Geister-
Krimi � Nr. 63 � 63
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Geister-
Krimi � Nr. 63 � 63
Gill McBain �
Der Geist des � Verräters �
2 �
Da war es wieder! Genevienne Rillot schlug die Augen auf und lauschte mit verhaltenem Atem. Sie hatte das Geräusch zum zweiten Mal gehört. Zunächst hatte es sie nur für Sekunden aus ihrem leichten Schlaf gerissen, sie aber eigentlich mehr ärgerlich als ängstlich gestimmt. Sie war wieder eingenickt. Nun aber kam es lauter, eindringlicher. Es war direkt über ihr. Dumpfes Rumpeln und Poltern, das von einem tobenden oder sich wälzenden Menschen hätte herrühren können. Hätte. Doch das Merkwürdige war, daß Genevienne sich in einem Zimmer im obersten Stockwerk des Hotels ›Cicogne‹ befand und sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wer oder was sich über ihr auf dem Flachdach bewegte. Eine Katze? Dafür waren die Laute zu heftig. Es mußte sich um etwas Größeres handeln. Als Stöhnen das Poltern zu begleiten begann, richtete sie sich entsetzt in ihrem Bett auf. Genevienne zog die Decke bis ans Kinn hoch. Sie konnte ihr Frösteln nicht unterdrücken. Sie hatte Angst. Blanke Angst. Das Stöhnen klang abscheulich, schien einen unerklärlichen Nachhall zu besitzen. Plötzlich ebbte es zu einem Wimmern ab und verwandelte sich in wütendes Hundebellen. Dabei blieb ständig dieses Poltern, das die Nerven der Frau bis zum Zerreißen spannte. Allmählich zeichnete sich auch noch ein weiteres Geräusch ab leises Klirren. Das, was dort oben auf dem Dach war, begann nun zu fauchen. Das kann doch kein Mensch sein, schoß es Genevienne durch den Kopf. Sie hielt es nicht mehr aus, mußte jetzt zur Bettkante rutschen und Licht anmachen. Das Rumpeln wurde immer stärker. Die Nachttischlampe verbreitete angenehmen gelblichen 3 �
Schein im Zimmer. Genevienne Rillot blickte nach oben. Dann schrie sie auf. Schockiert preßte sie eine Faust gegen ihren Mund. Die Zimmerdecke hob und senkte sich. Sie beulte sich förmlich aus unter dem Unerklärlichen, das auf dem Dach vor sich ging. Jäh lief ein feiner Riß durch den Verputz, und die große Lampe begann, sich aus ihrer Verankerung zu lösen. Sie war es, die das Klirren verursachte. »Nein«, flüsterte Genevienne. Wo ist Jacques? trommelte es in ihrem Gehirn, warum hat er mein Schreien nicht gehört? Sie sprang aus dem Bett, raffte ihr bodenlanges Nachthemd mit einer Hand und begann zu laufen. Über ihr wackelte die Decke, als wäre sie aus Gummi. Die Zimmerlampe hing jetzt praktisch nur noch an ihren Drähten und mußte jeden Augenblick auf den Boden fallen, krachend in die Brüche gehen. Genevienne stürzte. Schluchzend rappelte sie sich vom Teppich auf und setzte ihren Fluchtweg zur Tür fort. Mit bebenden Fingern riß sie die Klinke herunter. Sie drängte sich in den nächsten Raum. Es war das Badezimmer, das zu der Suite gehörte. Genevienne knipste Licht an. Sie wagte es kaum, auch hier zur Decke zu schauen. Doch die scheußliche Überraschung blieb aus. Im Bad war alles ruhig. Kein Poltern, kein Stöhnen keine Decke, die wie verrückt tanzte. Die Frau lehnte sich aufatmend gegen die Wand. Die Geräusche, die aus dem Schlafzimmer drangen, trieben sie wieder weiter. Sie hastete an der Badewanne vorüber, erreichte die nächste Verbindungstür. Sekunden später stand sie in dem dunklen Salon der Zimmerflucht. Nur an der Fensterfront brannte ein Licht: eine Kerze, wie sie bei genauerem Hinsehen feststellte. Der rötliche Schein leuchtete 4 �
auf gespenstische Weise das Gesicht des Mannes aus, des Mannes, mit dem Genevienne gestern in dieses Hotel gezogen war. Jacques Previn saß aufrecht. Seine Haltung war starr. Er war ein gutaussehender Mann mit gepflegtem schwarzen Vollbart aber in diesem Moment schienen seine sonst so gleichmäßigen Züge durch seine Beobachtung oder Erkenntnis verzerrt. Unablässig bewegten sich seine Lippen, doch von dem, was er sagte, war nichts zu hören. »Jacques«, stieß Genevienne aus. »Jacques, um Himmels willen…« Er warf den Kopf herum und starrte sie an. Sie lief auf ihn zu. Als sie sich gegen seinen Körper drängte, bemerkte sie, daß er schwitzte. Für einen Moment war sie fassungslos, denn seine Augen hatten einen weltfremden Ausdruck, den sie an ihm nie bemerkt hatte. »Du hast alles zerstört«, murmelte er. »Es hat mich Jahre gekostet, zu diesem Ergebnis zu gelangen.« Sie strich mit der Hand über seine Stirn. »Ich verstehe nicht, was du meinst, Liebling. Aber sag mal, hast du mich nicht rufen hören? Ich habe geschrien, weil ich fürchterliche Angst hatte!« »Angst?« »Du hast es also nicht gehört?« »Nein«, erwiderte er tonlos, »ich war von jeder diesseitigen Wahrnehmung weit entfernt. Ich befand mich in anderen Regionen, die mit dem Bewußtsein nicht zu erreichen sind. Willst du mir jetzt endlich erklären, was los ist?« Sie sagte es ihm. Sein Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. »Sehen wir nach, Genevienne. Los, komm!« Als sie zögerte, ergriff er ihre Hand und zog sie hinter sich her. Eilig durchquerte er den Salon, betrat das Bad und näherte sich der Verbindungstür zum Schlafzimmer. 5 �
»Ich will nicht«, rief die Frau, »lass mich hier bleiben, Jacques!« »Es ist alles vorüber«, sagte er ruhig und machte die Tür auf. Zu Geneviennes Erstaunen hatte das Poltern aufgehört. Ebenso das Stöhnen, Bellen und Fauchen. Und die Zimmerdecke bewegte sich nicht mehr, Sie war heil bis auf den feinen Riß, der sich bis zur Lampe zog. Die Lampe pendelte hin und her. Sie machte den Eindruck, als müßte sie jeden Augenblick aus ihrer letzten, lächerlichen Halterung reißen und zu Boden stürzen. »Da siehst du, daß es keine Einbildung oder ein böser Traum war«, sagte Genevienne. »Jacques, lass uns auf dem Dach nachsehen. Ich habe keine Ruhe, bevor ich nicht ganz sicher bin, daß dort oben niemand mehr herumspukt. Vielleicht hat sich jemand einen dummen Scherz erlauben wollen. Es wäre gut, dem Kerl nachzuspüren und ihm gründlich die Meinung zu sagen.« Jacques Previn betrachtete seine Geliebte. Sie war das, was man eine schöne Frau nannte. Glattes braunes Haar rahmte ihr Gesicht, dessen Ebenmäßigkeit vollendet schien: große dunkle Augen, eine gut profilierte Nase, ein voller und sinnlicher Mund, weiche, makellos reine Haut. Genevienne besaß einen wunderbar geformten Körper vielleicht etwas zu breite Hüften und ein wenig zu kurze Beine, kleine Makel jedoch, die sie durch ausgesuchte Kleidung ausglich. Er hatte sie in Rom kennen gelernt, in Rom, der Ewigen Stadt. »Hör mir gut zu«, begann er, »ich habe keine Sekunde vermutet, daß deine Wahrnehmung dir einen Streich gespielt hat. Ich selbst habe denjenigen gerufen, der sich auf dem Dach niedergelassen hat. Es war ein Geist, Genevienne.« »Sag das noch mal!« »Du hast richtig verstanden. Ich habe ihn dem Jenseits entlockt, um ihn zu befragen und ihn sich möglicherweise materialisieren zu lassen. Er muß sehr gelitten haben. Da du mich in der Meditation unterbrochen hast, habe ich die Verbindung verloren, und 6 �
er hat sofort die Rückreise angetreten.« Sie lächelte plötzlich. »Fängst du wie er damit an, Liebling? Bitte, halte mir jetzt keinen Vortrag über Okkultismus. Ich finde, wir haben genügend darüber diskutiert.« »Du glaubst auch jetzt nicht an übersinnliche Erscheinungen?« »Nein.« »Du wirst es nie begreifen, daß die Parapsychologie eine ernstzunehmende Wissenschaft ist.« Er hob die Schultern. »Im Grunde ist das schade. Es ist das einzige Thema, bei dem unsere Auffassungen auseinander gehen.« Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Dann küsste sie ihn. »Jacques, nimm es mir nicht übel. Ich halte Geisterbeschwörung und ähnliches Zeug für Humbug. Wir leben doch im zwanzigsten Jahrhundert.« »Und die Geräusche auf dem Dach?« »Irgendein Kerl hat mir einen Schrecken einjagen wollen. Vielleicht ein Verrückter. Es gibt Voyeure und andere sexuell Verirrte.« »Aber die Decke, Genevienne«, gab er zu bedenken, »wie konnte sie sich biegen?« Sie lachte und biss sich leicht auf die Unterlippe. »Weißt du, das muß am Material liegen. Anders kann ich es mir nicht erklären. Jacques, bitte schau nach bitte!« »Gut«, meinte er. Dann grinste er und fügte hinzu: »Dein Wunsch sei mir Befehl. Letzten Endes finde ich es sogar besser, daß du so nüchtern denkst. Du bist der Gegenpol, an dem ich meine Überzeugung immer wieder prüfen und ausfeilen kann.« »Wie spät ist es?« wollte sie wissen. »Gleich zehn Uhr.« »Jacques, ich ziehe mich jetzt an. Vorerst kann ich doch nicht wieder schlafen Was hältst du davon, wenn wir runtergehen und in der Bar einen Drink nehmen?« 7 �
»Viel.« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Bei der Gelegenheit sage ich gleich dem Portier, daß er morgen früh die Lampe in Ordnung bringen lassen soll.« Er öffnete seinen Bademantel und zog ihn aus, um ihn mit dem Anzug zu vertauschen. Genevienne Rillot ging ins Bad. Du hoffnungsloser Narr, dachte sie. * Jacques Previn hatte sich mit einer Taschenlampe bewaffnet und war auf das Dach gestiegen, um wenigstens den Anschein zu erwecken, daß er Geneviennes Wunsch erfüllen wollte. Er hatte niemanden entdeckt. Für ein paar Minuten war er neben der Dachluke stehen geblieben und hatte die klare Nachtluft eingesogen, hatte versucht, die Konzentration wieder zu finden. Sinnlos. Er war ins Obergeschoß zurückgekehrt, ohne neuen Kontakt mit dem Geist gefunden zu haben. Jetzt stand er vor der Fahrstuhltür und drückte den Knopf. Der Leuchttafelanzeiger verkündete, daß der Lift vom ersten Stock heraufkam. Previn befand sich m vierten. Die Tür glitt auf. In Gedanken versunken betrat der Mann mit dem Vollbart den Fahrkorb. Außer ihm befanden sich bereits zwei Männer im Fahrstuhl. Merkwürdigerweise stiegen sie nicht aus. Previn musterte sie kühl und sagte: »Ich fahre ins Erdgeschoß. Wohin wollen sie?« Der eine nickte bedächtig und sagte: »Wir auch. Es geht abwärts.« Der Vollbärtige drückte den Knopf, auf dem P wie Parterre stand. Die Außentür schob sich zu, dann auch die des Fahrkorbes. Zu spät begriff er, daß die Antwort dieses Fremden einen verhängnisvollen Doppelsinn beinhaltete. Er drehte sich um und 8 �
erstarrte. Der Sprecher hatte eine Pistole auf ihn gerichtet. Eine MABAutomatik mit Schalldämpfer, wie Previn als alter Waffenkenner feststellte. »Was soll der Unsinn?« fragte Jacques gelassen, obwohl ihm beileibe nicht wohl zumute war. »Wenn Sie Geld haben wollen, brauchen Sie nicht mit der Zimmerflak aufzufahren.« »Halt die Kiste an«, wandte sich der Kerl unbeirrt an seinen Begleiter, »wir sind genau zwischen dem dritten und zweiten, Franco.« »Gut, Teilhard«, gab der andere zurück. Er drückte den roten Halteknopf. Es gab einen Ruck, und der Fahrkorb stand still. In Previns Kopf jagten sich die Gedanken. Das aufkeimende Panikgefühl versuchte er damit zu unterdrücken, daß er sich ausmalte, wie er sich am besten zur Wehr setzen konnte. Viele Möglichkeiten gab es da nicht. Er stand zwei hart aussehenden Burschen gegenüber. Teilhard hatte die Pistole. Eine falsche Bewegung, und der Kerl spickte ihn mit Blei. Niemand würde es hören, wenn er in diesem verflixten Lift starb. Sie blickten ihn an. Franco war jünger als Teilhard, etwa Mitte Zwanzig ein dunkler Typ mit dreistem Puttengesicht. Er grinste gemein. Dem Namen nach konnte er ein Korse seih. Teilhard, der Mann mit der MAB, hatte ein breites Gesicht, ziemlich lange Koteletten und einen kleinen, schmallippigen Mund. Beide trugen Hosen und Jacketts, die ihnen äußerlich ein harmloses Wesen bescheinigten. Previn kannte sie nicht, hatte sie nie gesehen. Eben deshalb war er so arglos in den Fahrstuhl gestiegen. »So«, sagte Teilhard gerade genüßlich, »jetzt zeig ihm mal, was wir wirklich von ihm wollen, Franco.« »Previn, du Schwein!« zischte Franco und hieb zu. Der Mann mit dem Vollbart hatte keine Gelegenheit, sich dar9 �
über zu wundern, daß sie seinen Namen kannten. Er duckte sich und blockte Francos gemeinen Schlag ab. Statt in den Unterleib traf ihn die Faust gegen den Oberschenkel. Previn nahm seine Chance augenblicklich wahr. Franco stand jetzt zwischen ihm und Teilhard. Wenn Teilhard mit der Schalldämpferpistole schießen wollte, mußte er zwangsläufig zunächst seinen Komplicen niederstrecken, ehe er an den Gegner kam. Jacques Previn riß den rechten Ellenbogen hoch. Franco bekam ihn genau unter das Brustbein. Das tat weh, höllisch weh. Der Korse stöhnte dementsprechend. Ehe er sich richtig zur Wehr setzen konnte, setzte Previn nach und knallte ihm die linke Faust gegen den Unterkiefer. Der Bursche wurde wie von einer unsichtbaren Hand hochgerissen und prallte gegen den fluchenden Teilhard. Der Fahrkorb wackelte bedrohlich. Unerbittlich hieb der Mann mit dem Vollbart weiter auf Franco ein. Der Kerl rutschte ab, Teilhards Kopf wurde frei. Wieder ergriff Previn die einzigartige Gelegenheit beim Schopf und schlug auch auf den Kerl mit der Pistole ein. Er hatte Erfolg. Teilhard, an der Schläfe getroffen, begann zu wimmern. Blitzschnell drückte Jacques auf den Knopf »Parterre«. Der Lift setzte sich wieder in Bewegung. Unten würde er stoppen, die Türen würden automatisch aufgehen… Schon glaubte er, die Auseinandersetzung für sich entschieden zu haben da geschah das Unerwartete. Franco hatte längst nicht genug abbekommen. Er war härter im Nehmen, als er wirkte. Ganz plötzlich warf er sich nach vorn und packte Previns Beine. Der Mann mit dem Vollbart verlor das Gleichgewicht. Sein Oberkörper ruckte nach vorn. Jetzt hatte sich auch Teilhard wieder gefangen und erwartete ihn mit verzerrtem Gesicht. Er hob die MAB, um den Kolben auf Jacques Schädel herabsausen zu 10 �
lassen. Verzweifelt packte Previn den Kerl an den Jackettaufschlägen. Er wollte ihn zu Boden reißen. Aber Teilhard war Schneller. Mit einem Fluch schlug er zu, zweimal. Previn spürte den Schmerz durch seinen Schädel branden, fühlte, wie er sich bis in den Oberkörper fortpflanzte. Schwarze und rote Schleier wallten vor seinen Augen. Er versuchte, sich irgendwo festzuhalten, fand jedoch nirgends Halt und schlug zu Boden. Seine Bewusstlosigkeit war nur von kurzer Dauer. Jemand trat mit dem Schuh gegen seine Hüfte. Es tat irrsinnig weh. Previn ächzte und schlug die Augen auf. Teilhard stieß noch einmal mit der Schuhspitze in seine Seite, dann lehnte er sich gegen die Wand des Fahrkorbes und verschränkte die Arme. Die MAB hielt er dabei immer noch in der Faust. »So, Previn«, sagte er gedehnt, »wir haben wieder gehalten.« Franco stand an der Schalttafel und grinste wieder hässlich. Mittlerweile hatte er sich die Kleidung glatt gestrichen und die Haare geordnet. Bis auf einen roten Streifen am Unterkiefer sah man ihm nicht an, daß er sich geschlagen hatte. Ähnlich Teilhard: er hatte lediglich einen blauen Fleck in Schläfennähe. »Steh auf und mach dich sauber«, forderte Teilhard den in der Ecke hockenden Previn auf. »Du sollst einen ordentlichen Eindruck machen, wenn wir dich durch die Halle führen. Keiner soll sehen, daß wir dir einen kleinen Vorgeschmack von dem geliefert haben, was dich erwartet.« »Wer seid ihr? Was wollt ihr?« »Eine dämliche Frage, Previn. Wir bringen dich weg, weil wir mit dir zu reden haben. Ich warne dich: Noch so eine Schweinerei wie eben, dann drücke ich ab.« »Warum erledigst du es nicht, Teilhard?« reizte der Mann mit 11 �
dem Vollbart den Kerl. »Ich kenne dich nicht, aber ich ahne, was du vorhast. Glaubst du, ein Mann, dem der Tod droht, würde nicht alles Erdenkliche versuchen, um sich zu retten?« »Du irrst dich.« »Leg ihn doch um«, zischte Franco plötzlich, »Mensch, leg ihn um, damit er endlich sein Maul hält. Wir können ihn doch auch hier verschwinden lassen. Schmeißen wir ihn in den Fahrstuhlschacht!« »Ruhe.« Teilhard hatte es leise und drohend gesagt. »Du weißt genau, daß das gegen die Befehle wäre. Ich bin nicht lebensmüde, Franco. Ich will mich nicht mit Maurice anlegen.« Previn überlegte krampfhaft, ob er einen Mann namens Maurice kannte, aber es wollte ihm nicht einfallen. Plötzlich hatte er einen schrecklichen Verdacht. Doch noch wehrte er sich dagegen, diesen Gedanken vollends anzunehmen. Teilhard beugte sich über ihn. »Los jetzt, Mann. Ich weiß, daß du dich in den japanischen Kampfsportarten auskennst. Ich weiß, daß du hundert Tricks auf Lager hast. Aber du sollst dir eines klarmachen: Ich lege dich um, wenn du in der Halle Sperenzchen machst. Einer, der die Kanone im Rücken hat, überlegt sich doch einiges, schätze ich.« »Du hast nichts zu verlieren, was?« Jacques Previn stand auf. »So ungefähr.« »Du wirst staunen, aber ich glaube dir. Wohin bringt ihr mich?« »Du erfährst es im Wagen.« Teilhard beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Die Mündung der Schalldämpferpistole richtete sich auf Previns Bauch. »Franko, wir fahren weiter. Du weißt, wie du dich unten zu verhalten hast!« *
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Die beiden Gangster hätten fast als Schauspieler auftreten können. Sie hatten Previn in die Mitte genommen und ihn eingehakt, eine freundschaftliche Geste, die in Südfrankreich unter Männern durchaus üblich war und kein Aufsehen erregen konnte. Während sie vom Lift aus durch die Halle auf das Foyer zusteuerten, redeten sie beide auf ihren Gefangenen ein, lachten und scherzten. Jacques Previn überlebte tatsächlich. Er spürte die Mündung der MAB in seiner rechten Seite. Teilhard hatte sie vollendet unter seinem Jackett verborgen, so daß kein Mensch in der Halle argwöhnisch werden konnte. Es hatte keinen Zweck, einen Ausbruchsversuch zu unternehmen. Previn hatte genügend Menschenkenntnis und Erfahrung, um das zu wissen. Diese beiden Gangster würden tatsächlich nicht fackeln, ihn niederzuschießen. Sie waren abgebrüht genug, um danach fortrennen und sich absetzen zu können, bevor jemand die Polizei alarmierte oder eingriff. Was immer sie mit ihm vorhatten, dies war nicht der Augenblick, sich zu widersetzen. Einen günstigeren Moment abwarten, schoß es dem Mann mit dem Vollbart durch den Kopf, ich kriege bestimmt noch eine Chance. »Na, nun zier dich nicht so und komm mit«, plauderte Teilhard in scheinbar überzeugendem Tonfall auf ihn ein, »du wirst sehen, daß der Club, in den wir dich schleppen, wirklich ein toller Laden ist.« »Außerdem ist es erst kurz nach zehn«, fügte Franco grinsend hinzu. Der Pförtner war an seinem Platz. Previn versuchte, ihm einen Blick zuzuwerfen. Es gelang nicht. Der Mann schaute nicht einmal herüber, als sie sich der Drehtür zuwandten und das Hotel »Cicogne« verließen. 13 �
Die Gangster brachten Previn in eine Seitenstraße. Hier parkte ein weißer Simca 1501 an der Bordsteinkante, Der hintere Schlag wurde von innen aufgestoßen. »Steig ein«, sagte Teilhard, »denke dran, daß meine Warnung immer noch gilt.« Previn setzte sich in den Fond. Der Mann, der den Schlag geöffnet hatte, rückte vor ihm weg und zeigte ihm einen 38er Colt-Bodyguard. Eine Waffe mit verdecktem Hahn, mit der man mehrmals aus der Jackentasche heraus feuern konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß sich das Jackenfutter zwischen Hahn und Zündbolzen klemmte und das Feuern verhinderte. Genau das richtige für einen Killer, dachte der Mann mit dem Vollbart. Er drehte etwas den Kopf und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Franco mit gezügelter Hast zu dem hinter dem Simca stehenden Fiat 124 ging, ihn aufmachte und sich hinter das Lenkrad setzte. Teilhard nahm indessen den Fahrerplatz im Simca ein. »Hatte er Waffen?« wollte der Mann mit dem Colt-Bodyguard wissen. »Keine«, gab Teilhard zurück. »Du kannst den Motor anlassen.« Previns Bewacher wandte ihm das Gesicht zu. Er war fast völlig rund, aber nicht fett oder aufgedunsen. Über den braunen Augen ruhten große, stets etwas heruntergezogene Lider, die ihm etwas Melancholisches verliehen. Der Mann war dunkelblond. Eine Haarsträhne hing ihm ständig in die Stirn. »Unvernünftig, ohne Puste in der Schulterhalfter herumzulaufen, Previn«, meinte er wie beiläufig, »ist das nicht ganz gegen deine Gewohnheit?« »Kennst du meine Gewohnheiten so genau?« »Hm, nicht alle. Übrigens, ich bin Maurice. Maurice Bauduc.« »Ich habe keine Ahnung, wer du bist, Mann.« »Du wirst mich noch zur Genüge kennenlernen.« Bauduc 14 �
lachte heiser. »Unser Freund am Steuer heißt Teilhard Choucas, der Junge im Fiat ist Franco Sapiro. Ich finde es nett, sich vorzustellen. Du weißt dann wenigstens, mit wem du es zu tun hast.« Der sarkastische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Der Motor lief summend. Teilhard Choucas schien auf etwas zu warten, bevor er losfahren konnte. Previn erstarrte plötzlich. Genevienne war aufgetaucht, und neben ihr ging ein schnauzbärtiger dunkelhaariger Mann, der ähnliche Kleidung wie Bauduc und seine Komplicen trug. Der Blick der schönen Frau war geradeaus gerichtet. Sie schaute Jacques Previn nicht an, schien auf das zu hören, was der Schnauzbart ihr mitteilte, was Jacques wegen des Motorengeräusches und des geschlossenen Fensters nicht verstehen konnte. »Das ist Armand Valremy«, lächelte Bauduc, »der vierte Mann unserer Gruppe.« Valremy brachte Genevienne zum Fiat 124. Beide setzten sich in den Fond. Jacques war ihnen mit entsetztem Blick gefolgt. Jetzt warf er sich herum und funkelte Bauduc erbost an. »Was soll das heißen? Was hat das zu bedeuten? Es ist nicht nötig, daß ihr auch sie kidnappt, ganz gleich, was ihr geplant habt.« »Maul halten«, wurde Bauduc barsch. Er hob den Colt-Bodyguard und zielte auf Previn. »Teilhard, du kannst starten. Drück auf die Tube, damit wir spätestens in einer halben Stunde in der Etiage sind.« Jacques ließ sich in die Polster des anrollenden Autos zurücksinken und starrte vor sich hin. Etiage damit konnte nur die Etiage de Vacares gemeint sein, ein Sumpfgebiet in der Camargue, das rund vierzig Kilometer hinter Montpellier begann. Vielleicht lief die Entführung nicht auf das hinaus, was er sich bereits ausgemalt hatte. Vielleicht wollten die vier Kerle 15 �
nur Geld. Auf jeden Fall war die Etiage ein Gelände, in dem man einen Menschen spurlos für Monate verschwinden lassen konnte, lebendig oder tot. Previns Zorn war entfesselt, er dämpfte ihn nur noch mühsam. In den Minuten, in denen der Simca und der Fiat durch die Straßen von Montpellier fuhren und sich immer weiter vom Hotel ›Cicogne‹ entfernten, dachte er mehr an Genevienne Rillot als an sich. Er hatte sie vor vier Wochen in Rom kennen gelernt. Sie hatte darauf gedrängt, wenigstens zu einem Urlaub nach Frankreich zurückzukehren; Marseille war ihre Heimatstadt. Er hatte ihr den Wunsch erfüllt und mußte es jetzt bitter bereuen. Es ist meine Schuld, wenn sie stirbt, hämmerte es in seinem Kopf. Jacques Previn wollte Genevienne heiraten. Er wartete nur, bis sie die Peripherie erreicht hatten. Bauduc hatte die Waffe etwas gesenkt. In diesem Augenblick nestelte er eine Packung Gitanes aus der Jackentasche und steckte sich geschickt ein Stäbchen in den Mund. Previn wußte genau, daß er eine Art Umweg machen mußte, wenn er den Colt-Bodyguard haben wollte. Griff er Bauduc unverzüglich an, war das Unternehmen von vornherein so gut wie aussichtslos. Jäh warf er sich nach vorn. Seine Faust wuchtete gegen Teilhard Choucas' Hals. Choucas brüllte auf, geriet für kurze Zeit aus der Fassung und ließ das Lenkrad los. Der Simca 1501 kam ins Schleudern. Die Pneus quietschten. Durch die schwankenden Bewegungen des Wagens war Maurice Bauduc gegen den Schlag geworfen worden. Zu spät bekam er den Colt-Bodyguard hoch. Previn hatte ihn bereits gepackt, drückte den Waffenarm nach unten. Choucas hatte genug mit dem hin und her schlingernden Auto 16 �
zu tun. Er fluchte, was das Zeug hergab. Mit geschickten Gegenlenkmanövern versuchte er, das Schleudern abzuschwächen und den Simca wieder in die Gewalt zu bekommen. Mit einem raschen, harten Schlag wollte Jacques den Gangster Bauduc außer Gefecht setzen. Aber es sollte anders kommen. Bauducs Kopf zuckte vor. Seine Stirn traf haargenau Previns linke Schläfe. Es tat sehr weh. Der Mann mit dem Vollbart sah plötzlich rote und schwarze Flecken vor seinen Augen tanzen. Bauduc stieß noch einmal mit dem Schädel vor. Es war eine lächerliche und doch brutale Kampfmethode. Für Sekunden fühlte sich Previn völlig benommen, unfähig, den Kerl im Zaum zu halten. Choucas hatte es geschafft. Er hielt das Steuer des nun wieder ruhig dahinrollenden Wagens nur noch mit der Linken. Mit der anderen Hand riß er die MAB-Automatik hervor und hieb nach hinten. Previn bekam gleich den ersten Schlag gegen den ohnehin schon lädierten Hinterkopf. Das letzte, was er vorläufig vernahm, waren Bauducs Worte: »Einen Gegner mit so hartem Schädel fordert man nicht ungestraft heraus, Previn.« * Previn kam zu sich und hatte den Eindruck, es wären nur Minuten vergangen, seitdem ihn die beiden Gangster gnadenlos zusammengeprügelt hatten. Er machte sich jedoch rasch klar, daß die Zeitspanne größer sein mußte. Sie hatten ihn an einen feuchten, düsteren Ort geschleppt. Die Gangster hatten Taschenlampen. Leuchtkegel von drei Lampen glitten über die Wände dieser eigenartigen Behausung – 17 �
nein, es konnte keine Wohnung für irgend jemanden sein. Es war eine Hütte ohne richtigen Boden. Previn lag auf Gras bewachsener Erde. Die Hüttenwände, das sah er deutlich, waren aus Schilfmatten gefertigt. Er erkannte Bauducs Gesicht. Der Gangster richtete den Strahl seiner Lampe auf ihn. »Er ist wach«, sagte er. »He, Previn, ich möchte wissen, ob du rätst, wohin wir dich gebracht haben.« Er stöhnte und richtete sich etwas auf. »Ich, ich schätze, es ist ein Unterstand für Jäger, die hier im Sumpf auf Entenjagd gehen. Einen feinen Platz habt ihr euch da ausgesucht, Bauduc. Kompliment.« »Ich habe euch gesagt, daß er ein schlauer Hund ist«, versetzte der Sprecher der Bande hämisch, »und Humor hat er auch noch. Aber der wird ihm schnell vergehen. Previn, sieh mich an!« Jacques blickte in das grelle Licht der Taschenlampe und kniff die Augen zusammen. »Wo ist Genevienne?« sagte er. Ihr Lachen drang plötzlich an seine Ohren. Aber es beruhigte ihn nicht. Es war ein erleichtertes, zugleich verletzendes Lachen, das ihm deutlich machte, wie falsch er die Dinge gesehen hatte. Er wollte die ungeheuerliche Erkenntnis verdrängen. Aber Genevienne selbst vorschaffte ihm Gewissheit: Sie drängte sich aus dem finsteren Hintergrund ins Licht vor, lehnte sich gegen Maurice Bauduc und hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Du bist in der Falle«, zischte Choucas, »uns entkommst du nicht wieder, verfluchter Hund.« Genevienne stieß eine Art Seufzer aus. »Quält ihn nicht zu lange, Maurice. Macht es möglichst kurz.« »Du willst ihn schützen?« »Schützen?« Sie lachte wieder silberhell. »Pah, so ein Unsinn. Aber schließlich ist man doch kein Unmensch.« 18 �
»Du bist die größte Kanaille, die mir je begegnet ist. Ich muß zugeben, daß du es raffiniert angestellt hast. So gut, daß ich mich völlig habe blenden lassen. Aber du wirst deinen Triumph nicht auskosten können.« Jacques hatte es ihr ins Gesicht geschrien. Doch jetzt war er plötzlich auf den Beinen und warf sich ihr entgegen. Er wollte sie packen. Aber Choucas und Valremy hielten ihn auf. Sie warfen ihn zurück. Der Schnauzbart Valremy bückte sich und ließ die Faust auf seine Brust niedersausen. Hinter dem Schlag saß die Wucht eines Dampfhammers. Previn stöhnte auf. Für kurze Zeit fehlte ihm die Atemluft. »Maurice, du mußt besser achtgeben«, preßte Genevienne hervor. »Er wird jede Gelegenheit wahrnehmen, mich zu schlagen oder zu würgen. Er ist jetzt wie ein gefangenes Tier. Ich habe etwas Angst, verstehst du?« »Schon gut, Liebling.« Bauduc wandte sich in herrischem Tonfall an die anderen. »Schlagt ihm gefälligst den Schädel ein, wenn er noch mal so etwas versucht. Teilhard, stell dich hinter ihn! Ihr beide, Franco und Armand, auf die Seiten!« Er leuchtete den Mann mit dem Vollbart wieder an. »Höre mir gut zu, Previn. Wir haben Genevienne nach Rom geschickt, weil die Spitze der Organisation deinen Aufenthaltsort rausgekriegt hatte. Es war von Anfang an abgekartetes Spiel, daß sie dir wie zufällig über den Weg lief und dir den Kopf verdrehte. Sie hatte den Auftrag, dich hierher zu locken, Mann. Wir haben auf dich gewartet.« »Weiter«, krächzte Previn. »Viel gibt es da nicht mehr zu sagen«, versetzte der Gangster mit klirrender Stimme. »Du hast damals der OAS angehört. Vor fast genau 14 Jahren bist du abgehauen, hast die Kameraden im Stich gelassen, um für die römische Regierung in Algerien Wirtschaftsbeziehungen anzuknüpfen. Du wusstest, daß dies für uns 19 �
gleichwertig mit Hochverrat war.« »Für euch?« »Wir sind in die Fußstapfen der alten Untergrundkämpfer getreten, Previn. Du dachtest, die Männer, die dir noch gefährlich werden könnten, leben mittlerweile im Exil, nicht wahr? Nun, das stimmt. Einige sind sogar eines natürlichen Todes gestorben im Bett. Aber jetzt sind wir da, die Nachfolger. Wir erledigen den patriotischen Auftrag, das Todesurteil zu vollstrecken, das damals von der Spitze der Organisation gegen dich ausgesprochen wurde.« Jacques war mit einemmal ruhig. Sehr ruhig. Es war für ihn selbst erstaunlich, daß er in einem derart verzweifelten Moment so gelassen sein konnte. »Ihr seid wahnsinnig«, sagte er, »alle fünf. Die OAS hat keinerlei Existenzberechtigung mehr. Nur Phantasten und politische Wirrköpfe sind in der Lage, sich derart kindisch zu benehmen.« Choucas trat zu. Seine Schuhspitze traf Previn wieder in die Seite. Der am Boden Liegende krümmte sich vor Schmerz. »Sag's noch mal«, brüllte Choucas, »sag's noch mal, und ich bringe dich auf der Stelle um, du Schwein!« »Stop!« kommandierte Bauduc. »Halte dich zurück. Noch sind wir nicht soweit. Noch müssen wir ihm sagen, warum wir ihn geholt haben und warum wir so scharf darauf sind, ihn krepieren zu sehen.« Er beugte sich über Previn. »Leute wie du haben dazu beigetragen, daß unsere Sache damals verloren wurde. In ein paar Jahren, vielleicht auch schon eher, wird es eine neue Rebellion geben. Dann sind Verräter wie du auch im Ausland lästig, weil sie zuviel über die OAS wissen und uns durch ihre Aussagen gefährlich werden können.« Previn hustete. »Was wollt ihr? Einen neuen Algerienkrieg?« »Möglich. Wir sind mehr, als du denkst.« »Ich meine, daß ihr nur ganz gewöhnliche Kriminelle seid«, 20 �
gab der Mann mit dem Vollbart zurück. »Euch dürfte man niemals eine Aufgabe in der Gesellschaft übertragen es wäre der Ruin. Ihr habt kein Verantwortungsgefühl und keine Menschlichkeit. Deshalb habe ich mich damals abgesetzt.« »Du bezahlst es teuer, Verräter«, sagte Sapiro voll Hass. »Habt ihr euch jemals gesagt, daß über gewisse Dinge auch Gras wächst, ihr Fanatiker?« Verachtung schwang in Previns Worten mit. Jetzt lächelte Bauduc überheblich. »Gewisse Dinge verjähren nicht, Mann. Wir fahren dich mit dem Motorboot, mit dem wir gekommen sind, tief in den Sumpf. Niemand wird dich je finden. Wir binden dir einen Stein an die Beine und schmeißen dich in eines der vielen Wasserlöcher. Valremy und Choucas stammen aus der Umgebung, sie kennen sich auch im Dunkeln blendend aus. Übrigens, die Verwesung wird ziemlich schnell vor sich gehen, denn das Sumpfwasser ist verschmutzt und steckt voller Bakterien. Außerdem gibt es jede Menge Aale und Wasserschlangen, die dich bis auf die Knochen abnagen werden. Hast du noch was zu sagen, Jacques Previn?« Previn schaute Genevienne an. Sie zog sich etwas zurück, um seinem Blick nicht trotzen zu müssen. Er hatte manchmal darüber nachgedacht, wie es sein würde, falls sie ihn eines Tages doch noch erwischen würden, Der Tod war ein Schreckgespenst. Aber jetzt, da er ihm unmittelbar gegenüberstand, hatte er keine Angst mehr. Er blickte der Tatsache ruhig entgegen. Für ihn gab es keinen Ausweg mehr. Er mußte jetzt sterben. Und doch gab es etwas, das ihn aufrecht hielt. Jacques Previn wußte, daß die Kraft, mit der er den Geist bis auf das Dach des Hotels gelockt hatte, ihm in der schwersten Stunde behilflich sein würde. Sie würden ihn nicht völlig umbringen können, nur seinen 21 �
Körper. »Bauduc, ich habe eine Bitte. Erschießt mich, bevor ihr mich in das Wasserloch werft«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich das erfüllen kann«, entgegnete der Sprecher der Bande, »wir hatten geplant, dich ersaufen zu lassen, Verräter.« »Maurice«, kam Geneviennes Stimme. »Wir stimmen ab«, meinte er rasch. »Also: Wer dafür ist, daß wir Previn vorher umlegen, soll die Hand heben!« Außer Genevienne gab niemand das Ja-Zeichen. Die schöne Frau schluckte heftig. Für ein paar Sekunden hatte sich ihr Gewissen gemeldet. Aber eben nur für Sekunden. Als Bauduc sie in den Arm nahm, atmete sie schon wieder auf. »Du hast es gehört«, wandte sich Bauduc an den Mann mit dem Vollbart. »Du mußt es hinnehmen. Ein Schwein wie du kann auf keine Vergünstigungen hoffen. Teilhard, Armand, Franco bringt ihn jetzt weg. Genevienne und ich bleiben hier. Wir haben uns allerhand zu sagen.« »Klar«, griente Choucas. »Einen Moment noch.« Jacques setzte sich auf. »Ich muß euch erklären, daß ich in Rom Mitglied einer okkulten Gesellschaft war. Ich habe dort den Rang eines Meisters erworben. Das heißt, daß ich übersinnliche Fähigkeiten besitze.« Valremy prustete los. »Er meint, er kann uns ins Bockshorn jagen.« »Tischrücken, Geisterbeschwörung, Spuk und solches Zeug?« rief Sapiro. »Ich will, daß du uns das vormachst, Verräter! Kannst du durch Wände gehen?« »Ihr verwechselt mich mit einem Schaubudendarsteller. Nur nach meinem Tod wird die Kraft, die in mir steckt, vollends frei. Ich warne euch also.« »Er lügt«, schrie Genevienne Rillot plötzlich, »er besitzt diese 22 �
Fähigkeiten nicht. Er glaubt es, aber er ist ein Narr, jawohl, ein Narr.« Previn brachte es fertig, zu lächeln. »Jetzt sieht man, daß du Angst hast, Genevienne. Es freut mich. Du weißt, daß ich kein Schwindler bin, aber du willst es nicht zugeben. Lass dir eines gesagt sein: Ihr werdet keine Ruhe finden. Ich verfluche euch. Alle fünf. Mein Geist wird nicht eher ruhen, bis er euch allesamt in Tod und Verzweiflung getrieben hat.« »Schluß jetzt«, brüllte Maurice Bauduc, »weg mit ihm! Ich kann ihn nicht mehr sehen!« Jacques Previn rollte sich blitzschnell auf die Seite. Er schaffte es, Franco Sapiros Beine zu packen. Der Korse vollführte einen Salto und riß Valremy mit sich zu Boden. Wenn Jacques es fertig brachte, einem von ihnen die Waffe zu entwinden… Teilhard Choucas war über ihm und schlug zu. Previn versank in einem Abgrund ohne Boden. Er stürzte immer schneller. Wind brauste in seinen Ohren und steigerte sich zu orkanartigem Heulen. Er meinte, dies wäre bereits das Ende. * Zum dritten Mal in dieser Nacht kehrte er aus tiefer Besinnungslosigkeit ins Bewußtsein zurück. Über ihm funkelten Sterne, der Mond war eine breite Sichel. Wasser schwappte. Jacques stellte fest, daß sie ihn an der Bugseite in das lange Holzboot gelegt hatten. Es war ein mindestens fünf Meter langes und über einen Meter breites Boot, das vier Männern bequem Platz bot und doch flach und schmal genug war, um die engen Sumpfkanäle zu durchfahren. Sie hatten ihn gefesselt. Er konnte sich nicht rühren, kaum eine Hand krümmen. Schon das bereitete ihm Schwierigkeiten. 23 �
Links und rechts ragten Schilfhalme auf. Sie standen dicht beieinander und bildeten ein schwer zu durchdringendes Dickicht. Previn kannte die Etiage de Vacares von früheren Ausflügen her: die großen und kleinen Kanäle zogen sich schachbrettartig durch die Landschaft. Dazwischen lagen die riesigen Sumpfzonen, in denen man nur mit hüfthohen Gummistiefeln vorankam und auf zwei bis drei Meter tiefe Wasserlöcher stieß, wo man es am wenigsten erwartete. Der Sumpf war trügerisch und tückisch. Die Frösche stimmten ein wahres Konzert an. Ihre grunzenden Rufe bildeten die Todesmelodie für den Mann mit dem Vollbart. »Er ist wach«, sagte Sapiro. Sie hatten den Außenbordmotor abgestellt, Choucas ruderte und stakte vom Heck aus. Seinen höhnischen Gesichtsausdruck konnte Previn dank des Mondlichtes nur allzu gut erkennen. »Wie ist das«, rief er, »wenn man bloß noch ein paar Minuten zu leben hat, Verräter?« »Scheußlich, erniedrigend. Es ist gut, wenn du dich rechtzeitig damit vertraut machst, Mörder.« Valremy drehte sich auf der Sitzbank um. »Frech ist er auch noch. Ich hätte nicht übel Lust, ihm das Maul zu polieren.« »Nicht«, dämpfte Sapiro seine aufkeimende Wut, »du weißt, was Maurice gesagt hat. Er soll vollständig klar sein, wenn wir ihn reinschmeißen. Das, was er dann erlebt, ist schlimmer als Prügel.« Jacques Previn atmete tief durch. Nun fühlte er deutlich, wie der Hass so weit in ihm genährt worden war, daß er ihn viele Jahre, nein, Jahrzehnte lang in sich tragen konnte, ohne daß er sich abschwächte. Er starrte in den Nachthimmel. Trotz der Schmerzen in Kopf und Körper gelang ihm die Konzentration. Dank seines eisernen Willens drang er bis in die Finsternis vor, in der die Mächte 24 �
schlummerten, die er auszunutzen gedachte. Das Quaken der Frösche verstummte schlagartig. »He, was zum Teufel hat das zu bedeuten?« Sapiro richtete sich auf. Instinktiv griff er zur Pistole. Man konnte jetzt nur noch das Schmatzen vernehmen, mit dem das einzige Ruder in das Wasser stach und wieder hochglitt. »Sei doch nicht hysterisch«, knurrte Choucas, »im Sumpf gibt es die tollsten Überraschungen.« Plötzlich war ein feines Singen in der Luft. Sapiro hörte es und hob verdutzt den Kopf. »Mensch, das klingt ja richtig unheimlich«, flüsterte er. Dann deutete er auf die Schilfhalme, die sich unter einem unvermittelt aufkommenden Wind bogen. Valremy lachte auf. »Jetzt sagt bloß, ihr habt euch von dem Geschwätz dieses Hundesohns beeindrucken lassen! Ich bin nicht abergläubisch. Ich halte nichts von solchem Blödsinn und finde nach wie vor, daß er ein verdammter Fuchs ist, der uns auf diese Art unsicher machen will.« »Wer hat hier eigentlich Schiß?« protestierte Choucas. »Ist schon in Ordnung«, winkte Sapiro ab, »ihr habt ja recht. Ich wäre ein Esel, wenn ich mich so leicht ins Bockshorn jagen lassen würde.« Entschlossen packte er den Stein, der vor ihm auf den Bootsplanken lag. Es war ein massiver Felsbrocken, den gerade ein Mann stemmen konnte. Das Boot hatte erheblichen Tiefgang. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Choucas steuerte das Boot gegen das Ufer. Valremy kletterte zum Bug, stieg über den Gefesselten hinweg und sprang an Land. »Vorsichtig«, zischte Choucas. Der schnauzbärtige Gangster lachte, »Ich bin sozusagen im Sumpf großgeworden, und du gibst mir Ratschläge. Das ist gut, Teilhard! Los, Franco, gib den Stein herüber, damit die Scha25 �
luppe leichter wird.« Er nahm Sapiro den Felsklotz ab, legte ihn auf dem Boden ab und zog das Boot etwas aufs Trockene so weit, daß die anderen beiden sicheren Fußes aussteigen konnten. Erst dann hoben sie Previn aus dem Gefährt. Sie setzten ihn auf den nassen Untergrund. Choucas knüpfte ein dickes Tau an dem Stein fest. »Das erste Wasserloch ist keine zehn Schritte entfernt«, verkündete Valremy halblaut. »Los, wir prüfen, wie tief es ist.« Zusammen mit Choucas schleppte er den Stein zu dem Loch. Sie stießen ihn hinein, warteten und zogen ihn an dem Tau wieder herauf. Armand Valremy schätzte die Länge des nass gewordenen Stricks ab. »Zwei Meter und fünfzig«, versetzte er, »das reicht für den Verräter. Previn, gleich ist es aus. Du kannst dich schon freuen.« Hämisch grinsend machten sie den Stein an seinen Beinen fest, sobald sie ihn zum Loch getragen hatten. Sapiro prüfte den Sitz des Tauwerks besonders gründlich. »Warum flehst du nicht um dein Leben?« sagte er. »Ich will dich flennen hören.« »Den Gefallen tue ich euch nicht, und wenn ihr bis morgen früh wartet«, gab der Mann mit dem Vollbart ruhig zurück. »Ich bin über das Furchtgefühl hinaus. Ich verlange nicht einmal, daß ihr euch euer Handeln noch mal überlegt. Meine Rache ist euch sicher. Ich warte jetzt nur noch darauf, euch beweisen zu können, wie dumm es war, mich zu töten.« »Schluß«, bellte Valremy, »rein mit ihm!« »Ja, ich bin auch dafür. Ich kann sein Gefasel nicht mehr hören«, gab Sapiro seinen Senf dazu. »Fahr zur Hölle.« Choucas sagte es und packte Previns Arme. Sapiro und Valremy nahmen den Stein und hielten ihn über das tintenschwarze Wasserloch. Auf ein Zeichen von Teilhard 26 �
Choucas hin ließen sie los. Im selben Moment löste auch Choucas die Hände von den Achseln des Opfers. Klatschend landete Jacques Previn in der trüben Flüssigkeit. Etwas davon spritzte hoch und beschmutzte Sapiros Jacke. Er fluchte. Das Wasser war schmutzig und roch faulig. Der Körper des unglücklichen Mannes war verschwunden. Choucas leuchtete mit der Taschenlampe. Schweigend beobachteten die drei Gangster, wie die letzten Luftblasen aufstiegen. Als sich der Wasserspiegel endgültig glättete, standen sie auf. Sapiro lauschte dem beleidigten Quaken der Sumpffrösche. »Na bitte, da sind sie ja wieder«, sagte er. Er machte einen erleichterten Eindruck. * Das feine Singen war wieder in der Luft, als die drei Gangster mit ihrem Boot abgelegt und sich bereits ein paar hundert Meter entfernt hatten. Das Geräusch näherte sich dem Wasserloch. Es schwebte plötzlich darüber. Etwas später zeichnete sich ein silbriger Schein in der Nacht ab. Der Silberschein kreiste wie ein kleiner Wirbelwind über dem Wasserloch. Nur ein paar Sekunden, dann zerfaserte er und tauchte in die Flüssigkeit, die Previns Grab war. Es dauerte nicht lange, und das Wasser geriet in Bewegung. Eine Fontäne stieg auf, das übrige Nass schwappte drohend und unheimlich in dem tiefen Loch. Nach und nach kristallisierte sich aus den in der Luft hängenden Wassertropfen etwas Konkretes, Figürliches heraus. Eine Gestalt. Es war ein graues, nur wenig leuchtendes Schemenwesen, das jetzt die Beine bewegte und sich auf den Erdboden vor dem Loch herabsenkte. Das Wesen schritt auf den Kanal zu, in dem eben noch das Boot der Gangster gelegen hatte. Seine Fußabdrücke blieben im 27 �
Ufermatsch zurück. Lautlos betrat es die Wasseroberfläche des Kanals. Es wandelte darüber hinweg, erreichte die andere Seite und teilte das Schilfgestrüpp mit seinen Händen. Hier zerflossen seine Konturen. Innerhalb von wenigen Sekunden war es unsichtbar geworden. Und doch setzte es seinen Weg fort. Prasselnd bogen sich die Schilfhalme auseinander und bildeten eine Bresche, durch die es schlüpfen konnte. Erstaunlich, wie schnell es vorankam. Kein Mensch wäre in der Lage gewesen, diese mühselige Wegstrecke so rasch zurückzulegen. Kein Mensch hätte den tückischen Wasserlöchern ausweichen können, über die der Geist einfach hinweghuschte. Der Geist war am Hauptkanal angelangt. Hier entdeckte er das Boot mit den drei Gangstern. Der Außenbordmotor tuckerte gemütlich vor sich hin, schob die Last vor sich her, ließ vor dem Bug Wellen hochschwellen, die zu den Seiten hin zerflossen. An der Stelle, an der der Geist sich nun befand, wurde plötzlich ein fauchendes Geräusch laut. Schilfhalme zerfaserten, brachen mit trockenem Knacken ab und fielen zu Boden. Der Geist des ermordeten Jacques Previn hatte Mühe, seinen Hass zu unterdrücken. Noch nicht, flüsterte es in seinem nicht greifbaren Inneren, lass sie noch schmoren, warte, bis sie sich wieder in Sicherheit fühlen um so größer wird die Panik sein. Er schlich über den Hauptkanal hinweg und lief am Ufer entlang, um mit den Gangstern bis an die Schilfmattenhütte zu kommen. Sie lag rund einen Kilometer von dem Platz entfernt, an dem sie Previn brutal umgebracht hatten. Maurice Bauduc und Genevienne Rillot hatten das Motorengeknatter vernommen. Sie kamen aus der Hütte. Als sie jetzt in das Boot kletterten und auflachten, löste sich aus dem unsichtbaren Rachen des Geistes erneut ein schauriger Laut. 28 �
Das Boot legte wieder ab, dümpelte davon. Fauchend lief der Geist ihnen über das Wasser nach. Von seiner Existenz zeugten nur die kleinen Wellenringe, die sich auf der Oberfläche der Fluten abzeichneten, wo er seine unsichtbaren Füße aufsetzte. * Sie stellten die Wagen wieder in der Seitenstraße am Hotel »Cicogne« ab. Bauduc, Genevienne und Choucas verließen den Simca 1501. Choucas schloß ab. Im selben Augenblick hatten auch Valremy und Sapiro den Fiat 124 zugeriegelt. Sapiro umrundete die Vorderseite des Fiat. Plötzlich zuckte er zusammen und duckte sich. Dabei stieß er einen entsetzten Schrei aus. Valremy sprang fluchend auf ihn zu. Der Korse strauchelte, und Valremy mußte sich bücken, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Auf dem Bürgersteig war ein junges Pärchen stehen geblieben. Es guckte neugierig herüber. Choucas ging rasch auf die beiden zu und sagte: »Hier gibt's nichts zu gaffen. Haut ab. Na los, verschwindet schon!« Es lag etwas in seiner Art, das keinen Widerspruch oder Kompromiss zuließ. Der junge Mann griff dehn auch sein Mädchen am Arm und zog es mit sich fort. Bauduc war bei dem Korsen und dem Gangster mit dem Schnauzbart. »Franco, bist du des Teufels? Was ist los mit dir?« »Hast du Teufel gesagt?« »Ja, verdammt.« »Ich glaube, er muß mal zum Arzt«, versetzte Armand Valremy spöttisch. »Seitdem Previn diese blödsinnigen Bemerkungen gemacht hat, sieht er überall Geister.« Sapiro trat auf ihn zu und schaute ihn aus weit aufgerissenen 29 �
Augen an. »Armand, ich schwör's dir es hockte vorn auf dem Kühler und grapschte nach mir. Ich hab einen kalten Atem gespürt und eisige Finger, die mich festhielten. Mensch, ich leide doch nicht unter Hallu… ich meine, ich bin immer noch klar im Kopf!« »Überlass das Nachdenken den Pferden, die haben den größeren Schädel«, fuhr Maurice Bauduc ihn an. »Du bist der einzige, der hier Halluzinationen hat, Franco. Ich gebe dir einen Rat: Sieh zu, daß du schleunigst in die Falle kommst! Morgen früh sieht die Welt wieder anders aus, kapiert?« »In Ordnung, Maurice.« »Gehen wir. Genevienne, du weißt, was du dem Portier zu sagen hast.« Bauduc hakte sie ein, dann schritten sie vor den anderen her zur Hauptstraße, an der der Eingang zum »Cicogne« lag. Etwas später lehnte sich die schöne Genevienne leicht über das Pult, hinter dem der Nachtportier stand. Er genoß einen ausgiebigen Einblick in den Ausschnitt des Oberteils ihres Hosenanzuges. Sie hatte absichtlich die Jacke offen gelassen, um ihn abzulenken und auf keine argwöhnischen Gedanken kommen zu lassen. »Monsieur Previn mußte plötzlich abreisen. Er wurde in dem Nachtclub angerufen, den wir besucht haben er ist bereits unterwegs nach Marseille, um seine todkranke Tante im Krankenhaus zu besuchen.« »Tut mir leid«, murmelte der Portier. Es gelang ihm einfach nicht, den Blick von ihrem Ausschnitt zu nehmen. »Ich behalte die Suite noch bis morgen früh«, fuhr Genevienne fort, »nach dem Frühstück reise ich ab. Bitte sehen Sie nach, ob Sie Zimmer für die vier Geschäftspartner von Monsieur Previn haben. Sie haben sich entschlossen, ebenfalls die Nacht in Montpellier zu verbringen.« Sie deutete mit dem Kopf zu den vier 30 �
Gangstern hinüber, die ein paar Meter entfernt im Foyer standen. Der Portier schob die Unterlippe vor. »Das wird schwierig sein.« »Bitte tun Sie Ihr möglichstes!« »Ich habe ein Doppelzimmer und zwei Einzelzimmer ohne Bad im vierten Stock«, meinte er nach einem langen Blick auf seinen Plan. »Falls die Herren sich damit begnügen: zwei müßten in dem Doppelzimmer schlafen.« Genevienne teilte es den vieren mit. Sie erklärten sich einverstanden, trugen sich ein und gaben ihre Ausweise ab. Der Portier händigte ihnen die Schlüssel aus. Kurz darauf steuerten sie durch die Halle auf den Fahrstuhl zu. Unterwegs begegnete ihnen ein hagerer Mann mit krausen Haaren. Offenbar kam er gerade aus der Hotelbar. Sie schenkten ihm keine Beachtung, und auch er bedachte sie nur mit einem anscheinend gelangweilten Blick. Im Lift sagte Bauduc: »Ich bleibe natürlich bei Genevienne. Einer von euch kann also das Doppelzimmer ganz allein nehmen und meinetwegen zwei Betten abwechselnd benutzen.« Choucas lachte scheppernd. »Maurice, ich schätze, der Portier hat keinen Verdacht geschöpft.« »Glaube ich auch nicht«, fügte Valremy hinzu, »er hat's geschluckt, daß wir Previns ›Geschäftspartner‹ sind.« Der Sprecher der Bande feixte und zog die Frau an sich. »Wir frühstücken so zeitig wie möglich, damit wir um sieben oder spätestens halb acht nach Marseille aufbrechen können. Wir dürfen uns keinen Aufschub gönnen. Uns erwartet ein Sonderauftrag. Wir können uns bewähren und vielleicht bis in die Führungsspitze der Organisation aufsteigen. Deshalb müssen wir diszipliniert auftreten.« Sie trennten sich auf dem Flur im obersten Stockwerk. 31 �
Bauduc schloß Genevienne in seine Arme, als sie die Tür zur Suite hinter sich geschlossen hatten. Er küsste sie und streichelte ihren Körper mit seinen Händen. Deutlich war zu spüren, wie die Begierde in ihr aufkeimte. »Lass uns ins Schlafzimmer gehen, Liebling«, hauchte sie. Er ließ sie nur widerwillig los. »Es ist kurz nach Mitternacht«, girrte Genevienne und zog die Jacke aus, »wir haben sechs Stunden Zeit, Maurice. Ich glaube, sie werden wie im Flug vergehen.« Er strich sich die Strähne aus der Stirn. »Morgen früh trage ich dich runter in die Halle. Du wirst im Wagen weiterschlafen, Genevienne, denn ich werde dir sämtliche Reserven nehmen.« Lachend lief er hinter ihr her und kam an dem kleinen Sekretär an der Fensterfront des Salons vorüber. Er blieb stehen, schaute auf die Bücher und die Kerze, die Previn zurückgelassen hatte. »Enzyklopädie des Okkultismus«, las er laut, »und ›Die Geheimnisse der Finsternis‹. Er hat sich also tatsächlich mit diesem Quatsch beschäftigt.« »Ja, ja«, entgegnete sie hastig. »Liebling, ich will nicht mehr darüber sprechen. Es nimmt mir die ganze Stimmung.« »Entschuldige«, sagte er und folgte ihr ins Schlafzimmer. Genevienne stellt sich hinter das zerwühlte Bett und streifte ihren Hosenanzug ab. Bauduc betrachtete sie, aber sein Blick glitt immer wieder zu dem Morgenmantel und zu den anderen Sachen ab, die wohlgeordnet auf Stühle und Tisch verteilt waren. »Warte noch«, versetzte er plötzlich, »ich nehme einen Koffer und packe sein Zeug ein. Auch die Bücher. Ich will den ganzen Mist nicht unter den Augen haben, wenn wir…« Er räusperte sich, griff sich einen der eleganten Lederkoffer vom Schrank und machte sich an die Arbeit. »Morgen früh«, brummte er, »oder besser, heute früh werfen wir die Sachen 32 �
irgendwo an der Straße weg oder verbrennen sie.« Als er den Koffer in den Salon schleppte und nach einem der Bücher Jacques Previns griff, zerriss es mit heftigem Geräusch. Verwirrt bückte er sich und klaubte die beiden zerfledderten Hälften auf, um sie endlich zu verstauen. Das zweite Buch blieb heil. Aber an der Kerze versengte sich Bauduc die Finger. Er stieß einen Fluch aus und schüttelte die Hand, um den stechenden Schmerz loszuwerden. Schließlich packte er die Kerze mit dem Taschentuch und warf sie einfach aus dem Fenster. Genevienne erschien unter der Türfüllung. Sie war nackt bis auf ihren Slip. »Mein Gott, Liebling was ist passiert?« Er wurde etwas verlegen. »Diese verflixte Kerze. Ich habe mich daran verbrannt.« »Komisch«, sie runzelte die Stirn, »dabei war sie seit mindestens zwei Stunden ausgeblasen.« * Der hagere Mann mit dem krausen brünetten Haar besaß scharf blickende Augen und einen feinsinnigen Mund. Sein Name lautete George Lombardo, seine Berufsbezeichnung Privatdetektiv. Er hatte eine gültige Lizenz für ganz Frankreich und die Schweiz, außerdem einen Waffenschein. In dem Schulterhalfter trug er einen handlichen Franchi-Llama-Revolver mit kurzem Lauf, Kaliber 38 Special. Lombardo hatte das Auftauchen der vier Männer und der schönen Frau keineswegs so unberührt gelassen, wie er nach außen hin getan hatte. Er war ihnen über die Treppe bis in den vierten Stock gefolgt und hatte gerade noch feststellen können, in welchen Zimmern sie verschwunden waren. 33 �
Jetzt marschierte er zurück ins Erdgeschoß. Zunächst genehmigte er sich in der Bar einen weiteren Bacardi seinen dritten in dieser Nacht, Dann verabschiedete er sich von der reizenden Blonden hinter der Theke. Er hatte mit ihr anbändeln wollen, hatte jedoch plötzlich ganz andere Gedanken im Kopf. Er ging zum Nachtportier. »Hören Sie, Lucard«, begann er und bot ihm eine Zigarette an. Der Portier nahm an, dankte und grinste. »Ich heiße nicht Lucard, sondern Yves, Monsieur Lombardo. Womit kann ich Ihnen dienen?« »Also schön, Yves, was würde Sie dazu bringen, mir einen Blick in das Gästebuch zu erlauben?« »Hiebe, Monsieur Lombardo.« »Unsinn, wer wird denn von Gewalt sprechen! Ich benötige nur ein paar Informationen über die fünf Leute, die sich eben in das oberste Stockwerk zurückgezogen haben. Ihre Namen beispielsweise.« »Indiskretionen über Gäste sind streng untersagt«, wurde Yves förmlich. »Ich bin Detektiv.« »Höchstens vor einem Polizisten mit richterlichem Befehl in der Hand dürfte ich das Gästebuch aufschlagen, Monsieur Lombardo.« Der hagere Mann zog die Augenbrauen etwas hoch, lächelte und zückte die Brieftasche. Er blätterte zwei Zehn-Franc-Scheine auf das Pult. »Sie meinen, ich sei bestechlich?« fragte Yves pikiert. »Ja, mein Freund.« Bei der vierten Banknote griff der Portier zu, strich rasch die Scheine glatt und ließ sie in der Tasche seiner Livree verschwinden. »Ich komme in Teufels Küche, falls man uns beobachtet, Monsieur. Was wollen Sie wissen?« Er klappte das Gästebuch auf, blickte sich nach allen Seiten um und tippte mit dem Zeige34 �
finger auf die Eintragungen. »Genevienne Rillot, Maurice Bauduc, Armand Valremy, Teilhard Choucas und Franco Sapiro«, las der Detektiv leise. »Und wer ist der Mann, dessen Namen Sie hier ausradiert haben, Yves?« »Das war Monsieur Jacques Previn«, erklärte der Mann hinter dem Pult in verschwörerischem Tonfall. Er berichtete, was ihm Genevienne nach Previns plötzlichem Verschwinden mitgeteilt hatte. Lombardo stippte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Zeigen Sie mir die Pässe oder Ausweise.« »Aber Monsieur…« »Zieren Sie sich nicht, Yves.« Fünf Sekunden später hielt er die vier Cartes d'Identité der Gangster und den Reisepass der schönen Genevienne in den Fingern. Nach kurzer Prüfung schob er sie zurück. Er hatte sich die wichtigsten Daten gemerkt. »Danke, mein Freund. Die Dokumente sind echt, falls Sie das interessiert. Ich kenne nur den einen Knaben, Maurice Bauduc.« »Persönlich?« »Nein.« »Ist er ein Krimineller?« »Ja, aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich schätze, hier wird sich nichts Aufregendes ereignen.« Er senkte die Stimme noch mehr. »Yves, behalten Sie unser Gespräch für sich. Eine Hand wäscht die andere.« Er wandte sich ab und schritt auf die Drehtür zu. Einem spontanen Entschluß folgend ging er nach draußen. Hier steckte er sich eine neue Zigarette an. George Lombardo überlegte angestrengt. Bauducs Name stand nicht in den Fahndungslisten der Polizei, das wußte er sicher. Aber dieser Mann mit dem runden Gesicht und dem melancholischen Blick war in einer geheimen Dokumentation, in die 35 �
George durch Zufall Einblick gehabt hatte, im Zusammenhang mit der OAS erwähnt worden. Die politische Polizei und der SDECE hatten ihm allerdings nie eine Straftat nachweisen können. Wie nun, wenn ich eine heiße Spur aufspüre? überlegte er. Sein Blick fiel auf den Bürgersteig. Merkwürdig, dachte er. Auf den Platten zeichneten sich deutlich Fußspuren ab. Eine Fährte, die von nackten, schlammverschmierten Füßen herrühren mußte. Lombardo konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wieso jemand mit matschigen Fußsohlen durch das Zentrum von Montpellier marschierte. Er ging der Spur nach. Sie führte bis an die Ecke des Hotels »Cicogne«. Hier riß sie plötzlich ab er konnte sie nicht weiterverfolgen. Weder auf dem Bürgersteig noch auf der Straße noch in der Gasse, die rechts an der Seitenfront des Hotels verlief, ließen sich ähnliche Abdrücke ausmachen. Lombardo entdeckte die Kerze und bückte sich danach. Es kostete ihn einige Anstrengung, sie von dem Pflaster der Gasse loszureißen, denn sie schien fast damit verwachsen zu sein. Die Flamme erlosch, als er sie hochhob, obwohl kein Wind ging und er nicht versucht hatte, sie auszupusten. »Ich finde das unheimlich«, gestand Lombardo sich selbst. Nachdenklich steckte er den Kerzenstummel ein. * Maurice Bauduc wachte auf und wälzte sich auf den Rücken. Er war völlig unbekleidet. Gähnend rieb er sich die Augen, schaute auf die Armbanduhr, deren Zifferblatt er dank des Lichtes der Nachttischlampe erkennen konnte. Ein Uhr morgens. 36 �
Er grinste. Höchstens eine Viertelstunde hatte er geschlafen. »Genevienne«, raunte er und tastete nach ihrer Hand. Er fand sie nicht. Verblüfft richtete er sich auf und drehte sich um: Die schöne Frau war verschwunden. Er bekam einen Schrecken, als er sah, daß das Bettlaken zerrissen war. Es schien ihm völlig unbegreiflich, daß Genevienne den weißen Stoff kaputtgemacht hatte. Der Gangster glitt vom Bett. Erst jetzt sah er, daß die Deckenlampe aus ihrer letzten Halterung gerissen war und zerbrochen auf dem Zimmerboden lag. Er begriff jetzt, daß es ihr Klirren gewesen war, das ihn geweckt hatte. »Genevienne«, sagte er, diesmal laut und verärgert. Er nahm an, daß sie sich im Badezimmer befand. Keine Antwort. Aber plötzlich setzte das Knistern ein. Bauduc warf den Kopf zurück. An der Zimmerdecke zeichneten sich neue Risse ab. Sie bildeten mit dem ersten Riß, der bis zur Verankerung der Lampe verlief, ein spinnennetzartiges Muster. Das Knistern wurde lauter und entwickelte sich zu hässlichem Knacken. Es klang, als würde jemand an seinen Fingern zerren, nur zehnfach verstärkt. Bauduc schluckte. Er lief zu dem Stuhl, über den er seine Jacke gehängt hatte. Mit fahrigen Bewegungen holte er den Colt-Bodyguard heraus, schraubte den Schalldämpfer auf und schob die Patronen ein. Dann wirbelte er auf den Hacken herum und legte auf die Decke an. Die Geräusche waren verstummt. Mit einem Fluch auf den Lippen wandte er sich dem Bad zu. Vorsichtig schob er die nur angelehnte Tür auf und bekam die nächste scheußliche Überraschung präsentiert. Er schrie auf. Genevienne kniete vor der Badewanne. Sie war nackt. Die Arme hatte sie in die Wanne gelegt, ihr Kopf war eigenartig verdreht, so daß Bauduc das Gesicht nicht erkennen konnte. Das 37 �
schlimmste aber war, daß eine rote Flüssigkeit in der Wanne schwappte. Sie füllte sie bis zum Rand. »Blut«, flüsterte Bauduc, »meine Güte, Blut!« Er riß sie von der Badewanne fort, legte sie auf die rosa Matte. Im nächsten Augenblick wollte er nach ihrem Herzschlag horchen, ließ es aber, weil sie die Augen aufschlug. »Liebling«, sagte sie, »was wo bin ich?« »He, wie fühlst du dich?« fragte er. »Hast du Schmerzen? Bist du irgendwo verwundet?« Sie schüttelte verblüfft den Kopf. »Aber nein, ich fühle mich putzmunter, Maurice. Willst du mir bitte endlich sagen, was los ist?« Er half ihr auf und zeigte auf die Wanne. »Das meine ich. Ich habe einen fürchterlichen Schrecken bekommen.« Seine Augen weiteten sich mit einemmal. Die Flüssigkeit in der Wanne war nicht mehr rot gefärbt. Sie schimmerte grünlich, trug etwas Schaum auf der Oberfläche und verbreitete angenehmen Duft. Bauduc tauchte verwirrt die Hand ein. Es handelte sich um Wasser, warmes Wasser. »Ich habe es einlaufen lassen und ein bißchen Lotion zugegeben«, versetzte Genevienne, »ich wollte ein Schaumbad nehmen, Liebling. Hätte ich gewußt, daß dich das so erschreckt…« »Du warst ohnmächtig, Mädchen«, stieß er heiser aus. »Komisch.« »Und in der Wanne war Blut.« Er strich sich die Strähne aus der Stirn. »Verdammt, jetzt fange ich auch schon so an wie Franco. Wir sind alle zu nervös. Ich packe mich wieder hin. Nimm du von mir aus dein Bad, aber lass um Himmels willen die Tür offen.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Es klopfte an der Tür zum Flur. »Wer da?« Bauduc hob die Schalldämpferpistole. 38 �
»Teilhard. Ich habe einen Schrei gehört.« »Das war nichts«, gab der Anführer der Bande fast wütend zurück. »Leg dich schlafen. Hier ist alles in Ordnung.« Choucas murmelte etwas Unverständliches. Seine Schritte entfernten sich über den Flurläufer. Maurice Bauduc gähnte. Er blickte sich aufmerksam im Raum um. Die Risse an der Decke waren sehr fein, man konnte sie jetzt kaum noch erkennen. Um die zerbrochene Lampe kümmerte er sich nicht. Er legte nur den Colt unter eines der Kopfkissen und kroch wieder auf das breite französische Bett. Nachdem er die Decke bis über den Bauch gezogen hatte, streckte er sich aus. Der Schlaf nahm ihn rasch wieder gefangen. Doch es war nur ein kurzer, unruhiger Schlaf. Schweißgebadet wachte Bauduc wieder auf. Er fuhr sich mit den Händen über die Stirn und gab einen verdrossenen Laut von sich. Du bist nervös, sagte er sich in Gedanken, nervöser als sonst was ist los? Von nebenan tönte das Plätschern herüber. Genevienne saß also noch in der Badewanne. Bauduc konnte hören, wie sie eine Melodie summte. Dann wurde ihm bewußt, daß da noch ein anderes Geräusch war. Nicht im Bad jedoch, sondern ganz in seiner Nähe, im Schlafzimmer. Kichern. Leise zunächst, dann anschwellend gelangte es an seine Ohren. Es war ein dreistes, verächtliches Kichern. Täuschte sich der Gangster jetzt, oder hatten die Laute wirklich einen echoartigen Nachhall? Er schaute auf seinen Arm. Die Gänsehaut war nicht zu übersehen. »Genevienne, komm her«, sagte Bauduc. Die Worte kamen heiser über seine Lippen. Er war verärgert über sich. Die silberhelle Stimme der Frau hatte eine beruhigende Wir39 �
kung auf ihn. »Natürlich sofort, Liebling. Warum schläfst du nicht?« Das Kichern war immer noch da. »Genevienne, hörst du das?« »Was?« »Verdammt«, biss sich Bauduc auf die Unterlippe. Er riskierte, sich lächerlich zu machen. Vielleicht kommt das Kichern aus einem der Nebenzimmer, schoß es ihm durch den Kopf. Die weiteren Ereignisse liefen in sehr rascher Folge ab. Plötzlich polterte es im Badezimmer. Bauduc setzte sich fluchend auf, klaubte den Revolver unter dem Kopfkissen hervor. Mit einem Satz stand er neben dem Bett. Er duckte sich. Was er nun sah, kam ihm so unwahrscheinlich und schockierend vor, daß er für Sekunden wie gelähmt stand. Genevienne sie bewegte sich stolpernd durch das Badezimmer. Bauduc konnte es verfolgen, weil sie weisungsgemäß die Tür offengelassen hatte. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Die nackte Frau taumelte bis zu der Tür, die in den Salon führte. Abwehrend hob sie die Hände. Offenbar war sie unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben. Bauduc riß den Colt-Bodyguard hoch. Er stürmte vor, um nachzusehen, wovor Genevienne sich zurückzog, was dort in der Ecke des Badezimmers lauerte und ihr diesen unbändigen Schrecken einjage. Sie war wachsbleich im Gesicht. Die Tür zum Salon flog auf. Genevienne sprang in den Raum, als habe sie jemand hineingestoßen. Im selben Augenblick schwang knarrend die andere Tür zu. Krachend fiel sie ins Schloß. »Hölle und Teufel«, keuchte er. Er rüttelte an der Klinke, um die Tür aufzureihen vergebens. Sie war fest versperrt. »Genevienne«, stieß er wieder aus. Wütend hob er seinen Revolver hoch, legte auf das Türschloss an und drückte zweimal 40 �
ab. Er wartete umsonst auf das typische hohle Schmatzen und Zischen, das die Waffe gewöhnlich erzeugte. Nichts geschah. Maurice Bauduc warf sich herum, weil er wieder Geräusche hinter sich gehört hatte. Das Kichern! Es schwang wieder durch den Raum. Diesmal steigerte es sich noch mehr und ging schließlich in ein kehliges Lachen über. Bauduc japste, brachte den Colt erneut in Anschlag, wollte einfach quer durch den Raum feuern, damit das scheußliche Lachen verschwand. Sein Zeigefinger, der bisher um den Abzug gekrümmt gewesen war, schlug plötzlich ins Leere. Fassungslos starrte der Anführer der Gangster auf seine rechte Hand. Der Abzug der Waffe war verschwunden – jetzt zerbröselte die ganze Waffe unter seinen Augen. Ja, sie zerfiel zu Staub, zu weißem Staub, der zu Boden rieselte und dort ein lächerliches Häufchen bildete. »Das gibt es nicht«, flüsterte Bauduc, »so etwas darf es nicht geben!« Weiter kam er nicht. Es verschlug ihm buchstäblich die Sprache. Das Lachen hatte sich nun in höhnisches Gemecker verwandelt. Plötzlich setzte es aus, gleich darauf begann eine Art Fauchen. Bauduc spürte, wie sich seine Nackenhaare im wahrsten Sinne des Wortes sträubten. Es sollte noch schlimmer kommen. Andere Laute überlagerten das Fauchen. Aus unnatürlich weit aufgerissenen Augen stierte der Gangster in die gegenüberliegende Zimmerecke. Dort, rechts neben dem Bett, zeichneten sich nun Abdrücke auf dem Fußboden ab. Matschige Fußspuren, aus denen man die Umrisse nackter Sohlen herauslesen konnte. Mit schlüpfrigen Geräuschen setzten sie auf. Sie waren einfach plötzlich da, wie vom Himmel gefal41 �
len, ohne erkennbare Herkunft. Sie wurden zwei, drei, vier Spuren, vermehrten sich immer weiter und rückten auf Maurice Bauduc zu. »Hilfe«, stöhnte der Gangster. Aber das Wort wollte nicht richtig über seine Lippen. Es gelang ihm nicht, den Mund weit aufzusperren und es hinauszubrüllen. Die Fährte zog sich immer weiter, war nun dicht vor ihm. Bauduc wich zur Seite aus. Die Schlammspuren folgten seiner Bewegung. Er lief bis zu der zertrümmerten Lampe. Schnell hob er die Messingstange auf, an der noch ein paar Splitter des ehemals runden Schirmes hafteten. Als die Spuren wieder nahe vor ihm waren, hieb er mit der Waffe zu, daß der Matsch aus einem der Abdrücke hochspritzte. Die Antwort bestand aus einem häßlichen Lachen. »Weg«, ächzte Bauduc, »hau ab!« Zufällig blickte er zur Decke hoch. Es war wie verhext: die Risse waren verschwunden. Dafür prangte nun ein Fleck ungefähr einen Meter von dem Eisenhaken entfernt, an dem zuvor die Lampe befestigt gewesen war. Es war ein roter Fleck, der sich ständig vergrößerte. »Blut«, wisperte Bauduc entsetzt. Aus dem Fleck lösten sich Tropfen. Sie spritzten auf den Zimmerboden und zeichneten etwas, das der Gangster von seinem jetzigen Standort sehr gut erkennen konnte: einen Totenkopf. Es war ein blutroter grinsender Schädel, der ihm, Maurice Bauduc, zugewandt zu sein schien. Bauduc hätte etwas darum gegeben, wenn jetzt Choucas oder Valremy oder Sapiro auf der Bildfläche erschienen wären. Doch er vermochte nur zu flüstern. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er wünschte nichts mehr, als schreien zu können, doch es mißlang immer wieder. 42 �
Er schlich rückwärts, und dabei krümmte er sich immer mehr. Er kroch förmlich in sich zusammen. Der eiskalte Gangster verspürte etwas, das ihm bis zu diesem Augenblick fremd gewesen war. Das Grauen hatte ihn gepackt. Die Spuren folgten ihm mühelos. Er wollte über das Bett zur Tür kriechen, aber sie verstellten ihm den Weg. Immer, wenn er rechts oder links daran vorbei wollte, zeichnete sich ein schwarzer Schlammklecks vor seinen Fußspitzen ab. Bauduc vernahm den rasselnden Atem. »Wer bist du?« japste er. Das Luftholen setzte für einen Augenblick aus, hämisches Lachen drang an Bauducs Ohren. Und der Mann mit dem runden Gesicht und der Haarsträhne auf der Stirn fühlte, wie sich der Unsichtbare ihm näherte, wie er nach ihm ausholte, ihn einfangen wollte. Plötzlich spürte er den eisigen Atemhauch auf seinem Gesicht. Er bemerkte die Krallen auf seiner nackten Haut, sah, wie sie tiefe Male gruben. Der Unsichtbare wollte ihm den Garaus machen. Für Sekunden tauchte eine Fratze vor Bauducs Augen auf. Es war das weiß schimmernde, unwirkliche Abbild eines männlichen Wesens mit langem bleichem Vollbart, schwarzen Augenhöhlen, Zahnstummeln in einem grauenvollen Maul – der Gangster konnte kaum Ähnlichkeit mit dem ermordeten Jacques Previn feststellen, und doch wußte er, daß dieser gekommen war, um sich zu rächen. Der Geist packte zu. Da riß Bauduc den Mund zu einem fürchterlichen Schrei auf. Bevor er ihn herausbrachte, preßte sich eine eisige Hand gegen seine Lippen. Er wimmerte, duckte sich und schüttelte für einen Moment das schauderhafte Verhängnis ab. Schreiend tobte Bauduc über das Bett hinweg. Er war an der 43 �
Tür zum Flur und griff an die Klinke. Jäh löste sich die Tür aus Füllung und Angeln und stürzte ihm entgegen. Nur durch einen schnellen Sprung zur Seite konnte er sich retten. * Wieder glitt der eiskalte Atemhauch heran, streifte seinen Nacken. Bauduc heulte auf. Er hechtete auf den Flur hinaus, strauchelte, rollte sich jedoch geistesgegenwärtig ab und kam wieder auf die Beine. An der anderen Seite des Korridors wurden Türen aufgerissen. Choucas stürzte als erster hinaus. Der Geist hatte Maurice Bauduc jetzt wieder erreicht. Knurrend warf er sich auf ihn. Doch der Anführer der Gangster hieb um sich. Er konnte sich noch einmal losreißen, rannte zur Treppe. Choucas stürmte ihm nach, konnte ihn jedoch nicht einholen. Bauduc raste die Stufen hinab. Er gelangte in den dritten Stock, aber der Geist saß ihm immer noch auf den Fersen. Von dem abscheulichen Atemhauch und den zupackenden unsichtbaren Krallenhänden vorangetrieben, jagte der Gangster weiter in die zweite, dann in die erste Etage hinab. Als er in der Halle ankam, war er soweit, daß er keine vernünftige Entscheidung mehr treffen konnte. Fort, trommelte es nur in seinem Hirn, ich muß versuchen, ihn abzuschütteln! Schreiend hetzte er an dem gestikulierenden Nachtportier vorbei. In der Drehtür wollte er schon aufatmen und glaubte, daß er es geschafft hätte. Da zerplatzte eine der Glasscheiben hinter ihm. Ein wahrer Regen von Scherben prasselte auf ihn nieder und wieder kratzten ihn die Krallen des Geistes. Ein scheußliches Lachen ertönte. Maurice Bauduc rannte auf den Bürgersteig, dann auf die 44 �
Straße. Um diese Stunde herrschte nicht mehr viel Autoverkehr im Zentrum von Montpellier. Aber das Verhängnis wollte, daß ausgerechnet in diesem Moment drei Personenwagen von verschiedenen Seiten über die vierspurige Fahrbahn auf das Hotel »Cicogne« zurollten. Der erste Fahrer brachte seinen Wagen mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Der zweite er kam von rechts drehte sich mit seinem Fahrzeug bei dem Stoppmanöver. Dadurch geriet der dritte Autofahrer aus der Fassung. Er hatte sich dicht hinter dem zweiten befunden. Jetzt kurbelte er am Steuer, um seinen Wagen auf die nächste Spur zu reißen und einem Auffahrunfall zu entgehen. Das wurde Bauduc zum Verderben. Er lief an dem zweiten Auto vorüber, schützte sich mit den Händen vor dem immer wieder gnadenlos zustoßenden Geist. Er sah noch zwei wild tanzende Scheinwerfer auf sich zujagen. Dann bekam er einen entsetzlichen Stoß gegen die Hüfte, fühlte sich hochgehoben. Der Aufprall auf dem Pflaster riß seinen Bewusstseinsfaden schlagartig ab. Maurice Bauduc spürte nicht mehr, wie das Auto über ihn hinwegrollte. Er vernahm nur noch das gräßliche Lachen des Geistes. * Genevienne Rillot richtete sich auf. Verdutzt blickte sie sich um und entdeckte Franco Sapiro, der in der Tür des Salons stand. Der Korse räusperte sich etwas verlegen und blickte zu Boden. »Verdammt, Genevienne«, sagte er, »ich wäre nicht reingekommen, wenn ich gewußt hätte…« Sie stand ganz auf, gab sich aber keine Mühe, ihre Blößen mit den Händen zu verdecken. »Schon gut, Franco. Was ist geschehen? Wo steckt Maurice?« 45 �
»Er ist nach unten gerannt. War völlig aus dem Häuschen. Teilhard und Armand sind ihm nach. Wir haben keine Ahnung, wovor er so plötzlich ausgerissen ist. Komischerweise hatte er auch keine Kanone bei sich.« Die schöne Frau hastete ins Schlafzimmer und schaute sich um. In diesem Augenblick drang das Quietschen von auf dem Asphalt radierenden Pneus und das Krachen von Autoblech herauf. Entsetzt warf sie sich ihren Morgenmantel über und lief Sapiro nach, der bereits in Richtung Lift losgerannt war. Sie kamen in der Halle an und blickten auf Yves, den Nachtportier. Der Mann hatte ein aschfahles Gesicht. »Mein Gott«, stammelte er. Die Frau und der Gangster drängten sich durch die beschädigte Drehtür, stürzten ins Freie. Sie gelangten bis an die Bürgersteigkante. Choucas kam ihnen entgegen. Er hielt Genevienne zurück. »Das ist kein Anblick für dich«, versetzte er. Seine Miene war wie versteinert. »Verflucht, ich möchte wissen, weshalb er wie ein Verrückter auf die Straße gerannt ist. Helfen können wir ihm jedenfalls nicht mehr. Er sieht übel aus. Das Auto ist über ihn weggefahren.« »Nein«, schluchzte sie auf. Sapiro war zu Valremy hinüber gelaufen, der mit dem Autofahrer sprach. Auch die Insassen der übrigen Fahrzeuge waren ausgestiegen und hatten sich um die unbekleidete Leiche versammelt. Es gab einen kleinen Auflauf. Teilhard Choucas hielt die schöne Genevienne am Arm zurück. »Hör mir gut zu!« zischte er. »Wenn die Bullen jetzt gleich anrücken, darfst du auf keinen Fall erzählen, daß er mit dir in einem Zimmer war, sonst kommt ein Verdacht wegen Previn auf, verstehst du? Offiziell hat Maurice in dem Einzelzimmer am Ende des Flurs gewohnt. Er war unser Geschäftspartner, wollte 46 �
morgen mit uns nach Marseille weiter, hat plötzlich einen Kollaps oder was Ähnliches gekriegt.« »Wie kannst du jetzt so kalt überlegen«, sie sah auf. »Es geht um die Organisation.« »Du weißt nicht, was Maurice für mich war.« »Trotzdem dürfen wir nicht schlappmachen«, herrschte Choucas sie an. »Maurice hätte das gleiche gesagt, falls es einen von uns erwischt hätte. Wegen eines einzelnen darf die Sache nicht ins Stocken geraten, hat er immer gesagt.« Ihr Blick wurde kühl. »Gut. Das Leben geht weiter. Was steckt hinter diesem Vorfall, Teilhard? Ich lag bewusstlos im Salon. Ich weiß nicht mehr, wie ich dorthin geraten bin wirklich nicht. Als ich aufwachte, wurde Maurice hier unten überfahren.« »Vielleicht sind sie uns auf den Fersen.« Choucas nagte an der Unterlippe. »Wer?« »Nicht die Bullen. Die Schweine aus dem gegnerischen Lager. Möglich, daß sie im Hotel lauern. Möglich, daß der Autofahrer mit ihnen unter einer Decke steckt. Ich werde ihn mal unter die Lupe nehmen.« Er setzte sich in Richtung auf die Unfallstelle in Bewegung. Genevienne folgte ihm trotz der Warnung. Sie hatten den Platz noch nicht erreicht, als eine Polizeistreife mit heulender Sirene und zuckendem Blaulicht eintraf. Yves, der Nachtportier, hatte sie alarmiert. Die uniformierten Beamten der Gendarmerie Nationale sprangen aus dem Wagen. Genevienne schrie auf, als sie den toten Bauduc sah. Er war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Es verstrich einige Zeit mit dem Aufnehmen der Aussagen. Besonders aufgeregt verhielt sich der Autofahrer, der immer wieder gestenreich betonte, keine Schuld zu haben. Er wurde dabei durch die Zeugen aus den anderen Fahrzeugen lebhaft 47 �
unterstützt. Der Einsatzleiter, ein rotgesichtiger Mann, zog endlich das Fazit: »Maurice Bauduc rennt nachts um zwei Uhr plötzlich auf die Straße. Ohne Kleidung. Seine Freunde, die ihn nicht aufhalten können, haben keine Ahnung, weshalb. Bauduc wird überfahren nach aller Wahrscheinlichkeit aus eigener Schuld. Wir rufen jetzt den Leichenwagen, Messieurs. Vielleicht wird eine Autopsie angeordnet, bei der man feststellt, ob der Mann getrunken hatte.« Er räusperte sich. »Wie ist das, war Bauduc geistig einwandfrei auf der Höhe?« »Er hatte manchmal so abwesende Momente«, versetzte Choucas rasch. »Offen hat er mit uns aber nie darüber gesprochen.« »Vielleicht unter Drogeneinfluß«, wandte der Einsatzleiter sich halblaut an einen Kollegen. Dann, zu den übrigen Umstehenden gewandt: »Sie können vorerst gehen. Wir haben Ihre Namen und Adressen. Zur gerichtlichen Untersuchung werden Sie dann schriftlich noch einmal vorgeladen.« Valremy und Choucas nahmen den Autofahrer in die Mitte. Er hieß Fernand Legouche. »Kommen Sie mit rauf«, sagte Choucas jovial, »wir trinken einen Kognak. Er wird uns allen gut tun. So können Sie doch nicht weiterfahren!« »Gute Idee«, meinte Legouche erleichtert, »ich nehme dankend an.« Wenig später hatten sie sich in Valremys Zimmer versammelt. Genevienne, die als letzte eingetreten war, hatte die Tür hinter sich zugezogen und sofort verriegelt. Den Schlüssel hatte sie an sich genommen. Sapiro trat zum Fenster lehnte sich gegen die Brüstung und verschränkte die Arme vor der Brust. Armand Valremy stand hinter Legouche. Choucas ging auf den Mann zu, der jetzt erschrocken den Mund aufklappte. »Moment mal – was soll das bedeuten?« 48 �
»Das wirst du gleich kapieren«, grinste Choucas grimmig. Ohne Vorwarnung hieb er zu. Fernand Legouche stöhnte auf. Er krümmte sich und sackte langsam zu Boden. Die Faust des Gangsters hatte ihn in die Magengrube getroffen. Valremy lachte gemein, bückte sich und zog ihn wieder hoch. »Stehen bleiben«, sagte der schnauzbärtige Gangster, »und lass dir nicht einfallen zu schreien. In diesem Fall würden wir kurzen Prozess machen.« Er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Sapiro. Der Korse spielte mit seiner Schalldämpferpistole. »Wer seid ihr?« wimmerte Legouche. »Was habt ihr vor? Ich, ich habe nichts getan.« Choucas schlug wieder zu und wartete, daß der Mann ihn ansah. Legouche hatte diesmal einen Zahn verloren. Etwas Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. »Es ist besser, wenn du gleich die Wahrheit sagst«, versetzte der Gangster mit dem breiten Gesicht fast freundlich. »Wer hat dich beauftragt, Bauduc zu überfahren?« »Beauftragt?« »Mit uns brauchst du nicht zu spielen, Freundchen.« »Aber ich verstehe wirklich nicht.« Wieder und wieder prügelte Teilhard Choucas auf Legouche ein. Am Ende zog er seinen Kopf an den Haaren hoch und flüsterte: »Also schön, ich bin jetzt überzeugt, daß du ihn aus purem Zufall überfahren hast. Sonst hättest du längst ausgespuckt, was du weißt. Du kannst dich waschen und deine Krawatte gerade rücken.« »Ja«, krächzte Legouche. »Diese Unterhaltung bleibt unter uns«, sagte der Gangster eindringlich, »wehe, du plauderst etwas an die Bullen aus. Denke daran, daß wir deine Adresse wissen. Wir würden dich wieder 49 �
besuchen, Fernand Legouche.« »Ich hab's begriffen«, stöhnte er. »Dann pack dich jetzt. Dein Wagen steht auf dem Parkplatz des Hotels. Paß gefälligst auf, daß die Bullen dich nicht noch mal anhalten und deine polierte Schnauze sehen.« Choucas ließ ihn los, und ging zu Genevienne hinüber. Er hatte seine Position gefestigt. Er war jetzt der Wortführer der Bande. * Fernand Legouche fühlte sich besser, aber keineswegs hundertprozentig auf Draht. Er hielt ein Taschentuch auf seinen zerschlagenen Mund gepresst, als er den Nachtportier Yves nach dem direkten Weg zum Hotelparkplatz fragte. Yves blickte dem Mann verwundert nach. Legouche wandte sich überstürzt dem kleinen Korridor zu, der von der Halle aus zum rückwärtigen Ausgang führte. Legouche setzte sich in seinen Wagen. Es war ein dunkelgrüner Renault 16. Bei dem Unfall hatte er nicht mehr als eine eingedrückte Zierleiste und eine winzige Beule auf der Motorhaube davongetragen. Bauduc war dort mit dem Knie oder dem Ellbogen aufgestoßen, bevor er zu Boden geschleudert worden war. Legouche wollte den Motor anlassen, erstarrte aber, als er die Bewegung neben sich wahrnahm. »Nein«, sagte er, »bitte nicht schon wieder…« George Lombardo blickte ihn erstaunt an. Er hatte in Legouches Wagen auf dem Beifahrersitz Platz genommen, nachdem er die Unfallstelle verlasen hatte. George hatte alles nahezu von Anfang an mitbekommen, denn er hatte an der Ecke des ›Cicogne‹ gestanden, dort, wo er den Kerzenstummel entdeckt hatte. »Was haben Sie?« beugte er sich vor. »Glauben Sie, ich wollte 50 �
Ihnen ans Leder? Sie irren, Monsieur, ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« »Fragen?« gab Legouche. schrill zurück. »Ich bin Privatdetektiv.« »Was Sie auch sind, lassen Sie mich in Ruhe«, begehrte der Autofahrer auf. »Ich habe die Nase voll. Es ist nicht meine Schuld, daß der nackte Mann tot ist. Sie hätten auch nicht schneller auf die Bremse treten können als ich. Trotzdem habe ich nichts als Scherereien.« Lombardo beobachtete ihn scharf. »Man hat Sie geschlagen, Monsieur Legouche?« »Lassen Sie mich wegfahren. Sie bringen mir Unglück, Mensch!« »Sie waren bei Valremy, Choucas, Sapiro und der Rillot«, folgerte Lombardo unbeirrt. »Man hat Ihnen eingeschärft, ja nicht zu plaudern, stimmt's? Und was wollten die sauberen Herrschaften von Ihnen wissen? Ich wette, Sie haben vermutet, Sie gehören einer feindlichen Terror-Organisation an.« »Woher wissen Sie das so genau?« staunte Legouche. »Kombinationsvermögen, nichts weiter. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Da die Knaben und die reizende Dame Sie haben laufen lassen, sind Sie wahrscheinlich harmlos.« »Erraten«, brummte Legouche, »kann ich jetzt fahren?«. »Wer war hinter Bauduc her?« »Keine Ahnung. Ich habe niemand gesehen. Wenn Sie wollen, schwöre ich das jetzt.« »Das ist nicht nötig«, lächelte der Detektiv. »Besten Dank, Monsieur Legouche. Und leben Sie wohl!« Lombardo machte den Schlag auf und ließ sich ins Freie gleiten. Er schlich zum hinteren Ausgang zurück. Hier verharrte er, bis der Renault vom Parkplatz gerollt war. Er schaute zu den Fenstern des Hotels hinauf, konnte jedoch nichts Verdächtiges 51 �
entdecken. Etwas später stand er am Pult des Nachtportiers. »Yves, was ist Ihnen eigentlich über diesen Jacques Previn bekannt?« erkundigte er sich. Yves schaute ihn an. »Nichts. Nichts außer dem, was ich Ihnen schon gesagt habe. Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich habe nur einen blassen Verdacht, nichts Konkretes. Wo war der Paß von Previn ausgestellt worden?« »In Rom.« »Aber er ist Franzose?« »Denke ich doch, bei dem Namen.« Yves, ich möchte telefonieren«, beschloß der Detektiv. »Es ist ein Ortsgespräch. Die Nummer weiß ich aus dem Kopf.« Kurz darauf stand er in einer der beiden schalldichten Fernsprechkabinen im Foyer und preßte den Hörer ans Ohr. Gespannt lauschte er dem Rufzeichen. Hoffentlich hebt jemand ab, dachte er. »Gehen Sie zum Teufel«, meldete sich eine verschlafene Männerstimme. »Und lassen Sie sich nie wieder einfallen, Roger Brassens morgens um halb drei aus dem Schlaf zu reißen, Sie Untier!« »Roger, nimm dich zusammen«, sagte Lombardo grinsend. Brassens war sein Kompagnon in der kleinen, aber gut gehenden Agentur, die sie seit Jahren gemeinsam betrieben. Er galt als wandelndes Archiv. »Daß du mir so was antust«, beschwerte sich Brassens, »also wirklich, Mann.« »Ich muß wissen, was dir bei dem Namen Jacques Previn einfällt!« »'ne ganze Menge. Previn war Mitglied der OAS, verschwand aber vor vierzehn Jahren spurlos. Er arbeitete fortan für die Italiener, als wirtschaftlicher Unterhändler in Algerien. Mußte sich 52 �
vor der OAS in acht nehmen, weil die ihn als Verräter zum Tode verurteilt hatten. Laut unserem Geheimdienst SDECE soll er sich zuletzt in Rom aufgehalten haben. Das ist vertraulich, mein Freund. Sag jetzt bloß nicht, daß jemand mithört.« »Will ich nicht hoffen. Ich halte nicht viel von telefonischen Erkundigungen, aber in diesem Fall blieb mir nichts anderes übrig, Roger.« »Was ist los?« Er berichtete. »Ich bleibe jetzt hier und behalte die Gesellschaft aus dem vierten Stock im Auge«, schloß er. »Ich ahne irgendwie, daß es sie hier nicht mehr lange hält.« »Meinst du, die haben Previn umgebracht?« sagte Brassens. »Ich lege mich noch nicht fest.« »Du bist aber entschlossen, ihnen auf den Fersen zu bleiben?« »Ja.« »Dann viel Spaß.« Brassens lachte glucksend. »Übrigens, George: Previn soll in Rom mit einer okkulten Gruppe zu tun gehabt haben. Ich habe mal läuten hören, daß er über magische Fähigkeiten verfügt.« »Geisterbeschwörung?« »Ja, ich glaube.« »Und was soll das mit dem Fall zu tun haben?« »Gar nichts«, entgegnete der Mann am anderen Ende der Leitung träge, »ich habe dir das nur der Vollständigkeit halber erzählt. Halt die Ohren steif!« Lombardo hängte ein. Er verließ die Kabine, ging zu Yves, zahlte und verabschiedete sich. Sofort darauf ging er in sein Zimmer. Es lag im ersten Stock. Er packte seine Sachen in eine Reisetasche sein einziges Gepäckstück. Im Grunde war es reiner Zufall, daß Lombardo ausgerechnet in dieser Nacht im ›Cicogne‹ war. Er hatte seine alte Wohnung räumen müssen, und bevor er das neu gemietete Apartment beziehen konnte, mußte er eine 53 �
Woche warten. Brassens hatte ihm angeboten, zu ihm zu ziehen, aber aus Sicherheitsgründen hatte er das Hotel vorgezogen. Er kehrte in die Halle zurück und gab den Schlüssel beim Nachtportier ab. Dann wandte er sich dem Parkplatz zu. Sein Wagen war ein schnittiger Alfa Romeo Duetto, Farbe metallicgrau. Lombardo setzte sich hinter das Lenkrad. Er rechnete damit, ein paar Stunden so zu verbringen, wurde aber in dieser Hinsicht angenehm enttäuscht. Um 3.10 Uhr kamen die Gangster. Sie verließen das Hotel ebenfalls durch den Hinterausgang. Choucas, Valremy und Sapiro drehten sich nach allen Seiten um, bemerkten aber den kraushaarigen Mann in dem Duetto nicht. Lombardo verharrte. Wenig später heulte draußen vor dem Parkplatz ein Automotor auf. Der Wagen rollte vorüber, wie an den Scheinwerfern zu sehen war. Lombardo zählte die Sekunden. Bei zehn startete er ebenfalls. Als er den Wagen vom Parkplatz in die Seitenstraße lenkte, verschwand das Gangsterfahrzeug gerade um die Ecke des ›Cicogne‹. Es handelte sich um einen weißen Simca 1501. * Der Simca fuhr an der Unfallstelle vorüber. Nur ein dunkler Fleck auf dem Pflaster und die Kreidestriche der Polizei beugten noch davon, daß hier Maurice Bauduc in seinem eigenen Blut gelegen hatte. »Ich finde es idiotisch, so überstürzt abzufahren«, tat Genevienne ihre Meinung kund. Sie saß auf dem Beifahrerplatz neben Valremy, der das Steuer übernommen hatte. »Es ist das einzig richtige«, meldete sich Teilhard Choucas aus 54 �
dem Fond. »Dieser Legouche ist ein Narr, der Maurice aus purem Zufall auf die Motorhaube genommen hat. Ich bin sicher, denn meinen Methoden beim Verhör hat noch keiner standgehalten. Trotzdem, es gibt einen mysteriösen Grund, aus dem Maurice plötzlich auf die Straße rannte. Vielleicht hatte er irgendwas gesehen.« »Zumindest hätte er sich dann aber angezogen«, warf Sapiro ein. »Richtig«, sagte Valremy, »so verrückt habe ich Maurice noch nie gesehen.« »Und wenn ihm nun jemand was in den Drink gemixt hatte? Rauschgift zum Beispiel?« murmelte Choucas. Genevienne drehte sich zu ihm um und funkelte ihn an: »Schon gut, Genevienne. meinst doch nicht etwa mich, oder? Teilhard, ich sage dir, daß er seinen letzten Drink in der Hotelbar genommen hat, bevor ihr euch Previn holtet.« Er winkte ab. »Schon gut, Genevienne. Schließlich halten wir zusammen wie Pech und Schwefel, ich nehme nicht an, daß einer von uns ein doppeltes Spiel treibt. Außerdem hat Franco dich auf dem Fußboden des Salons liegen sehen, als du noch bewusstlos warst.« »Danke für das Vertrauen«, meinte sie schnippisch, »Ich wiederhole, Teilhard: Ich habe keine Ahnung, was im Schlafzimmer vor sich gegangen ist. Nur eines ist in meinem Gedächtnis haften geblieben: daß Maurice ins Bad kam und mir erzählte, er habe Blut in der Wanne gesehen.« Sie erschauerte mit einemmal. »Mein Gott, wenn ich daran denke, daß er vor einer Stunde noch am Leben war…« »Eines ist mir rätselhaft«, sagte Valremy, »wieso ist eigentlich die Glasscheibe der Drehtür in die Brüche gegangen?« »Der Portier sagt, Maurice kann sie nicht zertrümmert haben, weil er sie im Rücken hatte, als sie zersprang«, versetzte Sapiro. 55 �
»Außerdem hat der Portier jemanden fürchterlich lachen hören.« »Fängst du schon wieder an?« fuhr Choucas ihn an. »Ein Mann wie du kann es sich nicht erlauben, an solchen Blödsinn zu glauben!« »Woran glaube ich denn?« trumpfte der Korse auf. »Na, an Spuk natürlich.« »Es gibt übernatürliche Vorgänge«, behauptete Franco Sapiro, »und wer darüber grinst, ist in meinen Augen kein Held, sondern ein Dummkopf. Der Unsichtbare saß auf dem Fiat, als wir aus dem Sumpf zurückkamen. Er griff nach mir. Ich bin ihm entkommen. Aber Maurice hat er erwischt. Es war Previns Geist, da gibt es keinen Zweifel.« Genevienne war es, die jetzt gellend lachte. »Warum hat er dann nicht auch mich umgebracht? Ich hätte doch wohl die erste sein müssen, die er am Kragen packt. Auf mich hat er den größten Hass gehabt, bevor er starb.« »Genevienne hat recht«, sagte Choucas scharf, »du hörst am besten auf, uns über Spuk zu belehren, Franco. Ich hab's nicht gern, wenn einer dauernd aus der Reihe tanzt, verstanden?« Sapiro fixierte ihn. Choucas hielt dem Blick stand, ja, er schaffte es, ihn zu brechen. Der Korse schaute auf seine Fingerspitzen und meinte: »Bien, du hast gewonnen.« »Apropos Fiat«, nahm Valremy die Unterhaltung wieder auf, »was wird aus dem Schlitten, den wir in der Seitenstraße am Hotel zurückgelassen haben?« »Die Autovermietung holt ihn ab. Ich habe dem Portier die Anweisung gegeben, dort anzurufen«, erwiderte Teilhard Choucas. »Es ist besser, wenn wir nur mit einem Wagen durch die Gegend kutschieren. Erstens fällt das weniger auf. Zweitens sind wir jetzt zu viert und brauchen sowieso kein Zweitfahrzeug mehr.« 56 �
Die Leuchtkegel der Scheinwerfer fraßen sich tief in die Dunkelheit. Es herrschte kaum Autoverkehr. Hinter der Peripherie von Montpellier sahen sie zwei Lastzüge, dann, nachdem sie auf die Rue Nationale 572 abgebogen waren, waren sie völlig allein auf weiter Strecke. »Meine Frage ist eigentlich immer noch nicht richtig beantwortet worden«, meinte die schöne Frau nach einigem Schweigen hartnäckig. »Warum der rasche Aufbruch? Müssen wir alle Angst haben, daß uns jemand nach dem Leben trachtet?« Choucas stieß einen unwilligen Laut aus. »Etwas mehr Verstand hätte ich dir zugetraut, Genevienne. Denke nur mal an die Bullen. Die sind in ihr Hauptquartier zurückgekehrt und haben ein bißchen im Archiv gefilzt. Maurice war in Geheimdienstkreisen als OAS-Mann bekannt. Möglich, daß die Bullen das rausgekriegt haben. Wir hätten damit rechnen müssen, daß sie ins Hotel zurückkehren und einen Haufen unbequemer Fragen stellen würden.« »Aber…« Weiter kam Genevienne Rillot nicht. Der Simca brach plötzlich aus. Valremy versuchte krampfhaft, ihn in der Spur zu halten, mußte aber kapitulieren. Fluchend trat er auf die Bremse. Damit machte er es nur noch schlimmer. Der Wagen schleuderte immer heftiger über die Fahrbahn. »Die Kupplung treten, runterschalten und mit dem Motor bremsen«, brüllte Choucas, »mach schon, Armand, sonst überschlägt sich die Kiste noch!« Sie wurden hin- und hergeworfen. Valremy klammerte sich an dem zuckenden Lenkrad fest. Genevienne fand mit Mühe Halt an dem über dem Schlag angebrachten Plastikgriff. Im Fond kamen sich Sapiro und Choucas gegenseitig in die Quere. Valremy hielt sich an Choucas Ratschläge. Er legte den dritten Gang ein, ließ die Kupplung kommen der Motor heulte auf, aber 57 �
der Wagen wurde langsamer. Bei sechzig Stundenkilometern kriegte der Schnauzbärtige ihn wieder in die Gewalt. Er konnte wieder von der Bremse Gebrauch machen, ohne Gefahr zu laufen, erneut ins Schleudern zu geraten. Der Wagen kam am Straßenrand zum Stehen. Valremy stieß den Schlag auf, stieg aus und beugte sich gleich darauf wieder herein. »Habe ich's doch geahnt«, stieß er hervor, »der linke Vorderreifen ist platt.« »So ein Mist«, knurrte Sapiro. Der Schnauzbart schüttelte den Kopf. »Quatsch. Wenn der Ersatzreifen in Ordnung ist, habe ich das Rad in zehn Minuten ausgewechselt. Steigt aus.« Etwas später standen sie neben dem weißen Simca und betrachteten die Bescherung ausgiebig. Valremy hatte bereits den Kofferraum aufgeklappt und leuchtete mit der Taschenlampe nach dem Reserverad. »He«, sagte Genevienne plötzlich, »seht ihr die Lichter da vorn? Das ist bestimmt eine Kneipe. Ich hätte große Lust, einen Kognak zu kippen. Nach all den Aufregungen ist mir wirklich danach zumute.« Choucas kniff die Augen zusammen. »Eine Kneipe mitten in der Landschaft, die um diese Zeit noch geöffnet ist?« argwöhnte er. »Ich sehe die Lichter auch«, sagte Sapiro. »Meinetwegen«, brummte der Gangster mit dem breiten Gesicht, »Durst hätte ich auch. Hallo, Armand, kommst du allein zurecht?« Valremy kehrte zu ihnen zurück. »Klar. Der Reifen im Kofferraum ist hundertprozentig astrein. Ihr könnt loslaufen und einen Doppelten für mich mitbestellen. Ich komme gleich mit dem Schlitten nach.« Sie setzten sich in Bewegung. Valremy ging wieder an den 58 �
geöffneten Kofferraum und beugte sich hinein. Die Taschenlampe brannte. Sie lag gleich neben dem in der Ausbuchtung festgeschraubten Reifen. Valremy machte sich daran, die Schraube zu lösen. Plötzlich bekam er einen Schlag in den Nacken. Er stöhnte auf, riß beide Hände hoch und stemmte den Kofferraumdeckel wieder in die Höhe. Er richtete sich auf und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf und Hals. Verstehe nicht, wie der Deckel runterfallen konnte, dachte er. Eine Weile grübelte er darüber nach. Dann gab er einen Fluch von sich und schraubte den Reservereifen endgültig los. Er bewaffnete sich mit dem Wagenheber, einem Kreuzschlüssel und einem Schraubenzieher und umrundete den Simca. Valremy ging sehr routiniert ans Werk. Er zog die Handbremse an. Danach setzte er den Wagenheber an, kurbelte den Simca jedoch noch nicht hoch, sondern löste die Radkappe und lockerte die Schrauben des kaputten Rades. Erst dann hievte er das Auto nach oben. Er hatte es auf die richtige Höhe gebracht und wollte das Rad ganz lösen. Da rutschte der Wagenheber ab. Der Simca sackte urplötzlich nach unten. Valremy konnte sich nur durch einen geistesgegenwärtigen Sprung nach hinten retten In seinem Rücken ertönte ein schadenfrohes Kichern. Valremy spürte, wie ein Schauer über seine Haut lief. Er wirbelte herum hinter ihm befand sich niemand. Zur Vorsicht zog er die MAB-Automatik und leuchtete mit der Taschenlampe umher. Aber er konnte keinen Menschen ausmachen, Ärgerlich setzte er seine Tätigkeit fort. Es war ihm einfach unerklärlich, wie der Wagenheber hatte abgleiten können. Dennoch steckte er den Metallfuß verdrossen wieder in die Halterung. Er begann zu kurbeln. 59 �
Nach den ersten Drehungen hielt er inne. Täuschte er sich, oder war da wieder ein seltsamer Laut? Er wartete ab. Ja, das Geräusch näherte sich. Jetzt konnte er es genau definieren: Jemand atmete, hastig und rasselnd wie ein Asthmatiker. »Wer ist da?« stieß Valremy drohend hervor. Keine Antwort. Aber das Atmen blieb. »Ich warne dich! Ich schieße, wenn du dich jetzt nicht zeigst«, blaffte der Schnauzbart. Da kam wieder das maßlos höhnische Kichern. Valremy hob die Taschenlampe auf, die er so gelegt hatte, daß sie das Vorderrad beleuchtete. Jetzt richtete er den Lichtfinger auf die Stelle, an der sich nach seiner Meinung der unheimliche Kicherer befinden mußte. Nichts. Bin ich denn durchgedreht? fragte sich Valremy. Nein, das Atemgeräusch näherte sich unaufhaltsam. So schien es jedenfalls. Valremy leuchtete wieder kreuz und quer durch die Gegend, ohne eine Gestalt zu sichten. Aufs Geratewohl drückte er ab. Die Schalldämpferpistole ploppte zweimal dumpf, und ihr anschließendes Zischen verkündete, daß die todbringenden Bleiprojektile den Lauf verlassen hatten. Valremy drückte erneut ab. Erstaunt blickte er auf seine Hand hinab. Die MAB war zerkrümelt. Er hielt nur noch weißen Staub in den Fingern. Jetzt sprang er auf. Er blickte sich um von Choucas, Sapiro und Genevienne Rillot keine Spur. Wo waren die Lichter der Kneipe? Er kam nicht dazu, weitere Überlegungen anzustellen. Der Kicherer war neben ihm. Deutlich war der Atem zu vernehmen, der metallische Nachhall, mit dem jeder Zug endete. Und 60 �
Armand Valremy fühlte einen eisigen Hauch auf dem Gesicht. »Weg«, sagte er und hörte, wie seine Stimme bebte, »weg mit dir, habe ich gesagt!« Der Eishauch nahm zu. Valremy löste sich aus seiner momentanen Erstarrung, sah zu, daß er aus der Reichweite des Unsichtbaren kam. Aber er kam vorerst nur bis zur Motorhaube des Simca. Hier griffen Hände nach ihm, Hände, die er nicht sehen konnte. Krallen bohrten sich in seine Haut. Er fühlte feinen Schmerz. Valremy zuckte nach unten. Er machte den Rücken krumm und versuchte, die entsetzliche Erscheinung abzuschütteln. Für einen Augenblick kam er frei. Er rannte los. »Hilfe«, brüllte er, »Hilfe!« Den eisigen Hauch immer noch im Nacken, spurtete er um sein Leben. Er begriff jetzt, warum Maurice Bauduc so scheinbar unüberlegt auf die Straße vor dem Hotel gestürmt war. Zu seinem tiefen Schrecken bemerkte Valremy, daß er immer langsamer vorankam. Er stöhnte und schrie, hieb mit den Fäusten um sich. Der Eishauch nahm etwas ab. Aber dafür wurde es unter seinen Schuhsohlen heiß. Unerträglich heiß. Er schaute nach unten. Seine Schuhe blieben haften. Er hatte große Mühe, sie immer wieder loszureißen. Es gab schmatzende Laute, wenn er das linke oder rechte Bein hochzog. Der Asphalt war weich. Und das zu dieser Jahreszeit, im April 1975! Dazu noch mitten in der Nacht! »Ich werde verrückt«, jammerte Valremy, »ich halte das nicht mehr aus!« Das rasselnde Atmen setzte aus, dafür klang wieder Kichern auf. Und der Asphalt entwickelte sich zu einer rotglühenden Masse. Valremy steckte fest, konnte sich kaum mehr rühren. Mit 61 �
jeder Bewegung zog er Fladen schleimiger, klebender Masse hoch, die seine Füße und Hände mörderisch brennen ließ. Dann stürzte er auf die Knie. Sein Brüllen war kaum noch menschenähnlich. Jäh fühlte er sich gepackt, hochgehoben, fortgetragen. Er schlug um sich. Doch seine Arme wurden niedergedrückt. »Armand«, schrie ihn jemand an, »hör auf! Verdammt, ich bin's doch, Teilhard!« Er riß die Augen auf. Richtig, es war Choucas, der vor ihm stand und ihn ungläubig anstarrte. Gleich neben ihm war Sapiro mit ähnlichem Gesichtsausdruck. Genevienne hielt sich im Hintergrund auf. »Wie habt ihr's geschafft, über den Asphalt zu laufen?« keuchte der Schnauzbärtige. »Ganz einfach«, sagte Choucas, »wir haben einen Fuß vor den anderen gesetzt. Du hast ein scheußliches Geschrei veranstaltet. Möchte wissen, was in dich gefahren ist.« »Der Asphalt kocht.« »Sieh hin«, rief Choucas, »die Straße ist trocken wie meine Zunge. Ein Glück, daß Genevienne sich getäuscht hat und wir keine Kneipe gefunden haben. Es gibt keine. Wir sind zurückgekommen. Wer weiß, was du sonst noch alles aufgestellt hättest. Mann, du hast dich auf dem Boden gewälzt wie ein ein…« »Wie ein Wahnsinniger; sag's ruhig«, meinte Valremy. Er zog einen seiner Schuhe und die Socke aus. »Leuchte mal«, wandte er sich an Sapiro. Im Schein der Taschenlampe wurden die roten Male an seinen Fußsohlen sichtbar. »Da habt ihr's«, stieß er fast triumphierend aus, »ich hab's also nicht geträumt, daß der Asphalt heiß war.« Er berichtete, was vorgefallen war. »Jemand will uns langsam aber sicher weich kochen«, sagte Choucas. »Aber das wird er nicht schaffen. Los, wir wechseln 62 �
das Rad und fahren weiter. Irgendwann läuft uns dieser heimtückische Kerl über den Weg. Dann gibt es keine Gnade für ihn.« � * George Lombardo versuchte es noch einmal. Er drehte den Zündschlüssel. Der Anlasser leierte eifrig, aber der Motor sprang nicht wieder an. Seitdem er überraschend auf freier Strecke weggeblieben war, hatte er sich nicht wieder in Gang setzen lassen. Der Detektiv sah sich um. Weder vor noch hinter ihm an der Rue Nationale 572 schien es eine Behausung geschweige denn eine Tankstelle oder Werkstatt zu geben. Die Gangster in dem Simca hatte er seit einer Minute aus den Augen verloren. So lange saß er jetzt fest. Er stieß ein ellenlanges Schimpfwort aus. Das nützt auch nichts, dachte er, am besten warte ich eine Weile, vielleicht springt die Mühle dann wieder an. Nachdenklich griff er in die rechte Jackentasche. Er suchte Zigaretten, stieß aber nur auf den Kerzenstummel, den er neben dem Hotel in Montpellier aufgehoben hatte. Plötzlich verbrannte er sich daran die Finger. Er stieß einen erschrockenen Laut aus und riß die Hand hoch. Brandgeruch breitete sich aus. Entsetzt starrte Lombardo auf seine Jackentasche hinunter, aus der nun Flammen züngelten. Knisternd fraßen sie sich durch den trockenen Stoff, wollten das ganze Kleidungsstück erfassen. George riß die Wagentür auf und sprang ins Freie. So schnell hatte er sich noch nie eine Jacke vom Leib gerissen. Es gelang ihm, die Flammen zu ersticken. Im Schein einer Taschenlampe, die er aus dem Handschuhfach des Duetto geholt hatte, sah er sich die Jacke an. Die Tasche hatte ein faustgroßes Loch. Die Kerze war verschwunden. Nicht ein63 �
mal ein Wachsfleck war zurückgeblieben. Er setzte sich wieder in den Wagen. Zu seinem Erstaunen meldete sich der Motor nach einem neuen Startversuch mit sattem Brummen. Er trat ein paar Mal kräftig aufs Gaspedal. Lombardo fand die Zigaretten. Er zündete sich ein Stäbchen an und ließ die Maschine noch im Stand laufen, damit sie wieder warm wurde und ihn nicht noch einmal auf so rätselhafte Weise im Stich ließ. Um sich abzulenken, stellte er das Radio an. Unvermittelt tönte eine Stimme aus den Bordlautsprechern. Es war eine tiefe, raue Stimme, die ihm unwillkürlich eine Gänsehaut über Nacken und Arme trieb. »Sie sind gewarnt worden, George Lombardo«, verkündete die Stimme, »es war die einzige Warnung, die ich gegen Sie ausgesprochen habe. Noch können Sie umkehren und sich retten. Ich möchte nicht, daß Sie ein bitteres Schicksal ereilt. Lassen Sie Choucas, Valremy, Sapiro und die Frau ziehen. Sie gehören mir.« »Wer sind Sie?« stieß George aus. »Ein Toter, Lombardo.« »Hören Sie doch auf«, platzte er heraus. »Sie werden doch nicht verlangen, daß ich Ihnen diesen Blödsinn abnehme!« »Wollen Sie mich sehen?« »Herzlich gern.« Der Privatdetektiv zog den Franchi-LlamaRevolver aus dem Schulterhalfter und schaute sich prüfend nach allen Seiten um. Es kicherte in den Lautsprechern. »Lombardo, Sie können die Waffe wieder wegstecken. Damit trotzen Sie mir nicht. Schauen Sie mich an!« Auf der Windschutzscheibe zeichnete sich plötzlich eine bleiche Fratze ab. Ein weißer Bart, schwarze Augenhöhlen, wenige Zahnstummel in einem häßlichen Maul dies alles war nur sche64 �
menhaft wahrzunehmen, tanzte nur Sekunden vor Lombardos Augen, um dann wieder zu verschwinden. »Wer sind Sie?« fragte George schaudernd. »Previn?« »Ja, der Geist von Jacques Previn. Gehen Sie fort, Lombardo, lösen Sie andere Mordfälle! Ich wiederhole mich nicht. Von jetzt an haben Sie nur noch zwei Wege zur Auswahl: den der Rettung oder den des Verderbens.« »Hören Sie…« Das Kichern schwoll zu einem gellenden Gelächter an. Fast schien es, als müßten die Lautsprecher bersten. Lombardo drehte an dem Lautstärkeregler. Doch das Lachen blieb, bis er energisch den ersten Gang einlegte und losfuhr. Erst da riß das grauenhafte Geräusch ab. Der Privatdetektiv fuhr in Richtung Arles. Dort vermutete er die Gangster, von denen er nun wußte, daß sie Jacques Previn auf dem Gewissen hatten. Jetzt bin ich erst richtig scharf auf diesen Fall geworden, schoß es ihm durch den Kopf. Keine Sekunde räumte er sich die Möglichkeit ein, kehrtzumachen und nach Montpellier zurückzukehren. Er hasste nichts mehr als Rückzieher. * Es war viertel vor vier, und der weiße Simca befand sich kurz vor Arles. »An der nächsten Tankstelle müssen wir halten«, sagte Valremy, »wir fahren schon seit zwanzig Kilometern auf Reserve.« »Hätten wir nicht in Montpellier daran denken können?« meinte Genevienne gereizt. Choucas grinste als einziger. »Natürlich, aber wir haben es alle vier vergessen auch du, liebes Kind. Ich finde, wir sollten uns zusammenreißen und die Nerven behalten. Je ruhiger wir sind, 65 �
desto mehr Chancen haben wir, gegen den oder die Kerle zu bestehen, die uns offensichtlich auf den Fersen sind. Das einzige Handicap ist, daß wir bloß noch zwei Kanonen haben, weil Armand seine verloren hat.« »Da vorn ist eine Tankstelle«, versetzte der Schnauzbärtige plötzlich, »den Lichtern nach zu urteilen müßte sie offen sein.« »Hoffentlich kein Reinfall wie mit der Kneipe«, brummte Sapiro. »Ach, Unsinn«, sagte Valremy, »sieh doch, da steht einer im Häuschen.« Genevienne beugte sich vor. »Ich sehe den Mann auch. Und vor der Einfahrt der Tankstelle steht ein Schild mit der Aufschrift ›Geöffnet‹. Diesmal scheinen wir also nicht unter Halluzinationen zu leiden.« Der schnauzbärtige Gangster lenkte den weißen Simca mit Elan bis vor die Zapfsäulen. Er stellte den Motor ab. Mit dem Handballen drückte er auf den Hupring. Seine Finger taten noch etwas weh, wegen der leichten Verbrennungen, die er erlitten hatte. Das Hupen tönte über das Tankstellengelände. Das moderne, glasverkleidete Häuschen befand sich nicht gleich neben den Zapfsäulen, sondern etwas weiter entfernt, vielleicht zwanzig Meter Distanz lagen zwischen ihm und dem Auto der Gangster. »Hoffentlich beeilt sich der Knabe«, sagte Sapiro. »Er hat uns zugewinkt«, versetzte Genevienne, »aber jetzt sehe ich ihn nicht mehr.« »Komisch«, meinte der Korse. Teilhard Choucas hatte die MAB-Automatik schon in der Faust. »Es könnte eine Falle sein. Franco, nimm die Kanone raus und entsichere. Armand, du startest und fährst langsam an das Häuschen heran.« 66 �
»Gut.« Valremy bewegte den Zündschlüssel. Aber das Resultat war gleich Null. Es gab nur ein klickendes Geräusch. »Verdammt, so leer kann die Batterie unmöglich sein«, stieß Choucas hervor. »Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?« »Ich habe Angst«, gestand Genevienne. Sie kroch förmlich in sich zusammen und schlug den Kragen ihrer Pelzjacke hoch. In dem Hauschen erlosch plötzlich das Licht. Und im Inneren des Simca breitete sich Schweigen aus, unheilvolles Schweigen. Choucas blickte sich lauernd um. Draußen ließ sich nichts ausmachen, das Gefahr verkündete. Trotzdem blieb er auf der Hut. »Armand und Franco«, zischte er, »ihr pirscht bis zu dem verflixten Häuschen. Bleibt zusammen, weil ihr bloß eine Kanone habt. Ich passe hier auf Genevienne auf, klar?« Valremy und der Korse verließen den Wagen. Sie schlugen einen Bogen und rückten von der Seite an das Häuschen heran. Genevienne Rillot und Teilhard Choucas verfolgten gespannt vom Wagen aus, wie sie die Wand des kleinen Gebäudes erreichten und sich daran entlangschoben. Sapiro schlich voran, er hatte die Pistole. »Hörst du das?« Valremy stieß ihn an. Der Korse zuckte zusammen. »Was denn?« »Streng deine Lauscher an.« »Ja«, flüsterte Sapiro nun, »jetzt höre ich's. Verflucht, da stöhnt ja wer!« Das Stöhnen kam aus dem Häuschen. Es klang tief und unheimlich, wie eine Stimme direkt aus dem Grab. Hinzu kam, daß die Tür des Häuschens nicht richtig zugemacht war. Knarrend schwang sie in den Angeln. »Weiter«, drängte Valremy. »Armand, ich gehe da nicht rein«, Sapiro drehte sich zu ihm um. Der Schnauzbart kniff die Augen zusammen. »Franco, reiß 67 �
dich bloß zusammen. Los, sei kein Waschlappen! Ich habe vorhin beim Reifenwechsel auch Angst gekriegt, aber ich halte es mit Teilhard: Jemand will uns mit seinen höllischen Tricks irre machen. Ich spiele da nicht mit. Wir gehen rein und greifen uns den Kerl.« »Du kannst die Pistole haben und als erster marschieren«, krächzte der Korse. »Gib schon her«, Valremy streckte ärgerlich die Hand aus. Er nahm die MAB entgegen. Dann wandte er sich gebückt der Tür zu. Er zog sie vorsichtig auf, spähte ins Innere des Häuschens und winkte dem Korsen zu. Das Stöhnen war immer noch zu hören. Aber nirgends war ein Mensch zu sehen. »Siehst du die Tür?« raunte Valremy. »Gleich vor uns haben wir den Kassenraum, aber hinter der Tür muß ein Abstell- oder Vorratsraum liegen. Das Stöhnen kommt von dorther. Wir müssen mit einer List versuchen, den Kerl rauszulocken.« Sapiro starrte in das Gebäude. An den Wänden waren Regale befestigt, auf denen Autozubehör lagerte. Die Registrierkasse stand auf einem kleinen Metallschreibtisch. Groß war dieser Raum nicht, und das Zimmer hinter der Verbindungstür war höchstwahrscheinlich noch enger. »Eine List? Wie meinst du das?« flüsterte Sapiro. Das Stöhnen wurde lauter. Valremy fluchte leise. »Ich stelle mich neben die Tür, Franco. Du nimmst irgend etwas von den Regalen und wirfst es gegen die Tür. Dann wird der Stöhner schon rausgesprungen kommen, oder?« »Ich bin da nicht sicher.« »Versuchen wir's wenigstens.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, drang Valremy in den Kassenraum vor. Es kostete ihn einige Nerven, sich neben der Füllung der Verbindungstür auf68 �
zurichten, denn das Stöhnen war so schrecklich, daß es jedem Mann die Furcht in die Glieder treiben mußte. Valremy nahm die Schalldämpferpistole hoch, bereit, auf das abzudrücken, was jeden Augenblick aus dem Nebenzimmer in den Kassenraum laufen mußte. Er gab Sapiro einen Wink. Der Korse nahm einen Nebenscheinwerfer vom Regal hinter sich. Er biss sich auf die Unterlippe, als er feststellte, daß der chromblitzende Gegenstand in seiner Hand zitterte. Mit verzerrtem Gesicht holte er aus und schleuderte den Scheinwerfer gegen die Tür. Treffen konnte er: der Scheinwerfer prallte mit dumpfem Laut genau in die Mitte der Tür. Dann fiel er zu Boden. Das Stöhnen ging in Lachen über, danach in eine Art Grölen. Valremy hielt es nicht mehr aus. Er mußte jetzt vorspringen, die Schalldämpferpistole in Anschlag bringen und mehrmals auf die Tür abdrücken. Das charakteristische Ploppen ertönte. Die Projektile steppten Löcher in das Holz. Dennoch brachen die schaurigen Laute nicht ab. »Fort«, rief Sapiro, »lass uns fortrennen, Armand!« »Nein!« Valremy trat mit dem Fuß gegen das Türholz. Plötzlich wurde er zurückgeschleudert, stolperte und fiel zu Boden. Er stieß einen wütenden Laut aus. Die Tür begann mit einemmal grünlich zu schillern. Und dahinter tönte die Grabesstimme in immer neuen Varianten, sie brüllte und kicherte, röhrte und greinte. Valremy rappelte sich auf, schoß von neuem. Damit erreichte er nichts. Sapiro sprang von hinten auf ihn zu und wollte ihn zurückreißen. Doch der schnauzbärtige Gangster war wie von Sinnen. Er schlug mit den Fäusten gegen die schillernde Tür. Schreiend zog er die Hände zurück. Er hatte sich mörderisch verbrannt. Er fiel wieder hin. Dann löste sich die grünschillernde Masse auf und floss auf ihn 69 �
zu. Sapiros Nerven machten in diesem Augenblick nicht mehr mit. Er verkroch sich fluchend hinter dem Schreibtisch. Plötzlich riß das grauenvolle Brüllen ab. Aber damit brach das Inferno für die beiden Gangster erst los. Mit Donnern und Krachen stürzte das Häuschen über ihnen zusammen. Franco Sapiro kroch hilferufend unter die Schreibtischplatte. Er lag auf den Knien, machte den Rücken krumm und legte die Hände über den Hinterkopf. Um keinen Preis der Welt wäre er jetzt noch zu seinem Komplicen zurückgekehrt. Die Regale kippten um. Mauerwerk barst, Dachstreben knickten wie Streichhölzer ein, Glas zersplitterte klirrend zuerst spuckten die Regale ihren Inhalt auf den Boden aus, dann hagelte es Putz, Steine, Holz und Glas. Mittendrin lag Armand Valremy. Er hatte sich geistesgegenwärtig auf den Bauch gerollt und machte es wie Sapiro: er deckte den Kopf schützend mit den Händen ab. »Franco, hilf mir!« waren seine letzten Worte. Der Korse dachte nicht daran, seine Deckung zu verlassen. Er wollte leben. Deshalb blieb er, wo er war und hielt sich die Ohren zu, als Valremy wieder zu schreien begann. Die Laute verklangen. Sapiro sah nicht auf. Er wußte nicht, daß Valremy von einem großen Stück Mauerwerk in den Rücken getroffen worden war. Aber er ahnte, daß es mit dem Schnauzbärtigen aus war. Erst als er die Rufe vernahm, wagte Sapiro es, einen Blick in die nähere Umgebung zu riskieren. Staub hüllte ihn ein. Er konnte nicht erkennen, was um ihn herum vorging. Er hustete. »Franco! Armand!« schrie jemand. Es war Teilhard Choucas. »Hier, ich bin hier«, krächzte der Korse. Er raffte sich auf, kroch unter dem Schreibtisch hervor und 70 �
schaffte Hindernisse zur Seite. Er sah, daß es noch schlimmer war, als er gedacht hatte. Das Tankwarthäuschen war ein einziger Trümmerhaufen. Nicht einmal die Reste einer Wand waren erhalten geblieben. Choucas kam über die Ruine geturnt. Er reichte dem Korsen die Hand. Sapiro griff zu und ließ sich aus den Trümmern ziehen. »Verdammt, wie konnte das passieren?« sagte Choucas. »Frag mich nicht, Mann ich habe keine Ahnung.« »Armand?« »Ich, ich glaube, da ist nichts mehr zu machen.« »Wir müssen trotzdem nach ihm suchen. Los, hilf mir!« Der Gangster mit dem breiten Gesicht machte sich daran, Mauerstücke, Latten und Glasscherben beiseite zu schaffen. Beflissen unterstützte der Korse ihn. »Weißt du, Teilhard, ich konnte nichts mehr für ihn tun«, versicherte er, »ich war unter dem Schreibtisch eingeklemmt, konnte mich nicht bewegen. Das war meine Lebensrettung.« Er blickte zu Genevienne Rillot hinüber, die etwas abseits stand und ungläubig den Kopf schüttelte. Choucas stülpte die Unterlippe vor. »Versuche jetzt mal, dich zu beruhigen, mein Junge, und erzähle hübsch langsam, wie das im einzelnen vor sich gegangen ist.« Sapiro sagte es ihm. Er gab sich wirklich Mühe, beherrscht zu erscheinen. »Und das soll ich glauben?« Choucas lachte hart und räumte einen dicken Brocken weg. Als er mit den Fingern auf Glas stieß, zog er sie fluchend zurück. Er hatte sich geschnitten. »Meinetwegen, aber die Sache mit der grün schillernden Tür kaufe ich dir nicht ab. Auf jeden Fall ist unser Gegner ein mit allen Wassern gewaschener Hundesohn. Möchte wissen, wie er es geschafft hat, sich ungesehen wegzuschleichen.« »Teilhard, begreifst du denn immer noch nicht?« 71 �
»Doch«, zischte Choucas, »die Gegenseite will uns ausrotten. Wir müssen es schaffen, bis nach Marseille durchzukommen, dann sind wir in Sicherheit. Oder wolltest du auf was anderes hinaus?« »Nein«, erwiderte Sapiro. Choucas stieß einen gedämpften Ruf aus. Er stemmte ein Trümmerstück hoch, es war eines der Regale, und gleich darunter lag Armand Valremy. Choucas befreite ihn von Mauerresten und Glasscherben. Dann zeigte er Sapiro die Hand. Sie war voller Blut. »Du hast recht«, meinte er, nachdem er den Puls des Schnauzbartes gefühlt hatte, »wir können nichts mehr für ihn tun. Decken wir ihn wieder zu. Es ist das beste, wenn wir verschwinden, bevor hier Neugierige oder sogar die Bullen auftauchen.« Etwas später kletterten sie zu Genevienne hinüber. »Da waren's nur noch drei«, grinste Choucas bitter. »Ich finde das überhaupt nicht witzig«, versetzte die schöne Frau scharf. »Ich auch nicht«, stimmte Sapiro ihr zu. »Galgenhumor ist die beste Medizin gegen Mitleid oder Trauer. Armand ist für unsere Sache krepiert. Es liegt jetzt an uns, ob wir eiskalt genug sind, um trotzdem lebend ans Ziel zu kommen«, meinte der Gangster mit dem breiten Gesicht. »Je mehr wir uns beeilen, desto besser. Los, nichts wie zum Wagen.« Er ging vor, Genevienne und der Korse schlossen sich schweigend an. Erst kurz vor dem Simca 1501 machten sie wieder halt wider Willen. Eine Feuerlohe stieg plötzlich aus dem Motorraum des weißen Autos auf. Flammen züngelten über den vorderen Deckel und leckten an der Windschutzscheibe hoch. »Hinwerfen«, schrie Choucas. Sie warfen sich flach auf den Boden. 72 �
Genevienne Rillot war es in diesem Augenblick wirklich egal, ob ihre schicke Pelzjacke schmutzig wurde oder nicht. Ein glühender Hauch schoß über sie hinweg. Sie lagen schätzungsweise drei Meter von dem Simca entfernt. Genevienne schluchzte auf, denn sie glaubte, die Flammen würden sie erreichen. Sie hatte sich jedoch getäuscht. Alle drei blieben unversehrt. Choucas winkte ihnen zu. »Weiter! Wir müssen weg, so weit wie möglich. Hier kann jeden Augenblick alles in die Luft fliegen!« Sie sprangen auf und rannten quer über das Grundstück auf den Wellblechverschlag zu, der sich in der Nähe der Auffahrt befand. Choucas kam dort als erster an. Er gestikulierte plötzlich aufgeregt. »Ein Wagen«, keuchte er, »seht euch das an.« Ohne Zeit zu verlieren setzten sie sich in das Fahrzeug, das in der einfachen Garage untergebracht war. Es handelte sich um einen hellblauen Peugeot 504. Choucas hatte den Fahrerplatz eingenommen. Rasch schaltete er die Innenbeleuchtung an und löste den Deckel des kleinen Sicherungskastens, der sich bei diesem Modell nicht unter der Motorhaube, sondern unterm Armaturenbrett befand. Im Handschuhfach entdeckte er einen Schraubenzieher. Den benutzte er als Brücke, um den Kurzschluss herzustellen, mit dem man den Wagen auch ohne Zündschlüssel starten konnte. Es klappte. Der Motor kam auf Anhieb. »Das nennt man Glück«, sagte Sapiro freudestrahlend, »du bist unschlagbar, Teilhard.« »Sag das nicht zu früh. Falls wir nicht rechtzeitig hier rauskommen, erreichen die Flammen das Benzin in den Tanks unter den Zapfsäulen. Dann gehen wir auch noch mit hoch.« »Meine Güte«, schluckte Genevienne. 73 �
Im Rückwärtsgang rollte der Peugeot 504 aus der Wellblechgarage. Choucas legte den ersten Gang ein, daß es im Ge triebe krachte. Dann gab er Gas. Mit heulender Maschine jagte der Wagen auf die Straße. Keiner wagte ein Wort zu sagen. Genevienne und der Korse hatten die Köpfe gedreht. Sie blickten starr auf den brennenden Simca. Choucas beobachtete alles im Rückspiegel .Erst als sie mehr als hundert Meter von der Unglücksstelle entfernt waren, sagte er: »Wir haben es geschafft.« * George Lombardo sah die Tankstelle im Scheinwerferlicht seines Alfa Romeo Duetto. Er erblickte auch die gebückt stehende Gestalt neben den Zapfsäulen. Sofort trat er auf die Bremse und schlug das Lenkrad ein. Er ließ den metallicgrauen Wagen direkt vor dem Mann halten. Jetzt bemerkte er das verkohlte Wagenwrack, machte auch die Trümmer eines Gebäudes im Hintergrund aus. Er runzelte die Stirn und stieg aus, »Was ist hier vorgefallen?« erkundigte er sich besorgt. Der Mann sah ihn entgeistert an. Er trug einen blauen Overall. »Das fragen Sie mich? Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß es ein Wunder ist ein Wunder, daß das Feuer verlöscht ist, ohne die unterirdischen Benzintanks angegriffen zu haben.« »Sind Sie der Tankwart?« »Ja.« »Wo waren Sie, als das geschah?« »Das ist es ja eben«, erwiderte er lahm, »ich habe vor einer Viertelstunde das Häuschen verlassen. Warum? Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls fand ich mich draußen in der Einöde wieder, 74 �
und ich brauchte einige Zeit, um zurückzukehren.« Lombardo trat auf ihn zu und blickte ihn an. »Tun Sie das öfter – ich meine, unternehmen Sie sonst auch Fußmärsche mitten in der Nacht und lassen Ihre Arbeit im Stich?« »Wer sind Sie eigentlich?« der Mann schob den Unterkiefer vor. Er hatte ein derbes Bauerngesicht. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen Rede und Antwort stehe. Es gibt so schon genug Verdruss. Wie soll ich das hier der Gesellschaft erklären, die mir die Tankstelle verpachtet hat?« »Ich bin Privatdetektiv«, erklärte Lombardo und zeigte ihm seine Lizenz. Der Mann im Overall schnäuzte sich umständlich die Nase. »Wenn Sie die Schweinehunde finden, die das Feuer gelegt und das Häuschen kaputtgemacht haben, zahle ich Ihnen eine Belohnung. Bitte rufen Sie die Polizei! Ich bleibe hier und warte.« »Eins nach dem andern«, entgegnete der Mann mit dem Kraushaar. »Ich möchte noch mal hören, wie das war, als Sie die Tankstelle verließen. Berichten Sie ausführlich.« Sein Gegenüber zuckte die Achseln. »Da gibt es nicht viel hinzuzufügen. Es war, als riefe mich jemand. Ja, Sie brauchen mich nicht so verdattert anzusehen. Ich folgte einer Stimme. Aber als ich einen guten halben Kilometer querfeldein marschiert war, bemerkte ich, daß ich mir alles bloß eingebildet hatte. Ich kehrte zurück. Ich konnte gerade noch das Feuer im Wagen ausglühen sehen. Ich habe keinen Menschen bemerkt. Aber mein Auto ist gestohlen worden.« Lombardo schaute nachdenklich auf das Autowrack. »Das war ein Simca, nicht?« »Ja.« Previn, durchzuckte es den Detektiv, der Geist von Jacques Previn. Es ist etwas Wahres an der Behauptung, es gäbe Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten. 75 �
Laut meinte er: »Es wird schwierig sein, die Vorgänge während Ihrer Abwesenheit zu rekonstruieren. Vor allen Dingen will mir nicht in den Kopf, wie der oder die Verantwortlichen so dumm sein konnten, den Wagen ausgerechnet hier vor den Zapfsäulen in Brand zu setzen. Sie mußten doch damit rechnen, daß er ihnen um die Ohren fliegt.« »Ich finde das auch alles reichlich geheimnisvoll«, pflichtete der Tankwart ihm bei. »Überhaupt, warum haben sie's getan?« Lombardo hatte einen Blick in den verkohlten Simca geworfen und war überzeugt, daß sich keine Leiche darin befand. Er winkte dem Mann im Overall zu. Gemeinsam gingen sie zu den Trümmern des Häuschens hinüber. »Helfen Sie mir«, sagte George. Er folgte einer spontanen Eingebung, als er Mauerreste, Scherben und Holzlattenteile wegzuräumen begann. Dank ihres Eifers benötigten sie nicht mehr als zehn Minuten, um die Leiche zu finden. »Valremy«, sagte Lombardo. »Sie kennen den Mann?« staunte der Tankwart. »Nicht direkt. Aber ich bin hinter ihm und seinen Komplicen her. Es würde zu lange dauern, Ihnen alle Einzelheiten auseinanderzusetzen.« Der Detektiv holte tief Luft. »Eines kann ich Ihnen nur sagen, Mann: Es war Ihr Glück, daß Sie nicht hier waren, als die Gangster auftauchten. Sie haben wenigstens Ihre Gesundheit bewahrt.« »So ist das.« »Nennen Sie mir das Kennzeichen Ihres Wagens, beschreiben Sie mir den Typ!« »Es ist ein hellblauer Peugeot 504«, gab der Mann im Overall zurück. Er wußte die Nummer auswendig. »Gut.« Lombardo wandte sich von der Leiche Armand Valremys ab, kehrte zu dem Tankwart zurück und legte ihm eine 76 �
Hand auf den Arm. »Hören Sie mir zu. Ich fahre jetzt nach Arles und schlage bei der Polizei Alarm. Sie sollen mit einem Leichenwagen anrücken und auch die Feuerwehr verständigen. Vielleicht kriegen Sie Ihren Wagen wieder.« »Danke!« »Danken Sie mir erst, wenn ich die Kerle geschnappt habe und sie auf Nummer Sicher sitzen«, grinste der Mann mit dem Kraushaar. Er lief zu seinem Wagen. Sekunden später jagte er auf die Rue Nationale 572. Bis auf 150 Stundenkilometer kletterte die Tachonadel bei dieser rasanten Fahrt. Unterwegs begegnete er nur zwei anderen Fahrzeugen. Er konnte fast jede Kurve schneiden und dadurch Zeit herausschinden. In Arles stoppte er vor der ersten Telefonzelle, die er entdeckte. Er schaute auf die Armbanduhr. 4.20 Uhr. Schnell stieß er die Klapptür der Zelle auf, trat ein und steckte Münzen in den Schlitz des Apparates. Die Nummer des Notdienstes stand auf der Wählscheibe: 110. Unter 110 meldete sich eine ruhige, sonore Männerstimme. »Gendarmerie Nationale, Division Arles. Bitte sprechen Sie.« »Mein Name ist George Lombardo«, begann er. Dann teilte er in knappen Sätzen mit, was sich an der Tankstelle ereignet hatte. Er konnte sogar den Kilometerstein nennen, in dessen Nähe der Unglücksort lag. »Gut, ich veranlasse sofort das Nötige und schicke zwei Streifenwagen, einen Leichenwagen und die Feuerwehr«, antwortete der Mann aus der Polizeizentrale. »Wo können wir Sie finden, Monsieur Lombardo?« »Nirgends. Ich fahre den Gangstern nach.« »Aber…« »Sie haben die Namen. Geben Sie die Beschreibung der beiden Männer, der Frau und des Peugeot 504 an alle Streifen weiter. 77 �
Mit mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht dienen.« Er hängte ein. Wenig später raste er über die Innere Entlastungsstraße von Arles in Richtung Staatsstraße 113. Er folgte nur seinem Instinkt. Wissen konnte er nicht, wo Choucas, Sapiro und die Rillot jetzt steckten. Nur mit viel Glück konnte es ihm gelingen, ihre Spur wieder aufzunehmen. * Choucas hatte hinter Arles die Staatsstraße 113 verlassen und den Peugeot 504 auf die etwas schmalere 568 gelenkt. »Wir fahren nach Port de Bouc«, rief er, »es ist am besten, wenn wir uns dort eine Jacht besorgen und den Wagen irgendwo verschwinden lassen, bevor die Bullen uns fassen.« »Du meinst, sie sind schon hinter uns her?« erkundigte sich Genevienne gepresst. »Möglich ist alles. Vielleicht taucht der Eigentümer des Wagens an der Tankstelle auf und meldet den Schlitten als vermisst. Ich schätze, es handelt sich um den Tankwart.« »Möchte wissen, wo der gesteckt hat«, sagte Sapiro. »Das ist doch völlig unwichtig, Franco«, schnauzte Choucas ihn an. »Hauptsache, wir verwischen jede Spur und kriegen eine Jacht. Auf dem Wasserweg folgt uns so leicht keiner. Es ist jetzt halb fünf. Um halb sieben können wir in Marseille sein.« »Hoffentlich läuft alles so ab, wie du dir das vorstellst«, murmelte Genevienne. »Ich bin skeptisch.« »Warum?« »Das fragst du, Teilhard? Innerhalb weniger Stunden haben zwei von uns daran glauben müssen. Und der Feind hält sich im Dunkeln, wir wissen nicht einmal, mit wem wir es zu tun haben. Ich habe Angst.« Der Gangster mit dem breiten Gesicht blickte stur geradeaus. 78 �
»Dazu besteht kein Anlass«. Wenn wir erst in Marseille sind, haben wir genügend Unterstützung, um uns erfolgreich zu wehren.« »Wenn wir erst dort sind«, unkte der Korse. »Verlasst euch auf mich«, stieß Choucas hervor, aber ihm war jetzt anzumerken, daß er selbst nicht so recht an seine eigenen Worte glaubte. Plötzlich war das Kichern da. »Teilhard, hör doch«, Geneviennes Fingerspitzen gruben sich in seinen Unterarm. Choucas riß die MAB-Automatik hervor und fuchtelte damit herum. »Verdammt, woher kommt das? Franco!« »Ich sehe nichts, verflucht!« Das Kichern wurde lauter, aber Choucas hatte keine Gelegenheit mehr, sich über den Ursprung des unheimlichen Geräusches den Kopf zu zerbrechen. Unvermittelt geriet der Peugeot ins Schleudern. Vor Schreck drückte der Gangster ab. Das Projektil verließ mit leisem Laut den Lauf der MAB, raste an Geneviennes Nase vorüber und klatschte in das rechte Seitenfenster. Die schöne Frau schrie auf. Choucas stieß eine ellenlange Verwünschung aus, warf Sapiro die Waffe zu und packte das Lenkrad mit beiden Händen. Doch er konnte es bewegen, so viel er wollte: Die Steuerung gehorchte seinen Manövern nicht mehr. Er rüttelte an dem Lenkrad. Plötzlich lag es lose in seinen Händen, losgelöst von der Halterung. Choucas brüllte vor Wut und Entsetzen los. Der Peugeot tanzte nun immer wilder über die einsame Fahrbahn. Choucas trat auf die Bremse. Aber auch das nützte nichts. »Es ist wie verhext«, schrie er. »Wir sitzen in einem Sarg«, keuchte Sapiro, »laßt uns raus 79 �
springen!« Genevienne zerrte an dem Türöffner. Ohne Erfolg. Der Innenraum des Wagens war zugeriegelt, sie konnten nichts dagegen tun. Auch Choucas und der Korse wollten ihre Schläge aufstoßen, mußten aber ebenfalls aufgeben. Das Auto jagte mit quietschenden Pneus kreuz und quer über die Fahrbahn, der Motor dröhnte. Lauter aber drang das scheußliche Lachen an ihre Ohren, das Hohngelächter des Unsichtbaren. Heulend hieb Sapiro mit dem Waffenkolben auf die hintere Scheibe ein. Erst nach mehreren heftigen Schlägen bildete sich das erste Loch. Das Sicherheitsglas zerkrümelte. Dann wurde Sapiro quer durch den Wagen geworfen. Er stieß mit Choucas zusammen, der in seinem Schrecken nach ihm schlug. Genevienne kreischte in Todesangst. Der Peugeot hatte sich überschlagen. Er wirbelte durch die Luft und vollführte zwei volle Drehungen um die Längsachse. Dann kam er mit dem Dach nach unten auf aber die Gangster warteten vergebens auf den tödlichen Stoß, der sie jetzt treffen mußte. Choucas keuchte. Behutsam tastete er nach seinem Kopf. Der Schädel schmerzte, aber nirgends konnte er Blut fühlen. »Ich lebe«, sagte er, »Mensch, Franco Franco!« »Schon in Ordnung, ich bin auch noch heil«, gab der Korse zurück. »Genevienne?« »Was ist passiert?« erkundigte sich die schöne Frau zaghaft. »Hier ist überall Glas. Ich liege auf Scherben. Es stinkt nach Benzin und Öl.« Unvermittelt schluchzte sie los. »Die Dachstreben haben gehalten«, überlegte Choucas laut, »ich schätze, wir sind im Straßengraben gelandet. Wir haben ein Mordsschwein gehabt, Freunde. Gut auch, daß du die Scheibe hinten kaputt geklopft hast, Franco. Los, kriechen wir raus!« Etwas später standen sie neben dem Wagen und sahen sich die 80 �
Bescherung an. Die Vorderräder drehten sich noch. Der Motor hatte nicht Feuer gefangen. »Hat keiner von euch Verletzungen?« wollte Choucas noch einmal wissen. »Nichts, wenn man von ein paar Kratzern absieht«, versetzte Genevienne. Sie zupfte an ihrer Kleidung herum. Auch Sapiro schüttelte den Kopf. Er schaute den Gangster mit dem breiten Gesicht ernst an. »Teilhard, glaubst du mir jetzt? Du hast das Kichern gehört. Keiner weiß, woher es kam. Und dann die Sache mit dem Lenkrad und der Bremse…« »Ich will's nicht wahrhaben«, Choucas kaute auf der Unterlippe herum. »Du mußt, Teilhard.« Choucas hob den Kopf. »Also weiter. Wir gehen in der Richtung«, er streckte den Arm aus, »und marschieren immer geradeaus. Ich kenne mich in dieser Gegend aus. Wir schneiden ein ordentliches Stück ab, denn die Straße beschreibt an dieser Stelle einen lang gezogenen Bogen.« »Wir müssen zu Fuß weiter?« sagte Genevienne. »Wie denn sonst?« »Ich habe solche Angst.« Choucas grinste. »Früher warst du nicht so empfindlich, Mädchen. Halte dir mal vor Augen, welche Möglichkeiten wir sonst noch haben – keine. Taxis verkehren hier nun mal nicht.« Er trat abrupt zur Seite und hielt Ausschau. »He, wenn mich nicht alles täuscht, kommt da was. Vielleicht haben wir doch noch Glück. Franco, gib mir die Kanone!« Er versteckte die MAB-Automatik unter der Jacke. Dann ging er zur Straße. Er kletterte die Böschung hinauf. Sapiro und die schöne Frau blieben zurück. Es war nur ein Scheinwerfer, der sich aus Richtung Port de Bouc näherte. Rasch wurde er größer. 81 �
Ein Motorrad, schoß es dem Gangster durch den Kopf. Er fühlte seine alte Ruhe zurückkehren. Mit einem Motorrad waren für sie alle Probleme gelöst. Wenig später hielt die Maschine vor ihm. Choucas erkannte, daß es eine italienische Marke war, eine Benelli. Auf dem Sitz hockte ein Uniformierter, und auf dem Schild über dem Hinterrad war es deutlich zu lesen: Gendarmes Mobiles. Verdammt, dachte er. »Sind Sie der Fahrer des Wagens dort im Graben?« fragte der Polizist. »Ist jemand verletzt?« »Es ist mein Auto«, entgegnete Choucas. »Wir sind wie durch ein Wunder alle heil geblieben.« »Na um so besser«, lächelte der Polizist, »lieber ein schrottreifes Auto als ein paar kaputte Knochen.« Er hielt den Motorradlenker so, daß das Scheinwerferlicht auf das Kennzeichen des Peugeot fiel. Mühselig las er die umgedrehten Ziffern. Dann holte er eine Liste aus seiner Brusttasche. »Moment mal«, meinte er, und seine Mundwinkel sackten herunter, »der Wagen ist…« »Geklaut«, grinste Choucas ihn an. Er ließ ihn in die Mündung der Schalldämpferpistole schauen. »So, und jetzt steig hübsch artig ab, mein Freund, damit wir uns deinen Benzinesel auch noch unter den Nagel reißen können.« »Sie sind verrückt«, sagte der Polizist. »Eben. Deshalb würde ich an deiner Stelle ganz fix absteigen. Ich kann für nichts garantieren. Vielleicht kriege ich gleich ein nervöses Zucken im Zeigefinger.« Der Beamte der Gendarmes Mobiles ließ sich auf die Seite fallen, und zwar auf die dem Gangster abgewandte. Er wollte Deckung hinter seiner Maschine suchen und die Dienstwaffe zücken. Choucas war schneller. Er sprang vor, legte an und schoß. Die Kugel erwischte den Uniformierten in der Brust. Er gab nur noch 82 �
einen gurgelnden Laut von sich. Dann lag er auf dem Rücken, zuckte noch ein paar Mal mit den Armen und den Beinen und wurde schließlich schlaff. Sapiro kam herüber. »Hilf mir, den Knaben in den Graben zu schaffen«, zischte Choucas, »wir legen ihn in den Peugeot. Wer ihn findet, soll sich die Zähne an dem Fall ausbeißen.« »Verflixt noch mal«, sagte der Korse. »Es mußte sein. Auch wenn wir bald sämtliche Bullen hinter uns haben.« Choucas schaute auf. »Ach was, Franco, es kriegt keiner raus, daß wir ihn umgelegt haben. So schnell, wie wir nach Marseille verschwinden, schnüffelt uns keiner mehr nach.« Sie brachten die Leiche in das Autowrack. Kurz darauf holte der Gangster dem breiten Gesicht die Benelli-Maschine. Er hielt am Straßenrand. Mit einer Handbewegung bedeutete er den anderen, sie sollten aufsitzen. Choucas rutschte weit nach vorn, so daß Genevienne und der Korse auf dem Sozius genügend Platz fanden. Eigentlich war das Motorrad für zwei Personen gebaut. Aber es trug die dreifache Last spielend. Das einzige Manko war, daß sie nicht gerade gemütlich saßen. Choucas bog sofort auf einen Feldweg ab. »Wir dürfen es nicht riskieren, gesehen zu werden«, brüllte er seinen Komplicen zu, »außerdem kürzen wir auf diese Weise ab. Wie spät ist es, Franco?« »Viertel vor fünf.« »Dann schaffen wir es!« Genevienne und Sapiro fragten nicht danach, was der Mann mit dem breiten Gesicht zu schaffen gedachte. Sie ließen ihn gewähren. Zehn Minuten holpriger Fahrt verstrichen, dann kamen Lichter in Sicht. Sie hatten ein Dorf vor sich. Choucas fuhr ziemlich dicht 83 �
bis an die ersten Häuser heran, bremste dann jedoch und stellte den Motor ab. »Absitzen«, sagte er, »wir legen den Rest zu Fuß zurück.« Sie kamen der Aufforderung nach und verfolgten, wie er die Polizeimaschine in einem Gebüsch versteckte. Choucas blickte auf die Uhr, grinste und wies auf das Dorf. »Um fünf fährt der Bus ab, der die Arbeiter zur Frühschicht in die Fischfabrik von Port de Bouc bringt. Ich halte es für gut, wenn wir dort einsteigen. Auf den Feldwegen kommen wir nicht mehr weiter, und auf der Straße ist das Motorrad zu auffällig.« »Wieviel Kilometer sind's noch bis Port de Bouc?« wollte Sapiro wissen. »Zwölf oder dreizehn.« »Ich finde die Idee gut«, meinte der Korse überzeugt, »durch den Bus verwischen wir unsere Fährte vollends. Gehen wir.« Sie steuerten auf die Lichter zu. Das Dorf war nicht sehr groß, lag aber direkt an der Rue Nationale 568. Es war ein ungeheurer Vorteil, daß Choucas in dieser Gegend aufgewachsen war, denn wie hätten sie sonst wissen können, daß es hier einen so günstigen Busanschluß gab? Genevienne blickte sich jetzt häufiger um. Täuschte sie sich, oder war ein Geräusch hinter ihr? Ja ein heftiger Atemzug war zu vernehmen. Er stammte jedoch weder von Choucas noch von dem Korsen. Die schöne Frau erschauerte. »Genevienne«, flüsterte es neben ihr. Sie hielt sich an Teilhard Choucas' Arm fest. »Hörst du das nicht?« »Was meinst du?« »Ich habe auch nichts mitbekommen«, sagte Franco Sapiro laut. Sie nickte, preßte die Lippen aufeinander und ließ den Gangster mit dem breiten Gesicht wieder los. Kurz vor den ersten Häusern kehrten die unheimlichen Laute aber wieder. Atmen, 84 �
heftig rasselndes Atmen. Neben ihr. Und wieder die Stimme, die aus dem Grab zu kommen schien. »Genevienne!« Gleich darauf spürte sie eisigen Hauch im Nacken, fühlte etwas Kaltes und Glitschiges, das sich auf ihre Haut legte. Sie schrie auf. Choucas stützte sie und führte sie bis zu den ersten Häusern. »Ist dir nicht gut?« fragte er. »Was ist los? Du bist bleich wie eine Kalkwand.« »Es geht schon wieder«, gab sie zurück. »Beeilen wir uns, sonst verpassen wir den Bus.« Choucas wußte genau, wo die Haltestelle lag. Sie befand sich direkt an der Hauptstraße, gegenüber der Elementarschule. Hier mischten sie sich unter eine aus zehn oder zwölf mürrischen Arbeitern bestehende Gruppe. Der kastenförmige lärmende Bus fuhr vor. Sie steigen ein. Choucas zahlte. Niemand beachtete sie. Niemand schien richtig wach zu sein, nicht einmal der Fahrer mit dem unbeteiligten Gesichtsausdruck. Genevienne bekam einen Fensterplatz. Links neben ihr hockte Teilhard Choucas. Sapiro saß unmittelbar vor ihnen. Choucas legte seine rechte Hand auf ihre Knie. Genevienne lächelte ihm zu. Sie hatte nicht daran gezweifelt, daß der Mann versuchen würde, ihr näher zu kommen. Er wollte in allem Bauducs Stellung einnehmen. Und Genevienne hatte nichts dagegen. Sie vermochte sich auf jeden Situationswechsel einzustellen, ohne Nachteile zu haben. Für sie zählte der Stärkere, und das war im Moment noch Choucas. Sie erstarrte. Da war es wieder. Dicht neben ihr. Sie hörte es im rechten Ohr flüstern: »Genevienne!« Der eisige Hauch streifte ihren Nacken, glitt um sie herum, war nun auf ihrer Brust. Sie fühlte sich wie gelähmt, vermochte kein 85 �
Wort herauszubringen. Wie gern hatte sie jetzt geschrien! Unsichtbare Hände legten sich an ihre Wangen, drehten ihren Kopf herum. Panik stieg in ihr auf. Sie fühlte die grässlichen Krallen, die der Unsichtbare besaß. Sie wollte es nicht, aber sie mußte in das Seitenfenster blicken. Da sah sie die Fratze. Dieser hässliche Mund mit den spitzen Zahnstummeln, die großen schwarzen Augenhöhlen, in denen keine Pupillen waren, der weiße Bart das alles tauchte nur für Sekunden auf. Die Stimme, die nur für sie zu hören war, hauchte: »Genevienne, auch dich hole ich. Aber du wirst die letzte sein, verstehst du, die letzte.« Der Geist kicherte boshaft. Genevienne kreischte, die trommelte mit den Fäusten gegen die Scheibe. Die Fratze verschwand. Sie schlug weiter und weiter, bis Choucas sie von hinten packte und festhielt. »Ich halte das nicht mehr aus«, keuchte sie, außer sich vor Angst und Grauen, »ich will weg von hier, Teilhard.« Das Kichern klang ihr noch in den Ohren. Als die Seitenscheibe zu knacken begann und in tausend Scherben zerplatzte, wurde Genevienne Rillot ohnmächtig. »Was hat die Frau?« einer der Arbeiter stand auf. Er beugte sich nach vorn. »Vielleicht ist sie schwanger.« »Ich glaube«, sagte Choucas. Sapiro starrte entgeistert auf die bewusstlose Frau. Der Fahrer hatte seinen Bus gestoppt, kam nach hinten gelaufen und blieb vor Choucas stehen. Er stemmte die Fäuste in die Seiten. »Wir stecken ein Stück Pappe in das Loch«, versetzte er, »aber Sie müssen die Scheibe bezahlen. Wäre ja noch schöner! Wo kämen wir hin, wenn jeder Busfenster kaputthauen wollte!« Choucas gab ihm fünfzig Franc und fixierte ihn eisig. »Reicht das, Bruder?« 86 �
»Ja.« Der Fahrer kratzte sich am Ohr. »Dann weiter, Bruder. Wir haben genauso wenig Zeit zu verlieren wie du.« * George Lombardo hatte sich gedanklich in die Lage der Gangster versetzt. Er war sicher, daß sie wenig befahrene Straßen benutzten, aus Angst, mit dem gestohlenen Wagen angehalten zu werden Purer Zufall war es also nicht, daß er kurz vor fünf den zerstörten Peugeot 504 im Graben neben der RN 568 entdeckte. Er fand auch den toten Polizisten und wurde blaß. »Diese Bestien«, murmelte er, »diese brutalen, erbarmungslosen Bestien.« Er kehrte zu seinem Alfa Romeo Duetto zurück und stellte den Motor ab. Es war heller geworden. Er brauchte keine Taschenlampe mehr, um im Dämmerlicht des heraufziehenden Morgens die Spur auszumachen, die auf den Feldweg führte. Lombardo fuhr ihr mit dem Wagen nach. Einmal blieb er auf matschigem Untergrund stecken, kam zum Glück aber rasch wieder frei. Nachdem er den Reifenabdruck des Motorrads mehrfach verloren und wiederentdeckt hatte, fand er endlich die Maschine. Die Fußspuren waren gut abzulesen. Der Privatdetektiv ging ihnen über einen Sturzacker nach. Am gegenüberliegenden Rain wußte er, daß Choucas, Sapiro und Genevienne Rillot sich dem Dorf zugewandt hatten. Er holte den Wagen. Wenig später hörte er sich im Dorf bei den wenigen Frühaufstehern um, die er traf. Der Hausmeister der Elementarschule sagte ihm, daß er die beschriebenen drei Personen in den Bus nach Port de Bouc hatte steigen sehen. 87 �
»Wann trifft der Bus dort ein?« fragte George. »Na, so gegen 5.30 Uhr«, meinte der Hausmeister, ein stangendürrer Mann in den Fünfzigern. Lombardo schaute auf die Armbanduhr. Ihm blieben nicht mehr als zehn Minuten, um die Gangster einzuholen. Er mußte darauf verzichten, den Mord an dem Gendarmen zu melden. Das kann ich später nachholen, schoß es ihm durch den Kopf. Er bedankte sich, setzte sich in dem metallicgrauen Wagen und raste aus dem Dorf. Eine halbe Minute später hatte er die letzten Häuser hinter sich. Der Mann mit dem Kraushaar strengte sich an, logisch zu denken und gleichzeitig in die Vorstellungswelt der Gangster einzusteigen. Port de Bouc: Was wollten sie dort? Sie würden den Bus verlassen und dann? Lombardo dachte an den Jachthafen, den Port de Bouc hatte und daran, wie schlau es war, wenn sich Teilhard Choucas, Franco Sapiro und Genevienne Rillot jetzt für den Wasserweg entschieden. Besser konnten sie ihre Spur gar nicht verwischen. Um 5.32 Uhr hatte er den Marktplatz des kleinen Fischerstädtchens erreicht. Auf etwas erhöhtem Grund thronte die einzige Fabrik, die Hunderten von Leuten aus der Umgebung Arbeit bot und in diesem Moment bereits die Männer aus dem Dorf verschluckt hatte, in dem Lombardo sich umgehört hatte. Den Bus fand er am Rand des Marktplatzes. Der Fahrer hockte auf seinem Platz und rauchte. George bezeichnete ihm die Gesuchten. »An die erinnere ich mich, und ob«, der Mann drehte sich zu ihm um, »die Frau hat wie am Spieß geschrien und eine Scheibe zerschlagen. Möchte wissen, woher die die Kraft genommen hat. Na, jedenfalls haben sie bezahlt.« Der Geist, dachte der Privatdetektiv, er ist wieder da! »Die drei sind in Richtung Hafen gegangen, wenn Sie's wissen 88 �
wollen«, meinte der Busfahrer, »da runter!« Lombardo folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit dem Blick. Sekunden darauf saß er schon wieder hinter dem Steuer des Duetto und lenkte den Wagen durch die Gasse, auf die der Mann aus dem Bus gedeutet hatte. Dann sah er sie. Genevienne ging in der Mitte. Die beiden Männer hatten sie eingehakt. Sie schien sich wirklich nicht sehr wohl zu fühlen. Sapiro blickte sich manchmal um. Der Detektiv war allerdings sicher, daß die Gangster weder ihn noch seinen Wagen jemals richtig gesehen hatten. Im Hotel »Cicogne« hatten sie ihn nicht beachtet. Die Gasse war düster, sie hatte viele Schlupfwinkel er riskierte, mindestens einen von ihnen aus den Augen zu verlieren, wenn er sie jetzt stoppte. Zu groß war die Gefahr, daß sie ihm entkamen. Außerdem befanden sich einige Menschen zwischen ihm und den Gesuchten Fischer; die bei einer möglichen Schießerei in Mitleidenschaft gezogen werden konnten. George fuhr langsam, im Schritttempo. Die Gangster hatten das Ende der Gasse erreicht, wandten sich nach rechts. George drückte etwas mehr aufs Gas. Als er den Ausgang hinter sich hatte, befand er sich bereits auf dem Hafengelände. Er konnte die Mole sehen, die Kutter und die vielen Jachten, die hier wegen der relativ niedrigen Liegegebühren vertäut waren. Choucas, Sapiro und die Frau hatten sich dem Anleger für die Kajütkreuzer zugewandt. Sie sprachen mit einem alten Mann, dann steuerten sie zusammen mit ihm auf ein kleines Haus zu, das sich sehr unscheinbar inmitten der bunten Gebäudefassade ausnahm. »Agence« stand auf einem Leuchtschild. Es war eine Agentur für Schiffsvermietungen. Lombardo wartete, bis die vier im Innern des Hauses ver89 �
schwunden waren. Danach parkte er den Duetto. Er prüfte Sitz und Ladung des Franchi-Llama und ging zu der Agentur hinüber. Zwei Häuser davor blieb er stehen. Er sah sich scheinbar interessiert die Auslagen eines Andenkenladens an. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Agentur. Choucas und Genevienne Rillot kamen heraus. Hinter ihnen wurde die Tür zugemacht. Wo steckte Sapiro? Lombardo preßte die Lippen zusammen. Das gefiel ihm nicht. Er drehte sich halb um, schaute dem Paar nach und spürte etwas Hartes im Rücken. »Meine Kanone hat einen Schalldämpfer«, sagte eine Stimme. »Es würde also keiner merken, wenn du hier plötzlich tot umfallen würdest, Freundchen. Ich rate dir, keine Dummheiten zu machen.« Verdammt, dachte Lombardo. Dem harten Akzent nach konnte es sich bei dem Mann in seinem Rücken nur um Franco Sapiro, den Korsen, handeln. Es war klar: Er hatte die Agentur durch eine Hintertür verlassen, hatte den Gebäudeblock umrundet und sich angeschlichen. George hatte nicht damit gerechnet. Aber jetzt mußte er der bitteren Wirklichkeit in die Augen sehen. Gab es denn keinen Ausweg? »Langsam vor mir her gehen«, befahl Sapiro. »Ich sag's dir noch mal! Eine falsche Bewegung, und Ploff!« »Ich weiß nicht, was Sie wollen«, versetzte der Detektiv beherrscht. »Das weiß ich auch noch nicht«, lachte der Gangster. »Los jetzt ,immer geradeaus auf den Anleger zu.« Lombardo zuckte die Achseln. Er mußte vorangehen, er hatte keine andere Wahl. Der Franchi-Llama-Revolver steckte im Schulterhalfter. Ehe er den herausgerissen hatte, konnte Sapiro ihn zweimal niedergeschossen haben. 90 �
Choucas und die schöne Frau waren stehen geblieben. Sie drehten sich zu ihnen um. Genevienne zog die Augenbrauen hoch. Choucas Miene war verzerrt. Als sie sie erreicht hatten, steckte der Gangster mit dem breiten Gesicht die Hand unter Lombardos Jacke. Er holte den Revolver und die Brieftasche heraus. »Privatdetektiv«, er hielt die Linzenz hoch, »wie gut, Franco! Wie gut, daß der Knabe dir irgendwie verdächtig vorkam und du mal nachsehen wolltest, ob er uns vielleicht bis zur Agentur gefolgt war. Er heißt George Lombardo.« »Nie gehört«, meinte Genevienne. Auch der Korse schüttelte den Kopf. »Ich habe auch keine Ahnung, wer du bist und für wen du arbeitest, Lombardo«, versetzte Choucas leise und drohend. »Du wirst es uns gleich verraten, ja?« »Vielleicht nicht«, grinste George ihn an. Choucas steckte die Brieftasche und den Revolver ein. Hastig blickte er sich um. Sie schienen nicht beobachtet worden zu sein. »Wir marschieren zur Jacht«, sagte er. Die Jacht entpuppte sich als hochmoderner Kajütkreuzer, sicherlich eines der größten und schönsten Schiffe von allen, die hier vertäut lagen. Genevienne betrat als erste den Steg, der auf das Achterdeck führte. Es folgte Teilhard Choucas, dann George, dann der Korse mit der Schalldämpferpistole im Anschlag. Sie gingen in die Kajüte. Die Einrichtung war geschmackvoll und gediegen. »Hier könnte ich es länger als ein paar Stunden aushalten«, meinte Genevienne, »es wäre genau das richtige für einen ausgedehnten Urlaub, nicht wahr, Teilhard?« »Wir werden das nachholen«, lächelte der Gangster. Lombardo bückte sich plötzlich und rückte dabei auf die Seite. Dadurch hatte Sapiro seinen Komplicen vor der Mündung. Er 91 �
konnte einfach nicht abdrücken. Und ehe er den Lauf der Waffe herumbekam und auf den Gefangenen anlegen konnte, hatte diese zugeschlagen. Lombardos betonharte Handkante traf die Pistolenhand des Korsen. Mit einem Aufschrei ließ Sapiro die MAB fahren. Er konnte nicht anders, denn seine Arm- und Fingermuskeln waren durch den wuchtigen Hieb sekundenlang gelähmt. Mit größter Schnelligkeit brachte sich der Privatdetektiv hinter den Korsen. Er boxte ihm in die Seite. Dann nahm er beide Fäuste zusammen und ließ sie gegen Sapiros Rücken krachen. Bevor der j Gangster zur Gegenwehr kam, wurde er t gegen den fluchenden Choucas geschleudert. Auch Choucas war plötzlich behindert, obwohl er den erbeuteten Revolver schwang. Er kam nicht zum Schuß. Gemeinsam mit seinem Komplicen ging er zu Boden. Lombardo drehte sich um. Er wollte die Kajüte verlassen, an Land laufen, die Polizei alarmieren. Genevienne Rillot stand ihm im Weg. Sie hatte sich an den Kämpfenden vorbeigedrückt und versperrte jetzt den Ausgang. Etwa eine Sekunde zögerte George, die Frau anzugreifen. Und genau diese Sekunde genügte Choucas, sich aufzurappeln. Der Kolben des eigenen Revolvers traf George gegen den Hinterkopf. Stöhnend ging er zu Boden. Er wälzte sich und hielt die Hände auf die schmerzende Schädelplatte. Ohnmächtig wurde er nicht. Choucas trat nach ihm. Er traf ihn in die Seite, Wieder gab der Privatdetektiv einen gequälten Laut von sich. »Franco, bist du wieder fit?« rief Choucas. »Es geht so«, gab der Korse gepresst zurück. »Dann wirf die Maschinen an und setze den Kahn in Gang. Ich unterhalte mich derweil mit unserem Freund.« »Teilhard, überlass ihn mir.« 92 �
Choucas machte eine ablehnende Geste. »Nein, du mußt die Jacht steuern. Mit Schiffen kennst du dich besser aus als ich. Außerdem gebe ich dir später noch Gelegenheit, Lombardo die Meinung zu sagen. Ich schätze, er erreicht Marseille nicht. Wir werfen ihn den Fischen vor.« »Teilhard«, sagte Genevienne. »Geh auch du nach oben«, Choucas drehte ihr kurz den Kopf zu, »was jetzt kommt, ist nichts für Frauen. Na los, beeilt euch doch! Wir haben keine Minute mehr zu verlieren.« Sapiro und die schöne Frau verließen die Kajüte. Sie drückten die Tür zu. Choucas trat wieder nach George. Er hatte den Revolver in der Rechten, die Mündung glotzte den am Boden Liegenden an. »Was weißt du über uns?« herrschte er ihn an. »Ich habe den Polizeifunk abgehört«, ächzte George, »die Gendarmes Mobiles haben eure Beschreibungen durchgegeben, weil ihr angeblich einen hellblauen Peugeot 504 gestohlen habt. Das ist alles. Ich bin euch nachgegangen, als ihr aus dem Bus gestiegen seid.« »Glaube ich nicht«, entgegnete der Gangster mit dem breiten Gesicht. Plötzlich kniff er die Augen zusammen. »He, Franco hat doch das Kennzeichen deines Wagens gesehen. Es ist aus Montpellier. Du kommst aus Montpellier, Bursche jetzt fällt's mir wie Schuppen von den Augen…« Aus, dachte George, er erinnert sich. »Im Hotel«, schrie Choucas, »du hast dich im Hotel ›Cicogne‹ herumgetrieben. Ich weiß nicht mehr genau, wo ich dich dort gesehen habe, aber ich bin jetzt ganz sicher.« Er bückte sich und hielt ihm den Revolver vor die Stirn. »Lombardo, ich glaube, ich weiß, welche Rolle du spielst. Du bist der Spaßvogel, der Bauduc und Valremy auf dem Gewissen hat. Los, verrate mir, wie du das angestellt hast. Ich will wissen, woher du deine verfluchten 93 �
Tricks hast und wer dir den Auftrag gegeben hat, uns zu folgen.« »Du irrst dich«, sagte George. Da hieb der Gangster wieder mit dem Revolver zu. * Die Jacht trug den Namen Rombo. Sapiro, der inzwischen genau die Bedienungsanleitung studiert hatte, um keinen Fehler zu machen, wußte: Sie war 1972 gebaut worden, war 29 Meter lang, bestand ganz aus Aluminium und verfügte über zwei 270-PSDieselmotoren sowie eine elektronische Steuerungsanlage. Sapiro hatte die Vertäuung gelöst, nachdem er die Maschinen angeworfen hatte. Sobald die Motoren warmgelaufen waren, kletterte er ins Cockpit und setzte sich hinter das Steuerrad. Er orientierte sich anhand der bereitliegenden Karte. Dann begann er das Ablegemanöver. Wenig später rauschte die Rombo mit halber Kraft aus dem Hafenbecken. Sapiro blickte sich um. Port de Bouc wurde zunehmend kleiner, würde bald ganz aus dem Sichtfeld verschwinden. Er wartete, bis sie den aus groben Bruchsteinen bestehenden Wellenbrecher des Hafens passiert hatten. Nun erhöhte er die Geschwindigkeit. Die Jacht durchpflügte mit 30 Knoten das Wasser des Mittelmeers. Nach drei Meilen Fahrt ging der Korse auf Kurs Ost-Süd-Ost und setzte die automatische Steuerung in Betrieb. Er konnte sich jetzt zurücklehnen, die Hände hinter dem Kopf verschränken und den Morgenhimmel betrachten, dessen Farbe messinggrau war. Im Osten stand die Sonne als roter Feuerball über dem Horizont. Choucas kam heraufgeklettert. 94 �
»Wie ist es hat er gesungen?« fragte Sapiro. »Nein. Er ist ein harter Brocken. Zweimal ist er ohnmächtig geworden. Jetzt habe ich ihn erstmal in den Bugraum gesperrt. Später knöpfe ich ihn mir noch einmal vor. Ich bin sicher, daß er der Hundesohn ist, dem wir unser ganzes Pech zu verdanken haben.« »Warum servieren wir ihn nicht ab, Teilhard?« Choucas grinste. »Vorher müssen wir noch rauskriegen, wer seine Hintermänner sind. Ich schätze, bis wir in Marseille ankommen, habe ich ihn soweit.« »Gut.« »Ich bin mit Genevienne auf dem Achterdeck, falls du mich suchst«, sagte der Gangster mit dem breiten Gesicht. Mit diesen Worten verließ er das Cockpit wieder. Sapiro kräuselte die Lippen. Ja, dachte er, mit Genevienne auf dem Achterdeck. Du willst sie dir unter den Nagel reißen, aber in Marseille sorge ich dafür, daß die Führungsspitze davon erfährt und das Weib in eine andere Aktionsgruppe versetzt. Er war neidisch auf Choucas. Es wollte ihm nicht in den Kopf, wieso ausgerechnet der Mann mit dem breiten Gesicht zum Sprecher der Bande aufgerückt war und jetzt auch noch die schöne Frau für sich beanspruchte. Sapiro setzte sich plötzlich auf. Er zwinkerte mit den Augen, denn er meinte, sich getäuscht zu haben. Er kannte das Meer und wußte, daß die Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche der Wahrnehmung manchmal Streiche spielten. Aber diesmal schien es sich um etwas Wirkliches zu handeln. Mit Entsetzen dachte Sapiro plötzlich an alles Schreckliche zurück, das sich in dieser Nacht ereignet hatte. Eine Gestalt lief über das Wasser. »Es kann nicht wahr sein«, flüsterte der Korse. Er griff nach 95 �
dem Fernglas, das zur Ausrüstung der Rombo gehörte. Mit leicht bebenden Händen setzte er es an die Augen. Er hatte die Gestalt zum Greifen nah vor sich. Es handelte sich um ein dünnes Wesen mit schlohweißem Bart und bleichem Gesicht, einem häßlichen Maul, schwarzen Augenlöchern. Es lief und lief und winkte ihm dabei zu. »Ein Geist«, stammelte der Korse, »mein Gott, ein Geist!« Er erschauerte, als er das Lachen der scheußlichen Erscheinung vernahm. In Sapiro war der Aberglaube tief verwurzelt. Er stammte aus einem Land, in dem Gespenstergeschichten noch heute von Haus zu Haus erzählt werden, in dem mysteriöse Vorgänge als Zeichen des Bösen gedeutet wurden. Getreu der Tradition versagte in dem Korsen bei einem Vorgang wie diesem jegliche mutige Einsatzbereitschaft. Aus dem brutalen Gangster wurde ein Schwächling. Ich muß Teilhard rufen, trommelte es in seinem Hirn, wenn er das sieht, wird er mir endlich glauben. Er wollte aufspringen. Aber eine unsichtbare Faust hielt ihn auf seinem Platz. Ja, Sapiro spürte, wie sich eine Hand um seinen Hals legte und ihn niederdrückte. Er brachte es nicht einmal fertig, das Fernglas herunterzunehmen. Er war gezwungen, den Geist weiterhin zu beobachten. So jäh, wie sie gekommen war, verschwand die Gestalt jedoch mit einem Mal wieder. Der Druck, den Sapiro um Hals und Schultern fühlte, ließ nach. Er atmete auf. Beruhigt war er keineswegs. Aber er war schon froh, den Geist nicht mehr vor Augen haben zu müssen. Langsam kam er aus seinem Sitz hoch. Er griff sich an die Stirn. Die Finger wurden nass. Er schwitzte. Sapiro legte das Fernglas weg. Er überlegte, ob er auf das Achterdeck hinuntereilen sollte, trotz der Tatsache, daß der Geist 96 �
sich verzogen hatte. Er kam zu dem Schluß, daß er Choucas unterrichten mußte. Auch wenn der Komplice ihn auslachte. Er wollte sich zum Gehen wenden. Da hörte er ein feines Singen und blieb stehen. Sapiro fühlte sich wie verzaubert. Das Singen kam näher. Es mußte eine Frau sein, die dieses Lied so fabelhaft interpretierte. Ein Lied, das Sapiro kannte. Es stammte aus seiner Heimat, aus Korsika. Er blickte sich um. Wer sang? Niemand befand sich in seiner Nähe, und doch mußte die Stimme irgendwo einen Ursprung haben. Genevienne? dachte er. Nein, die Stimme klang anders, höher. Er trat vor, beugte sich über die Windschutzscheibe. Da erblickte er sie. Das war keine Frau, sondern ein blutjunges Mädchen. Sapiro klappte den Mund auf und bekam ihn nicht wieder zu, denn das Mädchen war völlig hüllenlos. Es stand am Bug und winkte ihm zu. Franco Sapiro war jetzt nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, zum Beispiel, wie es möglich war, daß die hübsche Kleine auf das mit 30 Knoten dahinjagende Schiff geklettert war. Nein, er starrte nur auf diese berückende Erscheinung. Seine Augen tasteten begierig ab, was ihm da so offen präsentiert wurde: ein honigsüßes Gesicht, von langen blonden Haaren umschlossen, pralle Brüste, die bei jeder Bewegung verlockend wippten, lange, erstaunlich gut entwickelte Schenkel… Er schluckte. Was sollte er tun? »Komm zu mir, mon cherie«, wisperte ihre Stimme, »hab keine Furcht.« Sapiro leckte sich die Lippen. Hastig kletterte er über die Leiter nach unten. Choucas und Genevienne konnten ihn nicht sehen. Mit verträumtem Gesichtsausdruck taumelte der Korse dem Vorderdeck entgegen. Die Blonde lächelte und drehte sich ver97 �
führerisch. Immer noch hielt ihr Singen an. »Komm«, hauchte sie. Und Sapiro ging auf sie zu, breitete die Arme aus. Er begriff nicht mehr, was um ihn herum vorging, hatte nur noch Augen für dieses zauberhafte Wesen. Sie trat auf ihn zu und schmiegte sich an ihn. Der Gangster spürte ihre vollen Brüste, die Schenkel, die sich gegen ihn drängten, die Wärme ihres Körpers. Er küsste sie. Plötzlich verwandelte sich die Blonde unter seinen Händen. Er fühlte, wie sie in sich zusammensank. Ihre drallen Formen schrumpften zusammen, der Leib nahm die eisige Kälte einer Toten an. Er riß die Augen auf. Der Anblick war so fürchterlich, daß er nicht einmal schreien konnte. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Hässlich war die Blonde geworden, unglaublich hässlich. Ihr nackter Körper war in sich zusammengefallen Und jetzt von Falten und Ausschlag übersät. Sie hatte einen Buckel. Aber das schlimmste War ihr Gesicht. Eine grauenvolle Fratze mit glühenden Augen und weit aufgerissenem Maul wandte sich dem Gangster zu. Eine grüne Zunge fuhrwerkte in dem Maul herum. Laute, die nur der Hölle entwichen sein konnten, quollen daraus hervor. Sapiro hob die Hände und schlug sie vor die Augen. Er stürzte auf die Knie. Das scheußliche Wesen kicherte. Ob der Korse wollte oder nicht, er mußte wieder schauen und zusehen, wie sich die Gestalt über den Bug hob, nach vorn wegschwang und im Nichts zerfloss. Er stand auf, beugte sich über die Reling. Vor dem Bug der Jacht gähnte ein gewaltiges schwarzes Loch, dessen Grund auf dem Boden des Meeres zu sein schien. Rau98 �
schend jagte das Wasser an seinem Rand entlang, um sich in der unendlichen, mit den Augen nicht zu ergründenden Tiefe zu verlieren. Inmitten dieses Strudels tauchte unvermittelt wieder die Gestalt der hübschen, nackten Blondine auf. Sie lag auf dem schwarzen Loch, breitete die Arme aus und wisperte: »Komm doch.« Zunächst zauderte der Korse. Dann aber sah er, wie die Blonde verführerisch die Beine anwinkelte, wie sie sie spreizte… Er kletterte auf die Reling. Lachend setzte er zum Sprung an, stieß hinab. Kopfunter segelte er dem verlockenden Wesen entgegen. Erst als er vor dem Bug aufkam, begriff er, daß er von neuem einem entsetzlichen Spuk aufgesessen war. Aber diese Erkenntnis kam zu spät. Die Gestalt der Blonden zerplatzte vor Sapiros Augen. Er griff mit den Händen ins Leere. Um, ihn herum spritzte Wasser auf. Der Gangster stürzte mitten in das gähnende Höllenmaul des Strudels hinein, raste der Verdammnis entgegen. Er vernahm ein höhnisches, dröhnendes Gelächter. Dann verspürte er einen gewaltigen Schlag gegen den Kopf. Der Strudel verschwand. Sapiro, der mit dem Schädel gegen den Bug der dahinjagenden Rombo geschlagen war, trieb blutend in der See. Seine Augen waren gebrochen. * George Lombardo kam zu sich. Mühsam schlug er die Augen auf. Im nächsten Moment drückte er sie wieder zu und wälzte sich stöhnend auf die Seite. Es wäre ihm lieber gewesen, wieder in tiefe Ohnmacht zu fallen. Sein Kopf schmerzte fürchterlich. Lombardo hatte den Ein99 �
druck, der Schädel sei gespalten, obwohl er natürlich genau wußte, daß dies unmöglich war. Sein Körper, tat überall weh. Dazu kam die Übelkeit er hätte sich gern übergeben, aber er schaffte es nicht. Rundum herrschte Dunkelheit. Der Privatdetektiv setzte sich auf, preßte die Hände gegen den Schädel und Wartete, bis das Dröhnen und Wirbeln in seinem Kopf wenigstens etwas nachließ. Dann lauschte er. Dem Tuckern der Maschinen und dem Rauschen nach, das ihn umgab, mußte er sich vor der Kajüte befinden. George nahm an, daß sie ihn in den Bugraum gesteckt hatten. Er tastete sich ab. Die Jacke war fort. Ebenso die Schulterhalfter. Teilhard Choucas hatte ihm alles abgenommen. Sogar die Schuhe. Lombardo hockte in Hemd und Hose da und versuchte herauszubekommen, wo es am meisten schmerzte. Der Gangster hatte ihn übel zugerichtet. Er hatte sich zwar anfangs gewehrt. Choucas hatte aber immer wieder mit dem Franchi-Llama zugeschlagen, bis er unfähig war, sich überhaupt noch aufzurichten. Im Dämmerzustand hatte er die Fragen vernommen. Es waren immer wieder die gleichen gewesen. Und er hatte dauernd nur den Kopf geschüttelt. Choucas ist fest überzeugt, ich sei Mitglied einer OAS-feindlichen Terror Organisation, überlegte er sich. »Ja«, war die Stimme plötzlich da. »Wer spricht?« forschte George verdutzt. Ein meckerndes Lachen war die Antwort. »Ich hatte dich gewarnt, George Lombardo. Aber jetzt bist du mittendrin im Ablauf der Geschehnisse. Du kannst nichts mehr aufhalten. Ich habe soeben Franco Sapiro über Bord befördert. Jetzt nehme ich mir die beiden übrigen vor du kannst nichts dagegen tun.« »Du bist Previns Geist?« 100 �
»Glaubst du endlich an mich?« Der Geist lachte wieder mit Grabesstimme. Für Sekunden tauchte sein schauriges Antlitz in dem Bugraum auf. Bleiche Haut, hohle schwarze Augenhöhlen, das hässliche Maul Lombardo machte unwillkürlich die Augen zu. »Ich gefalle dir nicht, wie?« kicherte die grauenvolle Erscheinung. »Nun, du wirst dich damit abfinden müssen.« »Überlasse Choucas und die Frau mir«, forderte Lombardo. »Warum, du Narr?« »Es gibt Gerichte. Ich habe genügend Beweise gegen die beiden zusammen, um sie für lebenslänglich hinter Gitter zu bringen.« »Lebenslänglich«, äffte der Geist verächtlich nach. »Damit ist mein Rachedurst nicht befriedigt. Ich will sie elend sterben sehen. Ich stehe außerhalb der irdischen Gerechtigkeit, George Lombardo, und ich richte mir die Dinge ein, wie es mir paßt.« »Ich werde gegen dich kämpfen«, sagte der Detektiv entschlossen. »Wie?« »Es gibt Mittel, von denen ich gelesen habe. Früher habe ich über so etwas gelacht. Aber jetzt weiß ich, daß die Mächte der Finsternis existieren, und ich werde versuchen, dich zu vernichten.« Rasch holte er das kleine silberne Kreuz hervor, das er an einer Kette um den Hals trug. Eine Freundin hatte es ihm geschenkt. »Tu das weg«, zischte der Geist, »ich will's nicht sehen.« »Du mußt, Previn.« Der Geist fauchte wütend. »Gegen meinen Hass und meine List kommst du nicht an, Lombardo. Ich gebe dir eine letzte Chance. Gib es auf und überlasse die beiden letzten mir. Dann vergesse ich das, was ich dir zugedacht habe.« »Willst du auch mich töten?« George ließ das silberne Kreuz für einen Augenblick sinken. 101 �
An der Wand zeichnete sich jäh ein rotes Mal ab. George griff danach das Zeichen verschwand, und mit ihm machte sich kichernd der Geist aus dem Staub. Lombardo untersuchte sein finsteres Gefängnis. Das Erscheinen des Geistes hatte ihm die Willenskraft in vollem Maß zurückgegeben. Er wollte nicht nur, er mußte Genevienne Rillot und Teilhard Choucas lebend nach Marseille bringen und in Haft setzen lassen, damit sie rechtmäßig abgeurteilt werden konnten. Plötzlich spürte er seine Schmerzen nicht mehr so stark wie zuvor. Er entdeckte eine kleine Tür. Aufrichten konnte er sich nicht, dazu war dieser Raum zu flach. Aber er konnte sich vor die Tür knien und sie mit den Fingern abtasten. Ein Schlüsselloch gab es nicht. George vermutete, daß die kleine Tür von außen mit einem Riegel zugemacht war. Er wollte schon kapitulieren, da bemerkte er, wie groß der Spalt war, den er an der rechten Seite des Schlages befingern konnte. Zwar konnte er den kleinen Finger nicht hindurchstecken, aber wenn er einen dünneren Gegenstand fand… Er zog den Gürtel aus der Hose. Die Schnalle war schmal genug, um sich in die Ritze schieben zu lassen. George hätte vor Freude fast aufgeschrien, als er auf Widerstand stieß. Das konnte nur der Riegel sein! Hochdrücken konnte er ihn nicht. Es war ein Riegel, der seitwärts auf- und zugeschoben wurde. Da er sich jedoch in seiner Halterung bewegte, rechnete Lombardo sich eine gute Chance aus. Mit einiger Geduld mußte er es schaffen können, aus dem Bugraum zu entkommen. * »Siehst du«, sagte Choucas lächelnd, »seitdem wir diesen ver102 �
dammten Lombardo gefaßt haben, hat der Spuk schlagartig aufgehört. Ich kriege noch heraus, mit welchen Tricks er gearbeitet hat, das schwöre ich dir!« »Wichtig ist eines: daß wir jetzt endlich sicher nach Marseille kommen«, Genevienne streckte sich auf ihrem Liegestuhl aus. Sie hatte den Kragen ihrer Pelzjacke hochgeschlagen. Die Morgenluft war frisch. Teilhard Choucas lag neben ihr, ebenfalls auf einem Stuhl. »Ich möchte nicht in Lombardos Haut stecken.« »Was hast du vor?« »Dreimal darfst du raten.« »Folter?« »Selbstverständlich. Ich muß ihn zum Singen bringen. Anschließend fliegt er über Bord. Ich schmeiße ihn mit einem Stein an den Beinen ins Meer, so, wie wir Previn ins Sumpfloch befördert haben.« »Meine Güte, Teilhard, verschone mich mit diesen Einzelheiten.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch die glatten brünetten Haare und verzog das Gesicht. »Meldet sich bei dir das Gewissen?« »Die Ereignisse haben mich mehr mitgenommen, als ich gedacht habe. Das mußt du verstehen. Wenn ich erstmal eine oder zwei Nächte darüber geschlafen habe, sieht die Welt bestimmt wieder anders aus.« Er beugte sich zu ihr hinüber. Seine Hand näherte sich ihrem Knie. »Ich frage mich, wie die Welt dann für uns aussehen wird.« »Das fragst du noch?« Sie lachte kokett und griff nach seiner Hand. »Ich liebe starke und mutige Männer. Du hast eine steile Karriere vor dir, das fühle ich. Noch kenne ich dich nicht, aber ich glaube, du bist besser als viele andere, die ich gehabt habe.« Er grinste und stand auf. »Wir können es ausprobieren, Gene103 �
vienne. Sofort. Komm, lass uns runtergehen in die Kajüte.« »Es ist nicht der richtige Moment.« »Warum nicht? Franco ist im Cockpit.« »Und der Detektiv?« »Der liegt bewusstlos im Bugraum.« Er zog sie hoch und küsste sie ungestüm. »Der hört uns nicht. Man muß die Gelegenheiten beim Schopf packen, Liebling. Du wirst sehen, daß du dich nicht in mir getäuscht hast. Los, worauf warten wir noch?« Sie erstarrte. »Was ist?« fragte er gereizt. »Du warst so richtig schön in Fahrt gekommen, Genevienne, und jetzt…« »Dreh dich um.« »Du hast was gesehen? Ein Schiff?« »Dreh dich um, Teilhard, und sieh selbst.« Sie schluchzte trocken. Er wirbelte förmlich herum. Das, was die schöne Frau entdeckt hatte, befand sich bereits am Heck, aber er konnte noch deutlich erkennen, worum es sich handelte. Sapiro. Seine blutende Leiche trieb im Meer. »Das gibt's nicht«, brüllte Choucas. »Nein«, jammerte Genevienne, »nein, nein, nein!« Er packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Gemeinsam stürmten sie hinauf ins Cockpit. Die elektronische Steuerungsanlage funktionierte tadellos. Sie schauten auf die Karte und das Fernglas und den leeren Sitz. Danach gingen sie auf das Vorderdeck und bis zum Bug. Nirgends gab es eine Spur, einen Hinweis, warum der Korse so plötzlich über Bord gegangen war. »Unmöglich«, sagte Choucas fassungslos, »ich kann es einfach nicht begreifen. Die See ist ruhig. Ja, wenn wir Sturm hätten, im Sturm kommt es schon mal vor, daß einer über Bord geht.« »Es ist immer noch nicht vorbei«, flüsterte sie schockiert. 104 �
»Sei still«, zischte er. Plötzlich war das Lachen da, laut und böse. Choucas warf den Kopf hoch. Er sah nichts. Aber er begriff, daß er sich zu früh gefreut hatte, zu früh seinen Triumph hatte auskosten wollen. »Der Geist«, schrie Genevienne. »Willst du aufhören!« brüllte er sie plötzlich an. »Fängst du jetzt auch mit dem Blödsinn an. Es kann kein Geist sein. Es gibt keine Geister!« Ein eisiger Hauch streifte seinen Nacken. Er stieß einen entsetzten Schrei aus, sprang nach vorn und klammerte sich an der Reling fest. Mit einemmal rutschte er zu Boden. Er rollte sich auf den Rücken und hielt sich die Seite. »Teilhard!« keuchte die Frau und bückte sich nach ihm. »Verdammt, jemand hat mich in die Seite geboxt. Es hat die Niere erwischt. Oh, es tut gemein weh!« »Er war es; meine Güte, er ist auf der Jacht.« Ihre Stimme zitterte. »Ich habe es nie einsehen wollen, doch jetzt habe ich begriffen. Jacques Previn besaß wirklich übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten, Teilhard. Er ist nicht völlig gestorben, als er ins Wasserloch gestoßen wurde. Seine Seele, sein Geist ist frei und folgt uns, bis wir alle erledigt sind.« Furchtsam klammerte sie sich an ihm fest. Er stieß einen Fluch aus und richtete sich auf. »Du bist ja wahnsinnig«, rief er, »wir gehen jetzt runter und machen diesen Lombardo fertig. Ich weiß, daß er die Schuld hat. Er muß ein Zauberkünstler oder so was Ähnliches sein.« »Lass uns hier bleiben«, Genevienne klammerte sich an ihn. Er starrte sie verblüfft an. »Wie meinst du das?« »Wir dürfen nicht in die Kajüte, wer weiß, was da auf uns lauert. Ich sterbe vor Angst.« »Dann mache ich mich eben allein auf die Beine«, er stieß sie von sich, »du bleibst hier und wartest auf mich. Wenn sich was 105 �
Außergewöhnliches ereignet, schreist du nach mir, verstanden?« Ihre Augen weiteten sich. »Das kannst du nicht tun. Du, du darfst mich jetzt nicht im Stich lassen.« Jäh krallte sie sich wieder an seiner Jacke fest. »Lass uns wenigstens zusammen umkommen, Teilhard.« Er schlug ihr zweimal rasch hintereinander mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie taumelte zurück. Entsetzt griff sie sich an die Wangen. »Jetzt hast du mich von einer anderen Seite kennen gelernt«, fuhr er sie an, »nimm dich zusammen, Mädchen. Ich dulde keine Hysterie. Ich will dir mal was sagen: Wir können nicht hier rumstehen und darauf warten, daß sich wieder was Scheußliches tut.« Er atmete tief durch. Dann streckte er versöhnlich die Hand aus. »Komm schon. Wir gehen.« Sie nickte. Folgsam stolperte sie hinter ihm her. Sie stiegen an der Backbordseite bis aufs Seitendeck hinunter, wandten sich dem Achterdeck und dem Niedergang zur Kajüte zu. Am Heck sicherte Choucas nach allen Seiten. Er hatte den Franchi-Llama in der Faust, bereit, auf alles zu schießen, was sich außer ihm und der schönen Frau auf der Jacht bewegte. Die Tür am Ende des Niederganges stand offen. »Verdammt, ich hatte sie zugemacht«, raunte der Gangster mit dem breiten Gesicht. Ihre Hand begann in seinen Fingern zu zittern. »Sei vorsichtig bitte.« Etwas verwirrt schob er sich weiter vor, zog sie hinter sich her. An der Tür verharrte er. Sie bewegte sich etwas. »Himmel«, wimmerte Genevienne. Choucas ließ sie los. In blitzschnellem Entschluß hechtete er in die Kajüte hinein, rollte sich auf dem Boden ab und kam mit dem Revolver im Anschlag wieder hoch. Er hatte sich so gedreht, daß er genau auf die Tür zielte. 106 �
»Du kannst reinkommen«, sagte er. »Hier ist keiner.« Genevienne stieg ganz hinunter. Ihre Züge waren bis aufs Äußerste angespannt. Fast wirkte es, als vertraue sie dem Komplicen nicht, als sie sich jetzt umdrehte und zur Vergewisserung noch einmal hinter die Tür schaute. Choucas grinste grimmig. »Auf meine Augen kann ich mich noch verlassen,« »Entschuldige, Liebling. Aber wo ist Lombardo?« »Da drin.« Der Gangster mit dem breiten Gesicht wies mit dem Revolver auf den Einstieg zum Bugraum. Die flache Tür befand sich rechts neben einer langen gepolsterten Sitzbank im vorderen Bereich der Kajüte. »Dann verstehe ich nicht, wieso hier offen ist«, meinte sie beharrlich. »Vielleicht habe ich mich getäuscht. Oder ich habe vorhin nicht richtig zugemacht und die Tür ist wieder aufgegangen«. Gleich darauf drehte er sich um. Mit einem einzigen Schritt war er an dem Einstieg. Er schob den Riegel zurück und riß die flache Tür auf. »Verflucht«, stieß er hervor. »Was ist?« »Mach das Licht an, Genevienne, und frag nicht soviel!« Ihre Hand zitterte auf den Schalter zu. Die Neonbeleuchtung flammte auf. Eigentlich war das Licht für die Kajüte nicht notwendig, denn durch die großen Fenster flutete inzwischen genügend Tageslicht herein. Aber Choucas benötigte es, um gründlicher in den Bugraum gucken zu können. »Er ist weg«, japste er. Sie preßte sich eine Faust gegen den Mund. »Aber wir hätten ihn an Deck sehen müssen.« »Er spielt mit uns Verstecken«, murmelte Teilhard Choucas. »Es ist mir schon ein Rätsel, wie er aus diesem Loch schlüpfen 107 �
konnte. Der Riegel ist vorgeschoben. Aber ich werde gleich sehen, ob er auch gegen gute, solide Bleikugeln immun ist. Er hat keine Kanone mehr aber ich.« Er richtete sich auf und schleuderte wilde Blicke um sich. Jäh fiel die Kajütentür mit einem Krachen ins Schloß. Genevienne schrie auf. »Halt den Mund«, blaffte er sie an, »du machst mich fertig mit deinem Geschrei!« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Um seine Beherrschung war es bald geschehen. Choucas wurde immer nervöser. Drei Tote aus den eigenen Reihen waren mehr, als er verkraften konnte. Aber da war noch etwas, was ihm zu schaffen machte: Diese scheinbare Ruhe an Bord. »Er ist hier neben mir«, stöhnte Genevienne, »ich spüre ihn. Er läßt mich wieder seinen eisigen Atem spüren. Es ist aus, Teilhard.« »Du lügst.« »Er greift nach mir.« »Du willst mich zum Narren halten!« brüllte er. Er riß den Revolver hoch. Genevienne sank seufzend auf die Seite. Reglos blieb sie am Boden liegen. Choucas feuerte nicht, sondern lauschte fassungslos dem unheimlichen Lachen, das durch den Raum scholl. Langsam näherte sich der Laut, schwang an ihm vorüber, war bald hinter ihm dann links neben ihm. »Teilhard«, wisperte der Unsichtbare. »Hau ab, ich will, daß du abhaust!« sagte Choucas schwer atmend. Der eisige Hauch streifte ihn. Er rannte zur Tür, rüttelte daran. Sie ließ sich nicht aufbringen. »Teilhard, du bist jetzt dran«, kicherte der Unsichtbare. Er ließ seine Grabesstimme in ein entsetzliches Grölen überschlagen, dann in katzengleiches Fauchen. Schließlich wurde es wieder 108 �
still. »Willst du wissen, was sich in Bauducs Schlafzimmer ereignete, Teilhard?« »Nein«, würgte der Gangster hervor. Es knackte. Er war gezwungen, zur Decke zu blicken. Dort hatten sich Risse ausgeprägt. Sie wanderten über die weiße Fläche bis zu den Seitenwänden. Plötzlich erschien mitten zwischen ihnen ein roter Fleck. Aus dem Fleck tropfte es zu Boden. »Blut«, sagte Choucas geschockt. »Das gleiche meinte Maurice Bauduc auch«, höhnte der Geist. Das Blut zeichnete einen Totenschädel auf den Kajütenboden. Aus diesem grässlichen Bild krochen plötzlich schwarze Abdrücke hervor – Fußabdrücke, Die matschige Spur patschte gemächlich auf den Gangster mit dem breiten Gesicht zu. Er wich zurück. »So starb Bauduc«, kreischte der Geist. »Und Valremy und Sapiro ging es ähnlich.« Die Schlammfährte war vor Choucas. Er fühlte den eisigen Hauch. Dann hatte er die Krallenhände des Unsichtbaren am Hals. Ganz allmählich zeichnete sich das grauenvolle Antlitz des Wesens vor ihm ab. Choucas wußte, daß er etwas so Abscheuliches noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Er brüllte, bückte sich und warf sich zur Seite. Im nächsten Augenblick sprang er wieder auf. Er hatte den Franchi-Llama noch in der Faust. Er schoß nicht damit, sondern sprang zu einem der Fenster und zertrümmerte es mit Hilfe des Waffenkolbens. Die Scherben fielen. Einige prasselten in die Kajüte, der Hauptteil jedoch nach draußen aufs Deck. Choucas sah, daß seine Faust blutete. Er kümmerte sich nicht darum. Mit einem kaum als menschlich zu bezeichnenden Schrei kroch er ins Freie. »Mich kriegst du nicht, Previn«, heulte er, »mich nicht, hörst du!«
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George Lombardo hatte die Tür zum Bugraum tatsächlich in mühseliger Kleinarbeit selbst aufgebracht. Danach hatte er sich den Gürtel wieder angelegt und war aus der Kajüte gelaufen. Er hatte das Gangster-Pärchen aus Richtung Seitendeck kommen hören. Geistesgegenwärtig hatte er sich auf die Steuerbordseite geschlagen. Von hier aus war er bis zum Vorderdeck gelaufen, während Choucas und Genevienne Rillot in die Kajüte hinuntergegangen waren. Jetzt hielt sich der Privatdetektiv im Cockpit auf. Er hatte gehofft, hier Sapiro zu finden. Ihm hatte er die MABSchalldämpferpistole abnehmen wollen. Doch er mußte einsehen, daß der Geist nicht gelogen hatte. Der Korse war wirklich nicht mehr an Bord. George überlegte krampfhaft. Er hatte keine Waffe. Das war sein größtes Handicap. Was konnte er tun, um sich einen Vorteil zu verschaffen? Er betrachtete das Armaturenbrett und die elektronische Steuerungsanlage. Von Kajütkreuzern wie diesem hier verstand er genug, um sich ein Eingreifen erlauben zu können. Deshalb schaltete er die Automatik aus. Er übernahm selbst das Ruder. Hastig blickte er auf die Karte, las die Geschwindigkeit von den Armaturen ab und taxierte die Position. Es konnte nicht mehr lange dauern, und die Küste kam in Sicht. Marseille lag vor ihnen. Das Klirren der Fensterscheibe tönte zu ihm herauf. Er beugte sich über die Bordwand. Zufällig hatte er sich zur richtigen Seite gewandt. Er sah Choucas. Der Gangster richtete sich neben der Kajüte auf, gestikulierte und brüllte: »Mich kriegst du nicht, Previn mich nicht, hörst du!« Er tobte über die Scherben weg, näherte sich der Leiter, die ins 110 �
Cockpit hinaufführte. Lombardo entdeckte den Revolver in Choucas Faust seinen Revolver. Bevor der Gangster den Blick hochnahm, zog sich Lombardo ans Ruder zurück. Er packte es fest und wartete. Jetzt kam es auf gute Nerven an. Würde er diese Zerreißprobe durchstehen? Choucas kam. Lombardo hörte, wie der Mann mit den Schuhen gegen die Außenwand stieß. Der Detektiv verharrte noch. Choucas' breites Gesicht tauchte auf. Jetzt sah der Gangster ihn. Er hob die Waffe, um auf ihn zu feuern. Dabei stieß er einen wüsten Schrei aus. Lombardo kurbelte an der Steuerung der Rombo. Urplötzlich krängte die Jacht auf die Backbordseite hinüber. Es war ein abruptes Manöver, das ihn selbst von den Beinen riß. Er schleuderte über die Planken, prallte unter Choucas gegen die Bordwand. Choucas brachte es nicht fertig, sich mit nur einer Hand zu halten. Sein Gesicht verschwand. Nur einen grässlichen Klageruf vernahm George noch. Er stand auf, taumelte zum Ruder und brachte die im Kreis fahrende Motorjacht wieder auf ihren alten Kurs zurück. Dann stellte er den Automaten ein und kletterte auf das Seitendeck hinunter. Über Bord gefallen war Choucas nicht. Er lag mit dem Rücken auf dem Deck. Die Arme und Beine hatte er von sich gestreckt. Der Revolver war seinen Fingern entglitten. Lombardo brauchte nur ein paar Schritte in Richtung Bug zu laufen, um den FranchiLlama aufheben zu können. Er beugte sich über Choucas. Blut war nirgends zu sehen. Jetzt wollte er prüfen, wie es um den Herz- und Pulsschlag des Mannes bestellt war. Jäh zuckte der Gangster hoch. George war zu verblüfft, um den Angriff abwehren zu können. 111 �
Er hatte damit gerechnet, daß Choucas bewusstlos oder sogar verletzt war. Statt dessen stellte sich heraus, daß er mit seinem Sturz ungeheures Glück gehabt hatte. Er hatte nichts, rein gar nichts davongetragen. Die Faust traf George vor die Stirn. Er flog nach hinten. Sein ohnehin schon lädierter Hinterkopf traf auf die Reling. Stöhnend sackte er zusammen. Rote und schwarze Schleier wallten plötzlich vor seinen Augen. »Du verdammtes Schwein«, schrie Choucas. Damit war er auf den Beinen, rückte auf ihn zu, warf sich auf ihn. Ehe Lombardo wieder einigermaßen fit war, hatte der Gangster mit dem breiten Gesicht auf seinen Unterarm geschlagen und ihm den Franchi-Llama entrungen. Fluchend griff er sich die Waffe. George fühlte Verzweiflung in sich aufkeimen. Er nahm alle Kräfte zusammen. Es genügte jetzt, das Knie hochzureißen Choucas wurde in den Rücken getroffen und hatte mit dem Schmerz zu kämpfen. Zwar legte er den Revolver auf seinen Gegner an. Aber Lombardo riß seinen Arm hoch. Der Schuß ging nach oben los. Rasch packte der Privatdetektiv Choucas' Arm. Brutal schlug er ihn auf die Reling, zwei-, dreimal. Der Gangster konnte nicht mehr anders. Er mußte die Waffe loslassen! Sie fiel ins Wasser. »Damit sind wir wieder chancengleich«, keuchte Lombardo, »glaube nicht, daß du mich unterkriegst, Choucas.« »Du Dreckskerl«, stieß der Gangster hervor. Sie wälzten sich über die Planken. Einmal bekam Choucas Oberwasser. Er ließ ein wahres Trommelfeuer von Hieben auf Lombardo niederprasseln. Aber der Detektiv blockte den Großteil der Schläge ab. Er hatte festgestellt, daß der Gangster unkonzentriert vorging. Es war keine Schwierigkeit, eine Deckung aufzubauen. Choucas 112 �
gab sich überhaupt keine Mühe, sie aufzubrechen. Er schlug blindlings zu. George Lombardo warf den Mann mit dem breiten Gesicht ab. Reaktionsschnell rappelte er sich auf und griff sich den Gegner. Sein Fausthieb war betonhart. Choucas wurde durch die Wucht halb herumgeworfen. Stöhnend hielt er sich das Kinn. Der Detektiv schoß noch einen Hieb des gleichen Kalibers auf ihn ab. Danach streckte sich Choucas endgültig auf dem Boden aus. »Die Vorstellung ist beendet, Freundchen«, sagte Lombardo heiser. Aber er hatte sich getäuscht. Jäh kam Choucas wieder hoch. Er taumelte rückwärts, hielt sich an der Wand der Aufbauten fest. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Er schien durch Lombardo hindurchgucken zu wollen. »Nein«, stammelte er, »mich kriegst du nicht.« »Gib es auf«, meinte George. »Ich weiß nicht, wie du es schaffst, noch auf den Beinen zu stehen. Aber ich kann dir bloß den einen Rat geben: Wirf die Flinte ins Korn. Der nächste Schlag reißt dich garantiert um.« Choucas' Augen hatten einen merkwürdigen Glanz. Er faselte Unverständliches. Als Lombardo den eisigen Atemhauch hinter sich spürte, wußte er, was die Stunde geschlagen hatte. Der Geist, durchzuckte es ihn, Er griff nach seinem silbernen Anhänger, nestelte ihn hervor. Aber Choucas lief weg. Er schlug um sich und schrie. Es war ein grotesker Anblick. Aber Lombardo war nicht zum Lachen zumute. Er konnte plötzlich die an einen Nebelschleier erinnernde Gestalt des Geistes erkennen, der sich wieder für Sekunden sichtbar gemacht hatte. Choucas hüpfte auf die Reling. Brüllend stürzte er ins Wasser. Sofort stürmte Lombardo in das Cockpit hinauf. Erdrosselte 113 �
die Maschine, ließ sie beide auf voller Drehzahl rückwärts laufen. Somit stoppte er die Rombo und dirigierte sie zurück, zu dem Punkt, an dem der Gangster den Sprung gewagt hatte. George stellte die Motoren ganz aus. Dann zog er Hose und Hemd aus, kletterte flink aufs Deck hinunter und vollführte einen gekonnten Köpfer in die Fluten. Er sah den Gangster. Teilhard Choucas fuchtelte wild, schluckte Wasser, ging unter und kam wieder hoch. Er schien nicht schwimmen zu können, schien niemals nähere Bekanntschaft mit dem balkenlosen Element gemacht zu haben. Warum war er dann über Bord gegangen? Lombardo beeilte sich, zu dem Mann zu kommen. Er wollte ihn lebend haben. In zügigem Crawl-Stil stieß er bis zu ihm vor, tauchte und holte ihn herauf. Choucas hatte den Kopf schon wieder unter Wasser gehabt. Das war genau einmal zuviel, sicherlich hatte er literweise Wasser in sich aufgenommen. Wie erwartet, schlug er denn auch nicht mehr um sich. Sein Körper wurde schlaff. George legte sich auf den Rücken, führte eine Hand unter Choucas Kinn und schleppte ihn ab. Unbeschadet erreichte er mit ihm die Jacht. Es machte ihm einige Schwierigkeiten, den Mann an Bord zu bekommen. Schließlich schwamm er bis zum Heck, legte ihn sich über die Schulter und hangelte nach oben. Hier, wo die Bordwand am flachsten war, glückte es ihm, bis auf das Deck zu gelangen, ohne den Ohnmächtigen wieder zu verlieren. Er legte ihn vorsichtig ab, riß seine mit Wasser voll gesogene Kleidung auf. Dann begann er mit Wiederbelebungsversuchen. Teilhard Choucas spuckte Wasser aus. Lombardo mühte sich nach Kräften ab. Zwischendurch horchte er an der Brust des Gangsters: der Herzschlag wurde kräftiger. Dadurch fühlte sich der Mann mit dem Kraushaar angespornt. Ersetzte seine Arbeit konzentrierter fort. 114 �
Schließlich schlug Choucas die Augen auf. Er japste nach Luft. »Na endlich«, grinste Lombardo, »fang jetzt nicht wieder an, um dich zu schlagen. Würde mir leid tun, dich nach so viel Mühe wieder bewusstlos zu boxen.« Choucas blickte ihn verständnislos an. Plötzlich griente er, dann lachte er albern. Er rollte mit den Augen. George ließ ihn los und richtete sich auf. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihm auf. Kichernd wälzte sich Choucas auf den Bauch. Er begann, mit den Fäusten auf das Deck zu schlagen und hemmungslos mit dem ganzen Körper zu zucken. »Mich kriegst du nicht, Previn«, kreischte er, »mich nicht! Such dir einen anderen!« Lombardo wartete, bis der Anfall vorüber war. Dann holte er ein paar Tauenden, preßte den irre lachenden Mann auf den Boden und fesselte ihn. Bald darauf hockte dieser hilflos in einer Ecke des Achterdecks und glotzte seinen Bezwinger an. »Wer will dich noch verurteilen«, sagte George Lombardo, »du bist genügend bestraft.« * Er fuhr herum, denn er hatte ein Geräusch hinter sich vernommen. Als er feststellte, daß es die schöne Genevienne war, atmete er buchstäblich auf. Die Frau stand auf den obersten Stufen des Niederganges. Ihre Pelzjacke hatte sie verloren, die zerzausten Haare flatterten in dem leichten Morgenwind. »Tun Sie mir nichts«, sagte sie schwach. »Was erwarten Sie? Daß ich Sie schlage?« Lombardo verzog den Mund. »Sie müssen eine schlechte Meinung von Privatdetektiven haben. Vergessen Sie nicht, daß ich nicht in die Kategorie von Leuten Ihres Schlages passe. Solange Sie keinen Versuch machen, mich zu überwältigen, rühre ich Sie nicht an. Ich bringe 115 �
Sie nach Marseille und gebe Sie bei der Polizei ab.« »Tun Sie, was Sie wollen«, entgegnete sie. »Mir ist nur wichtig, daß ich ihm nicht begegnen muß. Noch einmal stehe ich das wohl kaum durch.« »Sie sprechen von dem Geist, Genevienne?« »Ja. Sie wissen von ihm?« »Allerdings. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen. Er hat mich davor gewarnt, in diesem Fall einzugreifen. Trotzdem habe ich's getan. Ich vertraue auf ein einfaches Mittel.« Er tastete nach dem silbernen Kreuz. Es war noch da. Lombardo sah an sich herunter und stellte fest, daß er außerordentlich dürftig bekleidet war. »Machen Sie sich nichts daraus«, lächelte die schöne Frau. »Ich bin ein aufgeklärtes Mädchen und sehe nicht zum ersten Mal einen halbnackten Mann. Was ist mit Teilhard?« »Er hat den Verstand verloren.« »Mein Gott.« »Es hat wohl wenig Zweck, daß Sie jetzt Gefühlsregungen zeigen. Es wäre besser, wenn Sie mir die komplette Geschichte von Beginn an erzählen würden. Übrigens können Sie weglassen, daß Jacques Previn vor Jahren der OAS angehört und in Rom gelebt hat. Ich habe ein paar verlässliche Quellen angezapft, bevor ich die Spur Ihrer Bande aufgenommen habe.« Er fixierte sie scharf. »Ich trage die Hauptschuld«, versetzte sie freimütig, »denn ich habe Jacques im Auftrag der OAS in Rom geködert und hierher gebracht. Das Todesurteil gegen ihn war noch gültig. Wir haben es ausgeführt. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen.« »Das ist wenig. Wo liegt Previns Leiche?« »Im Sumpfloch. In der Etiage de Vacares.« »Man müßte sie rausziehen und ihr ein Kruzifix oder etwas Ähnliches ins Herz jagen«, überlegte er laut. 116 �
»Warum?« Sie schaute ihn entsetzt an. »Um endgültig mit dem Spuk aufzuräumen. Sie wissen wie ich, daß Previn mit den Mächten des Bösen im Bunde steht. Ich kann seinen Geist zwar nicht anklagen, weil er vier gnadenlose Mörder vernichtet beziehungsweise in den Wahnsinn getrieben hat aber die Schreckensgestalt wird weiter rastlos durch die Gegend irren und sich vielleicht an unschuldigen Menschen vergreifen.« »Wo steckt er jetzt?« »Ich weiß es nicht.« Die Jacht setzte sich plötzlich in Bewegung. Genevienne Rillot schrie auf. Vor Angst und Entsetzen geriet sie aus dem Gleichgewicht. Sie wäre gestürzt, wenn Lombardo nicht geistesgegenwärtig nach vorn gesprungen wäre und sie aufgefangen hätte. Die Rombo bewegte sich wieder durch die See, aber die Maschinen standen still. Nur das Rauschen des Wassers war zu hören. »Das ist er«, flüsterte die schöne Frau, »er ist wieder da. Er ist gekommen, um mich zu holen. Töten Sie mich, George!« »Unsinn. Ich werde mir den Geist jetzt kaufen.« »Töten Sie mich«, klammerte sie sich an ihn, »das ist mir lieber, als noch einmal seinen eisigen Atem zu spüren, von ihm angegriffen zu werden.« »Er hat Angst vor mir«, fuhr er unbeirrt fort, »ich werde Ihnen jetzt zeigen, daß es keine Einbildung ist. Kommen Sie. Gehen Sie hinter mir her. Ich habe meinen Revolver verloren, doch ich brauche keinen, um mit dem Spuk aufzuräumen.« »Wirklich?« Sie schaute ihn eigenartig an. »Wenn du es schaffst, bekommst du von mir alles, was ich dir geben kann – verstehst du, alles…« Teilhard Choucas kicherte blöde und spuckte nach ihnen aus. Sie beachteten ihn nicht weiter, sondern pirschten an ihm vor117 �
über. George schlich über das Seitendeck. Er bedeutete Genevienne mit einer Handbewegung, sich so leise wie möglich zu verhalten. Kurz Zeit später erklommen sie die Leiter, die ins Cockpit hinaufführte. Lombardo hatte sich das silberne Kreuz vom Hals genommen. Er hielt die Kette in der rechten Hand. Das Kreuz pendelte hin und her. Er blickte noch einmal zu der schönen Frau hinunter, bevor er sich ganz emporschob und den Kopf über die Kante der Bordwand hinausstreckte. Der Geist war nicht zu sehen. Aber er mußte auf dem Sitz sein. Das Polster hatte eine Ausbuchtung. Außerdem bewegte sich das Ruder laufend hin und her. Lombardo hielt den Atem an, als das in Reichweite liegende Fernglas plötzlich durch die Luft glitt. Es blieb über dem Ruder stehen. Der Geist schaute durch die Optik, in die Richtung, in der Marseille liegen mußte. Ob er ihn schon bemerkt hatte, wußte er beim besten Willen nicht. George schwang sich über die Bordwand. Mit zwei Schritten war er am Sitz und schwang das kleine Kreuz durch die Luft. »Ich befehle dir, von uns zu gehen!« rief er. »Jacques Previn, deine Stunde hat geschlagen, du hast keine Macht mehr über uns!« Die Antwort bestand in einem schaurigen Gelächter. Die Ausbuchtung im Sitzpolster verschwand. Lombardo fühlte den eisigen Hauch auf seinem Gesicht und wußte, daß der Geist sich aufgerichtet hatte, um den Kampf mit ihm aufzunehmen. Er wiederholte die Beschwörungsformel. »Du Narr!« kicherte es vor ihm. Die Stimme kippte um und bekam wieder den tiefen, heiseren Klang, der direkt aus dem Grab zu kommen schien. Dröhnend kamen die Laute, bohrten sich nervenzerfetzend in Lombardos Ohren. 118 �
Er schrie den Unsichtbaren an. Immer wieder brüllte er die Formel, ließ sich nicht durch den Spuk aus der Fassung bringen. Der Geist griff nach seinem Hals, wollte ihn würgen. Aber er schien nicht die Kraft dazu zu finden. Plötzlich begann er zu greinen und zu wimmern. Als George Lombardo mit seinem silbernen Kreuz auf etwas Festes stieß, wußte er, daß er ein mächtiges Stück vorangekommen war. »Weiche von uns«, rief er aus. Der Geist war gezwungen, sich unter dem Einfluß des silbernen Kreuzes zu materialisieren. Unvermittelt zeichneten sich seine nebelhaften Konturen vor dem Gesicht des Privatdetektivs ab. Es war die gleiche Fratze, die George schon zweimal gesehen hatte. Aber dieses Mal war sie vor Qual verzerrt. »Lass mich«, flehte der Geist, »ich schenke dir, was du verlangst. Reichtum und Macht…« »Nein. Verlasse uns! Es ist aus mit dir«, gab Lombardo leidenschaftlich zurück. »Du bist besiegt!« »Ich habe dich gewarnt, George Lombardo.« »Es hat dir nichts genützt.« »Du irrst dich.« Lombardo preßte das kleine Kreuz auf seine Stirn. Der Geist wand sich, er heulte und röhrte entsetzlich. Er hatte einen Kopf, der praktisch nur aus einem Totenschädel mit etwas Fleisch und ein paar Zähnen bestand, und einen dürren, hölzern wirkenden Körper. Er hatte sich nun fast vollständig materialisiert. Lombardo rief ihm noch einmal die Beschwörungsformel zu. Da löste sich der Geist unter Jammern aus seinen Händen und glitt nach oben hin fort. Er raste in den Morgenhimmel hinauf. George sah noch eine Art Feuerschein, der jedoch innerhalb von Sekunden verblasste. Der Spuk war verschwunden. »Genevienne«, sagte er. Sie kam zu ihm herauf. »Du hast es geschafft«, versetzte sie 119 �
langsam, »ich habe alles mitgehört. Ich hatte nicht den Mut, zuzuschauen, aber ich habe vernommen, wie du ihn fertiggemacht hast.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Ich habe versprochen, dir alles zu geben, was ich dir schenken kann. Versprechen soll man halten.« Sie küsste ihn. George Lombardo ließ den silbernen Anhänger los. Er klimperte zu Boden. Leidenschaftlich umarmte er die schöne Frau. Er konnte sich ihres Zaubers nicht erwehren. Sie sanken zu Boden. Genevienne drängte sich gegen ihn und bewies ihm, daß sie in jeder Beziehung eine außergewöhnliche Frau war. Sie wälzten sich wie zwei Kämpfende auf den Planken. Später richtete er sich auf und suchte seine Kleidungsstücke zusammen. Er hatte sie hier abgeworfen, bevor er Choucas nachgeschwommen war. »Wir müssen umkehren, Genevienne«, sagte er. »Ich will Franco Sapiros Leiche haben. Da wir stets auf geradem Kurs gefahren sind, dürfte es nicht schwierig sein, ihn zu finden. Es ist nicht viel Zeit vergangen. Außerdem sind die Meeresströmungen meines Wissens hier nicht so stark, daß sie einen treibenden Toten binnen kurzem außer Reichweite tragen können. Ich versuche, die Position auszurechnen.« »Muß das sein?« Sie verzog angewidert das Gesicht. Er sah sie scharf an. »Wir übergeben den Toten und den Wahnsinnigen der Polizei. Meine Aussage hat genügend Gewicht, um die beiden sowie Valremy und Bauduc als die Alleinschuldigen in diesem Fall zu bezeichnen. Ich halte dich da raus, Mädchen.« Sie sprang auf. »Ist das wahr?« »Ja. Ich werde behaupten, die vier Killer hätten dich als Geisel entführt. Unter einer Bedingung: Ich will dich besitzen. Für immer.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Aber natürlich, Liebling. Ich gehöre dem, der sich als der Stärkere erweist und das bist du.« 120 �
»Hast du das schon öfter aufgesagt?« »Ja«, lächelte sie. »Aber bei dir ist es anders.« Er grinste und ließ die beiden Dieselmaschinen an. Die Jacht bewegte sich immer noch durch das Wasser. Jetzt aber bekam sie mehr Fahrt, erreichte eine Geschwindigkeit von 30 Knoten. Lombardo legte sie in eine weitgezogene Wendeschleife und ließ sie eine 180-Grad-Kurve beschreiben. Dann steckte er auf der Karte eine Position ab. Von nun an benutzte er die automatische Steuerung. Sie erreichten die Position und sichteten nach einiger Suche den treibenden Körper des Korsen. George legte das Fernglas aus der Hand. Er drosselte die Maschinen. Wenig später dümpelte die Rombo an den Leichnam heran. Der Detektiv zog den Toten aus dem Wasser. Genevienne stand hinter ihm, aber wohlweislich so, daß sie das Gesicht des Korsen nicht sehen konnte. »Komisch«, meinte Lombardo. »Was ist komisch, George?« Er rückte zur Seite. Genevienne konnte nun selbst den Toten betrachten. Sie schrie entsetzt auf. Sapiro hatte sich in einen dürren Mann mit weißem Bart, schwarzen Augenhöhlen und grässlichem Maul verwandelt. »Der Geist«, jammerte sie. »Nein«, meinte er, »es ist nur das letzte Zeichen, das Previn hat geben können. Es hat nichts zu bedeuten.« Teilhard Choucas saß in seiner Ecke. Er schüttelte sich vor kindischem Vergnügen, wackelte mit dem Kopf und lachte schrill. * Marseille. Lombardo hatte die Motorjacht im Hafen vertäuen lassen. Von 121 �
der Kommandantur aus hatte er sofort die Polizei in Montpellier angerufen und sie über den Tod der Motorradstreife unterrichtet. Die Beamten, die mit den Vorfällen im Hotel »Cicogne« beschäftigt waren, sollten die Nachricht nach Arles und Port de Bouc weiterleiten. Anschließend ließ George mehrere Einsatzwagen der Brigade Kriminelle aus Marseille anrollen. Der Hinweis, er habe einen toten und einen wahnsinnigen Mörder an Bord, hatte genügt, um im Hauptquartier eine schnelle Reaktion auszulösen. Sapiro und Choucas wurden fortgebracht. Und der Privatdetektiv und die schöne Frau fuhren ins Hautquartier. Die Brigade Criminelle nahm nur eine Abteilung im Gesamtkomplex der hier untergebrachten Police Judiciaire ein. Lombardo und Genevienne Rillot wurden zum Untersuchungsrichter gebracht. Hier trug George seine Version des Falles vor. Sämtliche Aussagen wurden zu Protokoll genommen. Als sie gegen neun Uhr morgens aufstanden, konnte auch Genevienne das Gebäude auf freiem Fuß verlassen. Draußen umarmte sie ihn. »Du warst großartig«, schmeichelte sie ihm. »Sag mal, was machen wir jetzt?« »Was schlägst du vor?« »Die Gefahr für mich ist noch nicht beseitigt, George. Vergiß nicht, daß ich der OAS angehöre angehört habe. Man könnte mich aus purem Zufall sehen. Weißt du was die mit einem abtrünnigen Mitglied machen?« Sie lachte auf. »Ich hoffe nicht, daß man ein Todesurteil gegen mich ausspricht.« Er mußte auch grinsen. »Um dem vorzubeugen, setzen wir uns rechtzeitig ab. Ich rufe Brassens in Montpellier an und sage ihm, er soll die Agentur erst mal für einige Zeit allein führen. Später entscheide ich dann, ob ich zurückkehre oder mich im Ausland nach einem Job umsehe. Detektive werden überall benötigt, und 122 �
ich beherrsche immerhin zwei Fremdsprachen.« »Zum Beispiel?« »Italienisch.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Was hältst du von der Versilia zwischen La Spezia und Livorno?« Sie kaute auf der Unterlippe. »Ausgerechnet Italien…« »Böse Erinnerungen?« »Ach, eigentlich ist das blöd«, gestand sie, »ich finde, man sollte die Vergangenheit immer über die Schulter werfen, wenn es notwendig ist. Einverstanden, George. Reisen wir ab.« Er hakte sie ein, winkte ein Taxi heran. »Erst mal kleiden wir uns neu ein«, meinte er. »Dann gehen wir in ein Restaurant, anschließend rufe ich Brassens an und danach kaufen wir die Fahrkarten für Italien.« Ein gelbweißer Peugeot hielt, sie stiegen ein. Genevienne sah ein, daß er recht hatte. Ihre Pelzjacke und der Hosenanzug hatten arg gelitten. Lombardo hatte seinen Schulterhalfter, die Brieftasche, die Schuhe und das Jackett an Bord der Jacht wieder gefunden aber auch seine Sachen sahen lädiert aus. Beide hatten einen knurrenden Magen. Gegen elf Uhr beendeten sie ihren Rundgang durch das Zentrum von Marseille. Genevienne wurde jetzt unruhig, weil sie Angst hatte, doch noch von den OAS-Männern entdeckt zu werden. Sie zogen sich in ein gemütliches Restaurant zurück. Von hier aus rief George auch seinen Partner an. »Hör zu, Roger«, schärfte er ihm ein, »du mußt den Duetto aus Port de Bouc abholen. Meinetwegen verkaufe ihn. Alles andere erfährst du aus den Zeitungen. Warte, bis ich mich telegrafisch bei dir melde. Wahrscheinlich wende ich mich nur an dich, wenn ich Geld brauche.« »Du bist verrückt«, sagte Brassens überzeugt, »so habe ich dich noch nie reden hören. Nicht einmal, wenn eine Frau dahintersteckte.« 123 �
»Behalte deine Weisheit für dich«, sagte Lombardo und legte auf. Um ein Uhr betrat er an Geneviennes Seite den Bahnhof. Sie lösten zwei Fahrkarten erster Klasse nach Genua über Ventimiglia. Der Zug rollte um 13.55 Uhr aus dem Bahnhof, und hinter dem Fenster des einen Abteils standen Genevienne und der Privatdetektiv. Sie hatten ein Abteil ganz für sich allein. »Meine Güte, das ist zu schön, um wahr zu sein«, hauchte die schöne Frau und sank ihm in die Arme. Leidenschaftlich küsste sie ihn. Als sie ihn anschaute, bemerkte sie ein eigentümliches Funkeln in seinen Augen. »Was hast du?« fragte sie. Er trat an die Abteiltür und zog die Vorhänge vor. Er prüfte noch einmal, ob die Tür auch wirklich verschlossen war, dann drehte er sich um. »Du hast gedacht, Jacques Previn würde es nicht schaffen, nicht wahr? Du meintest schon, dich seiner Rache entzogen zu haben. Eigentlich kann ich das verstehen. Lombardo hätte es wirklich fast vollbracht, den Sieg davonzutragen. Da ist nur eine Kleinigkeit: Du umarmtest ihn, und dabei fiel ihm das kleine silberne Kreuz aus der Hand. Die Gelegenheit benutzte ich, um in seinen Körper zu schlüpfen.« »Du?« ächzte sie. »Du bist nicht George?« »Richtig geraten«, lachte er auf. Seine Stimme rutschte plötzlich in große Tiefe ab. Sie schien jetzt direkt aus dem Grab zu kommen. »Ich bin hier drin, meine Liebe. Ich habe mich in Lombardos Leib häuslich eingerichtet, und keiner bringt mich wieder raus.« Er röhrte vor Vergnügen und rieb sich die Hände. »Nein«, flüsterte sie, »sag, daß alles nur ein Scherz ist, George!« »George«, äffte er mit knarrender Stimme nach, »dein George, dieser Dummkopf, existiert nicht mehr. Du bist mein, Genevienne. Jetzt wirst du die Suppe auslöffeln, die du dir selbst eingebrockt hast.« Er kicherte. »Ich werde dich regelmäßig so erschrecken, daß du langsam in den Wahnsinn abgleitest. So wie Chou124 �
cas. Sieh mich gut an. Fühlst du nicht Grauen in dir aufsteigen? Keine Angst, ich bringe dich nicht um. Ich möchte es auskosten, dich langsam durchdrehen zu sehen.« Sie kreischte, aber er schlug ihr ins Gesicht. Sie wollte an ihm vorüber, aber er hielt sie fest. Knurrend stieß er sie gegen das Fenster. Plötzlich drehte sie sich um und riß das Fenster auf. Mit größter Schnelligkeit kletterte sie auf die kleine Ablage vor der Brüstung, schwang sich über die große Scheibe hinweg und sprang ohne zu zögern nach draußen. Sie gab nicht einmal einen Schrei von sich. Der Mann mit dem Kraushaar blickte ihr nicht nach. Er wußte, daß der Zug inzwischen mit fast 120 Stundenkilometern dahinraste. Sie hatten Marseille verlassen. »Es ist besser so«, sagte er. Rasch nahm er ihre Reisetasche und beförderte sie ebenfalls ins Freie. Er setzte sich. Sein Gesicht hatte die milchige Farbe verloren. Auch sein Mund und seine Augen wirkten wieder normal. Er blickte erst wieder böse auf, als jemand die Abteiltür aufschob. Ein bebrillter Mann steckte seinen Kopf herein. »Verzeihung«, sagte er, »ich komme aus dem Nebenabteil. Ich glaube, jemand ist aus dem Zug gestürzt. Eine Frau. Ich habe gesehen, wie sie vorüberflog. Man sollte dem Zugführer Bescheid geben. »Und warum sagen Sie das mir, mein Freund?« »Die Frau muß hier im Abteil gewesen sein.« Er sah den Bebrillten stechend an. Der Mann schien unter seinem Blick kleiner zu werden. »Hören Sie, hier war keine Frau«, zischte er, »und es ist auch keine aus dem Zug gestürzt. Sie sollten Ihre Brille putzen. Gehen Sie jetzt.« »Ja«, sagte der Mann, »jawohl.« Eilfertig zog er sich zurück. Wenig später erschien der Fahrkartenkontrolleur. Er prüfte das 125 �
Billett, das auf den Namen George Lombardo ausgestellt war, reichte es zurück und warf einen Blick auf seine Liste. »Für dieses Abteil liegen zwei Schlafwagen-Buchungen vor. Wo ist die zweite Person?« »Es gibt keine.« � »Merkwürdig.« � »Es muß sich um einen Irrtum handeln.« � »Sind Sie ganz sicher?« � Der Mann mit dem Kraushaar kicherte plötzlich. »Ja. Ich pflege � grundsätzlich allein zu reisen, Monsieur.« Er blickte dem Kontrolleur nach, der sich kopfschüttelnd zurückzog. Erst als die Tür wieder geschlossen war und der Mann das nächste Abteil öffnete, brach der Mann, der nicht Lombardo war, in wahrhaft höllisches Gelächter aus. ENDE
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