Martin Selle
Der Gral des Todesmönchs Codename Sam Band 02
scanned 03/2008 corrected 05/2008
Sandra, Mario und Armin ...
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Martin Selle
Der Gral des Todesmönchs Codename Sam Band 02
scanned 03/2008 corrected 05/2008
Sandra, Mario und Armin sind erneut in einen atemberaubenden Kriminalfall verwickelt. In den Bergen Tibets, wohin sie eine Filmcrew zu Dreharbeiten begleiten, verfolgen sie hartnäckig jede Spur, um die unheimlichen Vorgänge im Tempelpalast Potala aufzuklären. Selbst als sie in den düsteren Gewölben von einem Todesmönch verfolgt werden, beharren sie darauf, dass es eine logische Erklärung geben muss. Doch was wirklich dahinter steckt, hätten sich die drei Freunde nie träumen lassen. ISBN: 3-7074-0081-6 Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht
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DER GRAL DES TODESMÖNCHS Martin Selle
Illustrationen: Martin Weinknecht
Wien – Stuttgart – Zürich
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Selle, Martin: Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G, Kinder- und Jugendbuch (Krimi) Geheimfall 2. Der Gral des Todesmönchs. – 2000 ISBN 3-7074-0081-6
2. Auflage 2002 © 2000 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Covergestaltung: Martin Weinknecht Lektorat: Birgit Trinker Satz: G & G, Wien Druck und Bindung: BBG, Wöllersdorf In der neuen Rechtschreibung. Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.
INHALT 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Im verbotenen Land ........................................... 7 Eine tödliche Falle? ......................................... 13 Der Todesmönch.............................................. 18 Die Zombiefrau................................................ 22 Leuchtende Tritte ............................................. 28 Wahnvorstellungen .......................................... 33 Eine unglaubliche Entdeckung ........................ 38 Tödliches Wissen ............................................. 42 Sprechende Felsen ........................................... 48 Der Ritter in der Tempelkammer..................... 52 Ein schrecklicher Verdacht .............................. 58 Der Fremdenführer .......................................... 65 Musik aus dem Jenseits ................................... 70 Eine Falle ......................................................... 75 Heilige Tiere .................................................... 80 In die Enge getrieben ....................................... 84 Die Stimme aus dem See ................................. 87 Im Hinterhof .................................................... 91 Der Gott Yamantaka ........................................ 98 Die Menschenpresse ...................................... 105 Die Sekte der Unsterblichkeit ........................ 109 Die Rückkehr des Todesmönchs ................... 114 Dem Geheimnis auf der Spur ........................ 119 Die Wahrheit.................................................. 126
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Im verbotenen Land
„Hier oben ist es mehr als gespenstisch. Ich glaube, wir machen einen großen Fehler, wenn wir nicht umkehren“, sagte Armin und blickte sich missmutig um. Der Tempelpalast Potala thronte wie ein geheimnisvoller Wächter der Ewigkeit in beinahe 4000 Meter Seehöhe über den zerklüfteten Felsen. Für die Menschen von Tibet sind die endlosen Weiten des Himalayagebirges aber mehr als nur Berge. Sie sind das ‚Verbotene Land‘, in dessen Mitte der heilige Berg Kailash in den Himmel ragt. Obwohl die Sonne im Zenit stand, fröstelten die drei Freunde Sandra, Armin und Mario. Sie trotteten zielstrebig auf den sagenumwobenen Tempelpalast zu. Ringsum nichts als Felsen und Geröllwüste, gesäumt von vereisten Gipfeln, die sich wie krumme Finger dem Leben spendenden Feuerball entgegenreckten. „Mir brennt die kalte Luft in den Lungen“, krächzte Armin. Seine Stimme klang geschwächt. Der mühsame Aufstieg in der dünnen Luft hatte sie viel Kraft gekostet. Doch das war mehr als nebensächlich, wenn auch nur annähernd stimmte, was in der ‚Heiligen Stadt’ Lhasa erzählt wurde. „Glaubst du etwa, uns geht es besser?“, erwiderte Sandra außer Atem und versetzte ihrem Freund einen spielerischen Schlag, um ihn aufzumuntern. 7
„Ich habe ein unangenehmes Gefühl. Irgendwas ist hier unheimlich“, sagte Mario skeptisch. Er blieb stehen und blickte den steinigen Hang hinunter. „Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen und zur Stärkung ein wenig Schokolade essen. Sie müsste in deinem Rucksack sein, Sandra.“ Sandra kramte nach der Wegzehrung. Das Lager, in dem die Filmcrew am Rande eines kleinen Gebirgsdorfes wohnte, lag bereits einige hundert Meter unter ihnen. „Ich … ich habe in der Eile nicht alles eingepackt“, gestand Sandra kleinlaut. Mario und Armin sahen sie verärgert an. „Du hast keine Schokolade dabei? Das Wichtigste hast du vergessen? Nicht im Ernst!“ „Das kann doch passieren. Macht nicht so ein Trara deswegen. Seid lieber froh, dass wir das Kloster ausnahmsweise besichtigen dürfen“, verteidigte sich Sandra. „Im gesperrten Teil lebt schon seit Jahrhunderten niemand mehr, hast du das vergessen? Es ist sowieso ein Wunder, dass die Filmfirma eine Dreherlaubnis bekommen hat.“ „Außer der Crew darf niemand in die Nähe des Klosters. Wir können bestenfalls Schotter in uns hineinstopfen!“ Mario schien wirklich hungrig zu sein, er war sonst nie so grob. „Sie sind mit den Vorbereitungen am Drehort bestimmt noch nicht fertig“, versuchte Armin einzulenken. „Das Film-Team ist heute Morgen mit dem Regisseur nach Lhasa gefahren, um einen Fremdenführer zu treffen, der sich in der Geschichte Tibets auskennt. Ich habe sie wegfahren sehen. Tut mir Leid“, murmelte Sandra verlegen. 8
Nach weiteren 15 Minuten erreichten sie einen bizarren Felsvorsprung. Dahinter ragte der riesige Tempelpalast wie eine gespenstische Heimstatt der Götter zu den Wolken auf. Potala war kein gewöhnliches Kloster, wie es sie in Tibet zu Hunderten gibt. Einer Legende zufolge befand sich hier ein sagenhafter Schatz – versteckt in den finsteren Gewölben der Glaubensstätte, bewacht und beschützt von einem Unheil bringenden Todesmönch und seiner Dienerin, einer Zombiefrau. Keine der Expeditionen, die versucht hatten, das Geheimnis zu lüften, war je zurückgekehrt. Jetzt hatte der Filmproduzent und Regisseur Alan Morgan die Genehmigung erhalten, über die heiligen Berge, den seltsamen Klosterpalast und seine Legende eine Spieldokumentation zu drehen. Mit einer Crew von Spezialisten und einer hervorragenden Ausrüstung war es ihm gelungen, in nur wenigen Tagen einen großen Teil des Klosters zu untersuchen. Er hatte versprochen, die heilige Stätte zu respektieren, und deshalb die Erlaubnis erhalten, sich dort mit seinem Filmteam zwei Wochen lang frei bewegen zu dürfen. Er hatte beschlossen, seine Geschichte anhand eines jungen Mädchens zu erzählen. Sandra hatte die Rolle erhalten und sich sehr gefreut, als sie erfuhr, dass sie mit ihren beiden Freunden nach Tibet reisen durfte. Mario und Armin hatten schon immer einmal bei Dreharbeiten dabei sein wollen und versprochen, der Crew hilfreich zur Hand zu gehen. Am übernächsten Tag standen schwierige Szenen auf dem Drehplan, und Alan Morgan hatte ihnen erlaubt, allein zum Kloster aufzusteigen, um sich mit dem Drehort etwas 9
vertraut zu machen. Die SAM-Freunde wussten, dass sie höllisch aufpassen mussten. Vor allem der gesperrte Klosterteil war ein endloses Labyrinth von Hallen, Gängen, Treppen und tödlichen Fallgruben. Jeder Schritt musste genauestens überlegt und geplant werden, sonst verirrte man sich unweigerlich. „Bald werden wir wissen, ob es diesen Todesmönch wirklich gibt“, witzelte Mario. „Halt die Klappe! Ich kann deine Schauergeschichten schon nicht mehr hören“, sagte Armin griesgrämig, da ihm der Magen knurrte. Die Geschichten, die im Tal über den Todesmönch und die Zombiefrau erzählt wurden, waren alles andere als nett. Es sei kein Zufall, dass alle bisherigen Expeditionen spurlos verschwunden seien, erzählten die Fremdenführer. Und sie mussten es ja wissen, „Es gibt weder Zombies noch Todesmönche. Alles nur Touristenfantasien!“, erklärte Sandra. „Glaubt ihr etwa, ich hätte die Rolle sonst angenommen?“ „Wir sollten uns lieber auf den Rückweg machen, bevor uns die Dunkelheit überrascht oder uns in der dünnen Luft die Kräfte völlig ausgehen“, motzte Mario und blickte zur Sonne. „Wenn ihr unbedingt etwas zu essen braucht, nagt an euren Fingernägeln“, grollte Sandra beleidigt. Die Freunde standen jetzt direkt vor dem pompösen Haupteingang des Klosters und erkannten erst jetzt, wie gewaltig seine Ausmaße waren. Der mittlere Trakt schien endlos in den Himmel zu ragen. Totenstille herrschte in diesen Höhen. Nur der eisige Wind fegte über die Steinmauern von Potala. 10
„Jetzt ist mir klar, warum dieses Gebirge das ‚Dach der Welt’ genannt wird“, staunte Armin, als er den Blick schweifen ließ. Berggipfel, so weit das Auge reichte. Nirgends sonst auf der Erde ist man dem Himmel so nahe. „Unheimlich“, flüsterte Sandra. „Ich halte die Kälte nicht länger aus. Ich bin völlig durchgefroren“, knirschte Armin. „Ja, gehen wir rein und wärmen uns auf, bevor wir zurückgehen“, meinte auch Sandra. „Sollten wir nicht lieber umdrehen?“, fragte Mario. Doch Sandra und Armin hatten das Haupttor bereits geöffnet und waren in die Halle getreten. „Ich meine … ihr wisst doch … die … die Legende und der … der Todesmönch …“, stammelte Mario. „Jetzt mach mal halblang und komm endlich rein, du Angsthase! Manchmal glaubst du jeden Mist“, fuhr Armin seinen Freund grimmig an. Doch das sollte er schnell bereuen. Ein eisiger Wind wehte plötzlich durch den Tempel. Mit einem dröhnenden Knall schlug das Tor hinter den SAMMitgliedern zu und hüllte sie in Grabesfinsternis.
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Eine tödliche Falle?
Die Luft im Kloster war stickig. Ein unheimliches Gefühl beschlich die drei Freunde, doch ihre Neugier war stärker. Ihre Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, und das spärliche Licht, das durch die wenigen kleinen Öffnungen in den dicken Steinwänden fiel, ließ sie die Umgebung kaum erkennen. Sie standen am oberen Ende einer breiten Felstreppe, die in eine endlose Dunkelheit hinabzuführen schien. „Sieht aus wie der Höllenschlund“, scherzte Armin. „Lass den Quatsch!“, ermahnte ihn Mario streng. Sandra riss einen Kienspan aus seiner Eisenhalterung an der Wand, wickelte ein Stück Stoff darum und entzündete die Fackel mit ihrem Feuerzeug. „Was soll denn das, wir haben doch Taschenlampen?“, fragte Mario verwundert. „Ich traue diesem merkwürdigen Ort nicht. Offene Flammen reagieren auf Luftzug und giftige Gase ersticken sie. Wenn die Flamme dort unten ausgeht, dann nichts wie zurück, verstanden?“, befahl Sandra. „Feuer schützt auch vor Dämonen und bösen Geistern, die darauf lauern, dir das Herz aus dem Leib zu reißen – jedenfalls habe ich das wo gelesen“, flüsterte Mario. „Halt endlich die Klappe und komm!“, fauchte Sandra. 13
Langsam wagten sich die drei Freunde in den düsteren Abgrund vor. Je weiter sie hinabstiegen, desto trockener und stickiger wurde die Luft. Sandra spürte, wie ihr die Kehle austrocknete. In einem Grab konnte es nicht unheimlicher sein. Die Freunde glaubten das Pochen ihrer Herzen zu hören, so still war es. Die Götterstatuen an den Wänden erschienen im Schein der Kienspäne wie hungrige Geister, die auf Beute warteten. Nach etwa 50 Stufen erreichten sie eine Plattform. Hier teilte sich die Treppe in zwölf weitere Treppen. „Welchen Weg sollen wir jetzt nehmen?“, fragte Mario und drehte sich nach allen Seiten. Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus. Etwas Unsichtbares hatte sich klebrig über seinen Kopf gelegt. „Der Todesmönch! Er greift an!“, kreischte er, und das dröhnende Echo seiner Schreie hallte von allen Wänden zurück. Armin hob seinen Kienspan in die Höhe, um sich umzusehen. „Du Angsthase. Du bist in ein Spinnennetz gerannt, weiter nichts“, sagte er leicht verärgert über den unnötigen Schreck. Die drei Freunde entschieden sich für die größte der Treppen und stiegen weiter in das Labyrinth hinab. Das Geräusch ihrer Schritte wurde immer stärker gedämpft, die Luft wurde immer abgestandener. Plötzlich blieb Mario stehen und spitzte konzentriert die Ohren. „Was ist denn jetzt schon wieder, kommt weiter, wir haben nicht so viel Zeit“, drängte Sandra. „Wenn wir wieder zu Hause sind, bekommst du ein Verbot für Horrorfilme und Gruselgeschichten.“ Armin 14
konnte die übertriebene Angst seiner Freunde nicht verstehen. „Da war ein komisches Geräusch. Es kam von irgendwo dort oben“, flüsterte Mario und schaute sich vorsichtig um. Sandra und Armin warfen sich einen spöttischen Blick zu. Doch das Grinsen verging ihnen augenblicklich. „Was … was war das für ein grässliches Geheul?“, stammelte Sandra kleinlaut. „Geheul …? Das … das ist das Knarren einer schweren Tür“, sagte Mario. Da war das Geräusch wieder. Es klang, als schleiche jemand die Treppen herunter. „Leute, wir sind nicht die Einzigen in diesem Kloster“, stellte Armin fest. „Wir müssen sehr vorsichtig sein. Vielleicht werden wir verfolgt!“ Er legte seinen Kienspan nieder, um in seinem Rucksack nach der Detektivausrüstung zu suchen. „Ich habe eine Idee. Wir stellen eine unserer Fallen auf, dann wissen wir, wer uns folgt.“ „Wie denn?“, fragte Mario. „Lasst mich nur machen.“ „Wir wollen wissen, was du vorhast“, hakte Sandra hartnäckig nach. „Das werdet ihr schon sehen. Geht einfach weiter und tut so, als hättet ihr nichts gehört.“ Armin nahm eine andere Treppe, die zu einer Reihe von kleineren Räumen führte, und verschwand hinter einer der mächtigen Götterstatuen. „Manchmal glaube ich, der tickt nicht ganz richtig“, krächzte Sandra. Ihr Mund war vollkommen ausgetrocknet. Die Treppe hatte sie in ein weiteres Zwischengeschoss des Potala Tempels geführt. Die Halle, in der sie nun stan15
den, war mit goldenen Säulen und Götterdarstellungen geschmückt. „Ich glaube, das ist weit genug. Wir warten hier besser auf Armin. Vielleicht braucht er unsere Hilfe, wenn etwas schief läuft“, sagte Mario und setzte sich auf den Boden. Aufgescheucht von den seltenen Besuchern schoss eine Fledermaus über seinen Kopf hinweg. Ihre Vampirzähne leuchteten im Schein der Fackel. Der Junge zuckte erschrocken zusammen. Von den Wänden starrten furchteinflößende Fratzen von Dämonen und Göttern auf sie herab. „Die Tibeter haben von ihren Göttern offenbar keine nette Vorstellung“, wisperte Sandra. Sie wollte gerade weitersprechen, als sie von einem Schrei unterbrochen wurde. „Hiiiiilfeeeee! Er hat mich erwischt!“ Mario und Sandra lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Das war Armin gewesen. Hastig schnappten die beiden Freunde ihre Rucksäcke und rannten die Treppe hinauf. „Wir kommen schon, Armin!“, rief Mario aus voller Kehle, dessen Angst plötzlich wie weggefegt war. Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider. „Halt durch, wir sind gleich bei dir!“ Aber von Armin war nichts mehr zu hören. Die Grabesstille hatte sich behauptet. Mario und Sandra hielten erschrocken inne, als das heulende und knarrende Geräusch wieder zu hören war. Jemand schien langsam zu ihnen herunterzukommen. Aber die Schritte hörten sich seltsam an: ein Geräusch, als würde ein Knochen über Stein scharren, gefolgt von einem weichen Knirschen. 16
„Der Todesmönch!“, japste Mario. „Es gibt ihn wirklich!“ „Wer ist da?“, rief Sandra unerschrocken in die Finsternis. Für eine Weile herrschte wieder beklemmende Stille. Mario und Sandra wagten nicht, sich zu bewegen. Dann wurden die Schritte leiser und leiser. „Er schleicht wieder nach oben“, stammelte Mario. „Schnell. Wir müssen hinterher“, flüsterte Sandra. „Ich halte das für keine gute Idee“, gab Mario zurück. „Wir können gar nicht anders. Vielleicht ist Armin in Gefahr und braucht dringend unsere Hilfe. Er ist unser Freund. Wir können ihn jetzt nicht im Stich lassen.“ Die beiden Freunde tappten die Treppe hinauf. Sandra stieg auf der linken, Mario auf der rechten Treppenseite empor. Ein Fehltritt, und sie würden in die Tiefe stürzen. Sollte ihnen ein Angreifer auflauern, würde er so nur einen von ihnen erwischen, und der andere konnte vielleicht Hilfe holen. Doch als sie die Plattform erreicht hatten, konnten sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Keine Spur von einem Verfolger. Sandra knipste jetzt doch ihre Taschenlampe an, um weiter sehen zu können. Als der Lichtstrahl die Treppe erreichte, die Armin genommen hatte, erstarrte sie und stammelte: „Armin, nein …!“
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Der Todesmönch
Zahlreiche Gegenstände lagen über den Boden verstreut. Sie markierten die Richtung, in die Armin zuvor verschwunden war. „Das sind Sachen aus seinem Rucksack“, entfuhr es Mario, als er sich bückte und ein Taschenmesser, eine Lupe und einen kleinen Notizblock aufhob. „Ich glaube, hier ist etwas Furchtbares passiert“, wimmerte Sandra. Ihre Taschenlampe war auf den Boden gerichtet. „Hast du so etwas Merkwürdiges schon mal gesehen, Mario?“ Der Junge trat neben seine Freundin und starrte auf den hellen Lichtkreis. „Das … das ist doch nicht möglich!“, stammelte er. „Dann … dann ist es also doch keine Legende …?“ „Denkst du auch, was ich denke?“, flüsterte Sandra. „Das ist der Abdruck eines Skelettfußes!“ Mario klang bestürzt. „Der Fußabdruck des Todesmönchs, der das Kloster und die schlafenden Götter bewacht!“ Sandras Augen weiteten sich vor Angst. „Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl!“, fand Mario seine Skepsis bestätigt. „Das hilft uns jetzt auch nichts mehr. Wir müssen Armin retten. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!“ 18
Die beiden sammelten Armins Habseligkeiten Stück für Stück ein und folgten so dem Weg, den er gegangen war. Nachdem sich der Korridor hinter einer Biegung abermals geteilt hatte, erreichten sie einen Gang, der im aufgerissenen Maul eines steinernen Bären endete, dessen Eckzähne drohend auf sie herunterragten. „Schneller!“, drängte Mario. Er suchte mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe die Umgebung ab. Möglicherweise wollte der Todesmönch sie in eine Falle locken. Sie wagten sich einige Schritte weiter und bahnten sich mühevoll einen Weg durch die dichten Spinnweben. Nach wenigen Metern erblickten sie eine massive Steintür. „Vorsicht!“, rief Sandra und zeigte auf einen tiefen, etwa fünf Meter breiten Abgrund, der vor der Tür klaffte. „Dahinter muss die Gruft der schlafenden Götter sein“, flüsterte Mario zitternd vor Aufregung. Sandra wandte sich um und tastete die kalte Felswand hinter ihnen ab. „Hier ist eine Öffnung im Gestein“, sagte sie. „Hier, in der dunklen Nische.“ Mutig hob Sandra ihre Taschenlampe und verschwand in der Felsspalte. „Kannst du etwas erkennen?“, erkundigte sich Mario neugierig. Dann drang die verunsicherte Stimme Sandras zu ihm heraus: „Das … das ist tatsächlich die Gruft der schlafenden Götter aus der Legende. Es gibt sie wirklich. Unglaublich!“ Mario hatte plötzlich das Gefühl, jemand drücke ihm mit beiden Händen die Kehle zu. „Ich kann einen Opferaltar erkennen. Das ist sicher eine Kultstätte!“, antwortete Sandra. 19
Ihr Blick fiel auf einen hellblauen Schal, der mitten in der Göttergruft lag. Sandra erstarrte, als sie ihn erkannte. Er gehörte Armin. „Armin?“, rief sie ängstlich. Gespenstische Stille lag über der geheimnisvollen Totenstätte. Armin antwortete nicht. Trotz seiner furchtbaren Angst beschloss Mario, in die Gruft zu klettern, um Sandra bei der Suche zu helfen. Das waren sie Armin schuldig. Die Gruft wirkte wahrlich geisterhaft. An den Wänden standen Tierstatuen, und vom gold- und edelsteinverzierten Opferaltar starrte der grässliche Kopf eines Fabeltieres mit durchdringenden Yakaugen (Yak = zottelige Tibetkuh) auf sie herab: Yamantaka, der Vater aller Götter. Sandra wollte noch einmal nach Armin rufen, als sie die seltsamen Geräusche wieder hörte. Diesmal schienen sie aus der Felsspalte zu kommen. Aufgeregt fuhr das Mädchen herum und richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe darauf. Einen Augenblick lang glaubte sie ein Gesicht zu sehen. Sandra erschauderte. Es war kein gewöhnliches Gesicht, sondern das Gesicht eines … eines weiblichen Zombies! Der Tod starrte ihnen in Form eines Antlitzes entgegen, von dem die Haut in Fetzen herabhing und an manchen Stellen bereits die Knochen freigab. Sandras Gedanken rasten. Sie wollte ihren Freund warnen, konnte sich aber vor Entsetzen kaum bewegen. Sie war wie gelähmt. Es dauerte einige Momente, bis sie sich zu Mario umgedreht hatte, um ihn auf den Zombie aufmerksam zu machen. Als sich die beiden dem Felsspalt zuwandten, war das grässliche Gesicht verschwunden. Da zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich: Yamantaka. Seine weit aufgerissenen Augen begannen zu 20
leuchten, und die Steinstatuen, die ihn flankierten, erbebten schaurig. „Was geht hier vor?“, flüsterte Mario verwirrt und sah Sandra fragend an. Die Augen leuchteten immer heller, und eine der beiden Statuen schien ihre Position wie von Gespensterhand geführt zu verändern. Sandra und Mario dachten in diesem Augenblick nur an eins: Flucht! Doch da sahen sie wieder Armins Schal vor sich liegen. Und dann fuhr ihnen erneut der Schreck in die Glieder: Sie waren so von Yamantaka gebannt gewesen, dass sie die Gestalt, die neben dem Altar stand, nicht bemerkt hatten. Sie trug eine bodenlange Kutte und hatte sich eine spitze Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Kapuze wirkte innen seltsam erleuchtet. „Der … der Todesmönch“, japste Mario erschrocken und wich knochenbleich einen Schritt zurück. Eine dumpfe Stimme sprach aus der Kapuze: „Ihr habt es gewagt, den ewigen Schlaf der Götter zu stören, deshalb werdet auch ihr hier euer Grab finden!“ Der Todesmönch hob langsam den rechten Arm. Seine Hand hielt Armins Rucksack. Ein lautes Lachen dröhnte durch das Gewölbe, und eine der beiden Statuen fiel krachend um. „Er hat Armin getötet …“, wimmerte Sandra. Sie wichen noch weiter zurück, doch ihre Lage schien aussichtslos. Draußen wartete bestimmt die Zombiefrau auf sie!
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Die Zombiefrau
Mario zwängte sich mit schlotternden Knien durch den Felsspalt. Ohne hinzusehen, konnte er förmlich spüren, wie der klapprige Wächter des Göttergrabes sich näherte. Bald würden auch ihre Rucksäcke wie abgeschlagene Köpfe in seinen Knochenhänden baumeln. In ihrer Panik wollten sich Sandra und Mario gleichzeitig durch den engen Spalt drängen und stürzten auf den staubigen Boden, als hinter ihnen ein vertrautes Lachen erklang. „Und ihr wollt Meisterdetektive sein? Jämmerliche Hasenfüße seid ihr!“ Armin stand wenige Schritte hinter den beiden. Er hatte sich eine schwarze Mönchskutte übergeworfen und mit der Taschenlampe darunter auf sein Gesicht geleuchtet. Er sah wirklich gespenstisch aus. „Das kommt davon, dass ihr ständig im Kino hockt. Horrorfilme sind nur was für Leute wie mich, mit Nerven wie Drahtseile“, rief er kichernd. „Manchmal würde ich dich am liebsten auf den Mond schießen – du mit deinen dummen Streichen!“, fuhr Mario ihn gereizt an. „Ich wollte euch doch nur beweisen, dass die Legende Unsinn ist. Es gibt weder Zombies noch einen Todesmönch oder schlafende Götter hier oben.“ Sandra blickte auf die dünne Schnur in Armins Hand, 22
die an der umgestürzten Statue befestigt war. Zwischen all den Spinnweben war sie ihr nicht aufgefallen. „Du hast dir die Kutte von den Filmrequisiten genommen, um uns einen Schreck einzujagen. Das zahle ich dir heim!“ Sandra war sichtlich verärgert. Ihr Herz raste noch immer. „Seid froh, dass euch der Todesmönch am Leben ließ. Meine Sachen habt ihr hoffentlich eingesammelt“, meinte Armin und schlüpfte aus der Kutte. „Wie bist du nur auf diese Idee gekommen? Woher hast du von der Gruft gewusst?“, fragte Mario verwundert. „Alan Morgan hat mir davon erzählt; er will hier drehen. Schon viele Pilger und Fremde sind hier angeblich spurlos verschwunden. Sie haben alle geglaubt, dass sie hier den heiligen Gral finden würden, jenen goldverzierten Kelch, den die Kreuzritter einst aus Jerusalem mitgebracht haben sollen und der Unsterblichkeit verleiht, wenn man aus ihm trinkt. Aber der Todesmönch hat alle erwischt und auf dem Altar dort den Göttern geopfert. Und euch hätte er auch schon fast gehabt …“ „Ein schlechter Witz“, fauchte Mario verärgert. „Lasst uns endlich abhauen. Mir reichts für heute. Du verkleidest dich als Todesmönch, sie sieht eine Zombiefrau. Ich hätte bei der Crew bleiben sollen.“ Nacheinander zwängten sie sich durch den Felsspalt und gingen dann im Gänsemarsch zur Treppe zurück. Als sie dort ankamen, stritten sie noch immer über Armins gemeinen Scherz. Doch die Diskussion nahm ein schnelles Ende, als ihnen jemand den Weg versperrte. Breitbeinig stand die finstere Gestalt auf der Treppe und starrte auf die SAMMitglieder herab. Ihre kantigen Gesichtszüge wirkten im 23
schwachen Licht des Kienspans, den sie hielt, noch furchteinflößender. „Wer sind Sie?“, brachte Mario zögernd hervor. „Wir gehören zum Filmteam von Alan Morgan. Wir haben die Erlaubnis, uns hier umzusehen.“ Armin kramte seinen Crewausweis aus der Hosentasche und hielt ihn der Gestalt hin, doch die nahm keine Notiz davon. Sandra, Armin und Mario blickten einander ratlos an. Nach einer Weile wagten sie sich ein paar Stufen hinauf. Die Gestalt kam nun ihrerseits einige Schritte herunter. Mit Schreck erkannten sie, dass es die Zombiefrau war, die Sandra im Felsdurchgang erblickt hatte. Ihr Gesicht war halb verwest. Sie hatte tiefe Augenhöhlen und hervorstehende Backenknochen. Am Kopf waren nur vereinzelte graue Haarbüschel und herabhängende Hautfetzen. „Tun … tun Sie uns bitte nichts …“, stotterte Armin. „Die Dienerin des Todesmönchs!“, japste Mario. Langsam stieg die Frau noch zwei Stufen herab und beugte sich mit stechendem Blick über Mario. Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe. Die Zombiefrau hob den Kienspan und versengte ihm die Stirnfransen. Sandra schielte zu Armin hinüber. Jetzt lachte er nicht mehr über die Legende. Sandra wurde von Panik gepackt und rannte mit einem gellenden Schrei die Treppe hinunter. Mario nutzte die Ablenkung und schlug der Zombiefrau den Kienspan aus der Hand; von Armin gefolgt, hastete er ebenfalls die lange Treppe hinunter. In ihrer Angst achteten die Freunde nicht darauf, wo sie hinrannten. Die abscheuliche Zombiefrau hatte den Kienspan wieder aufgehoben und verfolgte die drei Freunde. 24
Trotz der Kälte schwitzte Mario plötzlich am ganzen Körper. Bei jeder Richtungsänderung musste er an Filme und Bücher denken, in denen tödliche Fallen vorkamen. Keuchend hielten sie kurz inne, um zu verschnaufen, dann rannten sie eine andere Treppe wieder hinauf. Die drei trauten ihren Augen nicht, als sie um die Ecke bogen. Die Treppe endete an einem steilen Abgrund, einer Fallgrube. Armin konnte im letzten Moment abbremsen und schubste dabei einen Stein in die Tiefe. Es dauerte fast 20 Sekunden, bis man ihn auf Wasser aufschlagen hörte. „Eine Sackgasse!“, rief Armin. „Wir müssen umdrehen, schnell!“ Doch hinter ihnen stand bereits die Zombiefrau, zeigte mit dem Finger auf sie und verkündete mit drohender Stimme: „Der Zorn der schlafenden Götter wird euch treffen, und sie werden euer Leben nehmen, um selbst zu neuem Leben zu erwachen. Geht zurück in das Tal, weg von hier, bevor es für immer zu spät ist!“
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Ein weiterer Stein plumpste in die Tiefe und ließ die drei Freunde zusammenzucken. Im selben Augenblick war die Zombiefrau verschwunden. Es dauerte noch eine Weile, bis sich die drei ein wenig gefangen hatten und ihnen bewusst wurde, dass sie auf ihrer Flucht oft die Richtung geändert hatten und tief ins Innere des Klosters vorgedrungen waren. „Wie viel Zeit bleibt uns wohl, um den richtigen Weg zu finden?“, meinte Armin. „20 Stunden vielleicht, dann sind wir vom Herumirren so geschwächt, dass wir erfrieren“, sagte Sandra und schlug die Hände vors Gesicht. „Wenn wir nicht vorher in eine Falle geraten und geköpft oder aufgespießt werden …“, ächzte Mario mit klappernden Zähnen. Er musste wieder an die vielen verschwundenen Besucher des Klosters denken. Würden sie die Nächsten sein?
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Leuchtende Tritte
Armin wickelte sich den Wollschal fest um den Hals und hockte sich auf seinen Rucksack. Guter Rat war jetzt teuer. Jede falsche Entscheidung konnte sie das Leben kosten. Nach einer Weile brach Mario das düstere Schweigen. „Sie muss es gewusst haben“, sagte er nachdenklich. „Ja, ja“, sagte Sandra gleichgültig. „Die Zombiefrau hat wahrscheinlich schon seit einigen Tagen auf uns gewartet …“ Mario warf seiner Freundin einen verächtlichen Blick zu. Sandra nahm seine Spekulationen am Anfang nie ernst. Sie hielt sich lieber an die Fakten. „Dass wir vor einer Frau mit Zombiegesicht geflohen sind, streitest du aber nicht ab, oder?“, gab er gereizt zurück. „Vielleicht wohnt sie hier im Potala Kloster, ohne dass jemand davon weiß“, meinte Armin. „Aber es deutet absolut nichts darauf hin, dass jemand hier wohnt“, erklärte Sandra. „Wir haben nichts gefunden, weder Möbel noch Brennstoff noch Licht. Nein, hier haust mit Sicherheit niemand.“ „Außerdem ist es keine Kunst, jemanden hier herauf zu verfolgen und sich hinter ihm ins Kloster zu schleichen. Hinter den Felsen kann man sich gut verstecken“, sagte Armin. 28
„Ich sehe das anders“, widersprach Mario. „Außer Alan Morgan und der Filmcrew hat niemand eine Ahnung, welche der Tempeltreppen und Gänge ungefährlich sind. Kein Mensch würde so ein Risiko auf sich nehmen und sein Leben aufs Spiel setzen, nur um uns einen Schreck einzujagen.“ „Wer sagt überhaupt, dass sie wegen uns hier war?“, warf Sandra ein. Armin und Mario wechselten einen raschen Blick. Sie ahnten, worauf ihre Freundin hinauswollte. „Bloß weil es von Fallen nur so wimmelt, muss hier noch lange kein geheimnisvoller Schatz verborgen liegen“, wehrte Armin ab. Sandra grübelte und trommelte dabei nervös mit den Fingern auf ihren Knien herum. „Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, dass jemand sein Leben riskiert, um uns zu verscheuchen.“ „Wir sitzen ganz schön in der Tinte“, sagte Mario und erhob sich. „Wir müssen uns beeilen rauszukommen, bevor die Batterien der Taschenlampen leer sind.“ „Null Problemo!“, grinste Armin. „Ihr könnt froh sein, dass ihr einen so hellen Kopf wie mich zum Freund habt.“ Sandra und Mario verstanden kein Wort, Neugierig sahen sie ihrem Freund zu, wie er einen UV-Filter aus seinem Rucksack holte und ihn vor seine Stablampe schraubte. Stolz richtete er den gedämpften Strahl auf den Steinboden. Sandra und Armin rissen erstaunt die Augen auf, als plötzlich gelb leuchtende Fußspuren zu sehen waren. „Wie … wie hast du das gemacht? Was ist das?“, fragte Sandra ganz perplex. „Phosphorlösung“, dozierte der Spurensicherungsfreak 29
stolz. „Die Polizei verwendet sie, um Reste von Blutspuren sichtbar zu machen. Ich habe das Tiefprofil meiner Schuhe damit gefüllt und … hier ist der Weg nach draußen.“ „Eins muss ich dir lassen: Manchmal hast du wirklich geniale Ideen. Das war wieder mal spitzenmäßig“, freute sich Sandra. Marios Magen knurrte wie ein Löwe, als sie nach fast einer halben Stunde die Haupttreppe erreicht hatten, über die sie in das Tempelinnere vorgedrungen waren. Zuvor, als das Licht etwas besser geworden war, hatten sie auch die Spuren der Zombiefrau entdeckt. Die drei Freunde waren über die Richtung erstaunt, in die die Tritte führten. Sie endeten am steilen Abgrund vor dem Eingang zur Göttergruft! „Sieht aus, als wäre die Faulvisage abgestürzt“, ätzte Sandra. „Ist mir völlig egal“, zischte Mario. „Ich hau hier ab, so schnell es geht!“ Über vier Stunden waren verstrichen seit ihrer Ankunft, als die drei Freunde endlich ins Freie traten. Die Sonne ging bereits unter und tauchte die nackte Felslandschaft mit ihrer spärlichen Vegetation und die tiefen Schluchten in ein gespenstisches Farbenspiel. „Verdammt spät … Wir haben noch die Adlerschlucht und die gefürchtete Hängebrücke über den Fluss vor uns!“, rief Armin besorgt. „Red nicht so viel, dann kommen wir schneller voran“, mahnte ihn Sandra. Sie wusste selbst, dass die bitterkalte Gebirgsnacht sie gleich einholen würde. Und was das bedeutete, war ihnen allen klar. Temperaturen von minus 30° C waren in diesen Regionen nichts Besonderes. 30
Plötzlich sahen sie, wie sich ihnen auf dem schmalen Weg eine Staubwolke näherte. „Das ist das Motorrad von Herrn Morgan!“, stellte Sandra erleichtert fest. Die Geländemaschine hatte einen Beiwagen, der nicht zu ihr passte. Aber in dieser Landschaft ließ sich die schwere Filmausrüstung so am besten transportieren. „Da seid ihr ja endlich!“, rief die Fahrerin gereizt. Es war Marisa Kelly, die Cutterin. „Wir haben uns schon Sorgen um euch gemacht. Los, springt auf, Alan will noch einige Szenen besprechen, die morgen gedreht werden sollen.“ Froh über die unverhoffte Rettung saßen die drei Freunde auf. Dann tuckerte das Motorrad die steinigen Serpentinen hinab in Richtung Zeltlager, das am Rande einer kleinen Siedlung am Ufer des Yamdrok-Sees aufgeschlagen war. „Das Kloster ist gewaltig, findet ihr nicht?“, sagte Marisa. „Ich bin sicher, dass wir es schaffen, die einzigartige Magie dieses heiligen Ortes den Zusehern zu vermitteln. Wir werden herrliche Bilder einfangen“, schwärmte sie. Die Cutterin merkte, dass das SAM-Trio vor Müdigkeit nicht gerade gesprächig war. „Was ist los mit euch? Seid ihr im Kloster verflucht worden?“, kicherte sie. „Ich hab gehört, dass die tibetischen Mönche ihren Tempelstatuen als Augen magische Steine einsetzen, um die Aura der Menschen zu verändern. Sie werden dann immer schwächer, ohne es zu merken, und sterben. Habt ihr solche Statuen entdeckt?“ Die drei Freunde sahen einander an. Die Fragerei ging 31
ihnen auf die Nerven. Sie waren müde und hatten großen Hunger. „Wir haben nichts entdeckt außer der Göttergruft, die Alan schon vor drei Monaten betreten hat, als er das Gelände besichtigt hat“, antwortete Sandra auf die Frage der Cutterin. „Was daran so Besonderes sein soll, ist mir schleierhaft“, fügte Mario hinzu. „Mir ist auch nichts aufgefallen“, bestätigte das dritte SAM-Mitglied. „Laut Alan handelt es sich um eine der geheimnisvollsten Stätten der Erde“, sagte Marisa. „Was kann daran schon so wichtig sein, dass ein ganzes Filmteam dafür in ein asiatisches Hochgebirge reist?“, seufzte Armin. „Bestimmt erfahren wir im Lager mehr. Alan ist sicher schon zurück und kann uns erzählen, was er von dem Fremdenführer in Lhasa erfahren hat.“ Eine innere Stimme sagte Sandra, dass sie diese Rolle besser nicht hätte annehmen sollen. Zu Hause würde sie jetzt gemütlich in ihrem warmen Zimmer sitzen und ein Buch lesen. Nachdenklich drehte sie sich noch einmal zum Kloster um. „Irgendwas Unheimliches geht hier vor …“, murmelte sie. Sie sollte bitter Recht behalten!
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Wahnvorstellungen
Alan Morgan war ein Mann in den besten Jahren. Er galt in der Branche als einer der besten Filmproduzenten und Regisseure und war bekannt dafür, dass er sich immer unterbezahlt fühlte. Sein schwarzer Vollbart verdeckte einen Großteil seines ovalen Gesichts, seine wuscheligen Haare waren schon länger nicht mehr geschnitten worden, seine Kleidung wirkte abgetragen und schmuddelig. Zweifellos war er ein Fanatiker und hatte nichts anderes im Sinn, als die besten und aufregendsten Dokumentarfilme der Welt zu drehen, was ihm bis jetzt auch immer gelungen war. Wer seine Mätzchen nicht kannte, hatte kein leichtes Auskommen mit ihm. Oft verlangte er von seiner Crew, ohne Murren unter den widrigsten Umständen zu arbeiten. Deshalb kam es auch immer wieder zu Streitigkeiten innerhalb des Teams. Die Crew – Schauspieler, Kameraleute, Cutter, Beleuchter und Helfer – hatte ihr Lager, das aus Zelten, eigens umgebauten hochachsigen Lastwagen, Technikwagen und Motorrädern bestand, südlich der heiligen Stadt Lhasa aufgeschlagen. Umgeben von einigen kargen Lehmhütten, wohnten sie 33
am Ufer des Sees Yamdrok, eines Gewässers, das die Tibeter als heilig verehren, weil sich ihnen im Wasser von Zeit zu Zeit eine Göttin in Form eines Skorpions zeigt. Die SAM-Freunde hatten die geheimnisvolle Begegnung mit der Zombiefrau absichtlich für sich behalten. Wer würde ihnen schon eine so unwahrscheinliche Geschichte glauben? Sandras Gedanken waren beim Drehbuch. Dass die meisten Szenen im verlassenen Kloster rund um das Treppenlabyrinth spielten, erfüllte sie mit schaurigem Unbehagen. Sie war sich nicht sicher, ob Alan Morgan all die heimtükkischen Gefahren kannte und beschloss deshalb, den Regisseur ins Vertrauen zu ziehen. Schließlich ging es ja auch um die Sicherheit am Set. Sandra rieb sich die eiskalten Hände und zupfte an einer der Leinen des Zelts, in dem der Filmemacher arbeitete. Ein Ton wie von einer verstimmten Gitarrensaite ließ den Regisseur aufhorchen. „Ja? Was ist denn?“, brummte er. Sandra trat ins Zelt; ein Eisenofen, der mit getrockneten Yakfladen beheizt wurde, sorgte für Wärme. „Ich habe viel zu tun, siehst du das nicht? Du solltest dich besser auch auf den ersten Drehtag vorbereiten.“ Alan Morgan schien irgendwie aufgeregt und kramte planlos in seinen Sachen herum. „Ich halte Sie bestimmt nicht lange auf“, versprach Sandra. „Na, meinetwegen“, seufzte der Regisseur und ließ von seinen Unterlagen ab. Sandra hielt ihr Versprechen und hatte ihm in nur zwei Minuten alles mitgeteilt, was ihr von Bedeutung schien. Alan Morgan stand auf, goss sich eine Tasse Buttertee 34
ein und nahm einen kräftigen Schluck. Das Getränk dampfte vor Hitze, doch das schien er nicht zu spüren. Mit einem zweiten Schluck leerte er den Becher. Sandra beobachtete den Regisseur und glaubte in seinen Gesichtszügen Nachdenklichkeit zu erkennen. „Wer war diese … Zombiefrau?“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Oh, entschuldige bitte“, erwiderte Morgan nach einigen Augenblicken. „Ich habe an den Film gedacht. Solche Trugbilder können in diesen Berghöhen schon mal vorkommen. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist hier ziemlich gering, dadurch kann es zu Wahnvorstellungen kommen. Das braucht dich nicht weiter zu beunruhigen.“
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„Das war aber eine ziemlich lebendige Wahnvorstellung“, bemerkte Sandra skeptisch. „Sag bitte allen anderen, dass der Drehort ab heute nur mehr mit meiner ausdrücklichen Genehmigung betreten werden darf. Ich möchte keinen Ärger mit dem Dalai Lama wegen einer Entehrung der heiligen Stätte. Und jetzt lass mich bitte allein“, sagte der Regisseur und begann wieder in seinen Unterlagen zu wühlen. „Ich hab dir doch gleich gesagt, dass er die Geschichte nicht glaubt“, sagte Mario, als die drei auf dem Weg zum Mannschaftszelt waren, um für den nächsten Tag einige Szenen durchzubesprechen. „Den Weg hättest du dir sparen können.“ „Er hat jedenfalls komisch reagiert“, beharrte Sandra. Der Koproduzent Mark Miles erklärte gerade den Ablauf des nächsten Drehtages. „… eine kleine Änderung ist kurzfristig eingetreten“, sagte er. „Ich darf euch einen neuen Schauspielkollegen vorstellen, der Viktor ersetzen wird. Leider hat Viktor uns heute Nachmittag überraschend verlassen. Er ist ein bisschen abergläubisch und glaubt, wir drehen an einem verbotenen Ort, dessen Fluch ihn umbringen wird – so wie es angeblich einigen Schauspielern ergangen ist, die in ›Das Omen‹ mitspielten … Ich darf euch hiermit Paul vorstellen.“ Paul, ein hagerer Kerl mit dunkelblonder Igelfrisur und schmalen Lippen, trat einen Schritt vor, um ein paar Worte an das versammelte Team zu richten. „Wie ich heiße, wisst ihr ja schon. Bleibt mir nur zu sagen, dass ich auf eine gute Zusammenarbeit hoffe und mich bemühen werde, mich, so schnell es geht, in die Crew einzufügen. Es sollte mir nicht allzu schwer fallen, denn im Gegensatz zu Viktor glaube 36
ich nicht an das Schauermärchen, dass über jeden, der den heiligen Berg betritt, ein tödlicher Fluch verhängt wird. Aber so war Viktor schon vor zwei Jahren. Damals drehten wir gemeinsam in Indien.“ „Hat noch jemand Fragen?“, wollte Mark wissen. „Konnte Ihnen der Fremdenführer in Lhasa etwas über die Geschichte des Klosters sagen?“, wandte sich Sandra an Alan Morgan, der inzwischen zum Team gestoßen war. Er wurde nachdenklich. „Er … hat mir nichts Neues gesagt.“ „Ich meine, über die angebliche Existenz des Grals“, setzte Sandra nach. Ihre Schauspielkollegen horchten verwundert auf, die Miene des Regisseurs verfinsterte sich. Die Frage schien ihm sichtlich unangenehm zu sein. „Es gibt viele Sagen und Legenden über Potala. Niemand weiß, ob sie wahr oder erfunden sind. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, das festzustellen“, lautete die kurz angebundene Antwort des Regisseurs. Danach verließ er die Crew wieder. Mario und Armin wandten sich zu ihrer Freundin. Diese murrte: „Der glaubt wohl, ich spinne! Trugbilder, Halluzinationen! So ein Quatsch. Wir werden ja sehen, wer hier Trugbilder sieht …“ Sandras Freunde waren in Anbetracht der jüngsten Erlebnisse in der Göttergruft nicht gerade glücklich über ihren Beschluss, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie hatten eine böse Vorahnung …
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Eine unglaubliche Entdeckung
„Auf keinen Fall!“, rief Armin bestürzt. „Angenommen, wir werden dabei erwischt. Wer weiß, was uns dann blüht?“ „Okay, Herr Hasenfuß. Falls du eine bessere Idee hast, wie wir was rausfinden, dann leg los. Wir sind ganz Ohr“, sagte Sandra spitz. „Der Plan ist viel zu durchsichtig“, beharrte Armin. „Da haben wir schon viel waghalsigere Aktionen hinter uns!“, versuchten Mario und Sandra, Armin zu überzeugen. Schließlich sagte sich der Junge, dass es ohnehin keinen Sinn hatte, seinen beiden Freunden zu widersprechen, wenn sie sich einig waren. Sie würden die Sache auch ohne seine Hilfe durchziehen, da bestand nicht der geringste Zweifel. Armin gab also nach. Der Ehrenkodex der SAMDetektive verlangte, dass Ermittlungen nur zu dritt durchgeführt wurden. „Noch zehn Minuten, dann kann Plan A in Kraft treten“, flüsterte Mario, der am halb offenen Eingang ihres Zeltes hockte und auf die Uhr sah. Alan Morgan verstaute das Drehbuch in seiner Jackentasche und zog den Reißverschluss seines Arbeitszeltes hinter sich zu. Gedankenverlo38
ren schlenderte er am Seeufer entlang zum Schneidewagen. Der Regisseur beendete seinen Tag immer mit einem Besuch bei Marisa. Die Aufnahmen des Tages wurden analysiert und auf Regiefehler überprüft. Es kam immer wieder vor, dass Szenen am nächsten Tag wiederholt werden mussten, was die Produktionskosten enorm ansteigen ließ. Die Freunde beobachteten ihn. Als Morgan den mobilen Schneideraum betreten hatte, begann Armins Einsatz. Die Hände tief in den Hosentaschen, trottete er zu Marisas Arbeitswagen, um Morgan mit Fragen aufzuhalten und seinen Kollegen Zeit für ihr riskantes Vorhaben zu verschaffen. Sandra hatte sich um die restlichen Crew-Mitglieder zu kümmern, die in einer Dorfschenke beisammensaßen und den nächsten Drehtag besprachen. „Entschuldigt bitte, dass ich zu spät komme“, sagte das Mädchen freundlich, als sie eintrat. Überrascht unterbrachen ihre Kollegen das Gespräch. In ihren Gesichtern stand Verwirrung. Offenbar hatten sie sich angeregt über den Gral des Todesmönchs unterhalten. „Wir haben gar nicht mit dir gerechnet“, sagte Mark Miles erfreut und bot ihr einen Platz an. „So spät noch Lust auf Arbeit?“ „Ich wollte mit euch noch eine Szene besprechen, die wir morgen drehen und die mir noch nicht ganz klar ist“, antwortete Sandra. „Wir können dann vielleicht später darüber reden.“ Sie mischte sich unter das Filmteam und setzte sich so, dass sie den Schneidewagen durch ein Fenster im Auge hatte. Die nächste halbe Stunde durfte niemand in die Nähe von Morgans Behausung kommen, denn Mario hatte eine 39
sehr schwierige Aufgabe zu bewältigen. Niemand durfte Verdacht schöpfen! Als Sandra ihren Platz eingenommen hatte, pirschte Mario im Schatten der Umgebung zum Regiezelt und machte sich an Alan Morgans Laptop zu schaffen. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren irgendwo wichtige Daten gespeichert, die Morgan bewusst vor allen anderen geheimhielt. Vielleicht befürchtete er, dass die Crewmitglieder ihre Verträge kündigten und das Projekt sausen ließen, wenn sie davon erfuhren? Sein Spürsinn hatte den Jungen in solchen Angelegenheiten noch nie im Stich gelassen. Geheimnisse schienen ihn förmlich anzuziehen. Aufgeregt durchsuchte er den Schreibtisch des Filmemachers und fand in der oberen Lade eine Diskette mit einem merkwürdigen Symbol darauf. Er legte sie ein und überflog das Dateiverzeichnis. Die Namen der Dateien gaben nicht eindeutig Aufschluss über ihre Inhalte, aber sie sagten genug aus, um Entsetzliches ahnen zu lassen. Mario bekam eine Gänsehaut. Er hatte bereits einige Vermutungen angestellt, doch seine Entdeckung lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung. Weil er in der kurzen Zeit unmöglich alle Dateien durchgehen konnte, klickte er wahllos eine an. Als der Text am Bildschirm erschien, erschrak der Junge. Wenn das, was hier stand, stimmte, konnte es die Welt mit einem Schlag verändern und denjenigen, der im Besitz des Geheimnisses war, reich und … unsterblich machen! Mario nahm die Diskette aus dem Laufwerk. Sie trug keinen Hinweis auf ihre Herkunft. Der Junge stellte sich ernsthaft die Frage, wer ein solch gefährliches Wissen so 40
leichtfertig aus der Hand gab. Jemand, der die schreckliche Tragweite nicht erkannt hatte? Alan Morgan hatte die Tagesschnitte bereits mehrmals kontrolliert und für gut befunden. Der Arbeitstag war lang genug gewesen. Er gab noch ein paar kurze Anweisungen für den nächsten Drehtag, dann wollte er den Schneidewagen verlassen. Armin wusste keine Fragen mehr. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Mario noch etwa fünf Minuten brauchen würde. „Da … da ist noch ein Kameraschatten in einer Einstellung zu sehen!“, rief er. „Du irrst dich, Junge. Wir haben alles sorgfältig überprüft. Ich bin müde und will schlafen gehen.“ Noch vier Minuten. Hartnäckig blieb Armin vor der Tür stehen. Die Miene des Regisseurs verfinsterte sich, und er drängte Armin zur Seite. „Gute Nacht, Marisa. Gute Arbeit!“, brummte er und trat auf die kleine Metalltreppe hinaus. Armin sah keinen anderen Ausweg mehr und stellte Morgan ein Bein, sodass dieser stürzte. „Verdammter Mistwagen!“, fluchte der Regisseur, als er sich wieder hochrappelte, mehrere Papiere einsammelte und auf sein Zelt zusteuerte. Armin blickte auf die Uhr. Drei Minuten zu früh. Ihr Plan war gescheitert, und Mario blieb keine Zeit mehr, zu fliehen.
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Tödliches Wissen
Mario druckte gerade eine Datei aus. Er fuhr erschrocken herum, als von draußen plötzlich etwas gegen die Zeltplane schlug. Dann ein zweites und ein drittes Mal. Danach ein Käuzchenruf. Die SAM-Mitglieder wählten als Alarmsignal meist Tierstimmen, die es in dem Land, wo sie sich gerade befanden, nicht gab. Mario lugte kurz aus dem Regiezelt und sah Alan Morgan wütend heranstapfen. „Ich sitze in der Falle!“, dachte er. Der Drucker arbeitete noch immer. Herr Morgan würde alles entdecken. Verzweifelt suchte er nach einem Fluchtweg. Das Zelt hatte nur einen Eingang. Der Regisseur kam immer näher. Mario wurde nervös. Armin, der die brenzlige Situation aus der Ferne beobachtete, rannte los, um Sandra zu holen. Sie war seine letzte Hoffnung. Wieder einmal war guter Rat teuer. „Es ist allein meine Schuld, wenn wir auffliegen“, ärgerte er sich, als er über den kleinen Dorfplatz eilte. Auf halbem Weg hielt er aufgeregt inne. Auf dem Dach der Dorfschenke hockte eine krumme Gestalt und belauschte die Gespräche der Filmcrew. Armin wagte kaum zu atmen. Er konnte nicht erkennen, 42
wer es war. Die Gestalt hatte ihm den Rücken zugewandt. Alan Morgan hatte inzwischen das Zelt fast erreicht. Armin musste herausfinden, wer der fremde Spion war. Mario war ohnehin gewarnt und würde sich selbst zu helfen wissen. Damit konnte er seinen Fehler wieder gutmachen. Auf leisen Sohlen überquerte er den Rest des Platzes und verschanzte sich hinter der kleinen Hütte neben der Schenke. Die Gestalt schien ihn nicht bemerkt zu haben. Das jüngste SAM-Mitglied huschte zur nächsten Ecke und stolperte dabei über einen Stein. Erschrocken fuhr die heimliche Gestalt herum, und das fahle Mondlicht erhellte ihr Gesicht. Armin stockte das Blut in den Adern: Es war die Zombiefrau! Er wollte fliehen, doch die hagere Gestalt sprang wie eine Katze vom Hüttendach und riss den Jungen zu Boden. Kräftige Finger legten sich um seinen Hals und drückten ihm die Kehle zusammen. „Schscht!“, zischte die Frau böse und fuchtelte mit einem blanken Messer vor Armins Augen herum. „Kein Wort, oder …“ Sie rammte das Messer knapp neben Armins Kopf in den Boden, zog es ruckartig wieder heraus und verschwand schnell in der Dunkelheit. Armin schnappte nach Luft. Dann blickte er zum Regiezelt hinüber und sah Morgan hineingehen.
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Gleichzeitig hob sich an der Seeseite die Plane ein Stück, und Mario kroch ins Freie. Wieder einmal war etwas gerade noch gut gegangen. „Es … es ist so unglaublich, ich krieg es selbst noch nicht auf die Reihe“, sagte Mario aufgebracht. „Nun mach mal halblang. Raus mit der Sprache“, drängte Armin. Mario setzte sich und wollte zu erzählen beginnen, als es hinter ihrem Zelt knirschte. „Habt ihr das auch gehört?“, fragte Sandra leise. „Vergiss es, das war nur der Wind. Ihr seht auch schon überall Gespenster“, meinte Armin. „Hört endlich zu“, zischte Mario. „Der Fremdenführer, den Morgan in Lhasa getroffen hat, konnte die Entstehungsgeschichte und den eigentlichen Zweck von Potala enthüllen. Aber niemand wollte ihm glauben. Erst als Alan Morgan eine Dreherlaubnis für einen Dokumentarfilm erhielt, sah er eine Möglichkeit, sein unglaubliches Wissen zu verbreiten. Sie haben sich heute in Lhasa getroffen.“ „Und? Weiter?“, drängte Sandra neugierig. „Vor einigen hundert Jahren soll einer jener letzten Kreuzritter im Potala Tempelkloster gesehen worden sein, die nach dem Scheitern des dritten Kreuzzuges unter Richard Löwenherz im Jahre 1303 das Heilige Land verlassen mussten. Er war folgedessen kein gewöhnlicher Ritter, sondern über 600 Jahre alt!“ „Ist die Märchenstunde bald vorbei?“, ätzte Sandra. Aber Mario fuhr unbeeindruckt fort: „Und jetzt haltet euch fest! Alte Schriften belegen, dass beobachtet wurde, wie der alte Ritter über den heiligen Berg Kailash und das 45
Hochgebirge wanderte und mit einem goldenen Kelch, den er zu beschützen schien, das Tempelkloster betrat. Er kehrte nicht zurück, und seine Leiche wurde auch nie gefunden. Man sagt, der Trank im Kelch macht unsterblich; die Götter, die im Potala Kloster schlafen, trinken davon, um aufzuerstehen und sich an den Menschen zu rächen, die ihre heilige Ruhe gestört haben. Der Ritter ist der Auserwählte und einzige Mensch, dem bislang erlaubt wurde, aus dem Kelch zu trinken. Als Dank muss er für immer den Gral beschützen. Wenn irgendjemand den Zorn der Götter entfacht, werden sie auferstehen und die Menschen schrecklich dafür bestrafen …“ Mario, das wandelnde Lexikon des Trios, war nun ganz bei der Sache. Er hatte viel über die Kreuzzüge in das Heilige Land und den Gral gelesen, jenen Kelch, in dem das Blut Jesu aufgefangen worden war. Jetzt konnte er Sandra und Armin mit seinem Wissen beeindrucken. Sandra hatte ihre Augen vor Staunen weit aufgerissen. „Wenn die Geschichte nicht erfunden ist, ist sie der Schlüssel zum ältesten Geheimnis der Welt!“, sagte sie staunend. „Bestimmt wurde sie deshalb auch so lange geheimgehalten. Wenn die Sache bekannt wird, kann das furchtbare Folgen haben“, stimmte Mario betroffen zu. „Kein Wunder, dass Alan Morgan mit keinem von uns darüber gesprochen hat“, meinte Armin. „Und Alan Morgan scheint etwas entdeckt zu haben. Jeder, der es vor ihm versucht hat, ist nicht mehr aus dem Kloster zurückgekehrt …“, grübelte Sandra. Langsam schien Licht in die Sache zu kommen – und damit kam auch die Angst. 46
Die Freunde sahen einander betreten an. Ihr neues Wissen bedrückte sie. In der Aufregung hatte keiner von ihnen bemerkt, dass sie belauscht worden waren. Ein knirschendes Geräusch entfernte sich von ihrem Zelt, und gleichzeitig rief jemand „Hallo!“.
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Sprechende Felsen
Sandra wagte sich kaum zu bewegen und sah ihre Freunde fragend an. Wer sollte sie zu so später Stunde noch aufsuchen? „Verzeiht bitte die nächtliche Störung, aber darf ich hereinkommen?“ „Wenns nicht zu lange dauert“, antwortete Sandra, nachdem ihre Kollegen mit einem Nicken zugestimmt hatten. Kurz darauf wurde der Reißverschluss hochgezogen, und Paul Foster, der neue Schauspieler, trat gebückt ein. Er schien sich bereits prächtig an die schwierigen Bedingungen in Tibet gewöhnt zu haben und hatte ein freundliches Lächeln in seinem schmalen, blassen Gesicht. Sein frisch geschorener Kopf erinnerte fast an einen buddhistischen Mönch. Er machte einen hellwachen und unbekümmerten Eindruck. „Eigentlich wollte ich nur mit Sandra sprechen, aber ihr könnt ruhig hier bleiben, wenn ihr wollt“, sagte er. „Ich habe da auf Video ein paar Tipps von großen Schauspielern, wie man Monologe am besten einstudiert, und habe gedacht, das interessiert dich vielleicht. Wenn du noch Lust hast, zeige ich sie dir gern.“ Sandra war heilfroh über das Angebot, schließlich mus48
ste sie vor der Kamera bestehen, um nicht aus dem Team zu fliegen. Mario und Armin hielten vom Schlafengehen auch noch nichts. Gemeinsam gingen sie in Pauls spartanische Behausung und setzten sich mit einer großen Tasse Buttertee vor ein tragbares TV-Gerät, an das ein Videorekorder angeschlossen war. Foster kramte in seinem Gepäck nach einer bestimmten Videokassette. Als er die richtige gefunden hatte, legte er sie ein. „Ich hoffe, wir können die Dreharbeiten an diesem unheimlichen Ort zeitgemäß abschließen“, murmelte er. „Eigentlich müsste es doch jedem auffallen.“ Die drei Freunde schenkten seinen Worten nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Erst als er weitersprach, erwachte ihr Interesse. „Viktor schrieb mir einen sehr merkwürdigen Brief, als er hörte, dass ich für ihn die Rolle übernehmen sollte. Er riet mir dringend davon ab. Er hatte böse Vorahnungen.“ Der Monolog, den Greta Garbo am Bildschirm gerade sprach, war plötzlich vollkommen uninteressant. „Wollt ihr noch Buttertee?“, fragte Paul, als er sich seinen Gästen zuwandte, die ihn verblüfft anstarrten. „Habe ich was Falsches gesagt, weil ihr mich so anstarrt?“ „Nein, nein“, erwiderte Armin. „Ich dachte nur über den seltsamen Brief nach. Vielleicht weiß Viktor etwas, das wir nicht wissen.“ „Ich finde den Brief nicht seltsam“, sagte Paul. „Schließlich drehen wir an einem Ort, der für Normal49
sterbliche nicht zugänglich ist. Wer kann schon sicher sein, dass an den Legenden nicht doch etwas dran ist?“ „Du meinst wirklich, wir könnten den Zorn der Götter entfachen?“, fragte Mario verdattert und sah dabei Paul an. „Viele seltsame Dinge geschehen um uns“, bemerkte Paul. „Das ist doch alles nur Touristenquatsch. Reine Fantasie!“, sagte Sandra. „Denkt nur an die vielen UfoSichtungen. Keine hat je wirklich stattgefunden. Da wollte sich immer nur irgendjemand wichtig machen.“ „Und doch fehlen der Wissenschaft schlüssige Erklärungen für viele Phänomene.“ Pauls Miene verriet, dass er an etwas dachte, was er selbst erlebt hatte. Das Video war zu Ende und mit einem lauten Klicken begann der Rekorder das Band zurückzuspulen. „Jetzt habe ich so gut wie nichts mitbekommen“, raunte Sandra und sah auf die Uhr. „Es ist schon spät, wir sollten schlafen gehen. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns“, schlug Mario vor. „Eine gute Idee, machen wir uns auf die Socken“, pflichtete Armin ihm bei und verabschiedete sich von Paul. „Geht ruhig schon vor. Ich möchte mir das Ende des Bandes noch einmal ansehen“, sagte Sandra und startete die Aufzeichnung erneut, als ihre beiden Freunde nach draußen verschwanden. Eine halbe Stunde später hatte sie sich genügend Tricks abgeschaut und wünschte ihrem Schauspielkollegen eine gute Nacht. Sandra beschloss, noch ein paar Minuten am Ufer des heiligen Sees spazieren zu gehen, um ihre Szene im Kopf noch einmal durchzuspielen. 50
Der Mond stand majestätisch am Himmel und brachte den See silbrig zum Glitzern. Im Hintergrund ragten die Berge wie mahnende Wächter eines Geheimnisses zu den funkelnden Sternen auf. Sandra hatte ihr Zelt schon fast erreicht, als sie hinter einem Steinwall plötzlich ein seltsames Geräusch vernahm. Die Felsen schienen zu sprechen! Sandra schlich näher und kletterte leise hinauf. Vorsichtig schob sie den Kopf so weit vor, dass sie auf der anderen Seite hinunterblicken konnte. In einiger Entfernung machte sie zwei Gestalten aus, die in dicke Wolljacken gehüllt auf einem Felsvorsprung hockten und etwas zu besprechen schienen. Sandra erkannte die größere der beiden. Sie war also nicht die Einzige gewesen, die nach dem Ende des Videos nicht gleich zu Bett gegangen war. Es war Paul Foster. Die beiden gestikulierten aufgeregt, woraus das Mädchen schloss, dass es gröbere Verständigungsprobleme gab. Der hochgeschlagene Kragen der Winterjacke warf einen Schatten auf das Gesicht der zweiten Gestalt. Erst als sie nach einiger Zeit den Kopf wandte, war ihr Antlitz für einen kurzen Augenblick zu sehen. Bei dem Anblick erschrak Sandra und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es wehtat.
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Der Ritter in der Tempelkammer
„Nein, das glaube ich dir einfach nicht!“, beharrte Mario. „Das kann einfach nicht sein. Vielleicht hast du eine Halluzination gehabt, weil dein Gehirn in der dünnen Höhenluft zu wenig Sauerstoff bekommt.“ Sandra konnte es nicht fassen. Ihre Freunde behaupteten tatsächlich, sie habe weiße Mäuse gesehen. „Nur, damit wir uns richtig verstehen, ihr beiden Besserwisser: Mein Gehirn hatte ausreichend Sauerstoff, und das war mit absoluter Sicherheit ein Geheimtreffen, bei dem ein teuflischer Plan ausgeheckt wurde. Ich muss euch ja wohl nicht dran erinnern, wie oft uns mein Instinkt schon gerettet hat, oder? Da ist was im Gange, und das bedeutet Gefahr!“ Armin war nachdenklich geworden und blickte Sandra in die Augen. „Und du bist dir wirklich ganz sicher, dass es Paul und die Zombiefrau waren?“ „Na klar, Buttertee macht doch nicht besoffen!“, erwiderte Sandra. Der Junge versuchte seine grauen Zellen zu aktivieren. Was führten die beiden im Schilde? Je länger er nachdachte, desto merkwürdiger erschienen ihm die Vorfälle der letzten Tage. Viktor, der das Team fluchtartig verlassen hatte, die Drohungen der Zombiefrau und die seltsame Reaktion von Alan Morgan. Nicht zuletzt die Horrorlegenden über den Tempelpalast. 52
„Vielleicht ahnen die beiden, welch magische Kraft er besitzt, und wollen den Gral selbst finden. Dann hauen sie damit ab und sind über Nacht reich und … unsterblich, falls an der Legende was dran ist“, grübelte Mario, dem bei diesem Gedanken sichtlich unwohl war. „Möglicherweise wollen sie sich an den Kreuzritter heranmachen, der das Goldgefäß beschützt. Wenn es ihn gibt, wäre das ein Beweis für die Existenz des Kelchs und seine unglaubliche Wirkung“, fügte Armin hinzu. „Wenn der Heilige Gral dort oben versteckt ist, kann seine Entdeckung eine große Gefahr für die Menschheit darstellen. Denkt euch nur, er verleiht Mördern und Terroristen ewiges Leben …“, war Sandra außer sich. „Kriegt Frau Hasenfuß etwa weiche Knie?“, fragte Armin schelmisch. „Blödmann!“, fauchte Sandra zurück. „Ich frage mich bloß, warum ein Gralsritter ausgerechnet so weit abseits von seinem Kreuzzug ein Versteck suchte?“ „Gerade weil es so abseits liegt. Was könnte größere Sicherheit bieten, als ein unvermuteter Ort“, erklärte Mario. Alan Morgan wirkte während der ersten Drehminuten aufgeregt. Anders als sonst kritisierte er die schauspielerischen Leistungen kaum. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. „Ich fahre anschließend zum Potala Kloster hinauf und versuche noch ein paar gute Schauplätze zu finden. Bei einigen Szenen bin ich mir noch unschlüssig über Kamerapositionierung und Belichtung. Dreht inzwischen die Monologszenen ab.“ 53
Armin rempelte Sandra und Mario an. „Das ist unsere Chance, mehr herauszufinden. Wir schleichen ihm nach.“ Sandra machte sich beim Koproduzenten Mark Miles, der die Einzelszenen abdrehen sollte, mit einer Ausrede frei: Sie erzählte ihm, sie wolle die Landschaft noch ein paar Stunden auf sich einwirken und sich so inspirieren lassen. Es gab genügend andere Szenen, mit denen Mark beginnen konnte. Der Rucksack, in dem der Regisseur seine Ausrüstung verstaut hatte, war nicht gerade klein. Mit diesem Gewicht würde der Aufstieg zum Potala Tempelpalast länger dauern als gewöhnlich. Doch Alan Morgan war trotzdem so schnell unterwegs, dass die SAM-Freunde ihm kaum folgen konnten. Eine Serpentine nach der anderen ließ er hinter sich, bis Sandra unvorsichtig einige Steine lostrat, die polternd in die Tiefe stürzten. Der Regisseur blieb stehen und blickte sich um. Die drei Freunde hielten den Atem an und pressten sich gegen die Felsen, um nicht entdeckt zu werden. Erst nach einigen Minuten drehte sich Morgan wieder um und schritt zügig weiter in Richtung Potala. „Puuh, Glück gehabt“, flüsterte Sandra erleichtert. Vor dem Kloster angekommen, nahm der Regisseur den Rucksack ab und bereitete die Ausrüstung vor. Dann verschwand er im riesigen Eingangstor. „Wir dürfen keine Zeit verlieren, sonst entwischt er uns und wir finden ihn in diesem Labyrinth nie wieder“, drängte Armin. Auf leisen Sohlen schlichen sie in die Dunkelheit der heiligen Stätte. Sie konnten deutlich hören, wie Morgan 54
den schweren Rucksack über die Treppe in die Tiefe schleppte. Sie schraubten die Blaufilter vor ihre Taschenlampen, um das Licht zu dämpfen. Vorsichtig folgten sie dem Regisseur weiter in die gespenstische Finsternis. „Das werden die teuersten Bilder, die es jemals gegeben hat“, hörten sie die Stimme des Filmemachers von den Steinwänden widerhallen. Die drei Freunde drangen in das Herz des Tempels vor. Sandra bekam es langsam mit der Angst zu tun. Immer wenn der matte Schein ihrer Taschenlampe auf eine der Wände traf, starrten sie Dämonen an, die vor langer, langer Zeit hier aufgemalt worden waren. Schließlich erreichten sie einen düsteren Korridor mit Reihen von Götterstatuen. Die drei Freunde versteckten sich hinter den gewaltigen Statuen und beobachteten Morgan, der am Ende des düsteren Ganges auf dem staubigen Felsboden hockte und sich an seinem Rucksack zu schaffen machte. Hastig holte er verschiedene Gegenstände hervor. Die drei SAM-Mitglieder wagten sich mit zitternden Knien näher an ihn heran.
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Alan Morgan klopfte mit einem kleinen Hammer vorsichtig die Felswand vor sich ab, bis er an einer hohl klingenden Stelle einen Meißel mit Diamantkopf ansetzte und vorsichtig zu stemmen begann. Nach wenigen Minuten führte er einen winzigen Gegenstand, der am vorderen Ende eines dünnen Kabelstabes saß, durch das kleine Loch im Fels und setzte sich eine Virtual-Reality-Brille auf. Mit Hilfe einer kleinen Fernsteuerung konnte er die Minikamera bewegen und ihre Bilder auf einem Cybermonitor verfolgen und abfotografieren. Ein kleiner Entwicklerkasten druckte die Bilder unmittelbar aus. „Oh nein!“, entfuhr es dem Regisseur. Er klickte auf einen der Steuerknöpfe, und das erste Bild kam aus dem Drucker. „Das … das kann doch nicht wahr sein!“, rief er entsetzt. „Das ist biologisch doch vollkommen unmöglich!“ Ein weiteres Bild schob sich aus dem Drucker. Mario reckte den Kopf immer weiter aus dem Versteck, um mehr zu erkennen. Ihm wurde klar, dass Alan Morgan den Tempelraum mit einer Infrarotkamera fotografierte, die Wärmestrahlung festhielt: Auf den Bildern konnte man Wärmequellen als Felder einer bestimmten Farbe erkennen. „Wenn das die Welt erfährt“, murmelte der Regisseur. „Nicht auszudenken!“ Er legte das Foto beiseite, um ein weiteres zu schießen. Jetzt konnte Mario einen genaueren Blick auf das Bild werfen. Der Junge erstarrte, als er die Farbflecken plötzlich zu deuten vermochte.
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Ein schrecklicher Verdacht
Zuerst konnte Mario es einfach nicht glauben. Er kniff die Augen zusammen und spähte noch einmal auf den Ausdruck, doch das Bild blieb unverändert. Der Gegenstand am rechten unteren Bildrand war zweifelsfrei ein mittelalterliches Schwert. Ein großes Schwert, ein sogenannter Bidenhander, der mit beiden Händen geführt wurde und so schwer war, dass nur die stärksten Männer mit ihm kämpfen konnten. Die beidschneidige Klinge hatte einen rautenförmigen Querschnitt, am Ende des langen Griffes saß ein Fischschwanzknauf. Marios Gedanken rasten. Er erinnerte sich an den Geschichtsunterricht. Das Schwert war die wichtigste Waffe des Ritters und das Symbol des Rittertums schlechthin. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts wurde mit dem zweischneidigen Schwert gekämpft, erst mit dem Aufkommen der Plattenrüstungen wurden die Schwerter dann spitzer, damit sie besser durch die Lücken zwischen den Platten dringen konnten. Doch die Gestalt, die neben dem Schwert kauerte, trug keine Rüstung, sondern ein kleidähnliches Gewand. Mario tippte sofort auf das Kettenhemd eines Kreuzritters. Alan Morgan zog die Spezialkamera langsam wieder zurück. Er nahm die Brille ab und sammelte mit zittrigen 58
Händen die ausgedruckten Bilder ein. Sorgfältig verstaute er sie im Rucksack und setzte sich dann, an eine der mächtigen Götterstatuen gelehnt, auf den Boden. Seufzend verbarg er das Gesicht in den Händen. „Warum ich? Warum ausgerechnet ich?“, stammelte er verzweifelt. Schließlich hob er den Kopf und schrie in die Dunkelheit: „Neiiiin! Ich will diese Last nicht tragen, ich will nicht!“ Noch während der Verzweiflungsschrei durch die Gänge hallte, stürzte der Kopf der Statue, an die sich der Regisseur lehnte, herab und schlug nur wenige Zentimeter neben ihm ein. Der Kopf zersplitterte in tausend Stücke. Das SAM-Team hatte die ungewollte Bestätigung für seinen schrecklichen Verdacht erhalten. Es gab keinen Grund, noch länger in der Tempelanlage zu bleiben. Sandra nutzte den Lärm und die dadurch bedingte Unaufmerksamkeit Morgans, um ihren beiden Kollegen das Zeichen zum Rückzug zu geben. Sie kannten nun ein Geheimnis, das die ganze Menschheit vernichten konnte, wenn es in die falschen Hände geriet! Handelte es sich bei der Gestalt auf dem Foto wirklich um einen Kreuzritter, war Unsterblichkeit nicht länger etwas Unmögliches. Die Freunde erschauderten bei diesem Gedanken. Nie zuvor hatte eine Entdeckung sie so tief berührt und verunsichert. „Schnell! Nichts wie weg hier!“, flüsterte Sandra ihren beiden Freunden zu. Im Schatten der Statuen schlichen sie zurück zum Fuß der Treppe. Dann hielten sie plötzlich betreten inne. „Verdammt!“, stammelte Armin. „Wie kommen wir 59
jetzt wieder raus? In der Eile sind wir Morgan blind gefolgt!“ In Sandras Stimme war plötzlich Angst zu hören. „Wir sitzen fest. Ein einziger Fehltritt, und wir liegen auch bald als Skelette irgendwo hier herum.“ „Nicht verzagen, Mario fragen!“, prahlte das älteste SAM-Mitglied triumphierend. „Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ich den gleichen Fehler zweimal begehe, oder?“ Er schraubte den Blaufilter seiner Taschenlampe ab und leuchtete zur nächsten Treppengabelung hinauf. Ein kleiner greller Lichtpunkt blitzte für einen kurzen Moment auf, dann noch einmal, bis ihn der Lichtkegel schließlich fixierte. „Wow!“, entfuhr es Sandra. „Der Trick kann sich sehen lassen! Aber warum solltest du nicht auch manchmal eine gute Idee haben?“ „Ha, ha, sehr witzig“, erwiderte Mario abfällig. „Wo hast du die Spiegelsplitter her?“, fragte Armin. „Es ist Sandras kleiner Schminkspiegel, der zu ihrer Detektivausrüstung gehört. Ich habe ihn zerbrochen und die Splitter an jeder Kreuzung fallen lassen. Der Rückweg ist kein Problem. Und wer die Splitter nicht anleuchtet, findet sie nicht.“ In Anbetracht der bedrohlichen Situation verkniff sich Sandra ihre Empörung darüber, dass Mario ohne zu fragen an ihre Schminksachen gegangen war. Wenige Minuten später hatten die drei Freunde das Freie erreicht und befanden sich auf dem Weg zurück zum Filmteam. Sie drehten sich zwar immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden, aber ihre 60
Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt. Die Vorfälle der letzten Stunden und Tage ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Als sie das Dorf erreichten, erwartete Marisa Kelly sie bereits ungeduldig. „Ich dachte schon, ihr kommt überhaupt nicht mehr zurück!“, rief sie ihnen aufgebracht entgegen. „Wir sind schon hinter dem Zeitplan zurück“, sagte sie und begleitete die drei Freunde in ihren Schneidewagen, um ihnen die bisherigen Tagesaufnahmen zu zeigen. Ihr Verhalten erschien Mario merkwürdig. Warum zeigte sie ihnen die Aufnahmen, das war doch Sache des Regisseurs? Marisa schloss die Tür hinter ihnen ab und setzte sich. „Ich muss euch etwas erzählen“, begann sie sofort. „Als ich vorhin im Regiezelt war, um den Drehplan für den morgigen Tag abzuholen, habe ich etwas entdeckt.“ Die SAM-Freunde horchten verblüfft auf. Marisa fuhr fort. „Ich wollte den Drehplan ausdrucken, da fand ich eine merkwürdige Diskette. Es war mir sofort klar, dass sie nichts mit unserem Film zu tun haben konnte. Sie war nicht beschriftet.“ Mario räusperte sich und warf seinen Freunden einen versteckten Blick zu. Die Cutterin wusste also über den unsterblichen Kreuzritter und den Gral Bescheid. „Vor einigen Monaten wagte eine Gruppe von Reiseschriftstellern von der anderen Seite des Tals aus den Aufstieg zum Kloster. Sie wollten mehr über die schlafenden Götter herausfinden; sie verschwanden aber spurlos. Niemand weiß, wo genau und unter welchen Umständen. Alan Morgan wurde über diesen Vorfall informiert, als er um 61
Drehgenehmigung ansuchte. Im Vertrag wurde ausdrücklich festgehalten, dass für das Verschwinden von Personen nicht gehaftet wird! Angeblich formieren sich in Tibet Geheimbünde, die alle Menschen vernichten wollen, die den Schlaf der ruhenden Götter stören und so ihren Zorn wecken könnten.“ „Du glaubst doch nicht etwa, dass die Gruppe mit den Reiseschriftstellern einem solchen Geheimbund zum Opfer gefallen ist?“, erwiderte Sandra nachdenklich. „Vielleicht hat sie Recht, und der Klosterpalast ist in Wirklichkeit eine Stätte des Verbrechens“, murmelte Armin besorgt. „Ich hätte mir einfach erwartet, dass uns Alan Morgan einweiht. Stellt euch nur vor, man überfällt uns! Unvorbereitet haben wir nicht die geringste Chance. Wir müssen auf der Hut sein, sonst ergeht es uns womöglich wie der anderen … Gruppe!“, sagte Marisa aufgeregt. Den drei Freunden lief bei diesem Gedanken ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Möglicherweise ist an dem Rätsel doch etwas Wahres dran und wir sind wirklich in Lebensgefahr“, überlegte Armin. „Denkt nur an diese Zombiefrau. Die ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, dann wieder verschwunden und plötzlich wieder erschienen. Vielleicht ist sie der Schlüssel zu dem Geheimnis?“ Fast drei Stunden waren vergangen, seitdem die drei Freunde zum Team zurückgekehrt waren. Sandra hatte ihre schwierige Monologszene gut bewältigt, als Alan Morgan eintraf und ohne ein einziges Wort im Regiezelt verschwand. 62
Während die Filmtechniker bereits den nächsten Drehort vorbereiteten, Kameras aufbauten und Szenenausleuchtungen besprachen, saßen die Freunde in ihrer Behausung und lasen im Drehbuch. „Was macht Morgan bloß in seinem Zelt, er müsste doch bei der Crew sein? Er ist doch sonst so pingelig“, brach Mario schließlich das Schweigen. Die SAM-Freunde reckten den Kopf ins Freie und spähten zum Regiezelt hinüber. Am Schatten, der sich an der Zeltplane abzeichnete, erkannten sie, dass Morgan am Computer arbeitete. „Er schreibt jetzt sicher auf, was er entdeckt hat“, flüsterte Sandra. „Vielleicht hat er noch was entdeckt, als wir schon weg waren?“, überlegte Armin. „Du hast Recht, wir müssen unbedingt noch einmal an den Computer ran. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir hier in einen äußerst seltsamen Fall geschlittert sind, der böse enden könnte“, sagte Sandra. Eine halbe Stunde später ließ sich Alan Morgan von Marisa die Monologszenen und die Schnitte des Tages vorführen. Das war die perfekte Gelegenheit, die schwierigen Ermittlungen fortzuführen. Mario schlich auf demselben Weg, auf dem er bei seinem ersten Besuch geflohen war, in das Zelt und machte sich hastig an die Arbeit. Viel Zeit würde er auch diesmal nicht haben. Er durfte auf keinen Fall erwischt werden. Aber dafür waren Sandra und Armin zuständig. Ein Käuzchenruf genügte, und er würde sofort das Zelt verlassen. Nach acht Minuten hatte er den Laptop wieder ausgeschaltet und rollte sich unter der Zeltplane ins Freie. Ein 63
kurzer Pfiff ließ seine Freunde wissen, dass die Mission erfolgreich abgeschlossen war. Als Mario ihr Zelt betrat, waren Sandra und Armin bereits da. „Und? Was hast du herausgefunden?“, fragte Sandra ungeduldig. Mario öffnete den Mund, bekam aber vor Aufregung keinen Ton heraus.
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Der Fremdenführer
„Na los, spuck‘s schon aus!“ Erwartungsvoll starrten Sandra und Armin ihren Freund an. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, musste er etwas Furchtbares entdeckt haben. Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis Mario sich gefangen hatte und zu erzählen beginnen konnte. „Alan Morgan führt in seinem Bericht die Fotos als Beweis für die Existenz des Ritters an, der den Gral bewacht! Aber er hat noch mehr notiert: Die Reliquienkammer hat nur einen einzigen Zugang, der jedoch aufgrund einer vor hunderten von Jahren davor angelegten Fallgrube unerreichbar ist. Sie ist völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Wisst ihr, was das bedeutet?“, rief Mario aufgebracht. „Natürlich“, erwiderte Sandra. „Das bedeutet, dass der Gralsritter seit hunderten von Jahren in dieser Tempelkammer lebt!“ „Aber … aber das ist völlig unmöglich!“, wehrte Armin ab. „Nicht, wenn er unsterblich ist“, stellte Sandra richtig. Nachdenkliche Stille breitete sich aus. Das Unglaubliche überstieg selbst das Begriffsvermögen der SAMMitglieder, die es gewohnt waren, sich mit unerklärlichen Phänomenen auseinander zu setzen. 65
„Und du bist sicher, dass du in der Eile alles richtig gelesen hast?“, hakte Sandra nach. „Glaubst du, ich bin zu blöd zum Lesen?“, erwiderte Mario schroff. „Kein Mensch kann so alt werden“, sagte Armin. „Eins steht jedenfalls fest: Auf den Infrarotbildern von Morgan sieht man, dass der Ritter lebt. Sein Körper ist warm“, stellte Mario klar. Unbehagen ergriff die drei. Ihnen war bewusst, dass sie mit ihrem Wissen verantwortungsvoll umgehen mussten. „Hoffentlich weiß Morgan, welche Gefahr in seiner Entdeckung liegt!“, sagte Sandra besorgt. „Bestimmt“, antwortete Mario. „Er hat auch geschrieben, dass der ewige Schlaf der Götter nicht gestört werden darf, weil sie sonst Unheil über die Menschheit bringen.“ „Vielleicht könnte man doch einen Zugang finden?“, überlegte Armin. Plötzlich steckte Paul Foster unerwartet den Kopf ins Zelt. „Szenebesprechung! Los, kommt schon. Sonst sind schon alle versammelt, wir warten nur noch auf euch.“ „Ja, ja, wir kommen schon!“, rief ihm Armin hinterher, aber Paul war bereits wieder auf dem Weg zu den anderen Crewmitgliedern. „Ich glaube, er hat uns belauscht“, meinte Sandra misstrauisch. „Oder habt ihr ihn kommen hören?“ „Wir sollten ab jetzt vorsichtiger sein“, gab Armin seiner Freundin Recht. „Wer weiß, wer hier mit wem unter einer Decke steckt.“ Die Besprechung verlief wie immer. Alan Morgan ließ Szene für Szene, Bild für Bild über einen großen Monitor 66
flimmern und fallweise anhalten, um Gestik und Mimik zu analysieren. „Vergesst nie, dass ihr als Schauspieler eine innere Beziehung zu dem herstellen müsst, was ihr sagt und tut. Jedes Lächeln und jede hochgezogene Augenbraue muss gefühlsmäßig begründet sein, sonst glaubt euch das Publikum nicht.“ Er wollte gerade weitersprechen, als von draußen ein Geräusch hereindrang. Er öffnete die Tür des Wagens und eilte hinaus. Einige aus der Crew, darunter auch die drei SAMFreunde, folgten ihm. Sie sahen einen Tibeter in olivgrüner Hose, Wollpullover und windfester Jacke von einem Kamel steigen. Er war nicht allzu groß, aber kräftig gebaut und hatte schwarze Haare und kastanienbraune Augen. „Ah, endlich!“, rief Morgan erleichtert. „Ich habe schon geglaubt, Sie lassen mich im Stich!“ Der Fremde schüttelte ihm die Hand. „Ich bin auf dem schnellsten Weg hergekommen“, sagte er leise. „Nach unserem letzten Treffen kamen mir Zweifel, ob es richtig war, Sie einzuweihen. Auch Fremdenführer müssen ihre Grenzen kennen.“ „Natürlich, Herr Anderson. Das ist ja auch der Grund, warum ich mit dem besten Reisebüro Tibets zusammenarbeite. Unsere Arbeit macht gute Fortschritte. Die Dokumentation wird großen Erfolg haben und davon werden auch Sie profitieren, glauben Sie mir.“ Alan Morgan führte den kleinen Mann ins Regiezelt, was diesem nicht ganz zu behagen schien. Die SAM-Freunde sahen einander an und wussten, was sie zu tun hatten. Sandra verwickelte die Crew in ein Ge67
spräch, um sie in den Wagen zurück zu bringen, während Mario sich schnurstracks zur Rückseite des Regiezeltes schlich, um den Regisseur und seinen Besucher zu belauschen. Er hörte die flüsternden Stimmen nur bruchteilhaft, aber es reichte, um einiges mitzubekommen. Herr Anderson klang sehr aufgeregt, fast verzweifelt. „Wir müssen auf der Stelle die Aufzeichnungen vernichten und die Tempeltreppe abreißen! Das Geheimnis ist viel zu gefährlich, um enthüllt zu werden.“ „Vielleicht stimmt es ja, was Sie sagen. Aber haben die Christen kein Recht darauf, von der heiligsten aller Reliquien zu erfahren und sie zu sehen?“, beharrte Morgan. „Sie haben offenbar doch nicht alles verstanden, was ich Ihnen über das verbotene Land und die schlafenden Götter erzählt habe“, erwiderte der Fremdenführer ernst. „Das ist der heiligste Ort der Welt und er birgt tödliche Gefahren. Glauben Sie mir, wenn Sie den Vertrag brechen, melde ich das sofort dem Dalai Lama. Dann werden Sie mit ihrer Crew den Himalaya nie wieder verlassen, nicht einmal tot. Wenn Sie das Risiko trotzdem eingehen wollen, bitte. Es geht um Ihr Leben und das ihrer Leute. Aber denken Sie an die Gefahr und sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!“ Eine betretene Stille folgte. Mario schlich schnell zum Zelt seiner Freunde zurück, wo Sandra und Armin bereits auf ihn warteten. Er erzählte ihnen, was er gehört hatte. „Dann gibt es für uns also nur einen Weg, hier heil rauszukommen“, murmelte Sandra. 68
„Ich sehe auch nur diese Chance. Wir müssen noch einmal zum Tempelkloster aufsteigen und dem Geheimnis selbst auf die Spur kommen“, stimmte Mario ihr zu. „Dann los, lasst uns keine Zeit mehr verlieren, bevor es zu spät ist“, sagte Armin entschlossen.
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Musik aus dem Jenseits
Sandra kontrollierte zögerlich ihre Ausrüstung. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Richtige tun“, meinte sie nun schon zum wiederholten Mal. „Niemand zwingt dich mitzukommen, Frau Feigling. Wenn du zu viel Angst hast, bleib hier und warte, bis die tapferen Krieger aus der Schlacht heimkehren“, entgegnete Mario. Er wusste genau, was bei seiner Freundin wirkte. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich Angst habe! Ich wollte nur auf die Gefahren hinweisen, die uns vielleicht erwarten“, gab Sandra zurück. Leichter als erwartet war es den drei Freunden gelungen, das Filmgelände unbemerkt zu verlassen. Jetzt konnten sie den Aufstieg zum Tempelkloster beginnen, ohne fürchten zu müssen, dass sie beobachtet wurden. „Wie lange wird es wohl dauern, bis sie bemerken, dass wir fort sind?“, überlegte Armin. „Sie werden es überhaupt nicht bemerken“, antwortete Mario. „Ich war vorhin bei Marisa und habe ihr erzählt, dass wir vielleicht noch eine Wanderung am See entlang machen. Es wird uns also niemand vermissen.“ Das Kloster wirkte diesmal noch majestätischer und gespenstischer. Nur hie und da drangen schwache Sonnenstrahlen durch die dichten Nebel, die um das Gebäude waberten. 70
Plötzlich war Sandra nicht mehr die Einzige, der bei dem riskanten Unternehmen unwohl war. Die drei Freunde fühlten sich von den düsteren Mauern beobachtet. Sobald sie durch das mächtige Portal traten, wurden sie von tiefer Finsternis umhüllt. In einem Grab konnte es nicht stiller sein. Ängstlich drängten sie sich aneinander. „Was jetzt?“, fragte Sandra leise. „Das haben sich bestimmt alle gefragt, die hier standen und nie wieder rausgekommen sind“, sagte Armin. „Lasst uns einfach wieder zurückgehen und so tun, als hätten wir das Lager nie verlassen“, schlug Sandra vor. „So kurz vor dem Ziel?“, fragte Mario. „Vielleicht entdecken wir die entscheidende Spur, die uns rettet. Wir sind so und so in großer Gefahr, vergesst das nicht! Wir müssen dieses Geheimnis lüften, egal was auch immer uns erwartet.“ „Du hast Recht. Wir müssen herausfinden, was hinter den unheimlichen Vorgängen steckt“, sagte Armin mutig. Sie knipsten ihre Taschenlampen an und gingen den Spiegelsplittern nach, die Mario beim letzten Besuch ausgestreut hatte. Es dauerte einige Zeit, bis sie jenen Klosterteil erreicht hatten, an dem sich die geheimnisvolle Kammer befand. Die Luft war stickig geworden. Vorsichtig schlichen die drei Freunde von einer Statue zur nächsten. Sie hatten Angst, in eine der vielen Fallen zu tappen, aus denen es kein Entrinnen gab. „Rührt euch nicht und haltet die Luft an, so lange ihr könnt!“, befahl Armin plötzlich. Sandra und Mario sahen einander verständnislos an. „Nicht rühren, hab ich gesagt!“, zischte Armin noch einmal. 71
Alle hielten sie die Luft an, so lange sie konnten. „Hört ihrs?“, flüsterte Armin. „Was sollen wir hören?“, wollte Mario wissen. „Es kommt offenbar direkt aus der Wand da vorn“, wisperte Armin und lauschte gespannt. Aus dem Mund einer in die Steinwand gemeißelten Götterfigur drangen leise Töne, die zu einer schwelgenden Melodie verschmolzen. Die SAM-Freunde spitzten die Ohren. Armin hatte den Verdacht, es könnte sich um ein Ablenkungsmanöver handeln: Erst wurde man eingelullt, dann schlug die Falle zu. Doch nichts geschah. Sandra wagte sich näher an die Götterfigur heran. Sie bemerkte, dass sich an der Stelle der Pupillen kleine Löcher in der Wand befanden, durch die man in den dahinter liegenden Raum sehen konnte. „Ich kann nichts erkennen“, sagte Mario, der durch das andere Auge starrte. „Ich glaube, ich sehe einen kleinen Lichtpunkt, bin mir aber nicht sicher“, erwiderte Sandra. „So stelle ich mir Musik aus dem Jenseits vor. Wir sollten schleunigst von hier verschwinden“, warf Armin ein. „Tolle Idee“, pflichtete Sandra ihm bei. „Vielleicht finden wir einen ungefährlichen Zugang zur Kammer. Suchen wir weiter.“ Nach einer Stunde des Umherirrens war den SAMMitgliedern klar geworden, wie riesig das Kloster im Grunde war. Man hätte ohne Mühe die Bevölkerung einer Kleinstadt darin unterbringen können. Mario leuchtete ein, warum jemand einen wertvollen Schatz hier oben verbergen würde. Er meinte den Atem der 72
schlafenden Götter hören zu können. Aber wehe, wenn sie erwachten … „Ich habe genug. Mir reichts für heute“, entschloss sich Mario und schnappte seinen Rucksack. Nachdem sie einige Treppen hochgestiegen waren und die Luft wieder etwas besser geworden war, fühlten sie sich sicherer. Trotzdem hatten sie es eilig, aus dem Kloster rauszukommen. „Verdammt!“, schimpfte Armin, als sie das große Tor erreicht hatten. „Ich habe meinen Rucksack bei den Statuen liegen lassen.“ „Ist doch egal“, sagte Mario. „Nichts wie raus hier!“ „Spinnst du? Da ist mein ganzes Geld drin! Ich muss ihn holen!“ Sandra blieb stehen und seufzte entnervt. „Na gut, aber mach schnell!“, maulte sie, drehte um und sprang gleich über mehrere Stufen hinunter. Mario folgte ihr. „He! Wartet gefälligst auf mich!“, rief Armin, der nicht allein zurückbleiben wollte. Sein Rucksack lag dort, wo sie ihn vermutet hatten. „Los, schnapp ihn dir, und dann nichts wie zurück“, sagte Sandra ungeduldig. Aber Armin reagierte nicht. „Armin?“, fragte Mario und leuchtete die Umgebung ab. „He, Kumpel, wo bist du?“ „Wir waren bestimmt zu schnell für ihn, er hat keine Taschenlampe. Die ist auch im Rucksack“, meinte Sandra. „Wahrscheinlich ist der Angsthase absichtlich zurückgeblieben“, schimpfte Mario. Sandra griff sich den Rucksack und sie hasteten die Treppen hinauf. Plötzlich stieß sie einen gellenden Schrei 73
aus. Der Strahl ihrer Taschenlampe war auf eine furchterregende Gestalt gefallen, die am obersten Treppenabsatz stand und ihnen den Fluchtweg versperrte.
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Eine Falle
„Das ist die dümmste Idee, die du seit langem gehabt hast, Armin!“, rief Mario zornig. Die Gestalt stand wie angewurzelt da. „Okay, ein Punkt für dich. Es ist dir gelungen, uns mit ein und demselben Trick zweimal reinzulegen. Jetzt aber Schluss mit den dummen Spielchen“, grollte Sandra. Nun richtete auch Mario den Strahl seiner Taschenlampe auf die Gestalt, und beide erkannten erschrocken, wer diesmal drohend über ihnen stand: der Todesmönch! Seine Kutte war in der Körpermitte mit einem Seil zusammengerafft und die Fackel in seiner rechten Hand warf nur spärliches Licht auf die engste Umgebung. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass es nicht zu sehen war. Stechender Weihrauchgeruch stieg den drei Freunden in die Nase. Er erinnerte sie an Verwesung. Da begann der Todesmönch die Treppe herabzusteigen. Wackelig setzte er einen Fuß vor den anderen. Nur mehr wenige Schritte trennten ihn von den beiden Freunden, da griff er unter die Kutte und holte eine Sense mit langem Blatt hervor. „Uns erwischst du nicht“, schrie Sandra und stürmte auf den Sensenmann zu. Nur noch zehn Stufen trennten sie von dem unheimlichen Tempelwächter. 75
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In der Aufregung entging ihr, dass Mario ihr nicht folgte. Die Angst schien ihn zu lähmen. Sandra nahm zwei Stufen auf einmal, schwang Armins Rucksack wie eine Keule und traf den Todesmönch damit am Kopf. Dieser ließ im Fallen die Sense los, die neben der Treppe in die Tiefe stürzte. Sandra blickte auf den Todesmönch hinab. Für einen kurzen Moment glaubte sie blau leuchtende Augen in einem Totenschädel zu erkennen. Die Wirkung des Überraschungsangriffs hielt aber nicht lange an. Schon hatte sich der Todesmönch aufgerafft und kam auf Sandra zu, der die Knie zitterten. Mario stand noch immer wie gelähmt am unteren Ende der gefährlichen Treppe. Er wollte schreien, brachte jedoch keinen Laut hervor. Der Todesmönch löste den Strick, der seine Kutte zusammenhielt, und schwang ihn wie ein Lasso. Die Schlinge legte sich um Sandra; mit einem kräftigen Ruck riss der Mönch sie zu sich und packte sie am Genick. Panisch rammte Sandra ihm den Ellbogen in den Bauch, riss sich aus seiner Umklammerung los und hastete zu Mario. Der Todesmönch dachte aber nicht daran aufzugeben. Drohend kam er auf die Freunde zu. „Wir müssen Armin finden“, stammelte Sandra und rief laut nach ihrem Freund: „Armin, Hilfe! Wir werden angegriffen!“ Das Echo tönte mehrfach zurück. „Ich bin hier unten. Kommt schnell, ich kann mich nicht mehr halten!“, drang die Stimme ihres Freundes durch das Tempellabyrinth. Das rüttelte auch Mario auf. Sandra und er rannten in die Richtung, aus der Armins Stimme gekommen war. 77
„Wo bist du, Armin?“, rief Mario. „Hier unten, in einer Kammer. Ich kann den Lichtstrahl eurer Taschenlampen schon sehen.“ Sandra und Mario stürmten weiter. Augenblicke später hatten sie den Eingang zu der Katakombe erreicht, aus der Armins Stimme kam. „Du passt auf, ob der Todesmönch uns folgt, und ich helfe Armin“, sagte Sandra und trat in die stickigen Klosterkammer. Was sie zu sehen bekam, jagte ihr kalte Schauer über den Rücken: Armin hing an einem dünnen Seil über einem großen Loch im Boden. Sie leuchtete in die Grube hinab. Einige Meter unter ihrem Freund ragten spitze Holzpfähle auf. Wenn ihn die Kraft verließ, würde er auf die tödlichen Spieße stürzen und lebendig aufgespießt! „Was ist passiert!“, fragte Sandra verzweifelt, während sie Armin aus seiner verzwickten Lage half. „Ich hatte mich verlaufen und plötzlich packte mich eine Knochenhand am Genick. Ich wurde hier hereingeschleppt, und als ich nach einem Ausgang suchte, fiel ich in die Grube. Ich konnte gerade noch nach dem Seil greifen. Gott sei Dank wart ihr in der Nähe. Lange hätte ich mich nicht mehr halten können.“ „Bist du sonst in Ordnung?“, fragte Sandra besorgt. „Mein Hals ist geschwollen, weil mich die Knochenhand so fest gepackt hat.“ „Beeilt euch! Wir sollten jetzt schleunigst von hier verschwinden“, sagte Mario, der das Schmierestehen satt hatte. „Wir werden einen anderen Weg nach draußen nehmen, damit wir dem Todesmönch nicht wieder in die Arme laufen.“ „Das ist viel zu gefährlich“, entgegnete Armin. „Hier 78
wimmelt es überall von solchen Fallgruben. Es ist schon schwierig genug, bis zu den ersten Spiegelsplittern zurückzufinden.“ „Das glaube ich auch“, meinte Sandra. In der Aufregung fiel es den dreien schwer, sich zu entscheiden. Als ihr Entschluss feststand und sie sich umdrehten, um die Katakombe zu verlassen, stand der Todesmönch vor ihnen und blockierte den Ausgang. Aus dieser Falle gab es kein Entrinnen mehr …
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Heilige Tiere
Suchend tasteten ihre Lichtstrahlen den Raum ab, um zu sehen, ob es nicht noch einen anderen Ausgang gab. Was sie im Schein der Taschenlampen sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren: Sie waren von wilden Kreaturen umringt, deren Augen sie anfunkelten. Langzottelige Yaks schienen sie mit ihren Hörnern aufspießen zu wollen. Affen waren drauf und dran, sie anzufallen, Tauben kreisten wie Aasgeier über ihnen. Den größten Schrecken jagten ihnen jedoch menschliche Skelette ein, die vereinzelt herumlagen. „Okay, cool bleiben“, versuchte Armin sich zu beruhigen. „Klaren Kopf bewahren und die grauen Zellen anstrengen.“ „Der einzige Ausgang ist versperrt“, flüsterte Sandra, ohne den Blick von den Tieren zu wenden. Auch Mario überlegte fieberhaft, wie sie hier herauskämen. Der Todesmönch würde bestimmt nicht lange mit seinem nächsten Angriff warten. Mario hatte alle Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Die SAM-Freunde hatten schon viel erlebt, aber ein lebender Knochenmann war wirklich ein starkes Stück. „Ich sage euch, die Zombiefrau steckt hinter dem ganzen Spuk“, sagte Mario. „Sie hat uns hergelockt und Armin 80
als Köder verwendet. Sie will uns um die Ecke bringen und dann auch ausstopfen.“ „Halt endlich die Klappe!“, fauchte Sandra. „Nein, hör doch zu: Ich habe gelesen, dass die Tibeter heilige Tiere ausstopfen und so lange aufheben, bis ihre Götter eines Tages erwachen. Die Geister der Götter fahren dann in die Tiere, und die erwachen so zu neuem Leben.“ Sandra wollte gerade etwas erwidern, als sie sah, dass der Eingang nun frei war: Der Todesmönch war spurlos verschwunden! „Bestimmt eine miese Finte und er passt uns draußen ab. Nichts überstürzen“, meinte Armin. Mario schien es, als bewegten sich die ausgestopften Tiere auf ihn zu. Der Sauerstoffmangel in dieser muffigen Kammer setzte ihm von Minute zu Minute mehr zu. Ihm wurde schwindlig. „Nein, Mario, pass auf!“, schrie Sandra, als sie ihren Freund auf die Fallgrube zutorkeln sah. Armin hechtete auf Mario zu und erwischte ihn im letzten Moment am Jackenkragen. Schweißgebadet zog er ihn von dem Grubenrand zurück. Sandra warf einen raschen Blick zum Eingang und atmete erleichtert auf. „Der Todesmönch kommt offenbar nicht zurück“, stellte sie fest. „Jetzt hauen wir aber endgültig ab!“, sagte Mario entschlossen. „Aber wenn er uns auflauert?“, erwiderte Sandra. „Egal“, antwortete Mario. „Gemeinsam werden wir ihn schon überwältigen.“ Als sie die Treppe erreichten, auf der Sandra mit dem Todesmönch gekämpft hatte, drängten sie sich näher anei81
nander. Stufe für Stufe stiegen sie hinauf. Hoffentlich wartete ihr Feind nicht oben auf sie! Doch der Todesmönch zeigte sich nicht, und der Weg zum Ausgang war frei. Wenige Minuten später waren sie im Freien und atmeten frische Bergluft. Die höllischen Gefahren standen den drei Freunden deutlich ins Gesicht geschrieben. Was ging hier bloß vor? Sandra fasste sich an den Nacken, der sie immer noch schmerzte. „Von wegen Legende. Wenn ich es nicht besser wüsste. Der Typ ist auf jeden Fall lebendig, das könnt ihr mir glauben“, sagte sie. „Mit den ausgestopften Tieren muss es auch eine besondere Bewandtnis haben, sonst würde man sie nicht so verstecken“, meinte Mario nachdenklich. „Ich glaube auch, dass die Zombiefrau hinter allem steckt. Sie hat uns als Erste im Potala gesehen. Dann ging der ganze Zirkus los“, sagte Armin überzeugt. In ihre Theorien vertieft, hatten die SAM-Freunde völlig übersehen, dass sich aus dem Tal eine Staubwolke näherte, die von einem knatternden Motorengeräusch begleitet wurde. Es war Alan Morgans Beiwagenmaschine. Vermutlich hatte der Regisseur am Drehort noch etwas zu erledigen. „Mist! Das hat uns gerade noch gefehlt“, murmelte Mario, als er das Fahrzeug entdeckte. „Jetzt brauchen wir eine gute Ausrede!“ Erstaunt stellten sie fest, dass nicht Alan Morgan, sondern Paul Foster das Motorrad steuerte. „Ich habe mir schon gedacht, dass ich euch hier oben finde. Ich soll euch abholen. Niemand darf jetzt mehr das Kloster betreten. 82
Morgan hat den Vertrag gekündigt und will die Dreharbeiten aus Sicherheitsgründen sofort abbrechen. Irgendetwas stimmt offenbar nicht. Unser Job ist beendet“, sagte er und wendete das Motorrad. Die drei Freunde zwängten sich in den Beiwagen. Paul wollte gerade losfahren, als Sandra plötzlich aufsprang und zum Tempel starrte.
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In die Enge getrieben
Paul ließ den Motor aufheulen. „Was ist denn jetzt noch?“ „Dort oben! Die Zombiefrau starrt zu uns herunter“, stotterte Sandra zähneklappernd. Die anderen drehten sich um, konnten aber nur zum Palasteingang emporzwinkern, weil die grelle Sonne gerade durch die Wolken brach. „Ich kann überhaupt nichts erkennen“, sagte Mario. „Die Sonne blendet so.“ „Kommt endlich!“, drängte Paul, fuhr ungeduldig ein paar Meter und wäre Armin beinahe über die Zehen gefahren. „Mann, pass auf! Ich brauche meine Füße noch“, schimpfte der Junge. Eine dicke Wolke verdeckte die Sonne wieder. „Ich kann hin schauen, so viel ich will. Ich kann die Zombiefrau nicht entdecken“, sagte Mario. Sandra sah sie jetzt auch nicht mehr. „Wahrscheinlich hast du sie dir nur eingebildet“, meinte Armin. „Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich bin doch nicht irre“, beharrte Sandra. Nun fuhr Paul endgültig aus der Haut. „Sagt mir jetzt vielleicht mal einer, was das Theater 84
soll?“, rief er verärgert. „Was habt ihr denn ausgefressen? Ihr tut ja wohl nicht umsonst so geheimniskrämerisch.“ Mario holte gerade Luft, um Paul von ihren Entdeckungen zu erzählen, als Sandra ihm warnend zuzwinkerte. Also schwieg er. Es war wohl wirklich sicherer, niemanden einzuweihen. Möglicherweise steckte Paul doch mit der Zombiefrau unter einer Decke, und sie hatte ihm von ihrer Schnüffelei erzählt. „Ich habe mit Mario und Sandra gewettet, dass ich mich allein ins Kloster traue, deswegen sind wir hier“, behauptete Armin, um abzulenken. Paul Foster blickte skeptisch von einem zum anderen. Doch die drei Freunde blieben cool. Als sie wieder im Lager waren, winkte Marisa sie in den Schneidewagen. „Ihr seid ganz schön unvorsichtig. Allein in eine solche Höhe aufzusteigen kann lebensgefährlich sein.“ Die Tür ging auf, und Paul trat ein. „Sie haben das Kloster trotz strengem Verbot betreten. Ich glaube, es ist höchste Zeit, euch kleinen Möchtegernstars klar zu machen, dass auch ihr euch an die Regeln halten müsst!“ Auch Marisa war verärgert. „Das kann uns die Dreherlaubnis kosten. Wenn euch jemand erwischt, sperren sie uns alle ein.“ „Ihr tut uns Unrecht. Wir haben ein … ein gefährliches … es betrifft uns alle … Alan Morgan muss sofort informiert werden!“, stammelte Mario. „Wir haben mit dem Dalai Lama ein Abkommen. Wenn wir uns nicht daran halten, zahlen wir zumindest eine hohe Strafe. Und dazu habe ich keine Lust, klar?“, drohte Paul 85
eindringlich. „Haltet euch an die Abmachung. Potala ist seit gestern tabu!“ Marisa und Paul wussten zwar nicht, was die drei Freunde erlebt hatten, aber sie ahnten offenbar, dass es gefährlich sein könnte. Zu viele Menschen waren im Potala Palast schon spurlos verschwunden. Armin überlegte, wie er sich und seine Freunde aus dieser unangenehmen Situation befreien könnte. Plötzlich fasste er sich mit einem Stöhnen an die Kehle und sank mit bläulich angelaufenem Gesicht auf die Knie. „Armin!“, schrie Sandra.
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Die Stimme aus dem See
„Was ist los mit ihm?“, fragte Marisa erschrocken und eilte zu Armin. Sie versuchte ihm die Hände vom Hals zu reißen. „Wir müssen ihn schnell zu einem Arzt bringen.“ Jetzt stand Armin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und nicht mehr das ungebührliche Verhalten der drei Freunde. Paul Foster ermahnte sie noch einmal: „Passt bloß auf, wohin ihr geht, und steckt eure Nasen nicht überall hinein, sonst passiert noch was.“ „Was meinst du damit?“, fragte Mario verdattert. „Ihr wisst doch, dass schon viele nicht mehr aus dem Potala Tempelpalast zurückgekommen sind!“ „Vielen Dank für den netten Hinweis, Herr Kollege“, entgegnete Sandra. Der Schauspieler verließ den Wagen und warf mit einem lauten Knall die Tür ins Schloss. „Was ist denn hier los?“, hörten sie Alan Morgans Stimme. Sie klang unsicher. Als er eintrat, wirkte er bekümmert. „Mir reicht es jetzt endgültig“, flüsterte Sandra Mario zu. „Wir weihen ihn einfach ein, und dann ist Schluss mit dem Eiertanz.“ „Bist du verrückt?“, zischte Mario leise. „Wenn er er87
fährt, dass ich an seinem Computer war, reißt er mir den Kopf ab! Außerdem wissen wir nicht, wer hinter all den krummen Machenschaften steckt.“ Vorsichtig betastete Morgan Armins Hals. „Wir bringen dich nach Lhasa, dort kenne ich einen alten Mönch, ein wahrer Wunderheiler. Er kann feststellen, ob deine Atemwege verletzt sind oder ob es sich um eine Virusinfektion handelt.“ „Gefährliche Viren!“, krächzte Armin. Aus seinen Augen blickte die nackte Angst. Er wollte sich auf keinen Fall in die Hände irgendeines Scharlatans begeben. Andererseits hatte er keine Wahl. „Wohnen kannst du während der Behandlung in der Seehütte von Herrn Anderson. Er ist sicherlich einverstanden“, meinte der Regisseur. „Vielleicht kennt er sogar die Symptome dieser Virenerkrankungen.“ Sandra und Mario sahen einander skeptisch an. „Anderson hat mir versprochen, einige Dinge für mich zu recherchieren und eine Diskette vorbeizubringen. Bleibt bitte in der Nähe des Camps und kümmert euch um ihn, falls ich ihn nicht treffe“, fügte Alan Morgan hinzu. „Diese Daten sind wirklich sehr, sehr wichtig für mich.“ Damit war er Sandra und Mario losgeworden. Eine halbe Stunde später, nachdem sie mit der klapprigen Beiwagenmaschine über Stock und Stein geholpert waren, trafen Morgan und Armin bei Andersons Hütte ein. Sie stand an einem Felsen und ragte mit einer Veranda über den See hinaus. Die Tür öffnete sich, und ein alter Mann mit faltigem Gesicht trat auf die Veranda. Er begrüßte die Ankömmlinge mit einer höflichen Handbewegung. 88
„Mein Name ist Alan Morgan, ich bin ein Kollege Ihres Sohnes“, erwiderte der Regisseur, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Wir kennen uns aus der Zeit, bevor er hier Fremdenführer wurde. Wir absolvierten in den USA gemeinsam die Filmakademie.“ Das hatte er Armin bereits auf der Fahrt erzählt. Armin hatte sich über den für einen Tibeter ungewöhnlichen Namen „Anderson“ gewundert, und Morgan hatte ihm erklärt, dass sein Bekannter ihn in den USA angenommen hatte. „Mein Sohn ist nicht hier. Er arbeitet in seinem Büro“, sagte Andersons Vater. Morgan bat ihn, sich Armins Hals anzusehen. „Zeig mal her“, murmelte der alte Mann, als sie in der spärlich möblierten Hütte Platz genommen hatten. „Au!“, schrie der Junge auf, als ihn der Mann untersuchte. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. „Könnte ein Virus sein“, murmelte der Alte schließlich nachdenklich. „Es ist auf jeden Fall sicherer, mit Angdu, dem heilenden Wundermönch, zu sprechen.“ Armin blickte besorgt auf. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren“, sagte Alan Morgan entschlossen. Plötzlich hörten sie eine gedämpfte Stimme. Armin schauderte, als er sie erneut vernahm. Sie kam tatsächlich aus dem See! Es gab nicht den geringsten Zweifel. „Haben Sie das gehört?“, krächzte er. Andersons Vater schloss das Fenster zum See. „Das höre ich schon gar nicht mehr. Wenn die Bergwinde über die Felsen wehen, entstehen die seltsamsten Geräusche.“ „Es war aber eindeutig eine menschliche Stimme. Ich habe sie gehört“, sagte Armin. 89
„Es gibt viel Seltsames in Tibet, aber mit Sicherheit keine sprechenden Seen, das kannst du mir glauben“, lächelte der alte Mann. „Na, dann nichts wie los“, meinte Regisseur Morgan und bedankte sich höflich. „Ich werde im Reisebüro vorbeischauen.“ Als Morgan die Maschine startete, hörten sie wieder die gequälte Stimme aus dem See. „Immer dieser Wind“, meinte der Alte und winkte ihnen freundlich nach, als sie stadteinwärts fuhren. Armins Gedanken galten seiner bevorstehenden Behandlung. Was, wenn das Virus tödlich war? Je weiter sie in die Stadt kamen, desto belebter wurden die Straßen und Plätze. Armin wurde fast schwindlig von den vielen Eindrücken. Von der Ruhe in den Bergen und Klöstern war hier nichts zu merken. „Das hat uns noch gefehlt“, grummelte Alan Morgan, als er sich mit dem Motorrad mühevoll einen Weg durch die Menge bahnte. Immer langsamer kamen sie voran, bis sie schließlich stehen bleiben mussten und von Menschen, Kamelen und Yaks eingekeilt waren.
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Im Hinterhof
„Ihr seid noch immer hier?“, fragte eine bekannte Stimme neben Armin. „Ich habe geglaubt, die Dokumentation wäre längst abgedreht. Ich hoffe, du bist mir wegen meines Ausstiegs nicht böse. So etwas ist sonst nicht meine Art.“ Armin hatte die Stimme sofort wieder erkannt. Sie gehörte Viktor, dem Schauspieler, für den Paul eingesprungen war, als er das Handtuch geworfen hatte. „Was ist sonst nicht deine Art? Kollegen im Stich zu lassen?“, brummte Morgan, ohne Viktor eines Blickes zu würdigen. „Das gleiche Geld, ohne dafür arbeiten zu müssen, ist doch ein verlockendes Angebot, findest du nicht auch?“, meinte Viktor. „Wer hat dich aus unserem Team abgeworben, um das Projekt zu Fall zu bringen?“ Morgans Stimmung war auf dem Nullpunkt. Seine größte Sorge galt immer der Konkurrenz. Er war so verärgert, dass er sich nicht einmal fragte, was Viktor noch in Tibet machte. Die Menschenknäuel begannen sich etwas aufzulösen, und ein Weiterkommen war wieder möglich. Armin wollte noch eine Frage stellen, aber Viktor war schon wieder im Gassengewirr verschwunden. Paul musste Viktor also Geld geboten haben, um seine 91
Rolle zu bekommen. Armins Gedanken rasten. So wichtig war eine Rolle in einer Dokumentation auch wieder nicht. Was steckte also dahinter? Nach wenigen Minuten hielten sie vor einem Gebäude, über dessen Eingang ein Firmenschild prangte: ANDERSON – REISEFÜHRUNGEN DURCH TIBET. „Warte hier. Ich bin gleich wieder zurück. Muss nur eine Diskette abholen“, sagte Morgan und verschwand im Haus, ohne den Motor abzustellen. Die stinkenden Abgase sorgten für böse Blicke. Manche Passanten beschimpften Armin. Schließlich blieb eine westlich gekleidete Frau stehen und sagte zu ihm: „Du solltest schleunigst verschwinden. Die Leute hier hassen es, wenn man ihre dünne Luft verpestet.“ Unsicher erklärte Armin der Frau, warum er hier wartete. Er würde sich wohl nie mit den Gepflogenheiten in diesem Land anfreunden. Ständig musste man aufpassen, nichts Falsches zu sagen oder zu tun. Er stellte den Motor ab und hastete in Andersons Reisebüro. Schwer atmend schob er den dicken Vorhang aus Yakwolle beiseite und trat ein. Im ersten Raum war niemand. In einem Regal lagen bunte Reiseprospekte mit Bildern und Wanderrouten. Doch Herr Anderson schien nicht in seinem Geschäft zu sein. Vielleicht hielt er sich in einem der hinteren Zimmer oder im ersten Stock auf. Armin stieg die knirschende Holztreppe hinauf und wanderte durch das obere Stockwerk. Doch auch hier war niemand. Die Wände waren mit Landkarten und riesigen Postern von Tieren und Landschaften geschmückt. 92
Armin ging wieder ins Erdgeschoß hinunter. Als er unten ankam, merkte er, dass er keuchte, als hätte er hundert Kilo Übergewicht. „Nur nicht schlappmachen“, spornte er sich an. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er den ausgestopften Yak nicht bemerkte, der in einer Ecke stand. Er ging gerade durch den Raum hinter dem Reisebüro, als sein Blick auf zwei Gestalten fiel, die im Hinterhof standen und sich angeregt unterhielten. Der Junge presste sich an die Wand und wagte einen Blick aus dem Fenster. Eine der zwei Gestalten war Alan Morgan. Als die zweite aus dem Schatten trat, stockte Armin der Atem. Es war die Zombiefrau vom Potala Palast! Die beiden waren aufgeregt, das verriet ihre unruhige Gestik. Armin eilte zum Motorrad zurück. Sein Hals schmerzte inzwischen fast unerträglich. Viele Fragen schossen ihm durch den Kopf. Was ging hier bloß vor? Wem konnte man noch trauen? Befanden sich er und seine Freunde in Gefahr? Er schaffte es nicht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Armin setzte sich wieder in den Beiwagen und versuchte so harmlos wie möglich zu wirken. Morgan durfte nicht den geringsten Verdacht schöpfen. Höchste Vorsicht war angebracht, denn der Regisseur wusste nach seinem Gespräch mit der Zombiefrau bestimmt, dass die drei Freunde das Geheimnis des Klosters kannten. Armin überlegte, ob es möglich war, allein zum Lager zurückgelangen, um Sandra und Mario zu warnen. Aber dadurch wäre Morgan nur argwöhnisch geworden und das konnte er sich jetzt am allerwenigsten leisten. 93
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Nach weiteren fünf Minuten kam Alan Morgan aus dem Gebäude und startete die Maschine. „Soll ich die Disketten für Sie halten?“, fragte Armin kurzatmig. Morgan warf ihm einen schiefen Blick zu. „Das Haus ist leer. Anderson ist nicht da. Bestimmt ist er auf dem Weg zur Crew.“ „Vielleicht sollten wir noch einmal zurückgehen und ihm eine Nachricht hinterlassen, damit er weiß, dass wir hier waren“, meinte Armin. „An deiner Stelle würde ich mir ganz andere Sorgen machen. Auf zu Angdu“, erwiderte Alan und gab Gas. Als sie nachts im fahlen Mondlicht zum Lager zurückkehrten, wirkte es wie ausgestorben. Die Diagnose von Angdu war nicht gerade rosig ausgefallen. Armin hatte sich zwar Gott sei Dank kein Virus eingefangen, doch der kräftige Griff der Knochenhand hatte ihn doch so schwer verletzt, dass er eine Halskrause tragen musste, um die Wirbelsäule ruhig zu stellen. Der Heilungsprozess würde einige Zeit dauern. „Die Strapazen haben uns alle ziemlich mitgenommen. Es wird bald vorbei sein“, sagte Alan Morgan, nachdem er das Motorrad abgestellt hatte. „Die Dreharbeiten werden abgebrochen. Ruht euch noch ein bisschen aus, damit ihr fit seid, wenn wir nach Europa zurückfahren.“ „Gute Nacht und vielen Dank“, murmelte Armin und schaute dem Regisseur noch einige Sekunden nach. Dann verschwanden beide in ihrem Nachtquartier. Irgendetwas stimmt nicht mit Alan Morgan, dachte Armin, als er vorsichtig und unter Schmerzen in den Schlafsack kroch. 95
Er überlegte, ob er seine Freunde wecken sollte, um ihnen zu erzählen, was er in Lhasa beobachtet hatte, beschloss dann aber, dass es am nächsten Tag noch früh genug sei. Er lag noch einige Minuten wach und starrte in die Finsternis, ehe er einschlief. Kurz darauf riss ihn ein stechender Schmerz aus dem Schlaf. Armin war von dunkel gekleideten Gestalten umgeben. Er tastete mit der Hand nach der schmerzenden Stelle und stellte entsetzt fest, dass er Blut an den Fingern hatte. Er wollte sich zur Wehr setzen, als ihm schwindlig wurde. Seinen beiden Freunden erging es nicht anders. Er wollte schreien, doch er bekam nur ein Wort heraus: „Was …?“ Hastig kroch er aus dem Schlafsack. Die Eindringlinge schienen auf etwas zu warten. Armin kam der Gedanke, dass er und seine Freunde unter Drogen gesetzt worden sein könnten. Auch Sandra versuchte um Hilfe zu schreien, aber sie brachte nicht mehr als ein Krächzen hervor. Sie wollte fliehen, stolperte aber und schürfte sich Ellbogen und Gesicht auf. Sie rang nach Luft und sah verschwommen, wie draußen ein Crewwagen vorfuhr. Endlich Rettung, schoss es ihr durch den Kopf. Doch als der Fahrer ausstieg, schwand ihnen jede Hoffnung. Er schleppte Tierhäute herbei. Armin erkannte sie sofort als Yakhäute und erinnerte sich an die Strafe, die illegal Einreisende im Tibet des 18. Jahrhunderts ereilte: Man peitschte sie aus, nähte sie in frisch abgezogene Yakhäute ein und warf sie in einen Fluss. Wieder versuchte Armin zu schreien, aber die Drogen hatten ihn gelähmt. Hilflos mussten die SAM-Mitglieder 96
zusehen, wie die Gestalt mit einer Rolle Klebeband näher kam. Jetzt ahnten sie, dass ihnen etwas Furchtbares bevorstand. Nachdem ihnen der Mund zugeklebt worden war, wurden sie auf klebrige, stinkende Yakhäute gelegt. Helfer eilten herbei und nähten die Häute zu.
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Der Gott Yamantaka
Als Armin das Bewusstsein wiedererlangte, war die Yakhaut verschwunden. Tiefe Finsternis umgab ihn. „Ist da jemand?“, fragte er ängstlich in die Stille. Niemand antwortete. Das Echo verriet ihm, dass er sich in einem kahlen Raum befand. Vorsichtig kroch er ein wenig herum und versuchte zu erkunden, wo er sein konnte. Hatte man ihn und seine Freunde nach Potala gebracht? Er hoffte, dass sich seine Augen rasch an die Dunkelheit gewöhnen würden. Da ertastete er eine weitere Yakhaut auf dem felsigen Boden. „Mario? Bist du hier? Kannst du mich hören?“ Keine Antwort. Ein Stück weiter glaubte er ein Gesicht zu erkennen. „Sandra? Bist du okay?“ Wieder keine Antwort. Armin kroch weiter und stieß mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand. Er betastete ihn und erstarrte: Es war ein ausgestopfter Riesenyak. Er war also eingesperrt in einem Raum mit toten Tieren, in deren Körper einmal die wieder erwachten Götter fahren sollten! Was ging hier vor? Was würde mit ihm geschehen? Wer steckte hinter dem allem? 98
Da vernahm er gedämpfte Stimmen. Ein Chor wechselte sich mit einer einzelnen Stimme ab. Jemand schien den Göttern zu huldigen. Armin hörte ein Knirschen. Zum Glück war er nach seiner Rückkehr aus Lhasa so müde gewesen, dass er voll angezogen in den Schlafsack gekrochen war und nicht einmal seine Taschen geleert hatte. Deshalb hatte er jetzt seine Stablampe dabei. Er setzte den Blaufilter ein und knipste die Lampe an. Der Junge sah sich von ausgestopften Tieren umgeben. Entgegen seiner ersten Vermutung befand er sich nicht in der Kammer, in der er beim letzten Potala-Besuch beinahe einen grauenvollen Tod gefunden hätte: Die Fallgrube fehlte. Es handelte sich demnach um eine andere der zahlreichen Kammern im labyrinthischen Kloster. Armin leuchtete umher und entdeckte Mario und Sandra. Ihren Atem konnte er in der eiskalten Luft als weiße Schwaden sehen; sie lebten also und waren nur bewusstlos. Der quadratische Raum hatte glatte, kahle Wände – untypisch für die ansonsten so reich verzierten Räume in tibetischen Klöstern. „Wacht auf!“, rief Armin und schüttelte seine beiden Freunde. Doch die rührten sich nicht. Die ausgestopften Tiere schienen sie anzustarren. Was war bloß mit seinen Kollegen geschehen? Warum wachten sie nicht auf wie er? Hatten sie eine zu hohe Dosis bekommen? Er wagte nicht weiterzudenken. Sie mussten überleben! Sie mussten! Wieder war ein Knirschen zu hören. Armin sah nun, dass es von einer Steintür kam, die langsam aufging. Durch den schmalen Spalt konnte er in den Nebenraum sehen, aus dem der Gesang zu kommen schien. 99
Armin änderte seine Position, um mehr zu sehen. Er konnte eine Gruppe von Mönchen in langen schwarzen Kutten ausmachen, deren Gesichter von Kapuzen verdeckt waren. Paarweise schritten sie auf einen Altar zu. Angeführt wurden sie von einer Art Vorbeter. Als die Mönche den Opferaltar erreicht hatten, blieben sie stehen, der Anführer drehte sich um und zog sich die Kapuze langsam vom Kopf. Sein Oberkörper konnte zu keinem Menschen gehören. Armin erinnerte sich an diese Gestalt. Er hatte sie einmal in Form einer Steinstatue gesehen. Es war der Gott Yamantaka! Die Beine hätten die von einem Menschen sein können, doch auf den überbreiten Schultern saß ein stierähnlicher Nacken. Die blau funkelnden Yakaugen lagen in tiefen Höhlen. Spitze Hörner und messerscharfe Fangzähne gaben der Gestalt ein äußerst bedrohliches Aussehen. Armins erster Gedanke war, dass es sich nur um eine Verkleidung handeln konnte, doch als das Ungetüm wieder die Stimme erhob, erinnerte er sich an die Legende vom Erwachen der Götter. War Yamantaka in einen Menschen gefahren und so zu neuem Leben erwacht? Was Armin aber noch viel mehr ängstigte, war das Wissen, dass Yamantaka nur dann lebendig wurde, wenn er weitere Menschenopfer forderte. Er holte die, die seinen heiligen Schlaf gestört hatten, ins Totenreich. Doch Armin wäre kein SAM-Mitglied gewesen, wenn er für solche Erscheinungen nicht eine vernünftige Erklärung gesucht hätte. Logik stand bei ihm und seinen Freunden weit über Aberglaube und Mystik. Er dachte angestrengt nach. 100
Die Mönche knieten sich hin und beugten den Oberkörper nach vor, bis ihre Stirn beinah den Boden berührte. Wieder erhob sich der monotone Gesang. Nach einem Befehl von Yamantaka zogen alle ihre Kapuzen zurück, und ihre Gesichter kamen zum Vorschein. Armin erschauderte. Ganz vorn befand sich die Zombiefrau! Yamantaka erteilte weitere Befehle. Seine Stimme schien auf die Mönche eine magische Wirkung auszuüben. Die Zombiefrau stellte einen Kupferkessel auf den Opferaltar und entzündete darunter ein Feuer. Dann streute sie Teeblätter und verschiedene Pulver in den Kessel. Bläulicher Nebel kroch aus dem Gefäß und breitete sich im ganzen Raum aus. Als Armin den Dunst einatmete, glaubte er ersticken zu müssen. Er rang nach Luft. Ihr Überlebensinstinkt ließ auch Sandra und Mario zu sich kommen. Als sie sahen, in welcher Gesellschaft sie sich befanden, schrien sie entsetzt auf. Jetzt nahm Yamantaka den Kessel und trat in den Raum, in dem sich die drei Freunde befanden. Seine Helfer überwältigten sie nach kurzem Kampf und fesselten sie mit Armen und Beinen an Pflöcke, die in den Boden gerammt waren. Yamantaka begann eine weitere beschwörende Predigt. Dann schlossen sich die restlichen Mönche und die Zombiefrau zu einem Kreis zusammen und nickten immerzu im gleichen Takt.
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Mario fühlte, wie ihn der Dunst aus dem Kessel schwächte. „Wir … wir wollen nicht … Sie haben nicht … das Recht, … uns zu …“, stammelte Sandra benebelt. Niemand schien sie zu hören. Yamantaka hob den Kessel hoch und bekreuzigte die drei Freunde mit der übel riechenden Flüssigkeit. Dann verließ er auf schnellstem Weg die Felskammer, die Mönche eilten ihm nach. Die SAM-Mitglieder waren froh, nicht getötet worden zu sein. Doch mitten in ihren Fluchtüberlegungen ließ sie ein ohrenbetäubendes Geräusch zusammenzucken. Die Decke des Raums senkte sich! Sandra wandte den Kopf zur Seite und erblickte Knochensplitter. Da wurde ihr klar, in welcher Gefahr sie sich befanden. „Die Decke wird uns zerquetschen!“, schrie sie. „Das ist Mord! Das können die doch nicht machen!“, rief Mario und zerrte wild an seinen Fesseln. Doch er konnte sich nicht befreien. „Stopp! Hört auf damit!“, schrie Sandra sehr verzweifelt. „Wir haben nichts verbrochen, hört ihr?“ Doch es war zwecklos. Von Sekunde zu Sekunde wurde der Raum niedriger. Nach Minuten der Todesangst war die Steindecke nur noch zwei Meter von ihren Köpfen entfernt. „Ich hätte nie gedacht, dass dieser Fall so endet“, sagte Armin leise. „He! Wir sind SAM! Solange wir noch denken können, gibt es Hoffnung“, versuchte Mario ihm Mut zu machen. „Er hat Recht“, stimmte Sandra zu. 103
„Wie sollen wir die Decke bloß anhalten?“, grübelte Armin. „Zuerst müssen wir die verdammten Fesseln loswerden. Viel Zeit haben wir nicht!“, sagte Mario und sah sich um. „Nach unserem Tod werden sie uns wahrscheinlich auch ausstopfen und als Reservekörper für ihre schlafenden Götter hier aufteilen“, murrte Sandra. „Hör auf mit dem Blödsinn“, ermahnte Armin sie schroff. Der Dunst verwirrte ihnen die Sinne. Die Glieder wurden ihnen schwer. Sollte der Dampf den Tod erträglicher machen? „Ich hatte den Verdacht schon länger“, schimpfte Sandra plötzlich los. „Ich hätte mich nicht ablenken lassen sollen.“ „Welchen Verdacht?“, fragte Armin. „Paul … Paul Foster steckt dahinter! Er hat uns hier heroben abgeholt; er wusste, dass wir das Geheimnis entdeckt haben.“ „In ein paar Minuten spielt das keine Rolle mehr“, keuchte Armin und starrte auf die ständig näher kommende Decke. „Wir müssen diese Fesseln loswerden“, sagte Mario. Wild zerrte er an den Pflöcken, aber sie rührten sich nicht. Seine Handgelenke waren schon ganz wund gescheuert. Auch Sandra und Armin blieben erfolglos. Plötzlich blieb die Decke mit einem Knirschen stehen. Die Tür öffnete sich und Licht fiel in die Kammer. „Hiiiilfeeee!“, rief Sandra.
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Die Menschenpresse
Armin hob den Kopf und sah zur Tür hinüber. Sie stand tatsächlich einen Spaltbreit offen. „Machen Sie schnell! Wir sind an den Boden gefesselt. Befreien Sie uns, bitte!“, flehte Mario. Für einen Moment herrschte beklemmende Stille. „Nein! Bleiben Sie hier!“, schrie Armin, als die Tür wieder zugezogen wurde. Der Unbekannte hatte sie also nicht retten wollen. Wahrscheinlich war er nur gekommen, um nachzusehen, ob sie bereits zermalmt waren. Als die Decke sich kurz darauf wieder in Bewegung setzte, begann Mario noch wilder an den Fesseln zu zerren. Er fühlte sich, als hätte man seine Beine in Beton gegossen und ihn ins Meer geworfen: Er war völlig hilflos. Sandra wollte schon aufgeben, als ihr hilfesuchender Blick auf eine Kerze fiel, die einer der Mönche stehen lassen hatte. Das war ihre einzige Chance. Geschickt schob das Mädchen die kurze, dicke Kerze langsam mit dem Knie an Marios Handgelenk heran. Mario wusste sofort, was seine Freundin vorhatte. „Pass bloß auf, dass du nur das Seil entzündest und nicht meine Jacke, sonst verbrenne ich“, warnte er seine Freundin. 105
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„Halt still, dann wird es schon klappen.“ Die Handfessel war beinahe durchgebrannt, als Marios Jackenärmel plötzlich Feuer fing. „Hilfe! Ich verbrenne!“, kreischte der Junge. Durch den Schmerz zog er den Arm so heftig an den Körper, dass die Fessel riss. Blitzschnell löste er den zweiten Strick und riss sich die brennende Jacke in letzter Sekunde vom Leib. Die Steindecke war wieder ein merkliches Stück näher gekommen und bewegte sich unaufhaltsam weiter herunter. „Mach schon!“, drängte Armin. „Starr keine Löcher in die Luft, sondern binde uns los!“ So schnell er konnte, befreite Mario seine beiden Freunde. Der erste Schritt war getan. Jetzt mussten sie es noch schaffen, aus der Kammer herauszukommen. Zuerst konnten die drei die Tür nicht entdecken. Nachdem sie sie gefunden hatten, erkannten die Freunde, dass die Steintür innen völlig glatt war. Sie konnte nur von außen geöffnet werden. Die drei SAM-Mitglieder untersuchten noch immer die Tür, als sie plötzlich Geräusche hörten. Die Freunde hielten den Atem an. Es machte sich eindeutig jemand an der Tür zu schaffen. Unter Ächzen und Stöhnen wurde sie ein Stück aufgedrückt. Sandra, Armin und Mario waren sich sicher, dass ihre Widersacher noch einmal nachschauen kamen, ob sie schon tot waren. „Könnt ihr mich hören?“, fragte eine Stimme. „Gebt mir ein Zeichen, wenn ihr noch am Leben seid!“ Sandra glaubte die Stimme zu erkennen, war sich aber nicht sicher. 107
„He, ihr da drin! Sagt was!“ Armin wollte gerade antworten, als Mario ihm bedeutete, still zu sein. Wer wusste, was diese Irren vorhatten? Möglicherweise handelte es sich um eine neue Falle? Die Steintür ging noch ein Stück weiter auf. Die drei hielten die Luft an. Sandra begannen die Knie zu schlottern.
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Die Sekte der Unsterblichkeit
„Verdammt!“, schimpfte die Stimme. Die Tür wurde langsam wieder zugezogen. Armin, der sich wie in einem Sarg fühlte, auf den jemand Erde schüttete, hielt es nicht länger aus. „Wir sind hier!“, brüllte er aus Leibeskräften. Er stellte einen Fuß in den Spalt, linste hinaus und starrte ins Gesicht der Zombiefrau. „Nichts wie weg hier!“, rief er. Die drei Freunde versuchten sich durch den Türspalt zu zwängen. „Wer hat euch die Fesseln abgenommen?“, stammelte die Zombiefrau erstaunt. Als die SAM-Mitglieder sie feindselig anstarrten, versicherte sie: „Ich bin gekommen, um euch zu retten!“ „Das ist doch wieder nur eine Falle!“, meinte Sandra. Doch als die Zombiefrau sich gegen die Tür stemmte, um ihnen zu helfen, sie weiter aufzuziehen, waren sich die drei Freunde plötzlich nicht mehr so sicher. Kaum waren sie draußen, zog die Zombiefrau die schwere Tür wieder zu. „Was soll das Affentheater?“, fragte Mario ärgerlich. „Sie dürfen auf keinen Fall bemerken, dass ich euch geholfen habe, sonst werfen sie mich selbst in die Kammer“, flüsterte die Zombiefrau. „Was wird hier eigentlich gespielt? Wer sind Sie und 109
warum benehmen Sie sich so komisch?“, bohrte Armin weiter. Die Frau ignorierte die Fragen. „Die“ Sekte der Unsterblichkeit „versteht keinen Spass. Mit Feinden macht sie kurzen Prozess. Nehmt euch vor Alan Morgan in Acht. Die Mitglieder der Sekte wollen, dass ihre Götter aus dem heiligen Gral trinken, so Unsterblichkeit erlangen und jene Menschen bestrafen, die Potala entweiht und ihre Ruhe gestört haben. Sie hoffen, als Dank selbst aus dem Kelch trinken zu dürfen.“ Die Zombiefrau starrte sie eindringlich an. „Ihr seid nicht die Ersten, die getötet werden und deren Körper einem Gott als Behausung dienen sollten. Ich habe euch wiederholt gewarnt und versucht, euch einen Schrecken einzujagen, damit ihr von hier fernbleibt, aber ihr seid ja unbelehrbar.“ „Sind Sie auch der Todesmönch?“, fragte Armin einer Eingebung folgend. Die Zombiefrau antwortete nicht und starrte ihn nur an. „Hat der Todesmönch eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen?“, hakte Armin nach. „Er hat immer eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Wenn er umgeht, bedeutet das, dass bald ein Gott erwachen wird, um Vergeltung zu üben, und deshalb ein Körper für ihn benötigt wird.“ „Was geschieht mit den anderen aus der Crew? Sie waren doch auch hier“ fragte Sandra. „Wir haben nicht mehr viel Zeit. Je weniger ihr wisst, desto besser für euch. Bringt euch so schnell wie möglich in Sicherheit“, riet ihnen die Zombiefrau. „Ich weiß nicht, 110
ob ich euch noch einmal helfen kann. Schweigt darüber, was heute geschehen ist, sonst rächen sich die Götter an uns allen!“ Flink huschte sie davon und verschwand in der Dunkelheit. Die SAM-Freunde starrten ihr hinterher. „Ich habe keine Ahnung, wo wir genau sind. Ich glaube, allein finden wir hier nie raus“, sagte Mario. „Kein Problem“, krächzte Armin, zog seine Stablampe aus der Tasche und knipste sie an. Er suchte die nähere Umgebung ab und traf mit dem Lichtstrahl tatsächlich auf einen glitzernden Spiegelsplitter. „Unser Weg nach draußen ist doch wunderbar markiert“, sagte er stolz. Nach zehn Minuten traten sie erleichtert ins Freie. Es war eisig kalt. Vorsichtig erkundeten sie das Gelände. Es gab keine Spur von Yamantaka oder der Sekte der Unsterblichkeit. „Wir sollten zur Crew zurück und sie warnen. Dort sind wir sicher und erfahren wahrscheinlich auch mehr“, schlug Mario vor. Armin atmete schwer, als sie sich den gewundenen Pfad hinunterschleppten. Alle drei waren noch etwas benommen von den Drogen und dem übel riechenden Dunst aus dem Kessel. Als sie das Dorf erreicht hatten, erschraken sie zutiefst. Die Filmcrew war spurlos verschwunden. Kein Regiezelt, kein Technikwagen, keine Requisiten. Sie wollten die Einheimischen befragen, aber die sahen sie nur verständnislos an. Am Ufer des Sees fanden sie Reifenspuren, aber das war auch alles. Ratlos blickten sie einander an. „Das hat uns gerade noch gefehlt“, seufzte Mario. „Mut111
terseelenallein in einem fremden Land mit einer Sprache, die wir nicht verstehen.“ „Es gibt einen Ausweg“, sagte Armin. „Wir müssen nach Lhasa.“ Erschöpft trafen sie nach einer langen Wanderung in der verbotenen Stadt ein. Telefone waren in dieser Gegend absolute Mangelware, so dauerte es einige Zeit, bis sie in einem Souvenirgeschäft eines fanden. „Und wie sollen wir das Gespräch bezahlen?“, fragte Sandra. „Lass mich nur machen“, erwiderte Armin und fasste sich in Gegenwart der Verkäuferin ächzend an die Kehle, um einen Notfall vorzutäuschen. Mario bat mit Gesten um den Telefonhörer und reichte ihn schließlich seinem Kumpel, der eine Nummer wählte. „Wir kennen doch niemanden hier“, flüsterte Sandra. „Ich schon. Herr Anderson hilft uns bestimmt“, antwortete Armin leise. In knappen Worten erklärte er dem hilfsbereiten Besitzer des Reisebüros, was sich in den letzten Tagen im Potala Palast abgespielt hatte. Anderson stöhnte auf. „Dabei habe ich meinem Freund Alan noch wichtige Daten zur Verfügung gestellt.“ „Morgan ist selbst einer von diesen Irren … diesen Unsterblichkeitsfanatikern. Sie haben die Crew entführt und werden sie bestimmt in die Menschenpresse stecken. Wir brauchen Ihre Hilfe, sonst passiert etwas Schreckliches!“ „Natürlich helfe ich euch“, versprach Anderson. „Aber verlasst zur Sicherheit Lhasa. Wahrscheinlich sucht die Sekte hier bereits nach euch. Ein Stück östlich der Stadt 112
gibt es eine kleine Höhle, in der ihr euch ausruhen könnt. Dort werde ich euch abholen.“ Nachdem er ihnen den Weg beschrieben hatte, hängte er ein. Die Freunde bedankten sich bei der netten Verkäuferin, verließen den Laden und machten sich zur Höhle auf. Als Sandra, Mario und Armin die Höhle erreicht hatten, sanken sie erschöpft zu Boden. Sie wollten sich nur mehr ausruhen. Herr Anderson würde sicher nicht lange auf sich warten lassen. Sie waren gerade am Einnicken, als sie ein Geräusch aufschrecken ließ.
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Die Rückkehr des Todesmönchs
Außer den drei Freunden befanden sich sechs weitere Personen in der Höhle. In ihrer Mitte stand Paul Foster. Einige hielten Stangen mit Gebetsfahnen. Sie starrten die drei SAM-Mitglieder an, als wollten sie sie hypnotisieren. Mario schnappte einen Stein und schleuderte ihn auf Foster, um die Eindringlinge abzulenken und mit seinen Freunden fliehen zu können. Das Manöver misslang. Grob wurden die drei gepackt. Armin versuchte Paul einen Fußtritt zu versetzen, verfehlte ihn aber. „Du hinterhältiger Verräter!“, rief er wütend. Draußen vor der Höhle parkte ein Lieferwagen. Unsanft wurden die SAM-Freunde hineingeworfen. Die finsteren Gesellen kletterten zu ihnen in den Wagen. Sandra verschlug es auf der Fahrt die Ohren. Offenbar fuhren sie in die Berge. Armin wurde aus Paul einfach nicht klug. Dass ausgerechnet er mit diesen Wahnsinnigen unter einer Decke steckte! Herr Anderson hatte also Recht gehabt mit seiner Annahme, dass sich die Sekte der Unsterblichkeit bereits in Lhasa befand. Als er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass die Verkäuferin im Souvenirladen auch zur Sekte gehören musste – wie sonst hätte diese vom Höhlenversteck der SAM-Freunde erfahren können? 114
Ein zweites Mal würde die Sekte sie sicher nicht entkommen lassen. Sie konnten nur hoffen, dass Herr Anderson sie schnell finden würde und ihnen zu Hilfe kam. Aber wie sollte er sie finden? Hätte er sich beeilt, wären sie erst gar nicht entführt worden. Der Wagen kam mit einer Vollbremsung zu stehen. Einer der Gauner riss die Hecktüre auf und stieß die drei Freunde hinaus. „Fürs Erste sollten wir tun, was sie sagen“, murmelte Mario. „Wenn sich eine Chance zum Abhauen bietet, müssen wir eben auf Zack sein.“ Armin und Sandra nickten. Wie Mario wussten sie aber, dass sich eine solche Chance wohl kaum bieten würde. Sie waren wieder im Potala Palast. Ehe sie sich versahen, landeten sie in einer düsteren Halle, in der ein Opferaltar stand. Einer der Mönche trat an den Altar, öffnete ein Buch und sprach: „Trotz aller Warnungen habt ihr den Schlaf der Götter gestört. Ihr Zorn soll euch treffen. Das Leben wird aus euch weichen und eure Körper werden den Erwachten als Behausung dienen.“ Der Mann öffnete einen Schrein und entnahm ihm einen Kelch, in den er verschiedene Kräuter streute. Ein anderer Mönch schlug auf einen riesigen Gong; der dumpfe Klang hallte lange durch das Kloster. Dann ritzte sich der erste Mönch, offenbar der Anführer, mit einem scharfen Messer den Unterarm auf und ließ sein Blut in den Kelch tropfen. Die anderen taten es ihm gleich. Als er ein brennendes Streichholz hineinwarf, gab es eine grelle Stichflamme und ein rötlicher Nebel begann sich in der Halle auszubreiten. 115
Die Mönche hasteten aus der Gruft und machten sich daran, die schwere Steintür hinter sich zuzuziehen. Den drei Freunden trübten sich die Sinne. „Schnell, bevor wir bewusstlos werden!“, rief Armin und rannte auf die sich schließende Tür zu. Er zerrte daran, aber die Gegner waren stärker. Da ließ ein Geräusch die Mönche herumfahren, und sie ließen die Tür los. Die drei Freunde zogen sie auf und rannten hinaus. Rettung in letzter Sekunde, dachte Armin. Doch einen Augenblick später dachte er anders. Am oberen Ende einer langen Treppe stand der Todesmönch! Niemand rührte sich. Die unheimliche Erscheinung übte eine starke Wirkung auf alle aus.
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Stufe um Stufe schritt die Gestalt herab. Ängstlich rückten die Mönche zusammen. Offensichtlich bangten sie, der Todesmönch sei hier, um unter den Anwesenden sein nächstes Opfer zu holen. Wie gebannt starrten sie auf die Sense, die im schwachen Licht schimmerte. Nur mehr wenige Stufen trennten sie vom gnadenlosen Diener der schlafenden Götter. Da brach ein wilder Schrei des Anführers der Mönche den Bann und sie hasteten Hals über Kopf in die Tiefen des Klosters. Auch die SAM-Freunde stürmten los. Armins Abstand zu Sandra und Mario wurde schnell größer. Wegen seiner Atembeschwerden konnte er nur langsam laufen. Er wandte sich um und sah, dass der Todesmönch aufholte. Bald würde er ihn erreicht haben. „Mach schon!“, rief Sandra. „Er ist gleich bei dir!“ Armin keuchte und schwitzte. Die Halsschmerzen waren unerträglich geworden, die Luft war entsetzlich stickig. „Rettet euch, ich … ich komme schon zurecht!“, ächzte er und deutete Sandra, sie solle weiterlaufen. Hinter ihm hörte er die Tritte des Todesmönchs. Das Geräusch kam immer näher. „Halt die Klappe und reiß dich zusammen!“, keuchte Sandra. „Entweder er erwischt uns alle oder keinen, klar?“ Von den Mönchen war inzwischen nichts mehr zu sehen. Da tauchte am Ende des Ganges die Kammer auf, in der Armin sich beim ersten Besuch im Potala als Mönch verkleidet hatte, um Sandra und Mario einen Streich zu spielen. „Sandra, hau ab, schnell. Ich weiß, wo ich mich verstecke. Kümmere dich nicht um mich!“, rief er seiner Freundin zu. 117
Sandra hoffte inständig, dass ihr Verfolger auf ihren Plan hereinfiel. Mit einem gellenden Schrei versuchte sie ihn abzulenken. In großen Sätzen rannte sie eine Treppe hinab. Doch dann hielt sie plötzlich inne. Die Schritte hinter ihr waren verstummt. Der Todesmönch hatte ihre Finte also durchschaut und war Armin gefolgt! Kreidebleich starrte Armin auf die Tür der Kammer, in der er sich versteckt hatte. Schritte näherten sich. Jetzt saß er in der Falle. Der Todesmönch stand ihm gegenüber. So verharrten sie einen Moment, dann kam der Sensenmann weiter auf den Jungen zu. Armin wich einige Schritte zurück, stürzte über einen Felsbrocken und fiel vor dem Opferaltar hin. Er wusste, dass es vorbei war. Er schloss die Augen. Als Letztes sah er den Todesmönch mit der Sense ausholen.
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Dem Geheimnis auf der Spur
Ein Schrei gellte durch die Kammer und etwas fiel klirrend zu Boden. Armin riss die Augen auf. Der Todesmönch war verschwunden. Er knipste die Taschenlampe an und sah sofort, was seinen Verfolger vertrieben hatte: Ein riesiger Schwarm Fledermäuse flatterte durch die Kammer. Doch es waren keine gewöhnlichen Fledermäuse: Es handelte sich um Vampire. Armin legte sich flach auf den Boden. Inzwischen waren Mario und Sandra am unteren Ende der Treppe angekommen, über die der Todesmönch gerade flüchtete. Sie sahen, wie er sich verzweifelt gegen die Vampire wehrte. Ihre Bisse waren sehr schmerzhaft. Er riss sich die Kutte vom Leib, weil sie ihn beim Laufen behinderte, und schlug mit dem Strick, der ihm als Gürtel diente, nach den Tieren. Nun war deutlich zu erkennen, wer sich unter der Mönchskleidung verborgen hatte: Paul Foster! Als die Fledermäuse endlich von ihm abließen, setzte er sich auf eine Stufe und untersuchte ängstlich seine Bisswunden. Er wusste, dass die Bisse mancher Vampirarten töten konnten. Die Tiere, die ihn verfolgt hatten, gehörten aber offenbar einer anderen Art an, sonst wäre er schon längst tot gewesen. 119
„Habt keine Angst … bitte! Ich bin auf eurer Seite!“, stammelte Paul, als Sandra und Mario vor ihm standen. „Du bist der Todesmönch!“, entfuhr es Mario. Armin hörte die Stimmen seiner Freunde und wagte sich aus der Kammer. „Gott sei Dank waren sie nicht giftig“, keuchte Paul erschöpft. Sandra sah ihn verächtlich an. „Ein schöner Kollege bist du. So ein mieser Scherz! Um ein Haar wären wir in der Menschenpresse draufgegangen, und Armin wäre fast aufgespießt worden!“ „Wir müssen hier abhauen, sofort!“, sagte Paul und rappelte sich hoch. „Bevor du uns nicht sagst, was hier gespielt wird, gehst du nirgendwo hin“, fuhr Mario ihn an und stieß ihn wieder nieder. Paul wirkte jetzt immer ängstlicher. Nun war es vorbei mit seinem arroganten Gehabe. „Seid um Himmels willen vernünftig. Diese Wahnsinnigen werden jeden Moment wieder hier auftauchen!“, warnte er. „Tu nicht so, als würdest du nicht zu ihnen gehören!“, fauchte Armin ihn an. „Nein … Ihr versteht das nicht richtig. Ich … ich wollte ja nur … Es geschah ganz unerwartet, und ich hatte keine andere Möglichkeit herauszufinden, was hier los ist. Ihr müsst mir glauben. Meine Tante machte vor zwei Monaten hier Urlaub. Sie kam nicht mehr zurück. Dann hörte ich, dass schon andere vor ihr in dieser Gegend spurlos verschwunden waren. Also beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei entdeckte ich diese Sekte. Das war auch der Grund, warum ich unbedingt in die Filmcrew 120
wollte. So konnte ich Nachforschungen anstellen, ohne Verdacht zu erregen. Die Zombiefrau ist auch ein Mitglied der Sekte und glaubt, dass der heilige Gral Unsterblichkeit verleiht. Sie ist gelernte Maskenbildnerin und sehr abergläubisch. Sie ist für die Pflege der ausgestopften Tierkörper verantwortlich. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich der Sekte beitreten durfte. Erst dadurch erkannte ich die gefährlichen Absichten dieser Wahnsinnigen.“ Die SAM-Mitglieder konnten es kaum glauben. Sagte Paul tatsächlich die Wahrheit? „Mein einziges Ziel war es, den Plan der Sekte zu vereiteln und zu verhindern, dass sie neben Tieren auch Menschen opfern und ausstopfen. Aber ich musste meine Tarnung möglichst lange aufrechterhalten. Nur wenn sie das Opferritual vollzogen hätten, wäre ich an Yamantaka, den Obersten der Sekte, herangekommen. Ich bin überzeugt, dass er über das Verschwinden meiner Tante Bescheid weiß. Nach den Gesetzen der Sekte ist der Todesmönch vom Potala Palast der Ranghöchste nach den schlafenden Göttern, dem sie gehorchen müssen. Deshalb besorgte ich mir ein paar Filmrequisiten und trat als Todesmönch auf.“ „Sie werden bald herausfinden, dass du sie hinters Licht geführt hast“, sagte Sandra. „Und nicht sehr erfreut sein.“ „Was ist mit der Crew geschehen? Marisa, Mark, die Kameraleute, die Beleuchter“, fragte Armin besorgt. „Keine Ahnung. Die Sekte hat mir offenbar nicht genug vertraut, um mich einzuweihen.“ Paul rappelte sich auf. „Was ist mit dem unsterblichen Kreuzritter, der den heiligen Gral bewacht?“, fragte Armin. 121
„Was redest du da? Ein unsterblicher Kreuzritter?“ Paul Foster schüttelte lachend den Kopf. „Ja, ein alter Kreuzritter mit einem riesigen Bidenhander bewacht den heiligen Gral!“, ließ Armin nicht locker. „Wir haben ihn selbst gesehen.“ Mit knappen Worten weihte er Paul ein. Plötzlich näherten sich wieder Schritte. „Los, nichts wie weg hier!“, zischte Paul. Als sie nach einigen Minuten ins Freie gelangten, sahen sie Morgans Beiwagenmaschine, den Schneidewagen und andere Filmwägen vor dem Kloster stehen. Von der Crew fehlte aber jede Spur. „Wir müssen irgendwie nach Lhasa, um zu telefonieren“, flüsterte Sandra. Paul deutete den SAM-Freunden zu bleiben, wo sie waren, und schlich vorsichtig den Hang hinunter, um die Lage zu erkunden. Er kletterte auf einen Felsvorsprung und wäre vor Schreck beinahe abgestürzt, als Armin ihn von hinten ansprach. „Ihr solltet doch oben auf mich warten!“, fuhr er die drei Freunde an. Vorsichtig riskierten sie einen Blick über die Felskante und erstarrten. Sie erkannten unter ihnen den Eingang zu einer geheimen Höhle, vor der reges Treiben herrschte. Paul vermutete, dass man durch die Höhle ins Kloster gelangen könne – offenbar handelte es sich um einen alten Fluchtweg. Soweit man es von oben sehen konnte, schleppten die Mönche kistenweise Schätze aus der Höhle. Eine der Kisten war mit rotem Samt ausgekleidet und enthielt einen sagenhaft schön verzierten Goldkelch; er war mit riesigen Diamanten, Smaragden und Rubinen besetzt. 122
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Soweit man es von oben sehen konnte, schleppten die Mönche kistenweise Schätze aus der Höhle. Eine der Kisten war mit rotem Samt ausgekleidet und enthielt einen sagenhaft schön verzierten Goldkelch; er war mit riesigen Diamanten, Smaragden und Rubinen besetzt. „Der heilige Gral. Es gibt ihn also wirklich!“, flüsterte Mario aufgeregt. „Aus diesem Gefäß soll Jesus beim letzten Abendmahl getrunken haben. Joseph von Arimathia soll Christi Blut darin aufgefangen haben. Der Gral wird als magisches Gefäß angesehen und soll von den Rittern der Tafelrunde gefunden worden sein; sie haben ihn dann aber angeblich wieder verloren. Jetzt stellt sich heraus, dass er jahrhundertelang im Potala Palast war, und niemand hat ihn hier, weit abseits der Kreuzzugwege, vermutet. Ein kluger Schachzug!“, schwärmte Mario. „Die Höhle ist also mit der Göttergruft verbunden“, stellte Sandra fest. Die SAM-Mitglieder blickten einander nachdenklich an. Die Sekte war in jenen Klosterteil eingedrungen, in dem der alte Kreuzritter unermüdlich Wache hielt. „Seht nur!“, flüsterte Paul aufgeregt. Zwei Mönche schleppten eine leblose Gestalt ins Freie. Sie trug ein Kettenhemd. Ein anderer Mönch trug den Bidenhander und einen Kassettenrekorder. „Der Kreuzritter, den Alan Morgan mit seiner Spezialkamera fotografiert hat, ist eine Puppe! Die Geräusche kamen von diesem Rekorder!“, fand Armin seinen Verdacht bestätigt. „Und er war wahrscheinlich auch die Wärmequelle, die auf den Infrarotfotos von Morgan zu sehen war!“ „Also ist der ganze Zirkus um die Unsterblichkeit nur 124
ein Märchen. Morgan sollte glauben, die schlafenden Götter könnten tatsächlich erwachen, damit er nicht zu der Gruft mit ihren Schätzen vordringt“, ergänzte Mario. „Auf diese Weise kann die Sekte in aller Ruhe mit den wertvollen Schätzen abhauen!“, fuhr Armin fort. „Hervorragende Arbeit, nur leider etwas zu spät!“ Den vieren gefror das Blut in den Adern. Sie wagten sich kaum umzudrehen. Zu gut kannten sie die Stimme Yamantakas!
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Die Wahrheit
Hinter ihnen stand Herr Anderson. „Sie!“, entfuhr es Sandra verächtlich. „Ja, ich“, grinste er heuchlerisch. „Ihr habt Mut und Köpfchen, das muss man euch lassen. Aber ihr seid zu weit gegangen. Die Götter werden liebend gern in eure Körper einziehen.“ „Das mit den schlafenden Göttern ist doch Humbug“, krächzte Armin. „Für euch und mich schon, aber nicht für diese Idioten da unten“, lachte Anderson und zeigte auf die emsigen Mönche. „Die glauben wirklich an die Unsterblichkeit. Ich habe ihnen versprochen, sie aus dem Gral trinken zu lassen, wenn sie mir helfen, ihn zu finden.“ „Sie lassen wirklich zu, dass diese Irren Menschen töten, bloß weil sie abergläubisch sind?“, rief Mario entsetzt. „Beinahe hätte es euch als Erste erwischt. Alle anderen konnte ich davon abhalten, je wieder im Potala aufzutauchen. Aber ihr Schlaumeier musstet ja weiterschnüffeln und eure Nase in Dinge stecken, die euch nichts angehen.“ „Sie haben sich als Menschengott Yamantaka verkleidet, um sie einzuschüchtern und als Schatzräuber zu missbrauchen. Auf diese Weise konnten Sie selbst eine reine 126
Weste behalten, falls der Plan auffliegen sollte“, sagte Mario selbstsicher. „Klar doch. Ihr vergesst, dass ich auch vom Film komme. Ich kenne mich mit Kostümen und Maskenbildnerei aus. Ich habe so echt gewirkt, dass die Idioten jetzt noch an die Existenz Yamantakas glauben. Sie würden für mich in den Tod gehen. Sie brauchen eben einen Anführer, der ihnen den Weg weist.“ „Aber was hat das alles für einen Sinn? Sie besitzen doch ein gut gehendes Reisebüro.“ „Wie viel bringt mir das schon ein? Mit den paar Kröten kann man keine großen Sprünge machen“, brummte Anderson. „Ich bin einer der besten Regisseure der Welt, aber in Hollywood bekam ich keine Chance. Also habe ich hier ein Reisebüro eröffnet. Mein Lebensziel ist es aber, berühmt zu werden. Ein Star. Also beschloss ich, auf einem anderen Weg für weltweite Schlagzeilen zu sorgen und Millionen zu machen.“ Sandra war jetzt alles klar. „Sie setzten das Gerücht vom Todesmönch in Umlauf, um alle einzuschüchtern, lassen diese Mönche dort unten für Sie Reliquien stehlen und schützen sich dadurch, dass Sie sich als Yamantaka verkleiden. So wissen nicht einmal Ihre gutgläubigen Komplizen, mit wem sie es eigentlich zu tun haben.“ „Ganz genau“, lachte Anderson. „Potala besitzt einen uralten Kelch, in den einer der größten Diamanten der Erde eingesetzt ist. Er allein wird mich zum vielfachen Millionär machen, mir und meinem Vater ein sorgloses Leben bescheren. Die Welt wird glauben, ich hätte tatsächlich den heiligen Gral gefunden und diesen Goldkelch dafür halten. Mein Name wird in allen Zeitungen und Fernsehsendern gefeiert 127
werden. Und niemand, weder diese dummen Mönche noch ihr, wird mich verraten können. Die Menschenpresse freut sich schon auf ihre nächsten Gäste. Bald wird keiner mehr nach euch fragen. Der Dalai Lama wird nach diesen Unfällen Potala für Besuche auf ewig sperren lassen!“ Sandra war klar, dass Anderson es ernst meinte. Seine Augen sprachen eine deutliche Sprache. „So, genug geplaudert. Keine falsche Bewegung, sonst knallt es“, sagte er grob und zielte mit einer Pistole auf sie. Die drei Freunde und Paul hoben die Arme und gingen Anderson folgsam voraus. „Schneller, ich hab nicht ewig Zeit!“, knurrte der vermeintliche Reiseführer und stieß Mario die Pistole so fest in den Rücken, dass dieser aus dem Gleichgewicht geriet und einen großen Stein lostrat, der polternd den Hang hinunterkollerte. Anderson war einen kurzen Moment abgelenkt. Das nutzte Sandra aus und versetzte ihm einen kräftigen Karatetritt gegen das Brustbein. Anderson ließ die Pistole fallen und stürzte rücklings zu Boden. Armin schnappte sich sofort die Waffe. Als Anderson aufstehen wollte, feuerte der Junge einen Warnschuss in die Luft ab. „Schnell, zum Motorrad!“, rief Paul und rannte los. Als sie dort angekommen waren, startete er hastig die Maschine und gab Gas, dass der Motor laut aufheulte. Das Hinterrad spie eine Sandfontäne aus, so wild wendete er das Fahrzeug, „Mach schon, Armin!“, schrie Sandra. „Sie werden gleich hier sein!“ Der SAM-Junge hatte sein Schweizer Messer gezückt und schlitzte damit den anderen Gefährten die Reifen auf. 128
„Uns wird keiner von diesen Irren folgen!“, grinste er triumphierend, ohne zu bemerken, dass Anderson mit einem spitzen Dolch auf ihn zueilte. „Achtung, hinter dir!“, kreischte Sandra. Armin drehte sich um und sah den Angreifer heranstürmen. Schnell bückte er sich, griff sich eine Handvoll Erde und schleuderte sie Anderson in die Augen. Der Gauner schrie auf und rieb sich die schmerzenden Augen. Armin sprang zu seinen Freunden in den Beiwagen und sie brausten den steinigen Weg hinunter. „Wir fahren direkt nach Lhasa und verständigen die Behörden. Sie müssen diese Wahnsinnigen festnehmen, bevor sie sich in den Bergen verstecken“, rief Paul. Sie mussten unbedingt herausfinden, was mit der Crew und Pauls Tante geschehen war. „Ich glaube, ich weiß jetzt, warum der See bei Andersons Haus sprechen kann“, sagte Armin überzeugt. Sein unglaublicher Verdacht sollte sich als richtig erweisen. Im Keller von Andersons Haus, am Ende eines Tunnels, der unter dem See verlief, stießen sie auf eine Kerkertür. Mit vereinten Kräften knackten sie das Schloss und öffneten das feuchte Gefängnis. An die 20 Personen, unter ihnen Alan Morgan, Marisa, Mark und Pauls Tante, saßen an Händen und Füßen gefesselt am Boden und konnten sich kaum bewegen. Auch Beutegegenstände aus dem Tempelkloster befanden sich in dem Raum. Sie waren bestimmt ein Vermögen wert. Armins Gehör hatte ihn also doch nicht betrogen, und er hatte bei seinem Besuch in Andersons Hütte Pauls Tante um Hilfe rufen hören. „Was für ein Glück, dass ihr so helle Köpfe seid“, sagte 129
Marisa erleichtert. „Ohne euch wären wir hier elend verhungert. Anderson und sein Vater hätten sich unbemerkt nach Amerika abgesetzt und uns hier zurückgelassen. Niemand hätte uns jemals gefunden.“ „Gott sei Dank gibt es ja uns. Mit SAM sollten Gauner sich eben nicht anlegen“, lächelte Mario stolz in Richtung Sandra und Armin. Eine Stunde später saßen die unzertrennlichen Detektivfreunde beim Dalai Lama und den städtischen Behörden und gaben im Rahmen einer Dankesfeier ihre unglaublichen Erlebnisse zu Protokoll. Fragen in Hülle und Fülle prasselten auf die drei Freunde nieder. Ein Blitzlichtgewitter von Journalistenkameras blendeten sie von allen Seiten. „In der Menschenpresse habe ich schon geglaubt, unsere letzte Stunde hat geschlagen“, sagte Sandra in einem Interview gut gelaunt. „Von Klöstern und Reliquien habe ich jedenfalls für die nächste Zeit die Nase voll.“ „Wir haben offenbar ein Talent dafür, in gefährliche Fälle verwickelt zu werden“, erklärte Armin den Anwesenden und grinste. Das Grinsen sollte ihm aber bald vergehen, denn der nächste brandgefährliche Geheimfall wartete schon auf die SAM-Detektive. Und dieses Mal würde der Feind nicht nur gnadenlos sein … *
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siehe CodeName SAM, Geheimfall 3, „Das ZombieElixier“ 130
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Tibet ist mit knapp 1,2 Millionen km² fast viermal so groß wie Deutschland und liegt auf einem Plateau zwischen 3500 und 5000 Meter über dem Meeresspiegel. In der Hauptstadt Lhasa, der „heiligen, verbotenen Stadt“, leben rund 200000 Menschen. Das tibetanische Hochland wird seit Jahrtausenden von mongolischen Völkern bewohnt. Schon im siebten und achten Jahrhundert nach Christus drang von Indien her der Buddhismus ein. 779 wurde der neue Glaube zur Staatsreligion erklärt. Tibet war immer von Krisen geschüttelt. 1912 vertrieben tibetische Soldaten die chinesischen Truppen, die das Land lange beherrscht hatten, doch 1950 wurde Tibet abermals von China besetzt. Touristen dürfen erst seit den Achtzigerjahren einreisen. Fliegt man von Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal, nach Lhasa, hat man den 8846 Meter hohen Mount Everest, den höchsten Berg der Welt, im Blick. Tibet hat viele hohe Berge, deshalb wird es auch das ‚Dach der Welt’ genannt: Nirgends auf der Erde ist man dem Himmel so nahe wie hier.
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Der legendäre Mythos vom Heiligen Gral zieht die Menschen seit Jahrhunderten in seinen Bann. Aus diesem sagenhaften Gefäß soll Jesus beim Letzten Abendmahl getrunken haben. Am nächsten Tag soll Joseph von Arimathia das Blut des Gekreuzigten darin aufgefangen haben. In der mittelalterlichen Dichtung wird der Gral als geheimnisvoller heiliger Gegenstand beschrieben, der einem Kelch gleicht. Seinem Besitzer verleiht er Glückseligkeit und Unsterblichkeit, aber es kann ihn nur finden, wer dazu ausersehen ist. Der Gral soll von den Rittern der Tafelrunde des englischen Königs Artus gefunden worden sein, die ihn dann aber wieder verloren. Im Epos ‚Parzival’ ist der Gral ein Edelstein, der auf der Gralsburg Munsalvaesche von einer Schar von Rittern bewacht wird. Der deutsche Journalist Otto Rahn (1904-1939) glaubte die Gralsburg in Frankreich gefunden zu haben. Beweise dafür gibt es jedoch keine.
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Als der Wohlstand vor rund 1000 Jahren die Ritter träge machte, dürstete sie nach Abenteuern. Manche von ihnen gingen als Einsiedler in die Wälder oder zogen als Wanderprediger umher, um an das Leiden Christi zu erinnern und daran, dass das Heilige Grab in Jerusalem in den Händen von Heiden war. Papst Urban II. rief im Jahre 1095 die Ritter zum Kreuzzug ins Heilige Land auf, um das Grab aus den Händen der Türken zu befreien. Eine gewaltige Armee zog quer durch Europa und sammelte sich in Konstantinopel (heute Istanbul). 1099 gelang die Eroberung Jerusalems, das jedoch bald wieder von den Türken eingenommen wurde. Auch ein zweiter und dritter Kreuzzug schlugen fehl. Obwohl die Kreuzritter fast uneinnehmbare Burgen errichteten, mussten 1303 die letzten von ihnen das Heilige Land verlassen, nachdem im Namen Christi Unmengen an Blut vergessen worden waren. 134
Hoch über Lhasa thront der Klosterpalast Potala, der ehemalige Sitz des Dalai Lama, des politischen und religiösen Oberhauptes der Tibeter. Der Name ‚Potala’ stammt aus dem Sanskrit und bezieht sich auf einen mystischen Berg an der Südspitze Indiens. Die Tibeter nennen das hohe, Lhasa überragende Gebäude ‚Tse’, was ‚Gipfel’ bedeutet. Der Palast ist das größte buddhistische Bauwerk der Welt. Es ist 360 Meter lang und 13 Stockwerke hoch, ist heute teilweise restauriert und als Museum zugänglich. Der gegenwärtige vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso, lebt seit seinem gescheiterten Volksaufstand gegen die chinesische Herrschaft im indischen Exil. Er hält weiter an der Unabhängigkeit Tibets fest, denn seit den späten Achtzigerjahren betreibt China eine Unterdrückungspolitik, die auf die Vernichtung der tibetischen Traditionen abzielt.
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