griffen ihn von allen Seiten her an, als wären sie eine straff geführte Armee. Es gab keinen Ausweg, nirgends ... Inzwischen waren Banners Augen dahin, ausgebrannt, doch zum ersten Mal, seit er Kierkan Rufos Versuchungen erlegen war, konnte der gefallene Priester die Wahrheit erkennen. Wo waren Rufos Versprechungen jetzt? Wo war die Macht, die Wärme des Blutes? In den letzten Sekunden seiner Existenz verstand Banner seine Torheit. Er wollte zu Deneir rufen, um Vergebung bitten, aber wie alles andere in seinem Leben beruhte dieser Impuls auf persönlichen Bedürfnissen. Es gab keine Liebe in Banners Herzen, und so starb er ohne jede Hoffnung. Auf der anderen Seite des Zimmers fraßen die Flammen die Zombies, einschließlich des Körpers von Fester Rumpol. Der Geist, das eigentliche Wesen von Fester Rumpol, spürte nichts davon, denn er hatte seinem Gegner widerstanden, hatte über den Tod hinaus an seinem Glauben festgehalten.
Sie kam vom Treppenabsatz des ersten Stocks und stieß
mit Abt Thobicus zusammen. Er packte sie an den Ober armen, stützte sie, und einen Augenblick glaubte Danica, sie hätte einen Verbündeten gefunden, einen Priester, der den schrecklichen Rufo vertreiben konnte. »Feuer«, stammelte sie. »Und Rufo ... « Danica brach plötzlich ab und beruhigte sich, während sie Thobicus genau in die Augen sah. Schweigend formte sie immer wieder das Wort »nein« und schüttelte dabei langsam den Kopf. Sie konnte die Wahrheit jedoch nicht verleugnen: Wenn auch Abt Thobicus der Finsternis anheimgefallen war, dann war die Bibliothek dem Untergang geweiht. Danica holte tief Luft, um zu sich zu kommen, zeigte vorläufig keinen Widerstand, und der Vampir lächelte böse. Dabei kamen dicht vor Danicas Gesicht seine spitzen Eckzähne zum Vorschein. Danicas Fuß zuckte hoch, traf Thobicus von unten gegen die Nase und ließ seinen Kopf gewaltsam zurückschnellen. Die Arme der Adeptin beschrieben einen schnellen Kreis, bei dem sie die Fäuste vor der Brust überkreuzte, sie dann nach außen führte und über den Ellenbogen des Abtes nach unten zog. Trotz der Stärke, die in dem Vampirgriff lag, konnte Danica sich durch die Hebelwirkung befreien. Ihr Fuß schoß ein zweites Mal nach oben, wo er das Ungeheuer wieder unter der Nase traf, was keinen echten Schaden anrichtete, Danica jedoch den Moment erkaufte, den sie brauchte, um sich loszureißen. Sie war wieder auf der Treppe und dachte kurz daran, nach unten zu laufen, aber Rufo kam bereits lachend hinter ihr nach oben. Danica rannte weiter, in den zweiten Stock. Ein Zombie stand schweigend im Treppenhaus, bot aber keinen
Widerstand, als Danica ihm die Faust in sein aufgedunsenes Gesicht schlug und ihn dann hinter sich hinunterwarf, um ihre Verfolger aufzuhalten. Jetzt stand sie frei im Gang des zweiten Obergeschosses, aber wo sollte sie hin? Sie blickte nach rechts, nach Süden, dann nach links und rannte daraufhin nach Norden, auf Cadderlys Zimmer zu. Rufo glitt lautlos über den Boden, aber Danica hörte sein spöttisches Lachen gleich hinter sich, als sie in Cadderlys Zimmer eilte, dem Vampir die Tür vor der Nase zuschlug und den Riegel vorschob. Im Zimmer fand sie einen weiteren Zombie vor, der teilnahmslos dastand. Sie fiel mit einem Hagel von Tritten und Schlägen über ihn her, der ihn in Sekundenschnelle vernichtete. Mit aufklaffender Brust fiel er auf den Boden, und Danica merkte, wie ihr übel wurde. Diese Übelkeit wich der Angst, als Rufos schwere Faust gegen die Tür donnerte. »Wo willst du denn hin, meine süße Danica?« neckte der Vampir. Ein zweiter Schlag ließ den Riegel erzittern und drohte, die Tür aus den Angeln zu heben. Rein instinktiv warf sich Danica mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, um sich mit ihrer ganzen Kraft dagegen zu stemmen. Das Donnern hörte auf, aber Danica entspannte sich nicht. Da sah sie den grünen Rauch, Rufos Nebel, unter der Tür hindurchkriechen, und sie hatte keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Sie taumelte durch den Raum, denn die Transformation des Vampirs lähmte sie so, daß sie glaubte, sie wäre verloren. Das aufgeregte Keckern eines Eichhörnchens ließ sie wieder zu sich kommen. Cadderlys Zimmer war eines der wenigen in der Bibliothek, das über ein relativ großes
Fenster verfügte, durch das der junge Priester oft aufs Dach geklettert war, um Percival mit Cacasanüssen zu füttern. Danica sprang übers Bett. »Wo willst du denn hin?« fragte der Vampir nochmals, während er wieder Gestalt annahm. Rufo erhielt seine Antwort in Form von stechendem Sonnenlicht, als Danica die Bretter abriß, die das Fenster versperrten. »Unverschämtheit!« brüllte Rufo. Danica knurrte nur zur Antwort und riß ein weiteres Brett aus seiner Befestigung. Jetzt sah sie durch das Glas Percival, der auf dem Dach im Kreis hüpfte - der gute Percival, der ihr das Leben gerettet hatte. Das Licht, das Rufo traf, war indirekt, denn das Fenster ging nach Osten zu den Leuchtenden Ebenen hinaus, und die Sonne war auf ihrem Weg zum westlichen Horizont. Dennoch wollte der Vampir sich nicht nähern und Danica draußen bei Tageslicht verfolgen. »Ich komme zurück, Rufo«, gelobte Danica, die an Dorigen dachte, grimmig. »Ich komme mit Cadderly zurück.« Sie nahm ein Brett und zerschlug das Glas. Rufo fauchte und machte einen Schritt auf sie zu, wurde jedoch vom Licht zurückgetrieben. Er riß den Türriegel aus seiner Verankerung und öffnete abrupt die Tür, so daß Danica schon glaubte, er wolle fliehen. Im Gang stand Abt Thobicus. Er hob abwehrend die Hand, sobald die Tür weit aufging und das schwache Tageslicht ihn erreichte. »Fang sie!« herrschte Rufo ihn an. Thobicus machte einen Schritt vorwärts, obwohl sein Kopf protestierte. Er war jetzt ein Wesen der Finsternis und kon nte nicht ins Licht treten! Er sah Rufo flehentlich an, doch die Miene des Vampirmeisters ließ keinen Kompromiß zu.
»Fang sie!« knurrte Rufo wieder. Thobicus merkte, wie er sich trotz der Schmerzen und der Einwände seines Bewußtseins vorwärts bewegte. Rufo zwang ihn, wie Cadderly ihn einst gezwungen hatte. Er hatte sich der Finsternis verschrieben und konnte sich Rufos Willen nicht entziehen! Jetzt wußte Thobicus, was für ein jämmerliches Wesen er war. Im Leben hatte ihn Cadderly beherrscht, und jetzt, im Tod, war es Rufo. Es war ein und dasselbe, befand er. Ein und dasselbe. Erst als er sich dem Fenster näherte, erkannte Abt Thobicus die Wahrheit. Cadderly war von seiner Moral geleitet worden. Cadderly hätte ihn nicht aus dem Fenster springen lassen. Cadderly - Deneir - war das Licht. Aber Thobicus hatte die Finsternis gewählt, und Rufo, sein Meister, wurde von keinem Moralkodex geleitet, sondern nur von seinen eigenen Wünschen gedrängt. »Fang sie!« verlangten die Stimme und der Wille des Vampirs. Danica hatte noch nicht genug Glas zerbrochen, um sicher durchsteigen zu können, deshalb fuhr sie herum und zog dem anrückenden Vampir das Brett über den Kopf. Thobicus knurrte sie an, und in seinem scheinbaren Sieg lag keine Freude, denn jetzt wußte er, daß er ein Opfer, kein Sieger, war. Danica stieß Thobicus die gesplitterten Überreste des Bretts in die Brust, denn sie wollte ihm diesen Ersatzpfahl ins Herz treiben. Doch er wehrte den Schlag mit einer Hand ab, und das splitternde Holz sank tief in seinen Bauch. Thobicus sah die junge Frau an und wirkte fast überrascht. Einen langen Moment musterten sie einander, und Danica fand, der Abt sähe irgendwie traurig und reuevoll aus.
Rufos Wille schoß wieder durch Thobicus' Geist, und die Gedanken des Abts waren nicht mehr seine eigenen. Danica und Thobicus bewegten sich gleichzeitig, sprangen beide auf das Fenster zu. Beide fielen sie hindurch, wobei das Glas Danicas nackte Arme aufriß. Dann rollten sie aufs Dach. Thobicus hielt Danica fest, die es nicht wagte, ihren Schwung abzumildern, denn sie wußte, sobald sie sich nicht mehr bewegten, war sie gefangen und würde wieder zu Rufo zurückgezerrt werden. Sie rollten weiter und weiter. Thobicus versuchte Danica zu beißen, doch sie brachte ihren Arm vor sein Gesicht, um ihn in Schach zu halten. Für beide war die Welt ein wirbelnder Nebel geworden. Percivals Gezeter wurde zum Protestschrei, als Danica und Thobicus vom Dach fielen.
Kein Ausweg
Die Vampirzähne suchten ihren Hals, und Danica war so damit beschäftigt, das wilde Ungeheuer von sich fernzuhalten, daß sie sich nicht richtig auf die Landung konzentrieren konnte. Sie rammte dem Vampir ihren Ellenbogen unter das Kinn, drückte mit aller Kraft und wand sich, um Thobicus nach unten zu bewegen. Durch die Wucht des Aufpralls flogen sie auseinander, doch das Knacken dabei klang, als ob ein dicker Ast von einem Baum bräche. Der Vampir war von dem Fall nicht einmal betäubt, aber als er auf die Beine sprang und auf Danica zustürzte, weil er noch immer von Kierkan Rufos Befehlen gelenkt wurde, taumelte Thobicus und sah sich dann um, als wäre er verwirrt. Tageslicht überflutete ihn. Danica wimmerte, als sie versuchte, auf die Beine zu kommen. Sie stellte fest, daß ihr Knöchel gebrochen war. Der Knochen hatte die Haut durchdrungen. Obwohl ihr jede Bewegung Schmerzen bereitete, stützte sich die störrische Adeptin auf das Knie des unverletzten Beins und warf sich nach vorn, wo sie ihre Hände fest um den Knöchel des Vampirs schlang. Sie hatte nur noch entkommen wollen, aber jetzt war es Thobicus, der darauf versessen war, in die tröstliche Dunkelheit der Bibliothek zurückzukehren. Das wollte Danica nicht zulassen. Sie konnte den Schmerz in seinem Gesicht erkennen, und aus Legenden, die sie als Kind gehört hatte, wußte sie, daß das Tageslicht ihm die Haut von den Knochen lösen würde. Trotz ihrer Schmerzen und
ihrer furchtbaren Lage konnte die Adeptin noch so weit denken, daß sie verstand, daß es sinnvoll war, Thobicus jetzt zu vernichten. Es würde die notwendige Säuberung der Bibliothek soviel einfacher machen. Wie eine Bulldogge hielt Danica fest. Thobicus schlug ihr auf den Kopf, trat und schrie. Eines von Danicas Augen schwoll zu. Sie hörte Knochen knacken, als ihre Nase brach, und der Schmerz in ihrem Knöchel ließ nicht nach, sondern wurde immer stärker, bis sie sich größte Mühe geben mußte, bei Bewußtsein zu bleiben. Dann lag sie in ihrem eigenen Blut auf der kalten Erde und hielt nichts mehr fest. Irgendwo hörte sie die sich entfernenden Schreie des Vampirs. Thobicus rannte direkt auf die Eingangstür der Bibliothek zu. Jeder Muskel zitterte vor Anstrengung und vom Brennen des Tageslichts. Er war ein geschwächtes, jämmerliches Wesen, als er sich gegen die Holztür warf und von ihr abprallte. Er taumelte zurück und fiel auf den Boden. Von dort aus sah er das Loch in der Tür, das von Danicas Tritt stammte, sah die kühle Dunkelheit dahinter, die ihn lockte. Ein Stück Haut über dem rechten Auge des Vampirs schmolz und tropfte herunter, was ihm die Sicht nahm. Wieder lief er auf die Tür zu, kam jedoch vom Weg ab und landete diesmal hart an der Steinmauer. »Wie konntest du mir das antun?« jammerte er, doch seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der bedrängte Vampir lief stolpernd an der Mauer entlang, um die Ecke und an der Seite der Bibliothek weiter. Irgendwo im Süden gab es einen Tunnel, das wußte er. Einen kühlen, dunklen Tunnel. Er hatte keine Zeit mehr, ihn zu suchen. Thobicus
erkannte, daß er verloren war, verflucht durch seine eigenen Schwächen und durch diesen Unhold Rufo, der ihn betrogen hatte. Die Rückseite des Gebäudes lag in direktem Sonnenlicht, und der Vampir blieb stehen, als er an die Ecke kam, und lehnte sich dann rücklings an die Mauer. Wo sollte er hin? Thobicus kämpfte darum, seine Gedanken zu sortieren, und konnte den Schmerz lange genug verdrängen, um sich an das Mausoleum zu erinnern. Kühl und dunkel. Um dorthin zu gelangen, mußte er jedoch die Sonnenseite des Bibliotheksgeländes überqueren. Der gefallene Abt konnte die Aussicht auf diese Schmerzen kaum ertragen, aber er begriff, daß Hierbleiben seinen Tod bedeutete. Mit einem trotzigen Schrei warf sich Thobicus um die Ecke und rannte mit aller Kraft auf das Mausoleum zu. Das Sonnenfeuer versengte jede Stelle seines Körpers, brannte sich direkt in sein Herz und bereitete ihm mehr Schmerzen, als er je für möglich gehalten hätte. Aber er schaffte es. Irgendwie fiel er durch die schwere Tür des Mausoleums und spürte den kühlen Schatten des Steinbodens unter seiner glühenden Wange. Auf dem Bauch kroch er in die hinterste Ecke, wo er den Steinsarg von Großmeister Avery öffnete und irgendwie die Kraft fand, den dicken Leichnam herauszuziehen und an Averys Platz zu kriechen. Zitternd vor Qual rollte er sich zusammen und schloß die Augen. Thobicus brauchte Schlaf, damit er wieder zu Kräften kam und seine Dummheit und sein Schicksal überdenken konnte. Kierkan Rufo hatte ihn belogen. Er hatte den Weg zu Deneir verlassen.
Die Schatten waren lang und schräg, als Danica wieder zu sich kam. Sie bemerkte gleich, daß sie reichlich Blut verloren hatte, und verzog das Gesicht, als sie die Kraft aufbrachte, ihre Verletzung anzusehen. Ihr Fuß war geschwollen und grün angelaufen. Das spitze Ende eines Knochens ragte heraus. Es war von getrocknetem Blut verkrustet, und eine zerrissene Sehne hing daran. Wie sollte sie sich bewegen - aber wie konnte sie an diesem Ort bleiben, wenn die Schatten länger wurden? Mit Hilfe aller Konzentration, die sie sich durch jahrelange Übung erworben hatte, und aller Willenskraft, die ihr Leben gelenkt hatte, gelang es der Adeptin, sich auf ihr gesundes Bein zu stellen. Ihr wurde dabei schwindelig, und sie befürchtete, daß die Veränderung ihrer Haltung noch mehr Blut aus der Wunde fließen lassen würde. Sie machte einen hüpfenden Schritt nach Osten, auf den Hauptweg zu, der von der Bibliothek fortführte. Dann lag sie wieder mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Keuchend sog sie Luft in ihre Lungen, damit sie nicht wieder ohnmächtig wurde - bei den Göttern, sie durfte nicht wieder ohnmächtig werden! Dann riß Danica den unteren Teil ihres Hemdes ab und beugte sich zu ihrem gebrochenen Knöchel vor. Einen Stock, der herumlag, steckte sie sich zwischen die Zähne und biß mit aller Kraft darauf, während sie die Wunde fest umwickelte, um den Knochen wieder ein Stück weit an seinen Platz zu zwingen. Sie war schweißgebadet, als sie sich schließlich wieder dem Weg zuwandte, doch sie stimmte ihr Einto an, ihr Mantra, und brach auf, erst kriechend, dann hüpfend, schneller und schneller, nur fort von der Dunkelheit.
Jeder Trost, den sie daraus zog, die Bibliothek hinter sich zu lassen, wurde von der roten Sonne beeinträchtigt, die hinter ihr über den Berggipfeln stand. Sie wußte, daß Rufo ihr nachkommen würde; sie war eine Beute, die der Vampir begehrt hatte, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Das Gelände war Danica vertraut, und obwohl sie im dichten Unterholz sehr viel schlechter vorwärts kam, bog sie vom Hauptweg ab und hielt sich genau nach Osten. Sie wußte, daß sie später wieder auf den Weg zurückkehren konnte, vielleicht morgen früh, nachdem sie sich über Nacht tief im Wald vor Rufo versteckt hatte. Sie fand einen schmalen Pfad durch das Unterholz, vielleicht den eines Waldläufers oder eines Druiden, so daß sie etwas leichter vorangelangte. Als dann die Dämmerung hereinbrach, pochte ihr Herz vor Hoffnung schneller, als drei Gestalten den Weg entlangkamen, die auf die Bibliothek zuhielten. Danica erkannte die Gewänder der Oghma-Priester und hätte angesichts der Priester beinahe einen Jubelruf ausgestoßen. Sie zog fragend die Brauen hoch, als sie erkannte, daß einer von ihnen rückwärts ging, weil ihm der Kopf auf den Schultern herumgedreht worden war. Danica stockte der Atem, und ihre Hoffnungen zerplatzten, als der steife Gang der drei Männer - der drei toten Männer – offensichtlich wurde. Diesmal hielt sie sich für verloren - die drei mußten sie gesehen haben. Danica sackte gegen einen Baumstamm, denn sie wußte, daß sie nicht gegen diese Ungeheuer kämpfen konnte. Sie waren nur zehn Fuß entfernt. Fünf Fuß entfernt. Sie versuchte einen kraftlosen Hieb, der den einen Zombie an der Schulter traf, doch der taumelte nur einen Fuß zur Seite und lief weiter, einfach an Danica vorbei!
Danica verstand gar nichts, hinterfragte ihr Glück jedoch auch nicht. Sie sah sich nur einmal nach den sich entfernenden Zombies um, bevor sie wieder aufbrach. Sie fragte sich, ob die ganze Welt von dieser Finsternis beherrscht wurde. Nachdem die Sonne untergegangen und die Dämmerung vorüber war, war Danica immer noch unterwegs. Jetzt wurde es wirklich finster, und die Nachtvögel begannen zu rufen. Sie fand eine Höhle und ließ sich fallen, denn sie fand, sie müsse sich ausruhen. Sie hoffte nur, daß sie noch am Leben war, wenn die ersten Sonnenstrahlen sich über die Leuchtenden Ebenen reckten. Die harten Überreste einer Schneewehe linderten ihre Schmerzen, als Danica das kalte Eis um ihren Knöchel packte. Sie kratzte ein V in den Haufen und legte ihren Fuß dort hinein. Dann legte sie sich hin, fuhr mit ihrem Einto fort und versuchte die Nacht zu überleben. Einige Zeit später hörte sie Musik, nicht bedrohlich, sondern fröhlich, und bald erkannte sie, daß es sich um zotige Händlerlieder handeln mußte. Nach einem Moment der Verwirrung fiel Danica ein, daß Frühling war, und daß häufig Händler von Carradoon heraufzogen, um der Bibliothek nach dem langen Winter frische Vorräte zu liefern. Also war nicht die ganze Welt befallen, erkannte sie, noch nicht. Das ließ sie hoffen. Danica legte sich zurück und schloß die Augen. Sie brauchte Schlaf. Aber sie durfte nicht einschlafen, begriff sie einen Augenblick später. Sie konnte nicht einfach hierbleiben und die Händlerkarawane vorbeiziehen lassen. Sie konnte doch nicht zulassen, daß diese arglosen Menschen direkt in Rufos
Schlupfwinkel liefen. Noch schlimmer war, daß sie es für wahrscheinlich hielt, daß Rufo bei seiner Suche nach Danica noch heute nacht auf diese Karawane stoßen würde! Bevor sie sich ihrer Handlungen bewußt war, war Danica bereits wieder auf den Beinen und taumelte durch das Unterholz. Fast sofort sah sie das Lagerfeuer und hielt genau darauf zu. Sie stolperte, ehe sie es erreichte, hatte aber nicht mehr die Kraft aufzustehen. Deshalb kroch sie weiter, obwohl ihr schwindelig und übel war. »Heda!« rief ein Mann am Rand des Lagers, als Danica die Grenze des Unterholzes durchbrach. Sie sah ein Schwert aufblitzen, als der Mann auf sie zusprang, weil er sie offenbar für einen Dieb oder gar ein wildes Tier hielt. Als nächstes fand die junge Frau sich neben einem Planwagen wieder. Ihr verletztes Bein war vor ihr hochgelegt, und eine alte Frau kümmerte sich sorgfältig um die Wunde. Mehrere Männer, Kaufleute und ihre Wachen, umstanden sie mit besorgten Blicken, und mehr als einer von ihnen biß sich auf die Lippen. Die alte Frau bewegte den Knöchel ein wenig, und Danica schrie auf. Darauf drehte sich die Alte zu ihren Begleitern um und nickte finster. »Ihr müßt ... «, setzte Danica an, die zum Sprechen nach Atem ringen mußte, »ihr müßt sofort fliehen.« »Ganz ruhig, Kleine«, versuchte einer der Männer sie zu trösten. »Jetzt bist du sicher.« »Lauft«, sagte Danica. »Lauft!« Die Männer sahen einander an und zuckten allesamt verwirrt mit den Schultern. »Nach Carradoon«, brachte Danica heraus. »Flieht von diesem -«
»Ganz ruhig, Kleine«, unterbrach derselbe Mann. »Ein Priester!« kam ein hoffnungsvoller Ruf seitlich des Lagers. »Ein Oghma-Priester!« Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf den Mienen derjenigen aus, die sich um Danica kümmerten, aber Danicas Gesicht wurde noch bleicher. »Lauft!« schrie sie, ehe sie ihr Bein der alten Frau entwand und sich rückwärts mit den Schultern am Wagen hochschob, bis sie wieder stand. Derselbe Mann redete wieder tröstend auf sie ein. Er war der erste, der starb. Er wurde einfach über den Wagen geschleudert, prallte gegen den Stamm eines hohen Baumes und brach sich dabei den Hals. Im Nu herrschte im Lager ein heilloses Durcheinander. Zwei Oghma-Priester, die sich der Finsternis ergeben hatten, und eine Horde Zombies hatten diesmal den Auftrag zu töten. Die Kaufleute kämpften tapfer, denn sie erkannten, welcher Preis auf ihr Versagen stand. Viele Zombies wurden zerhackt. Aber drei Vampire, einschließlich des Meisters, brachen in ihre Reihen ein und rissen sie auseinander. Mehrere Händler rannten kreischend in die Nacht hinaus. Drei stellten sich schützend um Danica und die alte Frau, die der verletzten Adeptin nicht von der Seite wich. Diesen dreien widmete sich Kierkan Rufo. Danica, die nur halb bei Bewußtsein war, erwartete einen heftigen Kampf, aber trotz all des Aufruhrs im Lager stand diese Gruppe Männer aus irgendeinem Grunde ruhig da. Da erkannte Danica, daß Rufo zu ihnen sprach, sie mit einem Netz aus Worten beruhigte, mit seinem Willen in ihre Gedanken eindrang und sie Dinge sehen ließ, die nicht
wahr waren. »Er lügt!« schrie Danica. »Haltet euch die Ohren zu, verschließt eure Gedanken! Trotzt ihm! Oh, bei dem Licht, das euer Gott ist, welcher Gott auch immer, begreift das Böse als das, was es ist!« Sie würde nie verstehen, woher diese plötzliche Kraft gekommen war, wie sie diese drei verlorenen Männer so hatte anschreien können, aber obwohl sie bald unter Kierkan Rufos schrecklichen Händen starben, ergaben sie sich nicht der Finsternis. Sie folgten Danicas Worten und fanden in ihrem Glauben die Kraft, dem Vampir zu widerstehen. Dieser Kampf tobte noch, und ein Mann erzielte mit einem Schwert mit silbernen Intarsien einen guten Treffer bei Rufo, als die alte Frau an Danicas Seite plötzlich aufschrie und rückwärts gegen den Wagen sank. Danica schaute in ihre Richtung, von wo einer der anderen Vampire heranstapfte. Er hatte ein breites Lächeln aufgesetzt, das seine Reißzähne zeigte, und sein Blick ruhte fest auf Danica. »Du läßt sie in Ruhe!« schimpfte die alte Frau und zog von irgendwoher eine Keule - es mußte der Griff eines Butterstampfers sein -, die sie dem Vampir über den Kopf schlug. Das Ungeheuer sah die Alte neugierig an, während diese ihre Keule ein zweites Mal erhob. Seine Hand schoß vor und packte sie am Hals. Danica sah zur Seite, konnte jedoch nichts dagegen tun, daß sie das Geräusch knackender Knochen hörte. Dann stand der Vampir mit wildem, gierigem Gesicht vor ihr. Danica boxte ihn in den Mund.
Er wirkte überrascht, jedoch kaum verletzt. Danica boxte ihn wieder, denn mit ihrem Zorn kehrte ihre Kraft zurück. Sie sah zu der alten Frau, die ihr geholfen hatte und jetzt tot auf dem Boden lag, und ihre Hände peitschten vor, eins-zwei, um den Vampir abwechselnd an der Kehle zu treffen. Unter ihren Schlägen brach seine Luftröhre ein, so daß keine Luft mehr hindurchströmen konnte. Aber Vampire atmen nicht. Danica traf ihn noch ein dutzendmal, ehe er sie endlich ergreifen und festhalten konnte. Er hatte sie, und Rufo kämpfte noch, und es gab nichts, was sie tun konnte. Ein weißer Blitz tauchte vor ihrem Gesicht auf, und der Vampir fiel unerwartet zurück. Danica brauchte einen Augenblick, bis sie erkannte, daß er sich gegen ein kratzendes, beißendes Eichhörnchen wehrte. Danica stieß sich vom Wagen ab und hüpfte vor, denn sie wollte nur noch Percival zur Hilfe kommen. Der Vampir riß das Tier von sich ab und schleuderte Percival zur Seite, als Danica sich gerade mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn stemmte und ihn dadurch umwarf. Sie rollten sich einmal herum, wobei Danica ihren gesunden Fuß gegen den Bauch des Vampirs stemmte und mit aller Kraft zutrat, als sie unten lag. Sie hörte ein knackendes Geräusch, denn ein Ast brach, als sie den Vampir von sich wegtrat. Als die Welt sich endlich nicht mehr um die arme Danica drehte, wußte sie den glücklichen Zufall zu schätzen, der sie vorläufig gerettet hatte, denn der abgebrochene Zweig hatte den Vampir durch die Brust aufgespießt, so daß dieser vergeblich zappelnd am Baum hing. Es machte Danica weiteren Mut, daß Percival vor ihren
Augen offenbar unverletzt ebendiesen Baum erklomm. Plötzlich wurde Danica auf die Beine gezogen. Sie hing in den Klauen des wütenden Kierkan Rufo. Sie blickte auf seinen bloßen Unterarm und bemerkte, daß seine Wunden verheilt waren - mit Ausnahme des geröteten Hautflecks, der an der zerbrochenen Tür in den Sonnenstrahl geraten war. »Du läufst nicht mehr fort«, versprach Rufo, und Danica erschauerte. Sie war kraftlos und außer Atem. Der Kampf war vorüber. Der andere Vampir kam zu Rufo. Als er zu dem Ast sah, von dem sein Freund schlaff herunterhing, legte sich ein boshafter Ausdruck über sein Gesicht. Er blickte Danica finster an und kam genau auf sie zu. Danica kam es seltsam vor, wie leicht Kierkan Rufo den aufgebrachten Vampir aufhalten konnte. Rufo hob nur die Hand, und der Vampir wich fauchend und heulend, aber hilflos, einen Schritt zurück. »Die hier ist für mich«, erinnerte ihn Rufo. Der Vampir sah wieder zu seinem Gefährten. Wenn ich ihn vom Ast ziehe, kommt er zu uns zurück, überlegte er plötzlich, und den Legenden zufolge entsprach diese Bemerkung der Wahrheit. »Laß ihn dort!« befahl Rufo, als der Vampir auf das aufgespießte Ungeheuer zuging. Der Vampir sah sich zu seinem Meister um. »Er hat gegen meinen Willen gehandelt«, erklärte Rufo. »Er hätte Danica getötet oder sie für sich genommen. Überlaß ihn dem Schicksal, das er verdient.« Danica bemerkte den skeptischen, dann verschlagenen Blick, der sich kurz über die bleichen Züge des untergeordneten Vampirs legte. In diesem Moment haßte der ehemalige Oghma-Priester Rufo aus tiefstem Herzen
und wollte diesem nur noch die Kehle herausreißen. Aber dieser Haß schmolz rasch zu Resignation, und der untergeordnete Vampir verzog sich. »Wir hatten große Verluste«, meinte er, und Danica kam es seltsam vor, daß er derjenige war, der das Thema wechselte. Rufo tat die Bemerkung verächtlich ab. »Das waren bloß Zombies«, erwiderte er. »Ich werde morgen abend zurückkommen und sie wieder neu beleben. Und die anderen auch, die die hier verteidigt haben.« Er schüttelte Danica durch, worauf neuer Schmerz von ihrem Knöchel hochzuckte. »Was wird aus Diatyne?« wollte der andere Vampir mit einem Blick auf den Baum wissen. Rufo überlegte lange. »Er hat versagt«, entschied Rufo. »Sein Fleisch gehört der Sonne.« Dem Oghma-Vampir kam dies wie eine furchtbare Verschwendung vor. Aber so war es ihnen gemäß, befand er. Das war der Pfad, den er gewählt hatte. So sei es. Rufo schaute Danica an. Jetzt war sein Gesicht gelassen. »Du brauchst Schlaf«, flüsterte er. Danica spürte die Worte mehr, als daß sie sie hörte. Sie spürte, daß es wirklich eine gute Sache wäre, jetzt einzuschlafen. Sie schüttelte heftig den Kopf, weil sie erkannte, daß sie Rufo in jeder Hinsicht bis zuletzt bekämpfen mußte. Rufo starrte sie an, denn er fragte sich, wo diese innere Kraft hergekommen war. Danica spuckte ihm ins Gesicht. Rufo verpaßte ihr einen harten Schlag, noch ehe er sich seiner Bewegung bewußt war, und die verprügelte, vom Blutverlust geschwächte Danica fiel schlaff auf den Boden. Der wütende Vampir packte sie an den Haaren und zog sie hinter sich her, während er seinen Untergebenen anwies,
die übrigen Zombies zu sammeln und ihm in die Bibliothek zurück zu folgen. Rufo hatte den Lagerplatz jedoch noch nicht einmal hinter sich gelassen, als der letzte Rest seines Herzens ihn anrührte und ihn an seine Gefühle für Danica erinnerte. Er bückte sich und hob sie sanft in seine Arme, drückte sie an sich, obwohl sein Körper keine Wärme bieten konnte. Er sah ihren weißen Hals im Mondschein aufleuchten und war versucht, zuzubeißen und ihr das Blut auszusaugen. Es war die größte Tat, die Kierkan Rufo je vollbracht hatte, sich diese Freude zu versagen, denn er wußte, daß Danica diesen Biß nicht überleben würde. Sie würde zweifellos sterben und für ihn für immer verloren sein, wenn er jetzt von ihr zehrte. Hoch in den Bäumen über dem Schlachtfeld beobachtete Percival die unheilige Prozession, die jetzt davonwanderte. Das Eichhörnchen verstand, was sie vorhatten, deshalb hetzte es über die Zweige in die Nacht, um jemanden zu finden, der nicht mit Kierkan Rufo im Bunde war.
Zu lieben
Der Vampir betrachtete sie, und zum ersten Mal in all den Jahren, die er Danica kannte, erschien sie ihm so zerbrechlich. Eine zarte Blume war sie, und ein starker Wind konnte sie davonblasen. Kierkan Rufo wollte zu ihr gehen, zärtlich ihren schönen Hals streicheln, sie küssen - zuerst sanft, bis das Verlangen dann stärker wurde und er endlich seine Eckzähne, die äußeren Merkmale dessen, wozu er geworden war, in diesen Hals senken konnte. Dann würde er die Wärme dieser Frau spüren, die er begehrte, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Aber Kierkan Rufo konnte es nicht, obwohl der Chaosfluch ihn dazu drängte. Wenn er jetzt von Danica trank ... nein, sich mit ihr vereinigte, würde er sie vorzeitig umbringen. Rufo wollte Danica nicht tot, jetzt noch nicht, nicht bevor er ihr genug von sich geben konnte, von dem, was er geworden war. Sie sollte sich ihm in seinem Vampirdasein anschließen. Ganz gleich, was der Hunger und der Chaosfluch von ihm forderten, der Vampir fügte sich einfach nicht und würde Danicas Tod nicht hinnehmen. Sie würde seine Königin sein, entschied Rufo. Mit Danica an seiner Seite würde diese Existenzform so viel befriedigender sein. Dieses Bild von seiner Königin war für Rufo noch köstlicher, wenn er daran dachte, wie sehr es Cadderly verletzen würde. So sehr Kierkan Rufo Danica auch begehrte, noch mehr wünschte er sich, Cadderly weh zu tun. Er würde vor den Augen des jungen Priesters mit Danica, seiner Danica,
protzen und ihn damit quälen, daß er, Cadderly, schließlich doch verloren hatte. Geifer tropfte aus dem halbgeöffneten Mund des Vampirs, als Rufo in seiner Vorstellung schwelgte. Seine Unterlippe zitterte, als er einen gleitenden Schritt nach vorne machte. Fast hätte er seine ganze Vernunft vergessen und wäre hier und jetzt über die bewußtlose Danica hergefallen. Er hielt sich zurück, richtete sich auf und kam sich fast ertappt vor, als er sich zu Histra umdrehte, diesem erbärmlich vernarbten Wesen, das neben ihm im Raum stand. »Du wachst über sie«, befahl Rufo. »Ich habe Hunger«, bemerkte Histra und faßte dabei Danica ins Auge. »Nein!« fauchte Rufo, und schon der Nachdruck seines Befehls warf die schwächere Vampirin einen Schritt zurück. »Du wirst nicht von der hier trinken! Und wenn andere hereinkommen und ähnliche Gedanken hegen, dann warne sie gut: Ich werde sie vernichten!« Ein ungläubiges Zischen entrang sich Histras knallroten Lippen, und wie ein verhungerndes Tier blickte sie verzweifelt von Rufo zu Danica. »Du kümmerst dich um ihre Wunden«, fuhr Rufo fort. »Und wenn sie stirbt, wirst du endlose Qualen erleiden!« Damit verließ der Meister selbstbewußt den Raum und hielt auf den Weinkeller zu, in dem er während des Tages neue Kräfte sammeln wollte. Er bemerkte den matten Umriß eines unsichtbaren Teufelchens, das in einer Ecke hockte, und nickte in sich hinein. Wenn hier etwas schiefging, würde Druzil ihn telepathisch warnen.
Danicas Rückkehr ins Bewußtsein war eine langsame, schmerzhafte Reise. Mit ihrem Bewußtsein erwachten auch Gedanken an das Blutbad im Lager, Gedanken an die arme Dorigen und die Erkenntnis, daß die Erhebende Bibliothek besiegt war. Quälende Träume trugen sie ans Ende ihrer Reise, bis sie erschrocken die Augen aufschlug. Der Raum war dämmrig, aber nicht dunkel, und nach einem Augenblick fiel Danica ein, daß sie mitten in der Nacht gefangen worden war. Ihr wurde klar, daß der nächste Abend angebrochen sein mußte. Sie atmete gleichmäßiger und versuchte Alptraum und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Dann begriff sie, daß die Wirklichkeit zum Alptraum geworden war. Danica riß die Hände nach oben - die Bewegung ließ ihr Schmerzensschauer über das Bein laufen - und griff an ihren Hals, um nach Bißwunden zu suchen. Sie entspannte sich etwas, als sie überzeugt war, daß die Haut noch unversehrt war. Aber wo war sie? Sie versuchte sich auf den Ellenbogen hochzustützen, fiel aber sofort zurück, als Histra, die noch nach verbrannter Haut stank, an ihre Seite sprang und sie wütend anstarrte. Die restliche Haut an Histras Hinterkopf war unter der Anspannung aufgerissen, so daß ihr Gesicht herunterhing, als würde sie eine lose, biegsame Maske tragen. Und diese schrecklichen Augen! Sie sahen aus, als würden sie gleich aus ihren zerstörten Höhlen fallen, auf Danicas Körper landen und darauf entlangrollen. Danica versuchte ihre Erleichterung zu verbergen, als die schauerliche Kreatur zurückwich. Jetzt sah sie, daß sie in
einem der Schlafzimmer der Bibliothek war, wahrscheinlich in den privaten Räumen von Abt Thobicus, denn das Zimmer war mit schönen, dunklen Holzmöbeln eingerichtet. An der Wand gegenüber stand ein großes Rollpult unter einem phantastischen Wandteppich, und daneben befand sich ein Lederdiwan. Selbst das Bett sah luxuriös aus und fühlte sich auch so an. Es war riesig, mit vier Pfosten und einem offenen Baldachin und mit weichen Kissen ausgepolstert. »Du lebst also«, sagte Histra mit gifttriefender Stimme. Danica konnte den Grund für diese Wut verstehen. Sie und Histra waren schon zu Lebzeiten Rivalinnen gewesen, als Histra vergeblich versucht hatte, ihre Reize bei Cadderly anzuwenden. Danica mit ihren exotischen, zimtfarbenen Mandelaugen und der unbändigen rötlichblonden Mähne war nach allgemeinen Maßstäben eine schöne Frau. Trotz der Gebote ihrer Religion hatte Histra etwas gegen schöne Frauen, sofern sie Rivalinnen waren - und sie waren immer Rivalinnen. Jetzt war Histra ein häßliches Ding, eine Karikatur ihrer früheren Schönheit, und obwohl sie bei dieser Begegnung mit der schwachen, mitgenommenen Danica in jeder Hinsicht im Vorteil war, brachte dieser Umstand sie in die Defensive und an den Rand des Explodierens. Danica benutzte ihre Beobachtungen, um den Ekel und die Angst zu überwinden. Sie konnte Gefahr spüren, die von Histra ausging - wenn Histra sie töten wollte, konnte Danica wenig dagegen tun. Aber Danica glaubte nicht, daß Histra sie umbringen würde. Hier führte Rufo das Kommando - so viel wußte Danica seit ihrer Begegnung in der Eingangshalle -, und wenn Rufo Danicas Tod wollte, hätte er sie draußen im Wald bereits selbst getötet.
»Wie süß du bist«, bemerkte Histra, die mehr zu sich als zu Danica sprach. Ihr abrupter Wechsel im Tonfall bestätigte Danicas Verdacht, daß der Vampirin enge Grenzen gesetzt waren. Histra legte eine Hand an Danicas Gesicht und fuhr ihr sanft über die Wange und seitlich am Hals herunter. Plötzlich schoß Histras häßliches Gesicht vor. Sie hatte den Mund so weit aufgerissen, daß Geifer und ihr heißer Atem Danica ins Gesicht drangen. Danica wurde schwindelig, denn in diesem Augenblick dachte sie, ihr Leben hätte sein Ende erreicht. Sie riß sich jedoch schnell zusammen und blickte hoch. Dabei stellte sie fest, daß Histra zurückgewichen war. »Ich könnte dich vernichten«, sagte die Vampirin wie beiläufig. »Ich könnte dir das Herz herausreißen und es essen. Ich könnte meine Finger durch deine hübschen Mandelaugen stechen und dein Gehirn zerreißen.« Danica wußte nicht, wie sie auf diese Drohungen reagieren sollte. Sollte sie angesichts von Histras Drohungen Entsetzen vortäuschen oder über allem stehen und der Vampirin zeigen, daß sie den Bluff durchschaute? Sie entschied sich für die zweite Möglichkeit und ging einen Schritt weiter. »Das wäre Kierkan Rufo aber gar nicht recht«, erwiderte sie ruhig. Histras Gesicht schoß mit offenem Mund wieder vor, aber diesmal zuckte Danica nicht zusammen. »Er will mich«, sagte Danica, nachdem Histra zurückgewichen war. »Ich bin seine Königin«, protestierte die Vampirin. »Der Meister braucht dich nicht!« »Der Meister?« flüsterte Danica in sich hinein. Es fiel ihr schwer, diese Worte mit Kierkan Rufo in Verbindung zu
bringen. Zu Lebzeiten hatte der Mann nicht einmal seine eigenen Gefühle gemeistert. »Er liebt dich?« fragte sie unschuldig. »Er liebt mich!« erklärte Histra. Danica begann zu kichern, tat aber so, als ob sie sich große Mühe gäbe, ihre Reaktion zu unterdrücken. »Was ist?« wollte Histra wissen, die sichtlich bebte. Danica erkannte, daß sie diesmal ein Risiko einging, aber sie sah keine andere Möglichkeit. »Hast du mal in einen Spiegel gesehen?« fragte Danica, hielt jedoch inne, nachdem sie die Frage beendet hatte, als ob ihr gerade etwas eingefallen wäre. »Natürlich«, fügte sie mit leiser, herablassender Stimme hinzu. »Du kannst dein Spiegelbild nicht mehr sehen, nicht wahr?« Danica wollte sagen: »Rufo liebt mich«, fand aber, daß diese Aussage die Vampirin ein kleines Stück zu weit treiben könnte. »Rufo liebt niemanden«, korrigierte sie Histra. »Er hat nie gelernt, was das heißt.« »Du lügst.« »Ebensowenig wie du«, fuhr Danica fort. »In deinem Bemühen, die Göttin Sune zu ehren, hast du noch nie Lust von Liebe unterschieden.« Bei der Erwähnung von Sune malte sich offensichtlicher Schmerz auf Histras verzerrtem Gesicht. Ihre Hand, deren Knochen zwischen den geschwärzten Hautfetzen hervorschimmerten, zuckte, als ob sie auf Danica einschlagen wollte, doch kurz davor ging die Zimmertür auf. »Das reicht«, sagte die ruhige Stimme von Kierkan Rufo. Histra warf einen Blick über ihre Schulter und ließ langsam den Arm sinken. Rufo wies ruckartig mit dem Kopf zur Seite und winkte
mit der Hand. Gehorsam stellte sich Histra an die Wand und senkte den Kopf - worauf die lose Haut ihres Gesichts ihr fast bis auf die großen Brüste herunterhing. »Selbst wenn du so eindeutig besiegt bist, findest du noch den Mut, deine Spielchen zu treiben«, sagte Rufo anerkennend zu Danica. Er trat neben das Bett und setzte ein ruhiges Lächeln auf. »Spar dir die Kraft«, flüsterte er. »Laß deine Wunden verheilen, und dann ...« Danica lachte ihn aus, wodurch sie ihm seine Phantasien, das selbstgefällige Lächeln und die ruhige Haltung raubte. »Und dann was?« fragte sie scharf. »Dann lieben wir uns bis in alle Ewigkeit?« Sie nahm wahr, daß ihr Hohngelächter den Vampir tief verletzte. »Ich habe Histra gerade erklärt, daß du nicht weißt, was Liebe ist.« »Du und Cadderly, ihr habt dieses Gefühl ganz allein für euch gepachtet«, erwiderte Rufo sarkastisch, »als ob es sich dabei um eine Ware handeln würde, von der es nur eine bestimmte Menge gibt.« »Nein«, gab Danica zurück, »aber Cadderly und ich haben gelernt, dieses Gefühl miteinander zu teilen. Wir haben gelernt, was das Wort bedeutet.« »Ich habe dich geliebt ... «, setzte Rufo an, brach dann aber ab. »Unmöglich«, fauchte Danica ihn an, bevor Rufo sein Argument näher ausführen konnte. »Unmöglich. Du hast auch Histra geliebt. Ich weiß, daß es so war, als du sie damals auf deine Seite gelockt hast.« Danica sah bei diesen Worten Histra an, weil sie hoffte, sie würde im Gesichtsausdruck der Vampirin irgendwelche Hinweise finden, die ihre Improvisation stützen konnten. »Das habe ich nicht«, begann Rufo einzuwenden, denn er wollte erklären, daß es nicht einmal er selbst gewesen war,
der Histra erobert hatte. Danica schnitt ihm jedoch das Wort ab, und so wie die Worte nun im Raum standen, hatten sie für Histras Ohren eine völlig andere Bedeutung. Sie schienen zu leugnen, daß Rufo sie je geliebt hatte. »Hast du doch!« schrie Danica mit aller Macht, und sie mußte einen Augenblick innehalten, um wieder Luft zu holen und die nun folgenden Schmerzwellen zurückzudrängen. »Du hast sie geliebt«, fuhr sie fort, während sie tief in ihr Kissen sackte, »als sie schön war.« Das erreichte Histra. Danica erkannte es nur zu gut. Die Vampirin hob den Kopf, und ihre ohnehin schon grotesken Züge wirkten noch schauriger, als sie sich nun in wachsender Wut verzerrten. »Aber jetzt ist sie ein häßliches Ding«, sagte Danica, die darauf achtete, daß ihre Worte ihre Enttäuschung über Rufo ausdrückten und sich nicht gegen Histra richteten. »Und nicht mehr anziehend.« Danica sah Histra einen kleinen Schritt vortreten. »Bene tellemara.« Druzil, der unsichtbar auf dem Rollpult hockte, schüttelte knurrend seinen hundsgesichtigen Kopf. Rufo schüttelte ebenfalls den Kopf, denn er fragte sich, wie diese Situation ihm so entglitten war. Es fiel ihm schwer, die Dinge wieder zurechtzurücken, wenn er sich gleichzeitig über den Schmerz hinwegsetzen mußte, den Danicas Worte bei ihm verursacht hatten. »Wenn ich so vernarbt wäre«, setzte Danica ihren Ansatz fort, »wenn ich häßlich geworden wäre wie Histra, würde Cadderly mich trotzdem noch lieben. Er würde sich keine neue Königin suchen.« Rufos Lippen formten lautlos Worte, die ihm nicht ausreichend erschienen. Plötzlich richtete er sich hoch auf und nahm wieder eine würdevolle Haltung ein.
Da ging Histra auch schon auf ihn los, und beide flogen zur Seite und rollten krachend gegen die Wand. Sie gingen mit Zähnen und Klauen aufeinander los, schlugen und traten und taten alles, um einander Schmerzen zuzufügen. Danica wußte, daß sie ihre Chance sofort nutzen mußte. Sie richtete sich auf und schob vorsichtig, aber so schnell sie konnte, ihr verletztes Bein zur Bettkante. Plötzlich hielt sie inne und verharrte reglos, denn sie versuchte, sich auf etwas Winziges zu konzentrieren, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, und dabei die fortgesetzten Geräusche von Rufos und Histras Kampf auszublenden. Danicas Hand schoß zur Seite wie eine zuschnappende Schlange, so daß ihre Finger sich um etwas schlossen, das sie nicht sehen, aber eindeutig spüren konnte - einen Augenblick, bevor der Stachelschwanz sie erwischte. Druzil begann sofort um sich zu schlagen, als er im starken Griff der Frau gefangen war. Er wurde wieder sichtbar, denn jetzt schien es lächerlich zu sein, magische Energie zu verschwenden. Danica wußte schließlich, wo er war. »Du bist immer noch nicht schnell genug«, sagte Danica kalt. Druzil wollte antworten, aber Danica traf ihn mit der anderen Hand genau zwischen seine vorstehenden schwarzen Augen, und plötzlich drehte sich der ganze Raum um das Teufelchen. Druzil schlug hart gegen die Wand, an der er heruntersackte, während er wieder und wieder »Bene tellemara« murmelte. Er ahnte, was Rufo ihm angetan hätte oder zumindest versucht hätte, wenn sein Angriff auf Danica Erfolg gehabt hätte. Auf verdrehte Weise hatte Danica ihn wahrscheinlich vor einer Verbannung auf seine
eigene Existenzebene gerettet. Aber Druzils Treue galt dem Chaosfluch, dessen Verkörperung nun Kierkan Rufo war, und obwohl Rufo es nie einsehen würde, war es höchst gefährlich, diese Frau am Leben zu lassen. Inzwischen war Danica aus dem Bett gesprungen und hüpfte auf ihrem gesunden Bein zur Tür. »Du kannst mir nichts tun!« krächzte Druzil sie an, während er mit schlagenden Flügeln und peitschendem Schwanz auf sie zugesaust kam. Danica hielt auf ihrem heilen Bein perfekt das Gleichgewicht, und ihre Hände folgten ihrem Ruf, indem sie vor ihr in der Luft abwehrende Kreise beschrieben. Druzils Schwanz fuhr wiederholt vor, wurde mehrmals abgewehrt und schließlich wieder gefangen. Das Teufelchen knurrte und wackelte mit den Klauen. Grüne Energieblitze schossen aus ihren Spitzen auf Danica zu und verbrannten sie. »Du kannst mir nichts tun«, höhnte Druzil. Das Teufelchen konnte mit der Schnelligkeit von Danicas nächster Bewegung nicht mithalten. Sie riß ihn fest am Schwanz, so daß er herumfuhr, dann packte sie mit jeder Hand einen seiner Flügel, ohne dabei den Schwanz loszulassen. Reißend und drehend verschlang Danica die drei Enden - Flügel, Flügel und Schwanz - hinter Druzils Rücken zu einem festen Knoten und schleuderte das überraschte Teufelchen mit dem Gesicht voran gegen die nächste Wand. »Wahrscheinlich nicht«, stimmte sie zu. Druzil rollte fluchend über den Boden, während Danica sich wieder zur Tür wandte. Kierkan Rufo stand vor ihr, schien sich jedoch darüber zu amüsieren, wie sie mit dem Teufelchen umgesprungen war.
Hinten in der Ecke hockte Histra auf Händen und Knien. »Wunderbar«, gratulierte Rufo und sah Danica in die Augen. Und Danica boxte ihn wieder ins Gesicht. Rufo drehte sich absichtlich wieder zu ihr hin, um den nächsten, erwarteten Hieb hinzunehmen, dazu einen dritten, einen vierten und alles, was danach kam. Schließlich hatte der Vampir genug, und mit einem widernatürlichen Gebrüll, das Danica Schauer über den Rücken laufen ließ, hob er die Hand, raubte Danica kurzfristig das Gleichgewicht und fing ihren Arm ab. Danica wußte, wie sie sich gegen einen so festen Griff wehren konnte, nur hatte sie noch nie die Stärke eines Vampirs erlebt! Sie war gefangen und fürchtete, ihr Ellenbogen würde unter der Anspannung brechen. Sie zog ihre freie Hand hoch, um Rufos weit ausholenden Schlag abzuwehren, doch seine Kraft durchschlug ihre Verteidigung und ließ ihren Kopf heftig zur Seite schnellen. Die benommene Danica wehrte sich nicht, als Rufo sie wieder auf das Bett warf. Und dann war er über ihr, seine starken Finger lagen um ihren Hals. Danica ergriff Rufos Unterarm und wollte ihn verdrehen, doch es war sinnlos. Dann hörte Danica einfach auf, sich zu wehren, unterdrückte ihren starken Überlebensinstinkt und tat nichts mehr, um Rufos Hand von ihrem Hals zu entfernen, auch nichts, um wieder Luft in die Lungen strömen zu lassen. In diesem Augenblick hoffte sie, daß der Vampir sie töten würde, denn sie zog den Tod jeder anderen Möglichkeit vor. Dann gab es nur noch Schwärze.
Der Pfad schlängelte sich vorwärts und zog mitunter enge
Schleifen durch die passierbaren Stellen zwischen den turmhohen Steinsäulen. Zeitweise hatten die drei Gefährten ein großartiges Panorama vor sich, dann wieder kam es ihnen fast so vor, als durchwanderten sie enge unterirdische Gänge. Das Schicksal fügte es so, daß Cadderly nichts von der schwarzen Rauchwolke sah, die aus dem Südflügel der Erhebenden Bibliothek aufstieg, denn der letzte hohe Berg vor dem Gebäude versperrte ihm die Sicht. Hätte er den Rauch gesehen, so hätte der junge Priester auf das Lied seines Gottes zugegriffen, auf seine Magie, und hätte den Rest des Weges zur Bibliothek auf dem Wind zurückgelegt. Doch Cadderly schlug zwar ein schnelles Tempo an, weil er Dorigen dringend in dem Kampf beistehen wollte, den sie seiner Meinung nach auszufechten hatte, aber er lauschte nicht auf Deneirs Lied, weil er seine Energien nicht verausgaben wollte, nachdem sie in seinem Kampf gegen Aballister und Burg Trinitatis so beansprucht worden waren. Pikel und Ivan sprangen hinter Cadderly den Pfad entlang, ohne an irgendwelche Probleme zu denken - außer daß Ivan das ganze Herumziehen satt hatte und sich sehnlichst wünschte, wieder zu Hause in seiner vertrauten Küche zu sein. Pikel erfreute sich immer noch daran, Cadderlys breitkrempigen blauen Hut zu tragen, denn er fand, daß dieser das tiefe Grün seines gefärbten und geflochtenen Haupt- und Barthaars gut zur Geltung brachte. Ivan fand einfach, Pikel sähe blöd aus. Sie zogen eine Weile schweigend weiter, und einmal blieb Cadderly stehen, weil er glaubte, Gesang zu hören. Er hielt ein Ohr in den Wind. Es klang wie Bruder Chaunticleers
Mittagsgesang. Cadderly sah sich um, schätzte die Entfernung ab, die sie noch zurückzulegen hatten, und erkannte, daß es selbst bei günstiger Windrichtung unmöglich war. Er konnte Chaunticleers Lied einfach nicht hören; die Bibliothek war mindestens fünf Meilen entfernt. Als er weitermarschierte, um mit den hüpfenden Zwergen mitzuhalten, erkannte Cadderly, daß die Musik, die er hörte, nicht in seinen Ohren erklang, sondern in seinem Geist. Chaunticleer sang - es war eindeutig Chaunticleers Stimme -, und Cadderly hörte ihn so, wie er das Lied von Deneir hörte. Was hatte das zu bedeuten? Cadderly kam nicht auf die Idee, daß Chaunticleers süßes Lied ein Schutz gegen etwas furchtbar Böses sein könnte. Er überlegte, daß sein eigener Geist vollständig auf Deneir eingestimmt war, und daß auch Chaunticleers Hymne in vollkommener Harmonie mit dem Gott erklang. Für Cadderly war das Lied etwas Schönes. Es blieb nicht pausenlos in seinen Gedanken, kehrte aber so oft wieder, daß der junge Priester wußte, daß Bruder Chaunticleer immer noch weitersang, viel länger als üblich. Doch noch immer zog der junge Priester daraus keine beängstigenden Schlüsse, sondern stellte sich einfach vor, daß der Mann sich heute außerordentlich fromm fühlte - oder vielleicht sang Chaunticleer gar nicht wirklich, und Cadderly hörte nur das Echo jener perfekten Hymne. »Willst du etwa noch mal ein Lager aufschlagen?« fragte der zunehmend verdrießliche, gelbbärtige Ivan eine Weile später, womit er Cadderly von der Musik und ihrer unergründlichen Bedeutung ablenkte. Cadderly blickte auf den steinigen Pfad vor ihnen und
versuchte sich genau zu erinnern, wo er war. »Noch mindestens fünf Meilen zu laufen«, erwiderte er, »durch schwieriges Gelände.« Ivan schnaubte. Die Schneeflockenberge waren seiner Einschätzung nach nicht schwierig, nicht einmal, wenn der Winter sie noch mit letzter Kraft umklammerte. Ivan stammte von einem Ort weit im Norden, aus dem wilden Vaasa und den zerklüfteten Galenas, wo es mehr Goblins gab als Kieselsteine, und wo der Winterwind vom Großen Gletscher einen Mann in Minutenschnelle zu Eis erstarren lassen konnte. Der Zwerg warf einen letzten mißbilligenden Blick auf Pikel, der zur Antwort kicherte, und stampfte dann an Cadderly vorbei, um die Führung zu übernehmen. »Heute abend«, erklärte Ivan. »Wir werden durch die Haupttüren treten, bevor die Sterne aufgehen!« Cadderly seufzte und sah zu, wie Ivan an der Spitze einen schnellen Schritt anschlug. Pikel kicherte immer noch, als er vorbeigehüpft kam. »Gib das mir«, schimpfte Cadderly, der jetzt den Grund für Ivans Zorn erkannte. Er zog Pikel den Hut vom Kopf, wischte ihn ab und setzte ihn sich selbst aufs Haupt. Dann zog er aus seinem Gepäck den Kochtopf, den improvisierten Helm, den der grünbärtige Zwerg sich gemacht hatte, und stülpte ihn Pikel über den Kopf. Pikels Lachen wurde zu einem betrübten »Ooooh«.
Einige Meilen nordwestlich von den dreien riß ein Geräusch im Blätterdach über ihr Shayleigh aus ihrer Andacht. Für einen uneingeweihten Beobachter schien die Elfenfrau, die am Stamm einer ausladenden Ulme in der Mulde eines
dicken Astes lag, in einer ungünstigen, gefährlichen Lage zu sein. Aber eine leichte Drehung brachte die bewegliche Shayleigh ganz herum, so daß sie mit dem Rücken flach auf dem Ast lag und ihren Langbogen irgendwie aus dem Dickicht gezogen hatte und ihn gespannt über sich hielt. Die Veilchenaugen der Elfenfrau verengten sich, als sie das belebte Blätterdach betrachtete und nach dem Urheber des Geräusches suchte. Sie machte sich keine großen Sorgen - die Sonne stand noch hoch über dem Westhorizont -, aber Shayleigh kannte die Geräusche der natürlichen Bewegungen aller Tiere dieser Gegend. Sie hatte bemerkt, daß das, was so lärmend in die Krone dieses Baums gesprungen war, wild auf der Flucht war. Ein Blatt tanzte plötzlich nicht allzuweit über ihr. Shayleigh spannte den Bogen. Dann teilte sich das Blattwerk, und die Elfenfrau löste ihre Sehne wieder und lächelte, als ein weißes Eichhörnchen auf sie herunterstarrte. Verzweifelt kam Percival heruntergesaust, worauf Shayleighs Lächeln einer verwirrten Miene wich. Warum war Percival, den sie vor langer Zeit einmal kennengelernt hatte, so weit von der Bibliothek entfernt? Und was hatte das Tier so sehr verstört? Im Gegensatz zu Cadderly und den Zwergen hatte Shayleigh die Rauchsäule gesehen und hatte schon zu diesem Zeitpunkt überlegt, ob sie umkehren und nachforschen sollte. Doch sie hatte die Sache nur für ein zeremonielles Feuer gehalten, vielleicht eine gemeinsame Feuerbestattung für die Priester, die während der Wintermonate gestorben waren und nun beigesetzt wurden. Deshalb hatte sie beschlossen, daß es sie nichts anginge. Ihre Angelegenheit war es schließlich, schnellstmöglich
nach Shilmista zurückzukehren, wo König Elbereth ihren Nachrichten zweifellos entgegenfieberte. Sie hatte ihre Andacht früh angesetzt, als die Sonne noch hoch am Himmel stand, weil sie bei Nacht weiterziehen wollte. Jetzt, als sie Percival vor sich sah, der verzweifelt keckernd herumhüpfte, bedauerte Shayleigh, daß sie sich entschieden hatte weiterzugehen. Sie hätte gleich in die Bibliothek eilen sollen, direkt zu Danica, ihrer Freundin, die vielleicht ihre Hilfe gebraucht hatte ... oder noch brauchte. Shayleigh schwang sich unter den Ast, bis ihre Füße den nächsttieferen berührten. Sie bog die Beine und ließ sich rückwärts fallen, hakte ihre Knie um den Ast und schwang hinunter, so daß sie mit einer Hand den niedrigsten Ast erwischte. Mit immer noch fließender Bewegung nutzte sie den Schwung, um leichtfüßig auf dem Boden aufzukommen. Percival hatte ihr so schnell kaum folgen können. Shayleigh streckte den Arm aus und machte ein schnalzendes Geräusch, worauf Percival vorn untersten Ast zu ihr heruntersprang und sich bereitwillig tragen ließ, als die Elfenkriegerin voller Hast nach Osten zurückeilte - zu ihrer Freundin.
Zwielicht Ich hatte schon Angst, ich hätte dich umgebracht.« Das war Rufos Stimme, die von weither kam, sich aber rasch näherte. Danica schlug die Augen auf. Sie lag auf dem Bett in demselben Zimmer wie zuvor, doch jetzt waren ihre Hand und Fußgelenke an den vier starken Bettpfosten fest gebunden. Ein pochender, brennender Schmerz in ihrem verwundeten linken Bein ließ nicht nach, und die junge Frau befürchtete, die Fesseln würden ihr in die Haut einschneiden und den ohnehin schon aufgerissenen Knöchel weiter verletzen. Noch schlimmer war, daß Rufo sich über sie beugte. Sein weißes Gesicht hatte einen besorgten, zärtlichen Ausdruck. »Meine liebe Danica«, flüsterte er. Er kam näher, versuchte, seine kantigen Züge weich erscheinen zu lassen, versuchte, sanft zu sein. Danica spuckte ihm nicht ins Gesicht, denn sie war jenseits aller weiteren symbolischen, wenn auch unwirksamen Proteste. Rufo bemerkte dennoch ihren Abscheu. »Glaubst du nicht, daß ich lieben kann?« fragte er leise, und ein Zucken seiner Wange verriet Danica, daß er angestrengt um seine Ruhe kämpfte. Wieder gab Danica keine Antwort. »Ich habe dich geliebt, seit du die Bibliothek zum ersten Mal betreten hast«, fuhr Rufo in dramatischem Ton fort. »Von weitem habe ich dich angesehen und mich an der schlichten Anmut jeder deiner Bewegungen erfreut.« Danica stählte ihren kalten Blick und verzog keine Miene.
»Aber ich bin kein schöner Mann«, fuhr Rufo fort. »Das war ich nie, und so war es Cadderly«, ein Hauch Gift mischte sich in seine Worte, als er den Namen erwähnte, »und nicht ich, auf den deine wundervollen Augen fielen.« Es war mitleiderregend, wie wenig er von sich hielt, aber Danica verspürte wenig Mitgefühl mit Rufo. »Ein schöner Mann?« fragte sie. »Du kannst immer noch nicht begreifen, wie wenig das zählt?« Rufo wich verblüfft zurück. Danica schüttelte nur den Kopf. »Du würdest Histra immer noch lieben, wenn sie hübsch wäre«, sagte sie. »Aber du bist nie dazu fähig gewesen, hinter die Haut zu sehen. Du hast dich nie darum geschert, was in Herz und Seele der anderen steckte, weil dein eigenes Herz leer ist.« »Gib acht, was du sagst«, sagte Rufo. »Es tut weh, weil es wahr ist.« »Nein!« »Doch!« Danica hob ihren Kopf so hoch, wie die Fesseln es gestatteten. Ihr wütender Blick zwang Rufo weiter zurück. »Es ist nicht Cadderlys Lächeln, das ich liebe, sondern der Ursprung dieses Lächelns, die Wärme seines Herzens und die Wahrheit in seiner Seele. Armer Rufo, du tust mir leid«, befand sie nun. »Du tust mir leid, weil du nie einen Unterschied zwischen Liebe und Egoismus gesehen hast.« »Du irrst dich!« gab der Vampir zurück. Danica zuckte nicht mit der Wimper, aber sie duckt sich dennoch tief in die Matratze, als Rufo sich dicht über sie beugte. Sie zog den Kopf ein und wimmerte sogar etwas, als er noch näher kam, weil sie glaubte, er wollte sie gegen ihren Willen nehmen. Trotz all ihrer Stärke war Danica nicht in der Lage, dies einfach über sich ergehen zu lassen. Sie hatte bei Rufo jedoch einen schwachen Punkt erwischt.
»Du irrst dich«, sagte Rufo wieder ruhig. »Ich liebe wirklich.« Wie zur Bekräftigung dieser Aussage fuhr Rufo sanft mit der Hand über Danicas Wange, unter ihrem Kinn hindurch und an ihrem Hals entlang. Danica zog sich so weit wie möglich zurück, doch die Fesseln waren stark und sie durch den Blutverlust geschwächt. »Ich liebe wirklich«, sagte er wieder. »Ruh dich aus, meine Süße. Ich komme zurück, wenn du stärker bist, und ich werde dir Genuß bereiten, mein Schatz.« Danica stieß einen tief erleichterten Seufzer aus, als Rufo zurückwich, ihr einen letzten Blick zuwarf und aus dem Zimmer rauschte. Die Erleichterung war allerdings vorläufig, wie sie wußte. Wieder überprüfte sie ihre Fesseln, und als sie damit kein Glück hatte, hob sie den Kopf, um ihre Wunden zu begutachten. Die Schnur, die ihr verletztes Bein fesselte, konnte sie nicht einmal spüren, nur den allgemeinen Schmerz. Sie sah, daß Knöchel und Unterschenkel geschwollen waren, und wo die nackte Haut nicht von getrocknetem Blut verkrustet war, war sie übel verfärbt. Danica spürte die Infektion, die zu der Schwäche vom Blutverlust hinzukam, und sie wußte, daß sie sich diesmal nicht von ihren Fesseln befreien konnte. Und selbst wenn sie es schaffte, würde sie zerschunden, wie sie war, nicht die Kraft haben, aus der Bibliothek zu entkommen. Danica ließ den Kopf niedersinken. Sie verfiel in eine Hoffnungslosigkeit, die alles überstieg, was sie je gekannt hatte. Zwischen den Brettern vor dem einzigen, kleinen Westfenster des Zimmers hindurch sah sie, daß die Sonne an diesem neuen Tag bereits den Zenit überschritten hatte und auf ihrer Reise zum Horizont war. Danica wußte, daß Rufo in der Nacht zurückkehren würde.
Und sie konnte sich nicht wehren.
Am späten Nachmittag kam die Erhebende Bibliothek in Sicht, ein gedrungenes, viereckiges Gebäude zwischen den abgerundeten, natürlichen Umrissen des umliegenden Geländes. Bereits dieser erste Blick aus der Ferne verriet Cadderly, daß in der Bibliothek etwas ganz und gar nicht stimmte. Sein Instinkt oder vielleicht auch die subtile Warnung in Chaunticleers Lied schrie auf ihn ein, aber er verstand die Bedeutung nicht. Zunächst glaubte er, daß es seine eigenen Gefühle für die Bibliothek waren, die ihn so erschrecken ließen. Das Gebäude war bald außer Sicht, denn als die Gruppe eine weitere Kurve umrundete, wurde es von hohen Felsen verdeckt. Nachdem Ivan und Pikel flüsternd die Köpfe zusammengesteckt hatten, rannten sie an Cadderly vorbei und schlugen ein gewaltiges Tempo an. Zur Erklärung gaben sie, daß sie gleich heute Abend ein köstliches Essen zubereiten wollten. Die Sonne war noch nicht hinter dem Horizont versunken, als die Bibliothek wieder in Sicht kam. Die Gefährten näherten sich von dem Wäldchen her, das den langen Hauptweg vor der Bibliothek säumte. Alle drei kamen abrupt zum Stehen. Pikels anschließendes »Ooooh« faßte praktisch alles für sie zusammen. Graue Rauchfäden drangen noch immer aus vielen Fenstern des Südflügels. Die Luft war vom Geruch nach verbranntem Holz erfüllt. »Ooooh«, sagte Pikel wieder. Das innere Flehen, Chaunticleers ununterbrochener Ruf zu
Deneir, explodierte in Cadderlys Gedanken und forderte ihn zur Flucht auf, doch er rannte zu den Türen des Hauses, das seine Heimat gewesen war. Dort hätte er stehenbleiben sollen, hätte das Loch im Holz bemerken müssen, das Danica hineingetreten hatte, als Rufo sie in die Enge getrieben hatte. Cadderly packte die Griffe und zog fest, aber vergeblich. Mit verwundertem Gesicht drehte er sich zu Ivan und Pikel um. »Abgeschlossen«, sagte er. Es war das erste Mal, daß Cadderly die Türen der Erhebenden Bibliothek verschlossen erlebte. Ivan schwang eine gewaltige Axt von der Schulter. Pikel senkte die Keule wie einen Rammbock und begann mit einem Fuß in der Erde zu scharren wie ein Bulle, der gleich angreifen würde. Beide entspannten sich und richteten sich unerwartet auf, als sie die Türen hinter Cadderly aufgehen sahen. »Ganz sicher?« fragte Ivan den jungen Priester. Cadderly drehte sich um und warf einen skeptischen Blick auf den Eingang. »Von der Hitze des Feuers verzogen«, befand er und betrat in Begleitung von Ivan und Pikel die Bibliothek. All die lautlosen Warnungen, er sollte fliehen, verließen Cadderly in dem Augenblick, als er die Schwelle überschritt. Er nahm dies als gutes Zeichen, eine Bestätigung, daß er überreagiert hatte, aber in Wahrheit hatte Cadderly Rufos Reich betreten, wo Deneir ihn nicht länger warnen konnte. Die Eingangshalle war nicht zu stark beschädigt, obwohl der Brandgeruch nahezu überwältigend war. Zur Linken lag die kleine Kapelle, wo das Feuer offenbar am schlimmsten gewütet hatte. Die schwere Tür zur Kapelle
war anscheinend geschlossen, obwohl die Freunde dies nicht sehen konnten, denn man hatte einen dicken Wandbehang davor angebracht. Cadderly betrachtete diesen Wandbehang geraume Zeit. Er zeigte Elfen, Dunkelelfen. Cadderly wußte, wie wertvoll der Teppich war, eines der schönsten Kunstwerke der ganzen Bibliothek. Er hatte Pertelope gehört, und Ivan hatte seine Bilder benutzt, um die kleine Handarmbrust anzufertigen, die Cadderly jetzt an seinem Gürtel trug. Was machte der Teppich hier? fragte sich der junge Priester. Wer konnte auf die Idee kommen, ein so kostbares, unersetzbares Kunstwerk als Abschirmung gegen Ruß zu verwenden? »Scheint, als ob das Feuer sich nicht weiter ausgebreitet hat«, meinte Ivan. Natürlich hatte es sich nicht weiter ausgebreitet, wie beide Zwerge und Cadderly nach kurzem Nachdenken erkannten. Die Bibliothek bestand mehr aus Stein als aus Holz, und es gab wirklich nur sehr wenig Brennbares hier. Wie war es dann zu einem so gewaltigen Brand gekommen? Gefolgt vom hüpfenden Pikel wollte Ivan sofort zur Küche marschieren, aber Cadderly hielt ihn am Arm fest und zog ihn und seinen Bruder, der sich duckte, herum. »Ich will erst die Hauptkapelle überprüfen«, bemerkte der junge Priester mit kühler Stimme. Ivan und Pikel sahen sich an, zuckten die Schultern und warfen dann neugierige Blicke auf Cadderly, der lange mit geschlossenen Augen stillstand. Er konnte das Lied von Deneir nicht mehr hören, erkannte er. Und er konnte Chaunticleers Singen nicht mehr hören, obwohl der Priester jetzt wahrscheinlich näher war als oben
in den Bergen. Es kam ihm so vor, als ob Deneir von diesem Ort geflohen war. »Was denkst du?« fragte der stets ungeduldige Ivan. Cadderly schlug seine grauen Augen auf und sah den Zwerg an. »Nun?« drängte Ivan. »Was denkst du?« »Dieser Ort wurde entweiht«, erwiderte Cadderly, und erst als er diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, was er da sagte. »Verbrannt«, stellte Ivan mit einem Blick auf den Wandteppich richtig, ohne zu verstehen, was Cadderly da redete. »Entweiht!« schrie Cadderly, so daß das Wort von den Mauern widerhallte und die Treppe emporklang. Die Bedeutung des Wortes und der Nachdruck, mit dem Cadderly es gerufen hatte, ließ beiden Brüdern Schauer über den Rücken laufen. »Was redest du denn da?« fragte Ivan ruhig. Cadderly schüttelte nur heftig den Kopf und wirbelte herum, um schleunigst zur Hauptkapelle zu eilen, dem heiligsten Ort an diesem heiligen Ort. Dort erwartete er Priester vorzufinden, Brüder von beiden ansässigen Orden, die zu ihren jeweiligen Göttern beteten und darum kämpften, Deneir und Oghma in diese Bibliothek zurückzuholen. Die Kapelle war leer. Dicker Ruß bedeckte die verschlungenen Muster an den massiven, gewölbten Pfeilern direkt an den Türen, aber ansonsten schien alles wie immer zu sein. Der Altar gegenüber wirkte unversehrt; alle Gegenstände - die Glocken, der einzige Kelch und die zwei Zepter darüber waren genau dort, wo sie hingehörten.
Ihre Schritte hallten laut nach, als die drei zum Altar eilten. Ivan sah die Leiche als erster und kam schnell zum Stehen. Mit ausgestrecktem, starkem Arm zwang er Cadderly ebenfalls zum Stehenbleiben. Pikel machte noch einen Schritt weiter um sie herum, bis er merkte, daß die anderen nicht mehr weiterliefen. Er ließ seine Augen von ihren fassungslosen Mienen leiten. »Ooooh«, murmelte der grünbärtige Zwerg. »Banner«, erklärte Cadderly, der den verbrannten Leichnam erkannte, obwohl diesem die Haut in Fetzen von den Knochen hing und sein Gesicht halb Schädel, halb geschwärzte Haut war. Die Augen rollten in ihren Höhlen, ruhten dann auf Cadderly, und ein groteskes Lächeln zeigte sich, das die letzten Fetzen von Banners Lippen auseinanderzog. »Cadderly!« schrie Banner aufgeregt und katapultierte sich mit klappernden Knochen, wild schlenkernden Armen und schlackerndem Kopf zum Stehen hoch. »Oh, Cadderly, wie gut, daß du zurück bist!« Ivan und Pikel schnappten einmütig nach Luft und wichen zurück. Sie hatten schon zuvor gegen Untote gekämpft, neben Cadderly in den Katakomben eben dieses Gebäudes. Jetzt sahen sie sich hilfesuchend nach dem jungen Priester um, denn dies war seine Heimat, seine Kapelle. Der verblüffte, überwältigte Cadderly wich ebenfalls zurück und griff nach seinem Hut oder eher nach dem heiligen Symbol, das vorn auf diesem angebracht war. »Ich wußte - ich wußte es einfach! -, daß du zurückkommen würdest«, plapperte der groteske Banner weiter. Er klatschte in die Hände, und einer seiner Finger, der nur noch am letzten Faden einer Sehne hing, fiel
zwischen den anderen heraus und baumelte ein Stückchen unter seiner Hand mitten in der Luft. »Das passiert mir dauernd!« jammerte das entnervte Wesen, und er begann, seinen abgestürzten Zeigefinger einzuholen, als wäre er ein leerer Angelhaken. Cadderly wollte mit Banner reden, ihm Fragen stellen, Antworten erhalten. Aber wo beginnen? Das hier war zu verrückt, völlig fehl am Platze. Das hier war die Erhebende Bibliothek, das Heiligtum von Deneir und Oghma! Das hier war ein Ort des Gebets und der Andacht, und dennoch stand hier vor Cadderly ein Wesen, das diese Ehrfurcht verhöhnte, vor dem alle Gebete wie hübsche Worte klangen, die ohne besonderen Sinn und Zweck aneinandergereiht waren. Denn Banner war ein Priester gewesen, ein angesehener, hochrangiger Priester von Cadderlys eigenem Gott! Wo war Deneir jetzt, fragte Cadderly sich unwillkürlich. Warum hatte Deneir erlaubt, daß einem so treuen Diener ein solches Schicksal widerfuhr? »Keine Sorge«, versicherte Banner den dreien, als ob sie wegen seines Fingers besorgt wären. »Keine Sorge. Seit dem Feuer bin ich nämlich ganz gut darin, die Teile wieder zusammenzusetzen.« »Erzähl mir von dem Feuer«, warf Cadderly ein, der dieses eine, wichtige Ereignis ergriff, um wie an einer Litanei gegen den Wahnsinn daran festzuhalten. Banner sah ihn komisch an. Seine hervorquellenden Augäpfel rollten hin und her. »Es war heiß«, erwiderte er. »Wie hat es angefangen?« drängte Cadderly. »Wie sollte der schlafende Banner das wissen?« antwortete das untote Wesen schroff. »Ich habe gehört, daß die Zauberin ... « Banner hielt inne und lächelte breit, um dann seinen
Finger vor sich in der Luft hin und her zu bewegen, als ob Cadderly eine unzulässige Frage gestellt hätte. Dieser wackelnde Finger löste sich genau wie der davor, fiel herunter, landete aber diesmal auf dem Boden. »Oh, wo ist er hin?« rief Banner verzweifelt, ging abrupt in die Hocke und begann durch die Bänke zu hüpfen. »Willst du wirklich mit dem da reden?« fragte Ivan, und der Tonfall des Zwergs verriet, welche Antwort er bevorzugte. Cadderly überlegte einen Augenblick. Banner hatte kurz vor der Antwort innegehalten - und der Hinweis, den er gegeben hatte, paßte Cadderly überhaupt nicht! Aber warum hatte das armselige Wesen abgebrochen, fragte sich der junge Priester. Was hatte Banner gezwungen, die Antwort zurückzuhalten? Cadderly wußte nicht genau, was Banner war. Er war mehr als ein gedankenloser Zombie, so viel wußte er, doch der junge Priester war in den verschiedenen Variationen der Untoten nicht besonders beschlagen. Zombies und andere Untote der niedrigsten Stufe sprachen nicht, sondern waren einfach nichtdenkende Werkzeuge ihrer Meister. Also war Banner anscheinend in der Rangfolge irgendwo über ihnen angesiedelt. Cadderly hatte einmal gegen eine Mumie gekämpft, aber in diese Kategorie schien Banner auch nicht zu passen. Er wirkte beinahe gutartig, zu dumm, um eine Bedrohung darzustellen. Aber etwas, ein Impuls, hatte Banner vom Antworten zurückgehalten. Cadderly faßte die kriechende Kreatur direkt ins Auge, hielt sein heiliges Symbol vor sich und sagte in befehlendem Ton: »Banner! Geist von Banner! Ich frage dich erneut, und bei der Macht von Deneir verlange ich eine Antwort. Wer
hat das Feuer begonnen?« Das untote Wesen hielt in seinen hektischen Bewegungen inne, gefror reglos am Platz und starrte Cadderly an, genauer gesagt, sein heiliges Symbol. Banner schien mehrmals zusammenzuzucken. »Bei der Macht von wem?« fragte er unschuldig, und nun war es Cadderly, der zusammenzuckte. Was war diesem Ort widerfahren, daß sein Gott so überaus weit entfernt war? Cadderly ließ den Arm mit dem Symbol des Deneir sinken, denn jetzt wußte er, daß er keine brauchbaren Informationen erhalten würde. »Willst du wirklich weiter mit diesem Dingsda reden?« fragte Ivan. »Nein«, sagte Cadderly schlicht. Und noch bevor das Wort über seine Lippen gekommen war, beschrieb Ivans Axt einen gewaltigen Bogen über seinem Kopf, sauste herunter und trennte Banner den linken Arm von der Schulter. Das untote Wesen sah den verlorenen Arm neugierig an, als ob es überlegte, wie es den Arm wohl wieder festmachen sollte. »Oh, das muß ich reparieren«, sagte sein fast lippenloser Mund wie selbstverständlich. Noch vernichtender war Pikels Angriff, denn die Baumstammkeule traf Banner fest auf seinen nackten Schädel und ließ das untote Wesen in einen eingesunkenen Haufen Fleisch und gebrochener Knochen zusammensinken. Beide Augäpfel sprangen aus ihren Höhlen und rollten an langen, dünnen Sehnen herum. »Also, das tat aber weh«, sagte Banner, und alle drei Gefährten fuhren bei der unerwarteten Reaktion hoch. Jetzt erkannten sie zu ihrem Entsetzen, daß die Augäpfel nicht ziellos umherrollten, sondern daß sie den Schaden zu begutachten schienen.
»So viel zu tun!« heulte Banner. Die drei wichen langsam zurück, Pikel als letzter. Er wimmerte etwas und schüttelte fassungslos den Kopf. Fünf Fuß von dem zerschmetterten Ungeheuer entfernt fanden sie den Mut, sich umzudrehen und loszurennen, so schnell ihre Beine sie nur tragen wollten. »Ach, Rufo wird mich alles allein machen lassen!« jammerte Banner. Cadderly kam abrupt zum Stehen, Ivan stieß gegen ihn, und Pikel stieß gegen Ivan. »Rufo?« fragte Cadderly, der sich umdrehte. »Rufo?« echote Ivan. »Ei, ei!« stimmte Pikel zu. »Ihr werdet euch doch noch an Rufo erinnern«, sagte eine ruhige, bekannte Stimme hinter ihnen. Langsam und synchron drehten die drei sich zum Ausgang der Kapelle um, wo sie Kierkan Rufo in seiner üblichen schiefen Haltung stehen sahen, nicht ganz senkrecht zum Boden. Cadderly bemerkte sofort, daß das Brandmal, das er Rufo verpaßt hatte, abgekratzt worden war. »Du gehörst nicht an diesen Ort!« brüllte der junge Priester, als er seinen Mut wiederfand, indem er sich daran erinnerte, daß dies sein Heim war, Deneirs Heim. Rufos Gelächter verspottete ihn. Cadderly kam ihm unausweichlich näher und zog die Zwerge hinter sich her. »Was bist du?« wollte er wissen, denn er begriff, daß etwas ganz furchtbar im argen lag. Er stand vor etwas Stärkerem als Kierkan Rufo. Rufo lächelte wild, riß den Mund zu einem raubtierhaften Zischen auf und zeigte stolz seine Eckzähne. Cadderly kam beinahe ins Taumeln, doch dann fing er
sich. Er riß sein heiliges Symbol von dem breitkrempigen Hut ab und setzte diesen mit derselben Bewegung wieder schief auf den Kopf. »Im Namen von Deneir, ich verbanne ... «, setzte er an. »Nicht hier!« brüllte Rufo zurück, dessen Augen wie rote, feurige Punkte blitzten. »Nicht hier.« »Ui, ui«, murmelte Pikel. »Er ist doch kein Vampir, oder?« fragte Ivan, und wie alles, was Ivan hier drin zu fragen schien, war offensichtlich, welche Antwort er hören wollte - hören mußte. »Wenn du nur die Bedeutung dieses Wortes verstehen könntest«, antwortete Rufo. »Vampir? Ich bin Tuanta Quiro Miancay, der Ultimative Schrecken! Ich bin die Verkörperung dieses Tranks, und hier drin regiere ich!« Cadderly ging blitzschnell die schrecklichen Möglichkeiten durch. Er kannte diesen Namen, Tuanta Quiro Miancay. Er verstand die Macht des Chaosfluchs besser als irgend jemand sonst, denn er war es gewesen, der ihn besiegt und in die Schale mit geweihtem Wasser eingelegt hatte. Aber er hatte ihn nicht zerstört; dafür war Rufo der Beweis. Der Chaosfluch war zurück, in einer neuen und anscheinend noch tödlicheren Gestalt. Cadderly spürte Wärme an seinem Bein, die aus seiner Tasche strahlte. Es dauerte nur einen Augenblick, bis ihm einfiel, daß er eine Nadel dort drin hatte, ein Amulett, das Druzil in Shilmista an Rufo angebracht hatte. Das Amulett war auf das Teufelchen eingestimmt, deshalb konnten sein Besitzer und Druzil leicht telepathischen Kontakt aufnehmen. Jetzt war es warm, und Cadderly fürchtete sich vor dem, was das zu bedeuten hatte.
»Dein Gott hat sich von diesem Ort zurückgezogen, Cadderly«, höhnte Rufo, und Cadderly konnte die Wahrheit dieser Feststellung nicht abstreiten. »Dein Orden existiert nicht mehr, und viele sind bereitwillig auf meine Seite übergelaufen.« Cadderly wollte das bestreiten, wollte es nicht glauben. Er wußte von dem Krebsgeschwür, das die Orden von Deneir und Oghma schon vor dieser neuesten Inkarnation des Chaosfluchs befallen hatte. Er dachte an seine letzte Begegnung mit Abt Thobicus. Schon als er die Erhebende Bibliothek im Frühwinter verlassen hatte, hatte Cadderly gewußt, daß er zurückkehren und die Bürokratie bekämpfen mußte, die sich an diesem Ort sosehr eingebürgert hatte, obwohl sie den Brüdergöttern nicht entsprach. Jetzt war Rufo hier, und es schien nur folgerichtig, daß die Bibliothek in seine Hände gefallen war. Die augenblickliche Pause - die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm - konnte nicht lange dauern, nicht mit zwei kriegerischen und verängstigten Zwergen an Cadderlys Seite. Ivan durchbrach diese Ruhe, indem er brüllend vorstürmte und Rufo mit voller Wucht einen weit ausholenden Axthieb verpaßte. Der Vampir knickte ein und flog ein halbes Dutzend Fuß zur Seite, richtete sich jedoch wieder gerade auf und wirkte unverletzt - ja, er lachte! Pikel senkte seinen Kopf und seine Keule und griff an, doch Rufo schlug ihn beiläufig beiseite, so daß er Hals über Kopf zwischen zwei Holzbänken hindurchflog. Ivan griff erneut an, und Rufo wich zur Seite aus und riß die Hand hoch. Von dieser Hand ging eine Kraft aus, eine mächtige Energie, die Ivan traf und ihn so heftig davon
schleuderte, als wäre er in einen Tornado gelaufen. Der Zwerg grunzte, als ihm die Luft aus den Lungen gepreßt wurde, und fiel rückwärts. Mit einem scharfen, häßlichen Knacken traf er die Kante einer Säule, stürzte zu Boden und schlitterte weiter, wobei er eine Blutspur zurückließ. Cadderly befürchtete, der Schlag hätte Ivan umgebracht. Er wollte seinem Freund zu Hilfe eilen, Deneirs Geschenk der Heilung anrufen und Ivan die Schmerzen nehmen. Nicht jetzt, erkannte er. Er hielt sein heiliges Symbol hoch, präsentierte es mit aller Macht seines Glaubens, während er sich dem Vampir stetig näherte. Er sang und betete und forderte Deneir auf, seinen Ruf zu erhören und an diesen Ort zurückzukehren. Rufo wand sich, denn das Symbol schien ihm Schmerzen zu bereiten, aber er wich nicht. »Du gehörst nicht hierher«, sagte Cadderly durch zusammengebissene Zähne, und das Symbol, das wie eine silberne Flamme loderte, war kaum noch einen Fuß vom fauchenden Gesicht des Vampirs entfernt. Rufo griff nach vorn und schloß seine Hand um das Auge über der Kerze, ballte fest die Faust. Es gab ein Zischen, und Rauchschwaden stiegen auf. Rufo litt ganz offensichtlich Schmerzen. Aber er hielt auch weiter stur fest, um zu beweisen, daß dies sein Heim war und nicht Deneirs, daß Cadderlys heilige Magie nichts nützte. Nicht hier. Während der Vampir sich langsam aufrichtete, wurde sein Lächeln breiter. Er hob seine freie Hand mit gekrümmten Klauen bis an sein Ohr, um zuzuschlagen und dem fassungslosen Cadderly an die Kehle zu gehen. Pikel traf Rufo von der Seite, und obwohl seine Keule keinen echten Schaden anrichtete, rettete der Stoß Cadderly, denn er riß ihn und Rufo weit auseinander.
Rufo und Pikel verfielen in einen Ringkampf, aber der Vampir war zu stark, und bald wurde Pikel weggeschleudert. Sofort drehte sich Rufo zu Cadderly um, zur begehrtesten Beute. Der junge Priester war weit zurückgestolpert. Mit einem unglaublichen, übermenschlichen Sprung schnellte Rufo hoch und versperrte Cadderly den Weg. Als der Vampir dann auf einer Bank stand, breitete er die Arme aus und beugte sich vor, um sich auf Cadderly zu stürzen. Wieder riß Cadderly sein heiliges Symbol hoch, aber dieses Mal verstärkte der geistesgegenwärtige Priester die Kraft. Er zog sein Lichtrohr hervor, klappte die Endkappe ab und richtete den Strahl von hinten gegen das vorgestreckte Symbol. Rufo schrak zurück, denn der plötzliche Lichtschein traf und schmerzte ihn. Er wirbelte herum, so daß seine Robe schützend als dunkle Barriere vor den brennenden Strahl flog, und stieß ein unirdisches, gottloses Heulen aus, das von jeder Mauer in der Bibliothek zurückgeworfen wurde. Es drang in die Ohren und zog an den Herzen der vielen Diener, die der Vampir erschaffen hatte. Zur Antwort auf diesen Schrei schien sich das Gebäude selbst zu erheben, denn in die Kapelle drang aus jeder Richtung ein entsprechendes Heulen und Stöhnen. Rufo schmolz dahin, verwandelte sich unvermittelt in eine Fledermaus und flatterte durch die hohe Halle. Eine zweite Fledermaus kam durch die offene Tür und dann etwas Größeres als eine Fledermaus, jedoch mit ähnlichen Flügeln. Cadderly erkannte Druzil, und die Anwesenheit des Teufelchens beantwortete nun wirklich viele Fragen. Sie hörten draußen in der Halle das Schlurfen steifbeiniger Zombies, hörten die Wesen der Finsternis, die sich an Rufos
Seite begaben. Cadderly wußte, daß sie von diesem Ort fliehen mußten. Pikel, der offenbar ähnliche Gedankengänge hegte, taumelte an die Seite des jungen Priesters, und gemeinsam eilten sie zu Ivan, obwohl keiner von ihnen wußte, wie sie den zerschundenen Zwerg nach draußen schaffen sollten. Aber Ivan lag nicht am Boden. Irgendwie war er aufgestanden und schien den furchtbaren Schlag abgeschüttelt zu haben. Vereint liefen die drei auf die Tür zu, während Rufos Gelächter bei jedem Schritt in ihren Ohren widerhallte. Sie jagten durch den Gang und pflügten durch einen Haufen Zombies, die sich in der Eingangshalle versammelten. Ivan und Pikel durchstießen die Meute wie der Bug eines Schiffes das Wasser. Ivans Axt schlug die Ungeheuer in der Mitte entzwei oder trennte bei jedem gewaltigen Hieb Gliedmaßen ab, und der Zwerg senkte den Kopf und röhrte wie ein angreifender Elch, während er den Zombies tiefe Löcher in die Brust riß. Pikel deckte seinen Bruder von der Seite her, wo er die Zombies mit seiner Keule wegschlug, und Cadderly kam direkt hinter ihnen her. Er war kampfbereit, doch da die Zwerge volle Arbeit leisteten, fand der junge Priester nichts mehr zum Kämpfen vor! Obwohl sie so schnell vorwärts kamen, war Rufo dicht hinter ihnen und neben ihm ein schrecklich verunstalteter Vampir - Histra! -, zusammen mit diesem verfluchten Teufelchen. Aus Druzils Fingerspitzen zuckten Energieblitze, die Cadderly den Rücken verbrannten. Rufos spöttisches Lachen und Histras hungriges Zischen machten den jungen Priester halb verrückt. »Wo wollt ihr denn hin?« rief Rufo.
Ivans Axt schlug einen Zombie mittendurch, und der Weg zur offenen Tür, die in die Dämmerung führte, lag frei vor ihnen. Die Türen klappten mit einem Knall zu, der wie ein Nagel in Cadderlys Sarg klang. »Wo wollt ihr denn hin?« schrie Rufo wieder, und ein neuer Angriff von Druzils Energie traf den fliehenden Priester so brutal, daß er fast stürzte. Cadderly dachte daran, an diesen Türen vorbeizurennen, denn er wußte, daß Rufo sie geschlossen hatte. Der Vampir hatte einen Zauber über sie gelegt, der sie verschlossen halten würde. Ivan und Pikel waren keineswegs so gewitzt oder so gedankenschnell, besonders bei den wenigen Gelegenhei ten, wenn sie wirklich Angst hatten. Sie schrien gleichzeitig auf, senkten gleichzeitig ihren Köpfe und prallten gleichzeitig gegen die Türen - und kein Zauber, den Rufo oder sonst jemand über die Türen gelegt hatte, hätte das Portal angesichts dieses Ansturms gehalten. Durch fliegende Splitter rollten die beiden Zwerge nach draußen. Cadderly, der direkt hinter ihnen war, versuchte, über sie hinwegzuspringen, blieb jedoch mit einem Fuß an Pikels Kinn hängen und flog kopfüber nach vorn. Nicht einmal diese unabsichtliche Ausweichbewegung rettete den jungen Priester vor einem weiteren Geschoßha gel von Druzil. Der Schmerz raste an Cadderlys verbrannter Wirbelsäule entlang. Ivan und Pikel hakten ihn jeder an einer Seite unter, rannten weiter und schleppten ihn mit. Ivan war geistesgegenwärtig genug, noch rasch das heruntergefallene Lichtrohr und das heilige Symbol des jungen Priesters aufzusammeln. Die langsamen Zombies traten gemächlich die Verfolgung
an, doch die Vampire nicht, denn die Nacht war noch nicht richtig hereingebrochen. Zwanzig Schritte weiter waren Cadderly und die Zwerge in Sicherheit. Aber für wie lange, fragten sich alle drei. Die Sonne war nicht mehr zu sehen; die Bibliothek war verloren.
Anbruch der Nacht
Shayleigh hockte auf dem Dach des niedrigen Gebäudes hinter der Erhebenden Bibliothek und betrachtete das große, quadratische Bauwerk mit wachsendem Argwohn. Sie nahm wahr, daß das Feuer weitgehend auf eine Ecke beschränkt geblieben war, wie es bei einem Gebäude zu erwarten war, das vor allem aus Stein bestand, aber es war gar nicht so sehr das Feuer, das die Elfenkriegerin jetzt irritierte. Zwei Dinge fand sie ausgesprochen seltsam. Das eine war das schlichte Fehlen jeglicher Aktivitäten rund um die Bibliothek. Der Winter lag in den letzten Zügen, und die Wege waren frei, aber Shayleigh sah keine Priester draußen herumlaufen, die ihre müden Glieder im wärmenden Sonnenschein reckten. Noch unverständlicher fand Shayleigh, daß alle Fenster verbarrikadiert waren, besonders nach dem Feuer – sie hätte gedacht, daß man alle weit aufreißen würde, damit der Rauch austreten und frische Luft hereinströmen konnte. So jedoch war die Erhebende Bibliothek ganz gewiß kein luftiger Ort. Wegen der geschlossenen Fenster, zumindest der auf dieser Seite des Gebäudes, mußte die rauchige Luft da drin geradezu zum Ersticken sein. Percival, der die Zweige eines nahen Baumes entlang hüpfte, erwies sich als kein großer Trost. Das Eichhörnchen war noch immer sichtlich aufgeregt - ja, es war so wild, daß Shayleigh befürchtete, es hätte sich womöglich eine Krankheit zugezogen. Direkt neben ihr rannte es herunter, so daß sie einen Moment lang glaubte, es würde gegen ihren Arm prallen. »Was ist denn?« fragte sie leise, um das Eichhörnchen zu
beruhigen, das auf dem Ast im Kreis hüpfte. Percival sprang auf das Dach des Mausoleums, vollführte wieder seinen Kreistanz und keckerte dabei laut, als wollte er protestieren. Dann sprang er hoch, auf den niedrigen Ast zurück und saß immer noch keckernd genau gegenüber dem Mausoleum. Shayleigh fuhr sich mit ihrer zarten Hand durch die goldenen Haare, ohne im geringsten zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. Percival wiederholte seine Aktion, und dieses Mal zeugte der Tanz des Eichhörnchens auf dem Dach des niedrigen Gebäudes von Verzweiflung. Er huschte auf den Ast zurück, wo er dann wieder laut protestierend genau gegenüber von dem Mausoleum saß. Shayleigh merkte, daß das Eichhörnchen das niedrige Gebäude ansah, nicht sie oder die Bibliothek. »Da drin?« fragte sie und zeigte dabei auf das Dach des Mausoleums. »Ist da drin etwas?« Percival vollzog einen Salto auf dem Ast, und sein schriller Schrei ließ der Elfenfrau Schauer über den Rücken laufen. Shayleigh stand auf und starrte auf das von Zweigen bedeckte Schieferdach. Sie wußte genug von den Bräuchen der Menschen, um zu verstehen, daß es sich um ein Haus zur Beisetzung handelte, aber diese Tatsache allein sollte ein Eichhörnchen nicht stören, auch keines wie Percival, der anscheinend mehr begriff, als es einem Eichhörnchen zukam. »Es ist etwas da drin, Percival?« fragte sie wieder. »Etwas Schlechtes?« Wieder verfiel das weiße Eichhörnchen in seinen hektischen Tanz und keckerte dabei wild.
Shayleigh schlich sich an den vorderen Rand des Mausoleums und spähte hinüber. Es gab nur ein Fenster, das staubig und schmutzig war, und die Tür war geschlossen - aber der scharfe Blick der Elfenkriegerin nahm wahr, wie sauber die Ränder des Türknaufs waren, was bewies, daß die Tür vor kurzem geöffnet worden war. Shayleigh sah sich auf dem kleinen Feld und dem Hinterhof der Bibliothek um. Da niemand zu sehen war, faßte sie an den Rand des Dachs und rollte sich geschmeidig hinüber, bis ihre Füße dicht über dem Boden hingen und sie hinunterspringen konnte. Percival war inzwischen bei ihr. Er machte mehr Lärm, als die Elfenfrau hören wollte. »Jetzt sei aber still!« schalt Shayleigh mit rauher Flüsterstimme. Percival saß ganz still und stumm da, nur seine kleine Nase zuckte. Shayleigh konnte durch das schmutzige Fenster keine Bewegung erkennen. Sie fiel in tiefe Trance und zwang ihre Augen zur Nachtsicht der Elfen, mit der diese Wärme sahen, kein reflektiertes Licht. Auch aus dieser Perspektive wirkte der Ort leer. Shayleigh tröstete dies wenig, als sie ihre Augen wieder in das normale Lichtspektrum zurückgleiten ließ und zur Tür ging. Das hier war schließlich eine Krypta, und jedes Ungeheuer da drin konnte leicht untot sein. Tote Wesen waren kalt; sie strahlten keine Körperwärme aus. Als die alte Tür in ihren rostigen Angeln beim Aufmachen knarrte, zog Shayleigh den Kopf ein. Mattes Zwielicht drang in das Gebäude ein, konnte es jedoch kaum erhellen. Shayleigh und ihr Volk in Shilmista lebten jedoch mehr unter den Sternen als im Sonnenlicht, und ihre Augen waren ans Dunkel gewöhnt. Sie schlich sich hinein. Percival,
der trotz ihrer Schelte wieder keckerte, blieb auf dem Dach über der offenen Tür sitzen. Das Mausoleum wirkte leer, aber die Haare, die sich in Shayleighs Nacken sträubten, sagten etwas anderes. Sie zog ihren Langbogen von der Schulter, sowohl um etwas zum Stochern zu haben, als auch um eine Waffe in der Hand zu halten, und ging weiter hinein. Fast bei jedem Schritt sah sie sich zur Tür um, wo Percival nervös außen auf dem Fensterbrett hockte und mit weit aufgerissenen Augen hineinstarrte. Der Anblick des besorgten Tiers brachte sie trotz ihrer Befürchtungen fast zum Lachen. Sie kam an den ersten Steinbahren vorbei, wo ihr auffiel, daß nicht gerade wenig Blut - offenbar ziemlich frisches auf dem Boden verteilt war. Außerdem lag ein zerrissenes Leichentuch herum. Die Kriegerin schüttelte angesichts dieses neuen Rätsels den Kopf. Sie schlüpfte an der zweiten Bahre vorbei und blickte zur jenseitigen Wand, der Wand links von der Tür, an der sich markierte Steine befanden. Sie wußte, daß die Steine Gräber kennzeichneten. An dem hintersten Stein, dem Stein in der Ecke bei der Rückwand des Mausoleums, fiel ihr etwas auf - etwas, das nicht hierhergehörte. Shayleigh sah einen Augenblick neugierig hin, um vielleicht erkennen zu können, was es war. Der Stein hing einfach ein wenig schief. Shayleigh nickte und glitt vorsichtig einen Schritt näher. Der Stein flog von der Wand, und die Elfenkriegerin sprang zurück. Heraus fiel ein fetter Leichnam, ein aufgetriebenes, verfaultes Ding, das unten an der Wand liegenblieb. Shayleigh hatte die grausige Szene kaum registriert, als auch schon eine zweite Gestalt aus der offenen Gruft sprang und mit unglaublicher Beweglichkeit
auf der Bahre landete, die der Wand am nächsten war, knapp ein Dutzend Fuß vor der überraschten Elfenfrau. Abt Thobicus! Shayleigh erkannte ihn trotz der Tatsache, daß die Hälfte seiner Haut irgendwie weggeschmolzen war und die Reste blasig und aufgerissen waren. Sie erkannte den Abt und begriff, daß er etwas Schreckliches und Mächtiges geworden war. Die Elfenfrau wich eilig weiter zurück, denn sie wollte das letzte Stück zwischen sich und der Tür überwinden und die letzte Säule als Deckung benutzen, um sich dann umzudrehen und zu schießen. Der Tag war nicht mehr jung, aber sie wußte, daß das Licht, jedes Licht, ihr Verbündeter gegen diesen Gegner sein würde. Thobicus duckte sich wie ein Tier auf der Bahre. Shayleigh erwartete mit angespannten Muskeln seinen Sprung. Er starrte sie nur an, ohne zu blinzeln, ohne zu atmen, und sie konnte den Ursprung dieses Starrens nicht ausmachen. War es Hunger oder Angst? War er ein bösartiges Ungeheuer oder ein bejammernswertes Wesen? Sie kam an die letzte Bahre und spürte die Säule hinter ihrer Schulter. Ihr Fuß glitt zurück und drehte sich kaum wahrnehmbar. Die Elfenfrau reagierte blitzschnell und schoß hinter die Säule, doch ihre Bewegung war vorhersehbar gewesen, und die schwere Tür schloß sich mit gewaltigem Krachen. Shayleigh kam abrupt zum Stehen. Sie sah Percival auf dem Fensterbrett wilde Saltos schlagen. Sie spürte die Kälte, als sich der untote Mann hinter ihrem Rücken näherte. Sie wirbelte herum und duckte sich abwehrend. Dann wich sie zurück, während Thobicus langsam herankam. »Die Tür wird nicht aufgehen«, erklärte der Vampir, und
Shayleigh zweifelte nicht an seiner Behauptung. »Es gibt kein Entrinnen.« Shayleighs Blick schoß hin und her, um den Raum abzusuchen. Aber das Gebäude bestand ganz aus Stein und hatte nur dieses einzige Fenster (Bleiglas, das sie niemals rechtzeitig durchbrechen könnte) und diese einzige Tür. Der Vampir riß weit den Mund auf und zeigte stolz seine Eckzähne. »Jetzt bekomme ich eine Königin«, sagte Thobicus, »so wie Rufo Danica.« Diese letzte Bemerkung traf Shayleigh tief, sowohl wegen des Hinweises, daß der verfluchte Kierkan Rufo zurück war, als auch deswegen, weil er offenbar Danica in seinen Fängen hatte. Sie blickte zur Tür und zu Percival am Fenster, suchte und suchte, konnte aber die Wahrheit in Thobicus' nächster Feststellung nicht abstreiten. »Es gibt kein Entrinnen.«
Als sie schließlich zu rennen aufhörten, war die Bibliothek am Ende des gewundenen Pfades und hinter den vielen abschirmenden Bäumen kaum noch zu sehen. Cadderly stand vornübergebeugt und schnappte nach Luft, aber nicht nur aus körperlicher Erschöpfung. Was war aus seiner Bibliothek geworden? Seine Gedanken überschlugen sich. Was war aus dem Orden geworden, der ihn so viele Jahre seines Lebens geleitet hatte? Pikel, der aus zahlreichen Wunden blutete, sprang aufgeregt auf der kleinen Lichtung herum, wobei er auch noch mehrfach gegen die Felsen prallte, die diese Stelle im Süden begrenzten (was seinen Verletzungen nicht gerade gut bekam), und die ganze Zeit sein »Ei, ei!« ausstieß. Ivan
stand nur feierlich da, starrte zur Bibliothek zurück und schüttelte seine Haarmähne. Cadderly konnte nicht klar denken, und Pikels Aufregung half ihm erst recht nicht weiter. Mehr als einmal versuchte der junge Priester, sich auf ihr Problem zu konzentrieren und eine Lösung zu finden, aber immer wieder rissen ihn Pikels hektische Bewegungen und sein »Ei, ei!« aus seinen Gedanken. Schließlich richtete Cadderly sich auf und sah den grünbärtigen Zwerg direkt an. Er wollte Pikel gerade ausschimpfen, als er deutlich das Lied von Deneir vernahm. Es riß ihn mit, als wäre er ein Zweig, der in einen schnellfließenden Strom gefallen war. Es fragte nicht, ob er überhaupt wollte; es nahm ihn einfach in die Strömung mit, wurde schneller und schwungvoller, und der junge Priester konnte sich nur festklammern. Langsam bekam er schließlich seine wirbelnden Gedanken besser unter Kontrolle und steuerte bewußt auf die Mitte des Stroms zu, die stärksten Noten das Liedes. Seit Burg Trinitatis, seit er seinen eigenen Vater, Aballister, vernichtet hatte, indem er dem Zauberer buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, hatte er die Melodie nicht mehr so klar vernommen. Sie klang süß, so überaus süß, und tröstete Cadderly in seiner Trauer um die Bibliothek und seiner Angst vor der Zukunft. Jetzt war er ganz bei Deneir und schwelgte in der vollkommenen Musik. Korridore öffneten sich weit für ihn, Seitenarme des Hauptstroms. Cadderly dachte an das Buch der Universellen Harmonie, das heiligste Buch des Deneir, das Buch, in dem dieses Lied festgehalten war. Im Lied gab es nur Töne, rein und vollkommen, aber diese Töne entsprachen genau dem geschriebenen Text, der menschlichen Übersetzung von
Deneirs Musik. Cadderly wußte das - Pertelope hatte das gewußt -, aber sie beide waren die einzigen. Nicht einmal Abt Thobicus, das Oberhaupt des Ordens, hatte eine Ahnung, wie diese Musik klang. Thobicus konnte die Worte des Liedes hersagen, aber die Töne waren weit jenseits seiner Vorstellungskraft. Für Cadderly war es so einfach wie Umblättern. Er mußte nur mit dem Strom schwimmen, und jetzt trieb er einen dieser offenen Nebenarme hinunter in die Sphäre des Heilens, wo er Heilsprüche aus dem Wasser schöpfte. Minuten später war Pikel wieder ruhig, denn seine Blutungen waren gestillt, und auch Cadderlys wenige Wunden waren verschwunden. Der junge Priester drehte sich zu Ivan um, der bei der kurzen Begegnung mit dem Vampir allem Anschein nach am schwersten getroffen worden war, aber zu Cadderlys Erstaunen fand er den gelbbärtigen Zwerg ruhig und scheinbar unversehrt dastehen. Ivan erwiderte Cadderlys fassungslosen Blick, ohne dessen Grund zu verstehen. »Wir müssen uns verstecken«, überlegte der Zwerg. Cadderly riß sich aus seiner Benommenheit. Das Lied wich aus seinen Gedanken, aber er vertraute darauf, daß er es wieder aufrufen konnte, wenn es notwendig würde. »Wir bleiben besser im Freien«, meinte der junge Priester. »Im Licht, nicht im Schatten.« »Das Licht wird nicht andauern!« erinnerte ihn Ivan streng. Der Zwerg zeigte mit einem Finger nach Westen, wo nun selbst die fernen, hohen Berge düster emporragten und nur an ihrer Silhouette noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages glänzten. Ohne ein Wort oder auch nur ein erklärendes Grunzen
rannte Pikel schnell in die Büsche. Ivan und Cadderly sahen ihn verschwinden, drehten sich zueinander um und zuckten die Schultern. »Wir sollten einen Ort suchen, wo wir uns heute Nacht verstecken können«, stellte Cadderly fest. »Ich werde die Antworten, die wir brauchen, bei Deneir suchen. Seine Gnade schützt ...« Cadderly brach abrupt ab und blickte zur Bibliothek zurück. Seine grauen Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Wieder erklang der Ton der Angst in seinen Gedanken. Vielleicht war es von Deneir inspiriert, vielleicht war es nur eine logische Schlußfolgerung Cadderlys, ein Augenblick, in dem er alles in einem klareren Licht betrachtete. Genauso unvermittelt wie Pikel rannte der junge Priester nach Westen zurück, auf die Bibliothek zu. »He!« brüllte Ivan, während er die Verfolgung aufnahm. Da kam Pikel mit breitem Grinsen aus den Büschen. Er schleppte tropfende Wasserschläuche. »Häh?« fragte er, als er die anderen zur Bibliothek zurückeilen sah. Der Zwerg stieß ein leises Pfeifen aus und rannte ihnen hinterher. Cadderly machte einen kleinen Bogen um ein paar Brombeeren. Ivan rannte mitten durch das Gestrüpp und rammte den jungen Priester auf der anderen Seite. »Was?« wollte der Zwerg wissen. »Gerade hast du gesagt, wir müssen uns ein Versteck suchen! Ich bin dagegen, in die ...« Cadderly rappelte sich wieder auf, rannte, noch bevor er richtig aufgestanden war und schoß vor dem knurrenden Zwerg davon. Ivan nahm wieder die Verfolgung auf und setzte ihm nach, und Pikel, der ähnliche, wenn auch schmerzhafte Abkürzungen nahm, hoppelte bald an
Cadderlys anderer Seite. »Was ist denn?« fragte Ivan wieder, während er versuchte, den störrischen Priester festzuhalten. Jetzt waren sie am Rand des Hauptwegs zur Bibliothek, zwischen den Reihen der stillen, gepflegten Bäume und in Sichtweite der eingeschlagenen Türen, die wieder verschlossen und anscheinend von innen verbarrikadiert waren. »Was ist?« knurrte Ivan zornig. »Sie ist da drin!« gab Cadderly zur Antwort. Mit noch längeren Sätzen eilte der junge Priester den Zwergen auf dem flachen, offenen Gelände voraus. »Du kannst da nicht rein!« brüllte Ivan, der nicht recht verstand, was Cadderly wollte. »Die Nacht bricht an! Die Nacht ist seine Zeit, die Zeit der Vampire!« »Ei, ei!« stimmte Pikel eifrig zu. Cadderlys Antwort fegte jeden Einwand hinweg, den Ivan gegen ihre Rückkehr in die Bibliothek und eine erneute Begegnung mit Rufo anbringen konnte, ob die Nacht nun angebrochen war oder nicht. »Danica ist da drin!« Die Beine, der Zwerge waren kürzer, aber ihre Liebe zu Danica war nicht geringer, und als Cadderly langsamer wurde, um herauszufinden, wie sie die Barriere durchbrechen konnten, oder ob das Portal mit gefährlichen Fallen versehen worden war, flogen Ivan und Pikel mit gesenkten Köpfen an ihm vorbei und stießen dabei ein einstimmiges »Ooooh!« aus. Rufo hatte die Türen sowohl mit Zaubersprüchen als auch mit schweren Möbeln gesichert und hinter der Barriere ein halbes Dutzend Zombies aufgestellt, die nur den Auftrag hatten, ganz still stehen zu bleiben und die Türen zuzuhalten.
Er hätte sich die Mühe sparen können. Als Ivans und Pikels Schwung schließlich nachließ, lagen sie in der Eingangshalle auf dem Bauch. Um sie herum regnete es gesplittertes Holz, Möbel und Zombies. Cadderly war den Zwergen dicht auf den Fersen. Er hielt sein heiliges Symbol hoch und sang mit aller Kraft das Lied von Deneir. Sobald er die Schwelle zu dem entweihten Ort überquerte, spürte er seine Macht schwinden, hatte jedoch noch genug Schwung und genug Wut und Entschlossenheit, um den Ruf zu seinem Gott zu beenden. Die sechs Zombies erhoben sich unbeirrt und rückten gegen die Zwerge und Cadderly vor. Dann erstarrten sie ausdruckslos an Ort und Stelle, und ein goldener Schimmer umrahmte sie von Kopf bis Fuß. Der Rand, an dem dieser Schimmer auf zerfetzte Kleider oder Haut traf, flirrte, und der Glanz wurde stärker. Einen Augenblick später waren die Zombies Staub auf dem Boden. Vorn am Eingang sackte Cadderly gegen den Türpfosten und wäre beinahe umgesunken. Er staunte, wie mühsam es gewesen war, Deneir an diesen Ort zu bringen - staunte schon wieder, daß die Erhebende Bibliothek, seine Bibliothek, seine Heimat, ein so fremder Ort geworden war.
Sie schrie nicht, als Rufo sich über sie beugte, weil sie nicht glaubte, daß irgend jemand sie hören könnte. Sie kämpfte auch nicht, denn ihre Fesseln waren zu fest und ihre Schwäche zu übermächtig. »Danica«, hörte sie Rufo leise sagen, und sie war vom Klang ihres eigenen Namens abgestoßen, weil Rufo ihn
aussprach. Die junge Frau wich tiefer in sich selbst zurück, versuchte, sich von ihrem Körper zu lösen, denn sie wußte, was kommen würde. Und trotz allem, was Danica in ihrem kurzen Leben schon erduldet hatte, den Verlust ihrer Eltern, die Jahre harten, gnadenlosen Trainings, den Kämpfen unterwegs, glaubte sie nicht, daß sie das überleben könnte. Rufo kam näher. Sie roch seinen stinkenden Atem. Instink tiv schlug sie die Augen auf und sah seine Reißzähne. Noch einmal kämpfte sie gegen die unnachgiebigen Fesseln. Dann schloß sie fest die Augen im Versuch, dieses höllische Bild auszublenden, es durch reine Willenskraft zu vertreiben. Danica spürte den Stich, als Kierkan Rufos Zähne ihren Hals ritzten. Der Vampir stöhnte vor Ekstase, und Danica war von Abscheu erfüllt. Sie wollte nur noch weg hier, ihren eigenen, zerschundenen Körper verlassen. Sie glaubte, sie würde sterben, und sie wollte sterben. Sterben. Dieses Wort blieb in ihren wirbelnden Gedanken bestehen, ein Rettungsschimmer, der einzige Ausweg angesichts dieses gräßlichen Ungeheuers, das sie zu seinesgleichen machen wollte. Danica spürte die Schwäche in ihrem Bein, fühlte den Schmerz in ihrem ganzen, geschundenen Körper und ließ ihre Schutzmechanismen fallen, nahm Schwäche und Schmerz hin, überließ sich ihnen, rief sie zu sich. Sterben ...
Zum ersten Mal erlebte Kierkan Rufo echte Ekstase - eine noch größere Freude als beim Trinken des Chaosfluchs -, als er Danicas Blut schmeckte. Danica! Das war weit besser als
jede Vampirmahlzeit, die er bisher genossen hatte. Danica! Rufo hatte sie begehrt und sich nach ihr gesehnt, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und jetzt würde sie ihm gehören! Der Vampir war seinen Phantasien so sehr hingegeben, daß er einen langen Moment brauchte, bis er wahrnahm, daß das Blut der Frau nicht mehr pulsierte, daß jede Süße, die er aus der Wunde in Danicas Hals zog, gewaltsam erkämpft werden mußte. Er stieß sich in eine knieende Haltung zurück und starrte verblüfft auf diese Frau hinunter, die seine Königin werden sollte. Danica lag ganz still. Ihre Brust hob und senkte sich nicht im Rhythmus ihres Atems; die Blutflecken an ihrem Hals vergrößerten sich nicht durch den anhaltenden Blutstrom. Rufo sah wohl, daß er die Arterie perfekt getroffen hatte. Bei anderen Opfern sprudelte das Blut ungehemmt aus solchen Wunden. Aber nicht hier. Nur kleine rote Punkte. Kein Druck, kein Puls. »Danica?« fragte der Vampir, und er mußte sich anstrengen, seine Stimme zu beherrschen. Doch er wußte es. Jenseits aller rationalen Zweifel wußte es der Vampir, denn Danicas Gesicht war zu gelassen, zu blaß. Und sie lag viel zu still. Rufo hatte Danica aus dem Leben in einen untoten Zustand bringen wollen, in sein Reich, wo sie seine Königin sein sollte. Sie war gefesselt und schwach und konnte nicht entkommen - so hatte er es sich gedacht. Rufo zitterte, als er erkannte, was geschehen war, was Danica getan hatte. Er wich ein Stück weiter vor ihr zurück, an den Fuß des riesigen Bettes mit den vier Pfosten, wischte mit dem Arm über sein blutiges Gesicht, riß die dunklen
Augen weit auf vor Entsetzen und noch weiter vor Wut. Danica hatte einen Ausweg gefunden. Danica hatte den einzigen Ausweg aus Rufos Plänen und Sehnsüchten gefunden. Sie war gestorben.
Pikels Treffer
Von allem, was sie je gehört hatten - den Rufen wilder Tiere in einer Nacht in den Bergen, den Schreien der Sterbenden auf einem Feld in Shilmista, dem Gebrüll eines betrogenen Drachen -, waren weder Cadderly noch den kampferprobten Zwergen je die Knie so weich geworden wie bei dem widernatürlichen Wutschrei von Kierkan Rufo, dem Vampir, der seinen kostbarsten Schatz verloren hatte. Als Cadderly wieder klar denken konnte, war er instinktiv der Meinung, daß sie diesem Geräusch nachgehen sollten, denn es würde sie zu Rufo führen, und der wiederum würde sie zu Danica bringen. Der junge Priester hatte jedoch Mühe, dies seinen Zwergenfreunden beizubringen, hatte sogar Mühe, selbst eine Entscheidung zu treffen, die ihn näher zu dem bringen würde, der dieses Geheul ausgestoßen hatte! Cadderly schaute hinter sich, durch die Tür und in die leere Nacht. Einen Schritt zurück, und schon würde das Lied seines Gottes klarer in seinen Gedanken erklingen. Einen Schritt zurück ... aber Danica war vor ihnen. »Deneir ist nicht bei mir«, flüsterte Cadderly bei sich, nicht für die anderen, »nicht nah.« »Wo müssen wir hin?« drängte Ivan ungeduldig. In seinen dichten Augenbrauen hingen Schweißtropfen, aber nicht unbedingt von der Erschöpfung. »Raus«, antwortete Cadderly. »Das kam aus dem ersten Stock, aus den Privatzimmern.« Sie durchquerten die Eingangshalle und mehrere kleinere Räume und kamen an der Küche vorbei, wo Ivan und Pikel so viele Jahre als Köche gearbeitet hatten. Sie trafen nicht
auf Feinde, aber um sie herum erwachte die Bibliothek. Das wußten sie, denn sie spürten es, eine plötzliche Kälte in der Luft, die nicht weichen wollte. »Cadderly.« Eine Stimme, eine lüsterne Frauenstimme, ließ die drei wie angewurzelt stehenbleiben, als sie gerade zehn Stufen auf der Wendeltreppe zum ersten Stock zurückgelegt hatten. Cadderly, der mit seinem Lichtrohr in der Hand voranging, drehte sich langsam um und lenkte den Strahl über die Köpfe von Ivan und Pikel hinweg, bis er direkt auf das vernarbte Gesicht von Histra fiel. Die Vampirin zuckte zähnefletschend zusammen und zischte das unangenehme Licht an. Pikel quietschte und warf sich mit weit ausholender Keule auf Histra, traf sie, und beide kullerten die Treppe herunter. Cadderly fuhr instinktiv wieder zur Treppe herum, wo er gerade noch abwehrend einen Arm hochwerfen konnte, um den Angriff eines zerlumpten Zombies abzufangen. Der Priester stolperte zurück, und Ivan, der sich noch nicht weit genug umgedreht hatte, um zu verstehen, was vor ihm geschah, duckte sich und verharrte. Über den geduckten, unbewegten Zwerg flogen Cadderly und der Zombie, um dann ineinander verstrickt nach unten zu rollen, wo sie sich im Gang zu Pikel und Histra gesellten. Pikel vollführte eine Reihe kurzer Hopser, um neben die hockende Vampirin zu gelangen. Er wedelte drohend mit seiner Keule, kam dann vorwärts gerannt, wobei er die Keule ausstreckte und eine volle Drehung beschrieb, erst einmal, dann noch einmal. Er kam aus dem nutzlosen Angriff gewirbelt und stolperte schwindelig einen Schritt weiter. »He?« fragte der verwirrte Zwerg, denn Histra war nicht vor ihm, nicht dort, wo sie gewesen war.
Ihre Faust traf seine Schulter, und Pikel fuhr wieder herum. Zum Glück für den Zwerg drehte er sich diesmal in die Gegenrichtung, und das nahm ihm jedes Schwindelgefühl. Als er dann anhielt (und wieder Glück hatte), befand er sich deshalb genau im rechten Winkel zu der angreifenden Vampirin. »Hihihi«, kicherte Pikel und griff mit gewaltigem Schwung an, hielt jedoch leicht seitlich auf seine Gegnerin zu. Histra wich schnell aus, um den rechten Winkel aufrechtzuerhalten, aber Pikel, der auf seinen großen Zwergenfüßen festen Halt hatte, setzte einen Fuß vor den anderen und warf sich genau auf sie. Seine harten Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt, und die Baumstamm keule des Zwergs fuhr unter Histras erhobenem Arm hindurch und traf sie mitten ins Gesicht. Sie flog rückwärts gegen die Wand, als wäre sie von einer Armbrust getroffen worden, aber noch ehe Pikel ein neues »Hihihi« ausstoßen konnte, stellte er fest, daß er sie kein bißchen verletzt hatte. Pikel sah auf seine Keule hinunter, dann auf die selbstsichere Vampirin, dann wieder auf die Keule, als hätte diese ihn verraten. »Ui, ui«, murmelte der grünbärtige Zwerg, dann schleuderte Histras kräftiger Hieb ihn fort. Er schaffte einen perfekten zweieinhalbfachen Salto und stand schließlich an der Wand auf dem Kopf. Cadderly war bei dem Zombie erfolgreicher. Er kam viel schneller hoch als das ungelenke Wesen, und seine Finger steckten bereits in der Schleife der Schnur seiner Spindel scheiben, zweier kleiner Scheiben, die durch einen kurzen Metallstab verbunden waren. Er ließ die Adamantscheiben einmal, dann ein zweites Mal, ans Ende der Schnur und dann zurück in seine Hand rollen, um die Schnur zu
straffen. Als der Zombie schließlich auf die Beine kam, ließ Cadderly die Scheiben brutal ins Gesicht des Wesens vorschnellen. Das Geräusch brechender Knochen ließ den jungen Priester zusammenzucken. Der Zombie taumelte mehrere Schritte zurück, aber unter dem Zwang von Befehlen, die er aus Mangel an Intelligenz nicht hinterfragen konnte, kam er einfach wieder zurück, die Arme weit ausgebreitet. Die Spindelscheiben trafen wieder, direkt unter das Kinn, und als das Wesen zum nächsten Angriff ansetzte, rollte sein Kopf grausig hin und her, da alle stützenden Halswirbel zerschmettert waren. Nach dem dritten Treffer stand es nicht wieder auf, aber als es auf den Boden fiel, kam ein sich überschlagendes Zwergengeschoß, Pikel Felsenschulter, über ihn gerollt, so daß der Weg zwischen Cadderly und Histra frei war. Cadderly hörte, daß Ivan oben an der Treppe mit einem Feind beschäftigt war. Er blickte kurz hinauf und dann zurück, um festzustellen, daß Histra näher gekommen war. Sie stand nur noch ein paar Fuß von ihm entfernt und lächelte ihr schreckliches, zähnefletschendes Lächeln. Cadderly traf sie mit den Spindelscheiben fest vor die Brust, als sie kühn heranschritt, aber die Waffe schlug sie nur einen Schritt zurück. Sie lächelte wieder, sogar noch breiter, um zu zeigen, daß er sie nicht verletzt hatte. »Lieber Cadderly«, gurrte sie. »Du kannst dich nicht gegen mich wehren.« Wie Pikel zuvor schaute Cadderly seine Spindelscheiben an, als hätten sie ihn verraten. »Würdest du nicht das Schicksal vorziehen, das ich dir zu bieten habe?« fragte Histra neckisch. Sie kam Cadderly so grotesk vor, eine Karikatur und Beleidigung der verführerischen, sinnlichen Frau, die sie einst gewesen war.
Als Priesterin der Sune, der Liebesgöttin, hatte Histra sich geschminkt und parfümiert, hatte ihren kurvenreichen Körper perfekt gepflegt und ein Leuchten in den Augen gehabt, das jedem Mann, den sie erwählte, die reinsten Wonnen versprach. Aber nun hing ihr die Haut vom Gesicht wie vom Dekollete, das sich zwischen den Fetzen eines einstmals schönen, scharlachroten Gewandes zeigte. Und kein Parfüm konnte den Brandgeruch kaschieren, der die verstümmelte Vampirin umgab. Schlimmer noch war nach Cadderlys Einschätzung der Ausdruck in ihren Augen, der einst Lust versprochen hatte, aber jetzt das diabolische Feuer der Verruchtheit hatte, der Inkarnation des Bösen. »Ich biete dir Leben«, schnurrte die häßliche Vampirin. »Ein besseres Angebot, denn Rufo wird nur den Tod bieten.« Angesichts dieser Erwähnung von Kierkan Rufo riß Cadderly sich zusammen. Er nutzte Histras Anblick, um seinen Glauben zu stärken, nutzte ihn als Symbol, als deutliche Erinnerung, wie die Versuchung einen straucheln lassen konnte. Er riß sein heiliges Symbol hoch, das Lichtrohr dahinter, und noch nie hatte der junge Priester das Licht von Deneir mit so viel Inbrunst gezeigt. Rufo hatte Cadderlys Symbol noch widerstanden, aber Histra war hier nicht der Meister, war noch weit von der vollen Macht eines Vampirs entfernt. Sie brach ihren Angriff sofort ab und begann zu zittern. »Bei der Macht von Deneir!« schrie Cadderly, der einen Schritt näher kam, das Symbol hochhielt und damit so nach unten zielte, daß sein mächtiges Blitzen Histra in die Knie zwang. »Also, da kommen wir nicht weiter!« schrie ein blutig
geschlagener Ivan, als er, halb laufend, halb rollend, von der Treppe kam. Cadderly knurrte und lenkte das Licht tiefer. Histra kroch wimmernd am Boden. Dann schaute der junge Priester zur Treppe, wo ein Haufen Zombies hinter Ivan herunter schlurfte. Er blickte über den Gang zu Pikel, der zum Glück wieder auf den Beinen war und im Kreis lief - nein, tanzte, wie Cadderly feststellte. Aus einem für Cadderly unerfindlichen Grund tanzte Pikel um seine Keule herum, gestikulierte mit seinen stämmigen Händen und bewegte den Mund dabei hektischer, als Cadderly es bei Pikel je gesehen hatte. Ivan nahm am Fuß der Treppe den Kampf wieder auf. Mit jedem Schlag trennte seine mächtige, bösartig scharfe Axt den unbeirrbaren Zombies Gliedmaßen ab. »Es sind bestimmt Hundert von den verdammten Biestern!« fluchte der Zwerg. Etwas Schnelleres und Böseres als die Zombies kam durch ihre Reihen, um sich vor dem Zwerg aufzubauen. Ivans Axt traf es mitten in die Brust, aber als die Klinge zuschlug, erfaßte der Vampir, ohne mit den Wimper zu zucken, den Griff und schob ihn einfach beiseite. »Hundertundeins«, berichtigte der Zwerg trocken. Cadderly knurrte und preßte Histra das Symbol seines Gottes genau auf die Stirn, bis beißender Rauch von der Wunde aufstieg. Die Vampirin versuchte nach oben zu greifen und sich gegen den Angriff zu wehren, aber sie hatte keine Kraft in den zitternden Armen. »Ich trotze dir, und ich verdamme dich!« grollte Cadderly, der mit aller Kraft zudrückte. Wieder war Histra dadurch gefangen, daß sie ihren neuen Zustand als Untote noch nicht gemeistert hatte. Sie konnte sich nicht einfach schnell
in eine Fledermaus oder ein anderes Nachtwesen oder in Rauch verwandeln und fliehen. »Halte ihn zurück!« schrie Cadderly Ivan zu, denn er wußte, daß Histra wehrlos war. Er wollte nach Pikel rufen, grunzte aber nur, als er sah, daß der Zwerg immer noch herumtanzte. Womöglich war dem Zwerg aller Verstand aus dem Kopf gedroschen worden? Ivan startete grollend einen wütenden Angriff auf den Vampir, bei dem er das Wesen einige Male traf. Aber das Ungeheuer und die Zombiehorde dahinter rückten unerbittlich näher. Wäre der Vampir ein loyales Wesen gewesen, so wäre er an dem Zwerg vorbeigestürmt, um Histra zu retten, aber als einer von zwei untergebenen Vampiren sah Baccio von Carradoon den mächtigen jungen Priester und sein glühendes heiliges Symbol an und verspürte Angst. Außerdem war Baccio klar, daß Histras Untergang seine Stellung als Rufos Stellvertreter nur stärken konnte. Und deshalb erlaubte der Vampir diesem verzweifelten, aber lächerlichen Zwerg, ihn in Schach zu halten. Bald war Cadderly von schwarzem Rauch umgeben. Er hielt seinen Ruf zu Deneir aufrecht, drückte weiter das Auge mit der Kerze auf Histras Stirn; obwohl er sie durch die beißende Wolke nicht einmal mehr sehen konnte. Schließlich brach die Vampirin zusammen, und Cadderly hörte, wie Histra hart auf den Boden fiel. Sobald der Rauch sich verzog, sah Cadderly, daß es vorbei war. Welches Los Histra nun erwartete, konnte er nur ahnen - und er erschauerte dabei! Er dachte an die schwarzen, geduckten Schatten, die über ihre verdammte Seele herfallen und sie in die ewige Hölle hinunterzerren würden. Dennoch wirkte die Vampirin im echten Tod erheblich friedlicher als noch
einen Augenblick zuvor. Ihre Augen nahmen wieder ihre natürliche Farbe an, und sie schien fast zu schlafen. Vielleicht konnten selbst große Sünden vergeben werden. Cadderly hatte keine Zeit mehr, über Histra nachzu denken. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, daß er und seine Freunde erneut zurückgeschlagen werden würden. Trotz ihrer Angst um Danica und ihrer Entschlos senheit, die junge Frau zu retten, konnten sie nicht inmitten der Nacht die Bibliothek, Rufos Bibliothek, besiegen. Auch Baccio hatte genug gesehen. Mit einer einzigen Handbewegung stieß er Ivan von sich, der quer über den Boden neben Pikel rutschte. Pikel hob mit einer Hand die Keule hoch und dann mit der anderen seinen geschlagenen Bruder. Cadderly schrie auf und stellte sich dem Vampir, indem er sein Symbol präsentierte, wie er es bei Histra getan hatte. Baccio, ein älterer, weiserer Mann, der bereitwillig in Rufos Dienste getreten war, zuckte zusammen, wich jedoch nicht zurück. Cadderly stieß seinen Arm nach vorn, und Baccio zuckte wieder zusammen. Cadderly rief nach Deneir und rückte einen Schritt vor. Baccio stellte fest, daß er zurückweichen mußte. Es dauerte nur eine Sekunde, und Cadderly wußte, daß er die Oberhand hatte. Wenn er jetzt mit seinem ganzen Glauben weiterdrängte, konnte er diesen hier vernichten, wie er Histra vernichtet hatte. Baccio wußte das auch, aber der Vampir lächelte plötzlich bösartig und befahl seiner Zombielegion, ihn zu umstellen und vom Licht von Cadderlys Glauben abzuschirmen. Das erste der hirnlosen Ungeheuer wurde von Licht umstrahlt wie die Zombies, die Cadderly besiegt hatte, als er und die Zwerge vorher in die Bibliothek eingedrungen
waren. Es wurde zu Staub, das nächste ebenfalls, aber es waren einfach zu viele von ihnen. Ein neuerlicher Schrei, ein entsetzliches Heulen, hallte von den Mauern und im Treppenhaus wider. »Der Meister kommt«, meinte Baccio hinter der Horde. »Zur Tür!« rief Ivan, und obwohl es Cadderly zutiefst schmerzte, sich Danica an diesem gottlosen Ort vorzustellen, wußte er, daß der Zwerg recht hatte. Sie hetzten den Gang entlang, wobei sie den langsamen Zombies leicht entkamen. Pikel warf die erste Tür hinter ihnen zu und schlug den Riegel davor. »Wir nehmen einen anderen Weg nach oben«, schlug Cadderly vor, der versuchte, sich an den schnellsten Weg zur Hintertreppe zu erinnern. Baccios Hand durchschlug die Tür, und die Finger des Vampirs begannen in aller Ruhe nach dem Riegel zu tasten. Die drei Freunde rannten schon wieder durch die kleinen Räume und an der Küche vorbei, wobei sie jede Tür hinter sich schlossen. Sie kamen in die Eingangshalle, wo die Zwerge auf die offene Tür zuhielten und Cadderly versuchte, sie direkt auf den Südflügel mit der Hauptkapelle zuzudrängen, wo es über einen Balkon in den ersten Stock ging. »Nicht raus!« beharrte der junge Priester. »Nicht rein!« hielt Ivan prompt dagegen. Plötzlich war Kierkan Rufo vor ihnen - zwischen der Tür ins Freie und in die Nacht und der Tür zu dem Gang, der sie in die Hauptkapelle bringen würde. »Nirgendshin«, meinte Ivan und blieb stehen. Cadderly riß sein heiliges Symbol hoch, und das Lichtrohr dahinter warf das Bild auf Rufos Gesicht. Der Vampir, der vor Wut über Danicas Tod bebte, scheute
nicht im geringsten davor zurück, sondern begann mit einer Stetigkeit vorzurücken, die dem jungen Priester einen schrecklichen Tod verhieß. Ein Dutzend Mal rief Cadderly vergeblich Deneirs Namen an. Sie mußten über die Schwelle gelangen, erkannte er, diesen Ort verlassen, den Rufo jetzt sein Zuhause nannte. »Lauft zur Tür«, flüsterte er seinen Kameraden zu, während er sich kühn vor sie stellte. Er war Cadderly, erinnerte er sich, von Deneir erwählter Priester, der sich allein einem Drachen gestellt hatte, der seinen Geist ins Reich des Chaos ausgesandt hatte und zurückgekehrt war, der den Ghearufu, dieses böse Machwerk, zerstört hatte, und der das schreckliche Vermächtnis seiner Vergangenheit überwunden hatte. Irgendwie war nichts davon jetzt von Bedeutung, nicht angesichts von Rufo und dem Niedergang, den dieser Vampir darstellte, nicht angesichts der absoluten Perversion des Lebens an sich. Irgendwie, irgendwo fand Cadderly die Kraft, sich von den Zwergen zu trennen, um Rufo gegenüberzutreten und seine Freunde zu schützen. Genau wie Ivan. Der tapfere Zwerg erkannte, daß Cadder ly allein vielleicht fähig war, Rufo zu trotzen und zu siegen. Aber nicht hier drin, das wußte Ivan. Cadderly konnte Rufo nur schlagen, wenn der junge Priester von diesem geschändeten Ort entkommen konnte. Der gelbbärtige Zwerg stieß einen Schlachtruf aus und warf sich vor den Vampir (der seine glühenden Augen keinen Augenblick von dem jungen Priester, seinem bedrohlichsten Feind, löste). Ohne Angst und ohne Zögern schrie Ivan erneut und traf Rufo mit einem brutalen Überkopfschlag. Rufo wischte die Axt beiseite und schien Ivan erstmals zu
bemerken. »So langsam hab ich's satt«, knurrte Ivan angesichts seiner wirkungslosen Axt. Sein einziges Glück war, daß Rufos mächtiger Hieb ihn in etwa auf die offene Tür zu warf. Cadderly drang schnell und fest auf Rufo ein. »Du kannst mir nichts tun!« grollte Rufo, aber der junge Priester hatte sich etwas ausgedacht. Er hielt sein Symbol hoch, so gut er konnte, indem er dieses und sein Lichtrohr mit einer Hand packte, aber die eigentliche Waffe lag in seiner anderen Hand. Sein Finger steckte immer noch in der Schlinge seiner Spindelscheiben, die jedoch neben ihm am Boden schleiften, denn Cadderly wußte jetzt, daß sie gegen den Vampir nutzlos sein würden. Im Angriff hatte er seine zweite Waffe aus dem Gürtel gezogen, den Wanderstab mit dem Widderkopf, den ihm ein befreundeter Zauberer in Carradoon einst verzaubert hatte. Rufo nahm den Schlag ahnungslos hin, worauf die verzauberte Waffe ihm die Hälfte der Haut vom Gesicht riß. Cadderly hob den Arm zu einem zweiten Schlag, aber Rufo hielt sein Handgelenk fest und bog es nach hinten, bis er den jungen Priester in die Knie gezwungen hatte. Cadderly reckte den Arm mit dem heiligen Symbol hoch, um Rufos näher kommendes, höhnisches Gesicht fernzu halten. In dieser Stellung verharrten sie scheinbar eine Ewigkeit. Cadderly wußte, daß er nicht gewinnen konnte. Hier drinnen konnte nicht einmal sein überlegener Glaube Rufo besiegen. Er spürte, wie etwas gegen seine Wange spritzte. Er hielt es für Blut, erkannte dann aber, daß es klares, kühles Wasser war. Rufo wich unerwartet zurück, und als
Cadderly aufblickte, erkannte er, daß sich ein verbrannter Hautstreifen über die andere Gesichtshälfte des Vampirs zog. Ein zweiter Strahl trieb Rufo zurück und zwang ihn, seine Hand von Cadderlys Arm zu lösen. Der überraschte junge Priester wurde noch verwirrter, als Pikel vorbeistapfte, der seinen Wasserschlauch unter den Arm gesteckt hatte und mit jedem Drücken einen Wasserstrahl über den Vampir niederregnen ließ. Rufo schlug mit rauchenden Fingern nach dem Wasser und wich zurück, bis er an der Wand der Eingangshalle angekommen war. Pikel rückte weiter vor. Cadderly hatte ihn noch nie so entschlossen erlebt, aber auch Rufo richtete sich auf und faßte einen Entschluß, nachdem der Moment der Über raschung vorüber war. Wieder traf ihn Pikel mit dem Sprühregen, aber der fauchende Vampir nahm das hin. »Ich reiße dir das Herz raus!« drohte er und machte einen Schritt von der Wand weg. Pikel explodierte förmlich, vollführte eine Drehung, nach der er auf einem Knie landete und mit seiner Keule einen tiefen Querschlag ausführte, um Rufo von der Seite am Bein zu treffen. Überraschenderweise ertönte das kräftige Knacken brechender Knochen, und das Bein des Vampirs knickte ein. Rufo fiel schwer zu Boden, und schon war der quietschende Pikel aufgesprungen und über ihm, die Keule zu einem zweiten Schlag erhoben. »Wir haben ihn!« bellte der noch wackelige Ivan von der Tür her. Noch während sein Bruder diesen Siegesruf ausstieß, knallte Pikels Keule hart auf den Steinboden mitten durch den Nebel, zu dem Rufo geworden war.
»He!« brüllte Ivan. »Ooooh!« stimmte ein verärgerter, enttäuschter Pikel zu. »Das ist kein fairer Kampf!« schmollte Ivan, und dieser Ruf schien ihm den Rest seiner Energie zu rauben. Er machte einen Schritt auf seinen Bruder zu, warf kurz einen seltsamen Blick auf Pikel und Cadderly und fiel dann vornüber zu Boden. Cadderly schaute sich um, weil er sich entscheiden mußte, wohin sie nun gingen - wieder zurück oder hinaus in die Nacht? -, während Pikel zu seinem Bruder lief. Der junge Priester verstand, daß Rufo nicht besiegt war, und er wußte, daß der andere Vampir und die Zombiehorde nicht weit weg waren. Cadderly kniff die Augen ein wenig zusammen, als er sorgfältig die Eingangshalle absuchte, weil ihm einfiel, daß Druzil, der verschlagene, gefährliche Druzil, sie möglicherweise gerade jetzt beobachtete. Cadderly hatte den schmerzhaften Biß der Magie des Teufelchens nicht vergessen, genausowenig wie seinen Giftstachel. Dieses Gift hatte Pikel einmal vor langer Zeit gefällt, und obwohl Cadderly über Heilsprüche verfügte, die es besiegen konnten, vermutete er, daß er hier drin wohl keinen Zugang zu ihnen haben würde. Die Nacht war hereingebrochen, und sie waren schlecht gerüstet. Aber Danica war hier! Das konnte Cadderly nicht verges sen, keinen Augenblick. Er wollte sie suchen - jetzt! Jeden Raum in diesem gewaltigen Gebäude durchsuchen, bis er sie gefunden hatte und wieder in den Armen halten konnte. Was hatte der schreckliche Rufo ihr angetan? Seine Ängste meldeten sich laut zu Wort. Angespornt von dieser Panik wäre der junge Priester fast zur Küche zurückgelaufen, zurück zu den Zombies und dem anderen Vampir.
Cadderly hörte eine beruhigende Stimme, die Stimme von Pertelope, in seinem Kopf, die ihn daran erinnerte, wer er war und welche Verantwortung seine Position mit sich brachte. Ihn daran erinnerte, Deneir zu vertrauen - und Danica. Für den jungen Priester war es noch schwerer, als diesen unheiligen Ort überhaupt erst zu betreten, aber Cadderly ging zu Pikel, half ihm, den bewußtlosen Ivan zu tragen, und die drei machten sich auf ins Freie, zurück in die Nacht.
Eine Nacht in Freiheit
Sie liefen den langen Hauptweg vor der Bibliothek zwischen den hohen Baumreihen hinunter, und trotz seiner Hast mußte Cadderly daran denken, wie oft er diese Bäume als Zeichen dafür betrachtet hatte, daß er zu Hause war. Cadderlys Welt hatte sich in den letzten Jahren dramatisch verändert, aber auf diese jüngste Veränderung hatte nichts von den vorherigen Umwälzungen, nicht einmal der Tod von Avery und Pertelope oder die Enthüllung, daß Aballister in Wahrheit sein Vater war, ihn vorbereiten können. Cadderly und Pikel mußten Ivan tragen, dessen Kopf hin und her rollte und dessen gelber Haarwust an Cadderlys Haut rieb. Der junge Priester konnte kaum glauben, wieviel Gewicht in Ivans muskelbepacktem Körper steckte. Da er gebückt lief, um Ivan einigermaßen auf derselben Höhe mit Pikel zu halten, ermüdete er schnell. »Wir müssen eine Höhle finden«, befand er. Der grünbärtige Zwerg nickte zustimmend. »Ja, tut das«, kam eine Antwort von oben. Cadderly und Pikel blieben stehen und schauten gleichzeitig hoch, doch die Ablenkung kostete sie ihren Halt an Ivan. Der bewußtlose Zwerg kippte nach vorn, wo er mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug. Rufo hockte ein Dutzend Fuß über den Gefährten auf einem Zweig. Mit einem tierischen Fauchen - das bei ihm so natürlich klang! - sprang er herunter und landete leicht füßig hinter ihnen auf dem Weg. Sie fuhren tief geduckt herum, um sich dem Vampir zu stellen. »Ich bin bereits auf dem Weg der Heilung«, spottete Rufo,
und Cadderly konnte erkennen, daß das Ungeheuer die Wahrheit sagte. Die Wunde, die Cadderlys Wanderstab Rufos Wange zugefügt hatte, hatte sich bereits geschlossen, und die Narbe von Pikels Wasser war nicht mehr knallrot, sondern weiß. Wolfsgeheul durchschnitt die Nachtluft. »Hörst du sie?« fragte Rufo beiläufig, und Cadderly fand die Selbstsicherheit des Vampirs ziemlich bedrohlich. Sie hatten Rufo mit jeder Waffe angegriffen, die sie zur Verfügung hatten, und dennoch stand er wieder hier, stellte sich ihnen und hatte offenbar keine Angst. Ein neues Heulen echote durch die Nachtluft. »Das sind meine Lieblinge, die Wesen der Nacht«, brüstete sich der Vampir. »Sie heulen, weil sie wissen, daß ich hier bin.« »Was ist nur geschehen?« fragte Cadderly offen. »Wie kommst du hierher? Was hast du getan, Kierkan Rufo?« »Ich habe die Wahrheit gefunden!« gab Rufo zornig zurück. »Du bist einer Lüge verfallen«, berichtigte der junge Priester schnell. Der Vampir begann zu zittern. Seine Augen glühten rot auf, und es sah so aus, als würde er vorstürmen und seinen Widersacher erdrosseln. »Ui, ui«, murmelte Pikel in Erwartung des Angriffs und in dem Wissen, daß weder er noch Cadderly diesen Gegner aufhalten konnten. Rufo beruhigte sich plötzlich, lächelte sogar. »Was verstehst du schon davon?« fragte er Cadderly. »Du hast deine Tage mit nutzlosen Gebeten zu einem Gott verbracht, der dich klein und unbedeutend läßt. Was verstehst du schon davon? Du kannst es nicht wagen, die Grenzen zu
überschreiten, die Deneir dir setzt.« »Sprich seinen Namen nicht aus«, warnte Cadderly. Rufo lachte ihn aus. Er lachte Deneir aus, und Cadderly wußte das. Er wußte, daß alles, was Kierkan Rufo geworden war, Deneir und alle guten Götter verspottete. Es verspottete schon den Gedanken an Moral. Und für Cadderly verspottete dies wiederum den Sinn des Lebens selbst. Der junge Priester, der sich gegen dieses Werkzeug der Perversion stählte, begann langsam zu singen, um das Lied von Deneir in seinen Kopf zu rufen. Feuer, wußte Cadderly. Er brauchte einen Feuerzauber, um diesen dort zu verwunden, um Wunden zu schlagen, die nicht wieder verheilten. Wenn doch nur Dorigens Onyxring noch seine Macht hätte! Cadderly verwarf diesen sinnlosen, unproduktiven Gedanken und konzentrierte sich auf seinen Ruf zu Deneir. Er brauchte Feuer, um die Perversion zu vertilgen, Feuer, das sein Gott ihm schenkte und durch ihn hindurchlenkte. Cadderlys Kopf begann wie üblich zu schmerzen, aber er gab nicht auf, sondern ließ seine Gedanken in den Hauptstrom der Melodie fließen. »Ich habe sie«, hörte er den eingebildeten Rufo sagen, und in diesem Augenblick schlug Cadderlys Herz schneller, und trotz all seiner Zielstrebigkeit wankte seine Konzentration. Pikel stieß ein Quieken aus und sprang mit dem Wasserschlauch unter dem Arm vor Cadderly. Er heulte und drückte, und der Schlauch antwortete, indem er aufplatzte. Pikel sah auf den leeren Schlauch hinunter, aus dessen Ende die letzten Wassertropfen rannen. Dann schaute der Zwerg Rufo an, der ihn wütend anstarrte. »Ui, ui«, jammerte Pikel und warf sich beiseite, bevor
Rufos Hand ihn treffen konnte. Er überschlug sich mehrmals, bis er gegen einen Baum prallte, dann aufsprang, seine Keule wieder auf den Boden warf und mit demselben seltsamen Tanz anfing, den er im Gang der Bibliothek vollführt hatte. Diesmal wandte sich Cadderly nicht ab, zog sich absichtlich nicht vor Rufo zurück. Die Erwähnung von Danica hatte ihn aus seiner Konzentration und aus dem Fluß von Deneirs Lied gerissen, und er hatte keine Zeit, sich wieder in das Lied zu versenken. Doch er hatte seinen Glauben. jenseits von allem anderen hatte Cadderly seine Überzeugungen und würde im Angesicht des Vampirs keine Angst zeigen. Er hob sein heiliges Symbol. Dann schrie er mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte: »Zurück mit dir!« Rufo kam taumelnd zum Stehen und wäre beinahe einen Schritt zurückgewichen, ehe er im Chaosfluch die Kraft zum Widerstand fand. Doch auf dem Gesicht des Vampirs lag kein Lächeln, und während seine Miene vorher von Selbstvertrauen gesprochen hatte, zeigte sie jetzt nur Entschlossenheit. Cadderly rückte einen Schritt vor, Rufo desgleichen, und so standen sie einander knapp drei Fuß entfernt gegenüber. »Deneir«, sagte Cadderly deutlich. Wie der junge Priester sich wünschte, in das Lied seines Gottes zurückzukehren, einen Feuerspruch oder ein Heiliges Wort zu finden, das Wellen der Qual durch den hageren Körper des Vampirs laufen lassen würde! Doch das war unmöglich, solange Rufo so nahe und so überaus stark war. Ihre Begegnung war zu einem Wettstreit des Willens geworden, einer Prüfung des Glaubens, und Cadderly mußte an dem festhalten, was er hatte, sein Symbol mit voller Inbrunst
und Konzentration präsentieren und dahinter ausharren. Zwischen den beiden schien die Luft zu knistern, als positive und negative Energie miteinander rangen. Beide Männer zitterten von Anstrengung. In der Ferne heulte ein Wolf. Jede Sekunde schien wie eine Ewigkeit. Cadderly glaubte, er müsse unter dem Druck bersten. Er konnte das Böse in Rufo fast greifbar spüren, wie es über ihn hinwegspülte und seinen Glauben anzweifelte. Er konnte die Kraft von Tuanta Quiro Miancay fühlen, eines teuflischen Gebräus, gegen das er schon einmal gekämpft hatte, eines Fluches, der beinahe ihn und die ganze Bibliothek besiegt hätte. Jetzt war er personifiziert und noch stärker, aber Cadderly war älter und weiser. Rufo versuchte vorzurücken, aber seine Füße wollten seinem Wunsch nicht Folge leisten. Cadderly konzentrierte sich darauf, nur seinen Platz zu behaupten. Er hoffte nicht darauf, daß Pikel noch einmal angreifen würde. Er hoffte auf gar nichts. Sein Ziel war klar. Er würde Rufo hier festhalten, notfalls bis zur Dämmerung! Grüne Energieblitze trafen den jungen Priester in die Rippen. Er keuchte und zuckte zusammen, und bis er sich aufgerichtet hatte und wieder beginnen konnte, sich zu konzentrieren, war Kierkan Rufo auch schon über ihm, umklammerte sein Handgelenk und hielt Cadderlys Arm hoch, um das Symbol des Deneir von seinem Gesicht fernzuhalten. »Verbündete haben ihren Nutzen«, höhnte Rufo. Cadderly gelang ein Blick zur Seite, wo er Pikel herumspringen und wild seine Keule schwenken sah, mit der er einen grinsenden Druzil auf den untersten Ästen der umstehenden Bäume herumscheuchte.
Rufo drängte vor, und Cadderly wehrte sich hilflos. Ivan stöhnte hinter ihm auf dem Boden - Cadderly war überrascht, daß der Zwerg überhaupt so kurz vor dem Erwachen war. Ivan würde jedoch keine Hilfe sein, nicht dieses Mal. »Ich habe sie«, sagte Rufo wieder siegessicher, und trotz der Wut, die in Cadderly aufwallte, befand er sich in einer so ungünstigen Position, daß er nichts gegen die furchtbare Kraft des Vampirs ausrichten konnte. Rufo bog ihn zurück, bis Cadderly glaubte, ihm würde das Rückgrat brechen. Plötzlich zuckte der Vampir zusammen, dann noch einmal, dann fuhr er hoch, was den Druck von Cadderlys Wirbelsäule nahm. Rufo zuckte wieder und stöhnte, während sein Gesicht sich vor Schmerz verzog. Als er zum vierten Mal getroffen wurde, schleuderte Rufo Cadderly rücklings auf den Boden und fuhr herum. Cadderly sah vier lange Pfeile aus seinen Schulterblättern ragen. Ein fünfter pfiff heran, traf Rufo in die Brust und brachte ihn zum Taumeln. Seine rotglühenden Augen waren vor Überraschung weit aufgerissen. Shayleigh kam langsam immer näher, legte ruhig einen weiteren Pfeil auf und schoß ihn unfehlbar auf den Vampir ab. Drüben wurde Pikel der fruchtlosen Jagd müde, kam aus den Bäumen gesprungen und stürzte sich mit hocher hobener Keule auf Rufo. Kampfbereit warf sich der Zwerg zwischen Cadderly und den Vampir. Rufo fuhr plötzlich herum, streckte eine Hand in die Luft und sandte eine Energiewelle aus, die Pikel kurzfristig erstarren ließ. »Komm doch und such deine Kleine, Cadderly«, fauchte der Vampir, ohne auf den nächsten Pfeil zu achten, der ihm in die Seite drang. »Ich werde warten.«
Rufos Gestalt verschwamm in einem grünen Nebel, der um ihn her entstand und ihn umschloß. Pikel kam aus seiner Trance, schüttelte heftig den Kopf, bis seine dicken Lippen lautstark schlackerten, und holte weit aus, hielt jedoch abrupt inne, als Shayleighs nächster Pfeil einfach durch den substanzlosen Vampir fuhr und in der Keule steckenblieb. »Ooh«, murmelte der Zwerg mit einem Blick auf den Pfeil. »Macht er das jetzt immer?« wetterte Ivan, und sowohl Cadderly als auch Pikel fuhren herum, weil sein Ausbruch sie überraschte. Cadderly, der schon wieder auf den Knien war, starrte den zähen Zwerg zweifelnd an - wirklich zäh, denn Ivans Wunden, die der junge Priester für lebensgefährlich gehalten hatte, erschienen mit einem Mal nicht mehr so schlimm! Ivan bemerkte den Blick und beantwortete ihn mit einem Augenzwinkern, indem er seine linke Hand hochhielt, um einen Ring vorzuzeigen, einen Ring, den Vander ihm zum Abschied geschenkt hatte. Cadderly kannte den Ring, einen Gegenstand der Heilung, der seinen Träger sogar aus dem Grab zurückholen konnte, und jetzt erschien ihm alles logisch. Zumindest alles, was Ivan betraf. Der junge Priester stand auf und blickte in die andere Richtung, zu Shayleigh. Was machte sie hier, und was mochte sie von Danicas Schicksal wissen? »Ich bin gerade erst zurück«, begrüßte Shayleigh die drei, während sie näher kam, als ob Cadderlys bevorstehender Schwall von Fragen ihr klar war. »Ich habe mich gestern an einem Paß hoch über diesem Ort von Danica und Dorigen verabschiedet und müßte schon halb in Shilmista sein.«
»Nur?« fragte Cadderly nach. »Ich habe den Rauch gesehen«, erklärte Shayleigh. »Und dein Freund, Percival, kam zu mir. Da wußte ich, daß es in der Bibliothek Ärger gab, aber ... « Cadderlys Gesicht ließ sie innehalten, denn der junge Priester neigte sich mit großen Augen und erwartungsvoll geöffnetem Mund nach vorn. »Aber ich weiß nicht, was aus Danica geworden ist«, endete Shayleigh, und Cadderly sackte zurück. Rufo hatte ihm gesagt, daß Danica in der Bibliothek war, und nachdem ihm Shayleigh dies nun bestätigt hatte, konnte er die Aussage des Vampirs nicht mehr abstreiten. Jetzt ahnte er auch, wie es zu dem Feuer in der kleinen Kapelle gekommen war. Ein gewöhnliches Feuer in Gang zu bringen, das einen Raum in der aus Stein erbauten Bibliothek derart verwüsten würde, war nicht leicht, denn es gab wenig Brennstoff für die Flammen. Der Feuerball eines Zauberers jedoch (und darin war Dorigen eine ziemliche Expertin) war sicher ausreichend. »Nicht nur Feuer hat die Bibliothek angegriffen«, erwiderte Cadderly der Elfenfrau grimmig. »Rufo ist zu etwas Furchtbarem geworden.« »Ein Vampir«, sagte Shayleigh. Cadderly nickte. »Und es gibt noch mehr.« »Einen weniger«, gab Shayleigh zurück, worauf die drei Freunde sie neugierig anstarrten. »Hinter der Bibliothek habe ich Abt Thobicus gefunden«, erklärte die Elfenfrau, »in der Gruft. Auch er war untot, aber das Sonnenlicht hatte ihn verwundet, glaube ich, darum war er nicht mehr so stark.« »Und du hast ihn erledigt?« fragte Ivan, der überhaupt nicht mehr sehr verwundet aussah oder klang. Shayleigh nickte. Sie trat neben Pikel und zog fest an dem
Pfeil, der in der Baumstammkeule des Zwergs steckte. Mit einem Plopp kam er heraus, worauf Shayleigh ihn für die anderen hochhielt. Seine scharfe Spitze glitzerte im Mondlicht hellgrau. »Silberspitzen«, erklärte Shayleigh. »Das reinste aller Metalle, und eines, das die Untoten nicht einfach abtun können. Allerdings habe ich nicht mehr viele, fürchte ich«, meinte sie mit einem Blick auf ihren fast leeren Köcher. »Wir haben ein paar Trolle getroffen... « »Das haben wir gesehen«, sagte Ivan. »Ein paar von den Pfeilen dort und alle, die ich gegen Abt Thobicus eingesetzt habe, habe ich wieder mitgenommen«, sagte Shayleigh. »Aber Kierkan Rufo ist gerade mit einigen verschwunden, und ich fürchte, daß mein Vorrat an Pfeilspitzen schrumpft.« Um ihre Aussage zu bekräftigen griff sie zu einem Beutel an ihrem Gürtel und klingelte damit. »Meine Axt tut den Biestern gar nichts«, grunzte Ivan. »Adamant?« fragte Shayleigh und nickte verständnisvoll. »Das und Eisen«, erklärte Ivan. »Meine Spindelscheiben haben Rufo auch nichts anhaben können«, fügte Cadderly hinzu. »Aber mein Wanderstab«, er hielt seinen herrlichen Stock mit dem Widderkopf vor sich, »ist verzaubert und dazu noch aus Silber. Der hat ihn ordentlich getroffen.« Ivan nickte bekräftigend, dann sahen er und Cadderly einander neugierig an. Gemeinsam drehten sie langsam ihre Köpfe nach Pikel um, der schüchtern seine Keule hinter seinem Rücken versteckte. »Eine einfache Keule«, meinte Ivan, während er zu seinem Bruder glitt und die riesige Waffe hinter Pikel hervorzog. »Ich habe selbst gesehen, wie er sie aus dem Stamm eines
toten Baums gemacht hat!« »Eine einfache Keule«, stimmte Cadderly zu. »Aber sie hat Rufo verletzt.« Pikel beugte sich vor und flüsterte Ivan etwas ins Ohr, und der gelbbärtige Felsenschulter strahlte verstehend. »Er sagt, es ist keine Keule«, erläuterte Ivan Cadderly. »Mein Bruder nennt sie ... « Ivan warf einen fragenden Blick auf Pikel, der wieder auf die Zehen sprang und Ivan erneut etwas ins Ohr flüsterte. »Nennt sie Sha-lah-lah«, erklärte Ivan glücklich. Cadderly und Shayleigh wiederholten das seltsame Wort gleichzeitig, dann hatte Cadderly verstanden. »Ein Shillelagh«, sagte er, und für kurze Zeit war alles völlig einleuchtend, denn ein Shillelagh war eine magische Keule, wie sie oft von Druiden verwendet wurde. Eine solche Waffe konnte einem Vampir bestimmt schaden. Einen Augenblick später jedoch war es überhaupt nicht mehr einleuchtend - wo um alles in der Welt hatte Pikel eine verzauberte Druidenkeule her? »Und das Wasser?« fragte Cadderly Pikel. Der stolze Zwerg sprang auf die Zehenspitzen, um seine Lippen an Ivans Ohr zu bringen. Ivans Blick verfinsterte sich, als auch er sich alles zusammenreimte und zu verstehen begann, wie unmöglich das war. »Druidenwasser«, sagte er trocken mit ausdrucks loser Stimme. »Heijo!« quietschte Pikel. Wieder kamen neugierige Blicke, denn alle drei fragten sich, was um alles in der Welt mit Pikel los war. Shayleigh und Ivan hatten in Burg Trinitatis miterlebt, wie Pikel eine Schlange gezähmt hatte, aber im Gegensatz zu der Keule und dem Wasser ließ sich das noch anders erklären. Doch
nun ... Welche Erklärung konnte es geben, außer daß Pikel einen gewissen Zugang zur Druidenmagie erlangt hatte? Bei allem, was vor sich ging, war jetzt jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, dieser Sache nachzugehen oder ihr offensichtliches Glück in Frage zu stellen. Cadderly, Shayleigh und selbst Ivan erkannten insgeheim, daß Pikel es ihnen womöglich glauben würde, wenn sie ihm nach drücklich genug erklärten, daß Zwerge nicht Druiden werden konnten. Das würde überhaupt nichts bewirken, außer daß sie ein paar Waffen weniger gegen Rufo hätten. »Dann haben wir tatsächlich die Möglichkeit, Rufo zu schlagen«, befand Cadderly fest und beendete so die Debatte. »Wir müssen in die Bibliothek zurück.« Pikels Lächeln verschwand, und Ivan schüttelte den Kopf, noch ehe Cadderly ausgesprochen hatte. »Morgen früh«, warf Shayleigh ein. »Wenn Danica und Dorigen da sind, und das wissen wir nicht einmal genau, gibt es nichts, was wir heute nacht für sie tun können. Vertraue ihnen. Rufo ist in den Nachtstunden am stärksten.« Ein Wolf heulte durch die Nacht, worauf ihm ein zweiter, dann ein dritter und vierter antworteten. »Und der Vampir zieht seine Truppen zusammen«, fuhr Shayleigh fort. »Laßt uns weit von hier verschwinden. Bei Nacht ist die Bewegung unsere einzige Verbündete.« Cadderly sah zur Bibliothek zurück. Trotz allem, was Shayleigh gesagt hatte, wußte er in seinem Herzen, daß Danica dort drüben war. Auch Dorigen war in der Bibliothek, obwohl der junge Priester das schreckliche Gefühl hatte, daß die Zauberin umgekommen war. Shayleighs Worte waren jedoch nur zu wahr. Jetzt war Rufos Stunde, und seine Verbündeten würden bald überall
sein. Cadderly konnte den Vampir nicht besiegen, nicht bei Nacht, nicht in der Bibliothek. Er willigte ein und folgte der Elfenkriegerin, die sie in den Wald führte. Pikel hielt lange genug an, um seinen Schlauch mit dem klaren Wasser eines nahen Baches neu zu füllen.
Jede Waffe
Das Geheul drang aus jeder dunklen Ecke, aus jedem Teil von Rufos Nacht. Cadderly hatte gewußt, daß es Wölfe in den Schneeflockenbergen gab, viele Wölfe - jeder wußte das -, aber keiner der vier Freunde hätte vermutet, daß so überaus viele so nah waren. Shayleigh hielt die Gruppe in Bewegung, führte sie in unerwarteten Winkeln durch die Bergnacht, brach zwischen hohen Steinreihen hindurch und zog am Rand tiefer Schluchten entlang. Die Elfenfrau konnte im Dunkeln sehen, genau wie die Zwerge, und Cadderly hatte sein Lichtrohr, dessen Strahl er ganz eng eingestellt halb unter seinem grauen Reisemantel verborgen hielt, um nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als die Wölfe unausweichlich näher kamen, klang ihr Heulen wie ein einziger langer, trauervoller Ton. Nun war der junge Priester gezwungen, das Lichtrohr zuzuklappen und wegzustecken. Er stolperte vorwärts, so gut er das in dieser Nacht vermochte, die noch dunkler geworden war, während Pikel ihn an der einen Seite unterstützte, Ivan auf der anderen und Shayleigh sich große Mühe gab, nicht zu weit vorauszulaufen. Einmal sah es so aus, als wäre ihnen der Weg abgeschnitten, denn ein Rudel Wölfe heulte weiter vorn auf demselben Pfad, dem sie folgten. Shayleigh sah sich nach ihren Begleitern um. Ihre Veilchenaugen leuchteten selbst für Cadderlys geringe Nachtsicht deutlich, und deren Ausdruck verriet, daß ihr nun wirklich die Antworten ausgingen. »Sieht so aus, als müßten wir mal wieder kämpfen«,
knurrte Ivan. Es war das erste Mal, daß Cadderly den robusten Zwerg bei dieser Aussicht je so unwillig erlebt hatte. Aber das Wolfsrudel weiter vorn rannte unerwartet weiter, überquerte den Weg und hetzte nicht auf die Gefährten zu. Die Wölfe heulten aufgeregt durch die Nacht, als hätten sie eine andere Beute gefunden. Shayleigh hinterfragte ihr Glück nicht. Sie trieb die Freunde mit großer Eile vorwärts, bis sie an einen Hain mit Obstbäumen kamen. Shayleigh hätte Nadelbäume bevorzugt, deren dunkle Nadeln Deckung geboten hätten, aber das Rudel, das ihnen auf der Fährte war, war nicht weit hinter ihnen, und diese Bäume waren selbst für die kurzbeinigen Zwerge leicht zu erklettern. Also stiegen die vier so hoch, wie es die Zwerge erlaubten. Shayleigh fand sogar eine sichere Astgabel und spannte sofort ihren Bogen. Die dunklen Umrisse der großen Wölfe glitten auf die Lichtung neben dem Hain. Im schwachen Licht glänzten ihre Pelze silbern und schwarz. Einer kam direkt unter Cadderly und Pikel an den Baum, witterte und stieß dann ein neuerliches schreckliches Geheul aus. Seine Dutzend Gefährten am Hain antworteten, dazu noch eine größere Gruppe irgendwo weiter östlich: die Gruppe, die vor den vier Freunden gewesen war. Das Heulen im Osten ging weiter und wurde wilder, und obwohl diese Gruppe die vier auf den Bäumen gestellt hatte, konnte sie sich der Aufregung der Hetzjagd nicht entziehen. Das Rudel rannte davon, aber Shayleigh und die anderen kletterten nicht wieder hinunter, denn die Elfenfrau erklärte den anderen, daß dies hier in meilenweitem Umkreis der am besten zu verteidigende Ort sein könnte. Das Geheul ging viele Minuten weiter, so aufgeregt, als
wären die Wölfe tatsächlich auf einer frischen Fährte. Cadderlys Herz schlug bei jedem Heulen schneller - wenn es nun Danica war, die von den Tieren gejagt wurde? Dann ließ das Heulen nach, und lautstarkes Knurren mischte sich hinein. Für die Gefährten hörte es sich so an, als ob die Wölfe das, was sie gejagt hatten, in der Falle hatten. »Wir müssen helfen«, verkündete Cadderly, aber keiner der anderen schien bereit zu sein, mit ihm zu gehen. Er sah sie an, als hätte man ihn getäuscht, besonders den kräftigen Ivan. »Drei Dutzend Wölfe«, meinte der gelbbärtige Zwerg, »vielleicht mehr. Denen würden wir doch nur noch mehr zu futtern bringen.« Cadderly reagierte nicht, sondern suchte sich seinen Weg auf den nächsttieferen Ast. Ivan schnaufte, drehte sich um und rutschte so nah an Pikel heran, daß er auch diesen mit einem Klaps in Bewegung setzte. Die bewegliche Shayleigh war bereits auf dem Boden, wo sie auf die anderen wartete. Cadderly lächelte in sich hinein, denn er war froh, wieder einmal festzustellen, daß er mit tapferen, rechtschaffenen Freunden gesegnet war. Dem jungen Priester verging jedoch das Grinsen, und alle vier Freunde erstarrten (mit Ausnahme von Pikel, der den Halt verlor und auf dem Boden aufschlug), als eine gewaltige Explosion den Boden unter ihren Füßen erschütterte und sich im Osten ein Feuerball in die Luft erhob, begleitet vom Heulen vieler Wölfe. »Dorigen?« fragten Cadderly und Shayleigh gemeinsam, aber keiner von ihnen rührte sich, denn sie wußten nicht, was sie tun sollten.
Pikel kam stöhnend wieder auf die Beine und schüttelte sich die Zweige aus seinem grünen Bart. Hoch über ihnen hüpfte eine kleine Gestalt durch den Baum, die praktisch von Ast zu Ast flog. Ivan, der am höchsten saß, stieß einen Schrei aus, drehte sich um und hob seine Axt, aber Shayleighs Ruf hielt ihn rechtzeitig auf. »Percival«, erklärte die Elfenkriegerin. »Das ist nur Percival.« Cadderly kletterte so hoch er konnte, um seinen Freund, das Eichhörnchen, zu begrüßen. Percival keckerte aufgeregt und hüpfte auf dem Zweig im Kreis. Cadderly verstand, daß das Eichhörnchen in dieser Sache nicht nur ein zufälliger Beobachter gewesen war, als er einen Augenblick später die verzweifelten Schreie eines Mannes und das Geheul der ihn hetzenden Wölfe vernahm. Shayleigh und Pikel kehrten auf den Baum zurück, und alle vier wurden still, selbst das Eichhörnchen, und blickten nach Osten. Shayleigh bemerkte die Bewegung als erste, riß den Bogen hoch und streckte mit ihrem Pfeil zielsicher einen Wolf nieder, der dem fliehenden Mann dicht auf den Fersen war. Der überraschte Mann, der nicht damit rechnete, an diesem dunklen Ort Verbündete zu haben, schrie auf, als der Pfeil vorbeisauste. Cadderly erkannte die Stimme. »Belago«, murmelte der junge Priester. Ivan ließ sich Ast um Ast hinunter, bis er auf dem unters ten war, wo sich Pikel zu ihm gesellte. Beide beobachteten den rennenden Mann, um den Winkel zu berechnen, aus dem er sich näherte, und rückten nebeneinander, um ihn richtig zu erwischen. Pikel umklammerte Ivans Füße, als der Zwerg sich unter den Ast kippen ließ, bis er mit
herunterhängenden Armen an den Knien am Ast hing. Da kam Belago auch schon blindlings angerannt, denn weitere Wölfe waren ihm auf den Fersen. Ein weiterer Pfeil zischte an ihm vorbei, aber der verängstigte Mann schien das nicht einmal zu bemerken. Er schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen außer seiner Überzeugung, daß er allein und hilflos in der dunklen Nacht war und bald von Wölfen zerrissen werden würde. Er rannte nur deshalb unter den Baum, weil dieser auf seinem Weg lag, denn er wußte, daß er keine Zeit zum Hinaufklettern hatte. Dann wurde er festgehalten und schrie auf, als er plötzlich von starken Zwergenhänden nach oben gezogen wurde. Weil er Ivan nicht als Verbündeten erkannte, wand er sich und schlug um sich, wobei er dem Zwerg mehrere kräftige Hiebe ins Gesicht verpaßte. Ivan schüttelte nur den Kopf und fluchte über »blöde Leute«. Belago konnte sich keinesfalls losreißen, aber sein Zappeln hinderte Ivan, ihn richtig aus der Gefahrenzone zu befördern. Schließlich hievte der Zwerg Belago, so hoch er konnte, und schlug dem Mann mitten ins Gesicht. Daraufhin hing der Alchemist schlaff in seinen Armen, und mit Pikels Hilfe konnte Ivan ihn auf den Ast zerren. Shayleighs Bogen surrte wiederholt, um das Rudel in Schach zu halten, während die Zwerge sich aufrichteten und den benommenen Mann ein paar Äste höher schleppten. »Bei den Göttern!« flüsterte Vicero Belago immer wieder. Seine Tränen flossen ungehemmt, als er schließlich aus seiner Lähmung erwachte und seine Retter erkannte. »Bei den Göttern! Und Cadderly! Mein lieber Cadderly!« jammerte er, während er sich auf den Ast stellte, um dem
jungen Priester näher zu kommen. »Ich fürchte, du bist zu spät zurückgekehrt!« Cadderly rutschte auf seinem Ast hinüber und kletterte zu Belago hinunter, um den Mann zu beruhigen. »War Dorigen bei dir?« fragte Cadderly schließlich, weil er immer noch an die verräterische Explosion dachte. Belago schien den Namen nicht zu kennen. »Und Danica?« fragte der junge Priester hastig. »Was ist mit Danica?« »Die war doch bei dir«, erwiderte der drahtige Alchemist, der ehrlich verwirrt erschien. »Danica ist in die Bibliothek zurückgekehrt«, antwortete Cadderly in scharfem Ton. »Ich war schon seit Tagen nicht mehr in der Bibliothek«, erklärte Belago und erzählte ihnen rasch seine Geschichte. Wie sich herausstellte, hatten die vier Freunde mehr über diesen Ort erfahren. Alles, was der arme Alchemist wußte, war, daß man ihn hinausgeworfen hatte, und daß sich anschließend anscheinend sehr düstere Geschichten in der Bibliothek zugetragen hatten. Belago war nicht nach Carradoon gezogen, wie Abt Thobicus ihn angewiesen hatte. Er hatte lieber Cadderlys Rückkehr oder wenigstens wärmeres Wetter abwarten wollen. Er hatte Freunde auf dem Berg und war in einer kleinen Hütte bei einem Bekannten untergeschlüpft, einem Jäger namens Minshk, östlich der Bibliothek. »Böse Dinge gingen vor«, meinte der Alchemist, als er von der Zeit in der Jagdhütte erzählte. »Minshk und ich wußten das, und wir wollten morgen nach Carradoon aufbrechen.« Mit traurigen Augen sah er nach Osten und wiederholte kummervoll: »Morgen.« »Aber dann kamen die Wölfe«, fuhr der Alchemist fort,
dessen Stimme nun kaum mehr als ein Flüstern war. »Und etwas anderes. Ich konnte entkommen, aber Minshk ... « Belago sank auf dem Ast in sich zusammen und wurde still, und die vier Freunde wandten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Rudel zu, das den Hain umringte. Die Wölfe konnten sie nicht erreichen, aber dieses fortgesetzte Geheul würde wahrscheinlich etwas oder jemanden herführen, der dazu in der Lage war. »Wir sollten hier verschwinden«, schlug Ivan vor. Zum ersten Mal hellte sich Vicero Belagos Miene auf. Er griff unter seinen schweren Mantel und zog eine Flasche heraus, die er Cadderly überreichte. Pikel hatte derweil eine eigene Idee. Er schnipste mit seinen kurzen Fingern und griff nach der schweren Axt auf seines Bruders Rücken. Cadderly, der nur auf Belagos Angebot achtete, zollte dem anschließenden Streit der Zwerge wenig Aufmerksamkeit. »Wuchtöl«, sagte der Alchemist aufgeregt. »Ich wollte dir einen neuen Gurt mit explosiven Bolzen machen, aber ich hatte keine Zeit, bevor Thobicus ... « Er hielt inne, weil ihn schmerzliche Erinnerungen überkamen. Dann hellte sich seine Miene wieder auf, und er streckte Cadderly die Flasche hin. »Ich hatte noch eine Flasche«, erklärte er. »Vielleicht habt ihr die Explosion gesehen. Ich hatte gehofft, noch eine werfen zu können, bevor Ivan mich erwischte, aber dazu fehlte mir die Zeit.« Jetzt verstand Cadderly den Feuerball, der sich im Osten erhoben hatte, und nahm bereitwillig - überaus bereitwillig! - das Geschenk des Alchemisten an. »Heh!« schrie Ivan, was ihm jedermanns Aufmerksamkeit sicherte. Pikel hatte diese Runde des Streits gewonnen und
schubste Ivan so kräftig, daß dieser sich mit den Fingerspitzen an seinem Ast festhalten mußte, um nicht in das versammelte Wolfsrudel zu fallen. Bevor der gelbbärtige Zwerg sich aufrichten oder weiter protestieren konnte, schlug Pikel mit der Axt fest gegen den Stamm des Baums, was einen kleinen Riß verursachte. Sobald Ivan sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, reichte Pikel ihm die Axt zurück, und Ivan griff mit neugierigem Blick auf seinen Bruder danach. Nicht so neugierig, wie Cadderly zusah. Besser als alle anderen, selbst Ivan, verstand der junge Priester, was aus Pikel geworden war, was die Liebe des Zwergs zu Bäumen und Blumen diesem geschenkt hatte, und ihm entging nicht, wie schwerwiegend Pikels Aktion war - der Möchtegern druide hatte gerade eine Waffe gegen einen lebenden Baum erhoben. Cadderly schob sich an Ivan vorbei, der mehr als bereit war, von seinem unberechenbaren Bruder abzu rücken, und kam an Pikels Seite. Der grünbärtige Zwerg murmelte - nein, sang - in sich hinein. Er hielt ein kleines Messer in der Hand. Bevor Cadderly fragen konnte, hatte sich Pikel mit dem Messer in die Hand geschnitten. Cadderly ergriff das Handgelenk des Zwergs und zwang Pikel, ihn direkt anzusehen. Pikel nickte lächelnd, zeigte auf Cadderly, auf seine Wunde und auf die Wunde, die er dem Baum zugefügt hatte. Cadderly begriff, als ein einzelner Blutstropfen von Pikel von dessen Hand fiel und auf der rauhen Rinde neben dem kleinen Schnitt im Baum landete. Sofort lief das Blut in den Riß im Stamm und verschwand. Pikel sang wieder, und Cadderly schloß sich ihm an, denn er hoffte, in Deneirs Lied Energie zu finden, mit der er den
Versuch des Zwergs unterstützen konnte. Mehr Blut floß aus Pikels Wunde, und jeder Tropfen fand unbeirrbar seinen Weg in den Riß im Stamm. Aus dem Riß stieg Wärme auf, begleitet von Frühlingsdüften. Cadderly fand einen Gedankenstrom heiliger Noten, die zu dieser Szene paßten, und folgte diesem von ganzem Herzen, ohne zu wissen, was geschehen würde, ohne zu wissen, was Pikel angefangen hatte. Er schloß die Augen und sang weiter, ohne auf das unablässige Knurren und Heulen der Wölfe oder die erstaunten Reaktionen seiner Freunde zu achten. Cadderly schlug die Augen wieder auf, als der Ast unter ihm sich bewegte, als wäre er zum Leben erwacht. Der Baum stand in voller Blüte, doch gleichzeitig hingen an jedem Zweig große Äpfel. Ivan hatte bereits einen in der Hand, von dem er einen großen Bissen genommen hatte. Doch der Zwergenblick verfinsterte sich, wenn auch nicht wegen des Geschmacks. »Du glaubst wohl, ich mäste mich, damit ich besseres Wolfsfutter abgebe?« fragte er ernsthaft und schmiß dem vordersten Wolf den Apfel an die Nase. Pikel quiekte vor Vergnügen. Cadderly konnte kaum fassen, was er und Pikel geschafft hatten. Ja, was hatten sie denn nun geschafft? fragte sich der junge Priester, denn er sah kaum einen Nutzen darin, den Baum vorzeitig zur Blüte zu bringen. Die Äpfel versorgten sie mit Geschossen, die sie nach den Wölfen werfen konnten, aber das würde das Rudel bestimmt nicht forttreiben. Der Baum regte sich wieder, dann noch einmal, und dann erwachte er zum Erstaunen aller - bis auf Pikel natürlich zum Leben. Nicht als lebende Pflanze, sondern als waches, bewegungsfähiges Wesen! Zweige schlugen peitschend, wodurch die Äpfel mit
gewaltiger Wucht herunterhagelten und auf das Wolfsrudel eintrommelten. Noch schlimmer für die Tiere war, daß die untersten Zweige wie Keulen nach ihnen schlugen, ihnen die Beine brachen oder sie fortschleuderten. Belago wäre fast heruntergefallen, doch er landete quer über seinem Ast und hielt sich krampfhaft mit beiden Armen dort fest. Ivan fiel wirklich, plumpste von Ast zu Ast bis auf die Erde. Sofort war er mit gezückter Axt wieder aufgesprungen, denn er erwartete, daß ihm ein Dutzend Wölfe an die Kehle gehen würde. Shayleigh war augenblicklich neben ihm, aber der Zwerg brauchte keinen Schutz. Die Wölfe waren viel zu sehr damit beschäftigt, auszuweichen und davonzurennen. Kurz darauf standen Pikel und Cadderly und schließlich Belago (der nur herunterkam, weil er fiel) an Ivans Seite. Einige der vordersten Wölfe griffen die Gruppe noch halbherzig an, aber die vier Freunde waren gut bewaffnet und kampferfahren, und da der Großteil des Rudels schon auseinanderstob, konnten sie die übrigen leicht davonjagen. Bald war es vorbei. Zahlreiche Wölfe lagen tot, andere waren davongelaufen. Der Baum war wieder ein einfacher Baum. »Deine Magie hat uns Zeit und Raum verschafft«, gratulierte Shayleigh Cadderly. Der junge Priester nickte, sah dann aber zu Pikel, dem grünbärtigen »Druiden«, der von einem Ohr zum anderen strahlte. Cadderly wußte nicht, wieviel von diesem Zauber sein Tun gewesen war und wieviel Pikels, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, dieses Geheimnis zu untersuchen. »Wenn sie zurückkommen, kannst du die Flasche benutzen«, schlug Belago vor, der an Cadderlys Seite trat. Cadderly betrachtete den drahtigen Mann einen
Augenblick und stellte fest, daß Belago unbewaffnet war. Er gab ihm die Flasche zurück. »Benutze du sie«, erläuterte er, »aber nur im absoluten Notfall. Wir haben einen noch dunkleren Weg zu gehen, mein Freund, und ich fürchte, daß wir jede Waffe brauchen werden, die uns zur Verfügung steht.« Belago nickte zustimmend, obwohl er nicht wußte, nicht wissen konnte, wie schwarz die Dunkelheit war, von der Cadderly redete. Wie sich herausstellte, brauchten sie in dieser Nacht weder Belagos Flasche noch irgend etwas anderes. Shayleigh setzte sie sofort wieder in Bewegung, zurück nach Westen in einen dichten Kiefernhain, wo sie den Rest der Nachtstunden verbrachten. Dabei hielten die fünf Freunde und auch Percival von den höchsten Wipfeln aus aufmerksam Wache. Cadderly konnte nur vermuten, daß sie Rufo schwer verletzt hatten, denn der Vampir fand sie nicht. Das war oberflächlich betrachtet sehr gut, aber der junge Priester wurde das Gefühl nicht los, daß Kierkan Rufo, wenn er nicht bei ihm war, womöglich bei Danica weilte. Cadderly schlief erst ein, als die Nacht schon fast vorüber war und die Erschöpfung ihn überkam.
Eine verlorene Seele
Percivals Keckern kündigte die Morgendämmerung an und riß den armen Cadderly aus einem unruhigen Schlaf voller Alpträume. Er erinnerte sich nur noch undeutlich an diese schrecklichen Träume, als er, die Augen zum glitzernden Licht eines hellen, neuen Tages aufschlug, denn sie gehörten wirklich zu einer finsteren Nacht. Der junge Priester wußte jedoch, daß er von Danica geträumt hatte, und dieser Gedanke beunruhigte ihn. Denn während er hier draußen im Morgenlicht weilte, war seine geliebte Danica dort drüben in der Bibliothek, in Rufos Händen. Die Bibliothek. Cadderly konnte den Gedanken an diesen Ort kaum ertragen. Den größten Teil seines jungen Lebens war er dort zu Hause gewesen, aber das schien nun so lange zurückzuliegen. Auch wenn alle Fenster und Türen der Erhebenden Bibliothek weit aufgerissen würden, würde das Gebäude ein Ort der Schatten und der Alpträume bleiben. Der Klang von Ivans rauher Stimme riß Cadderly aus seinen Gedanken, denn der Zwerg, der auf einem dicken Gewirr aus Ästen unter dem jungen Priester saß, übernahm das Kommando. »Wir haben unsere Waffen«, sagte Ivan gerade. »Und Belago hat seine Flasche.« »Bumm«, machte Pikel und hob die Hände. Der Schwung der plötzlichen Bewegung ließ Ivan fast vom Ast kippen. Der Zwerg fing sich jedoch und versetzte seinem Bruder einen Schlag auf den Hinterkopf. »Mein Bruder hat seine Keule«, fuhr der Zwerg fort.
»Sha-lah-lah!« juchzte Pikel, und wippte vergnügt auf und ab. Diesmal reagierte Ivan nicht schnell genug, und ehe er gemerkt hatte, was geschah, saß er schon auf dem Boden und pulte sich Dreckklumpen aus den Zähnen. »Ui, ui«, stöhnte Pikel, denn er befürchtete, diese letzte Bewegung würde ihm einen neuen Klaps eintragen, als sein Bruder unbeirrt wieder auf seinen Ast hochkletterte. Pikel behielt recht, und er nahm die Strafe mit einem Achselzucken hin. Ivan wandte sich wieder an Shayleigh. »Sha-lah-lah«, sagte Pikel wieder, diesmal leise und ohne ausdrucksvolle Bewegungen. »Ja«, stimmte Ivan zu, denn er war zu entnervt für weitere Streitereien. »Und du hast deine Silberpfeile«, sagte er zu Shayleigh, obwohl er immer noch seinen überschwengli chen Bruder beäugte, von dem er weitere Unterbrechungen erwartete. »Mein Schwert wird auch Wirkung zeigen«, meinte Shayleigh, die ihre schöne, schmale Elfenklinge hochhielt, deren Silberintarsien hell im Morgenlicht funkelten. Ivan beobachtete weiterhin Pikel, der inzwischen dazu übergegangen war, ein fröhliches Frühlingsmorgenlied zu pfeifen. »Um so besser«, sagte der gelbbärtige Zwerg zu Shayleigh. »Und ich habe meine Axt, auch wenn die den alten Vampiren nichts tun kann. Aber einen steifbeinigen Zombie hackt sie entzwei!« »Cadderly hat seinen Wanderstab«, ergänzte Shayleigh, als sie sah, daß der junge Priester sich regte und nach einem einfachen Weg auf ihre Höhe hinunter Ausschau hielt. »Und dazu noch weitere Waffen, nehme ich an.« Cadderly nickte. »Ich bin bereit für Rufo«, sagte er schlaftrunken.
»Du hättest länger schlafen sollen«, knurrte Ivan ihn an. Cadderly nickte zustimmend, denn er wollte jetzt keinen Streit anfangen, aber insgeheim war er froh, daß er nicht viel geschlafen hatte. Er würde hellwach sein, sobald es richtig losging; Körper und Geist würden auf die Gefahr reagieren. Sein einziger Feind war jetzt die Verzweiflung, und wenn er noch länger von seiner vermißten Freundin geträumt hätte ... Cadderly schüttelte den Kopf, schüttelte den wenig hilfreichen Gedanken ab. »Wie weit sind wir von der Bibliothek entfernt?« fragte er mit einem Blick nach Westen, wo er die Bibliothek vermutete. Shayleigh gab ihm einen Wink in die andere Richtung. »Drei Meilen«, erklärte sie, »östlich.« Cadderly widersprach nicht. Ihre nächtliche Wanderung war bestenfalls verwirrend gewesen, besonders für jemanden, der nicht mit elfischer Nachtsicht gesegnet war. Shayleigh wußte, wo sie waren. »Dann laßt uns aufbrechen«, schlug der junge Priester vor. »Ehe wir noch mehr Tageslicht verlieren.« Er wollte vom Ast klettern, doch Belago hielt ihn auf. Der Alchemist zwinkerte Cadderly zu und öffnete seinen abgewetzten Mantel, um die gefährliche Flasche herauszuziehen. »Bumm!« rief Pikel oben vom Ast. Ivan grollte, worauf Pikel schnell auf den nächsttieferen Ast sprang und Ivans anschließender Klaps ins Leere ging, so daß der Zwerg das Gleichgewicht verlor und von seinem hohen Platz kippte. Im Fallen gelang es ihm, Pikels grüne Haare zu packen und seinen Bruder mitzureißen. Cadderly blickte zu Shayleigh, die versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, und nur ungläubig den Kopf schüttelte.
»Du kennst sie noch nicht lange genug«, meinte der junge Priester. Belago ließ ihn vorbei, und Cadderly sprang nach unten, um die Rauferei der Zwerge zu unterbrechen. In gewisser Hinsicht war der junge Priester froh über die Ablenkung. Angesichts der gefährlichen Aufgabe und der möglichen Probleme, die vor ihnen lagen, konnten sie alle ein wenig Spaß vertragen. Aber er hielt wenig von den Schrullen der Zwerge, und das teilte er den Brüdern auch in deutlichen Worten mit, als er sie schließlich auseinander gerissen hatte. »Seine Schuld«, schnaubte Ivan, aber Cadderly und dessen anklagender Finger waren vor seinem Gesicht und warnten ihn davor, mehr zu sagen. »Ooooh«, murmelte Pikel. Als Belago einen Augenblick später herunterkam, lehnte sich der Zwerg zu ihm hin und flüsterte ihm ein »Bumm« zu. Cadderly und Ivan fuhren herum, aber Pikel pfiff nur wieder dieses fröhliche, unschuldige Morgenlied. Shayleigh führte sie schnell, sicher und ohne Zögern über die unzähligen Gabelungen und Biegungen der verwirrenden Pfade. Die Sonne hatte gerade erst mit ihrem Aufstieg am Osthimmel begonnen, als die Erhebende Bibliothek kalt und dunkel in Sicht kam. Ihre Mauern schienen der Wärme des Tages zu trotzen. Zu fünft nebeneinander kamen sie den Weg herunter, Ivan und Pikel auf der einen Seite, Shayleigh und Cadderly auf der anderen, und der arme, zitternde Belago in der Mitte. Erst als sie das letzte Stück vor sich hatten und die zerbrochenen Türen in Sicht waren, nahm Cadderly richtig Notiz von ihrem neuesten Gefährten, dem drahtigen Mann, der kein Kämpfer war. Der junge Priester hielt die anderen mit erhobener Hand auf.
»Du hast da drin nichts verloren«, sagte er zu Belago. »Geh lieber nach Carradoon. Warne die Menschen in der Stadt vor Kierkan Rufo und seinen Geschöpfen der Nacht.« Vicero Belago sah den jungen Priester an, als hätte Cadderly ihm gerade eine Ohrfeige verpaßt. »Ich bin kein großer Kämpfer«, gab er zu. »Und ich bin nicht wild darauf, Kierkan Rufo zu sehen, ob er nun ein Vampir ist oder nicht! Aber Lady Danica ist da drin - du hast es selbst gesagt.« Cadderly sah Shayleigh an, die feierlich nickte. »Entschlossenheit ist die einzig wahre Waffe gegen einen von Rufos Schlag«, meinte die Elfenfrau. Cadderly legte Belago eine Hand auf die Schulter und konnte spüren, daß der Alchemist aus seinen eigenen Worten Kraft gezogen hatte. Als sie ihren Marsch wieder aufnahmen und sich den Türen näherten, zitterte der Mann jedoch wieder deutlich. Diesmal war es Ivan, der sie aufhielt. »Wir sollten uns einen Plan zurechtlegen, bevor wir reingehen«, überlegte der Zwerg. Cadderly schaute skeptisch drein. »Wir haben keine Ahnung, wo Danica sein könnte«, meinte Shayleigh, »oder wo wir Rufo und seine mächtigsten Verbündeten finden sollen.« »Wenn wir den falschen Weg nehmen, müssen wir alles bekämpfen, was sich da drin aufhält, bevor wir Danica auch nur finden«, hielt Ivan dagegen, aber als er dann plötzlich merkte, was er gerade gesagt hatte, besonders den Teil, daß sie alles da drin bekämpfen müßten, zuckte der feurige Zwerg die Achseln, als ob es nicht länger eine Rolle spielte, und drehte sich zur Tür um. Cadderly zog sein Lichtrohr heraus und nahm den hinteren Teil ab. Er ließ die verzauberte Scheibe
herausrutschen, deren Leuchten selbst im hellen Sonnenlicht kraftvoll war. Dann nahm er seinen Hut ab und plazierte die leuchtende Scheibe hinter das heilige Symbol, das dort steckte. Der junge Priester blickte zu den Türen zurück und seufzte. Jedenfalls würden sie diesmal nicht ins Dunkle laufen. Dennoch war Cadderly nicht gerade begeistert von der Aussicht, unter Zeitdruck das weitläufige Gebäude zu durchsuchen, das voller Feinde steckte. Wie viele Räume konnten sie an einem Tag durchkämmen! Sicherlich nicht einmal die Hälfte aller Zimmer in der Erhebenden Bibliothek. »Wir fangen unten an«, sagte Cadderly. »Mit der Küche, der Hauptkapelle und dem Weinkeller. Rufo hat Danica und Dorigen wahrscheinlich an einen dunklen Ort geschleppt.« »Du gehst davon aus, daß er sie hat«, meinte Shayleigh in einem Ton, der Cadderly daran erinnerte, daß sowohl die Adeptin als auch die Zauberin schlau und kampferfahren waren. »Laß uns im Hinterkopf behalten, daß Danica vielleicht nicht einmal da drin ist.« Cadderly wußte es besser. In seinem Herzen wußte er ohne jeden Zweifel, daß Danica sich in der Bibliothek befand und in Schwierigkeiten war. Er wollte auf die Zweifel der Elfenfrau antworten, aber Percival übernahm diese Antwort für ihn, indem das Eichhörnchen plötzlich über ihren Köpfen in den Zweigen in einen wilden Tanz ausbrach. »Hey, du kleine Ratte!« fluchte Ivan, der seinen Kopf mit seinem kräftigen Arm abschirmte. Pikel wirkte ähnlich aufgeregt, aber im Gegensatz zu seinem Bruder protestierte der grünbärtige Zwerg ganz und
gar nicht. Er zeigte mit einem kurzen Finger auf das Eichhörnchen und hüpfte auf und ab. »Was ist denn?« fragten Cadderly und Shayleigh einstimmig. Percival rannte den Ast entlang und sprang mit einem weiten Satz auf das Dach der Bibliothek hinüber, wo er an der Regenrinne entlangtanzte, einen Salto schlug und aufgeregt keckerte. Cadderly sah Pikel an. »Percival hat sie gefunden.« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Ei, ei!« stimmte der Zwerg zu. Cadderly wandte sich wieder seinem Freund zu. »Danica?« fragte er. Percival sprang hoch in die Luft und drehte sich einmal um sich selbst. Ivan brüllte protestierend auf. »Die Ratte hat sie gefunden?« bellte er ungläubig. Pikel versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. »Etwas Besseres haben wir nicht«, erinnerte Shayleigh den aufgebrachten Ivan, um einen neuerlichen Kampf zwischen den Brüdern gleich zu unterbinden. Cadderly hörte nicht einmal zu. Er kannte Percival mittlerweile drei Jahre und wußte, daß das Eichhörnchen nicht dumm war. Ganz und gar nicht. Cadderly zweifelte nicht daran, daß Percival verstanden hatte, daß sie Danica suchten. Er folgte dem Tier, und seine Freunde folgten ihm zur Südseite der Bibliothek. Ein großer Teil dieses Flügels war vom Feuer beschädigt, nur die Mauer und die Fenster nahe der Rückseite des Gebäudes nicht. Percival huschte geschmeidig die Regenrinnen entlang und suchte sich dann vorsichtig einen Weg über die rauhen Steine. Mit einem
letzten Satz landete er auf dem Fensterbrett eines kleinen Fensters im ersten Stock. Cadderly nickte schon, bevor das Eichhörnchen stehengeblieben war. »Danica ist da drin?« fragte Ivan voller Zweifel. »Das Privatzimmer von Abt Thobicus«, erklärte Cadderly, der alles einleuchtend fand. Wenn Rufo Danica hatte, die Frau, die er so lange schon begehrte, würde er ihr wahrscheinlich den besten und bequemsten Raum der Bibliothek zur Verfügung stellen, und dazu war keiner besser geeignet als das Privatzimmer des Abtes. Mit Cadderlys Sicherheit kam auch ein Augenblick panischer Angst. Wenn ihn seine Logik auf die richtige Fährte geführt und Percival recht hatte, dann hatte Rufo Danica tatsächlich! »Wie kommen wir am schnellsten zu diesem Zimmer?« fragte Ivan, dem klar geworden war, daß weitere Einwände zu nichts führen würden. »Der schnellste Weg führt senkrecht nach oben«, meinte Cadderly, worauf alle ihre Augen gen Himmel wandten. Ivan brummte, weil er sich auszudenken versuchte, wie sie alle dorthin gelangen sollten. Schließlich schüttelte er nur den Kopf, und als er zu dem jungen Priester zurücksah, um den Plan abzuschmettern, fuhr der Zwerg vor Überra schung zusammen. Anstelle seiner normalen Arme und Beine hatte Cadderly jetzt die Gliedmaßen eines Eichhörn chens, eines weißen Eichhörnchens! Shayleigh, die weniger überrascht war, zeigte Cadderly das Ende eines dünnen Seils, und schon eilte er nach oben. Leichtfüßig kletterte er die Wand hinauf und setzte sich neben Percival auf den schmalen Sims. Das Fenster war ziemlich schmal, gerade eben ein
viereckiger Spalt in der Wand. Cadderly blinzelte hinein, wobei das Licht von der Scheibe auf seinem Hut den Raum beleuchtete. Er konnte jedoch nicht viel vom Zimmer sehen, denn die Außenwand war über einen Fuß dick. Immerhin entdeckte er das Fußende des Bettes und darauf, unter einer Satindecke, den Umriß von Beinen. »Danica«, flüsterte er rauh, während er sich bemühte, einen besseren Blickwinkel zu bekommen. »Was siehst du?« rief Ivan von unten. Es war Danica. Cadderly wußte, daß es Danica war. Er wich zurück, zwang seine Arme und Beine wieder in ihre normale Gestalt und verfiel in das Lied von Deneir. Jetzt würde er sich von so etwas wie Mauerwerk nicht mehr aufhalten lassen. »Was siehst du?« wollte Ivan wieder wissen, aber Cadderly, der im Lied und der Magie seines Gottes versunken war, nahm den Ruf gar nicht wahr. Er konzentrierte sich auf die Steine rund um das Fenster, sah sie als das, was sie waren, sah ihre wahre Zusammensetzung. Mit einem Ruf zu seinem Gott zog er seinen Wasserschlauch vom Rücken und schüttete das Wasser an die wichtigsten Stellen. Dann legte er die Hände an den plötzlich knetbaren Stein und begann, das Material umzuformen. Das Fensterglas fiel heraus, an den arbeitenden Händen Cadderlys vorbei, der in tiefer Trance war. Beinahe hätte es Ivan getroffen, der mit den Händen in den Hüften unten auf dem Boden stand. »He!« schrie der Zwerg, so daß selbst der in sein Lied vertiefte Cadderly ihn hörte. Er betrachtete seine Arbeit, erinnerte sich an seine Freunde und formte noch einen steinernen Haken, an dem er Shayleighs Seil sicher
befestigen konnte. Dann war es vollbracht und das Fenster weit genug, und Cadderly kletterte in das Zimmer. Deneir verließ ihn, als er den verruchten Ort betrat. Wenn er sich darauf konzentriert hätte, hätte er diese Tatsache deutlich gespürt. Selbst der Schein der leuchtenden Scheibe, die vorn an seinem breitkrempigen Hut steckte, schien sich zu verdüstern. Auch das bemerkte Cadderly nicht. Seine Augen und seine Gedanken waren nur bei dem Bett, bei Danicas Gestalt, die zu still und zu friedlich dalag. Shayleigh rannte regelrecht das Seil hoch und sprang dann neben Cadderly in den Raum. Ivan und danach Pikel zogen sich an ihren starken Zwergenarmen schnell hinterher, wobei Pikel lange genug auf dem Fenstersims innehielt, um den armen Belago die fünfzehn Fuß hochzuhieven. Cadderly stand neben dem Bett, starrte nach unten und fand nicht die Kraft, Danica anzurühren. Sie würde sich kalt anfühlen. Er wußte es. Er wußte, daß sie tot war. Shayleigh hielt die Anspannung nicht mehr aus, hielt es nicht aus, Cadderly so furchtbar zerrissen vor sich zu sehen. Sie beugte sich tief über das Bett und legte ihr empfindliches Ohr an Danicas geschlossene Lippen. Einen Augenblick später richtete sie sich auf, starrte Cadderly ins Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. Sie zog Danicas Tunika vom Hals und deckte die punktförmigen Wunden auf, die verräterischen Spuren eines Vampirbisses. »Ooooh«, stöhnten Ivan und Pikel gleichzeitig. Vicero Belago kämpfte schniefend gegen die Tränen an. Bei dieser deutlichen Bestätigung, daß Danica tot war, daß Rufo sie genommen hatte, raste die Trauer wie eine Kugel
durch Cadderly hindurch, eine Stachelkugel, die jedem Winkel seiner Seele Schmerzen zufügte, an seinem Herzen und allen Sinnen zerrte. Danica tot! Seine Liebste war ihm genommen! Das konnte Cadderly nicht hinnehmen. Bei der Macht von Deneir, bei allen Gesetzen eines gefühllosen Schicksals, das konnte Cadderly nicht zulassen. Er zwang das Lied von Deneir in seine Gedanken, zwang seinen Fluß durch die Düsternis des bösen Schleiers, der sich über diesen Ort gelegt hatte. Sein Kopf schmerzte vor Anstrengung, aber er ließ nicht locker. Nicht, solange seine geliebte Danica so blaß vor ihm lag! Cadderlys Gedanken stürmten, in den Fluß, stießen verschlossene Türen auf und rasten auf die höchsten Ebenen der Macht zu. Jetzt war er für seine Freunde unerreichbar, nicht körperlich, denn sein Körper stand regungslos neben dem Bett, aber spirituell, denn seine Seele eilte frei von ihrer sterblichen Hülle in das Reich der Geister, das Reich der Toten. So kam es, daß Cadderly Shayleighs Aufschrei nicht hörte und nicht reagierte, als die starke Hand unter dem Bett hervorschoß und den Knöchel der Elfenfrau umklammerte.
Cadderly konnte sehen, was sich im Raum abspielte, aber das war fern von ihm, hatte irgendwie nichts mit ihm zu tun. Durch einen dicken, rauchigen Grauschleier sah er seinen eigenen Körper ganz still stehen, sah, daß Shayleigh anscheinend aus unerfindlichen Gründen auf den Boden gefallen war und unter das Bett gezogen wurde. Cadderly spürte die Gefahr dort im Zimmer und daß seine Elfenfreundin Schwierigkeiten hatte. Er wußte, daß er zu
ihr eilen und seinen Freunden helfen müßte. Doch er zögerte und hielt sich von seinem Körper fern. Shayleigh hatte mächtige Verbündete - er konnte sehen, daß Ivan und Pikel sich regten, ihr wahrscheinlich zur Hilfe eilen würden. Cadderly mußte ihnen jetzt vertrauen, denn er wußte, wenn er dieses Reich wieder verließ, würde er nicht so bald die Kraft finden zurückzukehren, nicht in die entweihte Bibliothek. Er suchte eine Seele, und Seelen waren flüchtige Wesen. Wenn er Danica wiederfinden wollte, mußte er das schnell tun, ehe sie ihren Platz in der Geisterwelt einnahm. Aber wo war sie? Cadderly war schon mehrmals in die Geisterwelt eingedrungen, war Avery Schell nachgeeilt, als er den Großmeister in der Taverne »Zur Drachenbörse« in Carradoon mit weit aufgerissener Brust tot auf einem Tisch vorgefunden hatte. Cadderly war den Seelen der Männer nachgegangen, die er getötet hatte, Assassinen, die von schattenhaften Wesen herabgezerrt wurden, bevor der junge Priester nach ihnen rufen konnte. Er war Vander in die Geisterwelt gefolgt und hatte den gemeinen Assassin Geist zurückgehalten, während Vander über den Zauber seines Regenerationsrings einen Weg ins Leben zurückgefunden hatte. Der Ring! Cadderly sah ihn deutlich an Ivans knorrigem Finger leuchten, das einzige in dem Raum, was klar zu erkennen war. Er konnte ihn bestimmt als Tor benutzen, um Danica ins Reich der Lebenden zurückzuholen. Wenn er Ivan irgendwie dazu bringen konnte, Danica den Ring anzustecken, würde es ihm vielleicht besser gelingen, ihre Seele in ihren Körper zurückzulocken. Aber wo war sie? Wo war seine Geliebte? Er rief nach Danica, ließ die Bilder im Zimmer vor seinen Augen
verblassen und sandte seinen Geist in jede Richtung aus. Danicas Seele mußte hier sein; sie konnte noch nicht lange tot sein. Sie mußte hier sein, oder es mußte eine Spur von ihr geben, der Cadderly folgen konnte. Notfalls würde er sie aus den Armen eines Gottes reißen! Es gab keine Spur. Es gab keinen Geist. Keine Danica. Die Erkenntnis, daß sie für ihn verloren war, schwächte Cadderly. Plötzlich schien sein Leben keinen Sinn mehr zu haben. Es gab nicht einmal einen Grund, in seinen Körper zurückzukehren. Sollte Deneir ihn doch gleich jetzt zu sich nehmen, dann hatte sein Leid ein Ende. In der düsteren Ebene, die er hinter sich gelassen hatte, sah er etwas Klares aufflackern, nahm eine Bewegung im Zimmer wahr. Dann sah er den Vampir so deutlich, wie er Ivans Ring gesehen hatte, unter dem Bett hervorkommen. Baccio fiel über eine leblose Gestalt her - Shayleigh, wie Cadderly wußte. Er war untot, so daß er auf beiden Ebenen existierte und für Cadderly in der Geisterwelt genauso greifbar war wie für Ivan und die anderen im materiellen Zimmer. Doch der Vampir nahm von Cadderly gar keine Notiz. Baccios Gedanken waren ganz bei dem augen blicklichen Kampf, dem Kampf gegen Cadderlys Freunde! Cadderly spürte nur noch heiligen Zorn. Sein Geist schwebte hinter Baccio und sein Wille wurde scharf wie ein Dorn.
Shayleigh schied aus dem Kampf aus, bevor er richtig begann. Sie schlug hart auf dem Boden neben dem Bett auf und rutschte darunter. Die starken Hände des Vampirs trafen ihre Schulter, als sie versuchte, nach ihrem Kurzschwert zu greifen.
Die Pfeile mit den Silberspitzen waren bei dem Aufprall aus Shayleighs Köcher gefallen, und nur das rettete die verwundete Elfenfrau. Reines Glück bewirkte, daß ihre freie Hand auf einen dieser Pfeile fiel, und ohne Zögern riß Shayleigh den Pfeil herum und stach seine Silberspitze tief in Baccios Auge. Der Vampir geriet außer sich und schlug auf Shayleigh ein, bis das Bett auf seinen Pfosten auf und ab tanzte. Pikel lag inzwischen flach auf dem Boden. Er benutzte seine Keule wie einen Billardstock und stach damit in Baccios Gesicht, um den Vampir abzulenken, während Ivan Shayleigh unter dem Bett hervorriß. Baccio kam heulend und um sich schlagend heraus. Die meisten seiner Schläge trafen nach wie vor die arme Shayleigh. Pikel traf ihn gut ein Dutzend Mal, aber der Vampir war stark. Er nahm die Schläge hin und gab sie zehnfach zurück. Plötzlich zuckte der Vampir zusammen, als hätte ihn etwas von hinten getroffen. Und tatsächlich war er verwundet - von Cadderlys Geist. Er taumelte nach vorn, während seine zitternden Arme hinter ihm nach einer unsichtbaren Wunde langten. Was für ein schönes Ziel er nun für den eifrigen Pikel abgab! Der grünbärtige Zwerg spuckte sich in die Hände und rieb sie, um seinen Shillelagh fester halten zu können, dann drehte er sich zweimal im Kreis, um Schwung zu holen, ehe er Baccio die Baumstammkeule ins Gesicht schmetterte. Das schwer getroffene Ungeheuer prallte gegen die hintere Wand. Trotzdem griff sich Baccio noch an den Rücken, griff nach dem Dorn, den Cadderlys Wille produziert und ihm in den Rücken gestoßen hatte.
Da erzitterte Cadderlys Körper, denn der junge Priester kehrte auf die Ebene der Materie zurück. Er ging gezielt und ohne Gnade vor. Er hob die Hand zum Hut, überlegte es sich dann anders und fuhr statt dessen in eine Falte seines Reisemantels, eine Tasche, die er während des wochenlangen Aufenthalts in der Höhle im Norden der Schneeflockenberge in seinen Mantel eingenäht hatte. Er zog einen dünnen dunklen Stab heraus. Cadderly schüttelte den Kopf, als er das Gerät ansah - über die Wochen der Muße und die Aufregungen des gestrigen Tages hatte er diesen Stab beinahe vergessen. Während er damit auf Baccio deutete, sagte der junge Priester ruhig: »Mas illu.« Eine Unzahl greller Blitze brach aus dem Stab hervor, in allen Färben des Spektrums. »Autsch!« jammerte Pikel, der wie alle Freunde von dem Aufflammen geblendet worden war. Auch Cadderly sah Punkte hinter seinen Augenlidern, aber er ließ nicht locker. »Mas illu«, sagte er wieder, und der Stab folgte ihm und spie einen weiteren, bunten Lichtschwall aus. Für die Freunde waren die Ausbrüche optisch schmerzhaft, ansonsten aber harmlos. Für den Vampir hingegen waren sie eine reine Qual. Baccio versuchte, vor der Explosion zurückzuweichen. Er wollte sich zusammenrollen und verstecken, aber das nutzte nichts. Der Lichtschauer blieb an ihm hängen und griff seine untote Gestalt mit der Wut heißer Funken an. Ein lebendes Wesen konnte der Funkenschauer nur blenden, einen Untoten jedoch konnte er verbrennen. »Mas illu«, sagte Cadderly ein drittes Mal, und als dieser letzte Ausbruch endete, saß Baccio schlaff an der Wand und starrte Cadderly haßerfüllt und absolut ohnmächtig an. Cadderly steckte den Stab weg und zog das heilige Symbol
von seinem Hut. Er stellte sich vor den verwundeten Vampir und legte Baccio ruhig und gezielt das leuchtende Symbol auf sein zerschlagenes Gesicht. Die zitternde Hand des Vampirs kam hoch und umklammerte Cadderlys Handgelenk, aber der junge Priester wankte nicht. Er hielt sein Symbol fest und sprach ein Gebet zu Deneir, während er wiederholt mit dem Widderkopfstab zuschlug, um das Ungeheuer endgültig zu vernichten. Als Cadderly sich umdrehte, starrten seine vier Freunde ihn ungläubig an, denn die echte, ungezügelte Wut des Schauspiels hatte sie verblüfft. Pikel stöhnte. Das Ende seiner Keule sank matt auf den Boden. Shayleigh verzog schmerzerfüllt das Gesicht, während sie Cadderly ansah. Ihre rechte Schulter war übel aufgerissen, und das Rasseln ihres Atems verriet Cadderly, daß Baccios Schläge ihr wahrscheinlich ein paar Rippen gebrochen hatten, von denen eine in die Lunge eingedrungen sein mußte. Sofort ging er zu ihr und suchte, ohne ein Wort zu sagen, das ferne Lied von Deneir. Der Fluß der Melodie war diesmal nicht stark. Cadderly konnte nicht in die höheren Bereiche klerikaler Macht gelangen. Der Tag war erst angebrochen, aber er merkte, daß er bereits müde war, also akzeptierte er die Schwäche und begnügte sich statt dessen mit einfachen Heilsprüchen. Dazu drückte er seine Hände sanft, aber fest gegen Shayleighs Rippen und an ihre Schulter. Als Cadderly wieder ganz zu sich kam, ging es der Elfenfrau bereits besser, denn die Magie wirkte auf ihre Wunden. »Du hast Danica nicht gefunden«, schlußfolgerte
Shayleigh, deren Stimme vor Schmerz und Schwäche bebte. Allen war klar, daß sie Ruhe brauchte und nicht weiterkonnte. Cadderly schüttelte den Kopf und bestätigte damit die Befürchtungen der Elfenfrau. Flehentlich blickte er auf das Bett, auf die friedliche Gestalt seiner verlorenen Geliebten. »Sie ist aber auch nicht untot«, meinte er, mehr zu seiner eigenen Beruhigung als zu der der anderen. »Sie ist entkommen«, stimmte Shayleigh zu. »Danica sollte nicht an diesem Ort bleiben«, sagte Cadderly. Entschlossen sah er jeden seiner Freunde an. »Wir müssen sie von hier fortbringen.« »Das Mausoleum ist frei«, schlug Shayleigh vor. Cadderly schüttelte den Kopf. »Weiter«, sagte er. »Wir bringen sie nach Carradoon. Dort, weitab von der Dunkelheit von Kierkan Rufo, kann ich mich besser um deine Wunden kümmern und Danica zur Ruhe betten.« Seine Stimme brach, als er diesen Satz beendete. »Nein!« sagte Ivan unerwartet und ließ Cadderly aufmerken. »Wir wollen nicht gehen!« hielt der Zwerg dagegen. »Nicht jetzt, nicht solange die Sonne am Himmel steht. Rufo hat sie erwischt, und er wird andere erwischen, wenn wir weglaufen. Du kannst ja gehen, wenn es sein muß, aber ich und mein Brüderchen bleiben hier.« »Ei, ei!« »Das mit Danica zahlen wir ihm heim, keine Sorge!« endete Ivan. Es ihm heimzahlen. Dieses Gefühl huschte eine Weile in Cadderlys Gedanken herum, gewann an Schwung und an Kraft. Es ihm heimzahlen! Ja, Cadderly würde es Rufo heimzahlen. Der Gedanke an Rache ließ ihn wieder Mut
fassen. »Bringt Danica ins Mausoleum«, sagte er zu Belago und Shayleigh. »Wenn die Zwerge und ich nicht bei euch sind, sobald die Sonne zu sinken beginnt, brecht ihr auf und geht weit fort, nach Shilmista oder Carradoon, und ihr kehrt nicht um.« Shayleigh, die über den Verlust von Danica genauso wütend war wie alle anderen, wollte Einwände erheben, aber als sie zu antworten versuchte, zuckte ein scharfer Schmerz durch ihre Seite. Cadderly hatte für ihre Wunden getan, was er konnte, aber sie brauchte Ruhe. »Ich gehe mit Belago zum Mausoleum«, stimmte sie widerstrebend zu, denn sie sah ein, daß sie ihre Freunde in diesem geschwächten Zustand nur behindern würde. Als Cadderly gehen wollte, hielt sie ihn am Arm fest und fixierte seine grauen Augen mit ihren veilchenblauen. »Findet Rufo und vernichtet ihn«, sagte sie. »Ich werde das Mausoleum nur verlassen, um an eurer Seite in die Bibliothek zurückzukehren.« Cadderly wußte, daß er keine Chance hatte, die kriegerische Elfenfrau von etwas anderem zu überzeugen. Danica war für Shayleigh wie eine Schwester gewesen, und die Elfenfrau würde dem Mörder ihrer Schwester niemals einfach so den Rücken kehren. Weil er dieses Gefühl verstand und auch er diesen Ort keinesfalls verlassen konnte, bevor Rufo vernichtet war, nahm Cadderly ihren Schwur mit wissendem Nicken hin.
Bedrängnis
Ivan und Pikel richteten das Seil rasch so her, daß Danica daran vorsichtig heruntergelassen werden konnte. Die Zwerge hatten bei der Arbeit beide Tränen in den Augen. Ivan setzte ehrfurchtsvoll seinen Hirschgeweihhelm ab, und Pikel tat dasselbe mit seinem Kochtopf. Als das Seil soweit war, brachte Cadderly es kaum über sich, Danica in die richtige Position zu schieben. Sein Zorn hielt dieser Welle der Trauer nicht stand, dem Gefühl der Endgültigkeit, als er Danica das Elfenseil zärtlich unter den steifen Armen hindurchzog. Er spielte mit dem Gedanken, noch einmal in der Geisterwelt nach ihr zu suchen, und er wäre auch gegangen, hätte Shayleigh nicht neben ihm gestanden, als könnte sie seine Gedanken lesen, und ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Als der junge Priester die abgekämpfte Elfenfrau sah, die am ganzen Körper zitterte, während sie sich mühsam aufrecht hielt, begriff er, daß er die Energie für eine nochmalige Suche nach Danica in der Geisterwelt nicht aufbringen konnte. Es konnte zu schlimme Folgen haben. Er sah Shayleigh an und nickte. Diese wich - anscheinend zufrieden - zurück. Sie beschlossen, daß Belago zuerst hinuntersteigen sollte, um Danica beim Herunterkommen aufzufangen. Der Alchemist, der entschlossener wirkte, als die anderen ihn je erlebt hatten, nahm das Seil in beide Hände und sprang auf den Fenstersims. Dort hielt er jedoch inne und winkte Ivan zu sich. »Du mußt es tun«, sagte der Zwerg beim Näherkommen. »Wir brauchen deine ... « Ivan brach mitten im Satz ab, weil
ihm Belagos Absicht klar wurde, als der Alchemist den Arm ausstreckte. »Nimm sie«, bot Belago an, der Ivan die Flasche mit dem Wuchtöl hinschob. »Ihr werdet jede Waffe brauchen.« Sobald der Zwerg die Flasche in der Hand hielt, schlüpfte Belago ohne Zögern über den Sims und kletterte rasch hinunter. Danica kam als nächste und danach Shayleigh. Die verletzte Elfenfrau brauchte fast soviel Unterstützung wie zuvor Danica. Cadderly sah untröstlich vom Fenster aus zu, wie die Gruppe zur Rückseite der Bibliothek und dem Mausoleum hin verschwand. Belago hatte Danica über seine Schulter gelegt, und obwohl sie für den Alchemisten eine schwere Last darstellte, mußte er sich dennoch bremsen, damit die verwundete Shayleigh mithalten konnte. Als Cadderly sich vom Fenster wegdrehte, sah er, daß Ivan und Pikel mit gesenktem Kopf und tränenüberströmtem Gesicht im Zimmer standen, die Helme unter den Arm gesteckt. Ivan sah zuerst auf. Seine Trauer verwandelte sich in Wut. »Ich muß meine Axt herrichten«, sagte der Zwerg und biß dabei die Zähne zusammen. Cadderly warf einen skeptischen Blick auf die Waffe - ihm kam sie tadellos vor. »Muß Silber in das verdammte Ding einarbeiten!« brüllte Ivan. »Dazu haben wir keine Zeit«, gab Cadderly zurück. »Ich habe eine Esse neben der Küche«, erwiderte Ivan, und Cadderly nickte, denn er hatte den Aufbau, der auch als Herd diente, oft gesehen. Cadderly blickte aus dem Fenster. Das Morgenlicht war voll angebrochen. Lange Schatten fielen nach Westen. »Wir haben nur den einen Tag«, erklärte Cadderly. »Wir müssen
vor Einbruch der Nacht fertig sein. Wenn Rufo merkt, daß wir in der Bibliothek waren, und das wird er sicher, sobald er feststellt, daß Baccio besiegt ist, wird er uns mit seiner ganzen Streitmacht nachjagen. Ich würde mich lieber jetzt dem Vampir stellen, obwohl nur mein Wanderstab und Pikels Keule -« »Sha-lah-lah!« sagte der Zwerg entschlossen und setzte seinen Kochtopf auf seine grünen Haare. Cadderly nickte, brachte sogar ein dünnes Lächeln zustande. »Wir müssen heute mit Rufo abrechnen«, sagte er wieder. »Aber du mußt ihn schnell töten«, protestierte Ivan, der wieder seine Axt zeigte. »Ihn endgültig umbringen. Schnell, oder er verwandelt sich wieder in diesen grünen Nebel und verschwindet einfach. Ich habe eine Esse.« Ivan brach mitten im Reden ab und warf Pikel einen berechnenden Blick zu. »Eine Esse«, sagte er wieder betont. »Hm?« kam Pikels vorhersehbare Antwort. »Macht das Feuer heiß«, erklärte Ivan. »Du würdest ein sehr heißes Feuer brauchen, um Rufo anzusengen«, warf Cadderly ein, der glaubte, daß er den Überlegungen des Zwergs folgen konnte. »Magisches Feuer, dem keine Esse gleichkommt.« »Ja, und wenn wir ihn verletzten, wird er einfach zu einer Wolke«, sagte Ivan, dessen Bemerkung auf Pikel zielte. Pikel dachte über die Information nach, versuchte, die Esse mit Rufo in Verbindung zubringen. Plötzlich hellte sich seine Miene auf, und er grinste von einem Ohr zum anderen, als er den hoffnungsvollen Blick seines Bruders erwiderte. »Hihihi«, machten die Zwerge einstimmig. Cadderly verstand gar nichts und war sich nicht sicher, ob
er verstehen wollte. Die Gebrüder Felsenschulter schienen sich ihres geheimen Plans jedoch sicher zu sein, deshalb beließ es der junge Priester dabei. Er führte sie die Gänge des ersten Stocks entlang. Still und brütend umgab sie die Bibliothek. Von jedem Fenster, an dem sie vorbeikamen, rissen sie die Verkleidung, aber selbst danach war das gedrungene Steingebäude noch ein düsterer Ort. Cadderly holte seinen Stab wieder heraus. Jedesmal, wenn er eine besonders bedrückende Stelle bemerkte, zeigte er mit dem Stab darauf und sprach den Befehl »Domin illu«, und schon wurde der Bereich so hell wie ein freies Feld unter der Mittagssonne. »Wenn wir Rufo heute nicht finden können«, erklärte der junge Priester, »soll er nur herauskommen und sehen, daß seine Dunkelheit verschwunden ist!« Ivan und Pikel wechselten wissende Blicke. Rufo konnte die Lichtsprüche des jungen Priesters wahrscheinlich umkehren - Rufo war schließlich ein Kleriker gewesen, und Kleriker verstanden sich auf solche Magie. Cadderly erhel lte die Bibliothek daher nicht aus praktischen Gründen, sondern nur, um den Vampir herauszufordern. Der junge Priester warf einen Fehdehandschuh, tat alles, was er konnte, um Rufo zu treffen. Weder Ivan noch Pikel waren wild darauf, dem mächtigen Vampir wieder gegenüberzu treten, aber während sie ihrem Freund, dessen Zorn nicht nachließ, durch die Bibliothek folgten und das Bild des geschlagenen Baccio noch frisch vor Augen hatten, kamen sie zu dem Schluß, daß sie lieber Rufo zum Feind hätten als Cadderly. Die drei kamen ins Erdgeschoß, ohne daß sie auf Widerstand stießen. Nicht ein einziger Zombie, Vampir oder sonst ein Ungeheuer - ob untot oder nicht - hatte sich
gegen sie erhoben. Cadderlys offene Herausforderung hatte keine einzige Antwort erbracht. Hätte er sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, so hätte er erkannt, daß dies ein gutes Zeichen war - ein Zeichen, daß Rufo vielleicht noch nicht bemerkt hatte, daß sie in sein Reich eingedrungen waren. Aber der junge Mann war ganz von Gedanken an Danica erfüllt, an seine verlorene Geliebte, und er suchte etwas - einen Verbündeten von Rufo oder am besten Rufo persönlich -, das sich ihm in den Weg stellte. Er wollte mit all seiner Kraft gegen die Finsternis losschlagen, die ihm das Liebste genommen hatte. Sie kamen in den Gang, der zur Eingangshalle führte. Cadderly schlug prompt diese Richtung ein, zur Haupttür und zum Südflügel dahinter, wo das Feuer gewütet hatte. Dort lag die Hauptkapelle der Erhebenden Bibliothek, der Ort, der für Rufo am schwersten zu entweihen war. Vielleicht konnte der junge Priester dort Zuflucht finden, eine Basis, von der aus er und die Zwerge in verschiedene Richtungen losschlagen konnten. Vielleicht würde Cadderly in diesem Bereich Hinweise finden, die ihn zu dem führten, der ihm Danica genommen hatte. Seine Schritte waren kühn und schnell, aber Ivan und Pikel hielten ihn an den Armen fest, und kein Maß an Entschlossenheit hätte den jungen Priester gegen diesen festen Halt vorwärts treiben können. »Wir müssen in die Küche«, erklärte Ivan. »Du hast keine Zeit, deiner Axt eine Silberschneide zu verpassen«, entgegnete Cadderly in scharfem Ton. »Vergiß die Axt«, stimmte Ivan zu. »Ich und mein Brüderchen müssen trotzdem in die Küche.« Cadderly zog den Kopf ein, denn er war gegen alles, das die Jagd aufhalten mochte. Doch er wußte, daß er Ivans
Entschluß nicht ändern konnte, deshalb nickte er. »Macht schnell«, sagte er zu ihnen. »Ich treffe euch in der Eingangshalle oder in der ausgebrannten Kapelle daneben.« Ivan und Pikel lehnten sich zur Seite, um hinter Cadderlys Rücken besorgte Blicke zu wechseln. Keiner von beiden war über die Aussicht begeistert, die ohnehin schon kleine Gruppe zu spalten, aber Ivan war entschlossen, in seine Schmiede zu gehen, und er wußte, daß Cadderly ihn nicht zurückhalten würde. »Nur die Eingangshalle«, sagte der Zwerg streng. »Wenn du nämlich deine Nase überall reinsteckst, landet sie bestimmt irgendwo, wo sie nicht hingehört!« Cadderly nickte und riß sich von den Zwergen los, um seinen schnellen Schritt sofort wieder aufzunehmen. »Nur die Eingangshalle!« schrie Ivan hinter ihm her, aber Cadderly antwortete nicht. »Machen wir schnell«, sagte Ivan zu seinem Bruder, als die beiden dem jungen Priester nachblickten. »Der bleibt nicht in der Halle stehen.« »Mhm«, stimmte Pikel zu, und die beiden stoben zur Küche und der Esse davon. Cadderly hatte nicht die mindeste Angst. Er war von Zorn erfüllt, und das einzige andere Gefühl, das an ihm nagte und die Mauer seiner Wut bröckeln ließ, war Trauer. Ihn kümmerte es nicht, daß Ivan und Pikel nicht bei ihm waren, daß er allein war. Er hoffte, Kierkan Rufo und sein ganzes finsteres Gefolge würden sich vor ihm erheben, damit er ein für allemal mit ihnen abrechnen konnte. Er würde ihre untoten Körper zu Staub zerfallen lassen, den der Wind davontrug. Ohne Zwischenfall erreichte er die Eingangshalle und dachte gar nicht daran, dort auf seine Freunde zu warten. Er
wollte weiter, in die ausgebrannte Kapelle, den Raum, wo das Feuer offenbar seinen Ursprung genommen hatte. Dort wollte er nach Spuren suchen. Er riß den Vorhang herunter, der ihm den Weg versperrte, und trat die verkohlte Tür auf. Der Raum war von Rauch und vom Gestank nach verbranntem Fleisch erfüllt, denn in der stehenden, toten Luft der Bibliothek zog er nirgends ab. Allein an diesem Geruch erkannte Cadderly sofort, daß hier mindestens ein Mensch gestorben war. Dicker Ruß bedeckte die Wände. Ein Teil der Decke war eingestürzt, und nur einer der vielen schönen Wandbehänge war teilweise erhalten, auch dieser allerdings so geschwärzt, daß man kaum noch etwas erkennen konnte. Cadderly starrte das schwarze Tuch lange angestrengt an und versuchte, sich an das Bild zu erinnern, das einst dort gehangen hatte. Es war der Versuch, sich an die Bibliothek zu erinnern, als sie noch im Lichte Deneirs gestrahlt hatte. Er war so konzentriert, daß er nicht sah, wie sich hinter ihm eine verkohlte Leiche erhob und immer näher kam. Er hörte trockene Haut knistern, spürte eine Berührung an seiner Schulter. Er fuhr so heftig herum, daß er das Gleichgewicht verlor und beinahe hinschlug. Er riß die Augen weit auf, und das Entsetzen besiegte seinen Zorn, als er die geschrumpften, verkohlten Überreste eines menschli chen Wesens anstarrte, eine kleine Gestalt mit aufge sprungener Haut, schwärzlichen Knochen und weißen Zähnen - diese Zähne waren das schlimmste an dem schrecklichen Bild! Cadderly betastete seinen Wanderstab und den Zauberstab, streckte aber schließlich den Wanderstab vor sich aus. Dieses Wesen war kein Vampir, erkannte er, wahrscheinlich nicht annähernd so stark wie ein Vampir. Er
dachte an seinen Ring, dessen Zauber erschöpft war, und begriff, daß ihm mit dem Stab dasselbe passieren konnte. Plötzlich kam ihm sein Verhalten im Obergeschoß absurd vor, denn er hatte die Energie des Stabs dazu verschwendet, Schatten zu vertreiben. Er steckte den Stab unter den Arm und griff statt dessen nach seinem Hut. Seine freie Hand zuckte zwischen seinem Wanderstab und den Spindel scheiben hin und her, denn er war sich nicht sicher, welche Waffe am wirksamsten sein würde. Womöglich würden nur verzauberte Waffen das Fleisch dieses Ungeheuers verletzen können, was auch immer es war. Schließlich beruhigte sich Cadderly und zeigte seinen Hut mit dem heiligen Symbol nachdrücklicher vor. »Ich bin von Deneir gesandt!« sagte er laut und voller Überzeugung. »Ich bin gekommen, um das Haus meines Gottes zu säubern. Du hast hier nichts verloren!« Das schwarze Wesen rückte weiter vor, langte nach Cadderly. »Hinfort!« befahl Cadderly. Das Ungeheuer zögerte nicht, wurde kein bißchen langsamer. Cadderly erhob seinen Wanderstab zum Schlag, ließ den Hut fallen und griff mit der anderen Hand nach dem Zauberstab. Er war frustriert, daß er das Wesen nicht hatte vertreiben können, und fragte sich, ob die Bibliothek inzwischen zu weit von Deneir entfernt war, als daß er den Namen seines Gottes hier noch anrufen konnte. Die Antwort war etwas völlig anderes; etwas, das Cadderly nicht erwartet hätte. »Cadderly«, krächzte die verkohlte Leiche, und obwohl die Stimme kaum vernehmbar war, denn die Luftbewegung fiel den nicht mehr atmenden Lungen schwer, erkannte Cadderly die Art, wie sein Name ausgesprochen worden
war. Dorigen! »Cadderly«, sagte die Zauberin wieder, und der junge Priester war so fassungslos, daß er sich nicht wehrte, als sie näher kam und ihre verkohlte Hand erhob, um ihm das Gesicht zu streicheln. Der Gestank war nahezu überwältigend, aber Cadderly harrte tapfer aus. Sein Instinkt forderte ihn auf, mit dem Wanderstab zuzuschlagen, doch er hielt an seinem Entschluß fest, bewahrte die Nerven und senkte die Waffe. Wenn Dorigen noch ein denkendes Wesen war, und so kam es ihm vor, dann hatte sie sicher nicht vor Rufo kapituliert, war sicher nicht zur anderen Seite übergelaufen. »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte die tote Dorigen. »Jetzt mußt du Kierkan Rufo bekämpfen und ihn vernichten. Ich habe hier gegen ihn gekämpft.« »Du hast dich mit einem Feuerball zerstört«, schlußfol gerte Cadderly. »Nur so konnte Danica entkommen«, erwiderte Dorigen, und Cadderly zweifelte nicht an ihren Worten. Der Ausdruck, der sich über das Gesicht des jungen Priesters legte, als sie Danica erwähnte, verriet Dorigen viel. »Danica ist nicht entkommen«, flüsterte sie. »Ruh dich aus, Dorigen«, erwiderte der junge Priester leise und so sanft er kennte. »Du bist tot. Du hast deine Ruhe verdient.« Das Gesicht der Leiche knisterte, als Dorigen ihre gemarterten Züge zu einem grotesken Lächeln verzerrte. »Rufo wollte mir diese Ruhe nicht gestatten«, erklärte sie. »Er hat mich hier festgehalten, zweifellos als Geschenk für dich.« »Weißt du, wo er ist?«
Dorigen zuckte mit ihren eingefallenen Schultern, von denen bei dieser Bewegung Hautfetzen rieselten. Cadderly starrte das grausige Wesen zu dem Dorigen geworden war, lange eindringlich an. Trotz ihres Aussehens war sie nicht grauenerregend, erkannte er, nicht in ihrem Herzen. Dorigen hatte ihre Wahl getroffen, und in Cadderlys Augen hatte sie sich als würdig erwiesen. Er hätte sie festhalten und nachdrücklich zu Kierkan Rufo befragen können und vielleicht sogar wertvolle Informa tionen erhalten. Aber das wäre nicht fair, erkannte er, nicht Dorigen gegenüber, die ihre Ruhe verdient hatte. Der junge Priester bückte sich, um seinen Hut wieder aufzuheben. Dann nahm er sein heiliges Symbol ab und legte es der Leiche auf die Stirn. Dorigen zog sich weder davor zurück, noch schien es ihr Schmerzen zuzufügen. Cadderly kam es so vor, als ob das leuchtende Emblem ihr Frieden brächte, und auch das bestätigte seine Hoffnung, daß sie ihr Heil gefunden hatte. Cadderly erhob die Stimme zum Gebet. Dorigen entspannte sich. Sie hätte auch die Augen geschlossen, nur hatte sie keine Augenlider mehr. So starrte sie den jungen Priester an, den Mann, der ihr Gnade erwiesen hatte, der ihr eine Chance gegeben hatte, sich zu bewähren. Sie starrte den Mann an, der sie aus den Klauen von Kierkan Rufo befreien würde. »Ich liebe dich«, sagte Dorigen leise, um nicht das Gebet zu unterbrechen. »Ich hatte gehofft, an der Hochzeit teilzunehmen, deiner Hochzeit mit Danica, wie es hätte sein sollen.« Cadderly schluckte, zwang sich jedoch, es zu Ende zu bringen. Das Licht seines heiligen Symbols schien sich auszubreiten, überflutete den Leichnam und zog an Dorigens Geist.
Wie es hätte sein sollen, mußte Cadderly nun doch denken. Und Dorigen wäre wirklich bei der Hochzeit dabei gewesen, hätte wahrscheinlich mit Shayleigh hinter Danica gestanden, während Ivan und Pikel und König Elbereth von Shilmista hinter Cadderly gestanden hätten. Wie es hätte sein sollen! Und Avery Schell und Pertelope dürften nicht tot sein, hätten mit Cadderly dort stehen sollen, um seine Vermählung mit anzusehen. Cadderly hielt seine Wut im Zaum. Er wollte nicht, daß sie das letzte war, was die arme Dorigen von ihm sah. »Leb wohl«, sagte er sanft zu der Leiche. »Kehre in deine wohlverdiente Ruhe ein.« Dorigen nickte kaum wahrnehmbar, und ihre schwarze Gestalt zerfiel zu Cadderlys Füßen. Cadderly dachte einen Augenblick darüber nach und freute sich, daß Dorigen von Rufo befreit war. Gleich darauf schrie er so laut, wie er noch nie geschrien hatte, einen Urschrei, den die Qual der Erkenntnis seinem Herzen entriß. »Wie es hätte sein sollen!« brüllte er. »Sei verflucht, Kierkan Rufo! Sei verflucht, Druzil, du und dein Chaosfluch!« Der junge Priester lief auf den Ausgang der Kapelle zu und stolperte dabei fast vor Hast. »Und sei verflucht, Aballister«, flüsterte er. Er verdammte seinen eigenen Vater, den Mann, der ihn verlassen und der alles verraten hatte, was im Leben gut war, alles, was dem Leben Freude und Sinn verlieh. Ivan und Pikel polterten mit hocherhobenen Waffen in die Kapelle. Als sie sahen, daß Cadderly nicht in Gefahr war, kamen sie unsanft zum Stehen und purzelten dabei übereinander. »Bei den Neun Höllen, was schreist du so rum?« wollte
Ivan wissen. »Dorigen«, erklärte Cadderly mit einem Blick auf die verkohlten Überreste. »Ooh«, stöhnte Pikel. Cadderly drängte weiter auf den Ausgang zu, doch dann bemerkte er das große, kastenartige Ding, das sich Ivan auf den Rücken gebunden hatte, und hielt inne. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Ivan bemerkte den Blick und strahlte vor Glück. »Keine Bange!« versicherte der Zwerg Cadderly. »Diesmal kriegen wir ihn!« Allen Schmerzen, aller Verzweiflung und allen Erinne rungen an Danica und den Gedanken, was hätte sein sollen, zum Trotz - Cadderly konnte nicht anders. Ein ungläubiges Lächeln trat auf seine Lippen. Pikel hüpfte heran und legte seinem Bruder einen Arm um die Schultern. Beide nickten zuversichtlich. Es war unmöglich, stellte Cadderly fest, aber schließlich waren sie die Brüder Felsenschulter. Unmöglich, aber der junge Priester konnte nicht leugnen, daß es vielleicht trotzdem geschehen würde. »Mein Brüderchen und ich haben nachgedacht«, fing Ivan an. »Diese Vampire mögen das Sonnenlicht nicht besonders, und hier gibt's Orte, wo nie welches hinkommt, Fenster hin, Fenster her.« Cadderly konnte diese Überlegung leicht nachvollziehen es erschreckte ihn ein wenig, daß er Ivans und Pikels Logik so leicht folgen konnte! -, und der Gedanke führte ihn zu exakt derselben Schlußfolgerung, zu der die Zwerge bereits gekommen waren. »Der Weinkeller«, sagten Cadderly und Ivan gleichzeitig. »Hihihi«, ergänzte ein hoffnungsvoller Pikel.
Cadderly ging voran, durch die Küche und zu der Holztür. Sie war abgeschlossen und von innen versperrt, was die Vermutungen der Gefährten bestätigte. Ivan wollte seine schwere Axt heben, aber Cadderly kam ihm zuvor, indem er seine Spindelscheiben kurz vor schnellen ließ und dann mit aller Kraft gegen die Sperre schleuderte. Der Adamant durchschlug das Türholz und traf den Metallriegel auf der anderen Seite so gewaltsam, daß er sich verbog und verrutschte. Knarrend ging die Tür auf und zeigte den dunklen Abstieg. Cadderly zögerte nicht. »Ich komme dich holen, Rufo!« schrie er, als er die erste Stufe betrat. »Schick ihm auch noch eine Einladung!« grollte Ivan, doch Cadderly ignorierte ihn einfach. »Ist doch egal«, sagte er und machte sich an den Abstieg.
Eingesackt
Die drei hatten gerade erst die wackelige Treppe hinter sich gebracht, als Rufos Zombies auch schon anrückten. Dutzende toter Priester - Männer, die an ihrem Glauben festgehalten hatten, wie Cadderly wußte, und Rufos Lockrufen nicht nachgegeben hatten, kamen um die Weinregale herum, ohne sich im geringsten von dem Licht stören zu lassen, das vom breitkrempigen Hut des jungen Priesters leuchtete. »Wohin jetzt?« fragte Ivan, der vor die anderen sprang und offensichtlich darauf aus war, voranzugehen. Ein Zombie griff nach ihm, worauf Ivan ihm mit der Axt prompt den Arm abschlug. Das konnte den Zombie kaum aufhalten, aber Ivans nächster Schlag, ein senkrechter Hieb auf das Schlüsselbein, der danach quer durch die Brust des Ungeheuers ging, durchaus. Pikel warf sofort seine Keule auf den Boden und begann wieder mit diesem seltsamen Tanz. »Wohin jetzt?« fragte Ivan wieder, drängender, denn in ihm regte sich der Kampfgeist. Cadderly dachte noch über die Frage nach. Ja, wohin? Der Weinkeller war groß und verwinkelt und enthielt Dutzende hoher Regale. Lange Schatten breiteten sich von Cadderly, der über die einzige Lichtquelle verfügte, über den Boden aus und ließen den Raum noch geheimnisvoller und unheilverkündender aussehen. Ivan und Pikel hatten sich mittlerweile hackend und schlagend auf die Zombies gestürzt. Ivan senkte den Kopf, um seinem Gegner das Geweih seines Helms in den Bauch zu stoßen, während Pikel hin und wieder auf seinen
Wasserschlauch drückte, um die Zombiehorde in Schach zu halten. »Augen zu!« rief Cadderly, und die Zwerge brauchten nicht zu fragen, weshalb. Einen Augenblick später fuhr ein Funkenschauer durch die Ränge der Zombies, der einige von ihnen umkippen ließ. Cadderly hätte sie alle auslöschen können, aber er merkte, daß die Zwerge die Situation unter Kontrolle hatten, und daß er den wertvollen Stab zurückhaltend benutzen sollte. Die Zwerge konnten die Meute durchbrechen, aber wo sollten sie hin? Cadderly dachte an den Grundriß des Kellers. Dann benutzte er eine der einfachen Funktionen des Stabs und setzte einen kleineren Lichtball rechts zwischen die Regale, denn er wußte, daß sich am Ende dieser Regale ein tiefer Alkoven auftat. Das Licht erleuchtete diesen Bereich vollständig, aber er war leer. »Nach hinten!« rief Cadderly seinen Gefährten zu. »Quer durch den Keller zur hinteren Wand.« Das war nur eine Vermutung, denn obwohl Cadderly ziemlich sicher war, daß Rufo die unterirdischen Räume aufgesucht hatte (und die Anwesenheit so vieler Zombies machte dies noch wahrscheinlicher), hatte er keine Ahnung, wo genau er den Vampir in diesem Labyrinth finden sollte. Er bildete die Nachhut, während die Zwerge durch den Zombiehaufen pflügten und einen Weg freikämpften, so daß er nicht viel zu tun hatte, um die Gegner abzuwehren. Der Blick des jungen Priesters schoß hin und her, vor und zurück, als sie an den Regalen vorbeikamen, denn er hoffte, Rufo dort zu entdecken. Jetzt verfluchte Cadderly sich, weil er sein Lichtrohr nicht mehr benutzen konnte, denn das Licht an seinem Hut war diffus und konnte nicht in die tieferen Winkel eindringen.
Er zog die erleuchtete Scheibe wie auch das heilige Symbol vom Hut, damit er das Licht besser lenken konnte. Am anderen Ende der langen Regale flatterte etwas durch die Schatten, das zu schnell für einen Zombie war. Da die Aufmerksamkeit des jungen Priesters an diesem Punkt hing, bemerkte er das Ungeheuer nicht, das ihn von hinten angriff. Der Schlag warf Cadderly beinahe um. Er stolperte mehrere Fuß vorwärts, dann fuhr er herum und schlug mit seinem Wanderstock zu. Doch der Schlag war zu kurz, und der Zombie kam weiter näher. Rein instinktiv stieß Cadderly sein heiliges Symbol nach vorn und verfluchte das Wesen. Der Zombie stoppte, denn die magische Kraft des Priesters hielt ihn fest. Gelbes Licht umgab seine Gestalt und begann die Ränder des Zombiekörpers anzugreifen. Cadderly spürte eine Woge der Zufriedenheit, weil er nun wußte, daß Deneir bei ihm war. Er führte seinen Angriff weiter, indem er die Hand fest um das Emblem seines Glaubens schloß. Das Auge über der Kerze flammte noch stärker auf; die leuchtenden Flammen, die den Zombie versengten, hüpften und tanzten. Aber der Zombie blieb stehen, denn er zehrte im Kampf von der finsteren Macht seines Meisters - seines nahen Meisters, wie Cadderly feststellte. Dunkle Linien durchzo gen den feurigen Glanz und ließen ihn auseinanderbrechen. Cadderly trat noch näher, rief Deneirs Namen an und sang die Melodien des göttlichen Liedes. Schließlich kam sein heiliges Symbol in Kontakt mit dem Zombie, und das Wesen zerbarst in einen Haufen makaberer Teile und eine Staubwolke. Der junge Priester wich ausgelaugt zurück. Wie mächtig
war Rufo geworden, daß selbst die einfachen Gefolgsleute des Vampirs seinen heiligen Kräften so zäh widerstehen konnten? Und wie weit hatte sich die Bibliothek von Deneir entfernt, wenn Cadderlys Ruf zu seinem Gott eine so armselige Kreatur kaum zerstören konnte? »Mach das verdammte Ding ab! Mach das verdammte Ding ab!« schrie Ivan und zog so Cadderlys Aufmerk samkeit auf sich. Die spitzen Hörner auf dem Helm des Zwergs hatten ihre Arbeit anscheinend zu gut getan, denn Ivan hatte einen Zombie auf seinem Kopf stecken. Er lag quer und schlug mit Armen und Beinen um sich. Pikel sprang wild neben seinem Bruder herum, um einen Treffer zu landen, der den Zombie abreißen würde, ohne daß es Ivan dabei den Kopf kostete. Ivan schlug einem anderen Zombie, der ihm zu nahe kam, die Beine ab, dann traf ihn der, der auf dem Helm hing, von oben ins Gesicht. Der Zwerg versuchte einen halbherzigen Aufwärtsschlag mit der Axt, aber der Winkel war falsch gewählt. So verfiel Ivan statt dessen in eine Drehung, deren Schwung den Zombie waagerecht ausstreckte. Pikel baute sich kampfbereit auf und erhob seine schwere Keule. Der Kopf des Zombies sauste vorbei, aber beim nächsten Mal war Pikel bereit und schlug genau zum richtigen Zeitpunkt zu. Der Zombie war immer noch aufgespießt - Ivan mußte ihn noch eine Weile mit sich herumschleppen -, aber er kämpfte nicht mehr. »Hast auch lang genug gebraucht«, war alles, was Ivan seinem Bruder als Dank anbot. Ein kurzer Anlauf brachte sie Seite an Seite in die nächste Reihe Zombies, die angesichts der Zwergenwut schnell auseinanderbrach. Cadderly mußte sich sputen, um Schritt zu halten. Ein
Zombie trat ihm entgegen, und es tat dem jungen Priester sehr leid, in dem toten jungen Mann jemanden zu erkennen, der zu Lebzeiten sein Freund gewesen war. Ein Arm sauste wie eine Keule herab, und Cadderly parierte. Einem zweiten Schlag wich er aus und kämpfte rein abwehrend, bis er sich bewußt daran erinnerte, daß er nicht mehr seinen alten Freund vor sich hatte, sondern ein hirnloses Spielzeug von Kierkan Rufo. Dennoch fiel es ihm nicht leicht zuzuschlagen, und er zuckte zusammen, als sein Wanderstab dem Zombie das Gesicht zertrümmerte. Der junge Priester beeilte sich, die Zwerge einzuholen. Er erinnerte sich daran, daß er etwas in den Schatten wahrgenommen hatte, etwas Schnelles, Dunkles. Es kam von der Seite her, von den Weinregalen. Pikel quietschte und wollte sich dem Angriff noch stellen, wurde jedoch umgeworfen und kugelte mit dem Ungeheuer davon. Sie rollten an Ivan vorbei, der schnell genug war, dem neuesten Gegner ins Bein zu hacken. Als die Axt nichts ausrichtete, wußten sowohl Ivan als auch Cadderly, was für einen Gegner sie vor sich hatten. »Mas illu!« schrie der junge Priester, und der Vampir heulte auf, als Funken auf ihn fielen. »Das ist einer für dich!« schrie Ivan seinem Bruder zu, rieb seine geblendeten Augen und widmete sich wieder dem Zerhacken von Zombies. Er hielt inne und senkte den Kopf, um nach dem toten Gewicht zu greifen, das dort festhing. Sogleich schloß sich eine Monsterhorde um ihn und schlug drauflos. Cadderly wollte Pikel helfen, sah jedoch, daß Ivan mit seiner behindernden Last in größeren Schwierigkeiten steckte. Er eilte zu Ivan, wehrte die Zombies ab, die er erwischen konnte, packte dann die Leiche und zog sie
endlich vom Geweih des Zwergenhelms. Cadderly verlor das Gleichgewicht, als die Leiche sich löste, und merkte, daß er noch schneller zurückflog, weil ein Zombie ihn gegen die Brust geboxt hatte. Er schlug unsanft auf dem Steinboden auf, so daß ihm die Luft aus der Lunge gedrückt würde und sein kostbarer Stab ihm entglitt. Bis er sich wieder gefangen hatte, hatte ihm ein Zombie die starken Hände fest um den Hals gelegt.
Der Vampir war geschickt, aber niemand rollte besser als ein rundschultriger Zwerg. Pikel hatte Spaß an dem Fall und setzte bei jeder Umdrehung mit hingebungsvollem Enthusiasmus sein ganzes Gewicht ein. Schließlich prallte der lebende Ball gegen ein Weinregal. Das alte Ding brach zusammen und ließ Holzsplitter und die Scherben zerbro chener Flaschen auf Pikel und den Vampir herabregnen. Pikel traf es am schlimmsten, denn das zusammenbrechende Regal richtete bei dem Vampir keinen größeren Schaden an als zuvor Ivans Axt. Pikel, der ein Dutzend Schnittwunden hatte und dem ein Splitter ins Auge gedrungen war, sah sich plötzlich in die Enge getrieben, denn der Vampir vor ihm hielt ihn mit seinen unglaublich starken Armen fest und wollte seine scharfen Eckzähne in den Zwergenhals schlagen. »Ooooh!« knurrte Pikel und versuchte sich loszureißen. Wenigstens einen Arm wollte er frei bekommen, damit er auf seinen Gegner einschlagen konnte. Es war sinnlos; der Vampir war zu stark.
Cadderly dachte daran, Deneir anzurufen, wollte sein
heiliges Symbol einsetzen, wollte nach seinem Wanderstab greifen und ihn dem Zombie über den Kopf ziehen. Er dachte an all das und noch mehr zugleich, denn seine Gedanken drehten sich im Kreis, als das Ungeheuer mit dem starren Gesicht seiner Lunge den dringend benötigten Atem vorenthielt. Plötzlich raste dieses starre Gesicht auf Cadderly zu und traf ihn so fest, daß dem jungen Priester die Lippe aufplatzte. Zuerst dachte er, der Zombie hätte eine neue Taktik versucht, doch als das Ding stetig von ihm gehoben wurde und sein Griff um Cadderlys Hals nachließ, verstand er schließlich. »Die verdammten Dinger bleiben immer hängen«, grummelte Ivan, der seine Axt höher hob und den aufgespießten Zombie mitnahm. Er riß an der Klinge und versuchte sie von dem Zombie zu lösen. »Hinter dir!« rief Cadderly. Zu spät. Ein weiteres Ungeheuer traf Ivan fest gegen die Schulter. Ivan sah Cadderly kopfschüttelnd an. »Kannst du mal 'ne Minute warten?« schrie er dem Zombie ins Gesicht, und prompt schlug sein Gegner ihn erneut, was ihm einen Bluterguß auf der Wange eintrug. Ivans schwerer Stiefel landete auf dem Fuß des Zombies. Der Zwerg warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn, wodurch er den anderen Zombie von seiner Axt abriß. Sowohl Ivan als auch sein Gegner taumelten rückwärts, aber der Zombie blieb irgendwie auf den Beinen. Ivan riß die Axt herum, um dem Zombie den Griff hinter die Schulter zu stoßen, dann zurück vor sein Gesicht. Mit der anderen Hand faßte er das andere Ende des Griffs, gleich unter dem Kopf der Axt. Beide Hände nun hinter
dem Rücken des Zombies und den Griff quer vor dessen Schultern und Hals, brachte Ivan das Wesen aus dem Gleichgewicht. Es schlug immer noch auf den Rücken des Zwergs ein, war jedoch zu nah dran, um etwas auszurichten. »Ich habe dir gesagt, du sollst warten«, erklärte Ivan beiläufig, und die Muskeln seiner kraftvollen Arme spannten sich und schwollen an, als er rückwärts nach unten drückte, um das Ungeheuer nach hinten zu knicken. Cadderly sah die mächtige Bewegung nicht. Er war wieder aufgesprungen und unterwegs. Er suchte seinen Stab, fand jedoch in dem Durcheinander keine Spur davon. Er wollte zu Pikel und rannte dabei gegen eine Mauer aus Zombies. Als er einen Bogen schlug, der ihn tiefer in den Keller führ te, wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem ge fesselt: drei Särgen, zwei offenen und einem geschlossenen. Der junge Priester entdeckte noch etwas - Finsternis, eine Manifestation des Bösen. Geduckte, schattenhafte Bilder tanzten auf dem geschlossenen Sarg. Cadderly erkannte, daß er unwillkürlich die Aurasicht angewandt hatte. Seit er das Lied von Deneir enträtselt hatte, wurde ihm oft die ungefähre Verfassung der Menschen, denen er begegnete, durch schattenhafte Bilder enthüllt, die von ihnen ausstrahlten. Normalerweise mußte Cadderly sich konzen trieren, um solche Dinge zu sehen, er mußte seinen Gott anrufen. Aber hier war das Böse so stark, daß die Schatten nicht im verborgenen bleiben konnten. Cadderly wußte, daß Pikel ihn brauchte, aber er wußte auch, daß er Kierkan Rufo gefunden hatte.
Pikel mochte dieses Gefühl überhaupt nicht. Der Zwerg war
ein Anhänger der natürlichen Ordnung, der die Natur über alles liebte, und dieses verdorbene, pervertierte Wesen tat ihm Gewalt an, indem es seine dreckigen Eckzähne in den persönlichen Tempel senkte, der das Geschenk der Natur an den Zwerg war. Er schrie und schlug um sich, jedoch vergeblich. Er merkte, wie ihm sein Blut entzogen wurde, konnte jedoch nichts dagegen tun. Pikel probierte es mit einer anderen Taktik. Anstatt mit den Armen nach außen zu drücken, drückte er sie fest an die Seiten, in der Hoffnung, der Vampir werde seinen Griff lockern. Das Ungeheuer riß entsetzt die Augen auf, und es begann heftig zu zittern. Pikel verstand, als er das Wasser, das »Druidenwasser« spürte, das aus seinem Wasserschlauch spritzte und ihm sein Wehrgehenk und die Hosen durchnäßte. Der Vampir ließ los und sprang zurück, wobei er gegen den Teil des Weinregals prallte, der noch nicht zusammen gebrochen war, und wieder die Flaschen fliegen ließ. Rauch drang aus der Brust des Ungeheuers, und Pikel sah, daß sein platzender Wasserschlauch dort ein sauberes Loch gebohrt hatte, direkt ins Herz des Vampirs. Sogleich stürmte der erzürnte Zwerg los, um diese Perversion mit seiner Keule zu zermalmen. Er drehte sich um, weil er merkte, daß sich Zombies von hinten näherten, aber die Mauer der Untoten brach, als Ivan hindurch stürmte, um sich wieder an die Seite seines Bruders zu stellen.
Cadderlys verbliebene Lichtquelle wurde matter, als er sich den Särgen näherte. Seine Augen hingen fest an den tanzenden Schatten und der Kiste, die Kierkan Rufo enthielt. Dann spürte er Wärme in seiner Tasche, was ihn nur einen Augenblick lang verwirrte. Er blieb abrupt stehen und schlug mit seinem Wanderstab zur Seite, wobei er mehrere Flaschen erwischte. Ein Kreischen und ein Flügelschlagen verrieten ihm, daß er richtig vermutet hatte. »Ich sehe dich, Druzil«, murmelte der junge Priester. »Ich werde dich nie aus den Augen verlieren!« Das Teufelchen wurde sichtbar. Es hockte auf dem Rand einer der offenen Kisten. »Du hast die Bibliothek entweiht!« klagte Cadderly ihn an. Druzil zischte nur. »Hier ist kein Platz für dich, dummer Priester. Dein Gott ist verschwunden.« Zur Antwort stieß Cadderly sein heiliges Symbol nach vorn, und einen Augenblick lang flammte das Licht auf und traf Druzil in seine empfindlichen Augen. Die beiden hatten schon mehrmals gegeneinander gekämpft, und jedes Mal hatte Cadderly sich als stärker erwiesen. So würde es wieder sein, beschloß der junge Priester, aber diesmal würde Druzil, dieses überaus bösartige Teufelchen, seinem Zorn nicht entkommen. Cadderly zog das Amulett heraus, die Verbindung zwischen ihm und dem Teufelchen, und schickte eine telepathische Welle auf Druzil zu, die laut den Namen von Deneir rief. Das Bild verfestigte sich in den Gedanken der beiden Gegner als glitzernder Lichtball, der von Cadderly aus auf Druzil zutrieb. Druzil antwortete mit den disharmonischen Namen aller Bewohner der Unteren Ebenen, die ihm einfielen, um eine Kugel aus Finsternis zu formen, die herantrieb und das
Licht von Cadderlys Gott umschließen sollte. Zwei Willen rangen auf halbem Wege zwischen den Widersachern. Zuerst schien Druzils Schwärze stärker, aber dann begannen Lichtfunken durchzublitzen. Plötzlich zersprang die schwarze Wolke, und die blitzende Kugel überrollte das Teufelchen. Druzil kreischte vor Qual, denn sein Geist wurde nahezu in Stücke gerissen. Halb wahnsinnig floh er, um sich einen dunklen Ort zu suchen, einen Platz weit fort von der schrecklichen, unverhüllten Macht Cadderlys. Cadderly dachte daran, ihn zu verfolgen, um diesen Unruhestifter ein für allemal loszuwerden, aber dann klappte der Deckel des Sarges auf, und eine tiefere Dunkelheit stieg heraus. Kierkan Rufo setzte sich auf und starrte Cadderly an. So hatte es sein sollen, das wußten beide. Hinter Cadderly waren Ivan und Pikel immer noch dabei, ein Gemetzel unter Rufos untoten Untertanen anzurichten, aber das bemerkten weder der junge Priester noch Rufo. Cadderlys Gedanken richteten sich nur nach vorn, nur auf das Ungeheuer, das ihm Danica genommen hatte. »Du hast sie umgebracht«, sagte Cadderly nur, mußte sich jedoch ungemein anstrengen, damit seine Stimme nicht zitterte. »Sie hat sich selbst umgebracht«, gab Rufo zurück, der sofort wußte, von wem Cadderly sprach. »Du hast sie umgebracht!« »Nein!« hielt Rufo dagegen. »Du hast sie umgebracht! Du, Cadderly, du blöder Priester, mit deinen Ideen von Liebe!« Cadderly wich etwas zurück, während er versuchte, Rufos unverständliche Worte zu begreifen. Danica war aus eigenem Antrieb gestorben? Sie hatte ihr Leben aufgegeben,
um Rufo zu entkommen, weil sie Rufo nicht lieben und sein Angebot nicht annehmen konnte? Tränen traten ihm in die Augen. Bittersüß war das, eine Mischung aus Schmerz über den Verlust und Stolz auf Danicas Stärke. Rufo kam aus dem Sarg. Lautlos schien er auf Cadderly zuzugleiten. Aber der Raum war ganz und gar nicht still. Selbst Ivan war von den knirschenden Geräuschen abgestoßen, die die Zombies machten, wenn er auf sie einhackte, oder wenn Pikel sie durch den Keller schleuderte. Ihnen boten sich immer weniger Ziele. Cadderly hörte es nicht; Rufo hörte es nicht. Cadderly hielt sein heiliges Symbol hoch, und prompt schloß der Vampir seine Hand darum. Ihr Kampf fand in diesem kleinen Emblem seinen Höhepunkt, Rufos Dunkelheit gegen Cadderlys Licht, der Glaube des jungen Priesters gegen die fleischgewordene Perversion. Beißender Rauch drang zwischen Rufos knochigen Fingern hervor, aber ob es das Fleisch des Vampirs war, oder ob Cadderlys Symbol, schmolz, konnte keiner sagen. So verharrten sie sekundenlang, dann minutenlang. Beide zitterten, doch keiner hatte die Kraft, seinen anderen Arm zu erheben. Als die Zeit weiter verstrich und Cadderly sich in höhere Bereiche der Macht zwang, indem er sich an Danica erinnerte und an alles, was ihm geraubt worden war, und als Rufo ihm jedesmal gewachsen war, begann der junge Priester die Wahrheit zu begreifen. Hier war Rufos Platz. Trotz all seiner Wut und all seiner Macht konnte er gegen den Vampir nicht bestehen, nicht hier.
Cadderly verzog das Gesicht. Er wollte nicht hinnehmen, was er als wahr erkannt hatte. Er drängte weiter, und Rufo war ihm ebenbürtig. Sein Kopf tat so weh, daß Cadderly glaubte, er würde zerspringen, doch er ließ nicht vom Lied des Deneir ab. Verzweiflung, schwarzer Mißklang, fand Eingang in die Töne der Melodie. Chaos. Cadderly sah roten Rauch aus dem kristallklaren Fluß aufsteigen. Die Noten begannen auseinanderzubrechen. Ivan traf Rufo mit seiner Axt und seinem zustoßenden Helm zugleich in die Seite. Keine der beiden Waffen konnte den Vampir wirklich verletzen, aber die Ablenkung kostete Rufo den Augenblick seines Sieges und gab Cadderly die Möglichkeit, den Zweikampf abzubrechen, den er nicht gewinnen konnte. Mit raubtierhaftem Fauchen schleuderte Rufo den Zwerg weg, so daß Ivan Hals über Kopf gegen das nächste Weinregal stieß, wo er zwischen Glasscherben und Holzsplittern landete. Cadderly schlug mit seinem Wanderstab zu und traf den Vampir am Oberarm. Pikel kam als nächster. Er drückte fest auf seinen Wasserschlauch, um die letzten Tropfen nach vorn zu spritzen. Rufo kümmerte sich nicht um den lächerlichen Angriff, und Pikel erfuhr zu seinem Entsetzen, daß der Zauber auf seiner Keule abgelaufen war. Er traf den Vampir mit voller Wucht, aber Rufo zuckte nicht einmal. »Ooooooh«, jammerte Pikel, als er dem Flug seines Bruders in das eingestürzte Regal folgte. Ivan hielt mit großen Augen eine nicht zerbrochene Flasche, die er nervös anstarrte.
Cadderly traf den Vampir abermals, diesmal hart gegen die Brust, und Rufo verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Ich habe dich«, verkündete der Vampir, ohne zurückzuweichen, und Cadderly konnte nichts dagegen sagen. Der junge Priester wurde jetzt richtig wild und schlug mit seiner verzauberten Waffe drauflos. Rufo zeigte sich ihm gewachsen. Bald war der Vampir mit seinen starken Fäusten im Vorteil. An diesem entweihten Ort, in dieser finsteren Höhle, war Rufo einfach zu stark. Irgendwie gelang es Cadderly, den Kampf abzubrechen und einen Schritt zurückzuweichen, aber Rufo setzte ihm selbstsicher nach. »Cadderly!« brüllte Ivan, und sowohl Cadderly als auch Rufo blickten zur Seite, wo sie ein seltsames Geschoß auf den Vampir zufliegen sahen. Rufo riß instinktiv den Arm hoch, um es abzuwehren, schien aber unbesorgt. Cadderly, der das Geschoß als das erkannte, was es war, paßte seinen Schlag perfekt ab und traf die Flasche genau in dem Moment, als sie gegen Rufos Arm prallte. Das Wuchtöl explodierte mit gewaltiger Kraft. Es schleuderte Rufo gegen die rückwärtige Wand und Cadderly rücklings zu Boden. Der junge Priester setzte sich sofort auf und betrachtete den gesplitterten Griff seines ruinierten Wanderstabs. Dann sah er Kierkan Rufo an. Der Vampir lehnte schwerfällig an der hinteren Wand. Sein Arm hing nur noch an einem einzigen Hautstreifen; seine Augen waren vor Schreck und Schmerz weit aufgerissen. Cadderly kam knurrend näher und drehte das verbliebene Stück seiner Waffe so, als wollte er damit zustoßen.
»Ich werde dich finden!« drohte Rufo. »Ich werde heilen, und ich werde dich finden!« Ein geisterhaftes grünes Licht umrahmte die Gestalt des Vampirs. Cadderly schrie auf und stürmte los, prallte jedoch nur gegen die Wand, weil Rufo sich in eine Rauchwolke auflöste. »Nein, das wirst du nicht tun!« fluchte Ivan, der sich von dem Bretterhaufen erhob und den kastenartigen Gegenstand vom Rücken zog. »Ei, ei!« stimmte Pikel zu, während er neben seinen Bruder sprang und einen der Griffe packte. Sie rannten in den grünen Nebel und zogen heftig an den Griffen des Blasebalgs, den sie aus der Schmiede mitgenommen hatten. In seinem gasförmigen Zustand konnte Rufo diesem Sog nicht widerstehen, und der Nebel verschwand im Blasebalg. »Ooooooh!« quietschte Pikel und drückte seinen fetten Daumen auf die Öffnung. »Raus mit ihm!« brüllte der aufgeregte Ivan, und schon rannten die Zwerge mit einem einstimmigen »Ooooooh!« auf die Treppe zu. Cadderly mußte sich anstrengen, um mithalten und ihnen mit seinem Licht den Weg zeigen zu können. Er sah seinen verlorenen Zauberstab, hatte aber keine Zeit, ihn aufzuheben.
Die letzte Prüfung
Er kommt zurück!« schrie Ivan. Der Blasebalg beulte sich bedenklich aus, als Rufo wieder Gestalt annahm und der Rauch sich verfestigte. »Oooooooh!« heulte Pikel, der durch die Gänge hetzte. Die Eingangshalle war schon in Sicht. Cadderly erreichte sie als erster und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Barrikade, die dort aufgebaut war, um die Öffnung zu versperren. Als Ivan und Pikel dann heranstürmten, stießen sie alles - einschließlich Cadderly - um. Der junge Priester schüttelte den Kopf über die erstaunliche Kraft wildgewordener Zwerge, aber auch um den Schwindel zu vertreiben, dann hob er seinen Stab auf und folgte ihnen. Die Zwerge jagten ins Sonnenlicht hinaus. Pikels Finger lag nicht mehr über der punktförmigen Öffnung des Blasebalgs, aber das spielte keine Rolle, denn Rufo war nicht mehr gasförmig. Das Leder beulte sich aus und zerriß, als eine Klauenhand sich den Weg ins Freie bahnte. Die Zwerge rannten weiter, schleppten ihre Last mit, um Rufo so weit wie möglich von der düsteren Bibliothek, seiner Kraftquelle, zu entfernen. Sie fegten unter den Schatten der Bäume hindurch auf ein freies, sonniges Feld. Rufo brach heraus und klammerte sich am Boden fest. Beide Zwerge kippten kopfüber nach vorn und fanden sich im Sitzen wieder. Jeder von ihnen hielt einen abgebrochenen Griff. Mit einiger Mühe richtete sich der Vampir gerade auf, verfluchte die Sonne und schirmte seine Augen vor dem blendenden Licht ab. Cadderly stand vor Kierkan Rufo und
präsentierte ihm inbrünstig sein heiliges Symbol. Nachdem der junge Priester das entweihte Gebäude verlassen hatte, spürte er seinen Gott wieder deutlich. Auch Rufo fühlte Deneirs Macht, denn Cadderlys Worte hallten schmerzhaft in seinem Kopf nach. Rufo wollte in die Bibliothek fliehen, aber Cadderly tänzelte herum, um ihn daran zu hindern und ihm mit seinem glühenden heiligen Symbol den Weg zu versperren, »Du kannst nicht entkommen«, sagte der junge Priester fest. »Du hast deine Wahl getroffen, und es war die falsche!« »Was weißt du schon?« sagte der Vampir verächtlich. Hochaufgerichtet trotzte Rufo der Sonne, aber auch Cadderly und seinem Gott. Er fühlte den tumultartigen Wirbel des Chaosfluchs in sich, von Tuanta Quiro Miancay, dem Allertödlichsten Schrecken. Es war ein Gebräu aus dem Abgrund, aus den allertiefsten Ebenen. Selbst im Sonnenlicht und so mitgenommen, wie er nach diesem Kampf war, mit dem Arm, der grotesk an seiner Seite hing, war Rufo noch stark. Das konnte Cadderly sehen und spüren. »Ich trotze dir«, sagte die Verkörperung von Tuanta Quiro Miancay schlicht. Die Worte durchdrangen Cadderlys Gedanken, warfen Dämme auf, blockierten den Fluß des göttlichen Liedes. Rufo hatte zu Deneir gesprochen, erkannte Cadderly, nicht zu ihm. Rufo hatte behauptet, seine Wahl sei nicht falsch gewesen und seine Macht real und faßbar - und diese Behauptung hatte er gegenüber Deneir aufgestellt, gegen einen Gott! »Sie halten uns klein, Cadderly«, fuhr der Vampir fort, dessen ruhige Stimme Stärke und Trotz verriet. »Sie behalten ihre Geheimnisse für sich, überdecken sie mit
Blumen und Sonnenschein, armseligem Schmuckwerk, damit wir zufrieden sind und sie die Wahrheit dahinter verbergen können.« Als Cadderly den Vampir jetzt ansah, der hochaufgerichtet und gerader dastand, als Kierkan Rufo zu Lebzeiten je gestanden hatte, hätte er beinahe geglaubt, daß Rufo Wahrheit gefunden hatte. Es kam ihm so vor, als hätte sich eine schützende Hülle um Rufo gebildet, eine dunkle Schale, die das brennende Sonnenlicht abwehrte. Wie stark er geworden war! Der Vampir fuhr fort, und Cadderly schloß die Augen. Sein Arm mit dem heiligen Symbol sackte unweigerlich herunter. Der junge Priester erkannte die Worte nicht mehr, spürte nur tief in seiner Seele das Summen, die verführerischen Schwingungen. »Und?« kam eine direkte, schroffe Frage. Cadderly schlug die Augen auf und erblickte Ivan und Pikel, die Seite an Seite im Gras saßen, immer noch die abgebrochenen Griffe hielten und den Zweikampf beobachteten. Ja, und? dachte der junge Priester. Er sah seinem Gegner direkt in die dunklen Augen. »Ich trotze Deneir«, sagte Rufo ruhig. »Du triffst die falsche Wahl«, erwiderte Cadderly. Rufo wollte eine Entgegnung zischen, aber Cadderly ließ die Worte im Hals des Vampirs gefrieren, indem er wieder das Symbol hob, das offene Auge über der erleuchteten Kerze. Das Sonnenlicht fügte dem Emblem neue Funken hinzu und verstärkte seine ruhmreiche Kraft. Angesichts dieses entlarvenden Glanzes schmolz Rufos dunkle Hülle weg, und plötzlich wirkte der Vampir nicht mehr so mächtig, sondern eher mitleiderregend, ein gefallener Mensch, ein Mensch, der den falschen Weg gewählt hatte und in tiefste Verzweiflung hinabgesunken
war. Rufo zischte und schlug die Klauen in die Luft. Er griff nach dem heiligen Symbol, um es zu umschließen, wie er es drinnen getan hatte, aber diesmal ging das Fleisch seiner knochigen Hand in Flammen auf und brannte ab. Nur weiße Knochen blieben zurück. Rufo heulte vor Qual. Er wandte sich zur Bibliothek hin, aber Cadderly richtete das glühende Symbol weiter auf sein Gesicht. Und der junge Priester begann, die Melodien seines Gottes zu singen, eines Liedes, dem Kierkan Rufo nichts entgegenhalten konnte. Innerhalb der Bibliothek war Rufo im Vorteil gewesen, aber hier draußen im Tageslicht erklang Deneirs Lied lautstark in Cadderly, und der junge Priester öffnete sich als reine Bahn für die Wahrheit seines Gottes. Dem Licht dieser Wahrheit konnte Rufo nichts entgegensetzen. »Ooh«, murmelten Pikel und Ivan gemeinsam, als Rufo wieder zu Boden fiel. Cadderly drückte ihn nach unten, indem er inbrünstig weitersang. Rufo rollte herum, krallte sich wie ein verzweifeltes Tier in die Erde, um davonzu kommen, aber Cadderly war immer noch vor ihm, trieb ihn in die Enge, zwang ihn, die Wahrheit zu sehen. Schreckliches Wehgeschrei entrang sich der Kehle des Vampirs. Irgendwie gelang es Rufo, wieder auf die Beine zu kommen und das leuchtende heilige Symbol in einem letzten, verzweifelten Akt des Trotzes anzustarren. Seine Augen wurden weiß, dann fielen sie in seinen Schädel zurück, und aus den schwarzen Öffnungen drang der rote Nebel des Chaosfluchs. Rufo riß den Mund zum Schrei auf, doch auch dort quoll nur roter Nebel heraus, der ins Freie getrieben wurde, wo er sich verteilen und keinen Schmerz mehr verursachen würde.
Als Rufo zusammenbrach, war er nur noch eine hohle, rauchende Hülle, eine leere Schale und eine verlorene Seele. Auch Cadderly brach vor Anstrengung und unter dem Gewicht der Realität, das sich nun auf ihn senkte, fast zusammen. Über die Schulter schaute er zur Bibliothek zurück. Er dachte an all das, was verloren war, was der Orden verloren hatte, seine verlorenen Freunde, Dorigen. Und du, Danica. Ivan und Pikel waren sofort neben ihm, denn sie wußten, daß er ihre Unterstützung brauchen würde. »Sie hat recht daran getan, den Tod zu wählen«, bemerkte Ivan, der verstand, daß die Tränen in Cadderlys grauen Augen vor allem Danica galten. »Besser. als sich mit dem da einzulassen«, fügte der breitschultrige Zwerg mit einer Geste auf die leere Hülle hinzu. »... den Tod zu wählen«, wiederholte Cadderly, denn diese Worte hatten in ihm eine seltsame Saite angeschlagen. Sie hatte sich selbst umgebracht, hatte Rufo gesagt. Danica hatte willentlich den Tod gewählt. Aber warum hatte Rufo sie nicht wiederbelebt, wie so viele andere? Und warum hatte Cadderly bei seiner Reise ins jenseits weder Danicas Geist noch irgendeine Spur von ihr finden können? »Ach du lieber Deneir«, flüsterte der junge Priester, und ohne ein Wort der Erklärung rannte Cadderly auf die Nordwestecke der Bibliothek zu. Die Zwerge sahen einander an, zuckten die Schultern und setzten ihm nach. Cadderly rannte wie verrückt, brach durch Wurzelwerk und Büsche und bahnte sich einen Weg zur Rückseite des Gebäudes. Die Zwerge, die besser durchkamen als der große Mensch, hätten ihn beinahe eingeholt, aber als
Cadderly auf das offene Gelände zwischen der Bibliothek und dem Mausoleum gelangte, ließ er die Brüder weit hinter sich. Mit voller Wucht warf er sich gegen die Tür zum Mausoleum, ohne überhaupt auf den Gedanken zu kommen, daß Shayleigh und Belago vielleicht einen Weg gefunden hatten, sie abzuschließen oder zu verriegeln. Sie gab nach und Cadderly fiel hinein, landete so hart auf dem Boden, daß er sich die Ellenbogen aufschürfte. Er ignorierte diese kleinen Wunden, denn als er nach links schaute, zu der Steinbahre, auf die die beiden Danica gelegt hatten, sah er, wie die »Leiche« sich unter dem Tuch zum Sitzen aufrichtete. Er sah auch, daß Shayleigh, neben der der entsetzte Belago stand, auf dem Fußende der Bahre hockte und ihr Kurzschwert zückte, um es Danica ins Herz zu stoßen. »Nein!« schrie Cadderly. »Nicht!« Shayleigh warf ihm einen Blick zu und fragte sich in diesem Augenblick, ob auch Cadderly der Dunkelheit anheimgefallen war, ob er als Untoter kam, um seine Geliebte zu retten. »Sie lebt!« schrie der junge Priester, der mit ausgestreckten Armen auf die Bahre zurannte. Dann brachen Ivan und Pikel herein, immer noch vollkommen verwirrt. »Sie lebt!« wiederholte Cadderly, und Shayleigh entspan nte sich ein wenig, als er an der Bahre ankam, das Leichentuch von der schönen Danica wegzog und seine Liebste so fest wie nie zuvor in die Arme schloß. Danica erwiderte die Umarmung. »Was ist mit Rufo?« fragte die Elfenfrau die Zwerge. »Hihihi«, erwiderte Pikel, während sowohl er als auch Ivan sich mit dem Finger quer über den Hals fuhren.
Beruhigt ließen die vier Cadderly und Danica allein und warteten draußen im Frühlingslicht, das heller, wärmer und lebendiger wirkte als je zuvor. Einige Minuten später folgten Cadderly und Danica ihnen. Der junge Priester stützte die verletzte Frau. Cadderly hatte bereits Heilsprüche aufgerufen, um ihr zu helfen, besonders ihrem zerschmetterten Knöchel, aber die Wunde hatte sich entzündet, und selbst mit Cadderlys Hilfe würde es eine Weile dauern, ehe das Bein Danicas Gewicht tragen konnte. »Ich fasse es nicht«, meinte Ivan stellvertretend für alle. »Totenstarre«, antwortete Cadderly für Danica. »Eine Art Tod, die kein Tod ist. Es ist die höchste Weihe in den Lehren von Großmeister Penpahg D'Ahn.« »Du kannst dich umbringen und wieder zurückkommen?« rief Ivan. Danica schüttelte den Kopf und lächelte, wie sie wohl nie wieder lächeln würde. »Bei der Totenstarre stirbt man nicht«, erklärte sie. »Ich habe meinen Herzschlag und meinen Atem verlangsamt, selbst den Blutfluß in meinen Adern verlangsamt, bis jeder, der meinen Körper ansah, glaubte, daß ich tot war.« »So bist du Kierkan Rufos Gier entgangen«, überlegte Shayleigh. »Und ich habe es auch nicht gemerkt«, fügte Cadderly hinzu. »Darum konnte ich sie nicht finden, als ich die Geisterwelt betrat.« Er sah Danica an und lächelte reumütig. »Ich habe am falschen Ort gesucht.« »Fast hätte ich dich getötet«, sagte Shayleigh. Fassungslos über diese Erkenntnis glitt ihre Hand an das Heft ihres Schwerts. »Pah!« schnaubte Ivan. »Wäre ja nicht das erste Mal!« Da lachten alle, die Freunde, die überlebt hatten. Einen
Augenblick lang vergaßen sie den Verlust der Bibliothek, den Verlust von Dorigen und den Verlust ihrer eigenen Unschuld. Und am lautesten erklang Pikels »Hihihi«.
Am nächsten Tag führte Cadderly sie in die Bibliothek zurück, um zu überprüfen, ob noch irgendwelche niederen Vampire in dunklen Löchern übrig waren, und um alle Zombies zur Ruhe zu legen, die sie fanden. Als sie am späten Nachmittag nach draußen kamen, waren die Freunde sicher, daß die beiden Obergeschosse von Feinden gesäubert waren. Am nächsten Morgen leitete Cadderly seine Freunde dazu an, die größten Kostbarkeiten aus dem Gebäude zu holen, die unersetzlichen Kunstwerke und die alten Manuskripte. Danica stellte zu ihrer Begeisterung fest, daß alle Notizen von Penpahg D'Ahn das Chaos über standen hatten. Noch beglückter war die junge Frau - und mit ihr alle anderen -, als sie in der Finsternis einen einzigen Zufluchtsort fanden, einen einzigen Lichtfleck, der irgendwie gegen den Einfluß von Kierkan Rufo ausgehalten hatte. Bruder Chaunticleer hatte seine Melodien zum Schutz gegen das Böse eingesetzt, und sein Raum war nicht entweiht worden. Halbverhungert und weißhaarig von dem Schrecken, dem er ausgesetzt gewesen war, fiel er Cadderly mit Freudentränen in die Arme und kniete über eine Stunde betend auf der Erde, nachdem die Freunde ihn hinaus begleitet hatten. Später an diesem Tag trafen vier Dutzend Soldaten aus Carradoon ein, wo man von dem Angriff auf die Händlerkarawane gehört hatte. Cadderly ließ diese Gruppe gleich an die Arbeit gehen (bis auf eine Handvoll Boten, die
er mit Nachrichten von dem Vorgefallenen und Warnungen, vor ungewöhnlichen Vorfällen auf der Hut zu sein, in die Stadt zurückschickte), und bald war alles Wertvolle aus der Bibliothek entfernt. Ihr Lager befand sich auf der Wiese östlich der Bibliothek, am hinteren Ende des Feldes, näher an den Wildpfaden als an den offenen Türen. Das war zu nah, erklärte ihnen Cadderly, deshalb brachen sie ihre Zelte ab, packten alle Vorräte ein und zogen sich weiter zurück. »Was soll das alles?« fragte Danica den jungen Priester, als die Soldaten das neue Lager aufschlugen. Seit dem Tod von Kierkan Rufo war eine Woche vergangen, eine Woche, während der der junge Priester seine Kraft zusammen gehalten und den Worten Deneirs gelauscht hatte. »Das Gebäude ist entweiht«, erwiderte Cadderly. »Weder Deneir noch Oghma werden es jemals wieder betreten.« »Du willst es verlassen?« fragte Danica. »Ich will es zerstören«, erwiderte Cadderly finster. Danica wollte fragen, was Cadderly damit meinte, aber der ging an ihr vorbei auf das Feld zurück, bevor sie so recht wußte, wo sie ansetzen sollte. Die junge Frau wartete eine Weile, ehe sie ihm folgte. Sie erinnerte sich an die Szene vor Burg Trinitatis, Aballisters Hochburg des Bösen, nach dem Fall des Zauberers. Cadderly hatte auch diese dunkle Festung zerstören wollen, hatte aber seine Meinung geändert oder gemerkt, daß er nicht die Kraft für eine solche Aufgabe hatte. Was also dachte er sich jetzt? Die schwarzen Wolken, die sich über der Klippe im Norden der Erhebenden Bibliothek sammelten, kündigten allen im Lager an, daß etwas Dramatisches bevorstand. Die Soldaten wollten ihre Zelte sichern und die Vorräte sicher verpacken, denn sie fürchteten sich vor dem Sturm, aber
Ivan, Pikel, Shayleigh und Belago verstanden, daß dieser Zorn gut gelenkt war, und Bruder Chaunticleer verstand es vielleicht am besten von allen. Die Gruppe sah Danica mehrere Fuß hinter Cadderly vor dem gedrungenen Steingebäude auf dem Rasen stehen. Da keiner diese offensichtlich wichtigen Vorgänge stören wollte, sammelten sich die Freunde um die Adeptin. Einzig Chaunticleer wagte es, sich dem jungen Priester zu nähern. Er sah Cadderly an und schenkte den anderen ein wissen des, beruhigendes Lächeln. Und obwohl er nicht an dem teilhatte, was mit Cadderly geschah, begann er zu singen. Cadderly stand hochaufgerichtet da und reckte die Arme gen Himmel. Auch er sang aus voller Kraft, aber durch das Brüllen des Windes und den Donner aus den schwarzen Wolken, die jetzt über die Klippe drangen und auf das entweihte Gebäude zuhielten, war seine Stimme kaum zu hören. Ein sengender Blitzschlag traf das Dach der Bibliothek. Ein zweiter folgte, dann brach der Wind hinein, der erst Schindeln, dann Dachbalken nach Süden über den Berghang riß. Weitere Blitze verursachten mehrere kleine Brände. Die Wolken kamen tiefer, schienen zu verharren und Kraft zu sammeln, bis ein gewaltiger Windstoß den Rand des Daches anhob und es auseinanderriß. Cadderly schrie lauthals auf. Er war ein direkter Leiter für die Kraft seines Gottes. Deneir sandte seine ganze Wut durch den jungen Priester, mehr Blitze, mehr Wind. Das Dach war verschwunden. Eine einsame Gestalt - es sah aus, als wäre einer der Wasserspeier an den Regenrinnen zum Leben erwacht hockte am Rand des Gebäudes, schrie Cadderly Flüche zu
und rief seine eigenen Götter an, die Bewohner der Unteren Ebenen. Aber hier war Cadderly der Stärkere und Deneir bei weitem der Stärkste. Ein sengender Lichtblitz traf das Dach direkt neben Druzil, ließ ein gewaltiges Feuer auflodern und warf das Teufelchen zur Seite. »Bene tellemara«, krächzte Druzil, der sich auf die Flammen zuschob, weil er erkannte, daß seine Zeit auf dieser Ebene abgelaufen war. Er mußte gehen, sonst würde man ihn vernichten. Er schaffte es zu den Flammen, obwohl überall um ihn herum Blitze einschlugen, und murmelte einen Spruch. Dann warf er einen Beutel Pulver, das er in dem verlassenen Alchemistenladen in der Bibliothek zusammen gemischt hatte, ins Feuer. Die Flammen stiegen tanzend auf, erst blau, dann weiß vor Hitze, und nach einem letzten Fluch in Cadderlys Richtung trat Druzil hinein und war verschwunden. Die Wut des Sturms wurde stärker. Blitz auf Blitz traf die Steinmauern und ließ sie bröckeln. Die Wolken zogen sich zu einem langgestreckten Wirbel zusammen. Es schien, als griffe ein göttlicher Finger nach dem entweihten Gebäude. Cadderly schrie auf, als litte er Schmerzen, aber Danica und die anderen widerstanden dem Drang, zu ihm zu laufen, denn sie fürchteten die Folgen, wenn sie unterbrachen, womit er begonnen hatte. Der Sturm brach mit voller Kraft herein, und die Erde selbst erwachte zum Leben. Beben erschütterten die Fundamente der Bibliothek. Die Nordwand brach als erste ein, und nachdem sie fort war, stürzten auch die Vorderseite und die Rückseite ein. Noch immer zuckten die Blitze, und der Tornado griff nach Geröllstücken, die er in
die Luft hob und wie Abfall weit über den Hang hinaus warf. So ging es ungezügelt viele Minuten lang weiter, bis die Soldaten fürchteten, die Berge selbst würden einstürzen. Cadderlys Freunde wußten es jedoch besser. Sie sahen eine begnadete Entschlossenheit in Cadderly, die alles überstieg, was sie je erlebt hatten. Sie wußten, daß der junge Priester ganz bei Deneir war, und daß Cadderlys Gott weder ihm noch ihnen schaden würde. Dann war es plötzlich vorbei. Die Wolken brachen auseinander, so daß Sonnenstrahlen hindurchfielen. Einer traf Cadderly und umgab seine Gestalt mit silbernem Glanz, so daß es aussah, als wäre er mehr als ein Mensch, mehr als ein Priester. Danica näherte sich ihm vorsichtig. Shayleigh und die Zwerge waren direkt hinter ihr. »Cadderly?« flüsterte sie. Falls er sie hörte, zeigte er es nicht. »Cadderly?« fragte sie lauter. Sie rüttelte ihn. Noch immer gab er keine Antwort. Danica glaubte zu verstehen. Sie konnte die Gefühle begreifen, die ihren geliebten Freund jetzt erfüllen mußten, denn er hatte gerade die einzige Heimat zerstört, die er je besessen hatte. »Ooh«, murmelten Pikel und Ivan und sogar Shayleigh einträchtig. Aber ihr Mitleid war fehl am Platz, denn Cadderly verspürte kein Bedauern. Er war noch immer bei seinem Gott und hatte nun eine neue Vision, die Vision, die ihn seit vielen Jahren in seinen Träumen verfolgt hatte. Ohne ein Wort der Erklärung ging er - mit seinen Freunden im Schlepptau - auf den verwüsteten, von Geröll übersäten Bereich zu. Danica rief ihn weiter an, schüttelte ihn, aber er konnte sie nicht hören.
Die Vision war allumfassend. Der junge Priester erinnerte sich an das extradimensionale Haus, das Aballister in Burg Trinitatis erschaffen hatte. Er erinnerte sich, wie er darüber gestaunt hatte, wie ähnlich die Eigenschaften von magisch geschaffenem Material waren. Eine bestimmte Stelle auf dem Boden, die flach und glatt und frei von Geröll war, zog ihn an. Dieser einzelne Fleck auf dem Boden wurde das einzige, was Cadderly außerhalb seines inneren Auges klar erkennen konnte. Er ging hin, denn er spürte Deneirs Macht so deutlich und wußte, was er zu tun hatte. Wieder begann er zu singen, doch die Melodie war ganz anders als die, mit der er die Erhebende Bibliothek eingerissen hatte. Diese Töne waren süß und schwellend, ein aufbauendes Lied, dessen Crescendo sehr weit entfernt zu liegen schien. Er sang minutenlang, dann eine halbe Stunde, dann eine Stunde. Die Soldaten hielten ihn für wahnsinnig. Bruder Chaunticleer schüttelte bloß den Kopf, denn er hatte keinen Einblick in das, was sein Mitbruder dort wohl tat. Danica wußte nicht, was sie tun, wie sie reagieren sollte, ob sie Cadderly aufhalten oder sich einfach zurückhalten sollte. Schließlich entschied sie sich dafür, ihrem Geliebten zu vertrauen, und sie wartete, als aus der einen Stunde zwei wurden. Lange Schatten breiteten sich von Westen her aus, und Cadderly fuhr weiter fort. Selbst Ivan und Pikel begannen sich zu fragen, ob der Sturm und das Erdbeben ihren Freund gebrochen und zu einem faselnden Narren gemacht hatten. Danica jedoch glaubte weiter an ihn. Sie würde warten, bis Cadderly fertig war - was auch immer er tat. Den ganzen nächsten Tag und notfalls darüber hinaus. Wie sich herausstellte, mußte Danica nicht die ganze
Nacht warten. Als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne den Westhorizont tiefrosa färbten, hob sich Cadderlys Stimme plötzlich. Bruder Chaunticleer und viele andere rannten zu ihm, weil sie glaubten, daß etwas Großartiges passieren würde. Sie wurden nicht enttäuscht. Es gab ein scharfes, zischendes Geräusch, ein Knistern, als ob der Himmel selbst auseinandergerissen würde ... Dann tauchte es vor Cadderly aus dem Boden auf, reckte sich wie ein unkontrolliert wachsender Baum in die Höhe. Es war ein Turm, eine kunstvolle steinerne Säule, ein luftiger Stützpfeiler. Immer höher wuchs er, reckte seine Spitze vor Cadderly und den erstaunten Zuschauern in die Luft. Erschöpft brach der junge Priester seinen Gesang ab, fiel zurück und wurde von seinen Freunden aufgefangen. Die Leute stellten unzählige, murmelnde Fragen, besonders aber eine: »Was hast du getan?« Danica stellte Cadderly genau diese Frage, als sie ihm genauer ins Gesicht schaute. Sie sah die Silberfäden, die plötzlich in seinem zerzausten braunen Haar aufgetaucht waren, die Fältchen rund um seine Augen, die vorher nicht dagewesen waren. Sie schaute zu dem Pfeiler zurück, einem winzigen Teil der Kathedrale, von der Cadderly oft geredet hatte, dann wieder zu ihrem Liebsten, der offenbar durch die Anstrengung gealtert war. Danica wurde unruhig, und dies um so mehr angesichts des friedlichen Ausdrucks, der sich über den müden und plötzlich nicht mehr so jungen Priester legte.
Epilog
Shayleigh war nach Shilmista gezogen und im Hochsommer zurückgekehrt, um mit anzusehen, welche Fortschritte Cadderlys Kathedrale machte. Sie hatte erwartet, daß dort praktisch eine ganze Heerschar hart arbeiten würde, und war erstaunt, wie wenig Leute sie tatsächlich vorfand - nur Cadderly und Danica, Vicero Belago und Bruder Chaunticleer, die Gebrüder Felsenschulter und eine Handvoll kräftiger Männer aus Carradoon. Doch der Bau war fortgeschritten, und Shayleigh erkannte, daß sie nichts anderes hätte erwarten sollen. Dieser Bau entstand durch Magie, nicht durch körperliche Arbeit, und es sah aus, als ob Cadderly wenig Hilfe brauchte. Große Bereiche waren jetzt frei von Geröll, was den Zwergen und den Männern aus Carradoon zu verdanken war, und drei der hohen Stützpfeiler standen in einer Reihe am Nordrand dessen, was die neue Bibliothek werden würde. Zwanzig Fuß weiter südlich davon hatte Cadderly mit dem Bau der Wand begonnen, einem scheinbar zarten Gebilde. Shayleigh schnappte nach Luft, als sie sah, woran der Priester jetzt arbeitete. Es war ein riesiges, bogenförmiges Fenster aus buntem Glas und schwarzem Eisen, das in die Mauer eingesetzt werden und freien Blick auf die auseinanderstehenden Pfeiler gewähren würde. Cadderly achtete auf jede Einzelheit, als er den Rohentwurf überarbeitete, formte die Eisenspitzen symmetrisch aus und stellte Muster aus verschieden gefärbten Glasstücken zusammen. Die Elfenfrau war Bewohnerin der Wälder, der unzähligen Schönheiten, die die Natur zu bieten hatte und die
Menschen nicht nachbilden konnten. Aber jetzt merkte Shayleigh, wie ihr Herz sich hob und ihr Geist emporstrebte, als ihre Phantasie sich die fertige Kathedrale ausmalte. Es waren zu viele Feinheiten, zu viele komplizierte Muster, als daß Shayleigh sie auch nur hätte würdigen können. Es war wie eine ausladende Ulme, dachte sie, und Cadderly setzte minutiös jedes einzelne Blatt und jeden Zweig an Ort und Stelle. Shayleigh fand Danica am Ostrand des Bibliotheksgelän des, wo sie konzentriert einen Stoß Pergament durchsah. Bruder Chaunticleer war ganz in der Nähe. Er sang zu seinem Gott und erbat Sprüche der Erhaltung und des Schutzes, während er über die Stapel von Kunstwerken und unschätzbaren Manuskripten wachte, die man aus der alten Bibliothek geborgen hatte. Belago war dicht neben ihm, untersuchte die Stapel und sang ebenfalls. Anscheinend hatte der drahtige Alchemist schließlich doch noch seinen Weg zu einer bestimmten Religion gefunden. Und wer konnte es ihm verdenken, dachte Shayleigh, die lächelte, als sie den Mann ansah. Angesichts der wundersamen Dinge, die Belago mit angesehen hatte, am herrlichsten darunter der Bau, der jeden Tag unmittelbar vor seinen Augen weiterging - wie sollte er da nicht seinen Weg zu Deneir finden? Danicas Miene heiterte sich auf, als sie sah, daß ihre Freundin zurück war. Sie begrüßten sich glücklich und umarmten sich, und die aufmerksame Shayleigh wußte sofort, daß Danicas Lächeln vieles verbarg, das nicht so lichtvoll war. »Das macht er den ganzen Tag«, meinte die junge Frau mit einem deutlichen Blick auf Bruder Chaunticleer, obwohl
Shayleigh verstand, daß sie eigentlich auf Cadderly anspielte. Um vorsichtig das Thema zu wechseln, sah Shayleigh die Pergamente an, die vor Danica auf dem Boden lagen. »Listen«, erklärte diese. »Listen von Männern und Frauen, die mich auf den Berg Nachtglut und zum Drachenschatz begleiten werden. Ich habe bereits Boten nach Shilmista gesandt.« »Ich bin ihnen unterwegs begegnet«, bemerkte Shayleigh. »Wahrscheinlich haben sie bereits mit König Elbereth gesprochen, obwohl ich vermute, daß sie meinem König nichts erzählen werden, das er nicht schon weiß.« »Sie werden S hilmista einladen, sich der Expedition anzuschließen«, sagte Danica. »Das war zu erwarten«, gab Shayleigh mit ruhigem Lächeln zurück. »Wir verstehen und schätzen die Freundschaft, die ihr zwei, du und Cadderly, uns angeboten habt.« Danica nickte, und trotz ihrer Entschlossenheit mußte sie automatisch zu ihrem Liebsten sehen, als sein Name fiel. Cadderly war immer noch voller Energie - strahlte vor Energie -, wenn er an seiner Vision arbeitete, aber er wirkte nicht mehr wie ein Mann Anfang Zwanzig. Trotz der Anstrengung war sein Körper etwas breiter geworden. Seine Muskeln waren dicker und immer noch stark, aber nicht mehr so hart und markant wie einst. »Das Bauen fordert seinen Tribut«, meinte Shayleigh. »Das Schöpfen«, stellte Danica richtig. Sie seufzte tief, was ihr die volle Aufmerksamkeit der Elfenfrau einbrachte. Es war eine Wahl«, setzte Danica an, »eine Wahl zwischen Deneir, diesem Weg, diesem Ziel, das Cadderly für sein Leben gefunden hat, und ... «
»Und Danica«, warf Shayleigh leise ein und legte der Freundin mitleidig eine Hand auf die Schulter. »Und Danica«, gab die Adeptin zu. »Eine Wahl zwischen der Berufung und dem Leben, daß Cadderly als Mann eigentlich wünschte.« Shayleigh starrte die Adeptin durchdringend an und begriff, daß Danica wirklich glaubte, was sie sagte. Die großherzige junge Frau verstand, daß Cadderly eine höhere Liebe gewählt hatte, eine Liebe, der keine Sterbliche je gleichkommen konnte. Es lag keine Eifersucht in ihrer Stimme, aber doch Traurigkeit, ein tiefer Schmerz. Die beiden saßen schweigend da und schauten Cadderly und den Zwergen zu. Ivan und Pikel hatten ein neues Gebiet abgesteckt und diskutierten anscheinend über den nächsten logistischen Schritt, um die schon erbauten Türme der Kathedrale zu stützen. »Er wird die Kathedrale vollenden«, sagte Danica. »Eine neue Erhebende Bibliothek.« »Nein«, erwiderte die Adeptin kopfschüttelnd und schlug ihre Mandelaugen auf, um Shayleigh anzusehen. »Cadderly hat dieser Name nie gefallen, weil er ihn für ein Haus des Gottes der Literatur und Kunst und des Gottes des Wissens nicht für passend hielt. >Kathedrale des Geistes< wird der Name sein, den er ihr gibt.« »Wie lange?« fragte Shayleigh. »Cadderly und die Zwerge haben die Pläne erstellt«, antwortete Danica, deren Stimme immer leiser wurde. »Fünf Jahre.« »Fünf Jahre«, wiederholte Shayleigh still. Und doch hatte Danica deutlich zu verstehen gegeben, daß Cadderly die Fertigstellung noch erleben würde. Nur fünf Jahre! »Die Arbeit zehrt an ihm«, meinte Shayleigh. »Es ist, als würde er
sein Selbst gegen das Material der Kathedrale eintauschen.« Genau, dachte Danica, hatte aber nicht die Kraft zu einer Entgegnung. Cadderly hatte das alles mit ihr besprochen, hatte ihr erzählt, daß dies sein Lebenszweck war. Diese Kathedrale würde Jahrtausende stehen, ein Tribut an den Gott, dem er diente. Er hatte ihr gesagt, was der Preis dafür sein würde, und sie hatten gemeinsam um das Leben geweint, das sie nicht teilen würden. Bald darauf hatte Danica sich fest auf die Unterlippe gebissen und tapfer gesagt, daß die Kathedrale des Geistes auch ein Tribut an Cadderly sei, den Priester, der so viel geopfert hatte. Cadderly wollte nichts davon hören. Die Kathedrale war nur für die Götter, und daß es ihm gestattet war, sie zu erbauen, war eine Gnade, kein Opfer. »Er hofft, lange genug zu leben, um noch einen Gottesdienst in der neuen Kathedrale zelebrieren zu können«, flüsterte Danica. Shayleigh fuhr Danica mit der Hand über die Schulter und ging dann, weil es ihr die Sprache verschlagen hatte, zu Bruder Chaunticleer und Vicero Belago hinüber. Sie konnte das Opfer des jungen Priesters kaum fassen. Menschen lebten ohnehin so kurze Zeit, aber daß jemand womöglich drei Viertel dieser Spanne hingab, war für die langlebige Elfenfrau unvorstellbar. Danica sah Shayleigh ein paar Schritte nach, dann kehrte ihr Blick unweigerlich zu Cadderly zurück, dem Mann, den sie liebte - den sie um so mehr liebte, weil er so entschlossen dem Pfad folgte, den sein Gott ihm gezeigt hatte. Und doch stellte sie fest, daß sie Cadderly auch haßte. Sie haßte es, daß sie diesem Mann je begegnet war und ihm ihr Herz geschenkt hatte. Wenn er fort war und sie noch jung, wie würde sie je einen anderen lieben können?
Nein, beschloß sie und schüttelte gegen den peinigenden Schmerz den Kopf. Wenigstens würde sie Cadderly gekannt, ihn geliebt haben. Dieser Gedanke ließ Danicas Hand zärtlich über ihren Bauch streichen. Sie hoffte, schwanger zu werden, denn sie wollte Cadderly ein anderes Erbe schenken, ein lebendes, atmendes Erbe. Als Danica ihrem Geliebten weiter zuschaute, war ihr Lächeln bittersüß. Sie fragte sich, ob ihre Augen je wieder frei von Tränen sein würden.