Der Hüter meines Bruders Version: v1.0 »Töte ihn!« Die Stimme des Vaters war sanft, ohne den gewohnten Befehl ston. Ch...
43 downloads
489 Views
564KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Der Hüter meines Bruders Version: v1.0 »Töte ihn!« Die Stimme des Vaters war sanft, ohne den gewohnten Befehl ston. Charles glaubte sogar, etwas Mitgefühl darin zu hören, doch das konnte auch Einbildung gewesen sein. »Töte ihn, Charles!« Aus der Abenddämmerung über den Hügeln ragten Klostermau ern auf, wuchtig und Schutz versprechend. Charles senkte den Blick. Vor ihm lag sein Bruder William. Ein kleines Bündel Leben, eingehüllt in eine Decke, die zum Leichentuch werden sollte. Das Baby schlief. »Verdammt!«, brüllte sein Vater da. »Ich sagte: Töte ihn!« Charles blieb keine Wahl – er musste den Fluch von Whit ling Manor brechen. Er hob das Relikt, das sein Vater ihm in die Hand gezwungen hatte. Es war ein Stein, braun und unscheinbar, wie man ihn zu Hunderten auf den Feldern findet. Charles weinte, als er damit zu schlug. Er war erst sieben Jahre alt …
50 Jahre später Amanda Norrick war in der Hölle gelandet. Das hatte sie schon beim ersten Betreten von St. Leodigan’s geahnt, aber jetzt, als sie mit wachsendem Horror auf das bedruckte Papier starrte, wurde diese Ahnung zur Gewissheit. Stumm las die 17-Jäh rige einen Befehl, den sie niemals ausführen konnte, und ihr Herz sank. Bei der Titration von 35 ml Salzsäure (HCl) mit Kalkwasser (Calciumhy droxidlösung, c=0,1 mol/L) wurden bis zum Umschlag des Indikators 10ml Maßlösung verbraucht – ermitteln Sie die Masse des in der Probe gelösten Chlorwasserstoffes! Atommassen: H=1u, Cl=35,5u. »Gott, lass mich sterben!«, stöhnte Amanda. Jemand klatschte fordernd. »Ruhe, bitte! Während der Klassen arbeit hat jegliche Konversation zu unterbleiben! Das gilt auch für Sie, Miss Norrick!« Amanda schoss einen Blick auf die Lehrerin ab. Miss Simms war eine alte Schachtel von mindestens Fünfunddreißig und genau so ätzend wie ihr Fach. Chemie! Wer brauchte das? Streber wie Jenny Puttenham vielleicht, die dick und rosig in der vorderen Reihe hock te und schon eifrig an ihrer nächsten Eins werkelte. Aber sonst? Amanda seufzte, während sie ihr Heft aufschlug und nach dem Füllfederhalter griff, damit es wenigstens so aussah, als würde sie den heutigen Chemie-Test mitschreiben. Bonnie Ashfield, die neben ihr saß, tippte sie an. »Er guckt wieder!«, flüsterte sie. Die Angesprochene runzelte fragend die Stirn, und Bonnie wies nach links. Amanda wollte es nicht, dennoch sah sie hin – mitten hinein in diese coole Kombination aus schwarzen Locken und blau
en Augen. Justin lächelte, und Amanda stieg das Blut ins Gesicht. Wütend fuhr sie herum. »Verdammt, Bonnie! Das ist nicht witzig! Beeil dich lieber mit der Berechnung!« Amanda stutzte. »Sag mal – du kannst das doch, oder?« »Miss Norrick? Falls es Ihnen da hinten zu unruhig sein sollte, können Sie den Test auch gern hier vorne schreiben!«, rief Miss Simms. »Klar doch, mach ich! Schon im nächsten Leben!«, murmelte Amanda. Der starre Blick der Lehrerin begann zu flackern. »Sagten Sie et was, Miss Norrick?« Amanda schüttelte den Kopf und beugte sich über ihr Heft. Miss Simms schien sich damit zufrieden zu geben. Sie griff nach einem Buch und nahm am Lehrerpult Platz. Es wurde still in der Klasse. Bald schon war nichts mehr zu hören außer dem sporadischen Seufzen gequälter Schülerseelen. Amanda musste auf Bonnies Hilfe warten und überbrückte diese Zeit mit der Betrachtung schöner Dinge. Den Stuckrosetten an der Decke zum Beispiel – und Justin Hayes … Der siebzehnjährige Diplomatensohn saß an einem Fenster, das man eigens für ihn abgedunkelt hatte. Sonnenstrahlen erreichten ihn nicht, und doch lag ein nahezu überirdischer Schimmer auf seiner Gestalt. Zumindest kam es Amanda so vor. »Und ich sage dir: Er ist ein Vampir!«, raunte Bonnie Ashfield, als sie ihrer Freundin heimlich einen Zettel zuschob. Amanda zögerte. Man musste vorsichtig sein. Normale Menschen würden die Weitergabe kleiner Arbeitshilfen nie bemerken – aber Lehrer waren keine normalen Menschen. Und tatsächlich! Als die schlanken Mädchenfinger seitwärts glitten, um das Papier zu bergen, ruckte Miss Simms hoch.
Amanda riss die Hand zurück und erstarrte. »Was tun Sie da, Miss Norrick?«, fragte die Lehrerin. Amanda mimte staunende Unschuld. »Ich versuche, meine Auf gaben zu lösen!« Irgendjemand kicherte, allerdings nur kurz. »Was immer Sie versuchen, Miss Norrick … Tun Sie es allein!« Miss Simms wandte sich an die Klasse. »Seien Sie gewarnt! Am Ende der Stunde werde ich alle Unterlagen einsammeln, Platz für Platz! Sollte ich irgendwo ein Papier finden, das eine andere Hand schrift als die des jeweiligen Schülers trägt, wird der Verfasser be straft. Nicht der Empfänger!« Kaum hatte die Lehrerin den Kopf gesenkt, als ringsum ver dächtiges Rascheln entstand. Bonnie Ashfields gehauchtes »Sorry!«, mit dem sie ihren Zettel zurückzog, ging darin unter. Muss die blöde Simms immer dazwischen funken? Ich weiß nicht, wie man das rechnet, verdammt!, dachte Amanda. Ungeduldig wackelte sie mit dem Füllfederhalter, während ihr Blick zu den Fenstern wanderte. Sie starrte in die Ferne, und ihre Gedanken verloren sich in der bewaldeten Herbstlandschaft. St. Leodigan’s lag auf den Hügeln am Rande von Devon, zwei Mei len von der Grenze zu Cornwall entfernt. Das Internat für Diploma tenkinder gehörte einer Benediktinerabtei. Es war vor fünf Jahren eröffnet worden, und genauso lange wurde es von Amanda gehasst. St. Leodigan’s hatte einfach nichts zu bieten, was das Herz einer 17Jährigen erfreuen konnte. Außer Justin Hayes. Amanda lächelte. Der Junge war irgendwie geheimnisvoll und – was auch nicht unbedeutend war – gut ausse hend. Amanda fand ihn cool. Bonnie hielt ihn für einen Vampir. Das kümmerte jedoch keinen, denn Bonnie sah überall Gespenster. Neulich erst hatte sie draußen in der Abenddämmmerung angeblich einen schwarzen Engel gesehen, dessen Flügel bis zum Boden reich
ten. Aber Bonnie hatte auch schon Johnny Depp gesehen, auf der Klassenfahrt nach Plymouth, und das war ebenfalls nur Wunsch denken gewesen. Amanda nickte nachdenklich. Monster gab es genug an der Schule – Miss Simms zum Beispiel. Aber Geister und Dämonen? Wohl kaum! Zu St. Leodigan’s hätten sie allerdings gepasst, immerhin waren das Haupthaus und die Wirtschaftsgebäude über dreihundert Jahre alt. Doch die Mönche hatten ganze Arbeit geleistet auf dem ehema ligen Rittergut. Whitling Manor, wie es ursprünglich geheißen hatte, war grundsaniert worden und steril bis in die Kellergewölbe. Keine Chance also, dass … Das Schrillen war ohrenbetäubend. Amanda fuhr hoch. »Scheiße!«, hauchte sie bestürzt. »Ich hab den Test verpennt!« Die Stunde war zu Ende. Gott, was mache ich jetzt? Amanda sah sich um, panisch, als ob sie irgendwo etwas finden könnte, womit sich noch schnell ein großes Nichts füllen ließ. Dann streifte ihr Blick das Heft, und sie stutzte. Die Seite hätte leer sein müssen, war es aber nicht. Ein paar Zeilen standen darauf, in fremdartiger Schrift. Stirnrunzelnd beugte sich Amanda vor. Ihr Füllfederhalter rollte über das Blatt und blieb schaukelnd liegen. Ein Tropfen löste sich von der Spitze. Die Tinte war identisch …
* Während Amanda mit dem merkwürdigen Papier aus der Klasse stürmte – vorbei an ihrer protestierenden Lehrerin – kam ein Mann
nach St. Leodigan’s. Pater Gregory schnaufte, als er das Seitentor am Waldrand erreich te. Er war nicht mehr der Jüngste, außerdem hatte er ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen. Sie loszuwerden war einer der Gründe, weshalb er den täglichen Weg nach Devon zu Fuß absol vierte. Der Benediktinermönch unterrichtete Latein und Physik am In ternat. Sein Kloster – Buckridge Abbey – lag jenseits des Tales auf einer Anhöhe, die schon zu Cornwall zählte. Der Orden hatte in dieser Grafschaft mehrere Häuser, und Buckridge Abbey war der Hauptsitz. Man konnte ihn bis Devon sehen; sein Glockenturm und die mittelalterlichen Gebäude schimmerten im diesigen Licht der Oktobersonne herüber wie die Silhouette einer Trutzburg. Pater Gregory wandte sich dem Tor zu. Die großen Flügel standen offen – einladend wirkten sie trotzdem nicht … Von den Pfosten starrten hässliche Gestalten herab: Gargoyles aus verwittertem Stein. Sie waren überall auf dem Grundstück zu finden, selbst an diesem entlegenen Ende. Pater Gregory ignorierte sie geflissentlich und ging an ihnen vorbei. Minutenlang wanderte er schweigend dahin. Vor ihm breitete sich der Park von Whitling Manor aus, ein Jahrhunderte alter Baum bestand mit dichtem Unterholz und plätschernden Bächen. In Haus nähe wurde daraus eine gezielte Pflanzung, hier jedoch war alles na turbelassen und wild. Es roch nach Pilzen und schwarzer Erde. Der Wind rauschte durch die herbstlich verfärbten Baumkronen. Irgend wo trommelte ein Specht. Ein Krachen ließ Pater Gregory zusammenfahren. Etwas musste auf einen morschen Ast getreten sein. Etwas Großes, Schweres! Er schaute sich um, und seine Hand tastete nach dem geweihten Kreuz, das er immer bei sich trug. Pater Gregory war kein ängstli cher Mann, nur vorsichtig. Und Vorsicht war geraten auf Whitling
Manor – daran hielt er fest, auch wenn ihn sein Abt schon dafür ge tadelt hatte. Lassen Sie es gut sein, Bruder!, hatte Crispin neulich erst gesagt. Es ist vorbei. Pater Gregory fühlte sich beobachtet. Dieses Empfinden war sein täglicher Begleiter auf dem Weg durch den Park, und es wurde nie mals schwächer, obwohl die Gründung der Schule bereits fünf Jahre zurücklag. Zweige barsten, als etwas gewaltsam ins Freie drang. Pater Grego ry stockte der Atem. Jedoch nicht lange, dann formten seine Lippen ein stummes Oh!, und er lächelte beschämt. Es war nur ein Reh. »Ich sollte mehr auf dich vertrauen, Herr!«, sagte er zu dem Kreuz in seiner Hand, steckte es weg und ging weiter. Ein uralter Windbruch kam in Sicht. Mächtige Bäume lagen zerschmettert am Boden, teilweise aufeinander geworfen. Efeu und Waldreben hatten sie überwuchert. Vom Weg aus konnte Pater Gregory ein Schild erkennen. SUMPF! LEBENSGEFAHR!, stand darauf, und er nickte wissend. Das nahe gelegene Dartmoor machte diese Warnung glaubhaft. Dennoch war sie eine Täuschung – das Schild sollte erkundungs freudige Schüler vor der Idee bewahren, einem Pfad zu folgen, der sich hinter den toten Baumriesen verlor. Man sah ihn kaum noch; seine Konturen hatten sich fast aufgelöst im Gewirr neu sprießender Pflanzen. Irgendwann würde er völlig verschwunden sein. Bis dahin aber … Pater Gregory erschauerte unter einem plötzlichen Luftzug. Er kam vom verborgenen Ende des Pfades, und er roch in der Tat nach Sumpf. Mit dem modrigen Hauch wehte eine Stimme heran, körper los, wie ein Echo aus der Vergangenheit. Sie war kalt und fordernd. Töte ihn!
* »Das ist elbisch!«, rief Jenny Puttenham, als sie es endlich geschafft hatte, einen Blick auf Amandas Papier zu erhaschen. Es war nicht einfach gewesen, denn die 17-Jährige und ihr rätselhafter Zettel wurde von Mitschülerinnen umlagert. »Ich kenne die Schrift! Sie stammt aus dem Herrn der Ringe!« »Blödsinn! Elbisch sieht anders aus«, sagte Amanda. »Lass mal sehen!« Bonnie Ashfield packte das Handgelenk ihrer Freundin und zog das Papier unter Jennys Nase weg. Stirnrunzelnd musterte sie die seltsamen Zeichen. »Alles klar«, sagte sie nach einer Weile. Bonnie strich ihre schwarz gefärbte Mähne zurück. »Hier steht: Jenny Puttenham hat keinen Peil, und Sie werden einen Riesenärger kriegen, Miss Norrick! Viele Grüße, Jo celyn Simms.« »Ha … ha …«, spottete Amanda säuerlich. »Sehr lustig. Fällt dir vielleicht auch was ein, das nicht selbstverständlich ist?« Bonnie zögerte. Wie erklärte man seiner besten Freundin, dass man ihre abgedrehte Spukgeschichte für unwahr hielt? »Sag was, Bonnie!«, forderte Jenny. »Du bist doch die Expertin für Schwarze Magie!« Bonnie ignorierte die ungeliebte Streberin. Komm schon, Hirn – be weg dich!, dachte sie ungeduldig. Vom Pausenhof hallte Lärm herüber. Die Unterstufe tobte sich beim Ballspiel aus. Bonnies Klasse war über solche Albernheiten erhaben und hatte sich an ihren Treffpunkt zurückgezogen, eine alte Trauerweide. Sie stand an der Nordseite von St. Leodigan’s; dort, wo der fahle Sandstein Erker und Türme formte und das Haus noch den Geist von Whitling Manor atmete. »Was ist los, Ashfield, hat es dir die Sprache verschlagen?«, scholl
es träge vom Fuß der Trauerweide her. Ein paar Jungen rauchten dort heimlich im Schutz der tief hängenden Zweige. Bonnie schoss einen wütenden Blick auf den Fragesteller ab. »Idi ot!« Simon zertrat seine Zigarette, stand auf und kam angeschlendert. Er war ein langes Elend, mit zählbaren Stoppeln am Kinn und der Muskelmasse einer Knackwurst. Bonnie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie überhaupt ein Wort mit ihm wechselte. Schön, er himmelte sie an. Aber das war kein Gewinn. Nicht bei Simon Kinney. »Zeig mal her!«, sagte er, und Amanda gab ihm das Papier. Fehler!, dachte Bonnie. Sie ahnte, dass Simon nichts Brauchbares sagen würde. Und prompt. »Ich weiß, was das ist!« Der Junge grinste-. »Es ist eine Nachricht aus dem Jenseits! Von William!« »William? Welcher William?«, fragte Amanda verwirrt. Simon zeigte flüchtig über die Schulter, dann hob er das Papier an und trug mit jammervoller Grabesstimme vor: »Ich finde keinen Frieden! Ich war ja so blöd! Wie konnte ich den Mönchen meinen ganzen Besitz vermachen? Bitte gebt mir mein Haus zurück!« »Cool!«, sagte Jenny Puttenham bewundernd. Bonnie verdrehte die Augen. Jenny fand alles cool, was Jungen sagten. Wahrscheinlich, weil sich keiner für sie interessierte. Amanda riss Simon das Papier aus der Hand. »Du laberst echten Müll, weißt du das?« Wütend machte sie kehrt und lief durch die tief hängenden Zweige davon. Bonnie wehrte das zurückpeitschende Grün ab und folgte ihr. Amanda war enttäuscht, das konnte man deutlich sehen. Sie mar schierte zu dem halb hohen Geländer, auf das Simon gezeigt hatte.
Es war verrostet und brüchig und schien sich mit letzter Kraft an den Steinsäulen festzuhalten, die es alle paar Meter unterbrachen. Das Mädchen verpasste ihm einen Tritt. Das Scheppern war beacht lich. »He, Vorsicht!« Bonnie lächelte nachsichtig. »Du störst die Toten ruhe!« »Na und? Meinetwegen kann der ganze Clan da wieder rauskom men und den ganzen Clan da in die Hölle verfrachten!« Bonnie zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. Amanda hatte erst ruckartig nach vorn gezeigt und dann nach hinten, auf die Klassenkameraden. Der Zettel in ihrer Hand hatte regelrecht ge zischt, sodass Bonnie in Deckung gegangen war. »Ich begreife es nicht!« Amanda schlug erregt auf das Papier. »Da erscheint eine Schrift in meinem Heft – das ist doch voll unheimlich! Wieso interessiert das keinen?« »Weil sie glauben, dass du es selbst geschrieben hast.« »Pah! Und was sollte dann Simons Geschwafel von diesem William? Wer ist das überhaupt?« »Das war der Blödmann, der Whitling Manor verschenkt hat«, sagte Bonnie. »Kannst du nachlesen, steht in der Schulbroschüre: Der letzte Lord of Daunceton überschrieb das Anwesen der Benediktiner abtei Buckridge Abbey.« »Echt?« Amanda schüttelte den Kopf. »Also ich wüsste was Besseres mit meinem Besitz anzufangen.« »Wer nicht?« Bonnie stützte sich auf das Geländer und versank in nachdenklicher Betrachtung dessen, was dahinter lag. Ein kleines Stück Grasland, mit Herbstlaub bedeckt. Verwitterte Steine. Ein Pfad, fünfzehn Schritte lang. Und dann: Das Mausoleum. Es war aus demselben fahlen Sandstein erbaut wie das Haupthaus, und auf den Zinnen hockten die gleichen hässlichen Gestalten. Gargoyles. Der Eingang war morsch, von Spinnweben verhangen.
Efeu rankte zwischen mannshohen Gedenktafeln hoch zu dem Namen, der in goldenen Lettern über allem anderen stand. Daunceton. »Dreihundert Jahre.« sagte Bonnie feierlich. »Da liegt die kom plette Familie der Lords of Daunceton begraben, vom 18. Jahr hundert an!« »Was? In der kleinen Bude?« Amanda hatte sich nie für die Ge schichte ihrer Schule interessiert. »Natürlich nicht!« Bonnies Lachen vermischte sich mit dem Schrillen der Schulglocke. Die Teenager wandten sich um und schlenderten zurück. Bonnie erzählte von der Gruft, die sich un terhalb des Mausoleums befand. »Sie muss riesig sein! Ich würde zu gerne mal reinklettern.« »Du hast sie doch nicht alle!« Amanda tippte sich an die Stirn. »Was willst du denn da? Gespenster jagen?« »Die gibt es woanders.« Bonnie fand, dass der Zeitpunkt günstig war, ihre Freundin in einen Plan einzuweihen, den sie bereits seit einiger Zeit hegte, und ergriff Amandas Arm. »Hör mal«, begann sie. »Simon und ich haben was vor! Dein Vam pir schleicht doch Abends immer in den Wald …« Amanda fiel ihr verärgert ins Wort. »Du meintest sicher: Justin geht Abends ein bisschen an die frische Luft, weil er keine Sonne verträgt wegen dieser Nesselsucht (Löst bei direkter Sonnenbestrah lung allergische Hautreaktionen aus. Schwerste Folge: Tod durch Schock) und nicht im Haus vergammeln will.« »Wie auch immer.« Bonnie winkte ungeduldig ab. »Jedenfalls hatte ich Simon gebeten, ihm zu folgen und …« »Du hast was?« »Unterbrich mich doch nicht dauernd, Herrgott noch mal! Ich er zähle es ja!«, rief Bonnie. »Also: Du kennst doch das Warnschild im Park. Da, wo der Sumpf sein soll. Dahinter ist alles verwildert und
zugewachsen. Und da ist er hingehuscht, dein Vampir! Simon glaubt, dass es dort ein Geheimnis gibt. Er hat nämlich was gese hen.« »Und das wäre?«, fragte Amanda misstrauisch. Bonnie zuckte die Schultern. »Hat er nicht gesagt. Aber er will es mir zeigen. Heute Abend.« Amanda prustete los. »Klar will er es dir zeigen! Deshalb erzählt er ja solchen Quatsch! Der Typ ist scharf auf dich!« »Blödsinn!« Bonnie errötete. Sie hatte dasselbe gedacht. Die Mädchen schlossen zum Rest der Klasse auf und wanderten Richtung Schulhof. Unterwegs schärfte Bonnie Amanda ein, den ge planten Ausflug mit Simon nur ja nicht an die große Glocke zu hängen. Dabei sprach sie absichtlich gerade laut genug, dass Jenny Puttenham ein paar Schlüsselworte mitbekam. Bonnie lächelte, als sie in Jennys bebrillte Augen sah. Es war so angenehm, sich vorzustellen, wie das Streberhirn dahinter auf Hochtouren lief! Auch Amanda lächelte. Allerdings nur kurz. Die vorausgehenden Teenager wichen unvermittelt zur Seite. Aus der Lücke kam Miss Simms heran wie ein Rachedämon. Bonnie kreuzte sicherheitshalber die Zeigefinger, auch wenn der Angriff gar nicht ihr galt. Die Lehrerin entriss Amanda das Papier, von dem sie glaubte, es sei ein Pfuschzettel. Sie ballte die Faust darum und wedelte der 17Jährigen damit vorm Gesicht herum. »Das hat Konsequenzen, Miss Norrick!«, stieß sie zornig hervor. »Ihre Eltern zahlen eine Menge Geld dafür, dass wir aus Ihnen eine wohl erzogene junge Dame machen. Also tun wir es – und wenn Sie sich noch so sehr dagegen sträuben! Morgen früh melden Sie sich beim Direktor und holen sich Ihre Strafe ab!« Ohne auf eine Antwort zu warten, wirbelte Miss Simms herum
und schritt davon. Bonnie sah, wie ihre Freundin rot anlief. Ihre Chemielehrerin hatte sie vor den anderen blamiert. Amanda wisperte einen Fluch, wütend und aus tiefster Seele. »Fahr zur Hölle, alte Hexe!«
* Pater Gregory hätte es fast geschafft, einer Begegnung mit seiner Kollegin auszuweichen. Doch Miss Simms holte ihn noch ein, als er bereits die Stufen der Freitreppe hochging. Ein paar Schritte weiter, dann wäre er in der Eingangshalle gewesen und hätte sich diskret zu Pater Bartholomew gesellen können, der dort gerade seine Pausenaufsicht beendete. So aber musste er stehen bleiben und sich anhören, was Miss Simms zu sagen hatte. Er seufzte lautlos. Es war immer dasselbe. Tagein, tagaus … »Ihre Klasse ist eine Zumutung, Pater Gregory!«, legte seine Kolle gin los, und obwohl sich der Mönch um Konzentration bemühte, schweiften seine Gedanken ab. Er betrachtete die schimpfende Lehrerin. Miss Simms war erst Mit te Dreißig; eine schlanke, nicht unattraktive Frau. Innerlich aber musste sie weit über hundert sein. Anders ließ es sich nicht erklären, warum sie nur strenge Gouvernantenkleidung trug und so selten lachte. »Ich verlange, dass Sie diese Halbwüchsigen zur Räson bringen!«, fauchte Miss Simms. Herbstwind hatte ihr Haar zerzaust, und von irgendwo waren Staubkörner auf ihrem Ärmel gelandet. Pater Gregory lächelte. »Was haben meine ›Halbwüchsigen‹ denn angestellt?«
»Hören Sie mir nicht zu?«, keifte Miss Simms empört. Staub rieselte von ihrer Schulter. Der Pater sah seine gescholtene Klasse über den Schulhof kom men, zögernd und ungewohnt leise. Als die Lehrerin ihre Jacke ab klopfte, gab er den Jugendlichen von ihr unbemerkt ein Zeichen. Sie blieben zurück, und er streckte die Hand aus. »Kommen Sie, Miss Simms«, sagte er. »Gehen wir ins Haus! Bei einer Tasse Tee lassen sich kleine Missverständnisse besser klären als hier.« »Was soll das heißen: Kleine Missverständnisse?« Pater Gregory seufzte innerlich. Er wusste, dass Miss Simms ihn für unfähig hielt und gern behauptete, er würde seine Klasse über gebührlich in Schutz nehmen. Als er seine Hand zurückzog, lag Staub auf dem Ärmel. Pater Gre gory wischte ihn fort und drehte sich um. Prüfend sah er die Fassade hoch. Miss Simms klopfte ihm auf den Rücken. »Ihre Geisteshaltung ist ein Skandal!«, zischte sie den Mönch an. »Wie können Sie das Betragen Ihrer Klasse einfach ignorieren? Un sere jüngeren Schüler orientieren sich an der Oberstufe! Soll St. Leo digan’s vielleicht ein zweites Sodom und Gomorrha werden?« Pater Gregory runzelte die Stirn. Auf Miss Simms’ Schulter waren ein paar Körner gelandet. Er wollte etwas sagen, doch die Lehrerin ließ ihn nicht zu Wort kommen. Vielleicht betrachtete die Lehrerin sein Stirnrunzeln als Zeichen, dass sie endlich seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte. »Amanda Norrick hat heute in der Klassenarbeit einen Spickzettel benutzt und sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu verbergen! Simon Kinney raucht! Justin Hayes flirtet ungeniert im Unterricht!« »Sie sind jung« wehrte der Mönch ab. Miss Simms schüttelte sich, da ein Steinchen ihre Wange gestreift hatte. Sie sah auf, trat einen Schritt zur Seite und fuhr fort. »Es ist
nicht nur der sittliche Verfall. Bonnie Ashfield zum Beispiel widmet sich gefährlichen Dingen! Beschwörungen! Magie! Und ausgerech net Sie schreiten da nicht ein?« »Bonnie hat familiäre Probleme.« Pater Gregorys Blick suchte das Mädchen mit den schwarz gefärbten Haaren. Sie stand abseits von den anderen neben ihrer einzigen Freundin. Er wunderte sich, dass die beiden so finster herüberschauten. Miss Simms schnaubte. »Ich bitte Sie! Die Ashfields sind hoch de korierte Diplomaten! Alter Adel. Wohlsituiert. Warum sollte Bonnie Probleme haben?« »Ein vornehmes Elternhaus ist kein Garant für eine glückliche Kindheit« antwortete der Mönch mit Nachdruck. »Hier geht es um gute Erziehung, nicht um glückliche Kinder!«, schnarrte Miss Simms. »Tut mir Leid, Pater – es ist nichts Persönli ches – aber diese Halbwüchsigen brauchen eine strenge Hand! Deshalb werde ich meine Bedenken gegen Sie als Klassenlehrer dem Aufsichtsrat vortragen.« Pater Gregory beobachtete, wie sie das Papier in ihrer Hand ent faltete. Er wappnete sich schon, weil er dachte, Miss Simms würde ihm gleich eine Beschwerdeliste vorlesen. Doch es musste das falsche Blatt sein, denn sie stutzte. »Was …?«, hob sie an. Plopp. Ein Steinchen war auf dem Papier gelandet, prallte ab und sprang davon. Stirnrunzelnd beugte sich die Lehrerin hinterher. Dabei bemerkte sie die Klasse aus den Augenwinkeln, fuhr empört herum und be gann zu zetern. Sie glaubte, die Jugendlichen hätten den Kiesel nach ihr geworfen. Plopp. Plopp.
Kleine Körner tanzten auf ihrer Schulter. Sie waren anders be schaffen als die fahle Sandsteinfassade des Hauses, dunkler. Doch wo kamen sie her? Pater Gregory war verwirrt. Ihm fehlte eine Erinnerung, von der er wusste, dass er sie eigentlich besaß. Dunkler Stein … Dunkler Stein …. grübelte er gegen das nervenauf reibende Gezeter der Lehrerin an. Unruhe entstand auf dem Schulhof. Der Pater sah, wie sich die Gesichter seiner Klasse nach oben wandten. Zur Fassade hin. Mit ih ren Erkern und Zinnen voll Figuren aus dunklem Basalt. Seine Augen weiteten sich. »Die Gargoyles!« Pater Gregory packte Miss Simms und riss sie zur Seite. Noch im Fallen schrammte etwas heiß durch sein Gesicht, und die Welt war plötzlich ausgeblendet. Pater Gregory sah nur rote Nebel und Lichtblitze. Er hörte ein scharfes Knacken. Miss Simms begann zu schreien. Dann wurde es dunkel … Als der Pater nach kurzer Benommenheit die Augen aufschlug, lag er am Boden. Er war von Jugendlichen umringt und hielt die wimmernde Lehrerin noch immer schützend fest. Unmittelbar neben ihr lag der zerschmetterte Gargoyle. Er hatte sie nur knapp verfehlt.
* »Das Ding ist einfach runtergefallen! Wie von Geisterhand!«, sagte Amanda Stunden später zu Justin Hayes. Der Schrecken saß tief bei den Jugendlichen, obwohl die Sache ein glimpfliches Ende genommen hatte. Miss Simms war mit einem ge brochenen Schlüsselbein und Prellungen davon gekommen. Polizei und Notarzt waren längst wieder abgerückt.
»Geisterhände hatten nichts damit zu tun! Nur Wind und Korrosi on!«, sagte Justin ruhig. Man hatte unter dem Sockel der Steinfigur einen Wetterriss ent deckt. Er war bei den Sanierungsarbeiten am Haus seinerzeit über sehen worden. »Mann!«, stöhnte Bonnie. »Die alte Schnake hat so ein Glück ge habt!« Sie schlenderte neben Simon hinter den beiden her. »Unfass bar, dass man sich nicht mal mehr auf einen Gargoyle verlassen kann!« »Das meinst du nicht ernst!« Simon blies sein Kaugummi auf und ließ es zerknallen. Die Teenager waren Richtung Park unterwegs. Es war früher Abend, die Sonne hatte sich gerade mit einem farbenprächtigen Un tergang verabschiedet. Noch flammte ihr Widerschein in den herbst lichen Baumkronen. Am Boden aber herrschte schon die blaue Stunde – das schattenlose Zwielicht zwischen Tag und Traum. Ma gisches Niemandsland, in dem die Grenzen fließend werden und das heiße Lebensblut den kalten Hauch der anderen Seite spürt. Die Zeit der Dämonen … »Bist du okay?« fragte Amanda. Justin nickte. Er war überrascht gewesen, als er von Bonnies Wunsch erfuhr, sein geheimes Versteck im Park zu besuchen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Simon hinter ihm hergeschlichen war. Er grinste. Das war irgendwie schmeichelhaft. »Wir sollten uns beeilen«, hörte er Bonnie sagen. »Es wird bald dunkel, und ich möchte noch was anderes sehen als euer Rumge turtel!«
Auch das war schmeichelhaft. Justin hielt Amandas Hand, was unter den Augen der Lehrer von St. Leodigan’s nicht möglich war, ohne die reinste Staatskrise auszulösen. Justin wandte den Kopf und blickte Bonnie an, lässig, unter langen Wimpern her. Sie wich seinem Blick aus wie immer. Er lachte lautlos. Justin genoss den Weg durch den Park. Es war so angenehm, der miefigen Enge des Hauses zu entfliehen – hinaus in eine Freiheit, die ihn das Leben kosten konnte. Die Nesselsucht machte aus seiner Haut ein unerträglich juckendes Gefängnis, sobald Sonnenstrahlen darauf trafen. Dann fand die Lunge ohne Medikamente keinen Platz mehr zum Atmen. Im Unterholz knackte es. »Was war das?«, fragte Amanda erschrocken. Justin sah sich flüchtig um. Etwas musste auf einen Ast getreten sein. Er zuckte die Schultern. »Ein Reh, vermutlich«, sagte er. Als sie den Windbruch erreichten, hatten die Vögel ihr Abendkon zert beendet. Es wurde still im Wald. Justin ging an den umge stürzten Baumriesen entlang auf das Warnschild zu; durch ein Ge lände, das sich allmählich in der Dämmerung verlor. »Wir könnten morgen wiederkommen« schlug er vor. »Ein biss chen früher vielleicht.« »Er fürchtet sich!«, spottete Bonnie. »Klar doch! Weißt du auch, warum?« Grinsend bog Justin die Hände zu Krallen. »Hier gibt es Vampire!« »Spaßig!«, sagte das Mädchen kühl. Mannshohes Dickicht blockierte den Weg. Es schien absolut un durchdringlich zu sein. Bonnie war beeindruckt, da Justin zielstrebig eine versteckte Pas sage ansteuerte und sich durchs Gesträuch zwängte.
Simon und die Mädchen folgten ihm. »Oops!« Überrascht hielt Bonnie an. Vor ihnen lag ein kleines Feld, grasbewachsen und voller Senken. Wildkräuter wiegten sich im Abendwind, und gelegentlich fiel ein welkes Blatt von den Büschen. Sonst rührte sich nichts. Das Mäd chen trat ins Freie. Und da sah sie ihn! Er stand im Dunkel der Sträucher, reglos und auf unerklärliche Weise lauernd. Bonnie fuhr zusammen. »Das ist er!«, sagte sie atemlos und umklammerte Amandas Arm. »Das ist der schwarze Engel, den ich neulich gesehen habe!« »Ja, sicher!« Justin tätschelte ihr den Kopf und lachte, als Bonnie seine Hand wegschlug. »Ich bin ein Vampir, und das Ding da wandert Nachts durch den Park!« Justin tippte sich an die Stirn. »Du hast einen an der Waffel, weißt du das?« »He! Lass sie in Ruhe, Mann!« Simon stieß ihm in den Rücken. Justin strauchelte, fing sich aber wieder. Verärgert stapfte er an den Feldrand. »Guck her, du Penner!«, forderte er. »Das ist ein Engel aus Stein! Er ist nicht schwarz, sondern grau! Er trägt ein Lamm im Arm – wie rührend –, und er geht ganz sicher nicht spazieren! Also: Hat sie einen an der Waffel oder was?« Die Mädchen sahen sich unbehaglich an. Ein Streit lag in der Luft, den keiner brauchte. Amanda nickte entschlossen. »Wir gehen wieder!«, verkündete sie, wandte sich um und mar schierte los. Plötzlich gab der Boden unter ihr nach. Amanda sprang mit einem Aufschrei zur Seite und rieb sich den Knöchel. Sie war in einen Hohlraum getreten – und etwas hatte sie berührt!
Bonnie eilte hinzu, um die Stelle zu inspizieren. Sie konnte nicht viel erkennen – das Loch im Boden war schmal und dunkel –, und hineinfassen wollte das Mädchen nicht. Ein Stück Grasnarbe hing über den Rand. Sie klappte es zurück. Schweigend musterte sie den Stein, den das Wurzelgeflecht ver borgen hatte. Er war kantig und flach und von Erde bedeckt. Bonnie wischte sie fort. Zahlen kamen zum Vorschein. Dann Buchstaben. Nicholas. 1812-1814. Langsam wanderte Bonnies Blick von dem Stein über das unebene Gelände, und auf einmal erkannte sie den Irrtum: Der Boden hatte gar keine Vertiefungen – er war mit Hügeln übersät. Kleinen Hügeln. Sehr klein. Ein ganzes Feld voll. »Oh, Shit!« Bonnie sprang auf. »Was ist?«, fragte Amanda alarmiert. »Was hast du?« »Wir stehen auf einem Friedhof!« Bonnie wies nach unten, wäh rend sie rückwärts zu den Büschen ging. Ihre Stimme bebte. »Das sind lauter Gräber, Amanda! Mein Gott, hier liegen mindestens zehn Kinder!« »Okay, das war’s. Und tschüss!« Simon zwängte sich an Bonnie vorbei und machte, dass er vom Feld kam. Die Mädchen folgten ihm. Justin verharrte noch einen Moment neben der Statue und mus terte sie aus schmalen Augen. »Wenn ich mir vorstelle, wie oft ich hier mit einem Buch gesessen habe! Ahnungslos!« Er wandte sich ab. Aus der Drehung verpasste er dem Engel einen heftigen Tritt. »Scheißkerl!« Anschließend rannte er seinen Freunden hinterher, bis er sie einge holt hatte …
*
Stille eroberte den düsteren Platz zurück. Ein Windhauch wehte über das Feld, umgetretene Halme richteten sich auf und die ersten Wildkaninchen kamen aus ihren Verstecken. Lautlos begann die Statue zu kippen. Niemand sah den Engel fallen. Niemand hörte, wie er zerbrach. Aus den Scherben rollte ein Stein. Er war braun und unscheinbar, wie man ihn zu Hunderten auf den Feldern findet …
* Simon, dicht gefolgt von seinen drei Mitschülern, stürmte an den to ten Baumriesen vorbei. Plötzlich rauschte es im Park wie sturmgepeitschte Brandung. Der Himmel wurde schwarz, und von fern erscholl dumpfes Grollen. Justin stutzte. »Hört ihr das?« »Ja. Das ist Donner!«, rief Bonnie gereizt über die Schulter zurück. Sie hatte genug von diesem Ausflug und wollte nach Hause. Justin hielt sie am Ärmel fest. »Das meinte ich nicht! Hör mal hin!« Bonnie lauschte, und tatsächlich: Unter dem Tosen des heranna henden Unwetters war ein Geräusch! »Weg hier!«, sagte Bonnie, als sie es erkannte. Irgendwo in der Dunkelheit der Sträucher klingelte ein Handy.
* »Verflixt!«, schimpfte Jenny Puttenham leise, während sie hastig ihr Mobiltelefon abstellte. Simon, Justin, Bonnie und Amanda rannten dicht an ihr vorbei, be
merkten sie aber nicht. Jenny atmete auf. Das hatte geklappt! Morgen würde sie was zu erzählen haben und endlich auch mal Beachtung finden! Jenny über legte kurz, ob sie noch das Versteck im Gebüsch erkunden sollte, aus dem die Vier so eilig gekommen waren. Doch dann entschied sie sich dagegen. Es war schon zu dunkel. Zügig machte sich das Mädchen auf den Rückweg. Der Park war unheimlich, und sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie bald wieder unter den sicheren Dächern von St. Leodigan’s sein würde. Zwei Minuten später war das Gewitter heran. Blitze zuckten, Donner ließ die Erde erzittern, und es schüttete wie aus Kübeln. Jen ny war im Handumdrehen durchnässt. Regentropfen hingen an ih rer Brille, und der Waldboden wurde rutschig. Jenny ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie hinfallen würde. Ein berstendes Geräusch ließ sie erschrocken innehalten. Etwas musste auf einen Ast getreten sein. Etwas Großes, Schweres nicht weit von ihr. Jenny nahm die nutzlose Brille ab, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte, im Schein der Blitze etwas zu erkennen. Doch sie sah nur dunkle, nasse Baumstämme. »Jen-ny!«, sang eine lockend sanfte Stimme. Erneut flammte der Himmel auf. Das Mädchen glaubte, einen Engel zwischen den Bäumen zu sehen. Er war groß und schwarz, und er trug etwas im Arm. Es konnte ein Lamm sein, vielleicht aber auch ein Kind. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. »Jen-ny!« »Ja …?« fragte sie hilflos. Jenny war sechzehn, die Jüngste ihrer Klasse und das Nesthäkchen daheim. Immer hatte man sie beschützt. Vielleicht war sie deswegen etwas ängstlich und bildete sich nun etwas ein, das gar nicht da war.
Aber sie sah das Wesen doch! Engel sind gut!, überlegte sie panisch – und wusste, dass es nicht stimmte. Nicht bei diesem. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sol che Angst. Die Blitze erloschen, es wurde dunkel, und er kam näher, das spürte sie. »Jen-ny!«, hauchte der Engel. »Geh weg!«, schrie das Mädchen verzweifelt, warf sich herum – und prallte gegen ein Hindernis. Sie wusste, dass er es war, ohne ihn zu sehen. Er stank so faulig, und er war so unnatürlich weich wie Pudding. Jenny zitterte, die Zähne klapperten. Etwas Kaltes umfasste ihren Kopf. Mama!, schrie sie in Gedanken. Mama! Es knackte, als ihr Genick brach.
* Nacht senkte sich über Buckridge Abbey, dem mächtigen Benedik tinerkloster auf den Hügeln von Cornwall. Längst war das Abendläuten verhallt, und die Mönche hatten sich zurückgezogen. Draußen tobte ein Herbstgewitter, das von Devon herübergewandert war. Regen peitschte gegen die Außenmauern, und in den zugigen alten Säulengängen heulte der Wind. Pater Gregory saß im Arbeitszimmer seines Abtes, eine Hand auf der Tischplatte. Flackerndes Licht spiegelte sich an dem Weinglas, das er abwesend zwischen den Fingern drehte. Sein Gesicht war von Schrammen gezeichnet. »Ich habe mich geirrt«, sagte er düster. Abt Crispin tat, als hätte er nichts gehört, und stocherte weiter mit
einem Schürhaken im Kamin herum. Funken stoben, als die brennenden Holzscheite auseinander fielen. Pater Gregory wartete geduldig, bis das Feuer hell aufloderte und Crispin zufrieden an den Tisch kam. Dann versuchte er es erneut. »Wir müssen etwas unternehmen!«, bat er. »Er ist noch immer ak tiv!« Ächzend ließ sich der Abt auf einen Stuhl sinken. »Das haben wir doch schon viele Male diskutiert, Bruder! St. Leodigan’s ist seit fünf Jahren in Betrieb, und nie hat es den geringsten Zwischenfall gege ben.« Wortlos zeigte Pater Gregory auf sein lädiertes Gesicht. Crispin lächelte. »Verraten Sie mir eines: Wenn ein Blumentopf herunter gefallen wäre statt dieser unheimlichen Figur, hätten Sie mich dann auch um dieses Gespräch gebeten?« »Ja«, sagte der Pater knapp, und das Lächeln des Abtes erlosch. Crispin war ein alter Mann, am Ende seines Weges. Er sah es als seine letzte große Aufgabe an, St Leodigan’s erfolgreich in der bri tischen Schullandschaft zu etablieren und dem Kloster damit eine si chere Einnahmequelle zu schaffen. Dass Pater Gregory gegen jede Logik noch immer den Fluch von Whitling Manor fürchtete, emp fand er als Ärgernis. »Sie sind überarbeitet, Bruder!«, sagte Crispin. »Warum fahren Sie nicht ein paar Tage an die Küste? Übermorgen beginnen die Herbst ferien. Einige Schüler sind schon abgereist, die anderen werden folgen. Bis alle zurück sind, ist der bedauerliche Unfall auf dem Pausenhof vergessen.« »Es war kein Unfall!« Pater Gregory schüttelte den Kopf. »Er steckt dahinter!« Crispin seufzte. »Warum in aller Welt sollte er Miss Simms angreifen? Das ergibt gar keinen Sinn!« Pater Gregory zog ein zerknülltes Papier aus der Tasche und
schob es über den Tisch. Crispin setzte seine Brille auf, strich den Zettel glatt, beugte sich vor – und stutzte. Fragend blickte er auf. »Woher haben Sie das?« »Miss Simms hielt es in der Hand, als der Gargoyle herunterfiel.« Pater Gregory tippte auf die seltsamen Schriftzeichen. »Was steht da? Können Sie das entziffern?« Crispin zögerte. Er wollte nicht lügen – und er hatte Glück. Sein Ordensbruder fügte noch eine Frage hinzu. »Ist es hebräisch?« »Nein! Nein!« Crispin schüttelte energisch den Kopf. Er faltete das Papier zusammen und legte seine Hände darauf. »Wissen Sie was? Morgen früh rufe ich Miss Simms im Krankenhaus an. Die Gute wird uns sicherlich sagen können, was es mit dem Zettel auf sich hat. Und nun sollten wir uns zur Ruhe begeben, Bruder! Es war ein langer Tag.« Crispin sah die Unentschlossenheit in Pater Gregorys Gesicht. Der Mönch war aufgestanden, machte aber keine Anstalten zu gehen. Unangenehme Spannung breitete sich aus. Ein Holzscheit barst; draußen heulte der Herbststurm. Mehr war nicht zu hören. Könnte es denn wirklich sein?, fragte sich der Abt. Er senkte den Blick auf seine Hände. Sie waren blau geädert, von Altersflecken übersät, und sie hatten nie etwas Unrechtes getan. Jetzt aber lagen sie wie schützend über einem Papier, das in der Tat ein wenig seltsam anmutete! Crispin war in alten Sprachen bewandert, und er hatte den Text ohne Mühe enträtselt. Es war ein Bibelvers. Man hätte in ihm eine Anspielung erkennen können – und vielleicht wäre Crispin sogar dazu bereit gewesen. Aber er wusste von Pater Gregory, dass der Zettel Miss Simms gehörte. Die ledige
Frau hatte weder Geschwister noch Kinder; sie passte einfach nicht ins Schema. Der Fluch der Dauncetons konnte ihr nichts anhaben. Also ist der Vers nur ein Zufallstreffer!, stellte er für sich fest. Crispin wusste: Wenn er Pater Gregory sagte, was auf dem Papier stand, würde sich der Mönch in seiner Furcht bestätigt fühlen, und St. Leodigan’s käme nie zur Ruhe. War es klug, für ein am Ende harmloses Bibelzitat dieses Risiko einzugehen? Was würde ge schehen, wenn diese Sache publik wurde? Der Ruf der Schule würde irreparablen Schaden nehmen! Crispin musste eine Entschei dung treffen. Jetzt und hier. Müde schloß er die Augen, nur für einen Moment, und seine Ge danken wanderten davon – zurück durch die Nebel der Vergangen heit ins Plymouth des 18. Jahrhunderts, wo der Fluch von Whitling Manor seinen Anfang genommen hatte. Die frühen Dauncetons waren Kaufleute gewesen. Frederick, der zweite Sohn, war zielstrebig und klug, aber un geliebt. Als er 1794 von einer Handelsreise zurückkehrte, hatte sein Vater das Geschäft dem bevorzugten Älteren vermacht und war gestorben. Frederick erschlug seinen Bruder im Streit mit einem Relikt, das er von der Reise mitgebracht hatte. Es handelte sich um einen Stein; braun und unscheinbar, wie man sie zu Hunderten auf den Feldern findet. Er stammte aus dem Schwarzen Tempel von Sejeth, vor den Toren Jerusalems. Ob Frederick wusste, dass er einen Dumah(aramäisch: Engel der Stille (des Todes)) gestohlen hatte, war nicht überliefert – nur die Folgen dieser Tat. Der Brudermord wurde nie angezeigt. Daunceton kam ungestraft davon. Mehr noch: Sein Geschäft erblühte schier über Nacht. Frederick wurde reich, fand Freunde in hohen Kreisen und heiratete die Toch
ter eines Adeligen. Alles schien perfekt, und das Glück schwebte wie ein nie versiegendes Füllhorn über ihm. Jede Tat war ein Erfolg, Macht und Reichtum wuchsen. Dem ersten Sohn folgte ein zweiter. Und dann kam der Dumah. Er war der Ursprung des vermeintlichen Glückes – ein gefallener Engel, der die Abgründe menschlicher Seelen kannte. Er hatte ge wartet, bis das Luxusleben zur Norm geworden war und der Fa milie unverzichtbar schien. Nun forderte er seinen Tribut: Einen Brudermord in der neuen Generation – und in allen folgenden. So sollte es immer weiter gehen, solange Frederick und seine Nachfahren ein sorgenfreies Dasein führen wollten. Die Dauncetons waren machtbesessen und gierig, der Dumah hatte leichtes Spiel. 1798 verließen sie Plymouth und bauten Whit ling Manor. Über 150 Jahre lang sicherten sie dort den Fortbestand ihres Reichtums. Es war immer der älteste Sohn, der den Nachgebo renen töten musste – als Preis für den Schutz eines tückischen Dä mons. Einer aber gehorchte nicht. Crispin nickte versonnen. Der letzte Lord of Daunceton hatte den Fluch gebrochen! Crispin sah ihn noch vor sich. Er war gerade erst in den Orden eingetreten, als dieser kleine, magere Junge weinend an der Pforte von Buck ridge Abbey stand. Charles hatte seinen Bruder William verschont und stattdessen den despotischen Vater getötet. Charles war danach im Kloster geblieben, und die Mönche hatten ihn vor dem Zorn seiner Familie versteckt. Innerhalb einer einzigen Generation schmolz das riesige Vermögen der Dauncetons dahin. Als William bei einem Jagdunfall starb, war nur noch Whitling Manor übrig. Es fiel dem rechtmäßigen Erben zu – Charles –, der es dem Kloster überschrieb.
»Bedauerlich nur, dass der Stein nie gefunden wurde.« Crispin spielte unschlüssig mit dem Papier. Pater Gregory räusperte sich. »Im Haus war er nicht. Wir haben damals alles abgesucht. William muss ihn irgendwo auf dem Grundstück versteckt haben. Also ist der Dumah noch da!« »Ja, das ist er wohl.« Crispin erhob sich. Er hatte seine Entschei dung getroffen. Mit ausgestrecktem Arm geleitete er den Pater zur Tür. »Und das soll uns Recht sein, Bruder. Dieser Dämon hat keine Macht mehr auf Whitling Manor. Umso besser also, wenn er dort bleibt bis zum Jüngsten Tag.« Die Tür fiel ins Schloß, es wurde still im Raum. Draußen verebbte das Gewitter, und nur vereinzelt zuckten noch Blitze vor den dunklen, regennassen Fenstern auf. Ihr Licht tanzte über den Tisch des Abtes und das rätselhafte Papier. Die Schrift war aramäisch. Crispin hatte die Worte erkannt, nicht aber ihre Bedeutung – wollte sie nicht verstehen. Und da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder und schlug ihn tot. Und also sprach der Herr: Wo ist Abel? Kain aber ant wortete: Ich weiß es nicht; soll ich der Hüter meines Bruders sein?
* Früher als sonst wanderte Pater Gregory am nächsten Morgen zur Schule. Er hatte schlecht geschlafen, dennoch fühlte er sich beschwingt. Im nächtlichen Gespräch mit seinem Abt war ein entscheidender Satz gefallen. Er hatte etwas offenbart, das dem Mönch nie klar ge worden war – obwohl es eigentlich auf der Hand lag. Crispins Worte hingen ihm nach: Er hat keine Macht mehr auf Whitling Manor! Pater Gregory lächelte. Ich war so verblendet!, dachte er, während im fernen Kloster ein
Telefon zu klingen begann. Natürlich wird der Dumah nicht wieder auftauchen – er hat kein Motiv! Whitling Manor gehört jetzt dem Orden, und es ist niemand mehr da, mit dem er seinen unheiligen Pakt erneuern könnte. In neu gewonnener Lebensfreude breitete der Pater seine Arme aus und atmete tief durch. Er ahnte nicht, dass Crispin just in diesem Moment schon versuchte, ihn per Handy zu erreichen, weil der Direktor von St. Leodigan’s gemeldet hatte, dass eine Schülerin vermisst wurde. Wie immer nahm Pater Gregory die Abkürzung durch den Park. Frühnebel zog um die Bäume, und an den Spinnweben im herbstli chen Gesträuch blinkte der Tau. Noch war es kalt auf den Wegen. Aber bald schon … Pater Gregory stutzte. Ein verirrter Sonnenstrahl hatte etwas am Boden gestreift, das eigentlich nicht da sein durfte. Glas. Stirnrunzelnd trat er näher und entdeckte eine zierliche Brille. Erst glaubte er noch, dass eine der Schülerinnen sie verloren hatte. Dann bemerkte er das Blut. Es war nicht an der Brille, es war am Boden – überall! Pater Gregory sank das Herz. Haare hatten sich an einem Zweig verfangen; bunte Wollfasern tanzten im Luftzug. Als er die Brille aufhob, rollte etwas Fahles unter den Blättern hervor. Der Mönch fuhr mit einem Schreckenslaut zurück. Es war ein halber Finger. Eine Schleifspur zog sich über den Weg und hinunter in den Windbruch mit seinem Warnschild und den toten Baumriesen. Gedankenfetzen schossen Pater Gregory durch den Kopf, doch keiner von ihnen konnte sich durchsetzen. Polizei … Verstärkung … erst zur Schule … Er verwarf sie. Er musste herausfinden, was hier geschehen war.
Jetzt. Kalte, mulmige Beklommenheit wurde zu Furcht, als der Mönch den versteckten Pfad betrat. Pater Gregory war diesen Weg schon einmal gegangen, an einem Tag wie heute – vor vielen, vielen Jah ren. Damals hatte er noch Charles geheißen. Das verwilderte Gestrüpp war Randbepflanzung gewesen, und das Feld dahinter ein grüner Hain. Ohne diese zerstörte Engelssta tue, dafür übersät mit kleinen Steintafeln. Sein Vater war neben ihm hergeschritten; dieser große, Angst einflößende Mann. Er hatte eine Schaufel über der Schulter getragen und ein Bündel im Arm. Dann hatte er William ins Gras gelegt. Töte ihn!, hatte er gesagt. »Töte ihn, Charles!« Es dauerte drei Herzschläge lang, bis Pater Gregory begriff, dass die Stimme nicht aus seiner Erinnerung kam. Er fuhr herum und … Etwas traf ihn mit voller Wucht. Der Mönch stürzte zu Boden, fort von einer entsetzlichen schwarzen Gestalt. Sie ließ sich vernunftmäßig nicht erfassen. Es handelte sich um eine Gleichzeitigkeit aus fester Materie und un stofflicher Projektion. Pater Gregory fühlte sich seltsam taub. Der Schlag hatte eine klaf fende Wunde an seiner Schläfe hinterlassen. Blut floss ihm übers Gesicht und tropfte auf seine Kutte. »Hast du geglaubt, ein Mönchsgewand und ein frommer Name (Gregory = Papst Gregor I., von den Benediktinern als Heiliger ver ehrt) könnten dich vor mir schützen, Charles?«, hörte er wie durch Watte, und obwohl er unter Schock stand, erkannte er doch eines: Die Stimme war menschlich! Das ist nicht der Dumah! Pater Gregory alias Charles Daunceton duckte sich unwillkürlich, als der Ton umschlug und die Gestalt ihn
unvermittelt anfuhr: »Wie ich dich hasse für deine verfluchte Tat!« Der Mönch dachte an seinen Vater, den er getötet hatte, um den kleinen Bruder zu retten. »Ich habe dafür gebüßt.« »O nein, das hast du nicht!« Pater Gregory wurde hochgerissen. Faulig süßer Leichengeruch strömte ihm entgegen. »Du hast den Falschen getötet, Charles! Du hast mich zu einem Leben verdammt, das nie für mich bestimmt gewesen war!« »William?«, ächzte Pater Gregory. »William«, bestätigte die schreckliche Gestalt und schleuderte ihn fort, mitten hinein in das Scherbenfeld der Engelsstatue. Heißer Schmerz zerriss seinen Körper. Pater Gregory wollte flie hen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Sie waren gebrochen. Crispin!, schoss es ihm durch den Kopf. Ich muss ihn warnen! Fieberhaft tastete er nach dem Handy, das irgendwo in den Ta schen seiner Kutte steckte – deaktiviert, wie meistens. Einschalten und Wahlwiederholung!, befahl er sich. Der Pincode! Wie lautet der Pincode? Seine Hände zitterten. Flüchtig sah er hoch. Es kostete ihn alle Kraft, um seine Gedanken beisammenzuhalten und nicht vor dem Horror zu kapitulieren, der ihm den Atem nahm. Schritt für Schritt kam ein Toter auf ihn zu. »Meine Seele war von Anfang an dem Dumah verschrieben!« Die Stimme bebte vor Hass. »Doch er akzeptiert nur, was man ihm gewaltsam opfert! Deinet wegen bin ich für immer verloren zwischen den Welten – denn der Himmel kennt mich nicht.« Es knisterte, als sich die Gestalt nach vorn beugte. Ihre Finger glitten wie suchend über den Boden. Hastig steckte Pater Gregory das Handy in die schützende Tasche. Eine Silberkette rann ihm über den Handrücken.
Das Kreuz! Er packte zu, und neuer Mut durchströmte ihn. Dieses Kreuz war so machtvoll, wie es ein geweihtes Kruzifix nur sein konnte – von der Kirche gesegnet und durch aufrichtigen Glauben geehrt. Pater Gregory hob es hoch. »William Daunceton!«, sagte er laut. »Ein unseliger Geist hat dich aus dem Grab getrieben! Wende dich von ihm ab! Nimm Gott als deinen Herrn an, und er wird dich erlösen!« Er schluckte. »Bitte!« Pater Gregory hatte William nie wiedergesehen nach dem verhängnisvollen Tag vor fünfzig Jahren. Dennoch – er war sein Bruder, und er liebte ihn trotz allem. Tatsächlich schien es auch so, als ob das Kreuz und die Bitte etwas erreicht hätten. Die schreckliche Gestalt erstarrte, eine Hand schon zum Schlag erhoben. Der Stein darin war braun und unscheinbar, wie man ihn zu Hunderten auf den Feldern findet. Plötzlich wurde es eiskalt auf dem Feld. Schwarzer Nebel quoll aus dem Boden wie Tentakel, fuhr durch die Luft und schlang sich um die Füße des Toten. Im nächsten Augenblick wurde William Daunceton senkrecht in die Erde gerissen. Nur der Stein blieb zurück. Er fiel ins Gras. Säulenartig wuchs der Nebel hoch, und Pater Gregory verfolgte mit Entsetzen, wie er sich zu einer Gestalt verfestigte. Ein Gesicht formte sich aus, kaum zu ertragen in seiner düsteren Schönheit. Mächtige Flügel entfalteten sich, und eine Aura erschien. Sie umfloss einen schwarzen Engel. Den Dumah von Sejeth! »Herr im Himmel, steh mir bei!«, wisperte der Mönch. »Gott? Dieser selbstverliebte alte Mann, der seine Unfähigkeit als Güte tarnt? Er wird dir nicht helfen.« Der Dumah lächelte böse. »Das tut er nie.« Pater Gregory hielt ihm mutig das Kreuz entgegen.
Doch der dunkle Engel ignorierte ihn. »Dreitausend Jahre …« Sei ne Stimme hallte seltsam und dunkel. »Ich habe schon Seelen geern tet, lange bevor ihr etwas wusstet von eurem Gott – und du glaubst, du könntest mich besiegen? Mit einem Spielzeug?« Er schoss heran und zertrat Pater Gregorys hochgereckten Arm wie Papier. Der Mönch schrie gellend auf und krümmte sich zusammen. Er keuchte vor Schmerz. »Du hast keine Macht mehr auf Whitling Manor!«, stieß er zwi schen zwei schweren Atemzügen hervor. »Tatsächlich?« Der Dumah wog den Stein in der Hand. »Du bist also keiner Spur gefolgt, sondern aus eigenem Antrieb hier?« Das Blut im Park! Die Brille! Pater Gregory hatte eine schreckliche Ahnung. »Was ist mit dem Mädchen geschehen?« »Die kleine Jenny Puttenham.« Der Dumah warf den Stein hoch und fing ihn wieder auf. »So klein, so rein, so tot.« »O Gott, Jenny!«, stöhnte Pater Gregory. Tränen glänzten in seinen Augen. »Warum hast du das getan? Warum denn nur?« Der Dumah seufzte. »Siehst du, das war der Wurm im Apfel am Baum der Erkenntnis! Ihr habt ihn gefressen, ihr widerliches Ge zücht, und seitdem löchert ihr das Universum mit dieser dummen Frage!« Erneut warf er den Stein hoch. »Warum muss alles einen Grund haben? Warum kann man etwas nicht einfach – tun?« Bei diesen Worten fing er den Stein aus der Luft und schleuderte ihn mit Wucht auf Pater Gregorys Stirn. Sie barst mit einem seltsam dumpfen Laut. »Dachtest du, ich würde erlauben, dass Gott von meinen Werken profitiert?«, zischte er dem sterbenden Mann zu. »Du hast ihm Whitling Manor geschenkt, den Pakt gebrochen und mein Haus zer stört! Fahr zur Hölle, Lord of Daunceton! Ich komme gleich nach – sobald ich meinen Grundstein neu gelegt habe …«
* »Na, mal wieder verpennt?« fragte Bonnie zur Begrüßung, als Amanda gähnend den Speisesaal betrat. »Oh, übrigens: Jenny Put tenham ist verschwunden!« »Cool …« Amanda nahm ein Tablett vom Stapel und stellte sich an der chromblitzenden Theke an. Es roch nach Speck und Ei und frisch gebrühtem Tee. Soeben kam Mrs. McColl durch die Schwingtür gerauscht und knallte eine Riesenschüssel dampfender Bohnen auf die Anrichte. Es schien die Köchin von St. Leodigan’s nicht zu kümmern, dass dort bereits eine Kaffeemaschine stand. Schwappend und zischend ruckte das Gerät an den Rand. Simon grüßte Amanda im Vorbeigehen und machte sich mit sei nem Frühstück auf die Suche nach einem freien Platz. Sie wandte sich an Bonnie. »Wie hast du das vorhin gemeint? Ist Jenny abgereist?« Ihre Freundin zog die Brauen hoch. »Die Streberleiche? Bist du verrückt? Ferienbeginn ist erst morgen! Da reist man doch nicht ab und verpasst womöglich ein kostbares Lehrerwort!« »Aber wo sollte sie sein?« überlegte Amanda laut. »Keine Ahnung.« Bonnie schob ihr Tablett vor Mrs. McColl und sah zu, wie sich der Teller füllte. »Wen interessiert Jenny Putten ham?« »Na! Na! Na!« Die Köchin drohte mit der Schöpfkelle. Bohnen in Tomatensauce platschten herunter. »Sowas sagt man nicht! Das arme Dingelchen ist seit gestern Abend weg! Sie suchen schon über all nach ihr.« »Mahlzeit!«, wünschte Bonnie und marschierte los. Im nächsten Moment knallte ihr Tablett zu Boden.
Amanda fuhr herum und riss die Augen weit auf. Ein schwarzer Engel näherte sich aus dem Park. Die Schüler der Unterstufe johlten und klatschten. Sie glaubten an einen verfrühten Halloweenscherz. Nachdem er den Schulhof er reicht hatte, zog der Engel eine Art lebensgroßer Puppe von der Schulter. Das spornte den Lärm noch an. Daran änderte sich auch nichts, als er die vermeintliche Puppe mit Macht herüberwarf. Erst als Jenny Puttenham in einem Scherbenregen durch das berstende Fenster krachte, wurde es still – und genau in diesem Moment sprangen die hausinternen Lautsprecher an. »Dies ist keine Übung!«, rief die Stimme des Direktors. »Verlassen Sie sofort das Gebäude! Benutzen Sie den Haupteingang, und be wahren Sie Ruhe!« Jenny Puttenham war auf einem Tisch gelandet. Während der Durchsage glitt ihr schrecklich zugerichteter Körper zu Boden, die Arme hoch gereckt. Es sah aus, als würde das tote Mädchen winken. Panik brach aus. Jeder versuchte, die Tür als Erster zu erreichen. Viele Jugendliche drängten sich rücksichtslos vor, schreiende Kinder wurden niedergetrampelt. Tellerstapel zerklirrten, als Mrs. McColl in die Küche floh. Die Kaffeemaschine krachte herunter, Funken sprühten. Amanda stand in einem Hexenkessel. Jemand riss sie herum. »Raus hier!«, sagte Justin Hayes, packte sie am Oberarm und zerr te sie mit. Wie ein echter Held!, dachte Amanda und schluchzte: »Oh, ich liebe dich!« Doch das bemerkte Justin nicht einmal. Der Ausgang war hoffungslos umlagert – bis das Gedränge in Tu mult und Kreischen explodierte. Der Dumah hatte seine Gestalt verändert und starrte als faulender Toter durch die Fenster. Entsetzlicher Gestank wehte herein. Ein
Gargoyle krachte vom Dach. Justin war es gelungen, Bonnie und Simon zu finden. Er lotste die drei in weitem Bogen an Jennys Leiche vorbei ans andere Ende des Saales. Beherzt packte er einen Stuhl und zerschmetterte die Fenster scheibe. »Los, raus!«, drängte er. Amanda wollte protestieren, doch Justin schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. An der Decke hatten sich Risse gebildet. Stuck rieselte herunter, und durchs Gebälk zogen Laute wie ein Stöhnen – als würde sich Whitling Manor dagegen auflehnen, dass der Dumah es betrat. Nacheinander kletterten die Vier ins Freie. Wieder fiel ein Gargoy le vom Dach, dann noch einer. Scharfe Splitter spritzten gefährlich nahe an den Teenagern vorbei. »Die Scheissdinger wollen uns töten!«, schrie Amanda entsetzt. »Quatsch! Gargoyles sind dazu da, das Böse fernzuhalten!« Bonnie blickte über die Schulter und sah, wie der Dumah aufhorchte. Sie stieß ihre Freundin vorwärts. »Zum Mausoleum! Das ist geweihte Erde, dort kann er uns nichts tun!« Sie kamen nicht weit. Aus dem Nichts materialisierte der Dumah vor ihnen. Sie wirbelten herum, doch erneut – oder immer noch? – versperrte er den Weg. Ringsum herrschte das blanke Chaos. Die Schulsirene schrillte, Gargoyles zersplitterten, Kinder rannten schreiend davon. Bonnie wies zum Park. »Der zweite Friedhof! Schnell!« Die Vier spurteten los. Amanda hörte Justin keuchen, blickte ihn an. Sein Gesicht war rot verquollen, und er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Tro ckenen. Er taumelte. »Dein Pullover! Zieh dir den Pullover über den Kopf!«, japste sie, als Simon panisch aufschrie: »Gott! O Gott!«
Der Dumah folgte ihnen. Sie rannten um ihr Leben; durch den Park, durch den Windbruch, durch die Büsche. Simon preschte als Erster ins Freie. Eine Hand griff nach ihm, riss ihn zur Seite. Und ehe Amanda rea gieren konnte, wurde auch sie gepackt. »Auf das Feld, Kind! Rasch!«, sagte Crispin. »Was …? Woher …?«, stammelte sie verwirrt und erstarrte, als sie Pater Gregory tot am Boden liegen sah. Hinter ihr brach Justin nach Luft ringend zusammen. Crispin und Bonnie zogen ihn aufs Gras. Simon rannte einfach weiter, doch er konnte nicht fliehen. Das Feld war umstellt! Verborgen im Gebüsch standen die Mön che von Buckridge Abbey. Warum tun die nichts?, dachte Simon. O Mann! Die haben Schiss! In seiner Verzweiflung ließ sich der Junge zu Boden fallen und schlang die Arme schützend um den Kopf. Amanda registrierte das alles nur wie im Traum. Durch ihre Tränen sah sie die Umgebung nur verschwommen. Sie bemerkte, dass sie Justins Kopf in ihrem Schoß gebettet hatte. Wann habe ich mich hingekniet?, fragte sie sich. Plötzlich wurde alles still. Crispin verschwand wie ein Spuk. Da kreischte Bonnie auf, und Amanda blickte hoch. Der Dumah war erschienen. Bonnie nahm allen Mut zusammen und malte ein Bannzeichen in die Luft, das sie aus ihren okkulten Schriften kannte. Das Buch war teuer gewesen. Es musste funktionieren. »Kleines Mädchen!« Unbeeindruckt trat ihr der schwarze Engel entgegen. »Leg dich nicht mit Mächten an, die du gar nicht kennst!« »Aber das ist geweihte Erde!«, stammelte Bonnie. »Ist sie das?« Der Dumah kam näher, Schritt für Schritt.
Bonnie wich zurück. Amanda schaute sich gehetzt um. Neben Justin lag ein Stein, braun und unscheinbar. Die 17-Jährige packte ihn und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den dunklen Engel. Er flog ins Leere. Die Dämonenstimme wurde drohend. »Dieser Ort ist mein Reich! Hier gibt es keine geweihte Erde! Nur ungetaufte Kadaver.« »Falsch!«, sagte Crispin, als er hinter dem Engel auf den Weg trat. Der Dumah fuhr herum. Seine Flügelspitzen streiften das Gras. Es knisterte und ätzender Rauch kräuselte sich von ihnen. Der Dämon fauchte vor Unmut. Crispin zeigte zu Boden. Überall blinkten Tropfen. »Weihwasser«, erklärte er. »Pater Gregory hatte sein Handy einge schaltet. Wir konnten hören, was geschah – und wir sind nicht untä tig geblieben!« Die Mönche traten aus der Deckung, Schulter an Schulter. Auf ein Zeichen des Abtes intonierten sie eine uralte, machtvolle Litanei. Als Antwort begann der Dumah zu brüllen; mehrstimmig, wie ein Rudel Höllenhunde. Er war eine furchtbare Erscheinung. Bonnie und Amanda schrien vor Angst. Simon wimmerte. Justin kämpfte mit rasselndem Atem um sein Leben. Selbst Crispin war aschfahl. Einfache Sterbliche konnten gefallene Engel nicht zerstören, das wusste er. Doch sie gaben schnell auf, wenn sie merkten, dass ihre Absichten durchschaut worden waren. Der Abt breitete die Arme aus. »Du hast diese Jugendlichen mit Bedacht hergetrieben, nicht wahr? Was wolltest du? Ihre Seelen ver giften? Noch mehr Rache für den verlorenen Pakt?« Crispin tastete nach der Tasche. »Du bist in deine eigene Falle gelaufen, Dumah! Dieses Feld ist nicht länger dein Reich – es ist ein Gottesacker, und alle Schuld ist bezahlt! Hebe dich von uns, Satan!«
Mit diesen Worten zog er Pater Gregorys Kreuz. Das Blut des letz ten Lord of Daunceton klebte daran. Betend hielt es Crispin hoch. Sonnenlicht brach sich an den Kanten und fiel als gleißender Strahlenkranz auf die Gräber ringsum. Kleine Schemen huschten daran empor. Himmelwärts. Ein diabolisches Lachen hallte übers Feld, und der Dumah löste sich auf. Er verschwand einfach. »Er ist weg!«, rief Bonnie verblüfft. Amanda beachtete sie nicht. Justin rang verzweifelt nach Luft, er war in ernsthafter Gefahr. Sein Blick wurde starr, und er hatte kalten Schweiß auf der Stirn. »Bitte! Du darfst nicht sterben!«, flehte das Mädchen. Helfende Hände zogen sie fort. Die Mönche bemühten sich um Justin, jemand verständigte per Handy den Notruf. Bonnie und Amanda umarmten sich wortlos. Crispin trat heran und nickte den Freundinnen aufmunternd zu. »Es ist vorbei!«, sagte er. »Kommt, ich bringe euch fort von hier.« Schweigend setzten sich die Mönche in Bewegung. Justin wurde auf einer behelfsmäßigen Bahre getragen, abgeschirmt durch ein provisorisches Zelt aus einer Kutte, das die Sonne fernhielt. Die Mädchen blieben an seiner Seite und sprachen ihm Mut zu. Irgend wo heulten Sirenen … Simon Kinney folgte den anderen mit gesenktem Kopf. Er schämte sich, weil er feige gewesen war. Aber er ärgerte sich auch, weil ihn niemand beachtete. Alles drehte sich wie immer nur um Justin – diesen coolen, gut aussehenden Typ, der selbst dann noch von den Mädels umschwirrt wurde, wenn man ihn schon tragen musste. Ich will auch Erfolg haben! Heiße Bräute und Geld ohne Ende!, dachte Simon – und stolperte so heftig, dass er fast gefallen wäre. Vor ihm lag ein Stein, braun und unscheinbar, wie man ihn zu Hunderten auf den Feldern findet.
Simon hob ihn auf. Eigentlich nur, um ihn wütend fortzuschleu dern. Aber als sich seine Finger um ihn schlossen, durchlief den Jungen eine Ahnung künftigen Glückes, und er hielt ihn fest. Der erste Stein zum eigenen Haus!, dachte Simon. Er wusste nicht, woher dieser Gedanke kam. Es war ihm auch egal. Pfeifend schob er seinen Fund in die Tasche und ging weiter. Irgendwo an einem düsteren Ort im Schattenreich lächelte der Du mah. Sein Intrigenspiel war aufgegangen. Er hatte die Starken getes tet, um den Schwachen zu finden – damit sich der Fluch von Whit ling Manor neu etablieren konnte. Und das würde er. Bald … ENDE