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Spanische Kommandos hallten über die Bucht. Dazwischen ertönte eine kreischende, krächze...
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Seewölfe 111 1
Kelly Kevin 1.
Spanische Kommandos hallten über die Bucht. Dazwischen ertönte eine kreischende, krächzende Stimme: „Ihr Rübenschweine! Ihr Affenärsche! Der Teufel soll euch lotweise holen!“ Die Spanier auf der „Maria Mercedes“ verstanden das Gekrächze nicht. Und Philip Hasard Killigrew, den sie den Seewolf nannten, konnte im Augenblick nicht einmal den Papagei Sir John komisch finden. Es gab überhaupt nichts, was Hasard in diesen Sekunden komisch gefunden hätte. Hilflos stand er am Strand der geheimnisvollen „Insel der Steinernen Riesen“ und mußte in ohnmächtiger Wut mit ansehen, wie am Ausgang der Bucht das letzte Boot an Bord der „Maria Mercedes“ gehievt wurde. Ein Boot, in dem fünf bewußtlose Männer lagen. Männer des Seewolfs! Den kleinen Schiffsjungen Bill hatte es erwischt, Dan O’Flynn, Ben Brighton, Matt Davies und Ed Carberry, den Profos. Vergeblich hatten die Seewölfe versucht, die schöne polynesische Häuptlingstochter Luana zu retten. Vor ihren Augen hatten die Spanier das Mädchen entführt und auch noch die Männer verschleppt, die versucht hatten, eins der Boote zu erobern, um die Entführer noch einzuholen. Nur Batuti, der riesenhafte Schwarze aus Gambia, war bewußtlos am Strand liegengeblieben. Jetzt stand er breitbeinig da, fletschte sein schneeweißes Raubtiergebiß und schüttelte die Fäuste. „Verfluchtes spanisches Hunde!“ schrie er in seinem holprigen Englisch. „Batuti fressen alle Dons auf, wenn Bill oder kleines O’Flynn ein Haar krümmen! Batuti machen Dons Kopf kürzer, machen Hackfleisch aus Dons, spanisches Picadillo! Hört ihr’s, verfluchte Hunde? Picadillo! Picadillo!“ Seine Stimme trug weit über das Wasser, dazu rollte er furchterregend mit den Augen. Die Spanier konnte das nicht erschüttern. Sie waren zu weit entfernt, um
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den hünenhaften Neger genauer zu sehen. Sie wußten nur zu gut, daß die Seewölfe kein Boot zur Verfügung hatten und die Insel überqueren mußten, um zu ihrer „Isabella“ zu gelangen. Carlos Ingarra, der spanische Meuterer, stand hoch aufgerichtet an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Vor kurzem noch war er nichts weiter als ein ziemlich schlechter Steuermann gewesen. Dann hatten er und sein jüngerer Bruder Diego die Mannschaft der „Maria Mercedes“ aufgehetzt, das Kommando an sich gerissen, den Kapitän und zwei Offiziere ausgesetzt und sich schließlich auf Sala-y-Gomez eingenistet, dem einzigen Stückchen Land in der Umgebung der „Insel der Steinernen Riesen“. Die Eingeborenen von Sala-y-Gomez waren bis auf wenige Ausnahmen niedergemetzelt worden. Immer wieder überfielen die Spanier die Nachbarinsel, massakrierten Männer, verschleppten Frauen und Mädchen und suchten vergeblich nach dem geheimnisvollen Schatz, der dort versteckt sein sollte. Dieses Gold vor allem hatte Carlos Ingarra gelockt. Bis heute! Aber jetzt war sein Bruder Diego erstochen worden - von dem Mädchen Luana, das er zu vergewaltigen versucht hatte. Luana war mit einem Auslegerboot von der Insel der Meuterer geflohen und von der „Isabellaaufgenommen worden, nachdem Hasard sie vor einem Menschenhai gerettet hatte. Und Carlos Ingarra, der selbsternannte Capitan. kannte keinen anderen Gedanken mehr als seine Rache. Um Luana wieder in seine Gewalt zu bringen, war Ingarra mit seinen Leuten auf der „Insel der Steinernen Riesen“ erschienen und über das Dorf der Polynesier hergefallen. Und jetzt hatte er nicht nur Luana, sondern auch noch fünf von den verhaßten Engländern, die ihm beinahe einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten. Carlos Ingarras schmales. knochiges Raubvogelgesicht war eine Maske des Triumphs, als er über das Wasser der Bucht zum Strand starrte.
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„An die Brassen und Fallen!“ peitschte seine Stimme. „Hol auf Anker! Hißt Fock und Besan!“ Hasard verstand die Kommandos, da er fließend Spanisch sprach. Und vor allem sah er die Wirkung. Die Spanier eilten an ihre Plätze an Brassen und Fallen, Knatternd entfaltete sich das Segeltuch. Die „Maria Mercedes“ ging ankerauf, auch die restlichen Segel wurden gesetzt, und unter Vollzeug rauschte die Galeone aus der Bucht aufs offene Meer hinaus. Philip Hasard Killigrew knirschte mit den Zähnen. Langsam wandte er sich um und sah in die verzerrten Gesichter seiner Männer. Vorhin, als sie hier mit den Spaniern kämpften, hatte der Stückmeister der „Maria Mercedes“ ein paar Drehbassenkugeln in die steilen, brüchigen Klippen gesetzt, so daß ein mörderischer Steinschlag über die Seewölfe niederging und sie für entscheidende Sekunden außer Gefecht setzte. Fast alle hatten sie etwas abbekommen. Sam Roskill blutete an der Schulter, wo ihn ein Felsen gestreift hatte. Ferris Tucker, Stenmark und Gary Andrews betasteten prüfend ihre Knochen. Smoky rieb sich den Kopf - und Hasard dachte mit Schrecken an das letztemal, als der Decksälteste der „Isabella“ eins auf den Schädel gekriegt und zeitweise das Gedächtnis verloren hatte. „Smoky!“ sagte er alarmiert. „Weißt du, wo du hier bist und was eben passiert ist?“ Der braunhaarige, bullige Mann warf ihm einen wilden Blick zu. „Aye, aye, Sir!“ knurrte er. „Glaubst du vielleicht, meine Rübe sei aus Glas, Sir? Bloß, weil ich damals diesen verdammten tempo -tempo ...“ „Temporärer Gedächtnisschwund heißt das“, meldete sich der Kutscher mit matter Stimme. Hasard wandte sich um. Der Kutscher stand neben Big Old Shane. Er fühlte sich offenbar etwas taumelig. Und er stützte sich auf ein Ding, das ihm bekannt erschien.
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„Himmel, Arsch und Kabelgarn!“ entfuhr es dem Seewolf. „Kannst du mir verraten, was, in drei Teufels Namen, du da mit dir herumschleppst?“ Der Kutscher schluckte. Er starrte auf das Holzding mit den Lederriemen, auf den Seewolf und wieder auf das Ding, als werde ihm jetzt erst ganz klar, welche Art von Waffe er da benutzt hatte. .Das?“ murmelte er. „Hm, ja, das ist Old O’Flynns Holzbein. Er hatte es abgeschnallt, um es den Eingeborenen vorzuführen. Es lag gerade so griffbereit herum, als die Spanier angriffen. Ich - ich hab mir einfach das nächstbeste Ding gepackt, mit denen ich den Dons eins verplätten konnte.“ „Ach, du liebe Zeit“, sagte Hasard ergriffen und dachte an den Tanz, den der alte O’Flynn aufgeführt hatte, weil er sich ohne Holzbein nicht an der Verfolgungsjagd hatte beteiligen können. „Jedenfalls hat er den Spaniern das Ding ganz schön um die Ohren gehauen“, meldete sich Shane, der ehemalige Waffenschmied von Arwenack. „Old O’Flynn hätte es nicht besser gekonnt. Ich weiß, was ich sage.“ Das wußte er wirklich. Die O’Flynns aus Falmouth und die Killigrews von Arwenack waren seit Menschengedenken zusammen zur See gefahren. Zuerst Old O’Flynn unter dem Mann, den Hasard für seinen Vater gehalten hatte: Sir John Killigrew, Generalkapitän von Cornwall. Wes Geistes Kind dieser Sir John war, ließ sich leicht an der Tatsache ablesen, daß man einen krächzenden, streitsüchtigen, stets krakeelenden Papagei nach ihm benannt hatte. Dan O’Flynn war von Anfang an bei Hasard gewesen, hatte schon an jener legendären Schlacht vor der „Bloody Mary“ in Plymouth teilgenommen, in deren Verlauf der Kriegsname „Seewolf“ für den großen schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen geprägt worden war. Und jetzt fuhr auch Dans Vater unter dem Seewolf. Genau wie Big Old Shane, der Schmied und Waffenmeister von
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Arwenack, der ganze Sippen von wilden, salzwassergetränkten Killigrews und ebenso wilden O’Flynns hatte aufwachsen sehen. „Na ja“, brummte Hasard. Er war ohnehin der Ansicht, daß ein alter Mann mit einem Holzbein nichts in einem heißen Kampf verloren hatte. Und der Kutscher strahlte, sichtlich zufrieden, weil er endlich mal in vorderster Front dabei gewesen war, auch wenn er sicher lieber mit seiner eisernen Bratpfanne um sich geschlagen hätte statt mit Old O’Flynns Holzbein. Der Seewolf atmete tief durch und wandte sich um. Inzwischen waren auch die polynesischen Krieger am Strand aufgetaucht: braunhäutige, schweigsame Gestalten, die mit haßerfüllten Augen der „Maria Mercedes“ nachblickten. Der alte Jack Henry schob die Pistole in den Gürtel zurück. Auch in seinen Augen brannte der Haß. Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Sturm ihn und Bills Vater als Schiffbrüchige hierher verschlagen. Während Bills Vater in die Gefangenschaft spanischer Piraten geraten und später nach England zurückgekehrt war, war Jack Henry hiergeblieben. Er betrachtete die Polynesier als sein Volk, die „Insel der Steinernen Riesen“ als seine Heimat, und genau wie die Eingeborenen haßte er die Spanier. Als er zu Hasard trat, lagen seine Lippen hart aufeinander. „Zu spät?“ fragte er leise. Der Seewolf nickte. „Zu spät.“ „Ihr habt den Schatz gefunden?“ Wieder An knappes Nicken. Ja, sie hatten den Schatz gefunden, jene Kiste voller Gold, Perlen und Edelsteine, die Bills Vater vor langen Jahren hier vergraben hatte. Aber es gab niemanden unter den Seewölfen, dem das Gold jetzt noch wichtig erschien. „Wir hatten gerade die Kiste an Bord der ‚Isabella’ gebracht, als wir den Kampflärm hörten-, sagte Hasard knapp. „Leider konnten wir nicht mehr verhindern. daß die
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Kerle mit ihren Booten ablegten. Sie haben Luana. Und sie haben fünf meiner Männer.“ „Und jetzt?“ fragte Jack Henry leise. Philip Hasard Killigrew atmete tief durch. Sein kantiges. wettergebräuntes Gesicht wirkte wie aus Stein gehauen. „Wir gehen an Bord der Isabella’ und nehmen die Verfolgung auf“, sagte er hart. „Und ich schwöre Ihnen, daß wir nicht ruhen werden, bis wir unsere Kameraden und das Mädchen befreit haben. * Ben Brighton war der erste, der wieder wach wurde. Sein Bewußtsein kämpfte sich mühsam zurück an die Oberfläche. Er fühlte harte Schiffsplanken unter dem Körper, und als er die Lider hob, blendete ihn das Leuchten der Segel in der Sonne. Sein Kopf schmerzte, sein Magen schien jede Bewegung des Schiffes in entgegengesetzter Richtung zu vollziehen. Nur langsam kehrte die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Stunde zurück. Der Überfall der Spanier! Hasard und eine Gruppe Von Seewölfen waren unterwegs gewesen, um Bills Schatz zu heben, aber sie waren rechtzeitig zurückgekehrt und hatten noch in den Kampf eingegriffen. Ben entsann sich nur undeutlich an die letzten Minuten, bevor es dunkel um ihn geworden war. Er und Matt Davies waren Bill nachgelaufen, der im Alleingang versuchte, Luana zu retten. Abseits vom eigentlichen Kampfplatz hatten sie sich mit ein paar Spanier herumgeschlagen. Dann war da plötzlich Kanonendonner gewesen, die Hauptstreitmacht der Dons fiel ihnen in den Rücken, und Ben wußte nur noch, daß er einen Schlag über den Kopf erhalten hatte. Und jetzt? Ein vorsichtiger Blick zeigte ihm, daß er sich an Bord einer Galeone befand, der „Maria Mercedes“ vermutlich. Er lag gefesselt auf der Kuhl. Als er den Kopf wandte, sah er gerade noch, wie zwei
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Spanier die zitternde Luana über den Niedergang zum Achterkastell zerrten, wahrscheinlich, um sie in die Kammer des Kapitäns zu bringen. Dreckskerle, dachte Ben Brighton erbittert. Sein Genick schmerzte, als er den Kopf noch weiter drehte. Aber die Mühe lohnte sich. Vier gefesselte, ohnmächtige Seewölfe waren zwar nicht gerade ein erhebender Anblick, doch nach Bens Meinung hätte es erheblich schlimmer sein können. Sie lebten noch, das war erst einmal die Hauptsache. Zumindest vorerst würden sie wohl auch am Leben bleiben. Denn wenn die Spanier sie umbringen wollten, hätten sie sich ja nicht erst der Mühe zu unterziehen brauchen, ihre Gefangenen mit dem Boot zur _Maria Mercedes“ zu pullen, an Bord zu hieven und zu fesseln. Bis zu diesem Punkt war der Bootsmann und erste Offizier der „Isabella“ mit seinen Überlegungen gelangt, als eine krächzende Stimme ihn zusammenzucken ließ. „Ihr Affenärsche! Ihr Rübenschweine! Ihr karierten Decksaffen, ihr schwanzlosen Steppensäue, ihr buckligen Kakerlaken, ihr verlausten Nachkommen einer triefäugigen Ziege, ihr ...“ Ben Brighton grinste matt. Sir John, der Papagei, hatte sich auf eine Webleine des Steuerbord-Hauptwants zurückgezogen und schimpfte aus sicherer Entfernung. Carberrys Lieblingssprüche hatten es ihm besonders angetan. Ein paar von den Spaniern, die ein bißchen Englisch verstanden, kriegten runde Augen. Der Profos begann sich zu rühren. Er ächzte, blinzelte und murmelte etwas vor sich hin. Wenn Ben es richtig verstand, war es das Versprechen, dem frechen Kerl, der da fluchte, die Haut in Streifen von seinem Affenarsch zu ziehen. Der Bootsmann grinste. „Das schaffst du nicht“, sagte er leise. „Sir John sitzt in den Wanten, und du bist gefesselt.“ „Was?“ murmelte Carberry. „Wie?“ „Du bist gefesselt, Ed. Sind deine Knochen heil?“
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„Meine sind jedenfalls heil“, meldete sich Dan O’Flynn. „Himmel Arsch, tut mir der Kopf weh.“ „Ich dachte, du seist ein O’Flynn. Von den O’Flynns mit den extraharten Schädeln.“ Es war Matt Davies, der das hervorstieß, mühsam und etwas zischend, da seine Lippen aufgeplatzt und verschwollen waren. Auch Bill regte sich wieder. Auf seiner Stirn schillerte eine taubeneigroße Beule in allen Regenbogenfarben. Ein kleiner Kratzer über der linken Augenbraue hatte genug Blut produziert, um sein Gesicht geradezu furchterregend aussehen zu lassen. „Wo – wo bin ich?“ flüsterte er. „Was ...“ „Du bist auf der ,Maria Mercedes’, Junge. Zusammen mit Dan, Matt, dem Profos und mir.“ Bill hob mühsam die Lider und sah Ben Brighton an. „Aber – aber wieso?“ „Wenn du jetzt sagst, du kannst dich nicht erinnern, zieh ich dir die Haut vom Hintern!“ drohte der Profos. „Doch. Ich kann mich erinnern. Ich habe ganz bestimmt keinen Tempodingsda ...“ Tempodingsda, das war die Kurzform, die die Seewölfe für Smokys „temporären Gedächtnisschwund“ geprägt hatten. Und der „Tempodingsda“ hatte sich zum Alptraum entwickelt, so wie ihnen der Decksälteste damals mit seiner ewigen Fragerei auf die Nerven gefallen war. Dan O’Flynn kicherte vergnügt. Ed Carberrys Lachen ließ die Decksplanken dröhnen, und prompt wurden die Spanier auf dem Achterkastell aufmerksam. Carlos Ingarra stieg langsam den Niedergang hinunter. Immerhin, dachte Ben Brighton, war er schon mal nicht in seiner Kammer, um Luana etwas anzutun. Das knochige Gesicht des selbsternannten Capitans verzerrte sich zur höhnischen Fratze. Er blieb stehen, spuckte aus und stieß Matt Davies, der ihm am nächsten lag, den Stiefel zwischen die Rippen. „Bastardo!“ knirschte er. „Cobarde…“ „Selber Bastardo!“ kreischte Sir John aus den Wanten. Was allerdings nicht auf
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seinem Mist gewachsen war. Er ahmte lediglich die Art nach, wie Ed Carberry Flüche zu kontern pflegte. Verblüfft .äugte Ingarra zu dem bunten Vogel hinauf. Der Leidtragende war Matt Davies. Ihm trat der Spanier, sozusagen probeweise, noch einmal in die Rippen. „Bastardo!“ kreischte Sir John unbeirrt. „Cobarde! Bastardo! Halt den Rand, du dreimal in Walfischkotze gebadetes Bugsprietgespenst!“ Das letzte, dachte Ben Brighton, konnte der Vogel unmöglich von Ed Carberry gehört haben. Auf der „Isabella“ mußte es ein unentdecktes Genie geben, das nur still vor sich hin fluchte. Matt Davies kicherte hingerissen, was ihm einen weiteren, diesmal brettharten Tritt einbrachte. „Halt deine stinkenden Füße bei dir, du Sohn einer räudigen Kanalratte“, knurrte der Mann mit der Hakenprothese. Carlos Ingarra verstand nicht genug Englisch, um die Feinheiten der Aufforderung zu begreifen_ Seine funkelnden, zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen glitten über die Gefangenen. Dann hob er die Hand, winkte seinen Leuten und stieß ein paar knappe Befehle hervor. „Ab in die Vorpiek!“ übersetzte Ben Brighton. der die spanische Sprache genauso perfekt beherrschte wie der Seewolf. „Dreckskerle“, flüsterte Dan. „He, Profos, wie wär’s, wenn du ihnen die Haut in Streifen ...“ Weiter gelangte er nicht. Denn im selben Augenblick begann im Großmars eine aufgeregte Stimme zu rufen, und sogar Dans Spanischkenntnisse reichten aus, um die Worte zu verstehen. Er grinste strahlend. „Mastspitzen achteraus“, flüsterte er. „Das muß die ‚Isabella’ sein. Gleich kriegen die Spanier Zunder!“ „Abwarten“, sagte Ben Brighton nachdenklich. „Ho!“ grollte Carberry. „Was heißt hier abwarten, was, wie? Glaubst du vielleicht, dieser nachgemachte Pißpott-Admiral kann
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mit seinem verlotterten Waschzuber die alte ‚Isabella’ abhängen?“ Bens Grinsen wirkte ziemlich freudlos. Er sah den Profos an und zuckte mit den Schultern. „Das nicht, Ed“, sagte er trocken. „Aber wenn du deine Klüsen aufreißt und dir den nachgemachten Pißpott-Admiral etwas genauer anschaust, wirst du schon kapieren,“ was ich meine.“ Carberry schluckte. Er vergaß das Fluchen. Denn ein Blick in Carlos Ingarras Richtung ließ ihn sofort begreifen, welche Teufelei der selbsternannte Kapitän der „Maria Mercedes“ ausheckte. Ingarras Gesten sprachen Bände. Das böse Lächeln auf seinem knochigen Gesicht paßte dazu. Nur für ein paar Sekunden hatte ihn Schrecken gepackt, als er sah, wie schnell die „Isabella“ aufsegelte — jetzt sprühten seine dunklen Augen in einem Funkeln teuflischen Triumphs. Er hatte fünf Gefangene an Bord: Fünf Geiseln, deren Leben er als Faustpfand benutzen konnte. Carlos Ingarra starrte der „Isabella“ entgegen, und .seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten. * „Mich laust der Affe!“ flüsterte der sehnige Gary Andrews im GroßUnd dann schrie er, schrie mit einer Stimme, die vor jäher Erregung fast überkippte: „Deck ho! Die Mistböcke von verlausten Dons haben ‘ne Schweinerei vor! Die binden jemanden an die achtere Drehbasse!“ Hasard hob mit einem Ruck den Kopf. Eine halbe Sekunde starrte er zum Ausguck hoch, als traue er seinen Ohren nicht, dann flankte er über die Schmuckbalustrade des Achterkastells. Die Planken dröhnten, als er aufsetzte. Mit wenigen Schritten erreichte er den Großmast, enterte an den Webleinen der Wanten hoch und schwang sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform.
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„Verdammt!“ flüsterte Gary. „Diese Teufel! Diese Schneckenfresser! Diese dreckigen, gemeinen ...“ Hasard hörte nicht zu. Er hatte das Spektiv auseinandergezogen, setzte es ans Auge, und was er sah, ließ ihn unter der Sonnenbräune weiß werden. Fast in Kiellinie vor ihnen segelte die „Maria Mercedes“ mit halbem Wind über Backbordbug nach Norden. Die Rohre der beiden achteren Drehbassen zeigten auf die „Isabella“, Und vor diesen Rohren ... Hasard hielt den Atem an. Deutlich konnte er durch das Spektiv die schlanke Gestalt erkennen, die zwei Spanier vor das Rohr der BackbordDrehbasse gezerrt hatten. Blut verschmierte das Gesicht unter dem schwarzen Haar, aber es war unverkennbar das Gesicht von Bill, dem Schiffsjungen. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt. Jetzt wurden sie mit einem eisernen Rohr verbunden, und die Spanier schlangen hastig ein zweites Tau um Bills Leib, das sie mit den Lafetten des Geschützes verbanden. Auch die Füße hatten sie dem Jungen verschnürt. Er konnte sich nicht regen, wurde unverrückbar gegen die Mündung des eisernen Rohrs gepreßt, und wenn jetzt jemand die Drehbasse abfeuerte, würde die Kugel den Jungen zerreißen. Hasards Zähne knirschten aufeinander. Er schwenkte das Spektiv und starrte zu der Drehbasse an der Steuerbordseite hinüber. Dort mühten sich drei Spanier damit ab, den gefesselten Profos zu bändigen. Hasard sah gerade noch, wie einer der Kerle die Faust gegen Ed Carberrys Rammkinn schmetterte. Selbst für den eisernen Profos war das zuviel. Seine Muskeln erschlafften, und die Spanier hatten keine Mühe mehr, ihn ebenfalls vor das Rohr des Geschützes zu binden. Die „Maria Mercedes“ luvte an. Die Rahen würden dichter geholt, die Galeone zeigte der „Isabella“ die Steuerbordseite. Der Seewolf wußte, daß sie es nur aus einem einzigen Grund tat:
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damit ihre Gegner einen Blick auf die Drehbassen am Bug werfen konnten. Auch dort hingen zwei Männer hilflos vor den schwenkbaren Geschützrohren. Ben Brighton und Dan O’Flynn. Einzig Matt Davies war verschont geblieben. Oder nein: dieser Teufel von Capitan dachte natürlich nicht daran, ihn zu schonen. Matt Davies stand gefesselt am Steuerbord-Schanzkleid der Kuhl. Der Lauf einer schußbereiten Muskete preßte sich in seinen Nacken. Er würde zweifellos als erster sterben, wenn die Seewölfe nicht taten, was Carlos Ingarra von ihnen erwartete. Was er erwartete, lag klar auf der Hand. Hasard preßte die Lippen zusammen. Sein Gesicht glich einer Maske aus Stein. Aber er zögerte keine. Sekunde und gab seine Befehle noch vom Großmars aus. Er dachte nicht daran; das Leben auch nur eines einzigen von den fünf Männern dort drüben aufs Spiel zu setzen. „Klar zum Halsen!“ peitschte seine Stimme. „An die Brassen! Auf das Ruder!“ In einem blitzschnellen Manöver fiel die „Isabella“ ab und ging mit dem Heck durch den Wind. Auch die „Maria Mercedes“ fiel wieder ab und rauschte mit halbem Wind nordwärts. Noch während Hasard abenterte, konnte er sehen, wie auf der Galeone der Lauf der Muskete von Matt Davies’ Genick zurückgezogen wurde. Der MeutererKapitän hatte erreicht, was er wollte. Er würde seine Gefangenen vorerst am Leben lassen. Vorerst! Bestimmt nicht auf die Dauer. Was die bedauernswerte Luana von Carlos Ingarra zu erwarten hatte, wagte sich Hasard gar nicht erst auszumalen. Schweiß stand auf seiner Stirn, als er auf Ferris Tucker. Big Old Shane und eine Gruppe anderer Männer zutrat. „Dons Teufel von Hölle!“ zischte Batuti mit rollenden Augen. „Batuti aus Dons Picadillo machen, wenn erwischen.“ „Wenn!“ sagte der Seewolf hart.
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„Ja, wenn“, knirschte Ferris Tucker. „Und was tun wir jetzt? Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und warten, bis diese Bastarde an ihrer eigenen Bosheit ersticken.“ „Das werden wir auch nicht“, sagte Hasard durch die Zähne. Es klang wie ein Schwur, obwohl auch der Seewolf im Augenblick nicht wußte, wie sie aus dieser vertrackten Situation herauskommen sollten. 2. Die Sonne senkte sich im Westen, als die „Maria Mercedes“ die Insel Sala-y-Gomez erreichte. Jetzt erst wurden die gefangenen Seewölfe von den Kanonenrohren losgebunden. Sämtliche Knochen taten ihnen weh, aber die Wut, die in ihnen wühlte, war wesentlich schlimmer. Ed Carberry fluchte mit dem Papagei Sir John um die Wette. Da einige der Spanier ein paar Brocken Englisch verstanden, bezog der gefesselte Profos eine schallende Ohrfeige. „Ihr feigen Ratten!“ schrie Bill empört. „Ihr dreckigen Hundesöhne! Ihr verlausten Affen, ihr ...“ „Halt den Mund, du Hammel!“ knurrte Carberry. Von jetzt an mäßigte er sich. Nicht seinetwegen, durchaus nicht. Aber da Bill so offensichtlich bestrebt war, dem Profos nachzueifern, würde er auch von der entsprechenden Quittung seinen Teil empfangen. Noch brachte er die Spanier nur zum Lachen mit seinem Gegifte, was bei Bill wiederum beinahe Tränen der Wut auslöste, Mit überschnappender Stimme schimpfte und fluchte er weiter, die Kerle lachten immer lauter, aber das war nach Carberrys Meinung noch das beste, was dem Jungen passieren konnte. Vom Vorschiff her wurden Ben Brighton und Dan O’Flynn auf die Kuhl gestoßen. Matt Davies erhielt einen Fußtritt, der ihn ebenfalls in Bewegung brachte. Er wußte so gut wie die anderen, daß es sinnlos war, die Spanier zu reizen, aber er
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konnte es sich nicht verkneifen, dem Kerl, der ihn getreten hatte, haarscharf vor die Zehenspitzen zu spucken. Der Bursche revanchierte sich mit einem heimtückischen Hieb ins Genick; dann beeilte er sich, beim Abfieren der Boote zu helfen. Ein Teil der Spanier enterte ab. Die Gefangenen wurden einfach über das Schanzkleid ins Wasser geworfen. Nacheinander klatschten sie ins Wasser und wurden brutal in die Boote gezerrt. Die Spanier beeilten sich nicht besonders. Dan O’Flynn war der letzte, den sie am Kragen packten. Er fühlte sich wie eine halb ersäufte Katze, als er keuchend und Wasser spuckend zwischen den Duchten lag. Minuten später knirschte Sand unter dem Bootskiel. Wieder wurden die Gefangenen einfach hinausgeworfen, und diesmal überließen es die Spanier ihren gefesselten Opfern selbst, sich aus dem seichten Wasser herauszuarbeiten. Dan O’Flynn soff fast ab. Erst als Carberry ihn lauthals einen „lausigen Schlappschwanz“ nannte, befähigte die Wut ihn, wenigstens Kopf und Oberkörper auf den sicheren Strand zu schieben. Weiter schaffte er es nicht. Den kleinen Rest seiner Puste brauchte er nämlich, um dem Profos zu sagen, wofür er ihn hielt: für den Sohn eines räudigen Ziegenbocks, dessen stinkenden Kadaver sogar die Haie ausspucken würden. Ziemlich mühsam rappelten sich die Gefangenen auf. Die Spanier halfen mit Fußtritten nach, wo es ihnen zu langsam ging. Ed Carberry kriegte den Lauf einer Muskete in den Rücken und stolperte vorwärts, auf den Weg zu, der durch die Klippen hinauf zum Hochplateau führte. Es war ein steiler Weg, manchmal von hohen, in den Stein gehauenen Stufen unterbrochen, und die Seewölfe stolperten immer wieder, obwohl man ihnen die Fußfesseln durchgeschnitten hatte. Ben Brighton bildete den Schluß. Der Kerl hinter ihm trieb ihn mit dem Lauf der Muskete an, und der Bootsmann knirschte
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vor Wut mit den Zähnen. Er hatte gute Lust, einfach nach hinten auszutreten und den Spanier die Klippen hinunterzubefördern. Aber Ben bezwang sich. Wenn der Bursche sich das Genick brach, würden die Spanier ein paar von den Gefangenen ebenfalls über die Kante jagen, soviel stand fest. Der Bootsmann war froh, daß er es war, der am Schluß ging, und nicht Matt Davies oder der hitzköpfige Dan O’Flynn. Schließlich hatten sie es geschafft und stolperten keuchend durch das Buschwerk, das am Rand des Plateaus wucherte. Eine zerklüftete Felsenbarriere schirmte das Lager der Spanier zur See hin ab. Ben Brightons Blick glitt über die primitiven Hütten, die Feuerstelle und blieb an dem Pfahl hängen, der mitten auf dem freien Platz in den Boden gerammt worden war. Ben ahnte, wozu dieser Pfahl dienen sollte. Er preßte die Lippen zusammen und wandte den Kopf. Hinter ihnen schleppten zwei Spanier Luana über den Weg. Sie hatte ihren Widerstand aufgegeben und ließ sich willenlos vorwärts treiben. Erst als die beiden Kerle versuchten, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, bäumte sie sich. verzweifelt auf. Es war sinnlos. Ein heftiger Schlag traf sie ins Gesicht, mit verdrehten Augen sackte sie in sich zusammen. Die Spanier schleiften sie über den Platz und begannen, sie völlig nackt an den Pfahl zu fesseln. „Ihr Schweine!“ brüllte Carberry los. „Ihr verdammten Frauenschänder! Ihr elenden ...“ Zürn zweiten Mal an diesem Tag traf ein schmetternder Schlag sein Rammkinn. Diesmal hatte der Spanier den Kolben seiner Muskete benutzt. Edwin Carberry flog fünf Schritte zurück und klappte zusammen. Ben Brighton knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. „Feige Ratten!“ fauchte Dan. „Ihr hinterhältigen ...“
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„Ruhig, Junge“, stieß Ben Brighton hervor. „Es ist sinnlos, unsere Kraft zu vergeuden. Reiß dich zusammen!“ Dans Augen funkelten, aber er sagte nichts mehr. Der Blick, mit dem er Carlos Ingarra durchbohrte, war allerdings mörderisch. Aber Blicke konnten nicht töten, und der selbsternannte Capitan verzog nur verächtlich die Lippen. „Schön!“ sagte er auf spanisch. „Sehr schön! Zuerst einmal wird diese verdammte Hure die Peitsche zu spüren kriegen. Und später denke ich mir noch etwas anderes Hübsches aus.“ Er zog die Lippen von den Zähnen und zeigte ein grausames Lächeln. „Bringt die Engländer in eine der Hütten“, befahl er. „Und fesselt ihnen wieder die Füße. Aber gründlich, verstanden?“ Die Meuterer hatten sehr gut verstanden. Sie gaben sich Mühe, ihre Opfer so zu verschnüren, daß sie kaum noch den kleinen Finger bewegen konnten. Anschließend wurden sie in eine der Hütten geschleift, durch die Tür gestoßen und auf den schmutzigen Boden geworfen. Die Tür fiel zu. Es war ein scharfer, endgültiger Laut, der die Seewölfe fatal an das Zuschlagen eines Sargdeckels erinnerte. * Die Dämmerung schien sich wie ein dunkles Tuch über den Pazifik zu senken. Erste Sterne funkelten. Im Westen lag ein Streifen dunstigen Rots über der Kimm wie der Widerschein einer Feuersbrunst. Ein Rot, das immer düsterer und brennender wurde, bis die Schwärze der Nacht es schließlich verschluckte. Die Sichel des zunehmenden Mondes strahlte in reinem Silberglanz und warf ihren fahlen Schein über das Wasser. Die „Isabella“ segelte unter Fock Besan langsam in Richtung Nordost. Die Seewölfe waren ein Stück vor dem Wind nach Westen gelaufen und dann umgekehrt. Jetzt näherten sie sich der Insel Sala-y-Gomez aus einer Richtung, von der
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sie hofften, daß die Meuterer sie dort nicht erwarten würden. Im Schutz der Dunkelheit, so glaubten sie, konnten sie vielleicht in einer versteckten Bucht vor Anker gehen. und dann würde man ja sehen, welche Chancen sich ergaben. Hasard stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und starrte dorthin, wo die Insel aus der Schwärze auftauchen mußte. Die Brise hatte etwas aufgefrischt und wehte gleichmäßig von Osten. Die „Isabella“ segelte über Backbordbug am Wind. Hasard hatte den Kurs so gelegt, daß er haargenau auf die Insel zuführen müßte, und später, wenn Sala-y-Gomez in Sichtweite kam, würden sie auch noch den Besan bergen, um so unsichtbar wie möglich zu werden. Fragte sich nur, ob die Meuterer Posten aufgestellt hatten. Grund genug dazu gab es für die Kerle. Sie hatten den Eingeborenen von der „Insel der Steinernen Riesen“ im Laufe der Zeit schon so viel angetan, daß sie mit einem Gegenschlag rechnen mußten. Sie würden vermutlich damit rechnen, daß sich die „Isabella“ nur zum Schein zurückgezogen hatte und die Engländer alles versuchen würden, um ihre Kameraden zu befreien. Wenn das so war, brauchten die Seewölfe vor allem Glück. Vielleicht schlief einer der Wachtposten. Vielleicht erwischten sie eine Stelle, wo sie nicht gesehen werden konnten, vielleicht schafften sie es, unentdeckt zu bleiben. „Land ho!“ tönte Sam Roskills Stimme aus dem Ausguck. „Genau Steuerbord voraus! Sala-y-Gomez!“ „Weg mit dem Besan!“ befahl Hasard. Ferris Tucker und Batuti stürzten zum Besanmast und lösten das Fall. Die riesige Gaffelrute wurde abgefiert, das Segel geborgen. Alles ging schnell und präzise, obwohl kein Carberry da war, der die Männer anpurrte! Die „Isabella“ verlor an Fahrt. Nur wenig allerdings, denn der Ostwind hatte sich inzwischen zur frischen Brise entwickelt. Hasard spähte mit
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zusammengekniffenen Augen zum Himmel und prüfte die Wolkenbank, die sich über die östliche Kimm schob. Da lag etwas in der Luft. Es war zu riechen. Der Seewolf wußte, daß er sich in dieser Beziehung auf seinen Instinkt verlassen konnte. Immerhin: die „Isabella“ gelangte verhältnismäßig rasch vorwärts, obwohl sie nur noch unter der Fock lief. Später würde Hasard auch dieses Segel an der Luvseite aufgeien lassen, die letzte Möglichkeit, die Segelfläche zu verkleinern, bevor das Schiff vor Topp und Takel trieb. Mit der geschwichteten Fock würde die „Isabella“ so gut wie unsichtbar sein und fast völlig mit der Dunkelheit verschmelzen. Ein Wachtposten, der sie dann noch entdecken wollte, mußte entweder ausgesprochen günstig stehen oder Augen wie ein Luchs haben. Der dunkle Buckel der Insel glitt rasch heran. Hasard hatte vor, an ihrer Westseite vorbeizusegeln und nach einer Bucht Ausschau zu halten. Wenn sie keine fanden, mußten sie über Stag gehen und es an der Nordseite versuchen. Hasard winkte Ferris Tucker zu sich heran und befahl mit gedämpfter Stimme, die Fock zu schwichten, denn jetzt befanden sie sich bereits in Ruf weite der Insel. Lautlos glitt die „Isabella“ durch die Dunkelheit. Hasard suchte mit dem Spektiv die Klippen ab, genau wie Sam Roskill oben im Großmars. Aber vorerst blieben ihre Bemühungen vergeblich. * „Dieses Miststück!“ stöhnte Ed Carberry. „Diese stinkende Ratte! Dieser Nachkomme eines lausigen, triefäugigen Straßenköters!“ „Halt die Luft an, Ed“. sagte Ben Brighton trocken. „Laß uns lieber überlegen, was wir unternehmen können.“ „Was denn? Wie denn? Die Dreckskerle haben mich verschnürt wie einen gottverdammten Seesack. Und das ist solider Hanf, was sie benutzt haben. Da
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müßtest du dir erst mal die Zähne schleifen. bevor du diese Stricke durchbeißen kannst, du Hammel!“ „Selber Hammel“, ließ sich Matt Davies vernehmen. „Wozu, beim Teufel, habe ich meinen Haken?“ „Dir schlag ich gleich die Zähne ins Kleinhirn, du verdammtes Rüben ...“ Der Profos stockte mitten im Wort. Erst jetzt war ihm aufgegangen, was Matt meinte. Carberry stieß einen Pfiff aus und grinste. „Großartig! Ich werde nie mehr krummer Hund zu dir sagen!“ „Versprich bloß nichts, was du nicht halten kannst, du Schandmaul. Statt Volksreden zu schwingen, solltest du lieber mal ein Stück herumrollen.“ Der Profos brummelte finstere Drohungen vor sich hin, die sich auf Matts Achtersteven bezogen. Ächzend ließ er sich aus der sitzenden Stellung zur Seite fallen, rollte halb herum und versuchte, sich näher an Matt Davies heranzuschieben. Er schaffte es unter lästerlichen Flüchen, und Ben Brighton fragte sich gelegentlich, wo wohl Sir John geblieben sein mochte. Der Papagei liebte es nicht besonders, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Vermutlich hatte er sich irgendwo ein ruhiges Plätzchen gesucht. Oder er ärgerte die Spanier, klaute ihnen Lebensmittel und beschimpfte sie aus sicherer Entfernung. Vielleicht, dachte Ben grinsend, würde er sich bei dieser Gelegenheit auch ein paar saftige spanische Flüche aneignen. „Himmel Arsch!“ fluchte Ed Carberry. „Willst du mir die Haut abziehen, du Hammel?“ „Hab ich deinen verdammten Affenarsch gepiekt?“ fragte Matt unschuldig. „Das hast du, du hirnrissiger Abkömmling einer Seekuh! Kannst du nicht aufpassen, was, wie? Dir mach ich Feuer unter dem Hintern, darauf kannst du Gift nehmen, du dämlicher — au, verflucht!“ Matt Davies grinste sich eins. Er konnte nichts dafür, daß der scharfgeschliffene Haken seiner Prothese manchmal von den Hanfstricken abrutschte. Die Haut an
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Carberrys Gelenken wurde lädiert und ab und zu auch seine Kehrseite in Mitleidenschaft gezogen. Er fluchte in allen Tonlagen, drohte Matt sämtliche Höllenstrafen an und erging sich in abenteuerlichen Mutmaßungen über dessen Vorfahren. Für eine Weile gab Matt Davies sämtliche Schimpfworte ungerührt zurück, aber dann zog er es vor, seinen Atem zu sparen, da ihn das ganze Manöver wesentlich mehr Anstrengung kostete als den Profos, der nur still zu liegen brauchte, was ihm nicht gerade leicht fiel. Er hatte den Verdacht, daß Matt gar nicht an den Stricken arbeitete, sondern nur mal ausprobieren wollte, ob sich sein Haken dazu eignete, jemandem die Haut abzuziehen. Der Profos schilderte unermüdlich, was er alles mit seinem Peiniger anstellen wollte, wenn er nur die Hände frei hatte. Er hielt erst den Mund, als Matt ihm kurz und knapp erklärte, unter diesen Umständen müsse er dann eben gefesselt bleiben. Carberry schnaufte erbittert, und Matt Davies arbeitete grinsend und schwitzend weiter. Fünf Minuten brauchte er, dann hatte er mit dem scharfgeschliffenen Haken die Stricke an Carberrys Gelenken zerrissen. Der Profos schüttelte die Reste der Fesseln ab und besah sich seine verschrammten Gelenke. Ein Messer hatte er nicht, die fünf Männer waren von den Spaniern gründlich durchsucht worden. In ziemlich mühseliger Arbeit knüpfte Carberry die Stricke an seinen Füßen auf. Danach machte er sich über Matts Fesseln her, und natürlich konnte er es nicht lassen, mal eben an dem Haken zu drehen, so daß sich das Opfer in den eigenen Hintern piekte. Matt wollte zum Gegenangriff übergehen, kaum daß er die Stricke los war. Ben Brightons scharfe Stimme stoppte ihn. „Ruhe, zum Teufel! Seid ihr von allen guten Geistern verlassen, ihr Idioten?“ „Der Mistkerl hat mich gepiekt“; fauchte Matt. „Du hast dich selbst gepiekt, du Affenarsch“, erwiderte Carberry, während
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er sich über den Bootsmann beugte, um dessen Fesseln aufzuknüpfen. Mit Matts Haken ging das Knoten entwirren wesentlich leichter. Als der Profos Ben Brighton befreit hatte, waren auch Dan und Bill die Stricke los. Sie sprangen auf, rieben sich die Gelenke und bewegten prüfend die Glieder. Ihre Augen funkelten unternehmungslustig, und Bills Stimme kippte vor Aufregung fast über. „Jetzt kriegen die Dons Zunder! Wir werden diese Kastanienfresser auseinandernehmen, daß es nur so raucht.“ Ben Brighton grinste freudlos. Ja, sie würden versuchen, den Spaniern Zunder zu geben. Aber der Bootsmann wußte nur zu genau, daß das ohne Waffen und gegen eine Übermacht eine ziemlich kitzlige Sache werden würde. 3. „So ein Blödsinn“, sagte der Bursche mit dem Namen Pedro Nandez auf spanisch. Sein braunhäutiger, drahtiger Kumpan zog die Schultern hoch. Lope Cordura hatte nur noch ein Auge, eine schwarze Klappe verdeckte die leere Höhle. Er kratzte in seinem verfilzten Bart und gähnte gleichmütig. „Was soll’s?“ knurrte er. „Besser ist besser. Wenn dieser dreimal verfluchte Engländer nicht erscheint, kreuzen vielleicht die Wilden auf.“ „Diese Affen? Das glaubst du doch selbst nicht!“ „Weiß man’s?“ Cordura stützte sich auf die lange Muskete und gähnte abermals. „Schließlich haben wir ihnen eine Häuptlingstochter geklaut. "Jetzt sind auch noch die verfluchten Engländer bei ihnen.“ „Denen haben wir aber gezeigt, was der Rum kostet“, sagte Pedro Nandez zufrieden. Cordura warf seinem Kumpan einen vernichtenden Blick zu. „Du hast Hefe im Hirn, Pedro“, sagte er grob. „Dieser dreimal verdammte schwarzhaarige Teufel hat doch bewiesen,
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daß er seine Leute nicht zur Hölle gehen läßt, nicht wahr? Er hätte sie über die Klinge springen lassen können, dann wären wir dran gewesen. Aber er hat es nicht getan. Also wird er jetzt Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um seine Leute wiederzukriegen, geht das in deinen blöden Schädel?“ „Hm“, äußerte sich Pedro Nandez. „Hm, hm“, äffte ihn Cordura nach. Verächtlich blähte er die Nasenflügel, während er etwas näher an den Rand der Klippen trat. Wind fegte über das Hochplateau, wirbelte Staub auf und erzeugte ein seltsames Reiben und Singen im trockenen Gras. Der Spanier spähte nach Osten. Dort hatte sich eben noch die unregelmäßige Zackenlinie der Felsen scharf gegen den sternengespickten Himmel abgehoben. Jetzt schob sich langsam eine Wolkenbank höher und verwischte die Konturen. Lope Cordura runzelte überrascht die Stirn. „He!“ brummte er: „Hast du dir mal den Himmel angesehen? Da braut sich was zusammen!“ Nandez wandte sich um. „Na und?“ sagte er gleichgültig. „Wir brauchen ja schließlich nicht draußen herumzuschippern.“ „Nein“, sagte Cordura dumpf. „Aber du weißt ja, wie es in diesen Sturmnächten ist.“ Für einen Moment blieb es still. Die Gesichter der Männer schimmerten fahl im Mondlicht. Wie eine dunkle Wolke schien sich etwas auf sie herabzusenken, etwas Unsichtbares, Unheimliches. „Glaubst du, er wird kommen?“ flüsterte Nandez. „Wirst du wohl still sein? So was beschreit man nicht, du verdammter Idiot! Madonna, du mußt den Verstand da haben, wo andere Leute drauf sitzen.“ „Und du hast höchstens ein bißchen stinkendes Bilgewasser im Schädel“, fauchte Pedro Nandez. Wutentbrannt wandte er sich wieder ab, starrte demonstrativ aufs Meer hinaus und hatte im nächsten Moment das Gefühl, als
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habe er einen Schlag mit der Handspake in den Magen erhalten. „He!“ flüsterte er. „Lope! Mann, schau dir das an!“ Auch Cordura schwang herum. Aus der Deckung der Felsen heraus starrte er in die Richtung, die Nandez’ zitternder Finger wies, und auch Lope Cordura fuhr der Schrecken gewaltig in die Glieder. „Ein Geisterschiff!“ flüsterte er, während er sich mechanisch bekreuzigte. „Quatsch Geisterschiff“, knurrte Nandez. „Wir haben den Kahn nicht gesehen, weil er unter einer geschwichteten Fock läuft. Wer von uns hat denn nun seinen Verstand am Arsch, he?“ Lope Cordura antwortete nicht. Er folgte der vernünftigen Erkenntnis, daß sie keine Zeit mehr für lange Debatten hatten. Die „Isabella“ war schon gefährlich nahe, und sie mußten dringend etwas unternehmen. * „Also paßt auf“, sagte Ben Brighton leise. „Ed und Bill bleiben hier, Matt und ich gehen hinter der übernächsten Hütte in Deckung. Dan versteht sich am besten von uns allen aufs Anschleichen. Wenn er Glück hat schafft er es, das Mädchen loszubinden, bevor die Dons ihn bemerken. Je später sie Lunte riechen, desto besser sind unsere Chancen.“ „Und wenn sie doch was merken?“ flüsterte Bill erregt. „Auf sie mit Gebrüll“, sagte Ben Brighton trocken. „Der erste, der ein Messer in die Finger kriegt, schneidet dann Luana los. Und vergeßt nicht, daß wir es mit einer ganz verdammten Übermacht zu tun haben. Die Parole heißt Rückzug. Keine Alleingänge! Bill und Dan. das gilt besonders für euch beiden.“ „Bin ich bescheuert?“ fragte der junge O’Flynn empört „Ja“, sagte Ben Brighton schlicht. „Noch Fragen?“ Dan verkniff sich seinen Kommentar.
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Matt Davies war es, der noch eine Frage stellen wollte, aber dazu kam er nicht mehr. Jäh brandete Geschrei auf. In einem Teil des Lagers, den die Seewölfe nicht überblicken konnten, brüllten Stimmen durcheinander. Heisere, aufgeregte Stimmen, die Flüche hervorstießen. Deutlich dazwischen ertönten die peitschenden Befehle Carlos Ingarras. „Himmel, Arsch!“ zischte Ben Brighton. „Sie haben die ‚Isabella’ gesichtet. Und jetzt wollen sie uns aus der verdammten Hütte holen.“ Geflüsterte Flüche. Schon konnten die Seewölfe das Trampeln sich nähernder Schritte hören - und damit fiel ihr ganzer schöner Plan ins Wasser. „Also auf sie mit Gebrüll!“ sagte Ed Carberry durch die Zähne. Im nächsten Moment demonstrierte er bereits, was ein Kerl wie der eiserne Profos sich unter Gebrüll vorstellte. Jeder Löwe wäre grün geworden vor Neid. Carberry hatte zwar keine Waffe, nicht einmal das kleinste Messerehen, aber er stürzte sich auf die Spanier am Feuer, als wisse er eine halbe Armee hinter sich. Die Kerle zuckten erschrocken zusammen. Hinter ihnen das Geschrei ihrer eigenen Kumpane, vor ihnen ein Riese von einem Mann, der wie ein wildgewordener Gorilla auf sie zustürmte, das war entschieden zuviel. Zwei, drei Sekunden versteinerten die Spanier und ehe sie sich auch nur halbwegs gefaßt hatten, stürmten die restlichen Seewölfe aus dem Schatten zwischen den Hütten hervor. Ed Carberry trat einem der Spanier unter das Kinn, daß er rückwärts ins Feuer flog. Der Mann schrie, als werde er geröstet, was ja auch zutraf. Zwei, drei seiner Kumpane sprangen jetzt endlich auf. Dem ersten schlug der Profos die Nase buchstäblich platt, den zweiten schnappte er sich, hievte ihn hoch und schleuderte ihn hinter sich, den anderen entgegen. „Arwenack!“ schrie Dan O’Flynn begeistert.
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„Arwenack!“ fielen Bill, Matt Davies und Ben Brighton ein. Dem durch die Luft wirbelnden Spanier verging Hören und Sehen. Schon der Aufprall auf dem steinigen Boden raubte ihm das Bewußtsein. Ben Brighton bediente ihn zusätzlich mit einem brettharten Kinnhaken. Während Ben, Matt und Bill weiterrannten, bückte sich Dan O’Flynn und zerrte dem Spanier hastig den langen, schmalen Dolch aus dem Gürtel. Mit drei, vier Sprüngen war der Junge an dem Pfahl in der Mitte des freien Platzes und schnitt die zitternde Luana los. „Lauf weg!“ rief er ihr zu. Dabei warf er sich schon wieder herum, um sich in den Kampf zu stürzen, und im selben Augenblick fielen die ersten Schüsse. Luana schrie auf. Schwankend stand sie da, erstarrt vor Schrecken. Dan schnellte sich auf sie zu und riß sie zu Boden. Zwei, drei Kugeln zischten dicht über seinen Rücken weg, und als er den Kopf drehte, sah er staubige Stiefel. Geschmeidig wie eine Katze rollte er sich von dem nackten Mädchen herunter. Luana sprang auf, wischte unter zupackenden Fäusten durch und suchte ihr Heil in der Flucht. Der Spanier starrte der fliehenden Nackten einen Moment zu lange nach. Dan sprang ihm in den Nacken – und nur das Eingreifen von zwei, drei weiteren Dons rettete den Kerl davor, mit durchgeschnittener Kehle die große Reise anzutreten, Dan O’Flynn ging mit fliegenden Fahnen unter. Drüben am Feuer kämpften seine Freunde, daß die Fetzen flogen. Carlos Ingarra hatte mit überschnappender Stimme geschrien, daß er die verdammten Engländer lebend haben wolle. Den „verdammten Engländern“ konnte es recht sein. Ben Brighton und Ed Carberry hatten sich lange Entermesser erobert: Der fünfzehnjährige Bill kämpfte mit Nägeln und Zähnen. Und Matt Davies hatte ohnehin noch nie eine andere Waffe gebraucht als seinen scharf geschliffenen
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Haken. Schon der Anblick der blitzenden Prothese ließ die Spanier schreiend zurückweichen. Matt fletschte die Zähne, fuchtelte mit dem Haken und trieb seine Gegner Ed Carberry in die Arme, der sich genüßlich ihrer annahm. Bewußtlose und Verletzte lagen am Boden. Irgendwo raste immer noch der Kerl mit dem verbrannten Hintern herum und gebärdete sich wie ein heulender Derwisch. Die Seewölfe hatten die Hölle losgelassen, aber jetzt, nachdem der Überraschungseffekt zum Teufel war, hatten sie keine Chance mehr, mit der Übermacht fertig zu werden. Ben Brighton erhielt ein Ding auf den Schädel, als er den Kopf in die Richtung wandte, in der Luanas Schrei gellte. Daß zwei Spanier das Mädchen wieder eingefangen hatten, konnte er nicht mehr sehen, da es dunkel um ihn wurde. Bill erwischte fast gleichzeitig einen Genickschlag. Mit einem wilden Wutgebrüll wollte sich der Profos auf den Täter stürzen, doch er rannte sich in einem Knäuel von sechs, sieben Spaniern fest, die ihn mit kurzen, handlichen Holzknüppeln bearbeiteten. Matt Davies war der einzige, der noch freien Raum hatte. Mit wilden Blicken sah er sich um, aber nicht mehr lange: Gleich zwei von den Spaniern verfielen gleichzeitig auf die Lösung des Problems, wie sie den Engländer ausschalten konnten, ohne dem mörderischen Haken zu nahe zu geraten. Dem ersten Stein wich Matt Davies fast elegant aus. Aber der zweite traf ihn voll an der Stirn und raubte ihm schlagartig das Bewußtsein. Keiner der Seewölfe sah mehr, wie die erschöpfte, zitternde Luana wieder an den Pfahl gebunden wurde. Und keiner der Männer hörte das haßerfüllte Vibrieren in Carlos Ingarras Stimme, als er seine teuflischen Befehle gab. *
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„Jetzt ist der Ofen aus“, sagte Ferris Tucker sachlich. „Die haben uns entdeckt“, murmelte Luke Morgan reichlich verspätet, denn daß die „Isabella“ entdeckt worden war, ließ sich beim besten Willen nicht mehr übersehen. Fackeln tanzten hoch über ihnen zwischen den Felsen. Und im Licht dieser Fackeln hoben sich Gestalten gleich Schattenrissen ab, stolpernde, erschöpfte Gestalten, Männer, denen die Hände auf den Rücken gefesselt waren. Und noch etwas erkannte der Seewolf: die stabilen Hanfstricke, die man den Männern um die Hälse gelegt hatte und die sie mit ihren gefesselten Händen nicht abstreifen konnten. Auf der Kuhl stöhnte Batuti auf. Ferris Tucker, der neben Hasard auf dem Achterkastell stand, knirschte voll verzweifelter Wut mit den Zähnen. Deutlich war zu sehen, daß die Männer dort oben Widerstand leisteten, daß sie sich weigerten, als Druckmittel gegen ihre Kameraden zu dienen. Eine Chance hatten sie nicht. Einer der Meuterer sprang auf den schmächtigen Bill zu. und im Licht der Fackel glänzte der Lauf der Radschloßpistole, die der Kerl dem Jungen gegen die Schläfe preßte. Das Stakkato spanischer Worte konnte Hasard aus der Entfernung nicht verstehen, aber er war sicher, daß Ingarra damit drohte, Bill zu erschießen, wenn die anderen nicht freiwillig an den Rand der Steilwand traten. Sie fügten sich. Sie hatten gar keine Wahl, wenn sie nicht das Leben des Jungen aufs Spiel setzen wollten. Da der Fackelschein sie von hinten traf, waren ihre Gesichter nicht zu erkennen, aber Hasard brauchte nicht viel Phantasie, um sich den Ausdruck auf diesen Gesichtern vorstellen zu können. „Teufel!“ krächzte Batuti. „Wenn ich Nase von dieses Ingarra-Schwein sehe, Batuti schießt ihm Pfeil durch Kehle. N-grr!“ Das letzte sollte vermutlich das Geräusch sein, das ein Mann von sich gibt, der von einem Pfeil in den Hals getroffen wird.
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Batuti rollte mit den Augen, die Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht. „Du wirst nichts dergleichen tun“, sagte Hasard, ohne die Szene oben am Klippenrand aus den Augen zu lassen. „Oder willst du, daß sie Bill abknallen?“ „Nein, Sir. O verdammich, verdammt und zugenagelt ...“ „Genäht“, murmelte jemand. „Zugenäht heißt das, du schwarzer Affe.“ Niemand lachte. Es war wohl auch nur Galgenhumor gewesen. Der Sprecher, Bob Grey, war nicht weniger bleich und verbiestert als die anderen, und seine Hände umspannten das Schanzkleid so hart, daß die Knöchel weiß und spitz hervortraten. „Deck!“ zischte Sam Roskill im Großmars. „Boot querab Steuerbord! Ein einzelner Mann, ein Spanier!“ Mit drei Schritten stand Hasard am Steuerbordschanzkleid und spähte in die Dunkelheit. Tatsächlich schaukelte ein Boot auf den Wellen: eine Nußschale, die hinter einer vorspringenden Felsennase aufgetaucht war und sich. jetzt rasch näherte. Ein einzelner Mann bediente die Riemen. Ab und zu wandte er den Kopf und warf einen Blick über die Schulter. Im ungewissen Licht waren deutlich die fahle Blässe seiner Haut und das Weiße in den aufgerissenen Augen zu erkennen. Einen Moment hatte Hasard geglaubt, daß da vielleicht ein Spanier zu ihnen überlaufen wollte, jetzt ließ er diese Vermutung fallen. Der Bursche in dem Boot schlotterte vor Angst. Wahrscheinlich hatte Carlos Ingarra ihn als Kurier geschickt und ihn unter allen möglichen Drohungen gezwungen, zur „Isabella“ zu pullen, um mit den Engländern zu verhandeln. Der Mann sah vermutlich sein letztes Stündlein nahen. Es warf ein bezeichnendes Licht auf Carlos Ingarras Charakter, daß der Kerl vor dem selbsternannten Capitan offenbar noch ein bißchen mehr Angst hatte als vor den wütenden Seewölfen. Ein paar Minuten später ging das Boot längsseits.
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Der Mann in dem Kahn richtete sich auf und blickte zu den Männern hoch, die sich über das Schanzkleid beugten. Männer, deren Gesichter die ganze Erbitterung widerspiegelten, die sie empfanden. Der Spanier schluckte krampfhaft und duckte sich, als sei er entschlossen, in der nächsten Sekunde einfach wieder abzulegen und zu fliehen. Schließlich schaffte er es doch, den Anfang seines Spruchs herauszubringen. „Capitan Ingarra schickt mich! Wenn mir etwas passiert, wird euer Schiffsjunge erschossen!“ Der Bursche sprach recht gut Englisch. deshalb war er wohl auch für dieses Unternehmen ausgewählt worden. Vermutlich hatte er seine Sprachkenntnisse in den letzten Minuten gründlich verflucht, aber das half ihm nichts. Die Drohung, daß Bill erschossen würde, wenn dem Kurier etwas passierte, ließ die Gesichter über dem Schanzkleid um keinen Deut freundlicher werden. Im Gegenteil! Batuti fletschte die Zähne und rollte furchterregend mit den Augen. Big Old Shane, der graubärtige Riese, stieß ein Grollen durch die Zähne, das an ein aufziehendes Gewitter erinnerte. Die Männer zeigten die Fäuste, waren bleich vor Zorn, und der Anblick des scharfgeschliffenen Hakens, den Jeff Bowie wütend ins Schanzkleid schlug, ließ den Spanier im Boot zusammenschrumpfen. „Enter auf, du Hund!“ knurrte Ferris Tucker tief in der Kehle. „Los, beeil dich schon, du verdammte feige Ratte!“ Der Spanier schlang die Vorleine des Boots um die Jakobsleiter und enterte auf. Sein Gesicht sah grün aus. Auf den letzten Sprossen zögerte er und wurde knieweich. Ferris Tucker griff zu, packte den schlotternden Kerl am Kragen und zog ihn mit einem Ruck über das Schanzkleid. „Schade“, knirschte er. „Dich würde ich mit Vergnügen zum Putzlumpen verarbeiten und das Deck mit dir aufwischen. Vielleicht begegnen wir uns irgendwann noch mal. Dann nummerierst du besser vorher deine Knochen, sonst
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kriegt hinterher kein Pillendreher die Einzelteile wieder zusammen.“ Eine Minute später stand der Spanier vor dem Seewolf und sah aus, als werde er gleich heulen. „Ich kann nichts dafür“, versicherte er. „Der Capitan hat mich gezwungen. Ich wollte nicht, aber ...“ „Spuck’s aus“, sagte Hasard kalt. „Aber ein bißchen plötzlich. Ich habe keine Lust, mir deine miese Visage länger als nötig anzusehen. Also?“ Der Spanier schluckte, schloß die Augen und öffnete sie wieder. „Der Capitan will, daß ihr von hier verschwindet“, stammelte er. „Er hat gesagt, daß er von jetzt ab jedesmal einen der Gefangenen umbringt, wenn er euer Schiff sichtet. Und —und ihr sollt dafür sorgen. daß ihm die Eingeborenen vom Leib bleiben, hat er gesagt. Wenn mir was passiert, wenn ich nicht heil zurückkehre, erschießt er den Jungen.“ „Das sagtest du schon, du Ratte“, stieß Hasard durch die Zähne. Ihm war eiskalt vor Wut. Und der Spanier zitterte immer heftiger. „Laßt mich laufen!“ flüsterte er. „Es — es hat überhaupt keinen Zweck, mich als Geisel zu nehmen. Der Capitan würde auf mein Leben pfeifen. Ich schwöre es, ich ...“ „Geschenkt“, knurrte Hasard. Daß Ingarra auf das Leben des Kuriers keine Rücksicht nehmen würde, wußte er ohnehin. Am liebsten hätte er den Kerl gevierteilt, zu Hackfleisch verarbeitet oder mit eigenen Händen erwürgt. Den Capitan — nicht diesen kleinen Halunken, der vor Angst bestimmt schon ein Dutzend Tode gestorben war und so weiche Knie hatte, daß er sich offensichtlich nur mühsam auf den eigenen Beinen hielt. „Hau ab“, sagte der Seewolf. Und zu den anderen: „Laßt ihn durch, diesen Bastard,“ Der Spanier flitzte los. Eine Gasse öffnete sich für ihn, eine ziemlich enge Gasse. Es gab ein dumpfes Geräusch. Der Spanier stolperte gegen das Schanzkleid und stieß einen undefinierbaren Laut aus. Hasard wußte
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nicht, warum, und er wollte es auch gar nicht wissen. Ein paar Minuten später pullte der Kerl wie besessen zurück an Land. Er verschwand hinter dem vorspringenden Felsen. Hasard legte den Kopf in den Nacken und starrte zu den Klippen hoch, wo immer noch fünf seiner Männer standen: reglos, gefesselt, den Hals buchstäblich in der Schlinge. Im Gesicht des Seewolfs zuckte kein Muskel. Aber seine Augen’ funkelten blau wie Gletschereis — und genauso hart. „An die Brassen!“ stieß er durch die Zähne. „Heißt Fock und Besan!“ Stumm eilten die Männer an ihre Plätze. Die Segel entfalteten sich, Pete Ballie legte Ruder, die Rahen wurden rundgebraßt. Langsam begannen sich die Segel zu füllen, die „Isabella“ lief Fahrt voraus. Hasards Blick wanderte zurück zu den Klippen, er reckte sich und legte die Hände als Trichter vor den Mund. „Carlos Ingarra!“ dröhnte Seine Stimme über das Wasser. Für einen Moment blieb es still. „Ich höre dich, Engländer!“ tönte es dann sehr dünn und sehr fern zurück. „Ingarra, wenn du meinen Leuten ein Haar krümmst, wird es auf der ganzen Welt kein Mauseloch mehr für dich geben, wo ich dich nicht aufspüren und vor meinen Degen holen würde. Hast du das verstanden?“ Gelächter war die Antwort. Ein gellendes, irrwitziges Gelächter, wie es der Satan persönlich nicht bösartiger zustande gebracht hätte. Philip Hasard Killigrew preßte die Lippen zusammen und schwor sich, daß dem Burschen da oben das Lachen vergehen würde. 4. Das Lachen verging Carlos Ingarra schon ein paar Minuten später. Als die „Isabella“ davonrauschte, waren seine Leute näher an den Klippenrand getreten. Ingarra lachte immer noch— ein dünnes, böses Kichern.
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Bill, der Schiffsjunge, hatte den Kopf sinken lassen. Ed Carberry schob wütend sein Rammkinn vor, und Matt Davies, Dan O’Flynn und Ben Brighton standen mit steinernen Gesichtern, während sich bei ihren Gegnern die Anspannung der letzten Minuten in erregtem Stimmengewirr löste. Die Meuterer glaubten, ein völlig wirksames Mittel gefunden zu haben, um sich ihre Feinde vom Leib zu halten. Die Kerle waren obenauf. Sie fühlten sich sicher, und ihre Gesichter spiegelten Triumph. Jedenfalls bis zu dem Augenblick, in dem einer von ihnen plötzlich einen kurzen, erstickten Schrei ausstieß. „Lope! Lope! Amigo ...“ Ingarra zuckte herum wie von einer Natter gebissen. Auch die anderen drehten die Köpfe, einschließlich der fünf Seewölfe, die deutlich die Spannung fühlten, die von einer Sekunde zur anderen in der Luft zu knistern schien. Der Mann, der geschrien hatte, kniete neben einer reglosen Gestalt am Boden, einer Gestalt, die auf dem Bauch lag, mit weit ausgebreiteten Armen. Im Rücken, in Höhe des Herzens, tränkte etwas Blut den Stoff des schmutzigen Hemdes. Die Wange des Mannes berührte den staubigen Boden. Seine Augen waren gebrochen, sein braunes, wettergegerbtes Gesicht hatte unauslöschlich den Ausdruck eines törichten Staunens angenommen. „Dolch“, sagte Ben Brighton leise. „Jemand hat ihn hinterrücks erstochen und die Waffe wieder mitgenommen.“ „Hinterrücks und verdammt leise dazu“, murmelte Matt Davies. „Na und?“ knurrte Dan O’Flynn. „Willst du für den Hundesohn vielleicht ‘ne Gedenkminute einlegen?“ „El Capitan! Madonna!“ Das war einer der Spanier. Mit leichenblassem Gesicht wich er einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. Fünf, sechs von den anderen vollführten die gleiche verstohlene Handbewegung, als erwarteten sie, daß jeden Augenblick der
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Satan persönlich aus der Hölle steigen würde, um sie lotweise zu holen. Carlos Ingarra wirbelte auf dem Absatz herum. Sein Gesicht war verzerrt. Er fluchte und ließ ein Stakkato von spanischen Sätzen los, die er so schnell und wuterfüllt hervorstieß, daß selbst Ben Brighton Mühe hatte, sie zu verstehen. Die anderen kapierten überhaupt nichts. Nur das Wort „espectro“ hörten sie immer wieder heraus. Und dieses Wort kannten zumindest Dan O’Flynn und Carberry. Damals, als sie zum Dienst auf der Galeere „Tortuga“ gepreßt worden waren, hatten sie es von den abergläubischen spanischen Seeleuten öfters gehört. Geist bedeutete es. Oder Gespenst! „Verdammt!“ zischte Dan. „Was quasseln die Kastanienfresser da dauernd von Gespenstern?“ Ben Brighton runzelte die Stirn. Er hatte nicht alles verstanden. Aber immerhin, es reichte. „Ich weiß nicht genau“, sagte er. „Wenn ich mich nicht irre, bilden die Kerle sich ein, daß der Geist ihres toten Kapitäns auf der Insel herumspuke.“ „Des Kapitäns, gegen den sie gemeutert haben?“ fragte Ed Carberry verblüfft. Und als Ben Brighton nickte: „Verdammt noch eins, glauben die etwa, der Hurensohn da drüben ist von einem Geist umgebracht worden?“ „Genau das glauben sie“, sagte Ben nachdenklich. „Schau dir die Gesichter an, dann weißt du alles.“ Tatsächlich hatten die Gesichter der Spanier die Farbe von schmutziger Milch angenommen. Ed Carberry bewegte sein Amboßkinn und mahlte mit dem Kiefer. Dan O’Flynn und Matt Davies waren etwas blaß um die Nase geworden, und Bill sah nicht viel besser aus als die Spanier. Aus großen Augen sah er sich um, als erwarte er, daß der Geist des toten Kapitäns jeden Moment zwischen den Felsen auftauche. Bill glaubte an Zauber und Magie. Wenn Ben Brighton an die Umstände dachte, unter denen sie den Jungen
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kennengelernt hatten, an die alte AruakZauberin, die dem lehmgeformten Abbild eines Spaniers eine Nadel ins Herz stach, war der Bootsmann nicht einmal mehr so ganz sicher, ob er nicht auch daran glaubte. „Mist, verdammter“, flüsterte er so leise, daß niemand außer ihm selbst es verstehen konnte. Eine halbe Stunde später stolperten die fünf Gefangenen wieder über das Plateau. Die Spanier waren schweigsam, verstört, zum Teil in dumpfes Brüten versunken. Den Toten hatten sie gleich an Ort und Stelle mit Steinen bedeckt. Darin erschöpfte sich ihre Pietät auch schon, wenn man von dem kurzen Gebet absah, das einer der Burschen verstohlen, fast heimlich gesprochen hatte. Carlos Ingarra marschierte mit versteinertem Gesicht an der Spitze. Seine Leute blieben dicht zusammen. Sie hatten Angst, und die Angst machte sie wütend und grausam. Die Gefangenen kriegten das jedesmal zu spüren, wenn sie sich nach Meinung ihrer Bewacher nicht schnell genug bewegten. Die Seewölfe waren froh, als das Lager vor ihnen auftauchte. Luana hing immer noch in ihren Fesseln an dem Pfahl. Sie wirkte erschöpft, apathisch, der Kopf war ihr auf die Brust gesunken. Das Mondlicht ließ ihre glatte nackte Haut schimmern. Sie war ein Anblick, der das Blut jedes Mannes in Wallung bringen mußte, aber im Augenblick sahen die Seewölfe nur die blutigen Kratzer an ihrem Körper, die tief ins Fleisch schneidenden Stricke und empfanden nichts anderes als Mitleid und Wut. Selbst die Spanier verzichteten auf die zotigen Bemerkungen, zu denen sie sich unter normalen Umständen zweifellos herausgefordert gefühlt hätten. Nicht aus Mitleid, durchaus nicht. Bei ihnen war es der Schrecken, der in den Knochen saß, eine dumpfe Furcht, die sich wie ein zäher Nebel über ihre Gehirne legte und sie lähmte. Vielleicht lag es auch an der drückenden Atmosphäre, dem Gewicht dieser Stille, der typischen Ruhe vor dem Sturm. Denn daß ein Sturm
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bevorstand, bemerkten inzwischen auch die Spanier, nachdem die Seewölfe es schon seit einer geraumen Weile gespürt hatten. Sie erwarteten, daß man sie wieder in eine der Hütten bringen würde, vielleicht etwas besser gefesselt als vorher, aber sie irrten sich. Quer durch das Lager trieben die Spanier ihre Gefangenen auf einen wuchtigen, hochragenden Felsblock zu, einen Felsblock, um den eine dicke eiserne Kette herumlief. Und diese Kette wiederum war in Abständen mit eisernen Armbändern versehen -Handschellen, die auch einem noch so scharf geschliffenen Haken widerstehen würden. Carlos Ingarra lächelte böse, als die Seewölfe der Reihe nach angekettet wurden, der Einfachheit halber gleich so, wie sie waren. Mit auf den Rücken gefesselten Händen, in einer. Haltung, die es ihnen nicht einmal gestattete, sich hinzusetzen. „Viel Vergnügen“, zischte der selbsternannte Capitan auf englisch. Damit wandte er sich ab, und auch die anderen Spanier kümmerten sich nicht weiter um die fünf Gefangenen. „Scheiße“, sagte Ed Carberry kurz und prägnant. Niemand hatte dem etwas hinzuzufügen. * Mit dem letzten sanften Luftzug segelte die „Isabella“ in die Bucht auf der „Insel der Steinernen Riesen“. Danach schlief der Wind endgültig ein, die Segel hingen schlaff herab, noch bevor sie aufgegeit wurden. Wie ein körperlich spürbares Gewicht schien sich die bleierne, drohende Schwere über Land und See zu legen. Zwischen den Klippen wurde es in der Dunkelheit lebendig. Fackeln flammten auf, Gestalten bewegten sich huschend über die schräge Geröllrinne und verharrten am Strand. Von irgendwoher tauchte ein Auslegerboot auf. Zwei stämmige Polynesier bewegten es mit
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kurzen Stechpaddeln vorwärts, und im Bug konnte Hasard das weiße Haar und den silbrig schimmernden Vollbart von Jack Henry erkennen. Minuten später enterte der Alte an der Jakobsleiter hoch und schwang sich geschmeidig über das Schanzkleid. Sein Gesicht war gespannt. In den grünlichen Augen glänzte das Mondlicht. „Nun?“ fragte er leise. Hasard berichtete ihm, was geschehen war. Es gab keinen Grund, den alten Mann oder die Eingeborenen über die Ereignisse im unklaren zu lassen. Jack Henry hörte schweigend zu. Nur in seinen Augen tanzten winzige flirrende Reflexe wie Eiskristalle. „Diese Hunde!“ flüsterte er. „Diese Teufel.“ Und nach einer Pause: „Was werden Sie tun, Sir?“ Hasard lächelte matt. So, wie der alte Mann das fragte, klang es hoffnungslos – als erwarte er nur noch die Feststellung, daß es nichts mehr gebe, was man tun könne. Aber er kannte die Seewölfe schlecht. So leicht gab die Crew der „Isabella“ nicht auf, und wenn sie dem Teufel persönlich in die Hölle folgen mußten, um ihm einen Huf zu klauen. „Es ist ganz einfach-, sagte Hasard ruhig. „Wir segeln bei Nacht und Nebel los, drehen außer Sichtweite von Sala-yGomez bei und versuchen, mit Booten an Land zu gehen.“ Und mit einem tiefen Atemzug: „Aber erst müssen wir den Sturm abwarten. Der würde nämlich unsere Boote zu Kleinholz verarbeiten.“ * „Dreckskerle“, sagte Dan O’Flynn inbrünstig. Er starrte zu den Spaniern hinüber, die am Feuer saßen. Der Himmel war schwarz, die feuchte Luft schien sich über die Haut zu legen wie eine klebrige Schicht Gummi. Es konnte nur noch Minuten, höchstens eine halbe Stunde dauern, bis das Unwetter losbrach. Die Meuterer hätten besser daran getan, das Feuer zu löschen, damit der erste
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Windstoß die Glut nicht zwischen die Hütten trug, und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Aber sie dachten nicht daran. Jedenfalls jetzt noch nicht. Sie hockten dicht beisammen, Schulter an Schulter, als könnten sie irgendein unbekanntes Verhängnis abwehren, indem sie ihm den Rücken zukehrten. Lediglich Carlos Ingarra kauerte etwas abseits auf einem Felsblock. Doch auch er rührte sich nicht und starrte wie gebannt ins Feuer. „Sie haben Angst“, sagte Ben Brighton leise. „Vor diesem sogenannten Geist ihres toten Kapitäns. Wenn ich alles richtig verstanden habe, scheint dieses merkwürdige Gespenst schon ein paar andere Kerle abgemurkst zu haben.“ „Waas?“ fragte Matt Davies gedehnt. Ben zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls sind hier auf der Insel in den letzten Wochen ein paar Männer hinterrücks erstochen worden. Die Spanier glauben, daß sich der Geist ihres toten Kapitäns an ihnen rächen will. Natürlich ist das Blödsinn“, setzte er rasch hinzu, als er Bills Augen immer größer werden sah. „Wahrscheinlich hat einer der Eingeborenen das Massaker überlebt und hält sich versteckt, um die Spanier das Fürchten zu lehren.“ „Ja, wahrscheinlich“, stimmte Bill aufatmend zu. „Gespenster! Ha!“ sagte Carberry. „Diese hirnkastrierten Hammel sollen lieber das Feuer löschen. Wenn sie noch lange warten, werden sie die ganze Insel abbrennen. Und hinterher ist es dann wieder das dreimal verdammte Gespenst gewesen. Mann o Mann! Deren Optimismus möchte ich haben. Wenn dieser dämliche Geist alles ist, was ihnen Sorgen bereitet!“ „Ist es aber nicht“, sagte Ben trocken. ..Sie haben ihren Kapitän und zwei Offiziere ausgesetzt. Und je länger sie auf dieser gottverlassenen Insel hocken, desto größer werden ihre Zweifel, daß wirklich alle drei abgesoffen sind. Wenn sie nicht von dem Fluch des toten Kapitäns quasseln, zerfransen sie sich die Münder über die Frage, ob ihre Landsleute sie hier
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aufspüren könnten; Wenn ihr mich fragtdie haben alle nachts im Traum schon den Hals in der Schlinge.“ „Das kommt davon“, sagte Dan zufrieden. „Ja. Nur daß ein spanischer Verband das letzte wäre, was wir hier gebrauchen könnten. Ich glaube ...“ Ben Brighton verstummte. Mit jäher, bösartiger Schärfe fiel eine Bö über die schützende Felsenbarriere ein. Die Spanier sprangen auf und hatten es plötzlich eilig. Rasch löschten sie das Feuer, schütteten Erde über die glimmende Asche und strebten hastig dem Eingang der Höhle zu, die ihnen Schutz vor dem Sturm bieten sollte. „Wollen die uns etwa hier draußen lassen?“ empörte sich Dan O’Flynn. „Ach, du liebe Zeit“, sagte Matt Davies. „Unser Kleiner hat Angst, daß es ihm ins Gesicht pustet.“ „Der Teufel ist dein Kleiner! Wenn ich wieder die Hände frei hab, mach ich aus deinem verdammten Haken einen Korkenzieher!“ „Halt die Klappe“, murmelte Ben Brighton. „Ich wäre schon froh, wenn diese Hunde wenigstens das Mädchen nicht da stehenlassen würden.“ Aber die Spanier dachten nicht daran, die erschöpfte, zitternde Luana von dem Pfahl loszubinden. Sie hatten es warm in ihrer Höhle, sie waren geschützt vor dem Sturm. Bei den Gefangenen genügte es ihnen zu wissen, daß weder das gefesselte Mädchen noch die fünf an den Felsen geketteten Männer ihnen davonfliegen konnten. 5. Drei spanische Galeonen liefen —ziemlich genau in Höhe des 26. südlichen Breitengrades — vor dem Wind nach Westen. Die „Valparaiso“ hatte die Spitze. Die „Valdivia“ und die „Escudo de Navarra“ folgten in Kiellinie. Die Nacht war pechschwarz, und bis vor wenigen Minuten hatte die Luft wie Blei über dem Wasser gelastet. Jetzt frischte es auf, und
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die ersten bösartigen Böen setzten ein, die die Fahrt der drei Galeonen beschleunigten. Ganz kurz nur riß die Wolkendecke auf. Bleiches Mondlicht verwandelte für ein paar Sekunden die See in flüssiges Silber. Capitan Jose da Vasco starrte achteraus, wo sich die Sturmfock der „Valdivia“ wie ein heller Flecken in der Dunkelheit abhob. Wahrscheinlich, überlegte der Capitan, würden sie den Sturm nur beigedreht überstehen. Sein Kiefer mahlte. Ein paar scharfe Falten kerbten sich um seine Mundwinkel, die dunklen, tiefliegenden Augen wurden sehr schmal. Immerhin: der Sturm würde sie schneller als erwartet auf diese beiden seltsamen Inseln zutreiben, die er bisher nur vom Hörensagen kannte. Wenn der Verband nicht auseinandergerissen wurde! Wenn sie nicht wer weiß wie lange brauchen würden, um wieder Fühlung zu bekommen! Der Capitan wandte sich an den hochgewachsenen, ausgemergelten Mann, der neben ihm auf dem Achterkastell stand und unverwandt nach Westen starrte. Jorge Delgado, ehemals erster Offizier der „Maria Mercedes“. Ein Mann, der schreiben und lesen konnte und Linkshänder war. Beides erleichterte die Verständigung mit ihm. Denn Jorge Delgado war stumm, und die rechte Hand hatte ihm ein Hai abgerissen. Er war mehr tot als lebendig gewesen, als ihn ein spanischer Handelsfahrer mitten im Pazifik aufgefischt hatte — hilflos in einem winzigen, halb zertrümmerten Boot treibend. Wochen hatte es gedauert, bis er überhaupt wieder ansprechbar war. Und dann konnte er nicht mehr sprechen — der Schock, sagten die Ärzte. Mit der linken Hand hatte er seine Geschichte auf unzählige Blätter gekritzelt, mühselig, in fiebriger Eile, und in Capitan Jose da Vascos Hirn hatte sich jedes Wort dieser Geschichte eingebrannt wie mit einem glühenden Eisen. Es war die Geschichte von der Meuterei auf der „Maria Mercedes“, die Geschichte eines jähzornigen, unberechenbaren,
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selbstherrlichen Kapitäns, eines machthungrigen, von Gier besessenen Steuermanns —und einer Tragödie, die Jorge Delgado zu einem Wrack hatte werden lassen. Die „Maria Mercedes“ wollte, von Lima kommend, Kap Hoorn runden, als einer der heftigen tropischen Stürme in Verbindung mit einer starken Abdrift sie weit nach Westen verschlug. Dem Sturm folgten Tage und Wochen bleierner Windstille. Die Vorräte gingen zu Ende, das Wasser faulte, der Skorbut begann zu wüten. Der Kapitän versuchte zuerst, die beiden Inseln im Westen zu finden, von denen er gehört hatte. Dann kehrte er um und verbiß sich in den Gedanken, die Küste zu erreichen. Jeder außer ihm wußte, daß das Wahnsinn war, daß sie es niemals schaffen konnten und die Inseln ihre einzige Chance waren. Das Wasser wurde immer knapper, der Durst quälte die Männer, machte sie fast wahnsinnig — und schließlich waren es nur noch zwei Offiziere, die sich den Meuterern unter der Führung von Carlos Ingarra entgegenstellten. Zusammen mit dem Kapitän wurden sie in einem winzigen Boot ausgesetzt, ohne Proviant. Nach dem Willen Carlos Ingarras auch ohne Wasser, doch irgendjemand hatte eine Korbflasche mit verdünntem Wein unter eine Persenning des kleinen Boots geschmuggelt. Capitan Trujillo konnte den Anblick der davonsegelnden „Maria Mercedes“ nicht ertragen. Keiner seiner Begleiter wußte später genau zu sagen, was in den entscheidenden Sekunden in ihm vorging. Er mußte den Verstand verloren haben, einfach übergeschnappt sein. Jedenfalls schrie er etwas von „Tod“ und „Rache“, stürzte sich ins Wasser und schwamm wie ein Wahnsinniger hinter der „Maria Mercedes“ her. In der bewegten See hatten die beiden Offiziere ihn rasch aus den Augen verloren, und es war ihnen auch nicht
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gelungen, ihn wiederzufinden, obwohl sie es versuchten. Hatten sie es wirklich versucht? Jose da Vasco wußte es nicht. Es war ihm gleichgültig. Er jagte die Meuterer, diese Hunde, die es gewagt hatten, sich gegen geheiligte Gesetze zu vergehen. Was auch immer damals wirklich geschehen war, Jorge Delgado war für sein Leben genug gestraft. Er und der andere Offizier hatten nichts weiter tun können, als ihr Geschick in die Hand der Vorsehung zu legen. Sie wußten, daß sie mit dem Boot weder die beiden unbekannten Inseln noch das Festland zu erreichen vermochten. Ihre einzige Chance bestand darin, einem anderen Schiff zu begegnen. Zwei Tage trieben sie in der unendlichen Weite des Pazifik. Dann kam ein neuer Sturm auf, das Boot kenterte, und nur wie durch ein Wunder schafften es die beiden Männer, sich am Kiel festzuklammern. Am nächsten Tag, als sie ihr Fahrzeug gerade mühsam wieder aufgerichtet hatten, erschienen die Haie. Der zweite Offizier wurde in die Tiefe gezogen. Jorge Delgado zerfetzte eine der Bestien die Hand, bevor er sich ins Boot ziehen konnte. Irgendwie gelang es ihm, sich selbst den Arm abzubinden. Stundenlang lag er über der Ducht, fiebernd, mehr tot als lebendig, und er hätte den Abend nicht mehr erlebt, wenn er nicht das schier unglaubliche Glück gehabt hätte, von jenem spanischen Handelsfahrer gesichtet und aufgefischt zu werden. Er hatte überlebt. Seitdem brannte der Haß in ihm, mörderischer, unstillbarer Haß. Ein Haß, dem er nicht einmal Ausdruck verleihen konnte, der nur in seinen brennenden Augen lag und in den tiefen Linien um seine versiegelten Lippen. Nicht umsonst war er an Bord der „Valparaiso“. Nicht umsonst hatte er sich Capitan Jose da Vasco angeschlossen, den sie „El Tiburon“ nannten, den Hai. Auch in Jose da Vasco brannte jene Flamme unversöhnlichen Hasses. Er war
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ein Jäger, ein gnadenloser Jäger, der niemals aufgab, der jedes Ziel erreichte, das er sich gesteckt hatte, der jeden Auftrag mit einer wilden, mörderischen Entschlossenheit erfüllte, die seinem Kriegsnamen alle Ehre bereitete. Jetzt hatte er den Auftrag, die Meuterer von der „Maria Mercedes“ zu finden und abzuurteilen. Er würde sie finden. Und er würde sie aburteilen. Schnell, hart und gnadenlos, mit der ganzen Unerbittlichkeit der ehernen Gesetze, als deren Vertreter er sich fühlte. Jorge Delgado wollte Rache, der „Hai“ wollte das Recht. Ihr Ziel war das gleiche, ein Ziel, dem der Sturm sie näher bringen würde. Jose da Vasco, der „Hai“, lächelte hart, als er das Heulen des Windes in Wanten und Pardunen hörte. * Der Sturm heulte von Osten heran, als wolle er die ganze Insel wie einen lästigen Krümel wegfegen. Wäre die schützende Felsenbarriere nicht gewesen, hätte es die Hütten der Spanier wohl schon bei den ersten tückischen Böen davongewirbelt. Die Felsen brachen die alles vernichtende Gewalt des Orkans, aber was durch die Senke fegte, an den Hütten rüttelte, Büsche entwurzelte und Grasballen, trockenes Holz und kleine Steine vor sich hertrieb, war immer noch schlimm genug. Die Seewölfe, die sich — hilflos an ihren Steinblock gekettet — dicht aneinanderdrängten, wußten zudem, daß es nur der Anfang war. Minuten später riß der erste Blitz den Himmel auf wie eine riesenhafte gezackte Narbe. Krachend folgte der Donner, legte sich betäubend über die Ohren, und dann, als habe jener erste Blitz den Himmel tatsächlich aufgerissen, begann der Regen herunterzurauschen und die Luft wie mit Millionen eisiger, scharfer Pfeilspitzen zu füllen.
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Die Seewölfe drängten sich noch dichter zusammen, preßten die Gesichter gegen den Felsen, wandten dem tobenden Sturm und dem peitschenden Regen den Rücken. Ihre Ketten ließen ihnen genug Bewegungsfreiheit dazu. Ganz davon abgesehen, daß sie salzgewässerte, sturmerprobte Rauhbeine waren, die bei einem Unwetter wie diesem noch in den Wanten herumturnten, Segel bedienten und notfalls dem Teufel ins Maul spuckten. Aber für das Mädchen, das nackt an den Pfahl in der Mitte des Lagers gefesselt war, mußte es die Hölle sein. Die angeketteten Männer fühlten eine Wut, deren Wildheit dem Sturm um nichts nachstand. Carberry murmelte Flüche. Er und Ben Brighton hatten den schmächtigen Bill zwischen sich genommen, der mit seinen fünfzehn Jahren der Belastung am wenigsten gewachsen war. Matt Davies und Dan O’Flynn waren ebenfalls so dicht zusammengerückt, wie es die Ketten gestatteten. Dans blonder Haarschopf flatterte im Wind, obwohl er völlig durchnäßt war. Ab und zu wandte der Junge den Kopf, warf einen Blick aus zusammengekniffenen Augen in die Runde und nahm es in Kauf, daß ihm der Regen wie mit Nadeln ins Gesicht peitschte. „He!“ schrie er plötzlich durch das Heulen des Sturmes. „Mich laust der Affe!“ „Wußte ich doch, daß du Läuse hast!“ brüllte Carberry gallig. „Was ist los, zum Teufel?“ „Der Geist!“ schrie Dan. „Da-drüben!“ „Der ... Himmel, Arsch und Kabelgarn!“ Ed Carberry warf den Kopf herum, riß die Augen auf, bekam Wasser hinein und konnte prompt nichts mehr sehen. Den Fluch, den er daraufhin vom Stapel ließ, hatten Dan und Bill noch nie gehört. Matt Davies verschluckte sich, und Ben Brighton dachte daran, wie gut es doch war, daß die bedauernswerte Luana kein Englisch verstand. Laut genug, um auch von dem Mädchen gehört zu werden, war Carberrys Gebrüll nämlich durchaus gewesen. „Es gibt keine Geister, du Esel!“ übertönte Ben Brighton den Sturm.
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„Ha!“ schrillte Dan. „Und was ist das da?“ „Das ist ...“ Ben verschluckte den Rest. Er hatte geglaubt, daß der Sturm eine wer weiß -wo losgerissene Persenning durch die Luft wirbele, jetzt sah er es genauer. Das war keine Persenning. Das war ein Mantel, eine Art Umhang - und in dem Umhäng steckte eine Gestalt, die über die Felsenkante abwärts turnte. Es gibt keine Geister, wiederholte Ben in Gedanken. Es gibt keine, zum Teufel! Das ist alles Aberglaube! Gab es wirklich keine? Ben biß sich auf die Lippen und starrte die Erscheinung an. Eine Kapuze, fest um den Kopf geschlungen, beschattete das Gesicht. Der schwarze Umhang bauschte sich, flatterte und gemahnte für einen Moment an die Flughäute einer gigantischen Fledermaus. Die Gestalt darunter war in dunkle Lumpen gehüllt: eine hagere, verkrümmte, gnomenhafte Gestalt. Es war, als habe der Sturm das unheimliche Wesen über die Felsen geweht. Wie aus dem Nichts war es aufgetaucht, nahezu aus dem Boden gewachsen, und jetzt duckte es sich tief zwischen die schwankenden Hütten und glitt langsam näher. Funkelten wirklich zwei glühende Augen im Schatten der Kapuze? Ben Brighton hielt die Luft an. Für einen Moment war er fast froh darüber, daß die Spanier seine Handfesseln nicht gelöst hatten, sonst wäre er glatt in die Versuchung geraten, sich zu bekreuzigen. Neben ihm schob der Profos sein zernarbtes Rammkinn vor und stierte auf die Erscheinung. Er hätte nicht gezögert, dem Teufel in der Hölle das Feuer auszupusten. Aber jetzt war er gefesselt, unfähig, sich zu wehren, und seine Stimmungslage ließ sich schon an der Tatsache ablesen, daß er nicht einmal damit drohte, dem Gespenst oder was immer es war die Haut von seinem verdammten Affenarsch zu ziehen. Das „Gespenst“ indessen schien sich für die angeketteten Männer nicht zu interessieren.
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Es glitt auf das Mädchen zu, stellte Ben fest, auf den Pfahl, an dem Luana inzwischen bewußtlos in ihren Fesseln hing. Schräg gegen den Sturm gelehnt, mit flatterndem Umhang kämpfte der Unheimliche sich näher. Selbst der kleine Bill starrte hinüber und achtete nicht mehr auf den Regen, der ihm ins Gesicht peischte. „Himmel Arsch“, ächzte Carberry. Ben Brighton hätte etwas ganz Ähnliches auf der Zunge. Denn der „Geist“ dort drüben entwickelte eine beachtliche Tatkraft, beachtlich jedenfalls für einen Spanier, der von Rechts wegen seit Wochen tot sein mußte. Blitzartig zauberte er aus seinem wehenden Umhang einen langen, schmalen Dolch hervor. Luanas Fesseln fielen. Wie eine Stoffpuppe sackte das Mädchen in sich zusammen. Der „Geist“ steckte das Messer weg, bückte sich und warf sich den schlanken Körper mit einer überraschend kräftigen Bewegung über die Schulter. Zwei Minuten später war er wieder in Sturm und Dunkelheit verschwunden. Die unablässig zuckenden Blitze beleuchteten nur noch den leeren Pfahl. Die Reste der Hanfstricke wurden in alle Himmelsrichtungen davongewirbelt. * Der Sturm flaute erst am nächsten Tag ab. Die „Isabella“ lag geschützt in der Bucht unter den Augen der Steinernen Riesen. Während des tobenden Unwetters erinnerten die Statuen mehr denn je an düstere, gigantische Wachtposten. Ab und zu warfen die Männer an Bord scheue Blicke zu den gewaltigen schwarzen Figuren hinauf, die sich in der Dunkelheit nur als noch schwärzere Schatten abhoben und deren steinerne Gleichgültigkeit gespenstisch wirkte. Gegen Mittag verlor der Sturm an Heftigkeit. Es wurde heller, wenig später riß die Wolkendecke auf, brachen sich die ersten Sonnenstrahlen Bahn und betupften die
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bewegte See mit funkelnden Reflexen. Eine halbe Stunde später wehte nur noch eine leichte Brise von Osten, und der Sonnenball strahlte von einem Himmel, der so makellos blau war, als habe es nie ein Unwetter gegeben. Von der Insel dröhnten die dumpfen Wirbel der Tomtoms herüber. Es war ein eigentümlich aggressiver, bedrohlicher Rhythmus, wie Hasard feststellte. Aus schmalen Augen spähte er zum Land hinüber. Wie auf ein Stichwort hin löste sich ein Auslegerboot aus dem Schatten der Felsen. Diesmal paddelte Jack Henry allein herüber. Er lächelte, als er auf enterte und sich über das Schanzkleid schwang. In den letzten Tagen hatte sein Englisch den mühsamen, hölzernen Klang völlig verloren. Es war seine Heimatsprache, und es hatte nur eines Anstoßes bedurft, um sie auch nach mehr als zehn Jahren unter den Polynesiern wieder ganz in ihm lebendig werden zu lassen. „Kampftrommeln`“, sagte er mit einer Kopfbewegung zur Insel hin. „Häuptling Kualama ist entschlossen, Krieg zu führen.“ „Gegen die Spanier?“ „Ja, gegen die Spanier.“ Jack Henry lächelte matt. „Die Polynesier führen von jeher viele Kriege, habe ich mir erzählen lassen. Hier allerdings haben sie lange in Frieden gelebt. Sie waren zu weit entfernt, zu isoliert von den anderen Stämmen. Aber jetzt ...“ „Wissen Sie, was sie planen?” fragte Hasard. „Einen Kriegszug gegen Sala-y-Gomez. Oder einen Verzweiflungsangriff, wenn Sie so wollen. Sie sind nicht länger bereit. ein Leben in ständiger Furcht zu führen. Sie wollen entweder sterben oder alle Spanier ins Meer zu jagen.“ „Und Luana? Meine Leute?“ „Sie werden Zeit genug haben, um sie alle zu befreien. Um Ihnen das zu sagen, bin ich hier.“ Er breitete die Arme aus und kehrte die Handflächen nach oben. „Meine
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Freunde wissen, daß sie wahrscheinlich nicht die Spanier ins Meer jagen, sondern sterben werden. Und sie werden lange trommeln und tanzen müssen, bevor sie in der Stimmung sind, um loszuschlagen.“ Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Ganz kurz überlegte er, ob es zweckmäßig sein würde, die Polynesier in seine Pläne einzubeziehen. Aber er verwarf die Idee. Bei dem, was er vorhatte, war es besser, sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen. „Wie lange werden sie brauchen?“ fragte er ruhig. „Diesen Tag und noch eine Nacht, denke ich, soweit ich es beurteilen kann. Auch für mich gibt es hier immer noch Rätsel und Überraschungen. Aber ich, werde versuchen, sie zurückzuhalten, damit sie Ihnen nicht in die Quere geraten.“ „Danke, Mister Henry“, sagte Hasard nur. Minuten später war das Boot mit dem weißhaarigen alten Mann schon wieder im Schatten zwischen den Klippen verschwunden. 6. Carlos Ingarras Gesicht war eine weiße, verzerrte Maske. Er starrte den Pfahl an, einen leeren Pfahl. Nicht einmal die Überreste der Hanfstricke waren noch zu sehen, die hatte der Sturm davongewirbelt. Das Mädchen Luana war verschwunden, wie vorn Erdboden verschluckt. Furcht und ohnmächtige Wut ließen die Augen der Spanier aufflackern. Ihre Blicke wandten sich den Seewölfen zu, die erschöpft in ihren Ketten hingen. Wilde, haßerfüllte Blicke. Fäuste wurden geschüttelt. Drohend rückten fünf, sechs Männer auf die Gefangenen zu. „Wo ist das Mädchen?“ fauchte Ingarra. Seine Stimme vibrierte, in den schmalen, engstehenden Augen lag ein fast irrer Glanz. „Wo ist diese verdammte IndioNutte? Redet!“ „Glaubst du, wir haben sie gefressen?“ knurrte Carberry böse. Ingarra riß die Faust hoch und schlug zu. Der Profos konnte sich mit den gefesselten
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Händen nicht decken. Hinter dem Hieb saß jedoch längst nicht genug Dampf, um einem Kerl wie ihm ernsthaft weh zu tun. Aber Ed Carberry hatte die Füße frei. Sein Amboßkinn war in den letzten Tagen schon so oft mißhandelt worden, daß jetzt eine gesunde Wut in ihm explodierte. Blitzartig hob er den Fuß und trat zu. Er traf Ingarras Magen. Das war ungefähr so, als habe ein Maultier den hageren Capitan getreten. Er krümmte sich, flog zurück und brach japsend zusammen. Sein Geiergesicht färbte sich grün, würgend trennte er sich von seiner letzten Mahlzeit. Das allerdings konnten die Seewölfe. nicht mehr sehen, denn in diesem Moment schlugen die wütenden Spanier- schon wie eine Woge über ihnen zusammen. Es hagelte Hiebe, Stöße und Tritte. Dan O’Flynn brachte noch einen Kniestoß an, der seinen Gegner empfindlich traf. Ben Brighton wuchtete seinen Stiefel gegen ein Schienbein, drehte sich dann halb, und Carberry rammte seine breite Schulter gegen die des Bootsmanns. Auf diese Weise wurde Bill, der zwischen ihnen angekettet war, zwar gewissermaßen gegen die Wand gedrückt, aber immerhin blieb er bewahrt vor dem größten Teil des Schlaghagels, der auf die wehrlosen Männer einprasselte. Erst als sie halb bewußtlos in den Ketten hingen, ließen die Spanier von ihnen ab. Carlos Ingarra hatte sich aufgerappelt, obwohl er immer noch grün im Gesicht war und gar nicht gut aussah. Eine schwere Radschloßpistole lag in seiner Rechten. Einen Moment schien es, als wolle er den Profos kommentarlos über den Haufen schießen, dann gewann wieder der Haß auf Luana die Oberhand, auf die Frau, die seinen Bruder getötet hatte. Sein Blick glitt von Carberry ab und wanderte zu Ben Brighton hinüber. Der Bootsmann atmete tief durch. Er wußte, daß Carberrys Leben an einem seidenen Faden hing. Carlos Ingarra wollte Blut sehen. Es genügte jetzt nicht einmal mehr, daß sie ihn nicht weiter reizten. Sie mußten ihm irgendeinen Brocken
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vorwerfen, der seine Aufmerksamkeit gründlich ablenkte. „Wo ist das Mädchen?“ stieß er keuchend durch die Zähne. „Rede, oder dein Freund hat ein Loch im Schädel. Ich frage nicht zweimal, du Bastard.“ Ben Brighton schluckte die Beleidigung. „Jemand hat Luana während des Sturms befreit“, sagte er ruhig. „Ein ziemlich unheimlicher Mann. Schwarz gekleidet, mit einem weiten Kapuzenumhang ...“ „Trujillo!“ stöhnte jemand. „Der Geist! Der Geist des toten Kapitäns!“ „Unsinn!“ schrie Ingarra erbittert. „Für einen Geist war er sehr lebendig“, pflichtete Ben Brighton bei. „Ich habe jedenfalls noch nie erlebt, daß ein Gespenst Hanfstricke mit einem Dolch durchschneidet und sich ein nacktes Mädchen auf die Schulter packt. Wenn ihr mich fragt, ist dieser sogenannte Geist irgendein Kerl, der sich auf der Insel versteckt hält.“ Die Spanier starrten ihn an, mit weit aufgerissenen Augen, ungläubig und schon fast erleichtert. Ein Kerl, der sich auf der Insel versteckt hält! Sie hatten keine Erklärung dafür, konnten es sich nicht vorstellen, aber wie auch immer: ein lebendiger Mensch, gegen den man kämpfen konnte, war hundertmal besser als der Geist eines Toten. Wenn es ein lebendiger Mensch war! Überzeugt waren die Spanier nicht davon, wie Ben Brighton feststellte. Sie wirkten immer noch unsicher, verängstigt und bleich. Am liebsten hätten sie sich wieder in die Höhle verkrochen, in der sie Schutz vor dem Sturm gesucht hatten. Carlos Ingarra mußte ihnen sämtliche Strafen der Hölle androhen, um ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Sein Wille war klar und brutal: Er wollte ]Juana wiederhaben. Er haßte sie bis aufs Blut, haßte sie mit einer Inbrunst, die an Besessenheit grenzte. Er wollte seine Rache, und niemand zweifelte daran, daß er jeden eiskalt niederschießen würde, der sich widersetzte. Die spanischen Meuterer waren im Grunde nichts weiter als feige Ratten.
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Sie wollten nicht nach Luana suchen. Sie wußten, daß Carlos Ingarrasie um seiner Rache willen bedenkenlos über die Klinge springen lassen würde. Im Grunde hätte es nur einer entschlossenen gemeinsamen Aktion bedurft, sich des unbequemen Anführers zu erledigen, doch genau das war es, wozu den Spaniern einfach der Mumm fehlte. Niemand wollte der erste sein. Niemand wollte riskieren, daß ihn die tödliche Kugel traf oder daß sich Ingarra auf ihn stürzte. Die Kerle murrten, ballten die Hände, aber sie duckten sich. Sie wagten keinen Widerstand mehr, als Carlos Ingarra sie in Gruppen einteilte, damit sie systematisch die ganze Insel durchkämmten. Ein paar Minuten später war das Lager leer. Nur noch die gefangenen Seewölfe lehnten angekettet an dem Felsen. Ihre Augen spiegelten die Verachtung, die sie für die feige Bande empfanden. „Ratten“, stieß Ed Carberry durch die Zähne. Und mit einem tiefen Atemzug: „Wenigstens ein Gutes hat die Sache. Wir brauchen für eine Weile ihre dämlichen Visagen nicht mehr zu sehen.“ * „Hijo de Puta! Hijo de Puta!“ Der Kerl, der auf spanisch als „Hurensohn“ beschimpft worden war, zuckte erschrocken zusammen. Sein Blick glitt in die Runde. Kahle Felsen, niedriges Buschwerk, keine Menschenseele. Der Spanier schluckte und wandte sich seinen beiden Kumpanen zu, die mit ihm zusammen die Schlucht absuchten. „Habt ihr’s auch gehört?“ fragte er flüsternd. Stummes Nicken. Die Männer waren stehengeblieben wie vom Donner gerührt, als schräg über ihnen so plötzlich die krächzende Stimme aufklang. Denn an dieser Stelle gab es nichts, jedenfalls nichts außer nackten, bemerkenswert glatten Felsen. Unmöglich konnte sich dort ein menschliches Wesen versteckt haben.
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„Der Geist!“ flüsterte der Mann mit dem Namen Manuel und bekreuzigte sich hastig. „Unsinn!“ Der drahtige Juan schüttelte den Kopf. „Doch nicht am helllichten Tag, Mann! Hast du noch nie davon gehört, daß Geister ...“ „Cobarde!“ kreischte die Stimme. „Bastardo! Hopp-hopp, du Rübenschwein, oder soll ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch ziehen?“ Ein Geist, der Englisch sprach? Selbst der abergläubische Manuel begann zu bezweifeln, daß das Gekrächze wirklich von dem toten Kapitän stammte. Entschlossen marschierte er auf die glatte Steinwand zu - und zuckte zurück, als sich plötzlich ein flatterndes Etwas aus einer kleinen Felsennische erhob. „Rübenschwein!“ kreischte der Papagei Sir John wütend. „Affenarsch und Rübenschwein!“ „Verdammt!“ knirschte Juan. „Schon wieder dieser Vogel!“ Manuel war froh, daß es der Vogel war und nicht der tote Kapitän. Er hob einen Stein auf, schleuderte ihn und traf knapp daneben. Sir John erging sich von neuem in spanischen Flüchen. Die drei Männer grinsten, aber es wirkte immer noch etwas gequält. „Weiter“, sagte Juan. „Wir werden die verdammte Nutte schon finden!“ Die Männer setzten sich wieder in Bewegung. Eine andere Gruppe, noch in Rufweite, durchkämmte einen Teil des Hochplateaus, in dem Buschwerk und Schlingpflanzen ein undurchdringliches Dickicht bildeten. Carlos Ingarra war bei ihnen. Daß er Luana in dieser Wildnis finden würde, bezweifelte er. Eher nahm er an, daß sie — und vermutlich auch der Unbekannte, der sie befreit hatte — in irgendeinem Schlupfwinkel zwischen den Klippen steckten. Ingarra plante, quer über das Plateau zu marschieren und dann die Rückseite der Insel abzusuchen. Ein schriller Aufschrei unterbrach seine Gedanken.
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Er zuckte zusammen und fuhr auf dem Absatz herum. Einer seiner Männer zeigte mit zitternder Hand nach Westen, und Carlos Ingarra entdeckte sofort, was es da zu sehen gab. Eine Gestalt! Mitten in einem Gewirr von Schlingpflanzen und durcheinander gewürfelten Felsen hatte sie sich aufgerichtet. Es war eine Gestalt in einem schwarzen Kapuzenumhang. Ingarra erstarrte. Eine Sekunde setzte sein Herzschlag aus. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Er sah den Totenschädel, einen weißen, grinsenden Schädel mit gebleckten Zähnen und leeren Augenhöhlen. Nur im Unterbewußtsein erfaßte Ingarra, daß irgendetwas mit dem Totenkopf nicht stimmte. Ehe er sich klarmachen konnte, daß das Ding nicht unter der Kapuze steckte, sondern davor schwebte, war die Erscheinung schon wieder verschwunden, als habe sie der Erdboden verschlungen. Ganz kurz nur raschelte es im Gebüsch. Dann hörten die Bewegungen schlagartig auf, und als Carlos Ingarra wenig später in das Dickicht eindrang, war von dem unheimlichen Wesen keine Spur mehr zu entdecken. Ingarra wußte selbst nicht, woher er den Mut genommen hatte, nach dem Ursprung der Erscheinung zu suchen. Der Haß war es, der ihn dazu befähigt hatte. Der gleiche Haß, der auch jetzt seinen Willen hochpeitschte und ihm die Kraft gab, seihe angstschlotternden Kumpane weiterzutreiben. Ingarra hielt die Pistole in der Faust und drohte mit kalter Stimme, jeden zu erschießen, der versuchte, sich davonzustehlen. Seine Augen glommen düster in dem verzerrten Gesicht. Diese Augen verrieten auch dem letzten Mann, daß der Capitan entschlossen War, seine Drohung wahr zu machen. Auf der Westseite der Insel stiegen sie durch die Klippen ab. Es war ein bequemer Abstieg, der keine besonderen Kletterkunststücke erforderte. Über eine
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schräge, gut schulterbreite Rampe bewegten sich die Männer nach unten. Wieder hatte Ingarra die Spitze — und wieder war es ein schriller Schrei, der ihn herumfahren ließ, ein Schrei, dem dumpfes Gepolter folgte. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Carlos Ingarra zum Klippenrand hoch. Steine stürzten über die Kante, eine ganze Lawine. Donnernd polterten sie die Steilwand herunter, krachten auf die Rampe, rollten weiter — und zwei der schreienden, entsetzten Männer schafften es nicht mehr, rechtzeitig zurückzuspringen. Einer von ihnen wurde überrollt und zerquetscht. Der zweite hatte einen Schritt von ihm entfernt gestanden. Der Stein streifte ihn an Bein und Hüfte und riß ihn mit. Ein langgezogener, gellender Schrei brach über seine Lippen. Wie eine Stoffpuppe mit schlenkernden Gliedern wurde er durch die Luft geschleudert, überschlug sich zwei-, dreimal und krachte tief unten mit dem Rücken auf einen rundgewaschenen Felsen. Reglos blieb er liegen, die Glieder unnatürlich verrenkt. Unter seinem Kopf brach ein Strom von Blut hervor, breitete sich aus und lief in breiten Rinnsalen über den Felsen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Anblick, den der Mann bot, der voll von dem herabstürzenden Felsblock getroffen worden war. Schauernd wandten sich die Männer ab, hasteten weiter und beeilten sich, den Strand zu erreichen. Carlos Ingarra fühlte seinen Herzschlag, als trommele ein Hammer von innen gegen seine Rippen. Er kannte die Insel. Er wußte, daß es dort oben noch nie Geröllbrocken gegeben hatte, erst recht nicht einen solchen Haufen, der mit einem Schlag in Bewegung geriet. Jemand mußte sie dort aufgetürmt haben. Vermutlich hatte er sie dann mit Hilfe eines provisorischen Hebels in Bewegung gebracht, als die Männer unmittelbar unter ihm waren. Ingarra kochte vor Wut. Das
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einzige, was ihn halbwegs beruhigte, war der Gedanke, daß dieser unbekannte Jemand eigentlich kein Geist sein konnte, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber wer? Und wie, bei allen Teufeln, erklärte sich dann die unheimliche Erscheinung mit dem Totenschädel, die fast unter ihren Augen wieder im Erdboden versunken war? Carlos Ingarra biß die Zähne zusammen. Genau wie seine Leute starrte er wie gebannt zum Rand der Klippe hoch. Nichts war dort zu sehen, Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber schon zwei Sekunden später traf der nächste Schock die entsetzten Männer. Etwas flog durch die Luft, etwas Rundes, Weißes — scheinbar aus dem Nichts kommend. Mit einem dumpfen Laut landete es im Sand, rollte weiter und blieb unmittelbar vor Ingarras Füßen liegen. Ein Totenschädel, zuckte es durch sein Hirn. Leere Augenhöhlen starrten. Der bleiche Schädel schien ihn anzugrinsen, und das war selbst für den abgebrühten Capitan zuviel. Mit einem irren Schrei zuckte er zurück. Ein zweiter Schrei mischte sich hinein, denn im selben Augenblick wäre Pedro Nandez von einem hellen, länglichen Gegenstand fast am Kopf getroffen worden. Auch dieses Ding prallte in den Sand. Es entpuppte sich als fahler, halbverrotteter Knochen. Ein menschlicher Knochen! Teil eines Skeletts zweifellos! Gleichzeitig ertönte irgendwo in den Klippen ein gellendes, langgezogenes, satanisches Gelächter, und das war endgültig zuviel für die ohnehin lädierten Nerven der Spanier. Wie vom Teufel gehetzt warfen sie sich herum und hetzten los. In blinder Flucht stoben sie in alle Richtungen davon, keuchend, zitternd, nur darauf bedacht, soviel Raum wie möglich zwischen sich und diesen Ort des Schreckens zu bringen. Carlos Ingarra konnte sie nicht mehr halten, und er wollte es auch gar nicht. .
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Er rannte selber. So sah er nicht mehr den vermeintlichen Geist, der sich tief in eine Höhlung zwischen den Klippen duckte und den Fliehenden aus schmalen, glühenden Augen nachstarrte. * „Ha!“ sagte Dan O’Flynn triumphierend. Matt Davies grinste. Seit zehn Minuten standen er und Dan Rücken an Rücken. Jetzt schüttelte der Junge die Hanfstricke von seinen Gelenken. Zwar war seine rechte Hand immer noch angekettet und hielt ihn unverrückbar an dem Felsen fest, aber die Seewölfe hatten genug Optimismus, um die zerfetzten Fesseln als ersten Schritt zu ihrer endgültigen Befreiung zu werten. Dan bewegte grinsend die Schultern. „So“, sagte er aufatmend. „Wenn mir jetzt einer der Dons dumm kommt, kann ich ihm wenigstens eine kleben.“ „Vor allem kannst du jetzt die Hände nach vorn nehmen und Matts Fesseln aufknüpfen“, knurrte Carberry. „Also fang an, ehe ich dir die Haut in Streifen ...“ „Wie denn?“ Dan feixte, während er sich bereits über die Knoten der Stricke hermachte, die Matts Arme auf dem Rücken hielten. Er brauchte keine drei Minuten. Danach wiederholte er die gleiche Prozedur bei Ben Brighton. Der Bootsmann wiederum konnte von seinem Platz aus Bills Handfesseln erreichen. Und der kleine Moses brauchte zwar etwas länger, bis er die Knoten an Ed Carberrys Gelenken aufgeknüpft hatte, aber schließlich war auch das geschafft. Nur noch die breiten eisernen Armbänder verbanden die Gefangenen mit der schweren Kette, die um den Felsblock herumlief. Stabile Eisenkrampen hielten diese Kette, Eisenkrampen, die tief in Gesteinsspalten hineingetrieben worden waren und unverrückbar festsaßen. So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Auch Rütteln und Zerren nutzten nichts. Aber die
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Seewölfe hätten nicht einmal im Traum daran gedacht, jetzt aufzugeben. Matt Davies war bereits dabei, mit seiner Hakenprothese in einer der Felsenritzen herumzukratzen. Ed. Carberry beobachtete ihn einen Moment, dann löste er mit der Linken seinen Gürtel aus den Schlaufen, packte die Schnalle mit dem stabilen Metalldorn und begann ebenfalls zu scharren. Einen Gürtel trugen auch Bill, Dan und Ben Brighton. Schweigend gingen sie an die Arbeit und versuchten verbissen, die Gesteinsspalten zu erweitern. Sie kratzten, stießen und bohrten an den Stellen, wo die Eisenkrampen verankert waren. Es gab Kratzer auf dem Felsen, ziemlich oberflächliche Kratzer. So mancher von Carlos Ingarras verlottertem Haufen hätte in einer solchen Situation wohl schon nach den ersten zehn Minuten aufgegeben, aber nicht die Seewölfe. „Eisen ist härter als Stein!“ erklärte Carberry kategorisch. „Also strengt euch an, ihr Lahmärsche! Nicht so müde, zum Teufel!“ „Ja“, sagte Matt Davies. „Und dann denkt mal an diese – diese Steinzeitmenschen. Die hatten nicht mal Eisen. Und die haben’s sogar geschafft, dicke Löcher in ihre verdammten Steine zu bohren.“ „Was für Menschen, sagst du?“ fragte der Profos interessiert. „Steinzeitmenschen.“ Matt grinste, während er unermüdlich die Spitze seines Hakens durch die Felsenritze zog. „Ich hab mal in Plymouth nach ‘ner Schlägerei im Kittchen gesessen. Da waren so fromme Schwestern, die Fressalien und allen möglichen Bücherkram verteilten. Ich hab was über die Steinzeitmenschen erwischt. Das waren unsere Vorfahren. Liefen noch in Fellen herum und ...“ „Ist mir scheißegal“, sagte Carberry grob. „Ich will wissen, wie sie die Löcher in die verdammten Steine gekriegt haben.“ Das allerdings wußte Matt auch nicht so genau. Er konnte es sich auch nicht recht vorstellen, nicht mehr, nachdem er sah, wie viel oder besser wie wenig sein Haken
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inzwischen ausgerichtet hatte. Finster betrachtete er die Spitze, die bereits wesentlich stumpfer war als eben noch. „Vielleicht stimmt es doch“, murmelte er. „Wenn diese verdammten Steinzeitmenschen zwei, drei Wochen Zeit hatten, um so’n Loch fertig zu kriegen.“ „Wir haben aber nicht zwei, drei Wochen Zeit, du Hammel. Steinzeitmenschen! Wieso, zum Teufel, mußten diese Blödmänner überhaupt Löcher in Steine machen?“ Matt überlegte, scharrte mit seinem Haken herum, runzelte die Stirn. „Weiß ich nicht“, sagte er schließlich, und damit war das Thema erledigt. Eine Viertelstunde später stieß Dan O’Flynn einen leisen Warnruf aus. Auch die anderen hatten die hastigen Schritte gehört, die sich dem Lager näherten. Sie brauchten keine Worte, um sich zu verständigen. In fliegender Hast schnallten sie ihre Gürtel um, legten die Arme auf den Rücken, als seien ihre Hände immer noch gefesselt, und lehnten sich wieder gegen den Felsen. Die Spanier langten in kleinen Trüppchen in ihrem Lager an, atemlos, stolpernd, völlig außer sich. Ihre Gesichter waren bleich, verzerrt und schweißbedeckt. Ein paar von ihnen hatten sich Kleidung und Haut an scharfen Dornen zerrissen. Sie mußten blindlings und ohne Rücksicht auf Verluste durch irgendwelches Dickicht geflohen sein. An die Gefangenen verschwendeten sie kaum einen Blick. Erregt gestikulierten sie und redeten durcheinander. Ben Brighton konzentrierte sich, um mitzubekommen, was passiert war. Die ersten Spanier ließen sich erschöpft am Feuer nieder. Carlos Ingarra, der wenig später mit der letzten Gruppe erschien, gab ein paar knappe Anweisungen und zog sich sofort in seine Hütte zurück. Selbst er sah sehr bleich aus. Als habe er ein Gespenst gesehen, und genau das war es ja auch, was er sich einbildete.
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„Zwei von den Kerlen sind tot“, berichtete Ben Brighton leise. „Ein Steinschlag in den Klippen.“ „Und wieso tun sie dann so, als hätten sie ein halbes Bataillon Wassermänner getroffen?“ fragte Carberry verständnislos. Ben zuckte mit den Schultern. „Weil sie sich einbilden, ein wandelndes Gerippe gesehen zu haben“, sagte er mit leicht belegter Stimme. „Und weil ihnen ein Totenschädel und ein paar verrottete Knochen um die Ohren geflogen sind.“ „Heiliger Strohsack!“ Der Profos verzog das Gesicht. Es war eine abfällige Grimasse, die den angstschlotternden Spaniern galt, aber es war nicht zu übersehen, daß auch der eiserne Carberry sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. „Ein – ein – ein Totenschädel?“ stammelte der fünfzehnjährige Bill. „Behaupten sie jedenfalls“, erwiderte Ben Brighton. „Aber diese feigen Ratten sind ja in der Stimmung, einen Ziegenbock für den Teufel und eine verfaulte Kokosnuß für den Sensenmann zu halten.“ „Hier gibt’s aber keine Kokosnüsse“, sagte Dan dumpf. „Und Ziegenböcke schon gar nicht.“ „Dann haben sie sich eben von dem Kerl ins Bockshorn jagen lassen, der heute nacht das Mädchen ...“ Ben stockte. Er hatte einfach dahergeredet, um Bill zu beruhigen. Wie nahe er der Wahrheit gelangt war, ahnte er nicht, und im Augenblick interessierte ihn ganz etwas anderes. Die Spanier drüben am Feuer ließen einen Tonkrug kreisen. Rum konnte das nicht sein, jedenfalls war Ben überzeugt, daß die diesbezüglichen Vorräte der „Maria Mercedes“ längst verbraucht sein mußten. Hatten die Kerle den Eingeborenen abgeschaut, wie die ihre alkoholischen Getränke brauten? Wenn es so war, dann kam es jetzt vor allem darauf an, was genau es war, das die Burschen da in sich hineinschütteten. Wenn sie Kawa tranken, das polynesische Festgetränk, konnte es bei diesen wilden
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Kerlen verdammt lange dauern, bis sich Wirkung zeigte. Aber da war ja auch noch dieses andere Zeug gewesen. Ben Brighton grinste matt, als er an das Fest dachte, das die Polynesier für die Seewölfe gegeben hatten, nachdem Luana von Hasard vor dem Menschenhai gerettet worden war. Als die Stimmung sich dem Höhepunkt näherte, hatte Häuptling Kualama ein Gesöff herbeigezaubert, hinter dem sich der Rum glatt verstecken konnte. Der alte O’Flynn zum Beispiel hatte wie ein Toter geschlafen. Und danach war er immer noch so benommen gewesen, daß er es nicht einmal fertigbrachte, auf sein Holzbein aufzupassen. Es war weg, als die spanischen Meuterer das Eingeborenendorf überfielen. Erst sehr viel später fand es sich bei dem Kutscher wieder, der es im Eifer des Gefechtes mitgenommen hatte, um es bei dem heißen Kampf den Spaniern um die Ohren zu schlagen. raunzte Carberry. „Ist heute Weihnachten, oder warum grinst du wie eine Koppel Honigkuchenpferde?“ Ben verschwieg, über was er grinste. Er beobachtete den Tonkrug, der inzwischen schon die zweite Runde machte. Die Spanier tranken in großen Schlucken und hatten es offenbar bitter nötig, ihre Angst zu betäuben. Allmählich legte sich die erste Erregung. Die Stimmen wurden ruhiger, gedämpfter, und zwei, drei von den Kerlen wechselten sich darin ab, die Ereignisse noch einmal ausführlich und in allen Einzelheiten zu schildern. Nachdem der Krug zum vierten Mal rundgegangen war, wurden diese Einzelheiten bereits kräftig übertrieben und genüßlich ausgeschmückt. Nach der sechsten Schnapsrunde hatte Ben Brighton das Gefühl, dem Entstehen einer Legende beizuwohnen. Der Alkohol hatte das Entsetzen der Spanier betäubt. Es mußte das geheimnisvolle polynesische Gesöff sein, das die Seewölfe kannten. Die erfrischende, nur leicht berauschende
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Kawa wäre niemals in der Lage gewesen, einen solchen Stimmungsumschwung hervorzurufen. Die Spanier schwadronierten, gaben an, prahlten und logen. Der Bursche, der beinahe einen Knochen an den Kopf bekommen hätte, schmückte sein Erlebnis immer von neuem und immer phantasievoller aus. Zum Schluß hörte es sich an, als sei er unter den fossilen Knochen eines vorzeitlichen Riesen begraben worden. Die totenkopfähnliche Erscheinung im Dickicht auf dem Plateau wurde zu einem Monster, gegen das die Teufel der Hölle, sämtliche Geister, Werwölfe und Hexen und dazu noch alle Wassermänner der sieben Meere reine Waisenknaben waren. Das ungefähr war der Zeitpunkt, zu dem sich die ersten Spanier total betrunken schlafen legten. Die anderen hatten keinen Blick mehr für die Gefangenen. Selbst wenn sie sich nach den Seewölfen umgedreht hätten, wäre es ziemlich gleichgültig gewesen, da sie garantiert schon doppelt sahen. Ben Brighton grinste Matt Davies zu und nickte. „So“, flüsterte er. „Ich glaube, jetzt können wir weiterarbeiten, wenn wir nicht gerade einen Höllenlärm veranstalten.“ Ed Carberry nickte zufrieden. „Hopp-hopp, ihr Lahmärsche!“ trieb er die Männer an. „Raus mit den Gürteln! Nur keine Angst, daß euch die Hosen rutschen, euren verdammten Affenärschen würde etwas frische Luft nur gut tun! Wollt ihr wohl spuren, ihr Rübenschweine? Verdammt, muß ich euch erst die Haut in Streifen abziehen, was, wie?“ Die anderen grinsten nur. Wenn der Profos seine lästerlichen Flüche nicht geflüstert hätte, wäre es fast schon wieder wie auf der guten „Isabella“ gewesen. 7. „Hool weg! Hool weg!“ Auch Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, flüsterte nur.
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Kraftvoll und gleichmäßig wurden die Riemen durchs Wasser gezogen. Vierzehn Männer hatten sich auf drei Boote verteilt. Auf der „Isabella“, die außer Sichtweite von Sala-y-Gomez Treibanker ausgeworfen hatte, waren nur der Kutscher, Old O’Flynn, Will Thorne und der Schimpanse Arwenack zurückgeblieben. Für die anderen hätten auch zwei Boote ausgereicht, aber sie waren unterwegs, um ihre Kameraden zu befreien, und wenn sie die Insel wieder verließen, würde sich ihre Zahl, Luana mitgerechnet, auf zwanzig erhöht haben. Der Seewolf starrte aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Da sie keinerlei Risiko eingehen wollten, hatten sie eine verdammt weite Strecke pullen müssen, aber jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreichten. Schon glaubte Hasard, die schwarzen Umrisse der Insel aus der Nacht emporwachsen zu sehen. Er zog das Spektiv. auseinander. Zwei, drei Minuten später konnte er tatsächlich die Klippen von Sala-y-Gomez erkennen. Ferris Tuckers Stimme wurde noch leiser. „Hool weg! Hool weg!“ Es klang eher wie ein Hauch, aber die Seewölfe hätten ohnehin keine Kommandos gebraucht, um haargenau im selben Takt zu pullen. Hasard grinste leicht, als sein Blick über die Männer glitt. Sie sahen abenteuerlich aus: vermummt, Gesichter und Hände mit dunkler Erde eingerieben, bis auf Batuti, den riesigen Gambia-Neger, der keine Tarnfarbe brauchte. Ferris Tuckers roter Schopf war unter einem schwarzen Tuch verschwunden, genau wie das blonde Haar von Gary Andrews, Stenmark und Bob Grey. Jeder einzelne von ihnen war bis an die Zähne bewaffnet. Aber auch die Messer, Enterbeile, Degen, Säbel und Pistolen trugen sie so, daß kein Aufblinken im schwachen Mondlicht sie verraten konnte. Im Augenblick wäre Hasard eine völlig mondlose, pechschwarze Nacht
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entschieden lieber gewesen, aber er ahnte, daß sie das spärliche Licht noch brauchen würden. Sie hielten auf die Südseite der Insel zu. Denn nach allem, was bereits geschehen war, hatte Hasard geschlossen, daß die Meuterer sie aus dieser an sich natürlichsten Richtung am allerwenigsten erwarten würden. Ferris Tucker hatte gefragt, was denn sei, wenn die Kerle dämlich wären. Eine gute Frage. Wenn Carlos Ingarra ein Idiot war, würde er nämlich nach wie vor verstärkt nach Süden Ausschau halten. Aber Hasard glaubte einfach nicht daran, daß Carlos Ingarra ein Idiot war. Bis jetzt sah es so aus, als würde der Seewolf recht behalten. Nichts rührte sich auf der Insel. Schon wuchsen die Klippen vor den Männern in ihren winzigen Booten ins Gigantische. Unbehelligt näherte sich der kleine Konvoi der Insel, und ebenso unbehelligt glitt er durch die schmale Einfahrt in eine der vielen versteckten Buchten. Als sie wenig später die Boote auf den Strandstreifen zogen, waren die Seewölfe fast schon sicher, daß niemand sie bemerkt hatte. Niemand? „Eh!“ flüsterte Gary Andrews, der zwar nicht mit Dans scharfen Augen konkurrieren konnte, aber alles andere als kurzsichtig war. „Was?“ fragte Hasard scharf. „Da oben in den Klippen! Der Teufel soll mich lotweise holen, wenn da nicht was bewegt hat!“ Hasard starrte angestrengt in die angegebene Richtung. Die anderen folgten seinem Beispiel. Erkennen konnten sie nichts, jedenfalls nichts außer nacktem Felsen, weiß schimmerndem Vogeldreck und tiefen Schatten, aber jetzt schien auch Gary Andrews nichts mehr zu sehen. „Ich weiß nicht“, murmelte er. „Vielleicht hab ich mich geirrt.“ „Dann beklag dich auch nicht, wenn dich der Teufel holt“, flüsterte Ferris Tucker. „Oder wenn ich dir gleich mit meinem Haken irgendwas aufreiße!“ sagte Jeff
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Bowie. „Himmel Arsch, als ob wir nicht ...“ Er stockte abrupt. Hasard hob warnend die Hand, aber auch ohne die Geste wären die Männer in dieser Sekunde mucksmäuschenstill geworden. Jetzt hatte es jeder gehört. Ein Geräusch in den Klippen! Etwas wie ein leises Schaben, fast unmerklich. „D-d -da ...!“ stieß Stenmark hervor. Er stotterte vor Schrecken. Aber darauf achtete niemand. Und vermutlich hätte jeder andere in diesem Augenblick ebenfalls gestottert. Etwas flog durch die Luft. Etwas Rundes, Weißes. Unmittelbar vor den Seewölfen landete es auf dem Strand, und für zwei, drei Sekunden herrschte tiefe, atemlose Stille. Ein Schädel lag im Sand. Ein bleicher, grinsender Totenschädel. Hasard schluckte hart. Die Männer standen reglos, mit gespannten Muskeln. Aber niemand schrie, niemand ergriff die Flucht. So leicht wie die spanischen Meuterer verloren die Seewölfe nicht die Nerven. Mit einem Ruck hob Hasard den Blick und starrte zu den Klippen hinauf. Dort oben bewegte sich etwas. Ein dunkler Schatten. Etwas scharrte leise, und dann ging ein Stöhnen durch die Gruppe der Männer. Da war noch ein Totenkopf! Ein bleicher Schädel, der in der Luft schwebte, stumm und drohend. So jedenfalls sah es auf den ersten Blick aus, doch Hasard ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Auch ihm war der Schrecken in die Glieder gefahren, aber er war nicht der Mann, der blindlings davonlief. Im Gegenteil: er sah sehr genau hin. Und dieser zweite Blick lieferte ihm eine durchaus vernünftige Erklärung für die vermeintliche Geistererscheinung. Es war ein ganz gewöhnlicher Totenschädel, den jemand auf eine lange Stange gespießt hatte. Dahinter bewegte sich schattenhaft etwas, eine Gestalt, die sich schwarz vermummt hatte und deshalb fast mit den dunklen
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Felsen verschmolz. Hasard atmete tief durch. Er begriff, daß da jemand versuchte, sie ganz gewaltig zu verschaukeln. Gesunde Wut verscheuchte den Schrecken. Blitzartig zog der Seewolf die sächsische Reiterpistole aus dem Gürtel. „Komm her, du Komiker!“ rief er auf spanisch, da er in dem Unbekannten einen Don vermutete. Zumindest hatte der Kerl die Worte verstanden. Er mußte sich hundertprozentig auf die Wirksamkeit seines faulen Zaubers verlassen haben, denn jetzt war er es, dem offenbar der Schrecken in die Glieder fuhr. Die Stange mit dem Schädel kippte. Für einen Moment war das blasse Oval eines Gesichts zu sehen. Der Bursche warf sich herum und wollte irgendwohin verschwinden, aber da hatte sich der Seewolf bereits in Bewegung gesetzt. Mit drei langen Schritten überquerte er den Strand, turnte auf einen Felsblock und schwang sich von dort aus auf eine schmale Gesteinsrampe. Über ihm versuchte die dunkle Gestalt, ein Stück höher in die Klippen zu klettern. Da war ein kleines Plateau, etwas wie ein schwarzes Loch, das Hasard nur undeutlich erkennen konnte. Die schräge Rampe führte hinauf. Wie eine Katze kletterte Hasard weiter und erreichte den Felsenvorsprung genau in der Sekunde, in der sich der Unbekannte in das dunkle Loch zurückziehen wollte. Der Seewolf sprang. Ein heller, kreischender Schrei gellte vor ihm. Der Kerl stolperte und verlor fast das Gleichgewicht. Hasards Hand zuckte vor. Ehe sich der Unbekannte wieder gefangen hatte, packte ihn der Seewolf am Kragen und zerrte ihn mit einer heftigen Bewegung herum. Das war kein Geist. Es war ein ausgemergelter, weißhaariger Mann, der jetzt an allen Gliedern zitterte, in sich zusammenfiel und mit krächzender Stimme auf spanisch um Gnade winselte. *
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Zehn Minuten später wußten die Seewölfe, was es mit dem vermeintlichen Geist auf sich hatte. Der Mann war wahnsinnig. Er mußte wahnsinnig sein. Die fanatisch glühenden Augen verrieten es, die Art, wie er den Seewölfen begegnete, als sei das Auftauchen von Engländern auf Sala-yGomez nicht ungewöhnlich, sondern von der Vorsehung gewollt — und vor allem die Art, wie er mit fiebriger, krächzender Stimme seine Geschichte hervorsprudelte. Er hieß Antonio Trujillo und war der rechtmäßige Kapitän der „Maria Mercedes“. Carlos Ingarra hatte eine Meuterei gegen ihn in Gang gesetzt und ihn sowie zwei Offiziere in einem winzigen Boot ohne Wasser und Proviant ausgesetzt. Was aus den beiden Offizieren geworden war, ließ sich nicht herausbringen. Trujillo jedenfalls mußte schon damals seinen Verstand verloren haben. Denn anders ließ sich nicht erklären, was er mit triumphierend funkelnden Augen erzählte: daß er ins Wasser gesprungen und nach Sala-y-Gomez geschwommen sei, um blutige Rache an den Meuterern zu nehmen. Hasard nahm an, daß in Wahrheit vermutlich das Boot gekentert und Trujillo auf der Insel angetrieben worden war. Jedenfalls schien er seitdem einen Privatkrieg gegen die Meuterer zu führen, sie als vermeintlicher Geist in Angst und recken zu versetzen, immer wieder zuzuschlagen und den einen oder anderen der Männer meuchlings umzubringen. Dabei half ihm, daß er ein unterirdisches Höhlensystem entdeckt hatte, ein Labyrinth, das die ganze Insel durchzog, zahllose Ausgänge hatte es ihm gestattete, an allen mögen Ecken plötzlich aufzutauchen wieder zu verschwinden. Flüsternd, mit glühenden Augen erzählte er davon. Bis zum letzten Mann wollte er die Meuterer ausrotten. Der Haß verzerrte sein Gesicht, sein Körper zuckte wie unter Krämpfen, und für einen Augenblick schien er die Seewölfe völlig vergessen zu haben.
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Hasard wollte nach seinen Männern fragen, nach dem Lager der Spanier, nach einer Möglichkeit, un- gesehen dorthin zu gelangen, doch im selben Moment ging von neuem eine Veränderung mit dem Weißhaarigen vor. Er duckte sich zusammen. Seine Augen wurden weit. Ein Funke begann darin zu glimmen, schien zu explodieren — und der wahnsinnige Capitan sprang auf wie von einer Bogensehne abgeschnellt. Er warf sich herum. Ehe Hasard zupacken oder einer der anderen Männer etwas unternehmen konnte, war der Verrückte in der undurchdringlichen Schwärze des Höhleneingangs verschwunden. Nur noch das vielfältige Echo seiner Schritte hallte aus der Tiefe. „Fackeln!“ Der Seewolf biß die Zähne zusammen und tastete sich vorsichtig ein paar Schritte in die Dunkelheit. Hinter ihm flammten drei, vier Fackeln auf, Ferris Tucker reichte ihm eine davon an. Flackernder Widerschein geisterte über die Wände. Eine kleine Grotte tat sich auf. Im Hintergrund führte ein schmaler, übermannshoher Gang tiefer in den Berg. Hasard ging darauf zu, die anderen folgten ihm, doch nach ein. paar Schritten blieben sie stehen wie vom Donner gerührt. Ein kurzer, erschrockener Schrei gellte auf — aus der Richtung, in der sich die polternden Schritte des verrückten Capitans entfernt hatten. Andere Schritte mischten sich hinein. Die leisen, klatschenden Schritte nackter Sohlen. In dem Gang tauchte ein Schatten auf, stolperte näher und taumelte ins Licht der Fackel. Luana! Zerschunden, mit wirrem Haar und völlig nackt. Für ein paar Sekunden starrten die Seewölfe die Erscheinung mit vor Verblüffung aufgerissenen Augen an. Auch Luana verharrte wie erstarrt, leicht schwankend, die Arme abwehrend vorgestreckt. Sie blinzelte. Das Fackellicht
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blendete sie. Ein paar Herzschläge dauerte es, bis sie die Männer in der Grotte erkannt hatte, und dann erzitterte sie unter einem tiefen, erleichterten Atemzug. „Kili-Gru“, flüsterte sie. Sie stürzte auf Hasard zu, sank in seine Arme und klammerte sich an ihm fest wie eine Ertrinkende. 8. Der Sturm hatte den spanischen Verband unter dem Kommando des „Hais“ weit auseinandergetrieben. Es dauerte Stunden, bis die „Valparaiso“ und die „Valdivia“ wieder Fühlung bekamen. Beide Schiffe suchten – ebenfalls stundenlang –nach der „Escudo de Navarra“. Erst gegen Abend sichteten sie die Galeone. Sie war angeschlagen, hatte im Sturm die Fockrah verloren und Treibanker geworfen, um eine neue ,Rah riggen zu können, die sie als Ersatzspiere im Frachtraum mitführte. Jose da Vasco und Miguel Flores, der Capitan der „Valdivia“, schickten je ein Boot mit sechs Mann zu der sturmzerrauften „Escudo de Navarra“ hinüber, um die Arbeit zu beschleunigen. Währenddessen trafen sich die drei Kapitäne im Achterkastell der „Valparaiso“ zu einer Besprechung. Marco Valdez von der „Escudo de Navarra“ plädierte sofort dafür, die Suche nach der „Maria Mercedes“ aufzugeben. „Es ist sinnlos“, erklärte er. „Wahrscheinlich gibt es diese beiden merkwürdigen Inseln überhaupt nicht. Oder wir werden sie nicht finden. Unsere Vorräte gehen zur Neige. Der Sturm hat uns ziemlich mitgenommen. Der Himmel weiß, ob wir je wieder zurückfinden, wenn wir jetzt noch weitersegeln.“ Miguel Flores von der „Valdivia“ nickte beifällig. Jose da Vasco preßte die Lippen zusammen. „El Tiburon“, der Hai, trug seinen Kriegsnamen nicht umsonst. Er war ein unerbittlicher Jäger, und es gab nichts, das ihn von einer einmal aufgenommenen Fährte abbringen konnte.
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„Es muß diese Inseln geben“, sagte er hart. „Wo sonst sollte die ,Maria Mercedes’ abgeblieben sein? Diese Verbrecher können nur auf einer der Inseln stecken, wenn sie nicht gleich weitergerauscht sind bis nach Indien.“ „Und wenn die ‚Maria Mercedes’ längst in die Tiefe gefahren ist?“ fragte Miguel Flores. „Warum sollte sie? Es ist ein gutes Schiff.“ „Aber Carlos Ingarra ist ein schlechter Kapitän! Ein dreckiger Meuterer und verdammter Bastard.“ „Auch ein dreckiger Meuterer kann ein guter Seemann sein.“ Der „Hai“ lächelte dünn und atmete tief durch. „Ich habe das Kommando über diesen Verband, Senores. Und ich teile Ihnen hiermit meine Entscheidung mit. Wir segeln weiter. Wir versuchen, eine der beiden Inseln anzulaufen, und zwar die nördliche. Noch Fragen, Senores?“ Niemand sagte etwas. Der „Hai“ hatte entschieden. Die beiden anderen Kapitäne kannten diesen Mann gut genug, um zu wissen, daß es völlig sinnlos war, über diese Entscheidung noch zu diskutieren. Miguel Flores und Marco Valdez ließen sich wieder zu ihren Schiffen zurückpullen. Eine knappe Stunde später war auf der „Escudo de Navarra“ eine neue Rah geriggt, und die Männer der ,Valparaiso“ und „Valdivia“ kehrten ebenfalls an Bord zurück. Die drei Galeonen des Verbandes setzten Segel und steuerten mit Backstagbrise nach Westen, um ihre erbarmungslose Jagd fortzusetzen. * „Das schaffen wir in hundert Jahren nicht“, sagte Matt Davies. „Doch“, knurrte Carberry. „In hundert Jahren bestimmt. Aber wir haben keine hundert Jahre Zeit, du Hering.“ „Und was, zum Teufel, sollen wir dann ...“ Matt verstummte jäh.
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Irgendwo in unmittelbarer Nähe gellte ein Schrei auf. Ein langgezogener, irrer Schrei, der entfernt an das Beulen eines einsamen Wolfs in einer Winternacht erinnerte – und den selbst die Spanier am Feuer wahrnahmen, obwohl sie zu dieser Zeit bereits völlig betrunken waren und nur noch lallen konnten. Jetzt hoben sie erschrocken die Köpfe und stierten aus glasigen, blutunterlaufenen. Augen in die Dunkelheit. Auch die Seewölfe spähten dorthin, wo sie den Schrei gehört hatten. Das Gelände stieg steil an, Felsen und Dornengestrüpp bildeten ein unübersichtliches Gewirr. Irgendwo dort oben, über dem Lager der Spanier, bewegte sich etwas im Gebüsch. Zweige raschelten, dann gellte von neuem der unheimliche Schrei auf, wurde leiser und schlug um in ein wildes, irrwitziges Gelächter. Erschrocken sprangen die Meuterer auf. Sie schwankten, torkelten, aber ein Teil der Trunkenheit war von ihnen abgefallen, der Schrecken hatte sie schlagartig ernüchtert. Fäuste fuhren zu Pistolen und Messern. Carlos Ingarra stieß die Tür seiner Hütte auf. Auch er hatte versucht, sich mit Alkohol zu betäuben, und schwankte leicht. Er warf den Kopf herum und starrte die Gestalt an, die im selben Augenblick aus dem Gebüsch hervorbrach. Es war eine Gestalt in einem wehenden schwarzen Umhang. Die Kapuze war dem alten Mann vom Kopf gerutscht, das weiße Haar flatterte. In der Rechten hielt er eine lange Stange und fuchtelte mit dem aufgespießten Totenschädel. Kichernd und kreischend, geduckt, in einer Art groteskem Hüpfen tanzte er über die Felsen hinunter wie ein böser Gnom, den die Hölle ausgespuckt zu haben schien. Selbst die abgebrühten Seewölfe bekreuzigten sich angesichts dieser Erscheinung, die tatsächlich nichts Menschliches hatte. „El Espectro!“ kreischte einer der Spanier. „Madonna! El Espectro!“ Der Geist! Der Geist des toten Kapitäns!
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Jetzt war er da, unübersehbar, unheimlich, satanisch. In diesen Sekunden gab es vermutlich keinen unter den Spaniern, der dieses kreischende, wie ein Derwisch herumtanzende Geschöpf mit den Zügen Capitan Trujillos für einen lebendigen Menschen hielt. Sie wichen zurück, einschließlich Carlos Ingarra, dessen Gesicht so weiß wie eine gekalkte Wand war und der seine sonstige Überlegenheit völlig verloren hatte. Wie der Leibhaftige tobte der Alte durch das Lager. Sein Umhang bauschte sich und ließ ihn bei jedem der hüpfenden, grotesken Sprünge wie einen riesigen schwarzen Vogel aussehen. Immer noch schwenkte er die Stange mit dem aufgespießten Schädel. Mit der Linken verstreute er irgendetwas am Boden, und als die Spanier noch weiter zurückwichen, bückte der „Geist“ sich blitzschnell nach der noch brennenden Fackel, die Carlos Ingarra fallen gelassen hatte. Fauchend fuhr die Flamme in das Schwarzpulver, das der Alte verstreut hatte. Stichflammen zuckten empor, fraßen sich zischend weiter und tauch- ten das Lager in ein zuckendes, bläuliches Licht, in dem die hüpfende, kreischende Gestalt in dem schwarzen Umhang noch unheimlicher wirkte. Der Alte stieß ein langgezogenes Heulen aus. In der Linken die Fackel, in der Rechten die Totenkopf-Stange — so raste er auf die Gruppe seiner Gegner zu und versuchte, mit dem bleichen Schädel zuzuschlagen. Schreiend spritzten die Spanier auseinander. Sie waren zu betrunken, zu überrascht, zu entsetzt, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Panik peitschte sie vorwärts und ließ sie in alle Richtungen fliehen. Der „Geist“ raste in einem Anfall zügellosen, besessenen Wahnsinns herum und gebärdete sich wie ein leibhaftiger Dämon. Die gefangenen Seewölfe konnten sich nicht mehr vorstellen, daß dieser entfesselte Gnom dasselbe Wesen sein sollte, das während der Sturmnacht das Mädchen Luana befreit hatte.
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Die fünf Gefangenen wären froh gewesen, wenn sie ebenfalls hätten fliehen können. Aber sie waren unlösbar an den Felsen gekettet und konnten dem Verhängnis nur zusehen. * Schrill und langgezogen gellte der Schrei auf, brach sich in den Gängen des unterirdischen Labyrinths und wurde als hundertfältiges Echo zurückgeworfen. Der Seewolf blieb stehen. Hinter ihm murmelte Batuti etwas in seiner Heimatsprache: ein paar Worte, die eine Beschwörung sein mochten, ein Bannspruch gegen böse Geister und ähnliches. Jemand flüsterte einen ellenlangen Fluch. Die Männer hielten den Atem an, und selbst Hasard mußte zugeben, daß sich dieser Schrei in dem düsteren Gewirr der Grotten und Gänge so unheimlich anhörte, als ertöne er aus der Hölle selber. „Totenkopf-Mann“, flüsterte Luana. Ihre Stimme zitterte leicht, aber ihre Angst hielt sich in Grenzen. Vielleicht, weil sie den Unbekannten aus der Nähe gesehen, ihn sogar berührt und dabei gefühlt hatte, daß er kein Geist war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Halb durch Zeichen, halb in einem Gemisch aus spanischen und englischen Brocken hatte sie den Seewölfen zu verstehen gegeben, daß der verrückte Kapitän sie während der Sturmnacht von dem Pfahl losgeschnitten und in das Höhlensystem geschleppt hatte. Es gab einen Eingang, der unmittelbar über dem Lager der Spanier lag, durch einen herabfallenden Rankenvorhang so perfekt getarnt, daß die Meuterer ihn bisher nicht gefunden hatten. Um den Seewölfen das zu erklären, hatte Luana mit dem Fingernagel eine Art Lageplan auf einen algenüberzogenen Felsen geritzt. Jetzt ging sie voran, in eine Jacke gehüllt, die Ferris Tucker gehörte und für das Mädchen die Länge eines Mantels hatte. Sie blieb nur ab und zu stehen, wenn sich
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die Stimme des wahnsinnigen Kapitäns zwischen den Felsen brach. Nach der Begegnung mit den Seewölfen schien Trujillo noch verrückter geworden zu sein, als er es ohnehin schon gewesen war. Er schien auch noch den kümmerlichen Rest seines Verstandes eingebüßt zu haben. Die ganze Zeit über hatten die Seewölfe ihn durch das Labyrinth toben hören, ohne allerdings den Ursprung der Geräusche und verzerrten Echos genau orten zu können. Jetzt wurde das heisere Kreischen leiser, und als Hasard dem Mädchen um die nächste Biegung folgte, sah er am Ende des langen, übermannshohen Gangs einen schwachen, kaum wahrnehmbaren Lichtschimmer. „Ausgang“, flüsterte Luana. „TotenkopfMann - draußen ...“ Hasard nickte knapp und glitt weiter. Er hatte die Fackel gelöscht, und die anderen folgten seinem Beispiel. Der Seewolf ging ein Stück voran. Der Lichtschimmer verstärkte sich, und jetzt war auch zu erkennen, um was es sich handelte: um den Widerschein von Fackeln, der durch dichtes Gestrüpp in die Höhle sickerte. Nein, kein Gestrüpp. Eine Art Rankenvorhang war es, der den Ausgang verdeckte. Deshalb vermutlich hatten die Spanier das Loch im Felsen noch nicht gefunden, obwohl es unmittelbar oberhalb ihres Lagers lag. Hasard gab seinen Leuten ein Zeichen. Sie gingen langsamer, um so wenig Geräusche wie eben möglich zu verursachen. Als sie den Ausgang fast erreicht hatten, hörten sie zum zweiten Male den langgezogenen, irren Schrei. Den Schrei und die aufgeregten Stimmen der spanischen Meuterer, die irgendetwas von „Geist“ und „Hölle“ und „Teufel“ brüllten. Hasard grinste. Besser, dachte er, konnte es überhaupt nicht kommen. Der vermeintliche Geist ihres toten Kapitäns würde die Meuterer ganz schön durcheinanderbringen. Nicht, daß der Seewolf etwa daran gezweifelt
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hätte, daß sie es schaffen würden, die Spanier zu Paaren zu treiben. Aber Hasard dachte vor allem an die Sicherheit der fünf Gefangenen. Carlos Ingarra hatte seine Opfer schon zweimal als Geiseln benutzt und sich feige hinter ihnen verkrochen. Ein drittes Mal durfte ihm das nicht gelingen. Deshalb war ihm der verrückte Kapitän mit seinem irren Geschrei, dem flatternden Umhang und dem aufgespießten Totenschädel durchaus eine nützliche Hilfe. Mit zwei Schritten erreichte Hasard den Höhlenausgang und schob vorsichtig den Rankenvorhang ein wenig zur Seite. Buschwerk. Ein paar durcheinander gewürfelte Felsblöcke und dahinter der Hang, der zum Lager der Spanier abfiel. Noch waren die Hütten nicht zu sehen. Aber Hasard hörte deutlich das Geschrei, das irre Lachen und dann ein eigentümliches Zischen und Fauchen. Stichflammen zuckten hoch. Bläulicher Widerschein geisterte über die Felsen, und ein vielstimmiger Aufschrei verriet, daß die Spanier jetzt völlig in Panik gerieten. Schwarzpulver, dachte Hasard. Er mußte lächeln. Neben ihm stieß der kleine, gewitzte Luke Morgan, der genau wie die anderen durch den Rankenvorhang geschlüpft war, einen leisen Pfiff aus. „Verdammt clever, der Geist“, W stellte er fest. „Jedenfalls für einen Verrückten.“ „Das kann man wohl sagen.“ Hasard stockte. Er hatte sich aus zusammengekniffenen Augen umgesehen. Flüchtig war sein Blick über das Lager geglitten, die Hütten, das glimmende Feuer - und jetzt starrte er zu dem Felsblock hinüber, an den die fünf Gefangenen gekettet waren. Auch die anderen hatten es gesehen. „Na also“, sagte Ferris Tucker leise. „Wir brauchen nur einen Bogen zu schlagen, und das Kind ist geschaukelt.“ Hasard nickte knapp. „Wir beide zuerst, Ferris. Big Old Shane bildet den Schluß. Wir ziehen uns etwas auseinander. Falls die Spanier wieder normal werden und uns entdecken, müssen die letzten von uns sie nach Möglichkeit ablenken. Auf keinen
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Fall darf einer der Kerle den Felsen vor uns erreichen. Alles klar?“ Die Männer nickten ihre Zustimmung. Hasard schlug Ferris Tucker auf die Schulter, geduckt setzten sie sich in Bewegung. Für zwei Dutzend Schritte hielten sie sich parallel zum Hang und begannen den Abstieg erst an einer Stelle, die von den Hütten aus nur schlecht einzusehen war. Blacky, Smoky und Batuti blieben dicht hinter ihnen. Pete Ballie, Gary Andrews und der Stückmeister Al Conroy hatten ein paar Sekunden gewartet, bevor sie ebenfalls starteten. Danach folgten Jeff Bowie, Sam Roskill und Bob Grey. Luke Morgan, der blonde Stenmark und Big Old Shane setzten sich erst in Bewegung, als Hasard und Ferris Tucker bereits die kleine Senke erreicht hatten. Im Augenblick bestand nicht die geringste Gefahr, daß die Spanier sie bemerkten. Im Lager war die Verwirrung komplett. Der angebliche „Geist“ tanzte zwischen den Hütten herum wie ein heulender Derwisch, die Meuterer waren in panischer Hast in alle möglichen Richtungen davongestoben. Vermutlich würde es nicht lange dauern, bis sie den ersten Schrecken überwanden, sich sammelten und vielleicht sogar irgendetwas gegen den „Geist“ unternahmen. Aber dann war es für sie zu spät. Auf keinen Fall würden sie mehr an ihre fünf Gefangenen herankommen. Die Seewölfe brannten darauf, endlich ungehemmt losschlagen zu können, um es diesen feigen Halunken zu zeigen. Hasard war der erste, der um die Ecke der primitiven Hütte bog, die die Sicht auf den Felsblock versperrt hatte. Er mußte grinsen, als er seine Männer sah. Alle fünf waren — entweder mit dem rechten oder dem linken Handgelenk — an den Felsen gekettet. Alle fünf wirkten zerschunden, erschöpft, am Ende ihrer Kräfte, und alle mit Ausnahme von Matt Davies, hielten ihre Gürtel in der freien Hand und waren ganz offensichtlich entschlossen, jedem möglichen Angreifer
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die schweren Schnallen um die Ohren zu schlagen. Sogar der kleine Bill schnitt ein wildes Gesicht. Matt Davies hatte zwar keine Hand frei, aber dafür war seine Hakenprothese eine wesentlich wirksamere Waffe als ein Gürtel. Hasard blieb stehen. Sein Grinsen wurde noch breiter. Neben ihm kicherte Ferris Tucker glucksend. Denn die Gesichter der fünf angeketteten Männer waren in diesen Sekunden wahrlich Gold wert: „Hasard!“ Ben Brighton fand als erster die Sprache wieder. „Himmel Arsch!“ flüsterte der eiserne Carberry andächtig. „Arwenack!“ schrien Bill und Dan wie auf ein geheimes Kommando, und das war natürlich schon wieder entschieden zuviel des Guten. „Ihr habt wohl Bilgewasser gefrühstückt!“ schimpfte Matt Davies. „Verdammt, müßt ihr unbedingt mit dem Gespenst um die Wette schreien, ihre hirnkastrierten Kakerlaken?“ „Halt bloß die Luft an!“ fauchte Dan. „Deine große Klappe ...“ „Ruhe“, sagte Hasard sanft. „Blacky, Smoky, Batuti — ihr bezieht da drüben bei der Hütte Posten. Jetzt bist du dran, Ferris. Am besten fängst du bei Ed an.“ Der rothaarige Schiffszimmermann nickte. Ed Carberry grinste so breit, daß sich sein wüstes Narbengesicht in hundert Lachfalten verzog. Er wußte, was zu tun war. Rasch trat er einen Schritt zur Seite und stellte sich so, daß sich die. Kette, an der das stählerne Armband hing, straff über den Felsen spannte. Ferris Tucker hatte bereits seine Axt vom Gürtel gelöst, diese riesenhafte Axt. mit der er umgehen konnte wie kein zweiter. Mit beiden Fäusten umspannte er den Stiel. Weit holte er aus, schlug zu, und mit einem hellen, laut hallenden Klirren traf die messerscharfe Schneide auf die Kette. Schon beim ersten Hieb verbog sich eins der eisernen Glieder. Carberry biß die Zähne zusammen. Er mußte die Kette straff halten. Die breite,
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stählerne Manschette prellte bei jedem dieser wuchtigen Hiebe schmerzhaft sein Handgelenk. Viermal schlug Ferris Tucker zu. Jedesmal traf die mächtige Axt mit ungeheurer Wucht genau auf dieselbe Stelle. Beim vierten Treffer zersprang das Kettenglied mit einem lauten, fast singenden Geräusch. „Ha!“ schrie Carberry triumphierend. „Und jetzt zur Sache! Wo ist dieses verlauste Rübenschwein, das sich Capitan nennt? Dieser Mißgeburt ziehe ich die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch, den frühstücke ich mit Messer und Gabel!“ „Halt die Luft an, Ed!“ warnte Hasard. „Der nächste! Los, Tempo!“ Der nächste war Bill. Pete Ballie, der Rudergänger, packte mit zu, um die Kette straff zu halten — und Pete Ballie hatte Fäuste wie Ankerklüsen. Hasard nickte ihm zu, wandte sich ab und ging die wenigen Schritte zu Blacky, Smoky und Batuti hinüber. Ed Carberry folgte ihm, und beide kamen gerade rechtzeitig, um die erste verzweifelte Aktion der Spanier zu beobachten. Außerhalb des Lagers hatten sich die Kerle gesammelt. Die meisten waren betrunken. Aber erstens hatten Panik und Entsetzen sie ernüchtert, und zweitens waren wenigstens einige von ihnen schlau genug gewesen, um nach ihren Musketen zu greifen, die in der Nähe des Feuers gelegen hatten. Jetzt legten sie aus sicherer Entfernung an, und dem vermeintlichen Geist flogen die ersten Kugeln um die Ohren. Selbst in seiner wahnsinnigen Raserei schien der „tote“ Kapitän noch zu begreifen, daß bleihaltige Luft nicht gesund war. Mit einem letzten schrillen Kreischen warf er sich herum. Wie ein hüpfender Gnom verschwand er zwischen den Felsen und kletterte affenartig geschickt nach oben. Hasard sah deutlich, wie Luana, die neben dem Höhleneingang wartete, gedankenschnell ins Gebüsch zurückwich.
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Der verrückte Kapitän brach blindlings durch den Rankenvorhang und war im nächsten Moment verschwunden. Die Schüsse verstummten. Aber inzwischen hatten die Spanier die hallenden Axtschläge gehört. Die Erkenntnis, daß das Geräusch von dem Felsblock her ertönte, an den sie ihre Geiseln gekettet hatten, schien ihnen gewaltig unter Haut zu gehen. Ohne Gefangene kein Faustpfand! Ohne Faustpfand konnten sie die „Isabella“-Crew nicht mehr erpressen und würden kämpfen müssen. Kämpfen gegen Männer, die ihnen bei dem Überfall auf die „Insel der Steinernen Riesen“ wie eine Horde rasender Teufel erschienen waren. Carlos Ingarras Stimme gellte. Er brüllte Befehle und trieb seine Leute vorwärts. Quer durch das Lager stürmten sie heran, Musketen und Pistolen schußbereit, aber auch die Männer des Seewolfs waren bis an die Zähne bewaffnet. „Al, Shane, Gary, Bob ...“ Hasard hatte sich darauf: beschränken können, die Namen zu rufen. Was sie zu tun hatten, wußten die Männer von selbst. Blitzartig waren sie zwischen die Hütten geglitten. Die Spanier, die über den freien Platz in der Mitte des Lagers stürmten, rannten in ein offenes Messer. Bei einem von ihnen war das sogar wörtlich zu nehmen: Bob Grey, der beste Messerwerfer der Crew, traf den Kerl mit seiner Waffe genau ins Herz. Big Old Shane und Batuti spannten ihre Bögen — riesenhafte Bögen, deren Geschosse ungeheure Wucht hatten und mit denen sie bei Gefechten auf See ihren Gegnern Brandpfeile in die Takelage zu schießen pflegten. Da sie sich nicht absprechen konnten, hatten sie beide denselben Mann aufs Korn genommen, den an der Spitze. Der Bursche kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Zwei Pfeile ragten plötzlich aus seiner Brust. Die Wucht der Treffer schleuderte ihn mit so viel Vehemenz zurück, daß er gleich vier
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von seinen nachrückenden Kumpanen mitriß. Ein weiterer Spanier sackte lautlos zusammen — Al Conroy konnte nicht nur mit der Drehbasse, sondern auch mit der Muskete ausgezeichnet umgehen. Hasards sächsische Reiterpistole krachte. Wieder lösten sich sirrend zwei Pfeile von straffgespannten Bogensehnen. „Arwenack !“ dröhnte der alte Schlachtruf der „Isabella“-Crew, und zum zweiten Male an diesem Abend gerieten die entnervten Spanier in helle Panik. Diesmal liefen sie wie die Wahnsinnigen. liefen, als wollten sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr stehenbleiben. Vier, fünf Seewölfe wollten die Verfolgung aufnehmen, um den Dons im Nahkampf den Rest zu geben, aber Hasard hielt sie mit einem scharfen Zuruf zurück. „Batuti Blacky! Halt, zum Teufel! Wir bleiben zusammen.“ „Ich Spanier schlagen Morgenstern auf Haupt“, widersprach der riesige Neger. „Die hauen wir doch zu Klump!” behauptete Blacky. „Warum, zum Teufel, willst du sie entwischen lassen?“ „Wollen wir vielleicht in Zukunft Versammlungen einberufen, um über Befehle zu diskutieren?“ fragte Hasard sanft. „Aye, aye, Sir! Ich meine — nein, Sir.“ Blacky zog den Kopf ein. „Na also! Und für den Fall, daß du es gern kapieren möchtest: Wir haben fünf ziemlich lädierte Leute und eine Frau bei uns, und bevor wir anfangen, die Spanier zu Klump zu hauen, müssen wir erst mal unsere Boote sichern.“ Er grinste leicht und schwang herum. „Fertig, Ferris?“ „Fertig“, sagte der rothaarige Schiffszimmermann gelassen. Er hielt die Axt noch in der Faust. Nachdem er fünf stabile Ketten damit zerschlagen hatte, wollte er jetzt endlich zu spanischen Köpfen übergehen. Matt Davies versuchte in wütender Hast, seinen Haken an dem Felsblock wieder einigermaßen spitz zu schleifen. Bill hob einen Stein auf, Dan O’Flynn sah sich nach jemandem um, der ein Entermesser übrig
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hatte. Nur der ruhige, immer besonnene Ben Brighton hatte auf Anhieb den gleichen Gedanken wie der Seewolf. „Die Boote, Hasard“, sagte er ruhig. „Dieser Ingarra ist kein Dummkopf.“ „Weiß ich, Ben, weiß ich. Wir gehen wieder durch die Höhle, das ist der kürzeste Weg.“ „Höhle?“ fragte Dan hellhörig. „Hast du geglaubt, wir sind vom Himmel gefallen, du Rübe?“ raunzte ihn Smoky an. „Ich geb dir gleich was auf die Rübe, du karierter ...“ „Bloß nicht!“ stöhnte Carberry. „Sonst fängt dieses Rübenschwein wieder mit seiner Tempodingsda an und löchert uns von morgens bis abends mit seinen dämlichen Fragen.“ „Selber dämlich! Was ist? Wollt ihr hier noch lange quasseln?“ Das war eine gute Frage. Und Ed Carberry, der eiserne Profos, begann sofort, den Laden auf seine Weise in Schwung zu bringen. Für seine Begriffe hatte er sich eine halbe Ewigkeit darauf beschränken müssen, im Flüsterton zu fluchen. Dafür brüllte er jetzt denn auch, daß die Insel erbebte. „Vorwärts, ihr Rübenschweine! Wollt ihr euch wohl bewegen, oder muß ich euch anlüften? Hopp-hopp, ihr müden Krieger, oder ihr könnt mal an meinen Fäusten riechen!“ * Carlos Ingarra fluchte ebenfalls. Er fluchte auf spanisch, er brachte im Vergleich zu Ed Carberry nicht einmal die halbe Lautstärke, aber seine Leute duckten sich dennoch wie unter Peitschenhieben. Im Gegensatz zu Carberry, diesem im Grunde gutmütigen Klotz von einem Kerl, war der selbsternannte Capitan der „Maria Mercedes“ nämlich grausam, brutal und bösartig bis in den letzten Winkel seiner Seele. Die Meuterer wußten nur zu genau, daß er jede einzelne seiner wüsten Drohungen tödlich ernst meinte. Außerdem hielt er in Situationen wie dieser stets eine schußbereite Pistole in der Faust. Den
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ersten, der es wagte, ihm zu widersprechen, würde er kommentarlos niederschießen. Dieser erste wollte niemand sein, deshalb zogen es die Männer auch jetzt vor, lieber gar nicht zu widersprechen. „Juan!“ fauchte Ingarra. „Du hattest Wache auf der Klippe.“ „Ich habe nicht geschlafen“, wehrte sich Juan gegen den unausgesproenen Vorwurf. Er war ein ruhiger, zäher Mann, der nur einmal in seinem Leben eine Unbesonnenheit begangen hatte: als er sich, halb verrückt vor Durst und vor Wut auf den unfähigen Kapitän, den Meuterern angeschlossen hatte. Inzwischen wünschte er Carlos Ingarra in die siebente Hölle, ohne allerdings seinen Schritt von damals zu bereuen. Denn eins stand nach seiner Meinung felsenfest: daß Capitan weder die Insel noch das Festland erreicht, sondern sie allesamt ins Verderben geführt hätte. „Du mußt geschlafen haben!“ tauchte Ingarra. „Du hättest die Engländer bemerken müssen, du verdammter Bastard!“ Die Pistole in seiner Hand ruckte, und die Mündung wies jetzt auf Juans Magengrube. Der blieb unbeeindruckt. Er hatte wirklich nicht geschlafen. Im Gegenteil. Er war der einzige, der von seinem sicheren Platz in den Klippen aus - überhaupt noch den Versuch unternommen hatte, die Lage zu überblicken, statt wie ein, aufgescheuchtes Huhn herumzurasen. „Die Engländer sind auf demselben Weg erschienen wie dieser - dieser sogenannte Geist“, sagte er ruhig. „Aus einer Höhle unmittelbar über dem Lager. Schau es dir an, Carlos! Der Eingang war vorher von Ranken verdeckt, aber jetzt ist er zu sehen.“ Dabei deutete er mit dem Kopf zu dem Hang auf der anderen Seite der Senke hinüber. Ingarra ließ die Pistole sinken und trat an den Rand der Felsenbarriere, die die Hütten zum Meer hin schützte. Trotz der Dunkelheit hatte er keine Schwierigkeiten, den Eingang der Höhle auf Anhieb zu entdecken, denn hinter den zerrauften,
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durcheinandergeratenen Dornenranken lag noch schwach der Widerschein von Fackeln. „Diablo!“ flüsterte der selbsternannte Capitan. Wie von einer Stahlfeder abgeschnellt wirbelte er wieder herum, sein Blick schien Juan aufzuspießen. „Und die Kerle sind wieder in die Höhle geflohen?“ „Nein“, sagte der drahtige Mann. „Sie sind jedenfalls nicht geflohen“, setzte er hinzu. „Sie haben sich in die Höhle zurückgezogen, vermutlich, weil sie das Mädchen bei sich haben und erst mal ihre Boot sichern wollen.“ „Luana?“ Ingarras Stimme war nur ein Hauch. In seinen Augen begann wieder der unheilvolle Funke zu glühen. „Ja, Luana.“ Juan kostete es Mühe, den Unterton von Ungeduld in seiner Stimme zu bezähmen. Für ihn war der Fall ganz klar. Das Eingeborenenmädchen zählte nicht. Es ging um die Engländer. Wenn die es nämlich schafften, von der Insel zu entwischen, würden sie mit ihrer Galeone zurückkehren und alles kurz und klein schießen. Unter normalen Umständen hätte das auch Carlos Ingarra eingesehen, wenn er nicht seit dem Tod seines Bruders vor Haß und Rachsucht geradezu blind gewesen wäre. „Diese Hure!“ flüsterte er. „Diese verdammte, dreckige Hure!“ „Capitan“, sagte Juan beschwörend. „Die Engländer müssen Boote auf der anderen Seite der Insel liegen haben. Wir müssen sie aufhalten! Hier haben wir eine Chance, weil wir das Gelände besser kennen. Wenn sie uns von See her angreifen ...“ Er brach ab, weil er das wütende Auffunkeln in Carlos Ingarras Augen sah. Es war auch gar nicht nötig, weiterzusprechen. Ingarra war kein guter Seemann. Aber man brauchte kein guter Seemann zu sein, um zu begreifen, daß die verlotterte „Maria Mercedes“ gegen ein Schiff wie die „Isabella“ in einem Seegefecht nicht en Schimmer einer Chance hatte.
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Und ein Seegefecht würden sie führen müssen. Wenn sie es nicht taten, riskierten e, daß die Engländer die ankernde Maria Mercedes“ mit ihren Culverinen zu Kleinholz verarbeiteten, und das würde für die Meuterer auf Sala-y-Gomez das Ende bedeuten. Carlos Ingarra zerbiß einen wüsten Fluch. Er vergaß Luana. Er vergaß seine Rache, er vergaß vorübergehend sogar seinen toten Bruder. Juan hatte recht. Sie mußten sofort handeln, denn für sie alle ging es jetzt um Sein oder Nichtsein. Ingarra atmete tief durch. Seine Augen glühten, und seine Nasenflügel vibrierten. „Vorwärts“. sagte er leise. „Wir werden die Boote finden und zu Kleinholz zerhacken. Und dann werden wir diese verdammten englischen Bastarde zu Paaren treiben und ins Meer jagen.“ * „Uuuh –Uuuaah ...“ Langgezogen und schaurig hallte der Schrei von den Wänden der Höhle wider. Ein Schrei, der von überall und nirgends zu ertönen schien, genau wie die Schritte, genau wie die fauchenden Explosionen von Schwarzpulver, die sie von Zeit zu Zeit gehört hatten. Der Geist des toten Kapitäns führte ein Theater auf, das allmählich auch an den Nerven der hartgesottenen Seewölfe zerrte. „Mit allen Schikanen“, murmelte Ferris Tucker. „Schade, daß das die Dons nicht mehr mitkriegen.“ Dan seufzte. „O du hast wohl Fusseln im Hirn, du Läuseknacker!“ fauchte Ed Carberry. „Ist euer Verstand vielleicht da, wo andere Leute drauf sitzen? Was glaubt ihr wohl, was passiert, wenn dieses Monster von einem Gespenst die ganze verfluchte Höhle in die Luft jagt, was, wie?“ „Dann fällt uns die Decke auf den Kopf, und wir kriegen alle einen Tempodingsda“, sagte Dan vorlaut. „Batuti nix Tempodingsda. Batuti harten Schädel. Hält Decke aus.“
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Hasard grinste, obwohl ihm nicht danach zumute war. Vor fünf Minuten hatten sie das unterirdische Labyrinth betreten. Seitdem war das Gewirr der Gänge und Grotten erfüllt von Gepolter, schrillem Lachen und immer wieder dem Fauchen des brennenden Schwarzpulvers. Der ehemalige Kapitän der „Maria Mercedes“ lief Amok. Er tobte durch die Gänge, die er vermutlich wie seine eigene Westentasche kannte, und veranstaltete ein Feuerwerk, dessen Rauchwolken den Seewölfen in langen Schlieren entgegen trieben. Dieses Feuerwerk war schon längst kein Spaß mehr. Hasard blieb stehen. Aus schmalen Augen starrte er in die Grotte, die vor ihnen lag. Vier, fünf verschiedene Gänge zweigten davon ab. Die Luft war dunstig, der Geruch nach verbranntem Schwarzpulver legte sich beißend auf die Atemwege. Für einen Moment hatte Antonio Trujillo sein Geschrei gemäßigt. Nur noch gedämpftes Gepolter drang von irgendwoher, aber diese relative Stille wirkte fast noch unheimlicher. Der Seewolf nagte auf seiner Unterlippe. Sein Blick glitt nach oben, zu der Höhlendecke, die von tiefen Rissen durchzogen wurde und ziemlich brüchig wirkte. Schon einmal hatte Hasard etwas gehört, das sehr nach dem Poltern von Steinen geklungen hatte. Das Risiko, daß der verrückte Capitan es tatsächlich schaffte, hier alles in Trümmer zu legen, war nicht von der Hand zu weisen. Hasard atmete tief durch. „Wir gehen zurück“, entschied er. „Diesem Irren ist alles zuzutrauen.“ „Ha! Batuti doch schlagen Spanier mit Morgenstern auf Haupt!“ „Ich brauch ein Messer, verdammt!“ meldete sich Dan O’Flynn. Und Ben Brighton fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dunkelblonde Haar. „Du glaubst, der Kerl wird die Höhle in die Luft sprengen?“ „Ja“, sagte Hasard.
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Fast in derselben Sekunde erhielt er auf makabere Weise die Bestätigung für seine Befürchtung. Etwas krachte ohrenbetäubend. Von einer Sekunde zur anderen füllte Staub die Grotte. Wie ein Windstoß fegte die Druckwelle durch die Gänge des Labyrinths, ein unheimliches Knirschen zitterte in der Luft, und dann schien über den Seewölfen die Hölle einzubrechen. 10. Hasard hörte Luanas gellender, Schrei und sah den Felsblock, des sich mit nervenzerfetzender Langsamkeit aus der Höhlendecke löste. „Volle Deckung!“ brüllte der Seewolf. Dabei warf er sich nach rechts, riß das Mädchen von den Füßen und stieß es in einen der Gänge, die wie schwarze Höllenrachen gähnten Luana schrie immer noch. Hasard wirbelte herum, er wollte sehen, was passierte. Aber er konnte nichts sehen — nichts außer dichtem wirbelndem, erstickendem Staub, Die letzte Fackel erlosch. Wieder krachte etwas. Eine neue Druckwelle fegte heran, und Hasard hatte das Gefühl, von der Faust eines unsichtbaren Giganten gepackt und gegen die Felswand geschleudert zu werden. Sein Hinterkopf prallte auf Stein. Schlagartig wurde es noch schwärzer um ihn, als es ohnehin war. Sein Bewußtsein erlosch, und erst nach Minuten kämpfte es sich mühsam zurück in die Wirklichkeit. Staub brannte in seinen Augen und seinem Mund. Die Dunkelheit war dicht und undurchdringlich, die Luft zum Schneiden. Eine unheimliche Stille astete in der Grotte. Sie wurde nur ab und zu von einem leisen Knirschen und Knacken oder von dem schabenden Geräusch verrutschender Trümmer unterbrochen. Ein dünnes Wimmern –Luana. „Himmel Arsch“, flüsterte jemand. Und eine Spur lauter, so daß die belegte Stimme Ed Carberrys zu erkennen war: „He, ihr
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Kanalratten! Wollt ihr euch wohl melden, oder muß ich euch anlüften?“ „Ich lüfte dich gleich an!“ giftete Dan O’Flynn. Und lauter: „Hasard?“ „Alles klar“, sagte der Seewolf ruhig. „Hat jemand eine Fackel?“ Gewühle, Scharren und Schieben. Hasard tastete hinter sich, berührte einen nackten, staubbedeckten Körper und hörte Luana erleichtert aufatmen. Eine ungewisse Bewegung im Dunkel, dann glitt das Mädchen neben ihn und preßte sich an ihn. Jemand fluchte ausdauernd, und von irgendwoher drang dumpfes Stöhnen. „Wer jammert da, zum Teufel?“ fragte Carberry besorgt. „Ich“, antwortete Smoky. „Ich hab as auf den Kopf gekriegt, verdammt.“ „Ach du meine Fresse!“ Das war die Stimme von Ferris Tucker. „Bill?“ fragte Hasard eindringlich. „Ben? Matt?“ „Hier!“ ertönte es dreistimmig. „Ich hab auch was auf den Kopf gekriegt“, beschwerte sich Pete Ballie. „Smoky soll sich bloß nicht so anstellen!“ „Wer, zum Teufel, hat wohl nichts auf den Kopf gekriegt?“ knurrte Blacky erbittert. „Ich“, sagte Big Old Shane trocken. „Batuti auch nichts auf Kopf gekriegt. Bloß Pieker in Arm von Jeffs verdammtes Haken.“ „Und was ist mit Jeff?“ „Soweit klar.“ Einer nach dem anderen meldete sich. Hasard atmete auf und wischte sich erleichtert das Haar aus der Stirn, ohne zu merken, daß er großzügig Schweiß und Dreck über sein Gesicht verteilte. Er rechnete nach. Dann preßte er hart die Lippen zusammen. „Stenmark!“ stieß er hervor. „Was ist mit Stenmark?“ Schweigen. Dann ein scharfer Atemzug und Ed Carberrys grollende Stimme: „Verflucht und zugenäht! Willst du wohl endlich deinen verdammten Affenarsch anlüften? Du sitzt auf meiner Fackel!“ „Schon gut, schon gut ...“
Der Fluch des toten Spaniers
Das war Gary Andrews’ Stimme. Etwas raschelte, endlich flammte die Fackel auf, die der Profos angezündet hatte. Hasard löste sich sanft von Luana und sprang hoch. Auch die anderen rappelten sich auf – staubbedeckte, verschrammte, teilweise unsicher schwankende Gestalten. Das Licht reichte nicht aus, um die Grotte zu erhellen, aber es genügte immerhin, um im Gewirr der Felsentrümmer die restlichen Fackeln zu finden. Hasard sah mit einem einzigen Blick, daß sie unverschämtes Glück gehabt hatten. Das Zentrum der Explosion war ziemlich weit von ihnen entfernt gewesen. Sämtliche Gänge, die zur anderen Seite der Insel führten, waren zusammengebrochen. Die Grotte mußte genau die Grenze der Explosionswirkung markieren. Nur ein paar einzelne Steine waren aus der Decke gebrochen, die Druckwelle hatte Trümmer aus den Gängen gefegt, und es grenzte in der Tat an ein Wunder, daß die Seewölfe nicht unter Tonnen von Gestein verschüttet worden waren. Hasard holte tief Luft. „Stenmark!“ schrie er. „Sten! Wo steckst du, zum Teufel?“ „Sten!“ fielen auch die anderen ein. „Stenmark! Sten!“ Und dann alle zusammen: „Stenmark!“ „Hölle und Verdammnis“, murmelte eine schwache Stimme. „Was brüllt ihr denn so, ihr karierten Decksaffen? Lüftet lieber mal. das Zeugs an, das auf mir liegt, verdammich!“ „Stenmark!“ Die Männer riefen durcheinander, und man hörte deutlich heraus, daß sie sich noch selten so gern als „karierte Decksaffen“ hatten bezeichnen lassen. Der blonde Schwede lag eingeklemmt zwischen der Höhlenwand und einem mittleren Steingebirge. Es sah bedrohlich aus, aber auch Stenmark hatte unwahrscheinliches Glück gehabt. Gleich zu Anfang war unmittelbar neben ihm ein größerer Felsblock zu Boden gekracht und hatte ihn vor dem Rest der Steinbrocken einigermaßen geschützt.
Seewölfe 111 44
Kelly Kevin
Es dauerte nicht lange, bis seine Kameraden ihn befreit hatten. Fluchend rappelte er sich auf, sah sich sehr gründlich um und grinste. „Unkraut vergeht nicht“, stellte er fest. „Aber der unterirdische Gang ist im Eimer, oder?“ Hasard nickte. „Wir müssen zurück“, sagte er ruhig. „Und wenn die Spanier noch in ihrem Lager sind, werden wir eben jetzt gleich mit ihnen aufräumen Irgendwann wäre das ja ohnehin fällig gewesen.“ Schweigend setzten sich die Männer wieder in Bewegung. Wie auf eine geheime Verabredung hin sprach niemand mehr von dem verrückten Capitan, der sich selbst in die Luft gesprengt hatte und auf Nimmerwiedersehen in dem unterirdischen Labyrinth verschwunden war. * Sie brauchten knapp zehn Minuten, dann erreichten sie den Ausgang der Höhle. Immer noch hingen die Dornen-ranken vor dem Loch im Felsen, aber was vorher ein dichter Vorhang gewesen war, sah jetzt reichlich zerrauft aus. Schon als sie den ersten Schimmer von Mondlicht wahrnahmen, hatte Hasard die Fackeln löschen lassen. Eigentlich mußten die Spanier inzwischen die Höhle entdeckt haben, und es war nicht auszuschließen, daß sie draußen lauerten. Vorsichtig schob der Seewolf die restlichen Ranken beiseite. Ein Wink ließ die Männer hinter ihm verstummen. Hasard hielt den Atem an und lauschte angespannt, aber er konnte nichts Verdächtiges hören. Das Lager der Spanier lag leer im fahlen Mondlicht. Hasard wandte den Kopf, als Dan O’Flynn neben ihn glitt. Der Junge grinste ihn an. Er hatte Augen wie eine Katze, und als er nach ein paar Sekunden den Kopf schüttelte, konnten die Männer sicher sein, daß es draußen tatsächlich nichts zu sehen gab.
Der Fluch des toten Spaniers
Einer nach dem anderen zwängten sich durch den Rankenvorhang auf das kleine Plateau. Der Seewolf, Ben Brighton, Ed Carberry und Ferris Tucker traten an den Rand des Felsenvorsprungs und starrten in das leere Lager hinunter. Von den Spaniern war nicht einmal eine Haarspitze zu sehen, und die Männer ahnten, was das zu bedeuten hatte. „Entweder haben sie sich in die nächstbesten Mauselöcher verkrochen, oder sie versuchen, unsere Boote zu finden“, sagte Hasard ruhig. „Ed, Ben – ihr kennt sie inzwischen besser als ich.“ „Feige, hinterhältige Ratten!“ stieß Carberry durch die Zähne. „Aber keine Idioten“, wandte Ben Brighton ein. „Dieser Carlos Ingarra st eine ganz miese Type. Aber gerade deshalb müssen wir mit jedem miesen, hinterhältigen Trick rechnen, den wir uns nur vorstellen können.“ „Eben“, stimmte Ferris Tucker zu. _Und außerdem dürfte den Dons klar sein, daß sie am Arsch sind, wenn wir sie mit der ‚Isabella’ von der See her angreifen. Ich schätze, sie werden alles tun, um zu verhindern, daß wir die Insel überhaupt verlassen.“ Hasard nickte nur. Sie würden kämpfen müssen, soviel stand fest. Wenn die Spanier ihre Boote vernichteten, mußten sie sich Ersatz von der „Maria Mercedes“ beschaffen und vorher Ingarra und eine Leute ins Meer jagen. So ungefähr stellten sich das die Seewölfe jedenfalls vor, aber schon im nächsten Augenblick geschah etwas, das die Situation änderte. Wieder war es ein dumpfes Krachen, das den Dingen eine neue Wendung gab. Aber diese Art von Krachen kannten die Männer und hätten es selbst im Schlaf richtig einordnen können. Dumpf wie Donnerrollen durchzitterte es die Luft, schmetternder Krach folgte, und auch der letzte begriff, daß es sich um das Dröhnen einer Breitseite handelte.
Kelly Kevin
Seewölfe 111 45
„Der schwarze Segler!“ schrie Dan. „SiriTong und Thorfin Njal! Sie haben uns gefunden!“ „Oder auch nicht“, sagte Hasard. Dan starrte ihn an. „Du glaubst ...“ „Ich glaube gar nichts“, erwiderte der Seewolf. „Oder allenfalls das, was ich sehe. Der Krach kommt von der Ostseite der Insel. Also los!“ Sie brauchten fünf Minuten. Fünf Minuten, in denen immer wieder Kanonendonner über das Wasser rollte, Schreie erklangen, Gepolter, Musketenfeuer. Schließlich kauerten die Seewölfe tief geduckt zwischen den Klippen an der Ostseite von Sala-y-Gomez und betrachteten ziemlich verblüfft, was sich da vor ihren Augen abspielte. Unter ihnen am Strand rasten aufgescheuchte Spanier hin und her, feuerten blindlings und sinnlos mit ihren Musketen in die Gegend und versuchten verzweifelt, irgendwelche sicheren Deckungen zu erreichen.
Der Fluch des toten Spaniers
Aber es gab keine sicheren Deckungen. Vor den schweren siebzehnpfündigen Kugeln, die in Sand und Felsen schlugen, war kaum etwas sicher. Immer wieder blitzte es draußen auf dem Wasser auf. Rauch wölkte, fahl angestrahlt vom Mondlicht. Flammenzungen leckten, und geisterhaft hell standen Segel gegen den sternengespickten Himmel. Drei Galeonen waren es, die dort draußen vorbeischerten. „Spanier“, flüsterte Dan O’Flynn. „Ich kann die Holzkreuze sehen!“ Es waren Spanier. Der Himmel mochte wissen, woher sie so plötzlich kamen und was sie hier wollten. Fest stand nur eins: daß sie offenbar entschlossen waren, die Insel Sala-yGomez in Stücke zu schießen. „Auch das noch“, sagte Ed Carberry mit Inbrunst. Und nach Meinung des Seewolfs war dem nichts hinzuzufügen...
ENDE