Peter Forbath
Der König des Kongos
Inhaltsangabe Im Jahre 1482 segelt der portugiesische Viermaster Leonor auf der S...
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Peter Forbath
Der König des Kongos
Inhaltsangabe Im Jahre 1482 segelt der portugiesische Viermaster Leonor auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien die afrikanische Küste entlang. Die Karavelle ist im Atlantik weiter nach Süden vorgedrun gen, als je ein Schiff zuvor, als es in die Mündung eines großen Stromes gelangt. Der Kapitän befiehlt, den Strom hinaufzusegeln, um das unbekannte Land am ZaireFluss, den man bis dahin für den mächtigsten Flusslauf der Welt hält, zu erkunden. Und so beginnt für die fünfzig Mann der Besatzung und insbesondere für den Pagen des Kapitäns, den fünfzehnjährigen Gil Eanes, das Abenteuer ihres Lebens. Gil wird zum Mittler zwischen beiden Welten, indem er die Freundschaft des Königssohnes Mbemba erringt, des späteren Königs Affonso I. Prinzessin Nimi a Nzinga wird seine Geliebte und später seine Frau. Ihr gemeinsamer Sohn Kimpasi ist das erste Kind aus einer europäisch afrikanischen Verbindung. Das Volk der Kongo begegnet den Weißen mit Neugier, aber es empfindet auch Grauen vor dem möglichen Bösen, das diese Menschen über sie bringen könnten, gemäß der Prophezeiung des Zauberers Lukeni a Wene: »Zuerst werden sie unsere Seelen stehlen und dann unsere Körper.« Erst zwanzig Jahre später wird offenbar, was mit diesen Worten gemeint ist: Fünf Karavellen kommen aus Portugal. An Bord ist Gils und Nimis Sohn Kimpasi, der Priester geworden ist und aus Lissabon ein schreckliches Geheimnis mitbringt.
HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nr. 01/10.921
Titel der Originalausgabe
LORD OF THE KONGO
erschien 1996 bei Simon & Schuster, New York
Copyright © 1996 by Peter Forbath
Copyright © 1996 für die deutsche Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1999
Umschlagillustration: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kampa
Werbeagentur, CH – Zug
Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN: 3-453-14592-5
http://www.heyne.de
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
1482
KAPITEL 1
S
icherer Hafen an Backbord!« Der Ruf kam vom Krähennest am Großmast der Leonor. »Sicherer Hafen, sicherer Hafen, drei Strich Backbord!« Gil Eanes, der Page des Kapitäns, blieb mit dem Tablett voll schmut ziger Zinnkrüge und -teller, das er zum Achterkastell hinauftragen soll te, sofort auf der Kajütstreppe stehen, um einen Blick in die angezeigte Richtung zu werfen; aber der fünfzehnjährige, bartlose Junge mit den hellblauen Augen und den langen, blonden Haaren konnte nichts ent decken. Die Leonor, eine viermastige Karavelle von 150 Tonnen, die auf einem Steuerbordkurs am Wind lavierte, hielt fast zwei Leguas von der Küste ab und machte unter vollen Segeln mehr als fünf Knoten Rich tung Süden. Außerdem war es Mittag, und ein feuchter Dunst, der in der grellen, unbarmherzigen Sonne Afrikas glitzerte, verschleierte die Küste. Gil blickte zum Achterdeck. Dort stand José Vizinho, der Lot se, ein drahtiger Jude mit windzerzaustem Bart, und spähte durch ein langes Messingfernrohr landwärts. Vor 93 Tagen hatten sie ihren Heimathafen Faro an der portugiesi schen Algarve-Küste verlassen, vor 21 Tagen São Jorge da Mina, die letzte europäische Siedlung an der Küste Westafrikas, und vor sechs Tagen waren sie am Kap Ste. Catherine vorbeigesegelt – dem südlich sten Punkt, den ein europäisches Schiff bis dahin in diesen Breiten ge sichtet hatte. Der Auftrag ihres Königs Johann II. für diese Fahrt lau 1
tete, einen Seeweg um die Südspitze Afrikas zum Indischen Ozean zu finden. Nach dem Julianischen Kalender schrieb man den 12. August 1482, und ihr Schiff war nicht das erste, das diesen Versuch unternahm. Schon seit mehr als sechzig Jahren, seit der Infant Dom Henriqué (der als Heinrich der Seefahrer in die Geschichte einging) dieses waghalsi ge Unternehmen gestartet hatte, stießen portugiesische Schiffe an der atlantischen Küste Afrikas immer weiter nach Süden vor in der Hoff nung, eines Tages einen Weg um das legendäre Prassum Promontorium zu finden und das Monopol des Islam auf den gewinnträchtigen Seiden- und Gewürzhandel mit Calicut und Cathay zu brechen. »Sicherer Hafen, sicherer Hafen, drei Strich Backbord, Südost zu Süd. Eine große Bucht.« José Vizinho sichtete die Stelle. Dann senkte er sein Fernrohr und gab dem Steuermann, der unter dem Achterdeck an der Ruderpinne stand, durch das Kommandoluk Befehl zum Kurswechsel. Als näch stes rief er zum Bootsmann hinüber, der die Order mit Hilfe einer Pfei fe und seiner unüberhörbaren Stimme an die Mannschaft weitergab. Einige der Männer gingen sofort daran, die schräglaufende Rah des großen Lateinersegels am Kreuzmast herumzuhieven, andere kletter ten die Wanten des Großmasts hinauf, um das Marssegel zu streichen. Nuno Gonçalves, der Obermaat, lief nach vorne zum Bug, um die Ket te des Senkbleis abzuwickeln. Auf diese hektischen Aktivitäten hin kam Diogo Cão, der Kapitän des Schiffes, an Deck. Gil Eanes blickte noch einmal landwärts, und nun konnte auch er in dem gleißenden Licht etwas erkennen. Während der letzten sechs Tage, seit Kap Ste. Catherine, hatten sich rote Klippen die Küste ent langgezogen, und der schmale Sandstrand davor war so flach ins Was ser abgefallen, dass manchmal bis zu fünf Leguas ins Meer hinaus ge fährliche Untiefen aufgetreten waren. Doch hier endeten die Klippen jäh, und von der flachen, tiefliegenden Küstenlinie ragten in einem Bo gen von wenigstens sechs Leguas Durchmesser zwei Landzungen wie die Scheren eines riesigen Krebses in den Ozean hinaus und bildeten, wie es schien, eine natürliche, schiffbare Bucht. Gil sah wieder zum Achterdeck. Diogo Cão, ein kleiner, aber breit 2
schultriger und kräftig gebauter Mann mit buschigen, schwarzen Au genbrauen, dichtem Bart und dunkler, pockennarbiger Haut, hatte von seinem Lotsen das Fernrohr erhalten und studierte nun die Kü ste, während die Leonor drei Strich nach Backbord wendete, Kurs 146 Grad, und mit halbem Wind auf die große Bucht zuhielt. In der An nahme, dass der Kapitän dort ankern lassen würde, lief Gil zum Vor derdeck, um sich des Tabletts mit dem schmutzigen Geschirr zu ent ledigen. José Vizinho peilte mit seinem Astrolabium die Sonne an, sah in sei ner Deklinationstabelle nach und schrieb das Ergebnis auf die Tafel hinter dem Kompasshaus. Sie befanden sich etwa sechs Breitengra de südlich des Äquators. Obermaat Gonçalves begann, die Wassertie fe auszuloten. Aber selbst nach fast einer Stunde Fahrt auf die Küste zu – die Zeit, die Gil brauchte, um mit seiner Arbeit fertig zu werden und wieder an Deck zu eilen – befanden sie sich noch immer in tie fem Wasser. Offenbar endete die Sandbank, die sich weiter nördlich die Küste entlanggezogen hatte, mit den Klippen. Aber irgend etwas stimmte nicht. Der Bug ruckte eigenartig, als ob das Schiff in eine auf das offene Meer hinausführende Strömung geraten sei, eine Strömung, die stärker zu werden schien, je näher sie zur Bucht gelangten. Noch seltsamer war, dass sich das Wasser verfärbte, während sie sich der Bucht näherten; es wurde dunkel und schlammig-braun. Cão suchte die Küste noch einmal mit dem Fernrohr ab. Vizinho gab eine neuerliche Kurskorrektur an den Steuermann durch. Gon çalves ließ weiterhin das Tiefenlot, das hundert Faden maß, ins Was ser, konnte aber keinen Grund finden. Gil kauerte sich auf dem Vor derdeck neben Gonçalves unter dem Sprietsegel nieder, und von dort aus war er vielleicht der erste, der es sah: ein grasbestandenes Stück Erde, auf dem blaue Hyazinthen und grünes Buschwerk wuchsen wie auf einer winzigen, schwimmenden Insel, nur dass diese Insel auf ei nem breiten Teppich aus braunem, schlammigem Wasser am Schiff vorbeidriftete. Aber noch bevor er Gonçalves darauf aufmerksam ma chen konnte, hatte dieser die Grasnarbe selbst entdeckt, und gleich darauf trieben noch mehr dieser Erdschollen vorbei, und Gonçalves 3
sagte dem Bootsmann Bescheid, der die Nachricht an den Kapitän auf dem Achterdeck weitergab. »Was ist das, Dom Nuno?« fragte Gil. »Ein Fluss.« »Ein Fluss?« »Ja, Kleiner, ein riesiger, mächtiger Fluss, mächtiger als jeder an dere, den ich in meinem Leben gesehen habe. Komm. Gib mir deine Hand.« Der Obermaat hatte das Senkblei wieder eingeholt und hielt es über Gils Hand, wo sich das herabtropfende Wasser sammelte. »Pro bier mal.« Gil kostete einige Tropfen der bräunlichen Brühe. »Und?« »Es ist nicht salzig, Dom Nuno. Es ist süß.« »Genau – Süßwasser. Wasser von einem Fluss. Und was das für ein Fluss sein muß, der sein Wasser so weit ins Meer hinaus ergießt! Da, das ist er.« Gonçalves deutete auf einen breiten Streifen schlammfarbe nen Wassers, das aus der Bucht herausströmte und zahllose der klei nen, schwimmenden Inseln mit sich führte. »Das ist der Strom, der ins Meer fließt und Erde von seinem Grund und Stücke von seinen Ufern mitreißt. Sieh, wie mächtig er ist; wie sehr wir dagegen ankämpfen müssen. Schau, wie sich die Leonor gegen die Strömung stemmt.« »Und die Bucht?« »Es ist keine Bucht, Kleiner. Es ist die Mündung dieses mächtigen Flusses.« Gonçalves warf das Lot wieder aus, und dieses Mal traf er auf Grund. »Neunzig Faden«, rief er und kurz darauf: »Achtzig Faden.« Eine nicht kartographierte Küste anzusteuern und dann auch noch in einen unbekannten und ungewöhnlich mächtigen Strom zu geraten – das verlangte in der Tat hohe Seemannskunst. Denn wer konnte wissen, wie sich die Gezeiten hier verhielten oder wo Riffe und Untiefen lauer ten, die vielleicht das Ende der Leonor bedeuteten? Und wer wusste Be scheid über die Winde, die womöglich vom Land seewärts wehten und sich mit der Meeresbrise vermengten, die jetzt achtern schwächer wur de? Allmählich tauchte die Spitze der südlichen Landzunge aus dem Dunst auf und gab sich als eine bewaldete Halbinsel zu erkennen, de 4
ren Strand mit großen Felsbrocken übersät war; daran brachen sich die mächtigen, anrollenden Wogen des Ozeans, und die vom Flusswasser gelblich verfärbte Gischt wurde hoch in die Luft gepeitscht. Diogo Cão ließ die Segel so weit reffen, dass die Leonor zwar an Geschwindigkeit verlor, sich aber gegen die beständig stärker werdende Strömung des Flusses behaupten konnte. Ohne in dem zunehmend seichteren Was ser die Lotungen seines Obermaats außer acht zu lassen, nutzte er für eine Weile eine vom Land kommende Brise aus, wendete die Leonor elegant vor der Landspitze und fuhr in die vermeintliche Bucht ein, die in Wirklichkeit die Mündung des großen Stromes war. Im Windschatten der südlichen Halbinsel erhob sich hinter dem fel sigen Gestade der Flussmündung ein Landrücken mit einem dichten Wald aus Palmen, Mangroven und riesigen Farnen. Es war inzwischen bereits später Nachmittag; die Sonne stand weit im Westen, und die Landzunge warf einen kühlen, blauen Schatten von mindestens einer halben Legua auf das Wasser, in den Cão einfuhr. Das Wasser unter dem Kiel war noch immer tief genug zum Manövrieren; Gonçalves rief dreißig Faden aus, kurz darauf fünfundzwanzig, dann zwanzig. Bei fünfzehn befand sich die Leonor etwa tausend Ellen vom Ufer ent fernt; nun befahl der Kapitän dem Steuermann, nach Osten zu drehen, so dass das Schiff mit dem Bug genau gegen die Strömung stand. Es ging nur langsam voran. Die Leonor hatte jetzt nur noch das Sprie tsegel und die stark gereffte Fock gesetzt – das Besan- und das vollge takelte Großsegel waren aufgerollt –, und Cão musste die rasch nach lassende Seebrise und den vom Land kommenden, auffrischenden Wind geschickt ausnutzen. Sie segelten mittlerweile so nahe am Südu fer der Mündung entlang, dass sie auf Steuerbord Papageien krächzen und Affen in den Baumkronen schreien hören konnten; im schlam migen Wasser zwischen den Felsbrocken standen Silberreiher und an dere langbeinige Wasservögel, und von Zeit zu Zeit konnten sie halb untergetauchte Krokodile sehen, die das Schiff aus ihren hervorquel lenden Augen beobachteten, während über ihnen Fischadler hinweg glitten und Möwen kreisten und kreischten. Von menschlichem Leben war allerdings keine Spur zu sehen. 5
Noch zwei Stunden fuhr Cão Flussaufwärts. Erst als die Schatten im mer länger wurden und die Dämmerung einsetzte, gab er dem Steu ermann Befehl, auf das Ufer zuzuhalten – es waren noch fast zehn Fa den Wasser unter dem Kiel – und vorsichtig in eine kleine Bucht mit Stauwasser einzulaufen. Dort ließ er die Segel streichen und den An ker auswerfen. Wenig später kehrte eine sanfte, dämmerige Ruhe auf dem Schiff ein, eine Ruhe, die untermalt wurde durch fremdartige Vo gelstimmen, das Geschwätz von Affen, das Rascheln von Palmwedeln im Abendwind und das Plätschern des Wassers, das leicht gegen den Rumpf der Leonor schlug. Die gesamte Besatzung, gut fünfzig Mann, war nun auf Deck und lauschte in die Stille hinaus, einschließlich der beiden Afrikaner an Bord – zwei portugiesisch sprechende Ashan ti von der Goldküste. Der Kapitän hatte sie in São Jorge da Mina als Dolmetscher mitgenommen; es waren mit Speeren und Schilden aus Büffelleder bewaffnete, stämmige, muskulöse Männer mit auffallend blauschwarzer Hautfarbe, rasierten Schädeln und tätowierten Backen knochen. Auch sie spähten schweigend in die dunkler werdenden grü nen Schatten am Ufer dieses unbekannten Flusses in diesem noch nie zuvor gesehenen Land. Sie befanden sich jetzt etwa zwei Leguas von der Südspitze der Fluss mündung stromaufwärts. Die Nordspitze war zu weit entfernt, sie konn ten sie nicht mehr sehen; zwischen ihr und der Leonor breiteten sich mindestens vier Leguas bläulich schimmernden Wassers aus, das die tiefstehende Nachmittagssonne mit sämtlichen Farbschattierungen von Rosa bis Zinnober sprenkelte. Selbst Gil ahnte inzwischen – auch wenn er nichts richtig erkennen konnte –, dass dies keine Bucht war, sondern nur die Mündung eines immens großen Flusses sein konnte. Sie ver engte sich zwar nach Osten hin, aber der Strom war auch dort immer noch gewaltig breit, und große, bewaldete Inseln tauchten darin auf; Gil konnte bereits die schattigen Umrisse eines dieser Eilande am fernen, im Dämmerlicht verschwimmenden östlichen Horizont ausmachen. In zwischen war auch die Luft kühler geworden, die vom Land kommende Brise war weniger feucht, und große, von der untergehenden Sonne in sanfte Pastellfarben getauchte Wolken sammelten sich am Himmel. 6
Das Stundenglas neben dem Kompasshaus auf dem Achterdeck, das die halben Stunden anzeigte, wurde umgedreht und die Schiffsglocke geläutet; die zweite Nachmittagswache begann. Die Berechnungen, die der vorhergehende Wachposten auf die Tafel hinter dem Kompasshaus geschrieben hatte, wurden ins Logbuch übertragen und dann ausge wischt. Nuno Gonçalves begab sich auf das Achterdeck, um seinen Po sten als Offizier der neuen Wache anzutreten. Der Schiffsgeistliche Pa ter Sebastião, ein alter Franziskanermönch in einer groben, braunen Soutane mit einem Strick um die Hüfte, von dem ein Rosenkranz und ein Kruzifix baumelten, und einem breitrandigen Hut auf dem Kopf, ging mit dem Obermaat nach oben, um den Segen zu erteilen. Und da der Kapitän und der Lotse ebenfalls auf dem Achterdeck blieben, schloss sich ein anderer wichtiger Offizier der Leonor ihnen an – der Schiffsprofos Fernão Tristão, der das Kommando über die Hellebar diere, Armbrustschützen, Kanoniere und die Soldaten mit den Haken büchsen innehatte. Cão beorderte auch noch die beiden Ashanti-Dol metscher nach oben. Normalerweise hätten die Männer der Besatzung, die nicht zu die ser Wache eingeteilt waren, nun aus der Kombüse unter dem Vorder deck ihr Abendessen geholt – Trockenbrot, Käse, gepökeltes Schweine fleisch, eine Zehe Knoblauch und einen Humpen Madeira-Wein – und sich damit in ihre bevorzugten Ecken auf dem Hauptdeck zurückgezo gen. Nur der Kapitän und die Offiziere hatten im Achterkastell Kajü ten mit Schlafstellen. Die Mannschaft hingegen war ständig an Deck; dort wurde geschlafen, gegessen, Wäsche gewaschen und die persön liche Habe ausgebessert; hier polierte man auch Rüstungen, ölte Waf fen, schnitzte, angelte oder unterhielt sich einfach nur mit den ande ren. Doch an diesem Abend drängten sich die Männer auf dem offe nen Spardeck zusammen, um zu hören, was der Kapitän mit seinen Offizieren und den Ashanti-Dolmetschern besprach. Sie waren sich alle sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sie nun weiter in den Süden gelangt waren als je ein Europäer zuvor und dass sie ein Land erreicht hatten, das noch kein Weißer zu Gesicht bekommen hatte. Gil misch te sich unter sie, obwohl er die nächste Wache übernehmen musste, 7
die erste Nachtwache, und deshalb riskierte, kein Abendessen zu be kommen. »Wie beurteilt Ihr die Lage, José?« fragte Cão den Lotsen. »Sollen wir an Land unser Glück versuchen? Es bleiben uns noch wenigstens zwei Stunden Tageslicht.« Vizinho schüttelte den Kopf. »Herr Kapitän, falls irgendwelche Ne ger da sind, sehen wir sie nur deshalb nicht, weil sie nicht wollen, dass wir sie sehen. Sie halten sich verborgen. Und wenn sie sich verstecken, werden wir sie niemals finden, gleichgültig, wie viele Stunden es noch hell ist.« »Der Lotse hat recht, Herr Kapitän«, pflichtete der Schiffsprofos bei. »Und wer kann sagen, ob es hier überhaupt Neger gibt?« »Oh, in dieser Gegend hier leben ganz bestimmt Neger, Fernão, da könnt Ihr sicher sein. Dies ist ein großer Strom – so wie es aussieht, vielleicht der gewaltigste Strom der Schöpfung. Und an den Ufern gro ßer Flüsse leben immer Menschen.« »Das ist wahr, Herr Kapitän«, stimmte Vizinho zu. »Aber am besten wäre es wohl, wenn wir es ihnen überlassen. Sie sollen sich uns dann zeigen, wenn sie es für richtig halten. Wenn wir hier eine Weile ruhig vor Anker liegen und sie merken, dass sie von uns nichts zu befürchten haben, wird die Neugier ihre Vorsicht besiegen, und dann werden sie sich aus freien Stücken zu erkennen geben. Ihr dürft nicht vergessen, dass sie bisher weder ein Schiff wie das unsrige noch Menschen weißer Hautfarbe gesehen haben.« »Gut, wir werden also die Nacht über warten und sehen, was uns der Morgen bringt. Page.« »Herr Kapitän?« »Ich möchte jetzt zu Abend essen.« »Jawohl, Herr.« Der Kapitän speiste mit den nicht diensthabenden Offizieren in sei ner großen Kajüte auf der Steuerbordseite des Achterkastells, achtern der Steuerung und des Magazins; abgesehen von einigen armseligen Delikatessen wie Rosinen, Feigen und Marmelade aß er mehr oder we niger das gleiche wie seine Matrosen. Als Gil mit dem Servieren des 8
Essens und dem Abtragen des Geschirrs fertig war, musste er unver züglich auf das Achterdeck, um sich für die erste Nachtwache zu mel den. Diese Wache begann immer mit einem Befehl an alle Mann, sich zum Abendgebet zu versammeln. Während Gil die Lampe im Kom passhaus anzündete, betete Pater Sebastião mit den Männern das Pater Noster und das Credo, und danach erklangen die kräftigen, wenn auch unmelodischen Stimmen der Männer zum Salve Regina. Am Ende des Liedes zerstreuten sich Offiziere und Mannschaft wieder, und Gil blieb mit dem Schiffsprofos auf dem Achterdeck. Der Offizier dieser Wache war Fernão Tristão. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit ausgebreitet. Die Sonne war wie ein Stein am westlichen Horizont im Meer versunken, noch wäh rend Gil in der Kapitänskajüte beschäftigt gewesen war, und als er wie der an Deck kam, hatten sich auch die letzten Strahlen vom Land, vom Wasser und vom Himmel zurückgezogen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber selbst wenn er am Himmel gestanden hätte, wäre er ebenso wie die Sterne von den Wolken verdeckt worden, die seit dem Nachmittag aufgekommen waren. Die Nacht war pechschwarz; sogar die Konturen der Bäume am Ufer waren kaum auszumachen. Und es war auch eine stille Nacht – zumindest abgesehen vom Krei schen der Vögel und dem Geschrei der Affen, das aus dem Urwald her überscholl, dem Gemurmel der Männer an Bord, dem leisen Ächzen des Schiffes und dem sanften Plätschern des Wassers gegen die Bord wand, als die Flut hereinkam. Das Plätschern des Flusses – Gil musste sich immer wieder in Erin nerung rufen, dass die Leonor in einer Mündung ankerte und nicht etwa in einer Meeresbucht. Die Tatsache, dass es sich um einen Fluss handelte, schien offenbar sehr bedeutend zu sein; das Gespräch am Tisch des Kapitäns beim Abendessen hatte sich um nichts anderes ge dreht. Rio Poderoso, der mächtige Fluss, hatte Cão ihn genannt, und alle waren sich einig, dass sie noch nie einen derart großen und mäch tigen Strom gesehen hatten. Gil konnte das nicht beurteilen, doch er wusste, dass in den mehr als 9
sechzig Jahren, seit portugiesische Schiffe entlang der Westküste Afri kas nach Süden segelten, viele große Flüsse entdeckt worden waren – der Rio de Ouro, der Senegal, der Gambia, der Volta und der Benin, die Ölflüsse, die das Delta des Niger bildeten –, vom Nil, der schon seit Jahrhunderten als größter Strom Afrikas galt, ganz zu schweigen. Und er wusste auch, dass zumindest der Kapitän alle diese Flüsse kannte. Es war also keine Kleinigkeit, wenn Diogo Cão sagte, dass dieser Fluss, gemessen an der Größe seiner Mündung, der Stärke seiner Strömung und der Wassermenge, die er ins Meer transportierte, sehr wohl der größte und mächtigste der Erde sein könne. Und der Kapitän fand diese Vorstellung ganz eindeutig aufregend. Als er beim Abendessen mit seinen Offizieren darüber gesprochen hat te, hatte sich sein dunkles, wettergegerbtes Gesicht aufgehellt wie das eines Knaben. Es würde ihm großes Ansehen einbringen, der befehls habende Kapitän einer Expedition zu sein, die den mächtigsten Strom der Erde entdeckt hatte. Denn wer konnte sagen, woher ein solch riesi ger Fluss kam und wohin er ein Schiff bringen würde? Vielleicht konn te man auf ihm nicht nur bis tief ins Herz Afrikas hineinsegeln, son dern sogar noch weiter, bis man auf der anderen Seite wieder heraus kam! Am Ende konnte man auf einem solchen Strom vom Atlantik aus den ganzen Kontinent durchqueren und auf der anderen Seite in den Indischen Ozean gelangen. Womöglich stellte sich gar heraus, dass der Fluss eine kürzere Passage nach Indien bot als die Fahrt um die Südspitze des Kontinents, die zu finden König Johann II ihnen den Auf trag gegeben hatte. »Hör auf zu träumen, Junge.« Gil wandte sich rasch um. Es war Fernão Tristão. »Dreh das Stundenglas um, Junge. Läute die Glocke.« »Sofort, Marschall.« Gil beeilte sich, dem Befehl des Schiffsprofos nachzukommen. Die zur Wache eingeteilten Männer zählten die Glok kenschläge mit, um zu wissen, wie lange es noch dauerte, bis sie von der nächsten, der zweiten Nachtwache, abgelöst wurden. Acht Schläge signalisierten das Ende einer Wache. Gil schlug die Glocke zweimal. 10
»Marschall?« »Ja?« Tristão war größer und wesentlich eleganter als der Kapitän; sein Bart war fein säuberlich gestutzt, und im Gegensatz zu Diogo Cão, der sich wie ein gewöhnlicher Matrose zurechtmachte, trug er immer standesgemäße, vornehme Kleidung. »Glaubt ihr, dass uns dieser Fluss nach Indien bringen wird, Mar schall?« »Das werden wir herausfinden, Junge. Wir werden sehen.« »Wie werden wir es denn herausfinden?« »Wir werden diesen Fluss hinaufsegeln und sehen, wohin er uns bringt. So finden wir es heraus.« Der Kapitän hatte also beschlossen, Flussaufwärts zu fahren und nicht weiter dem Küstenverlauf nach Süden zu folgen. Das hatte Gil beim Abendessen der Offiziere nicht gehört; er war wohl gerade nicht in der Kajüte gewesen, hatte Wein oder sonst etwas geholt, als davon gesprochen wurde. »He, du da oben im Mastkorb, bist du wach?« »Zu Befehl, Marschall, ich bin wach.« »Pass gut auf, du da oben. Sei auf der Hut. Der Urwald ist voller Ge fahren.« »Zu Befehl, Marschall, ich passe gut auf!« »Werden wir morgen den Fluss hinaufsegeln, Marschall?« »Morgen? Nein, morgen wohl noch nicht, Junge. Zuerst müssen wir mit den Negern hier Bekanntschaft machen und einige finden, die uns den Weg zeigen.« Als die Wache um Mitternacht abgelöst wurde, holte sich Gil als Ausgleich für das versäumte Abendessen beim Bootsmannsmaat in der Kombüse etwas Schiffszwieback, Käse und Wein und ging damit in seine Ecke auf dem Hauptdeck hinunter. Die Männer, die Freiwa che hatten, schliefen alle mit Ausnahme der beiden Ashanti. Sie lehn ten mit dem Rücken gegen die Reling, hatten die Knie angezogen und unterhielten sich leise in ihrer Muttersprache. Gil aß und beobachte te die beiden im trüben, unsteten Schein der Öllaternen, die von den Balken des Spardecks herunterhingen, und versuchte herauszubekom 11
men, was sie sagten. Der Klang ihrer Sprache gefiel ihm, und obwohl er wusste, dass diese Vorstellung töricht war, dachte er, er könne die se Sprache lernen, indem er einfach nur aufmerksam zuhörte und sich die verschiedenen Gesten und Mienen einprägte, die die beiden beim Reden machten. Nach einigen Minuten unterbrachen sie ihr Gespräch und blickten ihn an. Als er sie anlächelte, zeigten auch sie sich freund lich. »Wisst ihr, dass wir in einer Flussmündung ankern und nicht in ei ner Bucht?« fragte er sie. Sie nickten. »Kennt ihr diesen Fluss?« Wahrscheinlich war das eine dumme Fra ge; schließlich waren diese Männer mittlerweile Hunderte von Leguas von ihrer Heimat São Jorge da Mina entfernt. Aber nachdem der Ka pitän und die anderen glaubten, es sei vielleicht der größte Fluss der Erde, war es doch möglich, dass die Ashanti zumindest davon gehört hatten. »Habt ihr schon einmal von ihm gehört? Es ist ein so großer, mächtiger Strom, ihr müßt doch schon einmal Reisende getroffen ha ben, die euch davon erzählt haben.« »Nein, ich habe noch nie einen Reisenden getroffen, der von einem so großen und mächtigen Fluss erzählt hat«, antwortete jetzt Segou, der ältere der beiden. »Ich auch nicht«, fügte Goree, sein Freund, hinzu. »Nein, wir kennen diesen Fluss nicht. Wir wissen auch nichts von den Menschen, die hier leben. Wir haben sie heute gesehen, wie sie uns vom Dschungel aus beobachteten – sie sind ganz anders als unser Volk, die Ashanti.«
Von den beiden Ashanti abgesehen, war der Posten auf dem Bugspriet während der zweiten Nachtwache der erste, der sie sah. Kurz vor dem Ende seiner Wache, als es noch dunkel war, gab er Alarm. Alle Mann eilten schnellstens an Deck. Als Gil auf dem Achterdeck ankam, stand José Vizinho, der Offizier der Wache, bereits vorne am Bug, und der 12
Wachposten auf dem Bugspriet deutete erregt Flussaufwärts. Auch Cão, Gonçalves und die beiden Ashanti waren auf dem Achterdeck und spähten den Fluss hinauf, während der Schiffsprofos auf dem Mit teldeck seine Soldaten Aufstellung nehmen ließ. Er trug ein langes Ket tenhemd unter seinem ledernen Übermantel, dazu ein Entermesser und eine salade, einen Eisenhelm mit elegant geschwungener Krem pe. Seine Soldaten waren ähnlich ausgerüstet; fünf von ihnen waren mit Armbrüsten, fünf mit Hellebarden und fünf mit Hakenbüchsen bewaffnet. Ihr bedrohliches Aussehen erhöhte noch die Spannung der Männer, von denen sich viele mit Messern, Maripfriemen, Pinnen, Be senstielen und ähnlichen Werkzeugen ausgestattet hatten, die gerade greifbar waren. In ihrer Mitte stand mit geschlossenen Augen und ge falteten Händen Pater Sebastião und betete. »Seht, dort drüben, Herr Kapitän«, sagte Gonçalves plötzlich und zeigte Flussaufwärts. »Dort sind sie.« Im selben Moment war vom Vorderdeck Vizinho zu hören, und auch er deutete den Strom hinauf. Am felsigen Ostufer der kleinen Stauwas serbucht, in der die Leonor vor Anker lag, hatten sich mehrere schat tenhafte Gestalten versammelt – es konnten nur Menschen oder höch stens noch menschengroße Affen sein. Wie sie aussahen und wie vie le es sein mochten, ließ sich kaum feststellen; dazu war es im Augen blick noch zu dunkel. Man konnte ohnehin nur jene sehen, die sich di rekt bis ans Wasser vorgewagt hatten – vielleicht ein Dutzend –, aber möglicherweise hielten sich ja noch viele im dichten Wald hinter dem Ufer verborgen. »Schiffsprofos.« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« »Keiner Eurer Soldaten unternimmt irgend etwas, bevor ich ein ent sprechendes Kommando gebe.« »Alles wird genau nach Eurem Wunsch verlaufen, Herr Kapitän.« »Bootsmann. Alle Mann auf ihre Posten.« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« »Könnt Ihr sie besser sehen als ich, Nuno?« »Nein, ich glaube nicht.« 13
»Und du, Segou?« »Es sind achtzehn Männer mit Kanus und …« »Kanus?« Cão und Gonçalves stießen die erstaunte Frage fast gleichzeitig her vor und spähten noch angestrengter landwärts. Die Dunkelheit ließ inzwischen zwar nach, doch wodurch sie die Kanus entdeckten, war ihr Geräusch, das Geräusch sanfter Paddelbewegungen im Fluss. »… und dreizehn weitere am Ufer«, fuhr Segou fort. »In den Bäumen sitzen noch einmal an die zwanzig, aber das sind Frauen und Kinder, Herr.« »Gut, Segou. Sehr gut. Und die in den Kanus, kommen sie auf uns zu?« »Noch nicht, Herr. Ich vermute, dass sie uns nicht besser sehen kön nen als wir sie und auf das Tageslicht warten.« »Sind sie bewaffnet?« »Sie haben Bogen und Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Wenn sie sie einsetzen wollen, müssen sie ihre Bogen erst abnehmen.« Cão grinste amüsiert. »Und du wirst uns warnen, falls sie das tun.« Segou blickte den Kapitän an und lächelte ebenfalls. Gil, der mit der ersten Morgenwache dran war, hatte die ganze Zeit über das Stunden glas im Auge behalten; jetzt musste es umgedreht werden. Doch als er danach die Glocke schlagen wollte, hielt Cão ihn mit einer raschen Armbewegung zurück. Offenbar befürchtete er, dass ein ungewohn ter Klang, der vom Schiff ausging, die Neger entweder vertreiben oder zum Kampf provozieren könnte. Die knisternde Spannung an Bord war kein Zeichen von Angst, son dern die Folge aufgeregter Erwartung. Die Besatzung hatte eine lan ge, ereignislose Reise hinter sich – fast vier Monate lang war nichts ge schehen außer der täglichen, ermüdenden Routine an Bord. Die Män ner waren gelangweilt und voller Tatendrang; ein guter Kampf wäre ganz nach ihrem Sinn gewesen. Die meisten von ihnen waren altge diente Westafrikafahrer, die für die Krieger aus Guinea und ihre Waf fen nur Verachtung übrig hatten. Für sie waren alle Afrikaner Guineer, deren Bogen und Pfeile, Speere und Schilde es mit den eisernen Waf 14
fen und dem Schießpulver der Portugiesen nicht aufnehmen konnten. Doch Gil war nicht so überzeugt. Schließlich waren diese Leute keine Guineer, wie sie sie früher getroffen hatten. Afrikaner wie diese hatte noch kein Weißer je gesehen. »Jetzt kommen sie, Herr«, sagte Segou, als Gil das Stundenglas gera de zum fünften Mal umdrehte. Inzwischen war der Tag angebrochen; der Himmel im Osten schimmerte in einem perlmuttfarbenen Blau, das mit den ersten zarten Farben des Sonnenaufgangs getönt war, und die Flussabwärts auf die Leonor zutreibenden Kanus waren jetzt gut zu erkennen. Es waren sechs Einbäume, die nebeneinander auf das Schiff zusteu erten; jeder war etwa zehn bis fünfzehn Fuß lang und mit drei Män nern besetzt. Nur der hinterste paddelte; die anderen beiden saßen mit überkreuzten Beinen im Boot, die Arme vor der Brust verschränkt, die Bogen um den Körper geschlungen und die Köcher auf den Rücken gebunden. Es waren achtzehn Männer; Segou hatte richtig gezählt. Die restlichen dreizehn, die am Ufer geblieben waren, konnte man nicht so gut erkennen, aber sie schienen groß und muskulös zu sein, und sie trugen lange, blaue Röcke aus einem offenbar samtartigen Stoff. Auch sie waren mit Bogen und Pfeilen bewaffnet; nur einer hatte statt dessen einen langen Wurfspeer, auf den er sich stützte, und er war als einzi ger mit einem Kopfputz aus Federn geschmückt. Die Frauen und Kin der, die Segou erwähnt hatte, hielten sich nach wie vor für die Europä er unsichtbar in den Bäumen verborgen. Cão und Gonçalves traten an die Reling auf der Steuerbordseite. Bis auf die Dolche in ihren Gürteln waren sie unbewaffnet. Die beiden As hanti stellten sich mit ihren Speeren und Schilden hinter sie, so dass sie Gils Sicht etwas verdeckten. Auch Tristão auf dem niedriger gelegenen Spardeck war nach Steuerbord gegangen. Seine Soldaten standen in ei ner einzigen Reihe hinter ihm; sie spielten ungeduldig mit ihren Waf fen und blickten erwartungsvoll zum Kapitän hinauf. »Warum kommen sie nicht näher?« fragte Cão. Segou trat einen Schritt vor; Gil vergewisserte sich, dass das Stun denglas noch nicht gedreht werden musste, und tat es dem Afrikaner 15
nach. Die Kanus waren ungefähr dreihundert Fuß querab an Steuer bord zum Stillstand gekommen; die Ruderer paddelten elegant, aber mit voller Kraft gegen die Strömung an, um ihre Einbäume in Position zu halten. Die anderen Männer in den Booten waren aufgestanden. »Page, mein Fernrohr.« Gil lief zu dem verschließbaren Schrank neben dem Kompasshaus, und als er Cão das Fernrohr aushändigte, nutzte er die Gelegenheit, um sich zwischen ihn und Segou zu drängen, so dass er die Neger in ihren Kanus nun richtig sehen konnte. Was hätte er darum gegeben, das Fernrohr jetzt selbst ans Auge halten zu können! Die Sonne war inzwischen über dem Horizont stromaufwärts aufgegangen; sie leuch tete die schier unendliche Weite der Flussmündung aus und war sogar schon über den Wald am Ufer gestiegen, so dass jetzt alles gut zu se hen war – nicht nur die Männer in den Kanus und jene, die die Szene vom Ufer aus beobachteten, sondern auch die Frauen und Kinder in den Bäumen dahinter. »Was haben sie vor, Herr Kapitän?« fragte Tristão vom Spardeck aus. »Ich kann mir nicht erklären, was sie wollen. Sie kommen nicht näher, und sie ziehen sich nicht zurück.« »Geduld, Fernão«, erwiderte Cão und wandte sich dann Segou zu. »Nun, guter Freund, was sagst du dazu?« »Ich kann nur sagen, Herr … Ich kann nur sagen, dass sie gekom men sind, um einen Blick auf uns zu werfen.« Genau! schoß es Gil durch den Kopf, und er spürte eine freudige Er regung in sich aufsteigen: Die Neger waren gekommen, um sich das Se gelschiff und die Menschen anzusehen, die an Bord standen; sie mus sten von einer unvorstellbaren, brennenden Neugier getrieben sein, die Fremden zu betrachten, die in ihrer Heimat erschienen waren. Und darum wünschte sich Gil auch so sehr, selbst durch das Fernrohr blik ken zu können – er wollte gern ihre Gesichter sehen, den Ausdruck, der darin zu lesen war, während sie das Schiff und die Menschen darauf anstarrten. Natürlich, er konnte auch ohne das Glas einiges erkennen, zumindest bei den Männern, die in ihren Booten standen – sie waren jung und kräftig gebaut, höchstwahrscheinlich Krieger, größer als die 16
Ashanti, schlanker und von viel hellerer Hautfarbe, nicht schwarz wie diese, sondern braun, etwa wie dunkler Honig, mit hohen Backenkno chen und leicht schräg stehenden Augen; und im Gegensatz zu den As hanti rasierten sie sich nicht die Schädel kahl, sondern hatten dichte, schwarze Locken; und ihre knöchellangen Röcke waren nicht aus eu ropäischem Tuch, sondern aus einem eigenartig samtig schimmern den, dunkelblau gefärbten Material und … Aber im Augenblick wollte Gil diese Einzelheiten gar nicht wissen. Dafür würde er sich vielleicht später interessieren – jetzt wollte er die Gesichter dieser Menschen sehen und was in ihnen geschrieben stand. Sie waren gekommen, um sich das fremde Schiff und seine Besatzung anzuschauen, und Gil dachte, wenn er den angespannten, forschenden Ausdruck in ihren Mienen genauer sehen könnte, dann würde er viel leicht erkennen, was sie in dem Schiff und den Männern an Bord sa hen. José Vizinho hatte gesagt, diese Leute hätten noch nie ein Schiff wie dieses zu Gesicht bekommen und ebenso wenig hellhäutige Men schen. Jetzt waren sie mit diesem Anblick konfrontiert, sahen zum er sten Mal in ihrem Leben, zum ersten Mal seit Generationen ihres Vol kes, ein Segelschiff und Menschen mit weißen Gesichtern. Welche Ge danken mochte das in ihnen auslösen? Hatten sie Angst? Waren sie aufgeregt oder erheitert? Glaubten sie, ein Wunder sei geschehen, oder irgendein schrecklicher Zauber sei entfesselt worden? Oh, wie sehr er sich wünschte, den Gesichtsausdruck zu sehen, in dem Ehrfurcht oder Staunen, Schrecken oder Wonne geschrieben stand, weil sie Dinge sa hen, die sie noch nie zuvor erblickt hatten, die sie sich nicht einmal hät ten erträumen können. Es musste ihnen vorkommen, als hätte ein Vo gel auf riesigen Schwingen Götter oder Teufel aus einer anderen Welt an ihre Küste gebracht, einer Welt jenseits des unendlichen Ozeans, ei ner Welt hinter dem fernsten Horizont, einer Welt im Himmel. »Sprich mit ihnen, Segou«, sagte Cão. »Begrüße sie im Namen unse res Königs.« Segou legte Speer und Schild zur Seite, formte mit den Händen ei nen Trichter am Mund und rief zu den Männern in ihren Einbäumen hinunter. Gil dachte, er könne verstehen, was der Ashanti rief; zumin 17
dest die Grußworte kamen ihm bekannt vor – Segou oder Goree hat ten sie ihm gegenüber oft genug benutzt – und auch der Name von König Johann II von Portugal. Die Männer in ihren Booten starrten alle gebannt auf den Ashanti und begannen dann, leise untereinander zu sprechen. Offenbar hatten sie Segou und Goree, die zwei schwar zen Gesichter zwischen all den weißen, bislang gar nicht wahrgenom men. Und als auch Goree an die Reling trat und ihnen etwas zurief, wuchs ihre Verwirrung noch mehr. Aber nicht ein einziger gab eine Antwort. »Was hast du zu ihnen gesagt, Segou?« fragte Cão. »Ich habe sie im Namen unseres Königs begrüßt und sie nach dem Namen ihres Königs gefragt.« »Und du, Goree?« »Ich sagte, dass unser König mehr Macht hat als der ihre.« Diese Bemerkung gefiel Cão gar nicht. »Sag ihnen, dass wir in fried licher Absicht kommen, Segou. Sag ihnen, dass wir Geschenke unseres Königs für ihren König mitgebracht haben.« Während Segou den Männern in den Kanus die ihm aufgetragene Botschaft übermittelte, bemerkte Gonçalves plötzlich, dass Gil sich di rekt neben den Kapitän gedrängt hatte. Er packte den Jungen am Kra gen und beförderte ihn unsanft zum Kompasshaus zurück. Der Sand war gerade durch das Stundenglas gelaufen; Gil beeilte sich, es umzu drehen und blieb dann, eingeschüchtert von Gonçalves' eisigem Blick, daneben stehen. Damit sah er zwar wieder nicht, was sich unten am Wasser abspielte, aber er konnte wenigstens noch lauschen. Während der Sand durch das Glas rieselte und Gil es wieder umdrehte, konnte er sich aus dem Gehörten zusammenreimen, dass die Botschaften, die Segou den Männern in den Booten zuschrie, alle unbeantwortet blie ben, und auch die kleinen Hänseleien, die Goree sehr zum Ärger des Kapitäns dazwischenwarf, riefen keine Reaktion hervor. Schließlich machten die Eingeborenen mit ihren Booten kehrt und ruderten zurück zu den anderen, die am Ufer warteten. »Nun ja, wenigstens sind sie offenbar nicht mit feindseligen Absich ten gekommen«, bemerkte Cão und seufzte etwas enttäuscht. 18
»Dom Nuno«, flüsterte Gil. Gonçalves drehte sich zu ihm um. »Was machen sie jetzt?« Der Obermaat drohte Gil zum Scherz mit der Faust und wandte sich dann wieder von ihm ab. Gonçalves war Gils besonderer Freund. Er hatte den Jungen am Beginn der Reise unter seine Fittiche genommen und ihm beigebracht, was man über die Karavelle und die Hochseese gelei wissen musste. Vielleicht war er um Gil besorgt, weil er an seine eigene erste Reise auf offener See unter Lateinertakelage hatte denken müssen, und hielt den aufgeweckten Jungen, der sich für alles schnell begeisterte, ein wenig im Zaum, allerdings nicht so sehr, dass er ihm die Freude verdorben hätte. Gonçalves war ein hochgewachsener, dün ner Mann mit grobknochigen Schultern und Knien und riesigen Hän den, dafür um so spärlicherem Haarwuchs und einem kurz geschnit tenen Bart. Aufgrund seines Temperaments würde er wohl sein Leben lang Obermaat bleiben und nie selbst ein Schiff befehligen, aber das schien ihn in keinster Weise zu bedrücken. »Was, zum Teufel, ist jetzt los? Schaut Euch das an«, sagte Cão plötz lich. Gil konnte der Verlockung nicht widerstehen; wieder schlich er sich vom Kompasshaus weg, um zwischen dem Kapitän, Gonçalves und den beiden Ashanti über die Reling zu spähen. Die Kanus waren am Ufer der kleinen Bucht angelangt; nun stiegen bis auf die Ruderer alle Männer aus, und an ihrer Stelle nahmen jene in den Booten Platz, die bisher am Ufer gestanden hatten. Nur der eine mit dem Federkopfputz und dem Speer blieb an Land – vielleicht war er der Häuptling –, und dann glitten die Boote wieder mit der Strö mung auf die Leonor zu. Gil hielt das nur für allzu verständlich: Jeder der Männer wollte schließlich diese ungewöhnliche Erscheinung, die sen Wasservogel mit seinen riesigen Flügeln, der in der Mündung ih res Flusses gelandet war, näher begutachten. Als nächstes, mutmaßte er, würden wohl die Frauen und Kinder, die in den Bäumen warteten, in die Einbäume steigen. »Versuch es noch mal, Segou. Grüße sie von unserem König.« 19
Noch einmal rief der Ashanti den herannahenden Booten Grüße des Königs von Portugal zu. Und wieder murmelten die Neger in den Kanus überrascht miteinander, ohne etwas zu erwidern. Und wieder wendeten sie nach ungefähr zwei Glasen und paddelten zu ihrem Aus gangspunkt am Ufer der Bucht zurück. Doch was die Frauen und Kin der anbelangte, sollte Gil nicht recht behalten. Sie erhielten keine Gele genheit, das wundersame Vogelschiff und die seltsamen weißen Män ner darin aus größerer Nähe zu betrachten. Dieses Mal stiegen alle Ne ger in die Einbäume, und dann verschwanden sie Flussaufwärts um die Landzunge der Bucht. »Sie sind weg, Herr Kapitän«, rief Tristão vom Spardeck herauf. »Ja, Fernão, das sehen wir selbst«, entgegnete Cão gereizt. »Glaubt Ihr, dass sie wiederkommen werden? Oder soll ich die Sol daten abtreten lassen?« Cão wandte sich an Segou. »Kommen sie wieder?« fragte er. »Ich weiß es nicht, Herr.« Mittlerweile stand die Sonne schon in Höhe der Rahnock, und die feuchte Hitze des Tages machte sich bemerkbar. Gil nahm seine Le dermütze ab und trocknete sich die Stirn. Einige der Soldaten entle digten sich ihrer Helme und lockerten die Riemen ihrer Rüstung. Die Matrosen auf ihren verschiedenen Posten blickten fast alle gebannt auf Cão, der nach wie vor auf dem Achterdeck stand, und fragten sich, was wohl als nächstes geschehen würde. Der Lotse, der während des seltsa men Besuchs der Neger die ganze Zeit beim Wachposten auf dem Bug spriet geblieben war, kam nach achtern. »Herr Kapitän, darf ich jetzt die Glocke läuten?« »Ja, Page, jetzt darfst du die Glocke läuten.« Gil schlug die Schiffsglocke siebenmal. Noch einmal musste er das Stundenglas umdrehen, und dann würde die erste Morgenwache vor über sein. »Nun, José, wie beurteilt Ihr das alles?« José Vizinho war der belesenste Mann an Bord, den Priester mit ein gerechnet; er beherrschte Mathematik, Astronomie und das Kartenzeichnen so gut wie der beste Lotse in der Flotte des Königs, und Ka 20
pitän Cão wandte sich stets an ihn, wenn er Rat suchte. »Es wäre nicht schwierig, weiter Flussaufwärts zu fahren, Herr Kapitän«, antworte te der Lotse. »Der Strom ist tief und breit. Er läßt uns mehr als genug Raum zum Navigieren, und die Landbrise läßt sich gut nutzen. Und vielleicht würden wir weiter im Landesinneren auf zugänglichere Ne ger stoßen.« »Aber Ihr denkt nicht, dass wir lossegeln sollten.« »Nein, Herr Kapitän. Ich denke, wir sollten noch eine Weile hier warten.« »Dieser Meinung bin ich auch, Herr Kapitän«, fügte Gonçalves hin zu. »Ich gehe davon aus, dass die Neger, die wir heute gesehen haben, mit Verstärkung zurückkommen werden. Ich glaube, sie sind jetzt nur weggefahren, um ihrem Volk von uns zu berichten, und werden später mit mehr Leuten wiederkommen.« »Wir haben keine Zeit zu verlieren, Nuno. Es gibt viel für uns zu tun. Wir müssen diesen Strom erforschen und herausfinden, wohin er führt – wer weiß, wie lange wir dafür brauchen werden. Und falls wir feststellen, dass er nicht der Weg ist, den wir suchen, müssen wir unse re Reise nach Süden fortsetzen, damit wir die Passage in den Indischen Ozean finden. Und wer weiß, wie lange wir dafür brauchen werden.« »Ich verstehe, Herr Kapitän. Aber es wäre kein großer Verlust, wenn wir nur diesen einen Tag verlören. Ich bin mir sicher, dass die Neger noch heute wiederkommen.«
KAPITEL 2
A
ber sie kamen nicht zurück. Erst am nächsten Tag zeigten sie sich wieder; doch bei Beginn der zweiten Morgenwache dieses Tages hatte Cão schon alles zur Abfahrt vorbereiten lassen, weil es ihn dräng te, seiner Order bezüglich des Seewegs nach Indien nachzukommen. Die Anker waren aufgeholt, das Focksegel losgemacht und die Fockrah 21
hochgezogen; der Obermaat auf dem Vorderdeck hatte die Kette des Senkbleis abgewickelt, um die Tiefe auszuloten; der Lotse stand auf dem Achterdeck, um dem Steuermann unten an der Ruderpinne An weisungen zu geben; und das mit acht Ruderern und dem Bootsmanns maat besetzte, an den Bugspriet des Schiffes angetaute Beiboot war im Begriff, die Leonor aus der kleinen Bucht hinauszuschleppen, denn erst dort konnte sie gefahrlos volle Segel setzen, um gegen die Strö mung dieses mächtigen Flusses, den sie erforschen wollten, anzuge hen. Genau zu diesem Zeitpunkt kamen die Neger zurück. Und sie kamen mit großer Verstärkung, mit einer Flottille aus min destens dreißig Kanus, von denen manche wie am Tag zuvor nur mit drei Mann besetzt waren, andere aber waren beträchtlich größer und hatten acht oder zehn Insassen, und im größten von allen – es mochte dreißig Fuß lang sein und hatte einen hohen, geschnitzten Bug – stand vorne zwischen Ruderern und Kriegern der Mann mit dem Federkopf putz und dem langen Wurfspeer; er war also sicher der Häuptling. Ins gesamt mussten es wohl über zweihundert Leute sein, die dieses Mal gekommen waren. »Obermaat!« rief der Bootsmann Nuno Gonçalves auf dem Vorder deck zu. »Der Kapitän befiehlt, das Beiboot loszumachen, damit es längsseits gehen kann.« Gonçalves signalisierte, dass er verstanden hatte; er wickelte die Ket te des Senkbleis auf und kletterte dann barfuss auf den Bugspriet, wo er die Leine des Beiboots löste und sie dem Bootsmannsmaat zuwarf. Kaum war er damit fertig, als mehrere Männer auf dem Vorderdeck begannen, die Gangspill zu drehen, um die beiden Buganker nieder zulassen, und die Matrosen in den Fockmastwanten holten das bereits gehisste Focksegel wieder ein, während Tristão und seine Soldaten auf das Mitteldeck eilten und, zum Teil im Laufschritt, die Helme aufsetz ten und ihre Rüstungen und Waffen anlegten; Pater Sebastião stand dabei und schlug das Kreuzzeichen über sie. Diese hektischen Akti vitäten sorgten bei den Negern in den Kanus für Aufruhr; ihr erreg tes Murmeln scholl über das Wasser wie das Summen eines Bienen schwarms. Die Ruderer hielten inne – ob nun wegen dieser Aktivitä 22
ten oder weil es so geplant war, konnte keiner sagen – und fingen an, rückwärts zu paddeln, so dass die Boote wie schon am Vortag wieder in etwa dreihundert Fuß Entfernung von der Leonor in der Strömung stehen blieben. Cão ging mit einem kleinen, grauen Leinensack in der Hand mitt schiffs zur Steuerbordreling, etwa an der Stelle, wo der Bootsmanns maat das Beiboot längsseits gebracht hatte. »Dieses Mal werden wir nicht vom Schiff aus dumm in die Gegend brüllen, Segou«, sagte er zu dem Ashanti. »Heute reden wir Auge in Auge mit ihnen, von Mann zu Mann. Bootsmann, werft die Leiter über die Bordwand!« Zwei Matrosen ließen eine Strickleiter zum Beiboot hinunter; der Bootsmannsmaat und einer der Ruderer ergriffen die letzte Sprosse und zogen die Leiter stramm. »Mach ein freundliches Gesicht, marinheiro!« rief Cão und warf dem Ruderer den Leinenbeutel zu. Dann wandte er sich wieder an den As hanti. »Komm, Segou. Lass deinen Speer und den Schild an Bord. Wir werden uns diese Wilden zu Freunden machen.« Und damit schwang er sich über die Reling. »Dom Diogo«, meldete sich jetzt Pater Sebastião zu Wort. Cão blick te ihn fragend an. »Ihr geht zu den Negern im Namen unseres Königs, Dom Diogo. Er laubt mir, Euch zu begleiten im Namen unseres Herrn.« Cão überlegte einen Moment. »Wie Ihr wollt, Padre«, sagte er dann. »Darf ich auch mitkommen, Herr Kapitän?« Diesmal war es Gil. »Und in wessen Namen möchtest du gehen, Page?« Darauf hatte der Junge keine Antwort parat; er blickte nur kon sterniert um sich. Aber schon im nächsten Augenblick hatte er sei ne Schlagfertigkeit wieder gefunden und sprudelte heraus: »In Eurem Namen, Herr Kapitän. Ich würde als Euer treuer Page in Eurem Na men gehen.« »Spiel dich nicht auf, Kleiner«, warf jetzt Gonçalves etwas gereizt ein. »Geh auf das Vorderdeck, wo du hingehörst.« »Einen Augenblick, Nuno.« Cão lächelte freundlich. »Warum soll te er nicht mitkommen? Warum sollte der Junge nicht hier seinen er 23
sten Geschmack von Afrika bekommen – hier, wo wir einen großen Fluss gefunden haben? Vielleicht bringt er uns Glück. Also gut, treu er Page, komm mit in meinem Namen.« Damit kletterte er in das Bei boot hinunter. Ein paar kräftige Schläge der acht Ruderer brachten das Beiboot bis auf fünfzig Fuß an das große Kanu des Häuptlings und weniger als dreißig Fuß an die kleineren Einbäume heran, die sich schützend vor das große Boot geschoben hatten. Nun ging Gils Wunsch in Erfüllung: Er konnte klar und deutlich die Mienen der Neger sehen. Und sie zeig ten genau das, was er sich vorgestellt hatte – die Männer waren zutiefst beeindruckt, ja gebannt, als ob diese weißen Menschen von den Ster nen zu ihnen heruntergeflogen wären. Der Kapitän nahm den Leinenbeutel wieder an sich und ging da mit in den Bug des Beiboots. Segou folgte ihm; Gil und Pater Sebastião hielten sich einen Schritt hinter den beiden. Inzwischen war es spä ter Vormittag, die Luft heiß und schwül, die Sonne schien ihnen fast direkt in die Augen, und Schwärme winziger, aufdringlicher Stech mücken stiegen von der glitzernden Wasseroberfläche auf und fielen über jeden Körperteil her, der unbedeckt war. Die Neger in den Kanus schien das nicht zu stören, aber sogar Segou musste die Insekten von Zeit zu Zeit verscheuchen. Cão schnürte den Leinensack auf und holte einige Gegenstände daraus hervor – zwei Handspiegel, ein paar Arm reifen aus Messing, einige Ellen roten Baumwollstoff. »Gut, Segou, probieren wir es noch einmal. Begrüße den Häuptling im Namen unseres Königs.« Während Segou redete, beobachtete Gil aufmerksam die Miene des Häuptlings. Er hatte ein dickliches, braunes, glattrasiertes Gesicht und wirkte etwas großväterlich – die dichten Locken, die unter seinem Kopfschmuck aus grünen, blauen und roten Papageienfedern hervor quollen, waren schneeweiß –, alles in allem hatte er ein gutmütiges Ge sicht, das aber jetzt von angespannter Konzentration gezeichnet war. »Sag ihm, wir kommen in friedlicher Absicht und bringen ihm Ge schenke unseres Königs.« Als Segou weitersprach, hielt Cão abwechselnd die Armreifen, den 24
Stoff und die Spiegel hoch, wobei er letztere in die Sonne hielt und ein wenig drehte, so dass sie das Licht reflektierten. Der Häuptling und seine Männer verfolgten die Bewegungen des Kapitäns, doch ihre Mie nen blieben unverändert. Die Waren der Europäer schienen sie weder zu überraschen noch sonderlich zu beeindrucken. Statt dessen beob achteten sie weiterhin fasziniert und aufmerksam alles, was geschah, und warteten … aber worauf? »Dom Diogo.« »Padre?« »Erlaubt mir, mit ihnen zu reden. Wenn sie die Begrüßung im Na men des Königs nicht erwidern, werden sie vielleicht auf einen Gruß unseres Herrn antworten.« Cão seufzte tief. »Na ja, vielleicht. Auf irgend etwas müssen sie ja wohl reagieren.« Damit trat er zur Seite und ließ den Priester seinen Platz im Bug einnehmen. Pater Sebastião verharrte einige Minuten schweigend, mit geschlos senen Augen und zum Gebet gefalteten Händen. Endlich sah er auf, lö ste den um seine Hüfte gegürteten Rosenkranz und machte mit dem daran hängenden schwarzen Kruzifix aus Onyx mit einer großen Ge ste, die sämtliche Insassen der Kanus zu umfassen suchte, das Kreuz zeichen. Das schien die Neger zu interessieren, das überraschte sie, das hatten sie noch nie gesehen, und ihre Blicke folgten gespannt den weit ausholenden Bewegungen des Priesters, als wollten sie den Zauber, der von diesem Kreuz in seiner Hand ausgehen sollte, beschleunigen. »In nominepatris etfiliiet spiritus sancti …« Gil konnte kein Latein. Natürlich kannte er die Sprache aus der Kir che, aber nun hörte er nicht minder aufmerksam zu wie zuvor dem As hanti, als dieser in seiner Muttersprache redete; er versuchte, einzelne lateinische Wörter und Phrasen zu erkennen, die er in seinen Gebeten verwendete, wie er zuvor die wenigen Brocken Ashanti herauszuhören versucht hatte, die er bei Unterhaltungen zwischen Segou und Goree aufgeschnappt hatte. Und dann fiel ihm plötzlich etwas auf: Die Neger lauschten Pater Sebastiãos Worten genauso wie er, und auch Segou hat ten sie auf dieselbe Art und Weise zugehört. Natürlich – sie verstanden 25
Pater Sebastiãos Latein ebenso wenig wie er, und auch von Segous As hanti konnten sie nicht mehr verstehen. Warum denn auch? Hätten sie Segou verstehen sollen, nur weil sie Afrikaner waren wie er? Aus wel chem Grunde sollten alle Afrikaner dieselbe Sprache sprechen? Ver wendeten denn die Europäer alle eine einzige Sprache? Gil konnte An dalusisch oder Katalanisch kaum verstehen, von Genuesisch oder Flä misch ganz zu schweigen. »Herr Kapitän, sie verstehen nichts.« Ohne sich zu ihm umzudrehen, sagte Cão etwas verdrießlich: »Et was anderes habe ich nicht erwartet.« »Nein, Herr, ich meine nicht Pater Sebastião. Ich rede nicht vom La tein. Ich meine Segou. Sie haben auch Segou nicht verstanden. Sie ver stehen Ashanti ebenso wenig wie Latein. Deshalb antworten sie nicht. Sie verstehen nicht, was wir ihnen sagen wollen.« »Das könnte zutreffen, Herr«, pflichtete Segou bei. »Was der Kleine da sagt, könnte stimmen.« »Aber die Leute in Benin haben dich verstanden, Segou, und die in Togo und die Mandingo ebenfalls, und die Ibo in Biafra auch.« »Das ist richtig, Herr. Alle diese Völker sind meinem Volk, den As hanti, sehr ähnlich. Aber diese Menschen hier sind ganz anders.« Cão betrachtete die Männer in ihren Kanus. Er hielt noch immer die Armreifen, den roten Stoff und die Spiegel in den Händen. Nun ließ er die Gegenstände wieder in den offenen Beutel zu seinen Füßen fallen. »Ja«, sagte er nachdenklich. »Ja, diese Menschen sind anders als die Afrikaner, die wir bisher angetroffen haben. Sie sind keine Guineer.«
An diesem Tag gingen sie nach dem Mittagsgebet und dem Beginn der ersten Nachmittagswache an Land. Die Einbäume waren noch alle auf dem Fluss, nur der des Häuptlings war dahin zurückgekehrt, woher sie alle gekommen waren: Er war stromaufwärts hinter der Landzun ge der Bucht verschwunden. Das Boot des Häuptlings fuhr davon, als Cão gerade überlegte, wie er 26
in Ermangelung einer gemeinsamen Sprache wohl am besten mit die sen so unbekannten Negern in Kontakt treten konnte. Der dickliche, großväterliche Herrscher hatte plötzlich seinen Speer erhoben – aber es war gar kein Speer, wie Gil aus der Nähe hatte erkennen können, sondern ein hölzerner Stab, der sehr kunstfertig mit einer geschnitzten Schlange verziert war, die sich um ihn wand und deren elfenbeinerner Kopf den Knauf des Stabes bildete; vielleicht war er ein Zepter, ein Zei chen der Häuptlingswürde seines Trägers –, jedenfalls hatte der Mann den Stab hochgehoben und damit offenbar ein Signal zur Abfahrt ge geben, denn unmittelbar danach hatten seine Ruderer das Kanu ge wendet und waren davongepaddelt. Gleichzeitig hatten die kleineren Boote, die sich zum Schutz vor das des Häuptlings geschoben hatten, eine Gasse freigemacht, die eine unmissverständliche Aufforderung an das Beiboot der Leonor war, dem Häuptling zu folgen. In der Tat hat te dieser noch mehrere Male über die Schulter zurückgeblickt und sein Zepter auf eine Art und Weise gehalten, die man nur als eine einla dende Geste verstehen konnte. Cão war auch sehr versucht gewesen, diesem Verlangen nachzugeben, doch angesichts der möglichen Ge fahren, die damit verbunden sein konnten, hatte er dem Bootsmanns maat befohlen, zum Schiff zurückzukehren und Verstärkung aufzu nehmen. Als das Beiboot nun vom Mutterschiff ablegte, bildeten die vielen Kanus wieder eine Schneise und eskortierten es dann Flussaufwärts. Gil hatte es geschafft, seinen Platz im Boot zu behaupten – der Kapi tän schien sich nicht weiter um ihn zu kümmern, und Gonçalves hatte ihm ermutigend zugeblinzelt. Zusätzlich zu Segou und Pater Sebastião waren dieses Mal Tristão, in Kettenhemd und mit seiner salade, und fünf seiner Soldaten mit Hakenbüchsen an Bord. Und auch die Rude rer und der Bootsmannsmaat waren jetzt bewaffnet; die acht Matro sen mit Dolchen, der Maat mit einem Entermesser. Cão selbst hatte ei nen Schulterschutz und seinen Brustpanzer angelegt, dazu trug er ei nen mit Federn geschmückten Helm und ein Schwert. Nur Segou, der Priester und Gil waren unbewaffnet. Aber Cão war der Ansicht, dass die wirkungsvollste Waffe sein Lei 27
nenbeutel sein müsse, den er noch mit einigen zusätzlichen Gegen ständen aufgefüllt hatte in der Hoffnung, die Neger damit mehr zu be eindrucken: kleine Glocken, Angelhaken, Messer, Kessel und Pfannen und eine Halskette aus Blutstein. Die Dolche, das Entermesser sowie die Helme, Rüstungen und vor allem die feuerspuckenden Arkebusen mit ihrem lauten Knall waren lediglich als Effekthascherei gedacht. Cão hatte keinerlei Absicht, sich in einen Kampf mit diesen Leuten verwickeln zu lassen und hatte seinen Männern dementsprechende Anweisungen erteilt. Falls es zu Schwierigkeiten kommen sollte, wa ren sie angehalten, sich nur zu verteidigen und ansonsten schnellstens mit dem Beiboot die Flucht zu ergreifen. Es gab zuviel zu tun, und sie hatten noch einen viel zu langen Weg vor sich, als dass sie Zeit damit verlieren konnten, Wilde zu töten. Hinter der Landspitze der kleinen Bucht schien sich der Fluss end lich als solcher zu erkennen zu geben – er war von sichtbaren Ufern begrenzt. Doch in Wirklichkeit war das, was wie das Nordufer aus sah, eine lang gestreckte, breite, dicht bewaldete Insel in der Mitte des Stroms. Das tatsächliche Nordufer lag hinter dieser Insel verborgen und war zu weit entfernt, als dass man es hätte sehen können. Aber selbst der Flussarm zwischen der Insel und dem Südufer war so breit, dass man ihn für einen beeindruckenden Strom halten konnte. Dann tauchte eine weitere Insel auf, die diesen Arm zweiteilte. Die Ruderer verlangsamten das Tempo, während Cão und der Boots mannsmaat beobachteten, welchen der beiden Flussläufe die eskor tierenden Kanus nehmen würden. Sie fuhren in den schmaleren auf Steuerbord ein (der jedoch noch immer gut sechshundert Fuß breit war) und paddelten nahe am Südufer des Flusses entlang, denn aus dem offenen Wasser ragten Baumstümpfe, Felsen und Schlammzonen heraus. Weder die Inseln noch das Ufer des Stroms, von dem Schwär me von Insekten und Schmetterlingen aufflogen, schienen bewohnt zu sein; Palmen, Mangroven und allerlei dichtes Gestrüpp reichten bis direkt ans Wasser. Der Strand war hier nicht mehr felsig wie drau ßen an der Meeresküste; an manchen Stellen war er gar nicht zu se hen, und die üppige Vegetation rankte sich direkt aus dem Wasser 28
empor, so dass Gil und den anderen, die im Boot standen, Blätter und überhängende Äste ins Gesicht schlugen, wenn sie sich nicht duckten. Bunt gefiederte Papageien und Affen mit weißen Gesichtern und lan gen Schwänzen lärmten in diesem Pflanzengewirr, darüber schrien Fischadler und Möwen, und ab und zu war zwischen den langbeini gen, weißen Wasservögeln, die in Ufernähe in der sumpfigen, gelb grünen Brühe standen, ein Krokodil zu sehen, das in der Nachmit tagssonne döste. Gil fragte sich, ob die Leonor in der Lage sein wür de, durch diesen Arm zu segeln, wenn sie sich zu ihrer Forschungsrei se aufmachte, oder ob sie auf der anderen Seite der Insel mehr Manö vrierraum haben würde. Wie zur Antwort auf seine Frage passierten sie im nächsten Augen blick das Ende der Insel, und der Fluss öffnete sich wieder zu einer beeindruckenden Breite von wenigstens einer Legua. Das Sonnenlicht brach sich auf der wie von Quecksilber überzogenen Wasseroberfläche und glitzerte wie Millionen Diamanten oder Sterne. Ob das, was wie das Nordufer aussah, tatsächlich Festland war oder nur eine weitere große Insel, vermochte Gil nicht zu sagen – er vermutete, dass es eine Insel war und der wahrlich gewaltige Strom dahinter noch einen wei teren Arm hatte –, konnte sich darüber allerdings auch nicht viele Ge danken machen, denn gerade rückte das Südufer bei allen Bootsinsas sen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. »Dreht die Riemen flach, Bootsmannsmaat.« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« Die Kanus, die das Beiboot begleiteten, hatten auf das Südufer ge dreht, doch Cão zögerte, ihnen zu folgen. Denn hier bildete der Strand ganz plötzlich eine tiefe, weite, halbmondförmige Bucht; die Palmen, Mangroven und der Dschungel wichen – entweder durch eine Laune der Natur oder durch die Hand von Menschen – vom Wasser zurück und ließen einen breiten Streifen kahler, roter Erde frei. Und auf dieser riesigen Lichtung stand ein ziemlich großes Dorf aus hohen, kegelför migen Hütten, vor denen Hunderte, wenn nicht Tausende von Men schen versammelt waren; die Menge drängte sich bis zum Wasser hin unter. Die Kanus hielten direkt auf diese Leute zu, und als sie das Ufer 29
erreicht hatten, sprangen die Männer ins knietiefe Wasser und zogen ihre Fahrzeuge auf den schlammigen Strand hinauf. Das Beiboot war noch mehr als dreihundert Fuß vom Ufer ab, doch sogar aus dieser Entfernung konnte Gil sofort erkennen, dass dieses Dorf anders war als die durcheinander gewürfelten Hütten aus Gras und Flechtwerk, die er bei den Landgängen in São Jorge da Mina und Kap Ste. Catherine kennen gelernt hatte. Diese Siedlung war bemer kenswert ordentlich angelegt. Die Hütten waren so angeordnet, dass zwischen ihnen ein Gitter rechtwinkliger Wege verlief, und sie umschlossen auf drei Seiten – die vierte Seite war zum Fluss hin offen – einen großen, zentralen Platz, einen Marktplatz, in dessen Zentrum eine vereinzelte, hohe, alte und ungewöhnlich dickstämmige Palme stand. Die Gebäude selbst waren bewundernswert kunstvoll gestaltet und verziert. Die hohen, steil ab fallenden Runddächer waren aus überlappenden Palmwedeln gebaut und ähnelten in ihrer Konstruktionsweise europäischen Schindeldä chern. Die kreisrunden Wände bestanden aus dichtem Korbgeflecht, Türöffnungen und Fenster waren mit bunt gemusterten Matten ver hängt, und jedes Haus hatte einen Garten, der von einem niedrigen Zaun aus Gestrüpp und Bambus eingefasst war. Drei der Häuser un terschieden sich deutlich von den anderen: Sie waren größer, standen eng nebeneinander auf der entferntesten Seite des Platzes und waren von einem wesentlich höheren Zaun umgeben, einer Wand aus zuge spitzten Palisadenpfählen, die als Eingang ein schweres Holztor auf wies. Die Menschen glichen ganz denen, die Gil bereits in den Einbäu men gesehen hatte: hochgewachsene, muskulöse, glattrasierte Männer mit brauner Haut und langen, samtartigen, blauen Röcken, die Frauen trugen Kleider aus demselben Material, die bis unter die Achselhöh len reichten und ihre Brüste verdeckten, und die Kinder waren, abge sehen von Fußreifen aus Muscheln und Gras, völlig nackt. Der dick liche, weißhaarige, großväterlich wirkende Häuptling war jedoch nir gends zu sehen. »Aha, wir sind da«, stellte Cão fest, nachdem er sich das Dorf eine Weile angesehen hatte. Er stemmte die Arme in die Seite, wobei die 30
rechte Hand wie zufällig in den Handschutz seines Schwerts schlüpfte. »Offenbar sind wir nicht in Gefahr oder zumindest so sicher, wie wir es den Umständen entsprechend erwarten können.« Diese Bemerkung richtete sich an niemanden im besonderen, und es gab auch niemand eine Antwort darauf. Gil blickte von Cão zu Tristão und dann zu Segou und dem Priester. Ihre Gesichter waren verkniffen und von Schweißperlen bedeckt. Schwärme von Insekten umschwirr ten sie, doch sie machten keine Anstalten, sie zu verjagen. »Nun gut. Bootsmannsmaat, bringt uns an Land.« In diesem Augenblick ertönten die Trommeln. Zuerst konnte Gil sie nicht sehen, aber als sich das Beiboot dem Ufer bis auf dreißig Fuß genähert hatte, wich die dort versammelte Menge zurück, stromaufwärts nach Osten, stromabwärts nach Westen und die anderen landeinwärts bis zu den ersten Hütten des Dorfes, und öffne te so eine Gasse, die zu einer Gruppe federgeschmückter Menschen am Fuß der vereinzelten Palme in der Mitte des Platzes führte. Dort waren auch die Trommler; sie hielten ihre fassförmigen, mit blauen und roten Streifen verzierten Instrumente zwischen den Schenkeln und schlugen mit den nackten Händen aufwühlende, komplizierte Rhythmen. Und auch Tänzer waren bei der Gruppe; ihre Füße stampften auf die rote Erde, und dazu schwangen sie die Hüften und machten mit den aus gestreckten Armen wellenförmige Bewegungen, die an die kraftvolle Anmut von Schlangen erinnerten. Dann erkannte Gil, dass es gar kei ne Tänzer waren, sondern Tänzerinnen; mit einer ungewollten Auf wallung von Erregung stellte er fest, dass sie die gleichen knöchellan gen Röcke trugen wie die Männer und sie lediglich um die Hüften ge schlungen hatten, so dass ihre Brüste bloß waren. Fünf Männer mit langen, elegant über die Schulter geschwungenen Instrumenten gehör ten ebenfalls zu der Gruppe; es waren aus Elfenbein gefertigte Hörner aus den Stoßzähnen großer Dschungeltiere. Wie die Trommler und die Tänzerinnen trugen auch sie einen Kopfschmuck aus roten und blauen Papageienfedern und Schnüren, an denen abgeschliffene weiße Stein chen und Muscheln aufgereiht waren. Als der Bug des Beiboots mit ei nem mahlenden Geräusch im seichten Uferwasser auflief, setzten sie 31
ihre Instrumente an die Lippen, bliesen die Backen auf und ließen lang gezogene, harmonisch aufeinander abgestimmte Töne erklingen. Beim ersten Stoß der Hörner liefen vier Männer auf das Beiboot zu, packten es an den Dollborden und zogen es mit solcher Kraft auf das Ufer hoch, dass der alte Pater Sebastião für einen Augenblick das Gleichgewicht verlor. Beim zweiten Hornsignal formierten sich die Dorfbewohner schnell auf drei Seiten des Platzes zu geordneten Rei hen; die vierte Seite zum Fluss und zu den weißen Männern in ihrem Boot hin ließen sie offen. Cão sprang heraus. »Segou, komm mit. Ihr auch, Padre. Fernão, lasst Eure Soldaten in einer Reihe hier am Ufer vor dem Beiboot Aufstel lung nehmen. Bewacht es mit Eurem Leben. Bootsmannsmaat, Ihr bleibt mit den Ruderern im Boot und haltet Euch bereit, damit Ihr je derzeit sofort ablegen könnt.« Er sagte nichts darüber, was Gil zu tun hatte; für einen Augenblick zögerte der Junge verwirrt und mit pochendem Herzen, weil er auf kei nen Fall beim Boot zurückbleiben wollte. Aber dann bemerkte er, dass Cão den Leinenbeutel mit den Geschenken vergessen hatte; er warf ihn sich über die Schulter und eilte dem Kapitän nach. Jetzt hörten die Frauen auf zu tanzen, die Männer mit den Elfenbeinhörnern senkten ihre Instrumente, und die Trommeln verstummten. Diogo Cão blieb einige Schritte vor der Gruppe stehen. Gil fixierte die Tänzerinnen; er war von ihren nackten Brüsten so hingerissen, dass er vor Erregung kaum atmen konnte. Doch als er bemerkte, dass eine der Frauen seinen Blick erwiderte, schoss ihm das Blut in die Wangen, und er wandte sich rasch ab. Sie hatte ihn bestimmt mit den gleichen Ge fühlen angestarrt wie er sie – völlig verwirrt und über alle Maßen fas ziniert. Und sie war wunderschön. »Der Beutel mit den Geschenken, Herr Kapitän.« Cão drehte sich zu ihm um. »Ah, ja. Sehr gut, Page. Ich hatte ihn ver gessen.« Er nahm den Leinensack in Empfang. »Segou, du mußt jetzt sehr bedächtig und behutsam vorgehen. Ge brauche deinen ganzen Verstand und all deine Fantasie. Wir müssen sie dazu bringen, dass sie uns verstehen.« 32
»Jawohl, Herr. Ich mache, dass sie uns verstehen. Ich werde mit mei nen Händen und mit meiner Stimme sprechen.« »Sehr gut, Segou. Sprich auch mit deinen Händen.« Aber das war gar nicht nötig. In diesem Moment ging ein Murmeln durch die Menge; die Menschen wandten sich geschlossen um und blickten auf die drei größten, von Palisaden umgebenen Hütten. Das schwere Holztor hatte sich geöffnet, und der dickliche, großväterliche Häuptling schritt hindurch. Er hatte wieder sein Schlangenzepter mit dem Elfenbeinkopf bei sich, doch sein Kopfschmuck war dieses Mal weiß; nicht aus Papagei enfedern gefertigt, sondern aus dem Gefieder der Silberreiher und an derer Wasservögel, die sie vom Schiff aus am Ufer des Stroms gese hen hatten. Die Federn waren länger und geschmeidiger und wieg ten sich leicht mit jedem Schritt, den der alte Mann machte, und aus den gleichen Federn trug er auch noch einen Umhang, der am Hals und am unteren Ende mit roten und grünen Papageienfedern gesäumt und sehr kunstvoll und schön gearbeitet war. Neben ihm schritt ein Mann, der wohl ungefähr ebenso alt, aber viel schlanker war; er trug fast die gleiche Kleidung wie der Häuptling, hatte aber kein Zepter in der Hand, sondern einen bemalten Flaschenkürbis, der dem Geräusch nach zu urteilen, das er von sich gab, mit kleinen Kieselsteinen gefüllt sein musste. Die beiden Männer wurden von fünf Frauen begleitet, die wie die anderen Frauen – mit Ausnahme der Tänzerinnen – knöchel lange, blaue Kleider trugen; jedoch hatten sie sich aus dem gleichen samtenen Stoff auch Turbane um die Köpfe gebunden. Hinter diesen schließlich folgten zehn Leibwächter, die so ähnlich aussahen wie die Männer in den Kanus. Nun wichen die Tänzerinnen und die Musiker unter der Palme beiseite, um dieser Gruppe Platz zu machen. Eine der fünf Frauen trat vor; sie trug einen aus Holz gefertigten Hocker, der die Form eines Stundenglases hatte und mit Einlegear beiten aus Elfenbein verziert war, und setzte ihn hinter dem Häupt ling ab. Dieser rückte seinen Federumhang und seinen Rock zurecht und nahm darauf Platz. Er spreizte die Beine weit auseinander, legte das Zepter auf die Oberschenkel und beobachtete dann für einige Se 33
kunden aufmerksam die weißen Gesichter vor ihm. Er schien instink tiv zu wissen, dass Cão der Anführer dieser Männer war, dieser selt samsten und ungewöhnlichsten Fremden von allen, die er in seinem langen Leben je zu Gesicht bekommen hatte; Wesen, die sich von ihm und seinesgleichen in jeder Hinsicht unterschieden – durch die Far be ihrer Haut, ihre unglaubliche, beschwerliche Kleidung aus Metall, die Behaarung, ihre harten und groben Gesichtszüge und ihre hellen Augen. Er schien sich weniger zu fragen, wer sie waren, sondern viel mehr was. Dann blickte er zur Seite, und eine zweite Frau eilte mit ei nem ebenso schön gearbeiteten und verzierten Hocker herbei, den sie hinter Cão abstellte. Der Kapitän betrachtete ihn von allen Seiten und nahm dann darauf Platz, wie der Häuptling es getan hatte – er spreizte die Beine und legte sein Schwert quer darüber. Den Leinenbeutel mit den Geschenken stellte er zu seinen Füßen ab. Und nun endlich begann einer der Neger zu reden. Es war allerdings nicht der Häuptling. Vielleicht, weil auch der Kapitän Segou für sich hatte sprechen lassen, vielleicht aus einem ganz anderen Grund, ergriff der dünne Mann aus dem Gefolge des Häuptlings, der mit der Kür bisrassel, das Wort. Er sprach schnell und ernst und begleitete seine Rede mit vielen, weit ausholenden Gesten. Gil merkte sofort, wie recht er gehabt hatte: Diese Sprache hatte mit Segous und Gorees Ashan ti absolut nichts gemein. Sie hörte sich schneidend scharf und hart an; manchmal waren zischende, dann wieder summende Laute zu hören, und bei manchen meinte Gil, sie kämen nicht von den Lippen, son dern von tief unten aus der Kehle, andere klangen schnalzend, als wür de die Zunge des Mannes dabei an den Gaumen oder die Zähne schla gen. Gil empfand die Sprache weit weniger angenehm als Ashanti – sie erschien ihm härter, kräftiger und gefährlicher, und das Gesicht des Redners kam ihm böse, zornig und bedrohlich vor. Als der Mann ge endet hatte, schüttelte er seine Rassel über dem Kopf des Häuptlings, und die Menge murmelte daraufhin etwas, das nach einer Anerken nung klang. Der Häuptling wandte den Blick nicht von Cão ab, und dieser erwiderte ihn gelassen. »Er ist der Juju-Mann, Herr«, erklärte Segou leise. »Der Zauberer.« 34
Ohne die Augen von dem Häuptling abzuwenden, fragte Cão: »Hast du irgend etwas verstanden, was er gesagt hat?« »Diese Sprache ist ganz anders als meine, aber ich glaube, er hat uns den Häuptling vorgestellt und uns viele wunderbare Dinge über ihn erzählt.« »Hat er uns seinen Namen gesagt?« »Ich bin mir sicher, dass er das getan hat, aber ich weiß nicht, wie dieser Name lautet.« »ManiSoyo«, stieß Gil hervor. Cão blickte verblüfft auf Gil, und auch der Häuptling fixierte den Jungen überrascht. »Wie kommst du auf diese Idee, Page?« Gil zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, Kapitän, es kam mir nur so vor, dass der Mann mit der Rassel jedes Mal, wenn er auf den Häupt ling zeigte, ManiSoyo sagte.« Cão wandte sich wieder dem Häuptling zu. Dieser blickte noch immer auf Gil – dann lächelte er. Und endlich sagte er selbst etwas. »ManiSoyo«, sagte er und legte die Rechte flach auf die nackte Brust, da, wo sein Federumhang sich öffnete. Dann wiederholte er das Wort, wobei er noch freundlicher lächelte: »ManiSoyo.« Schließlich deutete er mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf Gil. »Bei unserer lieben Mutter im Himmel, heute habe ich den Teufel am Werk gesehen, Junge. Jawohl, das habe ich.« Jetzt grinste auch der Kapitän breit über das ganze Gesicht, und er gab Gil einen beherzten Schlag auf den Rücken. »Sag ihm, wie du heißt, Junge. Er will deinen Namen wissen; deshalb zeigt er auf dich.« »Gil Eanes«, sagte Gil stolz und hocherfreut über das Lob des Kapi täns, und dann legte er eine Hand auf die Brust, wie es der Häuptling getan hatte, und wiederholte noch einmal: »Gil Eanes.« »Gil Janesch«, wiederholte der weißhaarige Herrscher; dabei grinste er von einem Ohr zum anderen, und dann winkte er Gil zu sich. »Er will, dass du zu ihm gehst. Warte noch einen Augenblick.« Cão bückte sich, kramte in dem Leinenbeutel zu seinen Füßen herum und 35
holte schließlich die Halskette mit den Blutsteinen heraus. »Hier, gib ihm das. Aber sei höflich.« Gil konnte es nicht fassen. Plötzlich stand er im Mittelpunkt des In teresses. Jeder – der Kapitän, Segou, Pater Sebastião, der Häuptling und sein ganzes Volk, der dünne Juju-Mann mit dem bösen Gesicht, die älteren Frauen aus dem Gefolge, die Trommler, die Hornbläser und die Tänzerinnen, ja vor allem die hübschen, barbusig tanzenden Mäd chen –, mit einem Mal blickten alle auf ihn, und alle lächelten, völlig gefangen von diesem unerwarteten, glücklichen Augenblick, in dem zwei grundverschiedene Welten sich trafen und sich miteinander ver ständigten – ein Ereignis, das es noch nie gegeben, das noch nie in der Geschichte stattgefunden hatte. Gil nahm die Halskette und trat vor den Häuptling. Dann setzte er seine Ledermütze ab, machte ganz nach Art eines Pagen am Hof seines Lehnsherrn eine elegante, tiefe Verbeugung und kniete nieder. Er war tete auf eine Berührung an der Schulter, mit der ein cavalheiro oder ein fidalgo in Portugal ihm zu verstehen gegeben hätte, dass er sich wie der erheben solle. Aber nichts dergleichen geschah; er hörte nur Ge murmel und leises, fröhliches Lachen um sich herum. Also sah er auf und bemerkte, dass der Häuptling ihn unverwandt anstrahlte. Offen bar war seine Verbeugung als eine Geste der Ehrerbietung und Höf lichkeit verstanden worden. Er drehte sich zum Kapitän um; Cão lä chelte noch immer erfreut und gab ihm mit einer ermutigenden Hand bewegung zu verstehen, dass er fortfahren solle. Deshalb wandte sich Gil wieder dem Häuptling zu und überreichte ihm nun das Schmuck stück. Der Herrscher nahm die Kette in die Hand, ließ sie spielerisch durch die Finger gleiten und befühlte die glatt geschliffenen, grünen, mit blutähnlichen Flecken übersäten Steine aus Chalcedon. Aber plötz lich zog er sie mit einer schnellen Bewegung auseinander und streifte sie Gil über den Kopf. »O nein, sie ist für Euch gedacht, Herr ManiSoyo«, rief Gil verlegen aus. »Bitte, Häuptling, es ist ein Geschenk meines Kapitäns.« Er beeil te sich, die Kette wieder abzunehmen. Doch der Häuptling hielt ihn lächelnd davon ab, wozu auch die an 36
deren Dorfbewohner amüsiert lachten, und zwang Gil mit einem sanf ten Druck seiner Hände, die Halskette anzubehalten. Der Junge blickte wieder zu Cão zurück; der aber zog nur die bu schigen Augenbrauen hoch, als wollte er damit sagen: Was kann man da schon machen, und da er nicht missgelaunt wirkte, behielt Gil die Kette an. ManiSoyo schien sie ohnehin für nicht besonders wertvoll zu halten, er dachte wohl, sie sei besser dazu geeignet, einen jungen Mann zu schmücken als einen alten Häuptling. Und dann tat er noch etwas Überraschendes: Er nahm Gil bei der Hand und zog ihn an seine Seite. Es war eine Geste, als gehörte der Junge nun zu ihm, weil er das Glück gehabt hatte, seinen Namen zu erraten; als würde er glauben, dass Gil wegen dieses Glücksfalls seine Sprache verstehen und ihm als Dolmet scher dienen könne. Er deutete auf Cão, wie er zuvor auf Gil gezeigt hatte, und sprach schnell in seiner Sprache mit den vielen zischenden und schnalzenden Lauten. Gil hatte nicht die geringste Ahnung, was der Häuptling sagte, aber er war gern bereit, noch einmal Mutmaßun gen anzustellen in der Hoffnung, richtig zu liegen. »Er ist unser Kapitän, Diogo Cão, Untertan des Hofes von Johann dem Zweiten, König der Portugiesen.« Der Häuptling musterte Gil; natürlich begriff er ebenso wenig, was der Junge sagte, wie umgekehrt, aber zwischen den beiden war ein freundschaftliches Bemühen um Verständnis entstanden, ein gegen seitiges Wohlwollen wie bei Menschen, die ein Spiel zusammen spie len, und deshalb war der Häuptling nun ebenso wie Gil bereit zu ra ten. »König«, sagte er und deutete noch einmal auf Diogo Cão. »König Porta Gies.« Gil schüttelte den Kopf. Er erkannte, dass er zuviel gesagt hatte, dass er einfachere Worte gebrauchen und ebenfalls Zeichen verwenden musste. Obwohl ihm bewusst war, dass dies vielleicht respektlos war, zeigte er auf den Kapitän und sagte: »Diogo Cão. Das ist Diogo Cão.« »Djogo Cam?« Gil nickte; das war für einen ersten Versuch gut genug. Zur Bekräf tigung wiederholte er den Namen des Kapitäns noch einmal: »Diogo Cão.« 37
Dieser nickte ebenfalls, legte eine Hand flach auf die Brust und sprach nun ebenfalls seinen Namen aus: »Diogo Cão.« »Djogo Cam«, rief der Häuptling noch einmal und deutete auf den Kapitän. Dann schlug er sich auf die Brust und sagte: »ManiSoyo.« Es war ein großer Erfolg. Alle waren begeistert, am allermeisten der Häuptling selbst. Das Spiel wurde fortgesetzt. Als nächstes wollte er Pater Sebastiãos Namen erfahren; dazu deutete er wiederholt auf ihn und klopfte sich selbst wie gehabt auf die Brust. Die Aussprache, die er beim Namen des Priesters zuwege brachte, war gar nicht so übel: Pader Sebastam. Dann kam Gil auf den Gedanken, dass der dünne JujuMann mit dem bösen Gesicht, der Zauberer, der die Rassel über Ma niSoyo geschüttelt hatte, bei den Negern vielleicht einen Status ähn lich dem von Pater Sebastião bei den Portugiesen hatte; deshalb be gann er die Vorstellungsprozedur nun auf ihn anzuwenden. Nach ei nigem Deuten und Brustklopfen stand fest, dass der Mann NsakuSo yo hieß. Die fünf Frauen im Gefolge des Häuptlings gaben jedoch ein gewisses Rätsel auf, denn nach allem, was Gil verstehen konnte, hat ten sie nur einen Namen: MbunduSoyo. Gehörten diese Menschen alle einer Familie Soyo an? Aber selbst wenn es so war – warum hatte von den Frauen dann keine einen eigenen Vornamen? Gils nächster Gedanke war, dass es nun nur recht und billig – und an der Zeit – sei, auch Segou vorzustellen. Doch an einem Menschen mit schwarzem Gesicht zeigte der Häuptling keinerlei Interesse; er wink te den Ashanti mit einer schnellen Handbewegung beiseite und zeig te auf Tristão und die Soldaten, die vor dem Beiboot am Ufer Aufstel lung genommen hatten. Cão befand, dass die Situation friedlich genug sei und ließ den Schiffsprofos und seine Truppe mit ihren Feuerwaf fen nach vorne kommen. Als die langwierige und umständliche Vor stellung der Männer beendet war, ließ der Häuptling seine zehn Leib wächter vortreten. Und auch diese hatten offenbar alle einen auf ›Soyo‹ endenden Namen. Gil fragte sich, ob irgendeiner seiner Gefährten das bemerkte. Aber plötzlich kam ihm eine Idee, die ihm diesen merkwür digen Umstand plausibel erscheinen ließ. »Soyo«, sagte er, und dabei schwenkte er seine Rechte mit dem aus 38
gestreckten Zeigefinger nicht nur über die Begleiter des Häuptlings, sondern auch über die anderen Versammelten – die Männer mit den Trommeln und den Hörnern, die Tänzerinnen und alle Männer, Frau en und Kinder, die sich auf dem Platz eingefunden hatten. »Alle Soyo. Ist es so, ManiSoyo? Sie sind alle Soyo. Diese Leute sind die Soyo.« »Was ist denn in dich gefahren, Junge?« fragte Cão. »Worauf willst du denn jetzt hinaus?« »Sie sind alle Soyo, Herr Kapitän. Diese Leute nennen sich die Soyo. Sie haben uns nicht ihre Namen gesagt, sondern ihre Titel. ManiSo yo – der Häuptling der Soyo oder König der Soyo. Und NsakuSoyo – er ist der Priester der Soyo. Und die Frauen, die MbunduSoyo, das sind die Königinnen der Soyo …« Obwohl der Häuptling Gils Erklärungen nicht verstehen konnte, hörte er gespannt zu, und offenbar war er imstande, aus den Gesten und dem Tonfall des Jungen zu erraten, dass Gils Erklärungen richtig waren. Seine Augen leuchteten vor Freude darüber, was der kluge Jun ge erkannt hatte. »Euer Volk sind die Soyo, ManiSoyo, König der Soyo«, sagte Gil jetzt zu ihm. »Unser Volk, wir, sind die Portugiesen.« »Porta Gies?« »Ja, Portugiesen.« Gil zeigte auf Cão und Pater Sebastião, auf den Schiffsprofos und dessen Soldaten und schließlich auf sich selbst. »Wir sind Portugiesen, ManiSoyo. Unser Volk sind die Portugiesen.« »Porta Gies«, wiederholte der Häuptling überzeugter. »Ihr seid Soyo. Und wir sind Portugiesen.« Der Häuptling lächelte zufrieden. »Soyo«, sagte er, und dann: »Por ta Gies.« »Ja«, antwortete Gil und seufzte tief und nicht minder zufrieden über das Ergebnis, das sie erreicht hatten – das er erreicht hatte. Er blickte mit großem Stolz um sich. »Das hast du sehr gut gemacht, Junge«, lobte ihn Cão. »Nun mach weiter und sieh zu, was du noch für uns in Erfahrung bringen kannst. Vor allem, was diesen Fluss anbelangt.« Doch bevor Gil einen neuerlichen Versuch unternehmen konnte, 39
setzte der ManiSoyo zu einem endlos langen Satz an, in dem der Aus druck ›Porta Gies‹ mehrere Male vorkam und welcher der Betonung nach wohl eine Frage war; anscheinend hatte ihn der bisherige Erfolg vergessen lassen, dass sie in Wirklichkeit noch weit davon entfernt wa ren, sich tatsächlich verständigen zu können. Erst als er bemerkte, dass Gil hilflos dastand und nur verdutzt dreinschaute, hielt er abrupt inne. Nein, sie konnten die Sprache des anderen noch nicht verstehen. Of fenbar erkennend, dass er langsam sprechen und Geduld haben mus ste, schloss der Häuptling die Augen. Als er sie wieder öffnete, zeigte er auf den Fluss. Gils Blick folgte der Richtung seines Armes. Deutete er auf das Beiboot? Nun zeigte er stromabwärts, wo sie hergekommen waren. Meinte er die Stelle, wo die Leonor vor Anker lag? Und dann streckte er die Hand zum Himmel. Alles war still, alle beobachteten schweigend den Häuptling. ManiSoyo wiederholte seine Pantomime; noch einmal deutete er zuerst auf das Beiboot, dann stromabwärts auf die Route, die das Beiboot von der Leonor aus genommen hatte, und schließlich zum Himmel. Als er da mit geendet hatte, nahm er Gils Hand und blickte ihm ins Gesicht, als wolle er fragen, ob der Junge ihn verstanden hatte. Gil schüttelte den Kopf. Der Häuptling ließ seine Hand los und drehte sich mit einem Seufzer zu Cão um. »Porta Gies«, sagte er zu ihm. Cão nickte. »Ja, Portugiesen.« »Soyo«, sagte der Häuptling. Cão nickte und wiederholte: »Soyo.« Der Häuptling atmete tief ein und zog dann durch die Luft einen weit ausholenden Kreis um sich; er begann in Richtung des Flusses, be wegte den Arm stromaufwärts, umfasste das Dorf und den Wald da hinter und kam dann über die Mündung zum Ausgangspunkt seiner Geste zurück. »Soyo«, erklärte er. »Ja, Soyo«, stimmte Cão zu. Er nickte beflissen und wiederholte dann die Bewegung des Häuptlings. »All dies ist Soyo«, sagte er dazu. »Ich verstehe. All dies ist das Land der Soyo.« »Ngete«, meinte der Häuptling jetzt und nickte ebenfalls eifrig. Dann 40
zeigte er noch einmal auf das Beiboot, fuhr die Route ab, auf der es den Strom heraufgekommen war, und wieder zum Himmel. »Porta Gies?« fragte er. Und diesmal begriff Gil, was der ManiSoyo wissen wollte. »Er fragt, woher wir kommen, Herr Kapitän. Er hat uns gezeigt, dass dies das Land der Soyo ist. Jetzt will er wissen, wo das Land der Portugiesen liegt.« »Ja«, erwiderte Cão nachdenklich. »Du hast recht, Junge. Sicher ist es das, was er wissen will. Aber warum zeigt er zum Himmel?« »Vermutlich glaubt er, dass wir vom Himmel gekommen sind, Herr Kapitän. Ich denke, er meint, wir seien mit der Leonor vom Himmel heruntergeflogen. Vielleicht denkt er, dass ihre Segel wie die Flügel ei nes riesigen Vogels sind, und wir sind auf diesen großen Schwingen aus einem Land im Himmel zu ihnen auf die Erde heruntergekom men.« Cão antwortete darauf nicht sofort. Wie zuvor der Häuptling stand nun er mit geschlossenen Augen da und dachte nach. Alle blickten stumm und gespannt auf ihn und warteten darauf, dass er die Augen wieder öffnete. Als er das schließlich tat, lag ein schiefes Lächeln in sei nem Gesicht. »ManiSoyo«, sagte er. »Djogo Cam«, entgegnete der Häuptling. »Portugiesen«, erklärte Cão und zeigte auf Gil, Pater Sebastião, Tri stão samt seinen Soldaten und schließlich auf sich selbst. »Porta Gies«, stimmte der Häuptling zu. »Ja, wir sind Portugiesen«, sagte Cão, drehte sich auf seinem Hok ker um und blickte zum Fluss. »Und wir kommen«, fuhr er fort, wo bei er auf das Beiboot zeigte, »wir kommen«, wiederholte er, dieses Mal stromabwärts deutend und die Route, auf der das Beiboot gekommen war, entlangfahrend bis zur ungefähren Lage der Leonor, des Schiffes mit seinen großen, flügelgleichen Segeln, »wir kommen«, sagte er ein drittes Mal und streckte den Arm himmelwärts, »wir kommen vom Himmel.« Ein Aufschrei des Staunens ging durch die versammelten Soyo. 41
»Ja«, bekräftigte Cão, die Rechte noch immer zum Himmel gestreckt. »Wir Portugiesen, wir kommen vom Himmel. Unser Land ist im Him mel.« Gil war entsetzt. Er glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Wie konnte Cão so etwas sagen! Er starrte auf den Priester. Der Prie ster blickte auf Cão. Tristão blickte auf Cão. Aller Blicke waren auf den Kapitän gerichtet. Nur Segou blickte nicht auf Cão; er sah beschämt auf seine Füße hinab. »Herr Kapitän …« Aber es gab nichts weiter zu sagen. Der ManiSoyo erhob sich von seinem Hocker. Er hielt sein elfenbeingeschmücktes Schlangenzepter hoch in die Luft und stieß es dann mit einem wuchtigen Schlag auf die rote Erde. Und wieder ertönten die Trommeln.
KAPITEL 3
S
ie verbrachten die Nacht im Dorf – das Mpinda hieß und mit mehr als zweitausend Bewohnern die größte von mehreren Ansiedlun gen der Soyo am Südufer des Flusses war –, und es war eine Nacht aus gelassenen Feierns; ein üppiges Essen wurde gereicht, die Trommeln wurden geschlagen, die Hörner geblasen und mitreißende, sinnliche Tänze aufgeführt, Stelzengänger, Akrobaten und Feuerschlucker tra ten auf, und erstaunliche, ja erschreckende Juju-Zaubereien wurden vorgeführt – und das alles, um die sagenhaften weißen Männer, die aus ihrem Land im Himmel zu den Soyo heruntergeflogen waren, will kommen zu heißen und zu ehren. Alle feierten mit, sogar der Boots mannsmaat und die Ruderer; die einzige Ausnahme war Segou. Für die Soyo schien der Ashanti ein Haustier oder ein Sklave der vom Him mel gesandten ›Porta Gies‹ zu sein; sie beachteten ihn nicht, und er be schied sich freiwillig damit, das Beiboot zu bewachen. Kapitän Diogo Cão unternahm alles in seiner Macht Stehende, um 42
sich für die enthusiastische Gastfreundschaft des ManiSoyo erkennt lich zu zeigen. Als die Akrobaten ihre Künste beendet hatten und eine Truppe Krieger gerade beginnen wollte, ihr unglaubliches Ge schick mit Pfeil und Bogen zu demonstrieren, ergab sich für Cão eine passende Gelegenheit, um Ruhe zu bitten. Als Stille herrschte, öffne te er feierlich seinen grauen Leinenbeutel. Aber obwohl er die darin enthaltenen Gegenstände im Versuch, ihnen eine Aura des Ausserge wöhnlichen und Magischen zu verleihen, einzeln und mit schwung vollen, an die Gebärden eines Zauberers erinnernden Bewegungen hervorholte, nahm der ManiSoyo alles mit derselben Belustigung in Empfang, mit der er zuvor schon die Halskette aus Blutstein entge gengenommen hatte – jedes der wertlosen Schmuckstücke, jede Ku riosität der Weißen entlockte ihm nicht mehr als ein gütiges, mildes Lächeln, mit dem er die Geschenke an andere weitergab, damit sie sich daran erfreuen sollten, so wie er die Halskette Gil umgehängt hatte. Gil bemerkte, dass Cão das Desinteresse, um nicht zu sagen die offe ne Missachtung des alten Häuptlings für seine Gaben äußerst verwirr te. Schließlich hatten auf dem ganzen Weg die afrikanische Westküste hinunter nach Süden Stammesangehörige bis hin zum höchstrangi gen Häuptling an europäischen Manufakturwaren nicht nur Gefallen gefunden, sondern sie mit einer Habsucht und Begierde an sich geris sen, die man geradezu für mitleiderregend hätte halten können, wenn sie nicht so lächerlich und komisch gewesen wäre. Als Gegenleistung hatten sie den Portugiesen eilfertig Felle, Palmöl, Elfenbein, Goldstaub und sogar Angehörige ihrer eigenen Völker zum Tausch angeboten. Was also unterschied die Soyo von den anderen? Was machte sie so überlegen? Besaßen sie solche Dinge bereits? Es gab dafür keine An zeichen. Alles, was die Weißen vorfanden, waren die üblichen Gegen stände, die man überall an Afrikas Küsten zu sehen bekam, gefertigt aus Blättern und Holz, Elfenbein und Federn, Muscheln, Steinen und Knochen. Die einzige Ausnahme bei den Soyo war der Stoff ihrer Rök ke, dieses wie Samt oder Damast wirkende Material. Dennoch hätten die Spiegel, Messer, Angelhaken, Kessel und Glöckchen wenigstens ir 43
gendeinen Eindruck auf sie machen können – aber offensichtlich war das nicht der Fall. Als letztes Mittel ließ Cão Tristãos Soldaten ihre Hakenbüchsen ab feuern, eine ganz neue Erfindung, die sogar den Portugiesen selbst noch recht bemerkenswert erschien. Und siehe da, jetzt zeigten die Afrika ner endlich mehr Interesse; einen Moment lang waren sie richtigge hend überrascht, und dann brachen sie in anerkennendes Lachen aus und applaudierten. Aber es war klar, dass keiner von ihnen eine Vor stellung davon hatte, was diese plötzlich explodierenden, Feuer spei enden und rauchenden Stöcke wirklich vermochten und dass sie zum Töten gedacht waren. Die Soldaten hatten einfach nur ohne Munition in die Luft geschossen. Aus diesem Grunde betrachtete der ManiSo yo die Schüsse lediglich als eine neue Art von Feuerwerk und konter te sogleich, indem er seine kühnsten Feuerschlucker auftreten ließ, die auf sieben Fuß hohen Stelzen und zum donnernden Klang der größten Trommeln ihre Kunststücke vorführten, als wollten sie das Feuer und den Knall der Arkebusen nachahmen. Cão beschloss, es damit bewenden zu lassen. Für eine Demonstrati on dessen, was die Gewehre wirklich konnten, war es zu dunkel. Auch war das Risiko eines Fehlschusses zu groß, und außerdem war eine solche Demonstration von Macht offensichtlich gar nicht notwendig. Der ManiSoyo erwartete nichts Bemerkenswerteres von seinen unge wöhnlichen Gästen, nichts, was ihre Besonderheit noch mehr unter strich, als dass sie weiß waren. Dies und die ›Tatsache‹, dass sie auf den Schwingen jenes wunderbaren Vogels, der nun so ruhig auf dem Fluss trieb, vom Himmel zu ihm heruntergeflogen waren, erschienen ihm bemerkenswert genug. »Frag ihn noch einmal nach dem Fluss, Junge. Frag ihn, woher die ser große Strom kommt.« »Sollten wir das nicht Segou machen lassen, Kapitän?« Es schmerzte Gil, dass der Ashanti ausgeschlossen und unbeachtet blieb. »Er könnte das doch viel besser als ich.« »Ich fürchte, Segou muß da bleiben, wo er ist. Aus irgendeinem Grund mögen sie ihn einfach nicht, das siehst du ja. Außerdem machst 44
du deine Sache ganz ordentlich. Anscheinend hast du für diese seltsa me Sprache ein gutes Ohr.« Sie hatten sich mit den wie Stundengläser aussehenden Hockern auf die breite Veranda gesetzt, die die größte der drei Hütten innerhalb der Palisaden rund um das Anwesen des Häuptlings umgab. Soeben war der dritte Gang des Festmahls beendet worden – ein wohlschmecken der, ihnen jedoch unbekannter Süßwasserfisch, der mit einer Art Ge treidebrei angerichtet und scharf gewürzt gewesen war; davor waren zwei verschiedene Sorten Wild aufgetragen worden, vielleicht Antilo pe und Wildschwein, beide ebenfalls mit dem scharfen Brei serviert. Nun tranken sie aus seltsam geformten Flaschenkürbissen einen star ken Wein, der, wie Gil entdeckt hatte, aus Palmensaft gegoren war; die Neger nannten dieses Getränk malafu. Hinter ihnen standen jun ge Frauen, die nur auf ein Zeichen des ManiSoyo warteten, um sie zu bedienen; in den Armen hielten sie Schalen mit unbekannten gelben und grünen Früchten, von denen manche unzählige winzige, schwar ze Samen enthielten. Im Hof des Anwesens vor ihnen, drei Schritte von der Veranda entfernt, brannte ein Freudenfeuer, das die Nacht er hellte und tanzende Schatten warf; um die Flammen herum hatten sich die mit bunten Federn geschmückten Trommler und Hornbläser versammelt und spielten ohne Unterlass ihre Musik, die so fremdartig und berauschend war wie das Essen und der Palmwein. Sehr zu Gils Bedauern hatten sich die Tänzerinnen ebenso wie die Feuerschlucker und Akrobaten zurückgezogen; so entstand eine Pause, in der ein wei terer Verständigungsversuch mit den Gastgebern unternommen wer den konnte. »ManiSoyo.« Der alte Häuptling legte einen Arm um Gils Schultern. »Ngete, Gil Janesch.« »Der Fluss, ManiSoyo. Nzere.« Gil hatte seinem langsam anwachsen den Vokabular das Wort für ›Fluss‹ schon hinzugefügt. »Ngete, Gil Janesch. Nzere.« Der Häuptling deutete über die Palisa den zum Fluss hinunter. »Woher kommt nzere, ManiSoyo? Wie weit geht es Flussaufwärts?« 45
Gil stellte die Frage auf portugiesisch, wobei er aber zwei oder drei sei ner neu erlernten Wörter einflocht und eine weit ausholende Handbe wegung nach Osten machte, der Richtung, aus der der Strom auf das Meer zufloss. Der Häuptling machte Gils Geste nach und sagte etwas, das wohl ›weit weg‹ bedeutete, denn er lächelte dazu breit, als sei die Länge des Flusses amüsanterweise etwas, das man sich nicht vorstellen könne. »Wie weit weg, ManiSoyo? Wie viele Leguas?« Aber Gil bemerkte sofort, dass diese Frage unklug war. Es gab keinen Grund anzuneh men, dass die Soyo Längen in Leguas maßen oder dass ihre Leguas, falls sie doch welche hatten, denen der Portugiesen entsprachen; die katalanische und die genuesische Legua waren schließlich auch an ders. Und die Engländer benutzten eine völlig andere Maßeinheit, die milha, die einem Drittel der portugiesischen Legua und einer halben katalanischen Legua entsprach. Er musste also versuchen, sich anders auszudrücken. »Wie viele Tage, ManiSoyo? Wie viele Tage und Näch te? Lumbo? Bwilo?« Tag, Nacht – auch diese Wörter hatte er schon ge lernt, und einige Begriffe des Zahlensystems der Soyo ebenfalls: »Bosa? Kwali? Eins? Zwei? Oder zehn? Ikumi?« Der ManiSoyo bewunderte den Jungen über alles. Sein dickliches, fast immer lächelndes Gesicht und seine leuchtenden, klugen Augen verrieten, wie wunderbar er es fand, dass Gil schon so viele Wörter der Soyo kannte und sich mit ihnen und der Hilfe einfacher Gesten ver ständlich machen konnte. Er antwortete Gil langsam und zählte dabei gewissenhaft die Tage und Nächte an den Fingern ab. Zwölf Tage und Nächte. Dann brachte er ihm ein weiteres Wort bei: bwato. Dazu stell te er in einer Pantomime gekonnt das Paddeln eines Kanus dar, um zu demonstrieren, was bwato bedeutete. »Zwölf Tage und Nächte in einem Kanu? Ich glaube, das ist es, was er uns sagen will, Herr Kapitän. Die Reise Flussaufwärts dauert mit ei nem Kanu zwölf Tage und Nächte.« Aber ehe Cão etwas erwidern konnte, kam ihm der ManiSoyo mit einer sehr verwirrenden Geste zuvor. Er warf die Arme in die Luft und schüttelte wie wild die Hände, als wollte er eine Explosion oder der 46
gleichen andeuten; diese Geste begleitete er mit Worten, die Gil noch nicht gehört hatte. »Irgend etwas geschieht wohl, wenn man zwölf Tage lang den Fluss hinaufgefahren ist, Herr Kapitän. Irgend etwas mit dem Fluss, glau be ich. Aber ich verstehe nicht, was es sein könnte. Etwas wie eine Ex plosion.« Cão nickte. »Ja, etwas wie eine Explosion. Ich würde es eher als Tur bulenzen bezeichnen – Stromschnellen oder Wasserfälle. Ist es das, was mit zaire geschieht, ManiSoyo?« Cão konnte das Wort nicht rich tig aussprechen; bei ihm geriet nzere immer zu zaire. »Zaire wird nach einer Reise von zwölf Tagen turbulent, er wird zu weißem Wasser, zu einem Wasserfall?« Der ManiSoyo verstand ihn nicht. »Ich möchte wetten, dass es das ist. Nach zwölf Tagen und Nächten in einem Kanu kommt man zu Stromschnellen oder einem Wasserfall. Zwölf Tage und Nächte in einem Kanu. Wie weit kann das sein? Sagen wir mal, sie paddeln jeden Tag so lange, wie eine Wache dauert, und nachts ebenfalls, und machen zwei Knoten. Das hieße, zwei Leguas pro Wache, vier Leguas am Tag, und das zwölf Tage lang. Die Leonor würde das in drei Tagen schaffen, oder sogar in zwei, wenn der Fluss so gut schiffbar bleibt wie bisher.« Niemand äußerte sich zu dieser Überlegung des Kapitäns. Offenbar dachte er nur laut. Doch dann sagte er zu Gil: »Sag ihm, wir wollen selbst sehen, wo za ire explodiert. Sag ihm, wir wollen morgen früh aufbrechen, und wir möchten ihn mitnehmen, damit er uns den Weg zeigt.« Am nächsten Morgen wachte Gil als letzter auf. Das Entsetzen pack te ihn, als er merkte, dass es schon sehr spät war; sicher war an Bord der Leonor bereits die zweite Morgenwache angebrochen. Sonnen licht fiel durch die Matte aus Raffiabast vor dem Fenster der Hütte, die man ihm am Vorabend zum Schlafen zugewiesen hatte. Er hatte zu viel von dem Palmwein getrunken und deshalb verschlafen. Beim Auf stehen wusste er im ersten Augenblick noch gar nicht richtig, wo er sich eigentlich befand, doch schon im nächsten Moment überfiel ihn 47
die Angst, man habe ihn am Ende allein hier gelassen, weil er zu lan ge geschlafen hatte. Dann fiel ihm ein, dass er davon geträumt hatte, mit einem der hübschen tanzenden Mädchen zurückgelassen worden zu sein. Er ging auf die Veranda hinaus. Frauen und Kinder räumten den Hof auf und richteten ihn wieder für den Alltag her; einige rech ten gerade die Asche des Freudenfeuers in dem großen Steinkreis zu sammen, von dem es eingefasst gewesen war. Sie lächelten ihm zu; er konnte sich nicht erinnern, ihre Gesichter während des Festes am Vor abend gesehen zu haben, aber er wusste noch, dass keba bota soviel be deutete wie ›guten Tag‹, und grüßte sie. Dann lief er auf das schwere Tor zu, das vom Anwesen des ManiSoyo auf den Marktplatz hinaus führte. Dort standen zwei junge Krieger Wache, die er im Gefolge des ManiSoyo gesehen hatte; sie öffneten ihm lächelnd das Tor. Auf dem Marktplatz wurden Gils Befürchtungen schnell zerstreut. Es wimmelte von Menschen, und darunter waren auch einige seiner Gefährten. Der Kapitän, der Schiffsprofos und Segou standen unten am Beiboot; Segou hatte wohl darin übernachtet. Der ManiSoyo war bei ihnen – er hatte seinen Federumhang abgelegt, und statt des ge fiederten Kopfputzes trug er jetzt ein geflecktes Stirnband aus Fell. Der Bootsmannsmaat und die Ruderer waren im Boot, und die Sol daten wie auch einige Soyo-Krieger standen herum und warteten dar auf, dass man ihnen sagte, was sie tun sollten. Zwischen den Hütten um den Marktplatz eilten Leute mit Körben und Bündeln, Äxten und Hacken hin und her; sie waren offenbar mit ihren alltäglichen Arbei ten beschäftigt. Um Pater Sebastião hatten sich einige Kinder und ältere Frauen ver sammelt; diese Gruppe wirkte in dem regen Treiben wie eine kleine Insel der Ruhe. Der NsakuSoyo, der Juju-Zauberer mit dem bösen Ge sicht, stand etwas abseits und beobachtete sie argwöhnisch. Was tat der Priester? Er redete mit den Soyo, aber in welcher Sprache, um Himmels willen? Etwa in Latein? Die Soyo hörten ihm zu, und es war ihnen an zumerken, dass sie kein Wort verstanden, aber kurioserweise folgten sie seinen Ausführungen mit lebhaftem Interesse. Er hatte den Rosen kranz, den er sonst um die Hüfte gürtete, abgenommen und gestattete 48
den Frauen und Kindern, die glatte Oberfläche des schwarzen Kruzifi xes zu befühlen, und während sie dies taten, legte er ihnen wie zum Se gen die Hand auf. Heilige Maria Muttergottes, hatte er etwa schon jetzt mit der Missionierung begonnen? Der NsakuSoyo, der Priester dieser Leute, wirkte nicht gerade erfreut. Dann kam plötzlich die Leonor in Sicht. Gil sah sie als letzter. Erst als er bemerkte, dass die Soyo auf dem Marktplatz aufgeregt murmelten und auf den Fluss zeigten, wandte er den Blick von der Gruppe um Pater Sebastião ab. Das Schiff war in vol len Segeln und umrundete gerade eine Insel, die etwa eine halbe Legua entfernt war und von Mpinda aus wie das jenseitige Ufer des Stroms aussah. Für kurze Zeit wirkte die Leonor deshalb wirklich wie ein rie siger, wundersamer Vogel, der sich vom Himmel auf das Wasser nie dergelassen hatte – genau so, wie die Soyo sie sahen. »Kommst du mit uns, Page?« rief der Kapitän Gil zu, während er, der ManiSoyo, Tristão, die Soldaten, die Soyo-Krieger und Segou in das Beiboot stiegen. »Oder willst du hier dein restliches Leben verschla fen?« »Aber nein, Herr, ich komme!« antwortete Gil aufgeregt und rann te auf das Ufer zu. »Pater Sebastião, wir fahren ab. Ihr solltet nicht zu rückbleiben.« Er sprang in das Boot, und der Priester konnte ihm gerade noch rechtzeitig folgen, bevor es sich in die Bucht hinausschob und auf die Leonor zuhielt, mit der sie nun diesen mächtigen Strom erforschen würden, den sie gefunden hatten.
Am östlichen Horizont ragten Berge auf. Die Leonor war seit drei Tagen unterwegs und befand sich dreißig Le guas von Mpinda Flussaufwärts. Sie waren nur tagsüber gesegelt, und der Fluss war während der ganzen Strecke der mächtige rio poderoso geblieben, als den Cão ihn schon bei der Einfahrt in seine Mündung bezeichnet hatte: der möglicherweise gewaltigste Strom der Schöp 49
fung. Sicher, er war allmählich ein wenig schmaler geworden im Ver gleich zur Mündung, aber selbst die vielen bewaldeten Inseln, die ihn in mehrere Arme zergliederten – von denen allerdings jeder für sich noch immer so breit und so gut schiffbar war wie die größten Flüsse Europas –, konnten seine wahren Ausmaße und seine Macht nicht ver bergen. Das nördliche Ufer, das man gelegentlich vom Mastkorb aus sehen konnte, war sogar an den engsten Stellen noch immer minde stens eine Legua vom Südufer entfernt. Dieses Wissen und alles, was es verhieß, versetzten Cão in Hochstimmung – vielleicht hatte er wirk lich eine Passage durch das Herz Afrikas zum Indischen Ozean auf der Ostseite des Kontinents entdeckt. Doch dann tauchten am östlichen Horizont die Berge auf. Sie waren erstmals schon in den frühen Stunden des Vortages gesichtet worden, doch da waren sie noch mindestens zehn Leguas entfernt und ganz in blauen Dunst gehüllt gewesen, so dass man sie im Morgennebel auch für tiefhängende Wolken halten konnte. Erst am Nachmittag war klar geworden, dass es sich um ein Gebirgsmassiv handelte, das fast zwei tausend Fuß hoch aufragte. Aber zu diesem Zeitpunkt bestand noch immer die Hoffnung, dass dieses Gebirge den Strom nicht wirklich blockierte, dass man bald sehen würde, wie der Flusslauf um das Hin dernis herumführte und entweder aus den Vorbergen im Südosten oder von den grasbewachsenen Ebenen im Nordosten kam. Doch am nächsten Morgen hatte sich auch diese Hoffnung zerschlagen. Cão und Vizinho, die jede Insel und jeden Seitenarm, sämtliche Riffe und alle Schlammzonen, die sie unterwegs passierten, in eine Karte eintrugen, erkannten mit sinkendem Mut, dass die Leonor die ganze Zeit ein un endlich großes, den Gezeiten des Meeres ausgesetztes Mündungsbek ken eines Flusses befahren hatte –, eines gigantischen Flusses, der aus diesen Bergen herabgestürzt kam, eine sumpfige, bewaldete Küstene bene durchströmte und sich dann in das Meer ergoss. Die Strecke, die sie stromaufwärts gesegelt waren, bildete nun die letzte Station einer langen Reise von Gott weiß woher. Der ManiSoyo stand zusammen mit Gil, der für ihn dolmetschte, dem Kapitän und Vizinho auf dem Achterdeck, als sie sich den Ber 50
gen näherten. Er war am ersten Tag der Reise äußerst enttäuscht gewe sen, feststellen zu müssen, dass die Leonor nicht wirklich flog. Schließ lich hatte er sich nach dem wenigen, das er Gils Erklärungen entneh men konnte, anscheinend mit dem Gedanken getröstet, dass sich das Schiff deshalb nicht aus dem Wasser hob, weil die Reise für ein solch waghalsiges Manöver gar nicht lang genug sein würde. Zudem war für ihn die Erfahrung der ungeahnten, atemberaubenden Geschwindig keit, die die Leonor unter vollen Segeln bei einer steifen Brise mach te, sensationell genug – vielleicht kam dieses Erlebnis sogar beinahe dem Gefühl gleich, tatsächlich durch die Luft zu fliegen. Jedenfalls er wies er sich von da an als ein leidenschaftlicher und hervorragender Lotse; er kannte die Flussarme, die sich am besten befahren ließen, jedes Riff, das es zu vermeiden galt, und sichere Ankerplätze für die Nacht. Mit unverhohlenem Entzücken beobachtete er die Seeleute, die in den Wanten herumkletterten, an den Rahen zerrten und die Scho ten trimmten, damit das Schiff, der Vogel mit seinen großen Schwin gen, auf seine Anweisungen, die Angaben des ManiSoyo, reagierte. Der zehnköpfigen Leibwache des Häuptlings, die sich mittschiffs in der Kühl aufhielt, erging es nicht anders als ihrem Herrn. Die Krieger beobachteten das Geschehen an Deck mit Bewunderung und Scheu; oft lehnten sie sich über die Reling und ließen sich Wind und Gischt ins Gesicht blasen. Für sie war diese Fahrt ein Abenteuer, von dem sie nach ihrer Heimkehr erzählen würden, wie sie von einer großen Schlacht oder einer erfolgreichen Jagd berichteten, und es würde in die Geschichte und die Geschichten des Stammes eingehen als ein Ereig nis, das sogar die größte Schlacht und die schönste Jagd übertraf. Das Südufer des Stromes, das bisher immer mit dichtem, dampfen dem Urwald bestanden gewesen war, wurde hinter der Insel, in de ren Windschatten die Leonor die dritte Nacht seit dem Aufbruch von Mpinda verbracht hatte, felsig und steil und die Vegetation zusehends spärlicher. Der Fluss selbst verengte sich beträchtlich, auf weniger als ein Drittel einer Legua, seine Fließgeschwindigkeit und die Anzahl der Riffe, Schlammzonen und Blockierungen durch treibende Baum stämme nahmen erheblich zu. Über diese Hindernisse schoß das Was 51
ser wild schäumend mit weiß sprühender Gischt hinweg. Das Gebir ge selbst lag noch ziemlich weit im Osten, doch eines war schon jetzt klar: Was sie mittlerweile sahen, war ein Vorgeschmack darauf, wie der Fluss aus diesen Bergen herauskommen würde – wild und reißend, noch weiter verengt und voller Felsblöcke. Gil sah den ManiSoyo fragend an, und dieser warf die Arme in die Luft und schüttelte wieder heftig die Hände; dann zeigte er in Fahrt richtung und lächelte. »Ich glaube, wir sind fast da, Herr Kapitän.« Cão suchte den Strom mit dem Fernrohr ab. »Frag ihn, wo es am si chersten weiterzufahren geht.« Als hätte er die Worte des Kapitäns verstanden, oder vielleicht auch, weil er um seine eigene Sicherheit besorgt war, deutete der ManiSoyo auf eine Zone relativ ruhigen Wassers entlang des zunehmend höher und felsiger werdenden Südufers. Mit gerefften Segeln, schließlich nur noch mit dem Sprietsegel und der Fock, fuhren sie weitere zwei Stunden stromaufwärts – alle Mann waren an Deck und auf Posten –, und wenn es noch den geringsten Zweifel oder die leiseste Hoffnung darauf gegeben hatte, dass der Flus slauf vielleicht doch eine Überraschung bergen könnte, so verschwand dieser Zweifel, und alle Hoffnung wurde zunichte. Mit jeder Legua, die sich die Leonor vorankämpfte, türmten sich die Felsen an den Ufern höher auf und gingen schließlich in zerklüftete, von gezacktem Granit gekrönte und mit glitzernden Quarz- und Turmalin-Formationen ge säumte Klippen aus Kalkstein über, auf denen gerade noch die wider standsfähigsten Sträucher und Bäume gediehen. Die Ufer selbst rück ten immer näher zusammen, bis sie nur mehr zweitausend, etwas spä ter gerade noch tausend Fuß Wasser voneinander trennten, und diese tausend und schließlich nur mehr fünfhundert Fuß Breite beherberg ten immer mehr Riffe und Schlammbänke, an denen sich das Was ser brach und in die Höhe spritzte wie in einem sturmgepeitschten Ozean; dazu kamen kräftige Brisen und Böen aus den Bergen herun ter und fegten an den Klippen entlang, Winde, die ständig umspran gen und vollkommen unberechenbar waren. Es ging nicht mehr wei 52
ter. Gut vierzig Leguas hinter seiner Mündung wurde der nzere, oder, wie Cão das Soyo-Wort immer wieder falsch aussprach, der zaire, un passierbar. »Matadi«, sagte der ManiSoyo und zeigte auf das Südufer hinüber. War es der Name einer Ansiedlung oder das Wort für Felsen? Es konnte beides sein – dort drüben ragte eine Felsbank aus Kalkstein auf den hundert Fuß hohen Klippen weit über den Fluss. Darunter formte das fast senkrecht aufsteigende Gestein eine halbmondförmige Bucht mit tiefem, schwarzem Wasser. Die kürzeste Entfernung zum Nordu fer betrug hier kaum mehr dreihundert Fuß. Und jenseits des über hängenden Felsvorsprungs verschwand der Strom hinter einer engen Kurve, dem Blick entzogen durch die steilen Wände aus Kalkstein und Granit, die auf beiden Seiten jäh ins Wasser abfielen. Gil konnte sich beinahe vorstellen, dass der Fluss dort hinten in der Erde verschwand, dass er sich wie in einen Trichter in die Tiefe der Berge ergoss. »Nun, José?« fragte Cão den Lotsen, während er wieder mit dem Fernrohr die Gegend absuchte. »Für die Leonor ist das die Endstation, Herr Kapitän«, erwiderte Vi zinho. »Aber mit dem Beiboot sollten wir noch ein Stückchen weiter stromaufwärts fahren, jetzt, wo wir schon so weit gekommen sind. Dann könnte ich die Karte ein bißchen mehr vervollständigen.« »Gar keine schlechte Idee. Bootsmann.« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« »Sagt dem Obermaat, er soll das Blei auswerfen. Wir halten auf die Bucht unter der Felsnase zu.« Das Becken war weit und tief genug für die Leonor, aber um hinein zukommen, musste das Schiff wegen der schwierigen Windverhält nisse und der vielen Riffe und Felsen vom Beiboot geschleppt werden. Der ManiSoyo protestierte gegen dieses Vorhaben. Als die Leonor vor Anker ging, redete er schnell und unablässig auf Gil ein und deu tete dabei immer wieder auf die Berge. Was er meinte, war im we sentlichen, dass dies noch nicht der Ort sei, wo nzere wild und unge stüm wurde, sondern dass diese Stelle noch weiter Flussaufwärts lie ge – warum sie also in diese Bucht einfahren würden? Er schien un 53
endliches Vertrauen in die Fähigkeiten des großen ›Vogels‹ zu haben, und Gil konnte ihn nicht davon überzeugen, dass der Fluss im Grun de schon hier zu wild und für ein Segelschiff nicht mehr befahrbar war. Schließlich kann die Leonor doch fliegen? schien der ManiSoyo fragend zu widersprechen. Cão kümmerten die Einwände des Häuptlings nicht. Er hatte das In teresse an ihm verloren; grob gesagt, war der ManiSoyo nicht mehr von Nutzen für ihn. Der Kapitän hatte den Fluss erforscht, so weit dies möglich war, und er hatte entdeckt, was er seinem Auftrag gemäß festzustellen hatte: dass dies keine Passage zum Indischen Ozean sein konnte, weil der Strom nur gut vierzig Leguas schiffbar war. Natür lich, vielleicht hätte er sich die Mühe sparen und dem ManiSoyo ein fach Glauben schenken sollen, doch er hatte es mit eigenen Augen se hen wollen, um sich nicht am Ende sagen lassen zu müssen, ein un wissender Wilder habe ihn in die Irre geführt. Außerdem hatte Vizin ho durch diese Fahrt die Gelegenheit bekommen, die Flussmündung zu kartographieren, was zweifelsohne eine wertvolle Leistung war: ein weiteres Detail für die Weltkarte, die Cão zu seinem Ruhm erstellen wollte. Aus diesem Grunde gingen ihm andere Dinge durch den Kopf. Schon als er das Beiboot längsseits holen ließ und der noch immer auf Gil einredende ManiSoyo die Strickleiter hinunterkletterte, war Cão in Gedanken bereits bei der Weiterfahrt die Westküste des Kon tinents hinunter, um den Seeweg nach Indien zu finden. Und was ihn beschäftigte, waren Fragen wie die, was er aus Mpinda an Vorräten würde mitnehmen können: Holz, frisches Wasser, einige der Früch te, die sie beim Fest des ManiSoyo vorgesetzt bekommen hatten, so wie Fleisch und andere Lebensmittel; auf jeden Fall etwas von dem gu ten Palmwein, und vielleicht auch von dem bemerkenswerten, samtar tigen, blauen Stoff, den die Soyo herstellten – er würde sich gut als Ge schenk oder Handelsware eignen. Und womöglich auch noch einen oder zwei Soyo-Krieger; sie konnten bei dieser neuen Rasse von Ne gern, die offenbar die Küste Afrikas südlich des Äquators bevölkerte, als Dolmetscher fungieren. Zusammen mit dem Pagen, der ja mit der 54
Sprache dieser Leute schon jetzt sehr gute Erfolge erzielte, wären sie von erheblich größerem Nutzen als die beiden Ashanti. »José, geht mit dem ManiSoyo nach vorne in den Bug und lasst Euch von ihm den Weg zeigen. Page, du gehst mit ihnen.« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« Es überraschte Gil, dass Cão in der Mitte des Beiboots auf einer Ru derbank Platz nahm, anstatt sich selbst in den Bug zu begeben. Sein Interesse für den Fluss war ebenso erloschen wie das am ManiSoyo, und zwar aus demselben Grund. Für ihn war dieser letzte Teil der Er forschung des Stromes nicht viel mehr als eine Besichtigungsfahrt, die Vizinho Gelegenheit geben sollte, eine letzte Einzelheit in seine Kar te des Mündungsgebiets einzutragen, bevor die Leonor wieder auf das Meer zurückkehrte. Gil stand zwischen Vizinho und dem Häuptling, als die Ruderer das Beiboot um die scharfe Biegung brachten, hinter der der Fluss nicht mehr zu sehen gewesen war. Natürlich verschwand er nicht in einem Trichter oder Tunnel unter den Bergen, doch der Anblick, der sich ihnen bot, war kaum weniger spektakulär: Eine gewaltige Schlucht lag vor ihnen, deren Felswände jäh mindestens zweihundert Fuß abfielen und den einst so mächtigen Strom auf eine Breite von weniger als hundert Fuß einengten. Und aus dieser Schlucht schoß der Fluss mit solcher Kraft, dass den Männern die Ruder aus der Hand gerissen und der Bug des Beiboots auf Steuer bord gedrückt wurde, so dass es mit der Breitseite in der heftigen Strö mung trieb. Cão sprang auf. »Was ist los mit euch, marinheiros? Seid ihr keine Männer? Legt euch ins Zeug! Rudert um euer Leben!« Er schrie die Worte heraus, doch in seiner Stimme lag kein Zorn, sondern plötzli che Begeisterung. Die Wildheit des Wassers beeindruckte ihn. Er blieb stehen; der Fluss war für ihn wieder lebendig geworden. Und das war er in der Tat. Geradezu übersät mit riesigen Felsbrok ken und Dämmen, die von gigantisch großen Bäumen gebildet wur den, stürzten die Fluten in weiß brodelnden Stromschnellen von den Bergen herab und fielen in tobenden und schäumenden Wasserfällen über Wände und Felsvorsprünge, hämmerten gegen das Beiboot, war 55
fen es hin und her und ließen es schaukeln und schlingern und sich aufbäumen wie ein wildes Pferd. Gil musste mit aller Kraft die Knie gegen die Dollborde pressen, um nicht über Bord zu gehen. Zum Glück gab es zwischen diesen wilden Abschnitten auch ruhigere Stellen, und der ManiSoyo – er grinste von einem Ohr zum anderen und genoss es sichtlich, dass er diesen weißen Männern etwas zeigen konnte, was sie noch nie gesehen hatten –, der ManiSoyo wusste um diese navigierba ren Kanäle, gab die Richtung an und drängte darauf, noch immer wei ter stromaufwärts zu fahren. Und wie es schien, war das tatsächlich möglich; offenbar waren Soyo mit ihren Einbäumen noch viel weiter diesen wilden, tobenden Fluss hinaufgepaddelt – womöglich bis an ei nen Ort, den der ManiSoyo ihnen nun zeigen wollte. Es war kühl in der Schlucht und sehr laut; die aufgewühlten Fluten tosten durch die Stromschnellen, stürzten über steile Gefällstrecken hinab und erzeugten an den gewaltigen Granit- und Kalksteinflächen ein Echo, das wie ein ewig andauernder Donner klang. Cão rief den Ruderern noch immer ermutigende Worte zu; jetzt war er wieder mit ganzem Herzen bei der Sache, aufgeregt wie der ManiSoyo, er grinste ebenso breit wie dieser und schien unbedingt wissen zu wollen, was der Häuptling ihnen zeigen würde; doch seine Rufe gingen im Toben des Stromes beinahe unter. Plötzlich wurde der Fluss noch einmal auf seine halbe Breite ver engt, und zwar nicht nur durch die großen Gesteinsbrocken, die aus den Wänden der Schlucht stammten, sondern zusätzlich durch riesi ge schwarze Felsblöcke. Zwischen diesen Bruchsteinen aus dem Fels massiv und den schwarzen Findlingsblöcken hindurch fand das Was ser nur mehr einen einzigen Kanal, den es schäumend und kochend mit unvorstellbarer Gewalt hinunter schoß. Hier war kein Durchkommen möglich. Schon beim ersten Versuch würde das Boot augenblicklich kentern. Selbst der ManiSoyo erkann te dies an; er griff nach einem Felsvorsprung und zog das Beiboot mit aller Kraft längsseits gegen den Fels – und wie kräftig der Häuptling auf seine alten Tage noch war! Die Ruderer legten die Riemen ein und folgten ebenso wie Cão und der Bootsmannsmaat seinem Beispiel; je 56
der klammerte sich an eine Felsennase oder -spalte, um das Boot ge gen die wütende, weiß gischtende Strömung zu stemmen und zu ver hindern, dass es Flussabwärts gerissen wurde. Und dann deutete der Häuptling nach vorne auf das, weswegen er die weißen Männer unbe dingt hatte hierher bringen wollen. Für einen kurzen Augenblick sah Gil noch einmal vor sich, wie der ManiSoyo die erhobenen Hände schüttelte. Aber welch eine schwache Parodie, welch ein dummer Scherz, welch eine lächerliche Pantomime war diese Geste, verglichen mit dem, was sie hier sahen! Ein kochender Höllenkessel brodelte vor ihnen; ein Fluss, der immerwährend explo dierte, ein wasserspeiender Vulkan, der unaufhörlich ausbrach, eine tobende Flut, die so gewaltsam war, dass kein Boot, kein Schiff und kein Mann auch nur einen Augenblick darin überleben konnte. Sie sa hen stehende Wellen von dreißig oder vierzig Fuß Höhe, groß wie ein Schiff, so hoch wie die Wogen, die ein mächtiger Sturm auf dem Ozean auftürmte. Gil schaute und schaute, atemlos vor Ehrfurcht; er starrte auf die tosenden Fluten, verfolgte ihren Weg zurück bis hin zu einem prächtigen Wasserfall, der diesen quirlenden Hexenkessel verursach te: eine hufeisenförmige Felskante von über vierzig Fuß Breite und fast hundert Fuß Höhe, über die der Fluss in einem einzigen, blausilbern schillernden Vorhang hinabstürzte. Und dort oben, auf der Südseite der Felskante neben dem großen Wasserfall, standen drei Männer. Wegen der schäumenden Gischt, den Dunstwolken und dem Nebel, die aus dem Hexenkessel aufstie gen, war Gil jedoch nicht imstande, sie richtig zu erkennen. Aber es waren keine Soyo, soviel konnte er sehen. Denn anders als diese wa ren sie nicht mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, sondern mit Lanzen aus Stahl. »Seht, Herr Kapitän!« rief er, doch niemand hörte ihn, der Fluss war zu laut. Er hätte Cão am Ärmel ziehen müssen, um ihn auf sich auf merksam zu machen. Aber da der Kapitän eine halbe Bootslänge ach tern stand und Gil nicht wagte, seinen Griff vom Felsen zu lösen, stieß er statt dessen den Häuptling an. »Schau, ManiSoyo«, brüllte er ihm ins Ohr. »Schau, dort drüben, 57
ManiSoyo!« Und er zeigte auf die drei Männer, die sie oben vom Was serfall aus beobachteten. Der alte Häuptling blickte hinauf. »Wer sind sie, ManiSoyo?« Gil konnte nicht ausmachen, ob seine Frage verstanden oder über haupt gehört wurde. Doch das breite, vergnügte Grinsen des Alten ver schwand; seine Miene verdüsterte sich. Und mehr zu sich selbst denn als Antwort auf die Frage des Jungen sagte er: »Kongo«, und senkte den Kopf.
KAPITEL 4
B
ei der Rückreise nach Mpinda konnten sie die Strömung ausnut zen, so dass sie nur drei Tage brauchten. Sie wären sogar noch ei nen Tag schneller gewesen, wenn sie dieselbe Route genommen hätten wie bei der Fahrt Flussaufwärts, aber Vizinho wollte noch mehr vom Mündungsgebiet und den Flussarmen am nördlichen Ufer des großen Stromes sehen, damit er genauere Angaben in seine Karte eintragen konnte. Er hatte Cãos falsche Aussprache des afrikanischen Wortes nzere übernommen und den Fluss ›Zaire‹ getauft. Natürlich waren sei ne Aufzeichnungen ungenau und unvollständig, aber in dem immer größer werdenden Werk über die afrikanische Atlantikküste, an dem Vizinho beständig weiterzeichnete, stellte der Teil über das Mündungs becken des Flusses das wertvollste Stück dar. Und deshalb hatte der Lotse dem Kapitän das Versprechen abgerungen, dass sie sich noch ei nige Tage in diesem Gebiet aufhalten und es erforschen würden, bevor sie zum Atlantik zurückkehrten und ihre Reise nach Süden fortsetz ten. Wann genau sie zum Ozean weitersegeln würden, wusste Gil nicht; Cão hatte darüber nichts verlauten lassen. Angesichts seiner festen Entschlossenheit, den Seeweg nach Indien zu finden, konnte es jedoch 58
durchaus sein, dass er sofort wieder Segel setzen lassen würde, sobald der ManiSoyo und seine Leute in Mpinda das Schiff verlassen hatten. Aber Gil bemerkte, dass den Kapitän jetzt noch etwas anderes beschäf tigte. Zuerst hatte der atemberaubende Wasserfall beim Hexenkessel – diesen Namen hatte Vizinho tatsächlich in seine Karte eingetragen – Cãos Interesse am Fluss wiedererweckt, wenn auch nur für kurze Zeit, und nun waren es die drei Krieger mit ihren stählernen Lanzen, die seine Aufmerksamkeit erregten. Was für Menschen waren sie? Wo her kamen sie? Warum hatte der ManiSoyo sich vor ihnen verneigt? Die Aussicht, dass vielleicht ein mächtigeres Volk mit einer womög lich höheren Zivilisation als die Soyo irgendwo an diesem Zaire-Strom lebte, ein Volk, das die Kunst des Eisenschmiedens beherrschte, gab dem Kapitän offenbar zu denken. Vielleicht sollte er mehr Erkundi gungen über diese Menschen einholen, anstatt auf schnellstem Wege zum Meer zurückzufahren. Vielleicht gab es hier mehr zu entdecken als nur einen mächtigen Strom und sein Mündungsgebiet. Die Entscheidung fiel, als die Leonor wieder in der Bucht vor Mpinda Anker warf. Es war der zweiundzwanzigste August, und man merk te sofort, dass im Dorf etwas im Gange war. Statt der großen Men schenmenge, die die weißen Männer zuvor willkommen geheißen hat te, erwartete sie dieses Mal nur eine kleine Gruppe, die sich um die Palme auf dem Marktplatz geschart hatte. Cão beobachtete sie durch sein Fernrohr; seiner und der Miene des ManiSoyo nach zu schließen brauchte man aber kein Instrument, um festzustellen, wer diese Men schen waren – zumindest erkannte Gil sofort, dass sie keine Soyo wa ren. »ManiSoyo, sind es Kongo?« fragte er. Der alte Häuptling nickte und begann besorgt zu reden, wobei er zuerst auf das Beiboot im Schlepptau der Leonor und dann auf den Marktplatz deutete. Was er sagen wollte, war unmissverständlich: Sie mussten, ohne zu zögern, an Land gehen. Und auch seine Unruhe schien nur eines auszudrücken – dass sie die Kongo nicht warten las sen durften. Dennoch kam es zu einem Aufschub. Der ManiSoyo bestand darauf, 59
dass neben Cão und Gil alle seine Krieger mit ihm zum Ufer überset zen sollten. Cão aber wollte wegen der unbekannten und offensicht lich furchterregenden Kongo, die sie dort erwarteten, nicht ohne Tri stão und seine Soldaten an Land gehen. Zusammen mit den Ruderern und dem Bootsmannsmaat wäre das Beiboot dann völlig überladen gewesen. Doch da sich der ManiSoyo nicht dazu überreden ließ, ohne seine Leibwache überzusetzen – anscheinend ging es dabei um Anse hen und Ehre, wenn nicht gar um Verteidigung –, entschloss sich Cão schließlich, zunächst nur die fünf Arkebusiere mitzunehmen und Tri stão mit den restlichen Soldaten sofort nachkommen zu lassen. Vor sichtshalber wies er auch die Ruderer und den Bootsmannsmaat an, sich zu bewaffnen, und er selbst zog ein Kettenhemd an, setzte seinen federgeschmückten Helm auf und gürtete sich ein Entermesser um. »Nuno, passt gut auf. Wenn das Boot nicht sofort zurückkommt, wenn Ihr das Gefühl bekommt, dass irgend etwas nicht stimmt, dann lasst sofort die kleinen Beiboote zu Wasser und kommt nach. Hört auch ihr, was ich sage, Fernão?« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« »Wir haben keine Ahnung, wie viele von diesen Kongo hier sind. Auf dem Marktplatz sind wohl nur gut zwanzig von ihnen. Aber im Dorf selbst … wer weiß? Es könnten sich viele versteckt halten.« Damit klet terte er als letzter die Strickleiter in das große Beiboot hinab. Gil saß bereits in dem Boot, aber er hatte die Bemerkung des Kapi täns, dass sich womöglich viele Kongo im Dorf aufhielten, gehört. Wäh rend sich die Ruderer in die Riemen legten, blickte er auf das Schiff zu rück; auf dem Achterdeck standen neben Gonçalves, Tristão, Vizinho und Pater Sebastião auch Segou und Goree. Damals, als die beiden in São Jorge da Mina erstmals an Bord gekommen waren, hatten sie alle geglaubt, die Ashanti würden auf dieser Reise eine bedeutsame Rol le spielen. Aber in dieser Welt, die den beiden ebenso fremd war wie den Portugiesen, waren sie nutzlos geworden. Dennoch wünschte Gil, Segou säße jetzt neben ihm. Er machte sich keine Illusionen darüber, wie schlecht er die Sprache der Neger beherrschte. Es mochte ja sein, dass er ein besseres Gespür dafür hatte als der Kapitän und die ande 60
ren Portugiesen an Bord, aber es war nicht klug, dass sie sich alle nur auf ihn verließen. Und außerdem – warum sollte man davon ausgehen, dass diese Kongo dieselbe Sprache hatten wie die Soyo? Dieses Mal setzten keine Trommeln ein, als das Beiboot anlande te. Außer Vögeln, summenden Insekten und dem metallischen Ge räusch der Zikaden unterbrach nichts die erwartungsvoll gespannte Stille. Der ManiSoyo sprang heraus und murmelte seinen Kriegern et was zu, worauf sie ausstiegen, sich hinter ihrem Häuptling zu einer Phalanx formierten und ihm mit weit ausholenden Schritten zu der Gruppe unter der großen Palme folgten. Cão blieb noch einen Augen blick im Boot stehen und ließ den Blick forschend über den Markt platz schweifen; dann sprang auch er hinaus, hielt sich aber mit einer Hand am Bug fest und suchte mit den Augen weiter die Umgebung ab. Nun befahl er den fünf Soldaten, das Beiboot zu verlassen, doch mit einer Handbewegung gab er ihnen zu verstehen, dass sie daneben im schlammigen Wasser stehenbleiben sollten. Nur Gil und die Ruderer blieben im Boot; sie hatten die Riemen eingelegt und blickten über die Schultern landwärts. Noch ehe der ManiSoyo und seine Leibwache den halben Weg bis zur Palme zurückgelegt hatten, lösten sich drei Gestalten aus der war tenden Gruppe und eilten ihnen entgegen. Gil erkannte sie sofort: Es waren der NsakuSoyo und zwei der MbunduSoyo, der Frauen des Ma niSoyo. Der NsakuSoyo war mit einem Umhang und einem Kopf schmuck aus Federn bekleidet, und in der Rechten hielt er seine Rassel. Die MbunduSoyo in ihren blausamtigen Gewändern und den gleich farbigen Turbanen brachten das zeremonielle Gewand des ManiSoyo; die eine trug seinen gefiederten Kopfputz, die andere den Federum hang. Sorgfältig legten sie ihm die Kleidungsstücke an und nahmen dann ihren Platz hinter seiner Leibwache ein. Nun schritt der ManiSoyo, den NsakuSoyo neben und einen Teil seines Gefolges hinter sich, langsam und würdevoll weiter auf die Gruppe unter dem Baum zu. Sie zählte zwanzig Personen. Soweit Gil sehen konnte, waren alle Krieger wie die drei, die sie oben am Wasserfall beim Hexenkessel ge sehen hatten, großgewachsene, muskulöse, kräftige junge Männer von 61
derselben honigdunklen Hautfarbe wie die Soyo, mit hohen Backen knochen und leicht schräg stehenden Augen; auch trugen sie dieselben langen Röcke wie die Soyo-Krieger, allerdings waren diese nicht blau, sondern blassgrün gefärbt und rot eingesäumt. Und diese Männer hat ten auch keine Bogen und Pfeile auf dem Rücken; sie standen lässig und träge um den Stamm der mächtigen Palme herum und stützten sich auf ihre Lanzen. Diese Waffen hatten lange, stählerne Klingen, die an sich verjüngenden Schäften aus dunklem Holz befestigt waren. An den Beinen der Männer lehnten kreisrunde Schilde mit todbringenden Stacheln in der Mitte, wie sie im antiken Griechenland verwendet wor den waren. Ob auch sie ganz oder zum Teil aus Stahl waren? Jedenfalls funkelten sie in der Sonne, als wären sie es. Zehn Schritte vor der Gruppe blieben der ManiSoyo und seine Be gleiter stehen. Es wurden keine Worte gewechselt; die Stille blieb un gebrochen. Und dann fiel der ManiSoyo auf die Knie. Nur er. Der Nsa kuSoyo, die Soyo-Krieger und die beiden Frauen wandten den Blick von den Kongo ab und sahen zu ihrem Häuptling nieder. Einen Au genblick lang stützte er sich auf sein geschnitztes, elfenbeingeschmück tes Zepter; dann legte er es auf den Boden und ließ sich mit dem Ge sicht voran auf die rote Erde fallen. »Liebe Muttergottes, er ist ihr Vasall«, flüsterte Cão entgeistert. Der ManiSoyo verharrte mehrere Minuten in seiner unterwürfigen Haltung. Endlich nahmen die Kongo-Krieger ihre Schilde vom Bo den auf und benahmen sich etwas aufmerksamer. Einer von ihnen trat vor; er war kleiner als die anderen, und soweit Gil sehen konn te, auch jünger – nicht so breitschultrig und muskulös, mit einem weniger gedrungenen Körperbau als seine Begleiter, dafür schlan ker, geschmeidiger und leichtgewichtiger; seine ganze Statur schien eher die eines Jungen als die eines erwachsenen Mannes zu sein – in der Tat war sie der Gils nicht unähnlich. Im Unterschied zu den an deren trug er Schmuckreifen aus einem weißen, glänzenden Metall – war es Stahl oder gar Silber? – an den Hand- und Fußgelenken und am Oberarm, eine Halskette aus den Zähnen eines furchterregen den Tieres fiel ihm auf die nackte Brust, und um den Kopf trug er 62
ein breites, silbernes Band, von dem über der Nasenwurzel ein grü ner Stein auf die Stirn hing, womöglich ein Smaragd. Bewaffnet war der Bursche mit einer Lanze, aber er hatte keinen Schild, und nun legte er die scharfe Klinge seines Speers auf den bloßen, ungeschütz ten Nacken des ManiSoyo, der noch immer ehrerbietig vor ihm im Staub lag. Daraufhin erhob sich der alte Häuptling. Der Kongo-Krieger trat wieder an die Palme zurück, verschränkte mit der Lanze in der Ellbo genbeuge die Arme vor der Brust und nahm erneut seine respektlose, lässige Haltung ein. Ein Austausch von Worten zur Begrüßung fand nicht statt; der ManiSoyo begann einfach zu sprechen, und während er redete, blickte der junge Krieger scheinbar gelangweilt an ihm vor bei auf das Beiboot und die weißen Männer und hinaus auf den Fluss, wo die Leonor ankerte. Was dachte er wohl über das Schiff, das dort draußen vor Topp und Takel seewärts lag, mit gestrichenen Segeln, den Wimpeln, die in einer leichten Brise flatterten, den hohen vorde ren und hinteren Aufbauten und dem runden Schiffsbauch, der sich leicht auf den Wellen wiegte? »Bootsmannsmaat, kehrt zum Schiff zurück und bringt die anderen an Land.« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« »Page, steig aus.« Gil sprang aus dem Boot, die Soldaten stießen es vom Ufer ab, und die Ruderer legten sich ins Zeug. Der ManiSoyo drehte sich um und sah diesen Vorgängen beunruhigt zu. »Gehen wir zu ihnen, bevor der alte Junge in Panik ausbricht und glaubt, wir laufen ihm davon«, meinte Cão. »Aber was ist mit den anderen, Herr Kapitän?« »Welchen anderen?« »Den Kongo, die sich verstecken.« »Siehst du irgendein Zeichen von ihnen?« »Nein, Herr, aber wenn sie sich verborgen halten … Ich meine, von den anderen Soyo ist ja auch nichts zu sehen.« »Du bist sehr aufmerksam, Page. Bleib so wachsam. Aber sei nicht 63
allzu schlau; du könntest dir damit selbst unnötig Angst einjagen. Au ßerdem haben wir unsere Gewehre – was, soldados?« Die Soldaten brummten zustimmend. Es waren zähe Kerle, die an der westafrikanischen Küste schon zahllose Scharmützel mit Guine ern ausgefochten hatten; mit ihren Helmen, den schweren Rüstun gen und den ergrauten Bärten sahen sie alles andere als furchtsam aus. Aber sie waren nur zu fünft. »Also vorwärts. Lassen wir diese Kongo nicht warten.« Gil schlug das Herz bis zum Hals, und sein Mund war trocken. Er konnte nicht verstehen, warum er plötzlich solche Befürchtungen hat te. Vor den Soyo hatte er überhaupt keine Angst gehabt – ganz im Ge genteil, es hatte ihn sogar gedrängt, sie kennen zu lernen. Warum also fiel es ihm jetzt so schwer, auf diese Kongo zuzugehen? Was hatten die se Menschen an sich, das ihm plötzlich Furcht einflößte? Der junge Kongo-Krieger verharrte in seiner lässigen Positur und ließ sich von der kleinen Gruppe weißer Männer, die auf ihn zuschritt, nicht aus der Ruhe bringen. Gil bemerkte, dass er sie herausfordernd beobachtete, aber er blieb dabei träge mit verschränkten Armen an den Stamm der Palme gelehnt, atmete leicht und zeigte sich nicht im mindesten von diesen hellhäutigen, haarigen, gepanzerten Geschöp fen beeindruckt. Tatsächlich war er wesentlich jünger als seine Begleiter und höch stens ein oder zwei Jahre älter als Gil. Doch er verbarg diese Jugend lichkeit hinter seinem verächtlichen und reservierten Verhalten. Der ManiSoyo kam den Portugiesen entgegengelaufen, schob sich zwi schen Cão und Gil und drängte sie zur Eile. Der NsakuSoyo, die bei den Frauen und die zehn Soyo-Krieger traten zur Seite und ließen die weißen Männer vorbei. Ihre fünf Soldaten bildeten die Nachhut; den Daumen am Zündhahn und den Zeigefinger am Abzug, hielten sie ihre Hakenbüchsen über der Brust gekreuzt. Die Krieger der Kongo mit ihren Lanzen und den Schilden, die sie tief, auf Höhe der Hüften, hielten, strahlten aus der Nähe eine bedrohliche Wildheit aus, wie sie bei den Soyo nicht zu spüren gewesen war. Jetzt begann der ManiSoyo schnell und furchtsam auf den jungen Kongo einzureden, und obwohl 64
Gil nur raten konnte, was er sagte, stellte er mit Erleichterung fest, dass die Sprache, die der alte Häuptling benutzte, dieselbe war, die er bis lang gesprochen hatte. Offenbar standen sich die Soyo und die Kongo zwar nicht in ihrem Verhalten, aber zumindest in ihrem Aussehen und ihrer Sprache nahe. »Djogo Cam«, sagte der ManiSoyo, dann »Gil Janesch« und schließ lich »Porta Gies«, wobei er zum Himmel zeigte. »Er berichtet ihm von uns, Herr Kapitän.« »Das kann ich auch selbst ausmachen, Page«, erwiderte Cão gereizt. Gil war verblüfft über die Schärfe seines Tons. Das von einem grau en Bart eingerahmte, pockennarbige Gesicht hatte sich verdüstert, die buschigen Augenbrauen waren grimmig zusammengezogen, und mit unverhohlenem Zorn starrte der Kapitän auf den jungen, knabenhaf ten Kongo. Was ihn so ärgerte, war offensichtlich die sorglose, verächt lich zur Schau gestellte Respektlosigkeit dieses jugendlichen Kriegers. »Herr Kapitän …«, setzte Gil leise an. Aber Cão fiel ihm sofort scharf ins Wort. »Sag ihm, er soll Hal tung annehmen. Sag ihm, ein Kapitän der königlichen Flotte steht vor ihm!« Dieser wütende Ausbruch veranlasste den ManiSoyo, sich nach Cão umzudrehen. »ManiSoyo«, begann Gil eilfertig in der Hoffnung, ein drohendes Unheil abwenden zu können, »wer ist dieser Kongomuntu?« Dabei zeigte er auf den jungen Krieger. Mit einer raschen Bewegung schlug der ManiSoyo seine Hand nie der. »Was …« Gil zog den Arm verblüfft zurück; mit einem Mal schlug sein Herz rasend schnell. Der ManiSoyo wandte sich wieder Cão zu. Er stieß ein Wort hervor, das wie kibiti klang, und deutete dabei auf die Erde. Doch der Kapi tän blickte ihn nur stur an; in seiner Miene standen Zorn und Unver ständnis geschrieben, weshalb der Häuptling das Wort wiederholte – kibiti, kibiti – und noch einmal ungestüm nach unten zeigte. Er klang fordernd, und seine Geste war wie ein Befehl. Und als Cão nach wie 65
vor nicht reagierte, packte er ihn bei den Schultern und versuchte, ihn zu Boden zu drücken. Doch der Kapitän entwand sich blitzschnell sei nem Griff, warf einen Arm hoch und schlug damit die Hände des Ma niSoyo von sich. Das kleine Handgemenge löste sofort Unruhe aus. Die Kongo-Krie ger traten mit erhobenen Schilden vor und hielten ihre Lanzen kampf bereit an die Hüften. Sogar der junge Krieger verließ seinen Platz an der Palme, richtete sich auf und nahm ebenfalls seine Lanze in die Hand. Die portugiesischen Soldaten legten ihre Arkebusen an die Hüf ten an, traten zurück, um genügend Abstand zum Feuern zu haben, und spannten die Zündhähne. Mit wild pochendem Herzen und ausgedörrtem Mund murmelte Gil: »Ich glaube, er will, dass Ihr niederkniet, Herr Kapitän.« »Ich weiß sehr gut, was er von mir will!« fuhr Cão ihn an. »Und wenn dieser Kerl glaubt, dass ich das tun werde, dann kann er gera dewegs zur Hölle fahren! Ich soll mich hinknien? Vor diesem unzivi lisierten Knaben, der die Muttermilch noch auf den Lippen hat? Eher wird er in der Hölle schmoren, als dass ich vor ihm oder irgendeinem anderen Wilden niederknie … Gott verfluche dich, Kerl. Ich warne dich nur einmal. Lass deine schmutzigen Finger da, wo sie hingehören, und versuche nicht noch einmal, mich zu berühren!« Der ManiSoyo hatte ein zweites Mal versucht, Cão auf die Knie zu zwingen, doch dieser hatte ihn wieder heftig abgewehrt. Gil begann zu beten. Doch nun erhob der junge Kongo-Krieger seine Lanze; mit verächt lich geschürzten Lippen warf er zuerst einen kurzen Blick auf seine Krieger, ergriff dann seine Waffe gleich unterhalb der glänzenden, breiten Metallklinge, balancierte sie gekonnt in der Hand und stieß schließlich zu, nicht aggressiv, sondern geringschätzig und fast spie lerisch, und auch nicht in Richtung auf Cão, sondern auf den ManiSoyo; er zielte auf die Brust des alten Häuptlings, aber so leicht, dass er ihm nicht einmal die Haut aufritzte, sondern ihn lediglich zur Seite stieß. Danach setzte er den Speer mit dem stumpfen Ende auf dem Bo den auf, legte ihn in die Armbeuge und verschränkte wieder die Arme 66
vor der Brust. Dieses Mal blieb er allerdings achtsam stehen und lehn te sich nicht mehr an den Baumstamm zurück. »Djogo Cam«, sagte er schließlich. Cãos dunkles, zorniges Gesicht vermochte die Überraschung, die er empfand, kaum zu verbergen. »Jawohl, ich bin Diogo Cão«, antwortete er nach einem Moment des Schweigens argwöhnisch und nickte. »Mbemba a Nzinga«, stellte sich der Krieger jetzt vor, wobei er eine Hand auf seine Brust legte, und fuhr fort: »MtuKongo.« Und dann lä chelte er. Es war das schelmische Lächeln eines Jungen, und es löschte alle Überheblichkeit und Kälte einfach aus, als wäre alles, was sich zu vor abgespielt hatte, nur ein Kinderspiel gewesen. Seine Krieger gaben ihre angespannte Haltung auf, und auch die portugiesischen Soldaten legten die Zündhähne ihrer Hakenbüchsen wieder um. Gil stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Als das Beiboot mit den Männern, die auf der Leonor geblieben waren, zurückkam – dem Schiffsprofos mit seinen Hellebardieren und Arm brustschützen, Nuno Gonçalves und Pater Sebastião, nur die beiden Ashanti waren nicht mitgekommen –, saßen der Kapitän und der jun ge Kongo-Krieger einander bereits auf stundenglasförmigen Hockern gegenüber, und Gil stand neben Cão und versuchte sich in der trotz al ler Sprachprobleme ziemlich lebhaft gewordenen Unterhaltung, so gut er konnte, als Dolmetscher. Ein paar wichtige Einzelheiten waren mittlerweile geklärt worden. Der Name des jungen Kriegers war Mbemba, Sohn von Nzinga. Er war ein Prinz der Kongo, ein MtuKongo. Sein Vater, Nzinga a Nkuwu (Nzinga, Sohn von Nkuwu), war der ManiKongo, der König der Kon go. Und das Reich der Kongo umfasste ein Gebiet, das sich zu beiden Seiten des Zaire-Flusses, des nzere, so gewaltig erstreckte, wie man es sich kaum vorstellen konnte: nach Norden so weit, wie ein schneller Läufer in hundert Tagen laufen konnte; von der Mündung des Stromes in den Atlantik nach Osten bis zum Wasserfall beim Hexenkessel und 67
noch weiter bis zu den Bergen, von denen sich der Fluss aus einem See namens Mpumbu in Hunderten von Katarakten und Kaskaden hin abstürzte, die alle so furchterregend waren wie der Hexenkessel; und schließlich nach Süden und Südosten durch den Urwald und in die Berge, so weit, wie ein schneller Läufer in tausend Tagen laufen konn te. Dieses Königreich, so schätzte Cão, umfasste mindestens zehntau send Leguas im Quadrat und wohl an die zwei Millionen Menschen, und damit stellte es Portugal in jeder Hinsicht in den Schatten. Es war offenbar eingeteilt in sechs Lehensgebiete oder Provinzen – Nsundi, Mbata, Mpangu, Mbamba, Mpemba und Soyo –, abhängige Fürsten tümer, deren Häuptlinge oder Herren, wie etwa der ManiSoyo, ihrem obersten Herrscher, dem ManiKongo, tributpflichtig waren und Le henstreue gelobten. Dieser regierte von seiner Königsstadt Mbanza Kongo aus, die auf einem heiligen Berg lag, etwa zwanzig Tagesmär sche von hier durch den Wald nach Südosten. Während diese Informationen langsam bekannt wurden, kamen all mählich auch die Bewohner von Mpinda wieder zum Vorschein. Sie hatten sich in ihren Hütten verborgen gehalten, und selbst jetzt blieben sie aus Achtung und Furcht vor dem Kongo-Prinz noch auf Distanz. Es waren allerdings keine anderen Kongo mehr unter ihnen, wie Gil feststellte. Er hielt dies für einen deutlichen Beweis der großen Macht, die die Kongo in ihrem Riesenreich besaßen – wie sicher mussten sie sich wähnen, wenn ihr junger Prinz so leicht bewaffnet und mit nicht mehr als zwanzig Kriegern als Leibwache viele Tage weit bis an einen Ort reisen konnte, an dem seltsame weiße Menschen angeblich aus ei nem Land im Himmel auf die Erde heruntergeflogen waren! Ein weite res Zeichen dieser überheblichen Gewissheit ihrer Allmacht war, dass dieser Mbemba keine einzige Frage über die Porta Gies und ihr be merkenswertes, vogelgleiches Schiff stellte, als sei es unter seiner Wür de, eine so gewöhnliche Regung wie Neugier zu zeigen. Mehr als ein mal wanderte sein Blick hinaus zur Leonor, zu den Waffen und Rü stungen der Soldaten, die sich hinter Cão aufgereiht hatten, und zu Gil mit seinem langen, lohfarbenen Haar, den hellen Augen und der hellen Haut – zu diesem Jungen, der ihm in Alter und Statur so ähnlich und 68
doch in jeder Hinsicht so ganz anders war; aber immer wieder kehrte sein Augenmerk zu Cão zurück, dessen nicht enden wollende Fragen er beantwortete, so gut er sie verstand, ohne selbst auch nur eine einzi ge Frage zu stellen. Dabei gab es doch sicher tausend Dinge, die er über diese Fremden gerne gewusst hätte. Die Unterhaltung brach ab, als das Beiboot zum zweiten Mal anlan dete und die restliche Besatzung der Leonor ausstieg. Tristão war sich über die Situation offensichtlich im unklaren, und deshalb befahl er seinen Soldaten sowie Pater Sebastião und Gonçalves, am Ufer stehenzubleiben, bis Cão ihre Ankunft bemerkt hatte und ihnen signalisier te zu kommen. Während der kleine Trupp sich näherte, erklärte der ManiSoyo dem jungen Prinzen, wer diese Leute waren. Nur Gonçal ves war für ihn nach wie vor ein Rätsel, und so überließ er es Gil, die sen vorzustellen. »Ich glaube, wir haben per Zufall eine höchst bemerkenswerte Ent deckung gemacht, Nuno«, sagte Cão zu seinem Obermaat. Dabei wirk te er so strahlend und lebendig wie damals, als er zum ersten Mal vom rio poderoso gesprochen hatte. »Wir haben ein ganzes Königreich ent deckt.« »Ein Königreich, Herr Kapitän?« »Ja, oder jedenfalls etwas, das einem Königreich ganz ähnlich ist – das heißt, wenn uns dieser junge Wilde hier nicht nur lauter See mannsgarn vorgesponnen hat. Seinem Wort nach gehört alles Land im Umkreis von Hunderten von Leguas auf beiden Seiten des Flusses und Flussaufwärts bis zu jenen Bergen, die wir gesehen haben, zu diesem Reich – das Königreich Kongo, ein Reich mit mehr als einer Million Untertanen, würde ich schätzen. Die Soyo hier gehören mit Sicherheit dazu. Der ManiSoyo fürchtet in Gegenwart dieses Jungen – er ist ein Prinz dieses Reichs – um sein Leben. Er fiel vor ihm mit dem Gesicht voran auf die Erde, als hätte ihn der Blitz getroffen. Und seht Euch die se Lanzen an, Nuno. Reiner Stahl. Habt Ihr so etwas irgendwo in Afri ka schon einmal gesehen? Und die Armbänder, die der Junge trägt – Silber, habe ich recht? Und der grüne Stein da an seinem Stirnband – ich würde sagen, ein Smaragd, meint Ihr nicht auch?« 69
»Das wäre durchaus möglich, Herr Kapitän«, antwortete Gonçal ves nachdenklich. Offenbar war er von Cãos Worten nicht ganz über zeugt, doch dessen Begeisterung sah er wohl, und er konnte sich eben so wie Gil ohne weiteres vorstellen, was der Kapitän dachte. »Und wo ist der Herrscher über dieses Königreich, Herr Kapitän?« »Auf einem Berg zwanzig Tagesmärsche durch den Wald nach Süd osten, sagt der Junge. Eine Königsstadt mit dem Namen Mbanza Kon go. Er ist hergeschickt worden, um uns dorthin zu führen.« »Und denkt Ihr daran, diese Reise auf Euch zu nehmen?« »Ich weiß nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden. Was meint Ihr denn?« »Zwanzig Tage hin und zwanzig Tage zurück, plus die Tage, die Ihr Euch dort aufhaltet – das wären fast zwei Monate. Eine lange Zeit.« »Ja, das ist richtig. Aber es könnte eine interessante Sache werden, Nuno. Ein Königreich in Afrika, in dem es Stahl und Silber und Sma ragde gibt. Und vielleicht sogar Gold. Was für ein Fund, den wir Jo hann präsentieren könnten – nicht nur ein mächtiger Strom, sondern auch noch ein mächtiges Königreich.« »Bei allem Respekt, Herr Kapitän, darf ich Euch daran erinnern, dass Johann Euch nicht ausgesandt hat, um ein afrikanisches König reich oder Silber, Smaragde und Gold zu finden. Euer Auftrag lautet, den Seeweg nach Indien zu erkunden.« »Ich weiß.« »Zwei Monate sind eine lange Zeit, Herr Kapitän. Vor allem, da wir nicht mit Sicherheit wissen, wie weit wir noch segeln müssen, bis wir den Indischen Ozean erreichen. Wir sind schon seit nahezu vier Mo naten unterwegs, und es gilt auch die Zeit für die Heimreise zu beden ken.« »Ich weiß, Nuno. Ich sagte doch, ich weiß das alles.« Während dieses Wortwechsels beobachtete der junge Kongo die bei den unablässig, und als Cão verstummte, seinen Helm abnahm und sich mit der Hand durch die Haare fuhr, wandte der Prinz sich Gil zu, um zu erfahren, worüber die weißen Männer gesprochen hatten. Gil hatte jedoch keine Ahnung, wie er diese Unterhaltung hätte überset 70
zen können; er tat deshalb, als würde er Mbemba a Nzingas fragenden Blick nicht bemerken. Doch das schien diesen zu verärgern; er erhob sich abrupt von seinem Hocker. »Mbanza Kongo«, sagte er bestimmt und deutete mit seiner Lan ze nach Südosten in den Urwald hinter Mpinda, wo angeblich die Kö nigsstadt des ManiKongo lag und wo dieser angeblich darauf wartete, die vom Himmel gekommenen weißen Männer zu empfangen. »Herr Kapitän, er möchte, dass wir …« »Ja, Page, ich habe ihn verstanden«, unterbrach ihn Cão unwirsch. »Das war nicht gerade schwer zu begreifen. Nuno.« »Zu Befehl, Herr Kapitän?« »Es ist verdammt hart, Nuno, einfach wieder davonzusegeln und nie in Erfahrung zu bringen, was wir vielleicht gefunden hätten.« »Das ist richtig, Herr Kapitän.« »Ein Königreich, Nuno. Ein mächtiges Königreich an einem mächti gen Strom. Können wir da einfach weitersegeln, ohne irgend etwas zu erkunden, und alles im ungewissen lassen?« »Vielleicht sollte einer von uns dorthin gehen.« »Wie?« »Oder einige, während die anderen zum Indischen Meer weiterfah ren. Wer immer sich ins Landesinnere begibt, könnte auf der Heimrei se wieder mit an Bord gehen.« »Ja, Nuno – vielleicht ist das die Lösung. Aber wer von uns sollte das sein? Weder Ihr noch ich noch der Lotse kommen dafür in Frage. Wir müssen auf der Leonor bleiben.« »Erlaubt mir, ins Innere des Landes zu gehen, Dom Diogo«, melde te sich jetzt Pater Sebastião zu Wort. »Erlaubt mir, dieses Wagnis auf mich zu nehmen.« »Ihr, Padre?« »Ich halte es für meine Pflicht, dorthin zu gehen. Es ist meine Aufga be, einem mächtigen Königreich wie diesem das Wort unseres Herrn zu bringen. Für die Reise zum Indischen Meer hingegen werde ich nicht unbedingt gebraucht.« »Vierzig Tage, Herr Kapitän, und rechnet noch einmal zwanzig Tage 71
für den Aufenthalt in dieser Stadt«, gab Gonçalves zu bedenken. »Das macht sechzig Tage. Genau zwei Monate. In dieser Zeit können wir mit Sicherheit zum Prassum Promontorium und zurück segeln und dann den Padre für die Heimreise wieder an Bord nehmen. Viel länger als zwei Monate kann es nicht dauern. Für eine längere Fahrt sind wir auch gar nicht ausgerüstet. Und selbst bei dieser Rechnung wird fast ein Jahr vergangen sein, ehe wir die Straßen am Tajo wieder sehen.« »Aber er kann nicht allein gehen.« »Ich werde nicht allein sein, Dom Diogo. Gott wird mich begleiten.« »Ja, guter Padre, Gott wird mit Euch sein, aber trotzdem … Ihr braucht Begleitschutz. Wir können für den Padre doch ein paar Solda ten erübrigen, oder etwa nicht, Fernão?« Tristão zögerte. »Zwei Soldaten zumindest. Zwei Hellebardiere als Leibwache.« »Wie Ihr befehlt, Herr Kapitän.« »Und den Pagen auch.« »Mich, Herr?« Gil kippte fast aus den Stiefeln. »Jawohl, du, mein treuer Page. Du hast mit diesen Leuten Freund schaft geschlossen. Und im Gegensatz zu unserem guten Padre sprichst du ihre Sprache.« »Aber doch nicht wirklich, Kapitän. Ich kann doch kaum verste hen …« »Du sprichst sie mit jedem Tag besser. Ich höre es doch selbst. Wenn ihr zu dieser Königsstadt kommt, wirst du sie gut genug beherrschen, um dich mit dem Kongo-König verständigen zu können.«
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KAPITEL 5
I
ch gehe nicht, Dom Nuno. Das sage ich Euch, ich nicht. Die bringen mich um.« »Hab dich nicht so, Kleiner. Die Sache ist bereits entschieden. Und umbringen wird dich niemand.« »Doch. Ich weiß es. Sie wollen nicht mich. Sie wollen den Kapitän. Ihr habt doch gesehen, wie sich der MtuKongo Mbemba aufgeführt hat, als er begriff, dass nicht der Kapitän mitgeht, sondern nur Pater Sebastião und ich mit zwei Hellebardieren. Das wollte er einfach nicht. Er sagte, sein Vater würde nur den Kapitän empfangen, niemanden, der im Rang niedriger ist, nicht einmal einen Priester, und den Schiffs jungen schon gleich gar nicht. Er ist ein König, und er wird nur einen König empfangen. Sie glauben, dass der Kapitän unser König ist.« »Ja, ganz genau so war es – aber nur, bis wir ihm weisgemacht haben, dass du der Sohn unseres Königs bist, der Sohn des Kapitäns, und da mit ein Prinz, genau wie er selbst einer ist. Sobald wir ihm das sagten, hat er doch schnell seine Meinung geändert, stimmt's etwa nicht?« Gil und Gonçalves saßen im Magazin im Achterkastell der Leonor und suchten nach geeigneter Kleidung, einer passenden Rüstung, Waf fen und allem, was nötig war, um einen Pagen als Prinz zu verklei den. Die letzte Hoffnung des Jungen, die Reise zur königlichen Stadt Mbanza Kongo nicht antreten zu müssen, hatte sich darauf gestützt, dass der ManiKongo ihn nicht empfangen würde. Aber dann war Cão die grandiose Idee gekommen, Gil als seinen Sohn und damit Mbem ba gleichrangig zu präsentieren. Wenn es keine Kränkung seiner Per son sei, dass der ManiKongo seinen Sohn zu ihm sende, so hatte Cão argumentiert, dann könne es ebenso wenig beleidigend sein, wenn er seinen Sohn Gil zum ManiKongo schicke. Und der junge Kongo-Prinz 73
Mbemba hatte offenbar ziemlichen Gefallen gefunden an dem Gedan ken, dass dieser blonde, blauäugige Fremdling, der in etwa so alt war wie er selbst, ebenfalls ein Prinz war – noch dazu aus einem Land, das so weit entfernt und so anders war, dass niemand im Reich der Kongo von seiner Existenz auch nur hätte träumen können, und das womög lich so mächtig war wie Mbembas eigenes Reich. Damit war die Ange legenheit geregelt, und die Vorbereitungen für die Reise nach Mbanza Kongo konnten getroffen werden. »Wieso in Gottes Namen glaubst du überhaupt, dass sie dich um bringen wollen?« fuhr Gonçalves fort, während er einen schwarzsam tenen, bestickten Gehrock aus einer Kleidertruhe herauszog, der dem Jungen möglicherweise passte. »Hat irgendeiner von diesen Leuten bis her auch nur die Hand im Zorn gegen uns erhoben oder sich sonst wie feindselig gezeigt? Sie behandeln uns mit Ehrfurcht, Kleiner. Sie glau ben, dass wir vom Himmel gesandte Geschöpfe sind. Darum werden sie dich auf keinen Fall töten.« »Aber ich will nicht gehen, Dom Nuno. Es ist in Ordnung, wenn der Padre und die Soldaten gehen. Es ist ihre Aufgabe, die Helden zu be kehren oder gegen sie zu kämpfen. Aber ich bin ein marinheiro. Ich ge höre auf die See. Ich will mit Euch segeln und mir auf dieser Entdek kungsreise zu den Ländern Indiens einen Namen machen.« »Du kannst dir ebensogut mit der Entdeckung eines afrikani schen Königreiches einen Namen machen. Oder glaubst du etwa, dass Johann dich nicht großzügig belohnen wird, wenn du nach Hau se kommst und ihm deine Geschichte von diesem Königreich mit bringst? Glaubst du nicht, dass er sehr angetan sein wird, von einem Land reich an Silber, Gold und kostbaren Steinen zu hören, das du ge funden hast?« »Das könnte der Padre genauso gut machen.« »Der Padre spricht nicht die Sprache dieser Menschen, und die Ge schichte, die er mit nach Hause bringt, eignet sich für den Papst, aber nicht für den König. Und jetzt sei still und probiere diesen Gehrock an. Er ist schön genug für einen Prinzen.« Als sie nach oben gingen, trug Gil den bestickten Gehrock über ei 74
nem langen Kettenhemd mit einem Brustharnisch, in den das könig liche Wappenschild eingehämmert war, dazu eine salade, die Gonçal ves poliert und mit einer Pfauenfeder versehen hatte, weite, knielan ge Beinkleider aus Leder, kniehohe, schwarze Wollstrümpfe mit sil bernen Streifen und ein Kurzschwert, das an einem breiten Ledergür tel mit silberner Schnalle hing. Von seinen eigenen Kleidungsstücken hatte er nur die Stiefel anbehalten. Cão erwartete ihn mit Vizinho auf dem Achterdeck. »Was sagt Ihr, Herr Kapitän?« fragte Gonçalves stolz, während er Gil vor sich herschob, um seine Kostümierung begutachten zu lassen. Cão zog bewundernd die buschigen Augenbrauen hoch. »Hervorragend, Nuno. Er sieht in der Tat gut genug aus, um als mein Sohn durchzugehen, was, José?« »Zumindest ist er auf keinen Fall mehr ein einfacher Page, Herr Ka pitän«, erwiderte der Lotse grinsend. »Nein, er sieht eindeutig aus wie ein echter Prinz.« »Herr …«, begann Gil. Aber Cão unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ich werde mir keine weiteren Klagen darüber anhören, warum oder ob du gehen willst oder nicht, Junge. Ich habe es dir bereits befohlen.« »Ich will keine Klage mehr vorbringen, Herr Kapitän. Ich sehe, dass mein Schicksal besiegelt ist. Aber ich habe eine Bitte.« »Und die wäre?« »Ich möchte, dass Segou mitkommt.« »Segou?« »Bei allem Respekt, Herr Kapitän, aber Ihr überschätzt mein Ver mögen, die Sprache dieser Menschen zu verstehen. Segou spricht und versteht sie weit besser als ich. In Augenblicken der Verwirrung, oder wenn Schwierigkeiten auftauchen, könnte ich mich an ihn wenden.« »Das mag wohl sein, aber wie du gesehen hast, verachten diese Leu te ihn.« »Die Soyo verachten ihn. Vielleicht sind die Kongo in diesem Punkt anders. Aber sie brauchen sich auch gar nicht mit Segou zu befassen. Ich würde ihn einfach nur bei mir behalten, damit ich mich an ihn 75
wenden kann, falls es notwendig wird. Die Soyo und Kongo können sich denken, was immer sie wollen.« Cão sah sich um. Der Lotse stand am Kompasshaus, und der Priester und der Schiffsprofos waren auf dem Mitteldeck mit den beiden Helle bardieren, die für die Reise nach Mbanza Kongo ausgewählt worden wa ren; weder Segou noch Goree waren irgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hielten sie sich unter Deck auf und schmollten. Segous Stolz war durch die Behandlung, die er von den Soyo erfahren hatte, schwer angeschla gen, und der jüngere Ashanti stand natürlich auf seiner Seite. »Und er könnte mir auch auf vielerlei andere Art und Weise eine Hilfe sein«, fuhr Gil fort. »Er ist in einem Land wie diesem zu Hause. Er kennt solche Wälder. Es ist zwar richtig, dass uns diese Menschen bislang gut behandelt haben, aber wer kann sagen, was noch alles ge schieht, bis Ihr zurückkehrt, um uns mit nach Hause zu nehmen. Zwei Monate sind eine lange Zeit, und es könnte passieren, dass wir uns in diesen Wäldern alleine durchschlagen müssen.« Cão schürzte die Lippen. »Also gut, Page. Was du sagst, hat Hand und Fuß. Segou wird dich begleiten. Der Bootsmann soll ihn holen. Gibt es sonst noch etwas?« Gil schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Kapitän, nichts mehr.« »Deine Truhe ist schon im Beiboot, Kleiner«, sagte Gonçalves. »Ge hen wir.« »Pass gut auf dich auf, Gil!« rief der Lotse ihm vom Kompasshaus aus zu. »Das werde ich, Dom José. Und denkt an mich, wenn Ihr die Küste aufzeichnet, und benennt eine kleine Bucht oder ein Inselchen nach mir!« Vizinho lächelte und erhob eine Hand zum Gruß. »Geh mit Gott, Gil!« rief er dem Jungen nach, als dieser sich zum Gehen wandte. »Willst du dich nicht von mir verabschieden, Page?« Gil blickte zu Cão zurück. »Nun sei doch nicht so wütend auf mich, Junge. Ich schicke dich auf ein großes Abenteuer. Du wirst mir noch dafür danken, wenn ich dich nach Hause bringe und Johann vorstelle.« 76
Gil zuckte die Achseln und folgte Gonçalves auf das Spardeck, wo Pater Sebastião und die beiden Hellebardiere darauf warteten, in das große Beiboot einzusteigen. Ohne nach rechts oder links zu blicken, trat Gil an die Reling, schwang sich darüber und schickte sich an, die Strickleiter hinunterzuklettern. Doch Pater Sebastião hielt ihn zu rück. »Gil Eanes«, sagte er und wandte sich dann an die beiden Hellebar diere. »Vasco Dias. Dinis Gomes. Wir unternehmen eine feierliche Mission im Namen unseres Königs und im Namen Gottes, unseres Herrn. Lasst uns dazu die Hilfe der Jungfrau Maria erflehen und sie bitten, uns für unsere Reise ihren Segen zu geben.« Als das Gebet beendet war, wollte Gil wieder über die Reling stei gen, um in das Beiboot hinabzuklettern, doch nun packte ihn Gonçal ves am Ärmel. »Vergiß dies nicht, Kleiner«, sagte er und hielt ihm die Kette aus Blut stein entgegen. »Es ist dein Glücksbringer.« Gil nahm die Kette und hängte sie sich um den Hals. Dann warf er sich Gonçalves an die Brust und umarmte ihn. Es war der sechsundzwanzigste August, ein Datum, das sich unaus löschlich in Gils Gedächtnis eingraben sollte. Denn von diesem Da tum an zählte er sechzig Tage, bis die Leonor zurückkehren würde, um ihn wieder nach Hause mitzunehmen.
Sie brachen nach Mbanza Kongo erst auf, als die Leonor bereits abge segelt war. Das war nicht Gils Idee gewesen, sondern Mbembas. Wäre es nach Gil gegangen, dann hätten sie sich sofort auf den Weg gemacht; zum einen, weil er es eilig hatte – je eher sie die Stadt erreichten, desto früher würde er schließlich wieder zurück sein –, zum anderen aber auch, weil es seine Einsamkeit und das Gefühl, seine Bordkameraden zu verlieren und nur mehr der Gesellschaft von Wilden ausgeliefert zu sein, nur verstärkte, wenn er zusehen musste, wie die Leonor die An ker lichtete. Seine Chance, an einer Fahrt teilzunehmen, die womög 77
lich zur bedeutendsten aller jemals unternommenen Seereisen wurde, war nun endgültig dahin. Was Dom Nuno und der Kapitän auch im mer sagen mochten, für einen Jungen, der sich einen Namen als See mann machen wollte, bestand das große Abenteuer darin, mit der Ex pedition zu segeln, die den Seeweg nach Indien entdeckte. Jetzt ver fluchte er seine Eitelkeit; wenn er sich nicht ständig in den Vorder grund gedrängt und damit angegeben hätte, wie nützlich er sein konn te und wie gut er die Sprache dieser Wilden verstand, dann wäre nie je mand auf den Gedanken gekommen, ihn hier zurückzulassen. Obwohl auch Mbemba in Eile war, wollte er auf jeden Fall sehen, wie die Leonor die Anker lichtete und Segel setzte, und zögerte des wegen den Abmarsch hinaus. Trotz seiner gespielten Gleichgültigkeit und seinem Bemühen, sich nicht anmerken zu lassen, dass die weißen Männer und alles, was sie besaßen, ihn erstaunten oder zumindest be eindruckten, war es in Wirklichkeit natürlich so, dass er vor Neugier brannte, möglichst viel von den Fremden zu erfahren. Die Leonor vor Topp und Takel ankern zu sehen war eine Sache. Aber zu beobachten, wie sich mit einem lauten Knall die Segel entfalteten, vom Wind erfasst wurden und sich aufblähten, zu verfolgen, wie das Schiff mit flattern den Wimpeln unglaublich schnell Fahrt bekam, wie der Bug das Was ser zerteilte und die Gischt in hohen Fontänen aufschäumte, als sei es in der Tat ein gigantisch großer Wasservogel, der über die gläsern glit zernde Oberfläche des Stromes Anlauf nahm, bevor er sich in die Lüf te schwang – das war noch einmal etwas ganz anderes. Gil sah es dem Prinzen an. Er behielt zwar seine berechnet nonchalante Haltung bei, aber an seinen glänzenden, ungläubig blickenden Augen konnte man sehen, dass er ein grandioses Schauspiel verfolgte, das für ihn wun derbar war und in seinem großen Kongo-Königreich nicht seinesglei chen hatte. Eine Karawane mit insgesamt mehr als zweihundert Menschen war für die Reise nach Mbanza Kongo zusammengestellt worden. Die er ste ihrer drei Abteilungen bestand aus etwa fünfzig Soyo – Kriegern, Jägern, Fährtenlesern und Treibern sowie einer Schar Bläser, Tromm ler und Fetischträger; letztere schüttelten Rasseln und schlugen Stök 78
ke zusammen, aber ob sie damit das Nahen der Karawane ankündi gen oder böse Geister vertreiben sollten, konnte Gil nicht herausfin den. Die Nachhut bildeten mindestens hundert Soyo-Träger, Männer und Frauen, die riesige Bündel, Körbe, Tonkrüge und zusammenge rollte Matten auf den Köpfen balancierten – möglicherweise mit Reise proviant oder Tributgegenständen für den ManiKongo, doch das wus ste Gil ebenfalls nicht. Auch die Seesäcke, Truhen und das gesamte andere Gepäck von ihm, Pater Sebastião, Segou und den beiden Hel lebardieren wurden Trägern anvertraut. In der Mitte der Reisegesell schaft marschierten Mbembas zwanzig Leibwächter mit ihren Schil den und Lanzen, dazu sechzehn Sänftenträger der Soyo, vier Mann für jede der vier Sänften aus wunderbar geschmeidigen, gegerbten Häu ten, die an je zwei langen Stangen aus Eisenholz befestigt waren. Die se Tragen waren für Mbemba, Gil, Pater Sebastião und den NsakuSo yo bestimmt. Dass der NsakuSoyo mit ihnen reisen würde, hatte Gil nicht erwar tet. Vielleicht war das nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber Pater Sebastião, weil die beiden, ähnlich wie Gil und Mbemba, als gleich rangig betrachtet wurden. Es konnte aber auch durchaus sein, dass der Zauberer den Franziskanermönch im Auge behalten wollte. Gil war sich der Tatsache wohl bewusst, dass der Juju-Mann Pater Sebastiãos ungeschickte Versuche, die Soyo im rechten Glauben zu unterweisen oder sie zumindest für verschiedene geheiligte Gegenstände der Kir che zu interessieren, mit unverhohlenem Misstrauen beobachtet hatte. Möglicherweise hatte sich der NsakuSoyo also nur deswegen der Kara wane angeschlossen, damit er sein Volk vor dem Einfluss dieser frem den Religion schützen konnte. Was immer der Grund für sein Mit kommen war, Gil war darüber alles andere als erfreut. Das böse Ge sicht des hageren Mannes ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen. Unwohl war ihm aber auch wegen Segou. Bislang hatten Mbem ba und die Kongo-Krieger den Ashanti gar nicht zu Gesicht bekom men, und jetzt stellte sich heraus, dass sie ihn ebenso verachteten wie die Soyo. Sie wollten ihn nicht um sich haben; wenn er wirklich mit kommen sollte, so gaben sie Gil zu verstehen, dann müsse er mit den 79
Trägern und Frauen am Schluss der Karawane gehen. Doch in diesem Punkt setzte Gil sich durch. Segou war sein Freund; er würde an sei ner Seite bleiben, oder keiner von ihnen würde die Reise antreten. Das glaubte Mbemba zwar nicht, doch er lenkte ein unter der Bedingung, dass der Ashanti Schild und Speer abgab. Dagegen protestierte Segou; er wusste, dass man ihn unbewaffnet als Sklaven betrachten würde, doch als Gil ihm versprach, nicht von seiner Seite zu weichen und in ihn drang, gab er schließlich nach. Aber es war kein guter Anfang. Und noch ein Problem gab es: Wer sollte diese kleine Gruppe von Weißen, die Abordnung des Kapitäns an den König der Kongo, be fehligen? Cão hatte versäumt, dies klarzustellen. Mbembas Meinung nach hatte natürlich Gil das Kommando, und Pater Sebastião war da mit auch einverstanden. Er konnte sich ohnehin nicht vorstellen, wie es zu einem Konflikt kommen sollte; schließlich ging er mit einer völ lig anderen Mission und im Dienst einer vollkommen anderen Autori tät zu den Kongo als Gil. Doch mit Vasco Dias und Dinis Gomes, den beiden Hellebardieren, stellte sich die Sache etwas komplizierter dar. Sie waren beide Männer über dreißig, und der Schiffsprofos hatte sie ausgewählt, weil sie zu den ältesten, zähesten und furchtlosesten sei ner Soldaten zählten. Was sie betraf, konnten die Wilden von Gil glau ben, was sie wollten – dass er der Sohn des Kapitäns sei oder irgend ein Prinz oder weiß der Teufel, was noch –, die beiden wussten, dass er weiter nichts war als ein Schiffsjunge, und von einem solchen würden sie sich nie und nimmer etwas sagen lassen. Da jedoch zwischen den beiden in Rang, Alter und Erfahrung kein Unterschied bestand, woll te auch keiner vom anderen Befehle entgegennehmen. Am ersten Tag marschierten sie von Mpinda aus den Fluss entlang ostwärts. Die Trommler, Bläser und Fetischträger gingen voran und veranstalteten einen Höllenlärm. Mbemba und Gil, Pater Sebastião und der NsakuSoyo sollten den Musikern in den Sänften folgen, doch die Vorstellung, getragen zu werden, gab Gil ein ungutes Gefühl. Nie mand hatte ihn getragen, seit er dem Alter entwachsen war, in dem ihn seine Mutter auf dem Arm gehalten hatte, und als Pater Sebastião dar auf bestand, zu Fuß zu gehen, damit er unter den Trägern und Frauen 80
und den anderen Menschen ohne Stand seines geistlichen Amtes wal ten konnte, nahm Gil dies als Entschuldigung dafür, ebenfalls auf die Sänfte zu verzichten. Daraufhin wollte auch Mbemba nicht mehr ge tragen werden; vielleicht betrachtete er es als unschicklich, den Kopf höher zu tragen als sein weißer Gast. Als er die Sänfte verließ, stieg auch der NsakuSoyo aus, der es offenbar nicht wagte, seinen Kopf hö her zu tragen als der MtuKongo. Er verließ sein Reisevehikel allerdings mit sichtlichem Unwillen und reihte sich dann neben Pater Sebastião ein. Das Vorwärtskommen war nicht allzu schwierig. Mbemba gab ein leichtes, gemächliches Tempo vor, und der Weg war eben und ohne Anstrengung zu gehen; linker Hand lag das Ufer des Flusses, und rechts wurde er von den Palmen, Mangroven und riesigen Farnen des Urwalds überschattet. Schwärme von Schmetterlingen flogen auf und bildeten bunte Wolken, wenn sich die Karawane ihnen näherte; vom Morgentau benetzte Spinnennetze glitzerten wie Silberfäden, so bald die Strahlen der aufsteigenden Morgensonne sie trafen; Papagei en, Spechte, Krähen und Finken sangen und trillerten, riefen einander und flatterten in den Baumkronen umher, während braune, schwar ze, rote und hundegesichtige Affen in den Ästen herumturnten und ärgerlich oder in Panik aufkreischten und schrien, wenn der Trupp sie passierte. Gelegentlich huschte ein kleines Tier über den Weg – zu flink, als dass Gil hätte feststellen können, ob es sich um einen Hasen, ein Wildschwein, ein Nagetier oder eine Zibetkatze handelte. Von Zeit zu Zeit kamen sie an Dörfern vorbei, deren Einwohner vor ihre Hüt ten traten, um dem jungen Kongo-Prinzen ihren Respekt zu erweisen und die weißen Männer zu bestaunen, die er zum König aller Kongo führte. Mbemba schritt neben Gil einher, der nicht so recht wusste, was er von seinem Nachbarn halten sollte. Eigentlich mochte er ihn, und der Prinz war ja auch liebenswürdig, sobald er seine Maske fallenließ und seine Jugendlichkeit zeigte. Aber er war unberechenbar. Sein schelmi sches, jungenhaftes Grinsen verschwand so schnell, wie es kam, und als ob er sich plötzlich seines hohen Standes und seiner königlichen Ge 81
burt erinnern würde, nahm er dann wieder eine distanzierte, hochmü tige Miene an, die von seiner anmaßenden Selbsteinschätzung zeugte. Ab und zu unternahm Gil den ermüdenden Versuch, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, indem er ihn nach dem Kongo-Wort für dies und je nes fragte, was ihm unterwegs auf- oder einfiel; schließlich war er sich im klaren darüber, dass der Marsch eine ausgezeichnete Gelegenheit bot, die Sprache dieser Menschen etwas besser zu erlernen. Aber er merkte, dass er nicht mit dem Herzen dabei war. Vielleicht brauchte er noch Zeit, bis er sein Gefühl der Einsamkeit überwinden und die kni sternde Erregung des Abenteuers empfinden konnte, das diese Missi on darstellte. Jetzt, am Beginn, trottete er meist stumm vor sich hin, in Fragen und quälende Gedanken verstrickt, und Mbemba überließ ihn seinen inneren Kämpfen; der Prinz war zu stolz, um eine Unterhal tung anzufangen und eine der tausend Fragen zu stellen, die auch ihn mit Sicherheit beschäftigten. Segou ging einige Schritte hinter den beiden, stets in Gils Rufwei te. Der Status, den die Kongo ihm zugewiesen hatten, demütigte ihn tief, und er ärgerte sich über die Krieger, die ihn umringten und ihre unverhüllte Geringschätzung spüren ließen. Die beiden Hellebardiere hingegen waren wesentlich entspannter; da sie jeden Guineer ohnehin verachteten, schlenderten sie leichten Fußes mit ihren lässig über die Schulter gelegten Piken dahin und plauderten, scherzten und span nen sich gegenseitig Seemannsgarn vor. Eigentlich sollten sie als Pa ter Sebastiãos Leibwache fungieren, doch mit ihrem endlosen, unbe kümmerten Gerede hatten sie ihn bald aus den Augen verloren; er war zurückgefallen und marschierte mit den Trägern und den Frauen. Es störte Gil, dass die beiden Soldaten ihre Pflicht gegenüber dem alten Franziskanermönch so offenkundig ignorierten, aber er hatte zuviel Scheu vor ihnen, um das zur Sprache zu bringen. Ab und zu, wenn er zurückblickte, um selbst nach Pater Sebastião zu sehen – Gil hat te das Gefühl, sich um ihn kümmern zu müssen, er schien ihm für eine anstrengende Reise wie diese einfach zu alt –, dann las er ent weder laut auf Lateinisch aus seinem Brevier vor, oder er sang Hym nen und ließ seinen Rosenkranz mit dem Kruzifix herumgehen, das 82
die Soyo immer wieder fasziniert bestaunten. Der NsakuSoyo blick te dazu finster drein und hielt sich so dicht an Sebastião wie Segou an Gil. Doch der Padre schien das gar nicht zu bemerken; er ging auf in dem Werk, das Gott und sein Ordensprovinzial ihm aufgetragen hat ten, und das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, in ihrem Na men den Märtyrertod zu sterben. Der Tag wurde so heiß und die Luft so stickig, wie es hier üblich zu sein schien, doch in seinem ungewohnten Prinzenkostüm litt Gil noch mehr darunter als bisher. Er schielte neidisch zu Mbemba und den Kongo-Kriegern hinüber, die oberhalb ihrer langen Röcke alle nackt waren. Musste er sich wirklich mit dieser lästigen Staffage ab quälen? Würde er sich in Mbembas Augen herabsetzen und sich da durch in Gefahr bringen, wenn er den gefiederten Helm abnahm und statt dessen wieder seine Ledermütze trug, wenn er das schwere Ket tenhemd mit dem Brustharnisch einfach auszog? Mit den ledernen Beinkleidern und dem bestickten Gehrock konnte er sich noch abfin den, wenngleich seine weite Seemannshose und sein einfaches Hemd natürlich ungleich bequemer gewesen wären, und das kurze Schwert mochte er sogar, denn es verlieh ihm eine gewisse Eleganz – aber wie sollte er zwanzig Tage lang mit all diesem Eisen angetan durch die brütende Hitze marschieren? Es war unmöglich. Er musste es einfach darauf ankommen lassen. Diesen ersten Tag würde er gerade noch als Prinz kostümiert überstehen, aber danach würde er die Sachen erst wieder anziehen, wenn sie nach Mbanza Kongo kamen; ab morgen würde er sich so kleiden, dass er diese Reise einigermaßen angenehm überstehen konnte. Die erste Nacht verbrachten sie in einem Soyo-Dorf etwa fünf Leguas östlich von Mpinda. Dieser Ort war viel kleiner, aber genauso angelegt wie Mpinda: hohe Hütten mit konischen Dächern an rechtwinklig an geordneten Wegen, die auf drei Seiten einen zentralen Marktplatz um schlossen, die vierte Seite zum Fluss hin offen. Die Bewohner empfin gen die Karawane mit Zeremonien und Feierlichkeiten. Nachdem der Häuptling sich vor dem Kongo-Prinzen zu Boden geworfen und dieser seine Lanze auf dessen Nacken gelegt hatte, wurde ein Festmahl ser 83
viert, die Trommeln und Hörner kamen zum Einsatz, Tänzer, Stelzen läufer, Feuerschlucker und Zauberer zeigten ihre Künste, und danach zogen sich die Reisenden in die Hütten zurück, die für sie hergerich tet worden waren. Einzig Segou wurde auch hier wieder übergangen. Er sollte vor Gils Hütte im Freien schlafen, und die Gastgeber waren sogar davon ausgegangen, dass er nichts zu essen bekäme außer dem, was Gil für ihn übrig ließ. Dieser beschloss, daraus kein großes Auf heben zu machen; als das ganze Dorf schlief, holte er Segou einfach zu sich in die Hütte. Am nächsten Morgen packte Gil seine Truhe um. Als er aus der Hüt te trat, trug er von seinem Prinzenkostüm nur noch das Kurzschwert und die Halskette aus Blutstein. Er suchte nach Mbemba, um zu sehen, wie dieser darauf reagieren würde. Es war noch dunkel, die Luft frisch und kühl und feucht vom Tau; soeben begannen die Vögel ihr Lied. Doch die Karawane hatte sich bereits versammelt, Mbemba war be schäftigt und bemerkte Gil nicht. Gerade kam Pater Sebastião aus sei ner Hütte, er trug keine Kopfbedeckung, dafür aber eine weiße Stola über seiner Kutte, und dann fanden sich die beiden Hellebardiere ein. Auch sie hatten weder ihre Piken noch ihre Helme bei sich. Segou war noch in Gils Hütte; er zögerte, sich zu zeigen. »Habt Ihr schon etwas gegessen, Padre?« fragte Gil. Er war sich nicht ganz sicher, wie gut der alte Geistliche in der Lage war, sich um ge wöhnliche, weltliche Dinge wie Mahlzeiten zu kümmern. »Ihr wisst, dass es kein Frühstück geben wird.« Und auch kein Mittagessen, hät te er hinzufügen können. Schon in Mpinda hatten sie die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen nur einmal am Tag, nämlich abends, aßen, und zwar so viel, dass es ihnen bis zum Ende des nächsten Ta ges reichte. Aus diesem Grunde hatte der Kapitän ihnen von den Vor räten der Leonor Trockenbrot, gepökeltes Schweinefleisch, eingesalze nen Fisch und Wein mit auf den Weg gegeben. Gil hatte sich schon vor dem Anziehen mit Segou etwas Brot und Wein geteilt. »Und ihr beide, Gomes? Dias? Habt ihr schon gegessen?« »Sie haben gegessen«, antwortete Pater Sebastião anstelle der beiden mit einem tiefen Seufzer. »Sie haben Fleisch gegessen. Sie vergaßen, 84
dass heute ein Fasttag ist. Und du, mein Sohn, hast du es auch verges sen?« Gil hatte zwar ebenfalls nicht daran gedacht, aber da er lediglich Trockenbrot gehabt hatte, konnte er in aller Ehrlichkeit erwidern: »Nein, Padre, ich hatte nur etwas Brot und Wein.« »Das ist gut, mein Sohn. Wir dürfen diese Dinge nicht vergessen, vor allem hier unter diesen armen Heiden nicht. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Und nun werden wir die Morgenliturgie spre chen, denn auch das Gebet dürfen wir nicht vernachlässigen. Domi nus vobiscum …« Segou kam aus der Hütte, als Pater Sebastião mit dem Morgengebet begann. Obwohl er kein Christ war, kniete er mit den weißen Män nern nieder, denn in ihrer Nähe fühlte er sich sicherer. Dies war das erstemal, dass der Priester vor den Augen der Neger eine Andacht lei tete. Der Anblick der knienden Männer im ersten Licht des Tages, ihr andächtig verhaltener Gesang, der sich mit den Stimmen der ersten Vögel mischte, Pater Sebastiãos würdevoll geschlagenes Kreuzzeichen, das von den Männern wiederholt wurde – all diese Dinge faszinier ten die Afrikaner. Auch Mbemba und der NsakuSoyo traten neugierig hinzu. Schließlich beendete Pater Sebastião die kurze Andacht, schloss sein Brevier, machte noch einmal das Kreuzzeichen und sagte dazu die Heilige Dreifaltigkeit auf, Gil und die Hellebardiere schlugen ebenfalls ein Kreuzzeichen und erhoben sich. Dann ging Gil auf Mbemba zu in der Erwartung, dass dieser eine Bemerkung über seine veränderte Kleidung abgeben würde. Doch der Prinz sagte dazu kein Wort. Statt dessen machte er mit ei ner schnellen Geste das Kreuzzeichen und setzte dann sein schelmi sches, bubenhaftes Grinsen auf. Guter Gott, was hatte er damit wohl gemeint? Hatte er wirklich das Kreuzzeichen machen wollen? Oder hatte es nur so ausgesehen, war aber in Wirklichkeit ein Zeichen der Kongo und hatte eine ganz an dere Bedeutung? Gil sah sich kurz um; offenbar hatte niemand außer ihm diese Szene verfolgt. Pater Sebastião hatte soeben seine Stola ab genommen und geküsst, und nun faltete er sie unter den argwöhni 85
schen Blicken des NsakuSoyo sorgfältig zusammen. Die beiden Helle bardiere waren gegangen, um ihre Piken und Helme zu holen, und Se gou hatte wieder in Gils Hütte Unterschlupf gesucht. Gil schaute noch einmal zu Mbemba hinüber. Auf dessen Lippen lag noch immer der Anflug eines Lächelns, und jetzt machte er das Zeichen wieder. Es war das Kreuzzeichen; was sonst hätte es sein können? Er imitierte den Pa dre – oder er machte sich über ihn lustig. Aber das spielte keine Rolle. Es war das erstemal, dass der Prinz sich erlaubte, offen für etwas Inter esse zu zeigen, das von den Weißen kam. »Ngete, Mbemba«, sagte Gil ermutigend und machte nun selbst das Zeichen des Kreuzes. »Das ist das Kreuz unseres Herrn Jesus im Him mel.« »Nzambi Mpungu?« »Nzambi Mpungu?« Gil schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.« Da die Worte ›ich verstehe nicht‹ sehr oft vorkamen, hatte er sie mittler weile in der Sprache der Kongo gelernt. »Was bedeutet Nzambi Mpun gu?« Mbemba blickte zur Seite und dachte nach. Dann, immer noch lä chelnd, breitete er mit den Handflächen nach oben die Arme aus und blickte andächtig himmelwärts – oder machte er sich wieder nur lu stig? Doch nun war Gil fasziniert. »Ja, Mbemba. Ngete. Das ist es«, sagte er aufgeregt. »Der Herr im Himmel. Nzambi Mpungu. Padre!« Pater Sebastião drehte sich zu ihm um, und der NsakuSoyo folgte dem Beispiel des Priesters. »Mbemba …« »Ve!« fuhr dieser barsch dazwischen. »Nein.« Sein schelmisches Lä cheln erstarb, seine Miene verdüsterte sich. »Was ist los, mein Sohn?« fragte Pater Sebastião. Gil zögerte, weil der NsakuSoyo mit seinem bösen Gesicht nun die ganze Szene argwöhnisch beobachtete. Und auch Mbemba schien das nicht zu gefallen; er funkelte Gil wütend an, seine Miene war wieder zu königlicher Erhabenheit erstarrt. Gil wurde bewusst, dass er einen Feh ler gemacht hatte; er hätte Pater Sebastião nicht rufen dürfen. Mbem 86
ba hatte gewollt, dass sein Interesse an dem Ritual der weißen Männer nur von Gil bemerkt wurde. Es sollte ein Austausch nur zwischen ihm und Gil sein, zwischen den beiden jugendlichen Königssöhnen. Der Prinz warf noch einen verächtlichen Blick in die Runde und ging dann zurück zur Karawane, die sich zum Aufbruch fertigmachte. »Was wolltest du mir über Mbemba sagen, mein Sohn?« fragte Pater Sebastião jetzt. »Oh, es war gar nichts, Padre. Ich hatte nur gedacht … aber ich habe mich getäuscht.« »Was dachtest du denn?« »Ich dachte, er hätte das Kreuzzeichen gemacht.« »Das Kreuzzeichen? Wer? Mbemba? O heilige Muttergottes! O ge segnete Jungfrau! Das ist ein Wunder, mein Sohn. Unser gütiger Gott hat mit Wohlgefallen auf mich herniedergeschaut und meine armse ligen Bemühungen bereits belohnt. Ich muß zu ihm gehen. In seiner Seele regt sich etwas.« »Nein, Padre. Bitte. Geht nicht zu ihm. Ich habe mich getäuscht. Es war gar nicht so.« »Was war es dann?« »Nur ein Signal. Nur ein Zeichen zum Aufbruch.« Sobald die Karawane an diesem Abend wieder in einem Soyo-Dorf am Fluss haltmachte, rief Pater Sebastião Gil und die Hellebardiere zu sich, um eine Abendandacht zu halten. Segou schloss sich ihnen wie schon zuvor aus ganz eigennützigen, pragmatischen Gründen an. Angesichts der Umstände, unter denen der Marsch verlief – es wur de tagsüber nie eine Rast eingelegt –, hatte der Mönch beschlossen, auf die tagsüber vorgeschriebenen Gebetsstunden zu verzichten, dafür aber um so strenger die Morgen- und Abendandacht einzuhalten. Die Dorfbewohner und die zur Karawane gehörenden Soyo versam melten sich und verfolgten gebannt dieses nie gesehene, geheimnisvol le Schauspiel. Auch der NsakuSoyo war natürlich dabei und beobach tete das Geschehen aus bösen, misstrauischen Augen. Mbemba und seine Krieger fehlten diesmal, was Gil nicht überraschte; den ganzen Tag über hatte der Prinz sich distanziert verhalten und auf seine Ver 87
suche, mit ihm ins Gespräch zu kommen (und sich für seine Unbeson nenheit am Morgen zu entschuldigen) kurz angebunden reagiert. Gil nahm ihm das nicht übel. Er vermutete, dass Mbemba sich ebenso über sich selbst ärgerte, weil er seine Neugier wegen der Rituale der weißen Männer preisgegeben hatte, wie über Gil, der diese Neugier dem Pa ter und dem NsakuSoyo verraten hatte. Wahrscheinlich saß er jetzt ir gendwo mit seinen Kriegern herum und grübelte darüber nach. Pater Sebastião jedoch zögerte, ohne Mbemba zu beginnen. Er setz te große Hoffnungen auf den Kongo-Prinzen, das wusste Gil. Wäh rend des heutigen Marsches hatte er ihn einige Male zu sich gerufen und gefragt, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, dass Mbemba am Morgen vielleicht doch das Zeichen des Kreuzes gemacht habe. Der Priester wünschte sich nichts mehr, als dass es wahr wäre, denn er war überzeugt, wenn er das Geheimnis des Glaubens in die Seele des jun gen Prinzen senken konnte, wenn er Geist und Herz des Königssohnes mit der Frohbotschaft des Erlösers berühren und den künftigen Herr scher dieser Menschen zur Kirche führen konnte, dann würde dessen Volk nachfolgen und er, Sebastião, könnte dann ein ganzes Königreich zum Glauben bekehren. Er hatte eine weiße Alba aus Leinen über seiner Kutte angelegt und ein weißseidenes, mit Goldfäden eingefasstes, ärmelloses Ornat dar übergezogen, und die ebenfalls goldbestickte Stola hing über seinen Schultern. Mitten auf dem Marktplatz hatte er sich von den beiden Hellebardieren zwei Seetruhen übereinander stapeln lassen, die ihm als Altar dienten, hatte ein weißes Seidentuch darübergelegt und die Monstranz, den Kelch und das Messbuch sowie zwei Kerzen darauf platziert. Dieser Gottesdienst sollte prachtvoll und wunderbar werden, ein Ereignis, an das sich die Menschen immer erinnern würden, ein unvergessliches Erlebnis für all die armen Helden, die hier versammelt waren – aber in erster Linie natürlich für den Kongo-Prinzen. Und weil er hoffte, dass Mbemba vielleicht doch noch auftauchen würde, ließ er sich Zeit, zog die Lesungen und Lieder in die Länge und hielt inne, wenn er eine Seite des Messbuchs umblätterte, als habe er die Zeile verloren. 88
Die Soyo beobachteten ihn fasziniert und schweigend. Als er geendet hatte, wandte er sich ihnen mit leerem Gesichtsausdruck zu, als würde er sie gar nicht bemerken; er konnte seine Enttäuschung darüber, dass Mbemba nicht erschienen war, nicht verbergen. Doch dann gab er sich einen Ruck. Schließlich gehörten auch diese einfachen Menschen zu den Seelen, die zu retten er gekommen war, sie bedurften des Wortes und der Gnade Gottes ebenso sehr wie der Kongo-Prinz. Und mit ei nem plötzlichen, gütigen Lächeln, das sein hageres, geflecktes Gesicht in unzählige Falten legte, machte er das Kreuzzeichen und ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Aber sofort war der NsakuSoyo bei ihm; er schrie auf die Soyo ein und bedeutete ihnen, den Platz zu räumen. Sie stoben auseinander, flo hen wie in Panik vor dem sich nähernden Priester und begannen ihre alltäglichen Verrichtungen – Feuer zum Kochen wurden angezündet, Bündel aufgeschnürt, Hütten ausgeräumt und für die Besucher herge richtet. Innerhalb kürzester Zeit stand Pater Sebastião mit dem Nsa kuSoyo allein auf dem Marktplatz. Der Zauberer sah mit einem freud losen Grinsen zu, wie der Priester seine Messkleider ablegte. Gil ging zum Fluss hinunter. Dort wurden gerade Einbäume auf das Ufer hochgezogen. Die Män ner, die mit ihnen angekommen waren, hatten mit Schnüren, Netzen und geflochtenen Fallen gefischt, als die Karawane in der Abenddäm merung eingetroffen war; einige legten noch einmal ab, um mit bren nenden Fackeln während der Dunkelheit auf Fang zu gehen. Zwischen den Kanus lag ein mächtiger Stamm aus Hartholz am Wasser; er moch te etwa zwanzig Fuß lang sein und war irgendwo in der Tiefe des Wal des gefällt und hierher geschleppt worden. Aus ihm würde ein neuer Einbaum entstehen; die Arbeit daran, das Aushöhlen des Baumes mit Axt und Feuer, hatte bereits begonnen. Gil setzte sich darauf. Es würde noch einige Zeit dauern, bis das abendliche Festmahl begann. Bis da hin würde Mbemba, wohin er auch mit seinen Kriegern gegangen sein mochte, sicher zurück sein. Und dann hätte auch Gil noch Zeit genug, sich ebenfalls zum Essen einzufinden. Er nahm die Ledermütze ab und fuhr sich mit den Fingern durch das 89
lange, strähnige, lohfarbene Haar, entwirrte die fettigen Knoten und stützte dann die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände. Die auf den Fluss hinausgeleitenden Kanus mit den Fackelträgern, in de nen die Männer stehend mit weit ausholenden, anmutigen Bewegun gen paddelten, verschwammen im zunehmenden Dunkel der herein brechenden Nacht zu Lichtpunkten aus flackerndem Orange, und die von Osten aufziehenden Wolken schoben sich vor die wenigen Sterne, die im immer schwärzer werdenden Blau des Abendhimmels aufge gangen waren. Jeden Abend, den sie bisher an diesem Zaire-Fluss ver bracht hatten, waren Wolken aufgekommen, aber es hatte noch nie ge regnet. Das Gezwitscher der Vögel verstummte allmählich, das Zir pen der Zikaden verschmolz zu einem einzigen, anhaltenden, metal lischen Ton, und vom sumpfigen Ufer stiegen in dunklen Schwärmen wie Rauchwolken Moskitos auf. »Gil Janesch.« Gil wandte sich um. »Mbemba. Keba bota.« Gil wollte aufstehen, doch Mbemba legte ihm eine Hand auf die Schulter, setzte sich neben ihn auf den Baumstamm und legte seine Lanze ab. Er trug seine silbernen Arm- und Fußreifen nicht mehr, ebenso wenig die Halskette aus Tierzähnen und das Stirnband aus Sil ber mit dem Smaragd daran. Dies war seine Antwort darauf, dass Gil sich umgezogen hatte – auch er verzichtete damit auf seinen königli chen Prunk. Womöglich hatte er das aus demselben Grund getan, we gen dem er sich nach Gils Weigerung, die Sänfte zu benützen, auch entschieden hatte, zu Fuß zu gehen: Er wollte sich wohl in keiner Wei se über den weißen Prinzen stellen. Gil wünschte, er könne dieses Ver halten Mbembas als eine Geste der Freundschaft deuten. Dennoch wa ren seine bewaffneten Krieger bei ihm; sie bildeten einen losen Kreis um ihren Herrn. »Die Soyo fischen«, sagte Gil in der Sprache der Kongo und zeigte auf die flackernden, orangefarbenen Punkte draußen auf dem Fluss. »Ngete, sie fischen.« »Was fischen sie?« »Viele Fische. Kleine Fische. Große Fische. Ein Fisch, sehr groß.« 90
Mbemba streckte die Arme aus, um die Größe anzudeuten; es waren gut zwei Ellen. »Fisch wie mchento, eine Frau.« Dazu machte er eine Geste, als würde er mit beiden Händen einen üppigen Frauenkörper entlangstreichen. »Eine Frau?« Gil schüttelte den Kopf und lächelte. »Ve, Mbemba. Nein, keine Frau.« »Ngete, Gil Janesch, eine Frau.« Auch Mbemba lächelte. »Frau von hier bis hier.« Er fuhr mit den Händen vom Kopf über die Schultern bis zu den Hüften. »Dann Fisch von hier bis hier«, erklärte er weiter und zeigte auf seine Beine und Füße. »Sereia?« fragte Gil auf portugiesisch. »Eine Nixe?« »Nixe?« »Wir sagen Nixe für einen Fisch halb Frau, eine Frau halb Fisch.« »Ihr habt auch Nixe?« »Die Leute sagen ngete. Diogo Cão und Nuno Gonçalves sagen nge te, ja. Aber ich selbst habe nie eine gesehen.« »Und sie fischen nach Nixe auch?« »O ja, sie fischen immer nach Nixen«, antwortete Gil mit einem brei ten Grinsen; er musste daran denken, dass noch fast jeder Seemann, den er bisher kennen gelernt hatte, geschworen hatte, schon irgend wann einmal eine Meerjungfrau gesehen zu haben. »Von Vogel?« »Wie? Was meinst du? Von Vogel?« »Sie fischen nach Nixe von Vogel?« Gil brauchte einen Moment, um sich wieder daran zu erinnern, dass Mbemba wie alle seine Landsleute die Leonor, das große, mit Segeln ausgestattete Schiff, als Vogel betrachtete. »Ngete, von bwato«, antwor tete er mit dem Kongo-Wort für Boot anstelle des Wortes für Vogel. »Sie fischen nach Nixen von dem bwato aus.« »Ve. Nein. Nicht von bwato. Von Vogel.« Gil ließ sich mit seiner Antwort etwas Zeit. Er war sich nicht sicher, wie sehr Mbemba auf der Unterscheidung zwischen Vogel und Boot bestehen würde. Aber schließlich sagte er: »Ngete, sie fischen nach Nixe von Vogel.« 91
»Im Himmel?« Jetzt wurde es schwierig für ihn. »Im Himmel?« wiederholte er, aber nicht deshalb, weil er nicht verstanden hatte, sondern um etwas Zeit zu gewinnen. »Sie fischen nach Nixe von Vogel im Himmel?« fragte Mbemba noch einmal und zeigte nach oben. Es konnte kein Zweifel bestehen. Ein Boot war auf dem Fluss, und ein Vogel war im Himmel. Mbemba unterschied sehr bewusst zwi schen einem Boot und einem Vogel. Warum? Worauf wollte er hinaus? Sein schelmisches Lächeln war wieder belustigt und spöttisch, ganz wie am Morgen, als er das Kreuzzeichen gemacht hatte. Sollte es seine Neugier verbergen? Wollte er damit sein Interesse an den Dingen der weißen Männer herunterspielen? Oder machte er sich lustig über Gil, über die Vorstellung, dass weiße Männer von einem Vogel im Himmel aus nach Nixen fischten? »Mit Nzambi Mpungu im Himmel?« Plötzlich verstand Gil, was Mbemba meinte. Nzambi Mpungu war der Kongo-Ausdruck für Himmel, für Gott. Worauf Mbemba hinaus wollte, wonach er Gil auf diese weitschweifige und verschmitzte Art und Weise fragte und was er von ihm unmissverständlich hören woll te, war, ob die weißen Männer, die Porta Gies, in ihrem großen, mit Se geln beflügelten Vogel vom Himmel heruntergeflogen waren – ob sie von Gott kamen. Und er glaubte es nicht. Der ManiSoyo, der NsakuSoyo, alle hatten es geglaubt, aber dieser junge Kongo-Prinz schien nicht daran zu den ken, Cãos Aussage einfach hinzunehmen. Gil konnte es an seinen la chenden Augen erkennen, an seinem spöttischen Lächeln. Nein, er hatte nicht einen Augenblick lang geglaubt, dass sie vom Himmel, von Gott gekommen seien. Er wollte lediglich Gil prüfen, er wollte sehen, ob dieser dasselbe sagen, ob er Mbemba belügen würde. Gil blickte verlegen zur Seite. Mbemba stand auf. Seine plötzliche Reaktion veranlasste Gil, ihn wieder anzusehen. »Du kommst nicht von Nzambi Mpungu, Gil Janesch«, sagte der 92
Kongo-Prinz. Sein Lächeln war verschwunden. »Ihr kommt nicht vom Himmel.« Gil schwieg. Er wusste nicht, was er hätte sagen können. Und selbst wenn er es gewusst hätte – sein Mund war plötzlich ausgetrocknet. »Ich weiß es, Gil Janesch. Ich weiß es hier, in meinem Kopf. Ich weiß es hier, in meinem Herzen. Aber was ich nicht weiß, ist, wo ihr her kommt mit eurem großen Boot mit den weißen Flügeln.« Gil fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Spiel war aus. Es wäre dumm gewesen, jetzt noch zu lügen. »Ich werde es dir sagen, Mbemba«, murmelte er. »Ja, du wirst es mir sagen.« »Ich komme aus einem sehr fernen Land.« »Das weiß ich.« »Der Ozean, Mbemba? Die See? Da, wo der Fluss mündet? Wo der Fluss endet? Das Meer?« »Ja, das Meer.« »Ich komme vom Meer.« »Oh, vom Meer. Nicht vom Himmel. Jetzt kommst du aus dem Meer.« Gil seufzte; er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und rieb sich die Augen. »Langsam, Gil Janesch. Sag es mir langsam.« »Nicht aus dem Meer, Mbemba. Von der anderen Seite des Meeres. Ich komme vom anderen Ufer des Meeres.« Mbemba schüttelte den Kopf. »Nein, Gil Janesch, du kommst nicht vom anderen Ufer des Meeres. Das Meer ist ewig. Das Meer hat kein anderes Ufer.« »Doch, Mbemba.« Gil stand auf. Wie konnte er das erklären? Was konnte er sagen, damit Mbemba ihn verstand? »Der Fluss, Mbemba? Nzere?« »Ja, Gil Janesch. Der Fluss. Nzere.« »Der Fluss hat ein anderes Ufer, nicht wahr?« Gil zeigte auf den Fluss. Das jenseitige Ufer war wegen der sich ausbreitenden Dunkelheit nicht mehr zu sehen, was Gil im Moment sehr zupass kam. »Dort, dort«, 93
fuhr er fort, »dort drüben über dem Fluss, wir können es nicht sehen, aber dort ist das andere Ufer des Flusses, nicht wahr?« Mbemba blickte auf die flackernden Lichter der Kanus auf dem schwarzen Wasser hinaus und wandte sich dann wieder Gil zu. »Hier ist das eine Ufer des Flusses, Mbemba«, erklärte Gil. »Und dort ist das andere Ufer, auch wenn wir es nicht sehen können.« Mbemba musterte Gil aufmerksam und nickte. »Ja, dort ist das an dere Ufer des Flusses, auch wenn wir es nicht sehen können.« »Und ebenso hat auch das Meer ein anderes Ufer, Mbemba. Hier ist das eine Ufer des Meeres. Und dort, weit, weit drüben, und obwohl wir es nicht sehen können, dort ist das andere Ufer des Meeres.« Mbemba wandte den Blick nicht von Gil ab. Auch die Kongo-Krie ger beobachteten ihn genau. Sie konnten wahrscheinlich hören, was er sagte. Mit Sicherheit konnten sie seine Gesten verfolgen. Verstanden sie ihn vielleicht besser als Mbemba? Verstand Mbemba überhaupt, was er, Gil, sagte? »Von dort komme ich, Mbemba, von dort, weit, weit über das Meer, vom anderen Ufer des Meeres.« »Vom anderen Ufer des Meeres«, wiederholte Mbemba mehr für sich selbst als für Gil. Diese Vorstellung war fantastisch für ihn, das konnte Gil unschwer erkennen, eine Umwälzung seines Glaubens, ein kaum fassbarer Gedanke. »Das Meer hat ein anderes Ufer, wie der Fluss ein anderes Ufer hat?« »Ja, Mbemba. Und dort liegt das Land der Portugiesen, dort am an deren Ufer des Meeres, so wie hier, auf diesem Ufer, das Land der Kon go liegt.« »Und du kommst von dort, aus dem Land der Porta Gies am ande ren Ufer des Meeres?« »Ja, Mbemba. Jetzt hast du es verstanden.« »Nein, Gil Janesch, ich verstehe nicht. Aber du wirst es mir sagen. Du wirst es mir langsam sagen. Du wirst mir langsam alle diese Dinge über die Porta Gies sagen. Und dann werde ich verstehen.«
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KAPITEL 6
W
ährend der nächsten Tage führte der Weg die Karawane in Rich tung Ost zu Süd weg vom Fluss, doch am fünften und sechsten Tag näherten sie sich ihm wieder, so dass sie am siebenten Reisetag dem linken Ufer des Zaire ebenso nah waren wie zu Beginn des Marsches; allerdings war der Fluss jetzt schmaler geworden, floß schneller dahin und war von zahlreichen Riffen und Felsen durchsetzt. Der Pfad führ te noch einige Tage weiter am Ufer entlang, doch stieg er beständig an, und jeden Abend lag der Fluss tiefer unter ihnen als am Morgen. Und dann, am zehnten Tag, etwa vierzig Leguas östlich von Mpinda und nach Gils grober Schätzung nicht mehr als eine Tagesreise von Matadi entfernt – der Stelle mit der riesigen, überhängenden Felsbank, wo die Leonor geankert hatte, als sie mit dem großen Beiboot zur Erforschung des Hexenkessels aufgebrochen waren –, an diesem zehnten Tag kam die Karawane an eine Weggabelung. Die eine Straße verlief weiter nach Osten am immer steiler und felsiger werdenden Ufer des großen Flus ses entlang, wahrscheinlich bis nach Matadi; die andere bog nach Süd ost zu Ost in den rechter Hand gelegenen Urwald ab. Diese Route schlug die Karawane ein und ließ den Fluss nun endgültig hinter sich. »Segou.« Der Ashanti holte flink die zwei, drei Schritte auf, die er hinter Gil und Mbemba marschierte. »Diese Richtungsänderung müssen wir uns merken, Segou. Ich habe nichts dabei, womit ich eine Karte zeichnen könnte, deshalb müssen wir sie uns ins Gedächtnis einprägen.« »Ich werde mich daran erinnern, Gil. Am zehnten Tag unseres Mar sches von Mpinda ließen wir den Fluss hinter uns und bogen in den Wald ein.« 95
»Gut, Segou. Auf diese Art müssen wir uns alle Veränderungen des Weges merken. Denn es kann durchaus sein, dass wir diese Straße ei nes Tages allein hinuntergehen müssen.« »Das weiß ich, Gil. Ich werde die Karte in meinem Kopf haben, wenn dieser Tag kommt.« Mbemba ging einen halben Schritt rechts vor Gil; er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt, als wollte er dem Gespräch lauschen. Gil frag te sich, ob der Prinz wohl irgend etwas verstanden hatte, ob er sich all mählich etwas Portugiesisch aneignete, so wie er, Gil, mit jedem Tag einige Wörter und Ausdrücke des Kongo hinzulernte. Die Umstän de waren für Mbemba zwar nicht gerade günstig – in seiner Umge bung wurde kaum Portugiesisch gesprochen, und er fragte auch nie nach der Bedeutung einzelner Wörter, wie Gil es immer wieder tat –, aber man konnte es nicht von vornherein ausschließen. Immerhin war er klug, von schneller Auffassungsgabe und stets wachsam; und auch wenn er vielleicht das Gefühl hatte, dass er aus Gründen der Würde seine Neugier hinter Spott und Lässigkeit verstecken musste, so woll te er doch zweifellos mehr über diese ›Porta Gies‹ und ihr Land auf der anderen Seite des Meeres erfahren. »Wir sprechen gerade von der Veränderung in der Richtung des We ges, Mbemba. Wir sehen, dass wir jetzt den nzere hinter uns lassen. Werden wir später zum nzere zurückkehren?« »Nein. Mbanza Kongo ist weit vom nzere entfernt. Mbanza Kongo ist … dort.« Er zeigte mit der Lanze in die Richtung, in der sich der Weg im Wald verlor. »Mbanza Kongo liegt im Wald?« »Nein. Mbanza Kongo ist auf einem Berg. Wir gehen durch den Wald bis zu einem Berg. Der Wald versteckt und beschützt den Berg.« Gil nickte. »Gibt es im Land der Porta Gies auch Wald?« »O ja, es gibt auch im Land der Porta Gies Wald. Aber er ist nicht wie dieser Wald.« Sie tauchten in den Dschungel ein wie in eine Unterwelt. Rasch ver loren sie den Zaire zu ihrer Linken aus den Augen; bald war nichts 96
mehr zu sehen von seiner in der Sonne glitzernden, stahlgrauen Ober fläche, die an das offene Land, das Meer und den weiten Himmel erin nerte, der sich von Horizont zu Horizont wölbte. Statt dessen wucher ten jetzt Mangroven und Palmen, Iroko, Baobab, Mahagoni und Bam bus zu beiden Seiten des Weges; in hundert, zweihundert Fuß Höhe verflochten sich Äste, Blätter, Lianen und Schleier aus Moos zu einem dichten Pflanzendach, das den Himmel verbarg, und eine heiße, drük kend schwüle, von Insekten wimmelnde Düsterkeit umfing die Kara wane wie die See ein sinkendes Schiff. Sie hatten ein Reich des ewigen Halbdunkels betreten. Nicht ein ein ziger verirrter Sonnenstrahl vermochte in diese Welt vorzudringen. Auch herrschte hier große Stille. Gil, dem der Schweiß an den Schen keln hinabrann, konnte die Trommler, Bläser und Fetischträger nicht mehr hören, die der Karawane vorausgingen – vielleicht waren sie im Dschungel verstummt –, und die Geräusche, die Lieder und Rufe der Vögel und Affen und der anderen, unsichtbaren Tiere in den Bäumen kamen jetzt nur mehr sporadisch, waren unbeständig und flüchtig; sie klangen anders und dienten einem anderen Zweck. Es waren Alarm signale, die plötzlich aufgellten, ohne dass sich ihre Herkunft feststel len ließ, und die verloren und vereinzelt in der unendlichen, brütenden Stille des Urwaldes verhallten. Der Weg jedoch blieb breit und eben und war gut instand gehalten – wahrlich eine königliche Straße, die zu einer königlichen Stadt führte. Sie rief Gils Bewunderung hervor, vor allem, wenn er sich vorstellte, welch unglaublicher Anstrengungen es bedurfte, eine solche Straße zu bauen. Wie reich und mächtig musste der König sein, der in dieser wuchernden, undurchdringlichen Vege tation eine solche Straße anlegen und erhalten konnte! Etwa zwei Leguas hinter der Weggabelung kamen sie an einen Fluss. Verglichen mit dem großen Zaire konnte man ihn nur als Rinnsal be zeichnen, aber er war immer noch gut dreihundert Fuß breit und floß von Nordosten nach Südwesten, ohne Zweifel also in den Zaire. Die Brücke, die sich über ihn spannte, war ein weiteres Beispiel für die im mensen Bemühungen, die man dem Erhalt dieses königlichen Weges angedeihen ließ. Es war eine stabile Konstruktion aus Lianen, Bam 97
bus und gespaltenen Baumstämmen, die an beiden Ufern so fest durch hoch aufragende Masten verankert war, dass sie sich frei, ohne zusätz liche Pfeiler, über das schnell fließende Wasser spannte und dennoch kaum unter der Last der vielen Menschen schwankte. Auf der ande ren Seite befand sich ein Dorf. Es lag nur ein kleines Stück abseits der Straße im Wald, aber wegen des Schutzwalls aus dichtem Buschwerk, der es umgab, hätte Gil es nicht bemerkt, wenn die Karawane nicht ab gebogen wäre, um hier die Nacht zu verbringen. Das überraschte ihn; ihm war nicht aufgefallen, dass es schon auf den Abend zuging. Im im mer gleichen Dämmerlicht des Urwaldes, wo man den Lauf der Son ne nicht beobachten konnte, war es unmöglich, die Tageszeit festzu stellen. Das Dorf unterschied sich in Anlage und Architektur deutlich von den Ufersiedlungen der Soyo mit ihrem zentralen Marktplatz und der offenen Seite zum Fluss hin. Es war ein typisches Urwalddorf, eine un regelmäßige Ansammlung niedriger, kleiner Behausungen, die an Bie nenstöcke erinnerten, gebaut aus gebogenen Bambusstangen, zwischen die getrockneter Schlamm geschmiert worden war. Der Ort stand auf einer sehr sorgfältig gerodeten Lichtung unter dicht aneinander ste henden riesigen Bäumen, und seine Bewohner waren so armselig und primitiv wie ihre Umgebung. Ihre honigbraune Haut, die hohen Bak kenknochen und leicht schräg stehenden Augen – und, wie Gil später feststellte, auch ihre Sprache – ließen zwar erkennen, dass sie mit den Kongo und Soyo verwandt waren, aber sie waren kleiner, drahtiger, scheuer und argwöhnischer. Sie trugen Röcke aus großen, in Streifen geschnittenen Palmenblättern oder Lendenschurze aus Affenfell oder einem Stoff, der aus geschlagener Baumrinde hergestellt war; Schmuck schienen sie, von einer gelegentlichen Papageienfeder oder Halskette aus Affenzähnen abgesehen, keinen zu haben. Als Waffen benutzten sie Blasrohre und Giftpfeile. Als die Karawane eintraf, verharrten sie in unterwürfiger Haltung an den Eingängen ihrer Hütten und starrten auf die weißen Männer mit Blicken, in denen Entsetzen und Ungläu bigkeit geschrieben standen. »Was sind das für Menschen, Mbemba?« 98
»Mbata. Der Wald ist das Land der Mbata.« Der Häuptling – ein runzliger, kleiner Mann, der sich von den ande ren durch einen geflochtenen Kopfputz unterschied, von dem ein Af fenschwanz über seinen Rücken hinunterhing, und durch einen Affen schädel, der an einer Lederschnur auf seiner Brust baumelte – trat vor und warf sich vor Mbemba auf die Erde. Der Prinz nahm keine Notiz von ihm. Er blickte mit versteinerter Miene über das ganze Dorf und sagte dann etwas zum NsakuSoyo, der daraufhin zornig den ergeben daliegenden Häuptling beschimpfte. Als der Zauberer geendet hatte, hob der Häuptling den Kopf, um zu antworten. »Was hat er gesagt?« fragte Pater Sebastião. Gil schüttelte den Kopf und wandte sich Segou zu. »Heute Abend gibt es kein Fest«, berichtete der Ashanti. »Die Jagd war erfolglos.« Mbemba drehte sich kurz zu den Flüsternden um. Dann schlender te er, ohne seine Lanze auf den Nacken des Häuptlings gelegt zu ha ben, durchs Dorf, begutachtete die Hütten, besah ein paar von ihnen mit unverhülltem Ekel von innen, trat bei anderen gegen die Wände, um zu prüfen, wie stabil sie gebaut waren, und suchte schließlich eini ge für sich und seine Begleiter aus. Seine Krieger folgten ihm bei die sem Rundgang; sie fuhren die Mbata an, stießen sie mit ihren Speeren zur Seite und schoben sie mit den Schilden von ihren Behausungen weg. Dann verteilten sich die Träger der Karawane im ganzen Ort und suchten sich Plätze, wo sie ihre Lasten abstellen konnten. Die Mbata, die bereits vor den Kriegern ängstlich zurückgewichen waren, zogen sich nun ganz aus ihrem Dorf zurück; sie verschwanden im Wald und überließen ihre Hütten der Karawane. Nur ihr Häuptling hatte sich nicht vom Fleck bewegt; da Mbemba ihm nicht durch eine Berührung mit der Lanze erlaubt hatte, aufzustehen, lag er noch immer mit dem Gesicht zur Erde da. Diesen Abend verpflegte sich die Karawane aus ihren mitgeführten Vorräten, und die Portugiesen ergänzten ihre Mahlzeit noch mit et was gepökeltem Fleisch, Schiffszwieback und Wein. Auch Unterhal tung wurde keine geboten. Die dumpfe, gedrückte Stimmung, die sie 99
alle überkommen hatte, seit sie im Urwald marschierten, schien so gar Pater Sebastião angesteckt zu haben, denn er begnügte sich mit le diglich einer kurzen Abendandacht und zog sich dann in die Hütte zurück, die der NsakuSoyo für ihn ausgesucht hatte. Trotzdem blieb Gil noch etwas länger auf; er saß im Schneidersitz auf dem moosbe wachsenen Waldboden, an die schlammverkrustete Wand der Hütte gelehnt, die Mbemba für ihn ausgesucht hatte. Nach einer Welle zog er sein Hemd aus und wischte sich damit den Schweiß ab, der seinen ganzen Körper überzog. Nicht einmal nachts ließen die drückende Hitze und die erstickende Feuchtigkeit nach; kaum hatte er sich abgetrocknet, da begann der Schweiß schon wieder zu rinnen. Sein Hemd stank und er ebenso. Er dachte an den kleinen Fluss, den sie überquert hatten. Am liebsten wäre er dorthin gelaufen, um seine Kleider zu waschen und ein wenig zu schwimmen. Aber ob wohl es nicht weit war, entschied er sich dagegen – nicht etwa, weil er fürchtete, den Weg nicht zu finden. Schließlich gab es die Straße, und die konnte man nicht verfehlen. Nein, was ihn abhielt, war diese merk würdige Dunkelheit des Urwaldes, eine Dunkelheit, wie er sie noch nie erlebt hatte, eine Dunkelheit, die so greifbar war, dass man glaubte, sie schneiden zu können. Er wollte nicht durch diese Dunkelheit laufen. Er zog sein Hemd wieder an – sobald er es ausgezogen hatte, war ein Schwarm von Insekten über seinen nackten Oberkörper hergefallen –, hob einen herumliegenden Zweig auf und ritzte damit eine Linie in die feuchte Erde. Denn dies war eine weitere Sorge, die das Dunkel des Waldes ihm bereitete: die Schwierigkeit, die Himmelsrichtungen und den Ablauf der Zeit festzustellen, wenn unter dem dichten, grünen Baldachin weder Sonne noch Sterne je zu sehen waren. Die Linie, die er zeichnete, repräsentierte den Zaire-Fluss und die Straße an seinem Ufer entlang, die in etwa von Westen nach Osten verlief, von Mpinda, das er mit einem Kreuz markierte, zu der Weggabelung – ein weiteres Kreuz – und darüber hinaus bis ungefähr zu dem Punkt, an dem Ma tadi liegen musste. Von der Gabelung aus machte er eine zweite Linie in südöstlicher Richtung – die Straße durch den Wald, auf der sich die Karawane jetzt befand. Doch von da an, ohne den Bezug zum Verlauf 100
des Zaire als Orientierungshilfe, ohne eine Möglichkeit, die Tageszeit feststellen zu können, zu der sie bestimmte Landmarken wie zum Bei spiel den kleinen Fluss, die Brücke oder dieses Dorf erreichten, würde seine ›Karte‹ immer ungenauer werden. Schon jetzt war er sich nicht mehr sicher, wo er den kleinen Fluss, die Brücke und das Dorf eintra gen sollte. Aber er musste es tun. Er musste jeden Abend eine solche Karte der Reiseroute zeichnen, so gut es eben ging, und sie sich einprä gen. Denn jede Karte, und sei sie auch noch so ungenau, war besser als gar keine, wenn es darum ging, den Rückweg durch diesen Dschun gel zu finden. Er blickte auf; Mbemba war aus seiner Hütte getreten. Offenbar hatte die jungenhafte, sanftere Seite seines Wesens die Oberhand gewonnen, und er hatte beschlossen, dass der noch immer demütig hingestreck te Mbata-Häuptling genug gelitten habe. Er ging zu ihm hinüber, und wie um zu beweisen, dass er nach wie vor der gebieterische Prinz sei, verpasste er ihm einen Tritt in die Rippen. Der Mann sprang behende auf und rannte in den Wald davon. Mbemba schaute ihm nach, bis er verschwunden war, und kam dann zu Gil. Er hatte seine Lanze nicht bei sich und war nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Doch sofort erschienen aus dem Dunkel seine Krieger mit den langen Röcken, ih ren Speeren und Schilden. »Ich schlafe, Gil Janesch. Du schläfst nicht.« »Bald werde ich auch schlafen, Mbemba.« »Was tust du, dass du nicht schläfst?« Er ging neben Gil in die Hok ke. »Was ist das, was du hier machst?« fragte er und zeigte auf die Lini en und Kreuze, die Gil auf die Erde gemacht hatte. »Eine Karte.« Gil sagte es auf Portugiesisch, um mapa, weil er das entsprechende Kongo-Wort nicht kannte – wenn es ein solches über haupt gab. »Eine Karte?« »Ngete, eine Karte. Schau. Hier, das ist nzere.« Er fuhr mit dem Zweig die erste Linie nach, die er gezeichnet hatte, und schrieb dann das Wort daneben, so wie er dachte, dass es buchstabiert würde: Enzere. »Und hier, das ist Mpinda.« Dabei deutete er auf das dazugehörige Kreuz 101
und trug auch diesen Namen in die ›Karte‹ ein. »An dieser Stelle biegt die Straße vom Fluss in den Wald ab. Und dies ist die Brücke über den kleinen Fluss, und hier das Dorf der Mbata, in dem wir jetzt sind.« Er kritzelte ›Embatta‹ neben das Kreuz, welches das Dorf symbolisierte. »Das ist um mapa. Sie zeigt die Straße, auf der wir marschieren, und die Dörfer und andere Stellen an der Straße, die wir passieren. Sie zeigt uns den Weg, den wir gehen.« Mbemba ließ die Arme locker zwischen seinen Beinen nach unten hängen und studierte die Linien, Kreuze und Buchstaben, die Gil in die feuchte Erde geritzt hatte. Dann bewegte er lässig einen Finger und fragte: »Was ist das?« »Nzere«, antwortete Gil. »Ve. Nein. Das ist nzere.« Mbemba führte den Zeigefinger an der Li nie entlang, die den Fluss repräsentierte. »Ich frage, was ist das?« wie derholte er und zeigte auf das Wort ›Enzere‹, das Gil neben die Linie geschrieben hatte. »Nzere«, wiederholte Gil; noch verstand er die Verwirrung nicht, die die Buchstaben bei Mbemba hervorriefen. »Du sagst, dies ist nzere und das ist nzere? Nein. Sie können nicht beide nzere sein.« »Du hast recht, Mbemba. Ich erkläre es nicht gut. Noch einmal: die lange, gerade Linie von hier nach dort, das ist nzere, der Fluss selbst. Und diese vielen kleinen Linien, die hier eng aneinander stehen, das ist das Wort nzere …« Aber noch während er sprach, merkte er, dass er einen dummen Fehler gemacht hatte. Es war nicht die Vorstellung einer Karte, was Mbemba verwirrte. Ein bißchen mehr Zeit und ein paar Wiederho lungen würden ihm reichen, um diesen Begriff zu verstehen. Schließ lich war es nur eine Zeichnung, ein Symbol für etwas greifbar Reales, und diese Menschen machten ja auch selbst immer wieder Zeichnun gen, die Symbole für greifbare, reale Dinge waren. Doch die Wörter und Namen, die Gil in die Karte eingetragen hatte, konfrontierten den jungen Prinzen mit einer ganz unbekannten, bestürzenden Idee. Gil hätte sie einfach weglassen sollen. Sie waren ohnehin nicht von 102
Bedeutung. Er beugte sich vor und begann, das Wort ›Enzere‹ aus zuwischen. Doch Mbemba packte ihn am Handgelenk. »Warum machst du das weg? Ich frage dich, was es ist. Sag mir, was es ist. Und auch, was das ist. Und was das ist.« Gil seufzte. Wie konnte er es erklären? Es fiel ihm nichts ein, und so versuchte er es noch einmal auf die gleiche Art und Weise wie zuvor: »Das ist das Wort für nzere. Und das ist das Wort für Mpinda. Und das ist das Wort für Mbata. So schreiben wir die Worte, die wir sprechen. Schreibt ihr nicht die Worte, die ihr sprecht?« »Schreibt?« Gil benutzte natürlich das portugiesische Wort escrever für schrei ben. »So zeichnen wir die Worte, die wir sprechen. Wir schreiben sie. Das ist escrita, Schrift. Zeichnet ihr nicht die Worte, die ihr sprecht? Schreibt ihr sie nicht? Habt ihr keine Schrift?« Mbemba betrachtete Gil mit einem herablassenden Stirnrunzeln, das seinen Ärger verriet und das Gil mittlerweile gut genug kannte, um zu wissen, dass es Mbembas Unvermögen verschleiern sollte – es sollte seine Unfähigkeit, Gils Worte zu verstehen, ebenso verbergen wie die Tatsache, dass die Vorstellung des Schreibens ihm vollkommen fremd war und in seiner Lebenserfahrung nicht vorkam. Gil schüttelte verzweifelt den Kopf. Er wusste nicht, wie man Schrift und Schreiben besser erklären konnte. Er verstand ja auch nicht viel mehr davon, als er Mbemba darzulegen versucht hatte, und konnte selbst nicht besonders gut schreiben und lesen. Er hatte es sich allein beigebracht, deshalb ging es ihm nur recht langsam von der Hand, und seine Buchstaben waren wacklig und unsicher. Nur jemand, der flie ßend lesen und schreiben konnte, jemand, der diese Kunst häufig an wandte und besser darin bewandert war, würde sie Mbemba richtig erklären können – nicht ein Schiffsjunge also, und auch kein gewöhn licher Matrose oder Soldat, sondern ein Kapitän, ein Lotse, ein Prie ster … »Pater Sebastião. Er kann dir genau erklären, was Schrift und Schrei ben ist.« 103
»Keba. Dann gehen wir zu Pader Sebastam.« »Jetzt? Nein, Mbemba. Er schläft jetzt. Morgen werden wir zu ihm gehen.« »Nein. Wir gehen jetzt zu ihm.« Mbemba stand auf. »Pader Seba stam!« Sein plötzlicher Ruf zerriss die Stille des dunklen Waldes und weckte eine ganze Reihe von Leuten auf. Segou lugte aus dem niedrigen Ein gang von Gils Hütte. Die beiden Hellebardiere traten vor ihre Behau sung. Die Kongo-Krieger wussten nicht, weshalb ihr Herr gerufen hat te, und kamen näher. »Pader Sebastam, ich werde mit dir sprechen.« Der Pater steckte den Kopf aus dem Eingang seiner Hütte, sah ver blüfft um sich und kam dann auf allen vieren herausgekrochen. Wegen der stickigen Luft und der drückenden Hitze trug er nicht seine schwe re Kutte, sondern nur ein langes Leinenhemd. »Pader Sebastam, sag mir, was Gil Janesch hier in die Erde zeich net.« »Was sagt er, mein Sohn? Ist irgend etwas geschehen?« »Nein, Padre. Es ist nur, dass ich versucht habe, ihm zu erklären, was Schrift ist …« »Schrift?« Inzwischen war auch der NsakuSoyo aus seiner Hütte getreten, und die Träger und Frauen der Soyo waren ebenfalls erschienen. »Ja. Ich habe ihm eine Karte unserer Route gezeigt und einige Na men hineingeschrieben. Mpinda. Zaire. Mbata. Ich glaube, die Kar te selbst hat er ganz gut verstanden, aber die Namen, die Schrift – ich weiß nicht, wie ich ihm das erklären soll. Ich glaube, diese Leute ken nen keine Schrift, Padre.« »Du sagst Pader Sebastam, er soll mir erklären, was escrita ist, Gil Ja nesch?« unterbrach Mbemba ungeduldig. »Ngete, Mbemba. Ich sage es ihm. Ich dachte, Ihr könntet es ihm bes ser erklären als ich, Padre.« »Er will wissen, was die Schrift ist?« »Ja.« 104
»O Herr Jesus, liebe Maria und lieber Joseph! Ich wusste, unser güti ger Gott hat ihm das Herz geöffnet an dem Tag, als er das Zeichen des Kreuzes machte. Das ist eine wunderbare Neuigkeit, mein Sohn. Wir haben seine Seele berührt, seinen Geist erweckt. Ja, natürlich muß er verstehen lernen, was die Schrift ist. Wir müssen ihn das Wort Gottes lehren.« Pater Sebastião kroch in seine Hütte zurück und erschien im Nu wieder mit seinem Brevier. Sein hageres, geflecktes Gesicht strahl te vor Glück. »Schrift, Mbemba. Dies sind die Worte der Schrift, die Worte unseres Herrn und Heilands Jesus Christus.« Er schlug das Bre vier auf und hielt dem jungen Prinzen die eng bedruckten Seiten vor das Gesicht. Mbemba trat verblüfft einen Schritt zurück. Er hatte etwas ganz an deres erwartet. »Was tut er, Gil Janesch? Du sagst, er wird mir erklä ren, was Schrift ist.« »Er sagt es dir. Sieh dir an, was er dir zeigt. Das ist auch Schrift.« Da Pater Sebastião nicht verstand, was die jungen Männer sagten, nutzte er den Augenblick und begann aus seinem Brevier vorzulesen: »Deprofundis clamaviad te, dominum …« Mbemba drehte sich zu ihm um. Gil bemerkte, dass der NsakuSo yo einen Schritt vortrat. Die Kongo-Krieger folgten seinem Beispiel, die beiden Hellebardiere kamen näher, und sogar Segou wagte sich vor die Hütte. Gil ahnte nur ungefähr, was der Pater vorlas, aber was im mer es auch war, es machte einfach keinen Sinn. Ein Gebet war zu die sem Zeitpunkt nun wirklich nicht das Richtige, geschweige denn auf Lateinisch. »Ich glaube nicht, dass Mbemba das wollte, Padre«, sagte er. »Geduld, mein Sohn. Dies sind die Worte Gottes. Seine Seele dür stet nach ihnen, und deshalb will er wissen, was die Schrift ist – damit er die Worte unseres Herrn verstehen kann.« Damit nahm der Priester sein Gebet wieder auf. Gil sah zu Mbemba. Zu seiner Überraschung und Erleichterung be obachtete dieser den Padre genau; er folgte seinem Blick, der von links nach rechts über die Zeilen und langsam auf der Seite nach unten wan derte, während seine Lippen die Worte formten. 105
»Er spricht die Worte der Schrift«, erklärte Gil hoffnungsvoll. Mbemba sah ihn an und betrachtete dann wieder Pater Sebastião. Er hatte schon zuvor gesehen, wie der Priester aus dem Brevier oder dem Messbuch vorgelesen hatte. Das war also nicht neu für ihn. Neu und spannend war die Vorstellung, dass zwischen dem Blick in das Buch und dem gleichzeitigen Sprechen von Worten ein Zusammenhang be stand, dass die gesprochenen Worte irgendwie mit den Strichen, Punk ten und den anderen Zeichen auf den Seiten des aufgeschlagenen Bre viers, in das Pater Sebastião schaute, in Beziehung standen. Gil frag te sich, ob Mbemba diesen Bezug tatsächlich herstellen, ob er die Ver bindung zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort erkennen konnte. Ob er selbst an der Stelle des jungen Prinzen wohl dazu in der Lage gewesen wäre? Erst jetzt, da er die Schrift sozusagen durch Mbembas Augen sehen konnte, erkannte er, welch wahrhaft er staunliche Erfindung das war. »Pader Sebastam?« Der Priester blickte von seinem Buch auf. »Das ist Schrift, Pader Sebastam?« »Was sagt er, mein Sohn?« »Er fragt Euch, ob das Schrift ist.« »Ja, Mbemba, das ist Schrift. Dies sind die Worte Gottes. Hier, nimm. Betrachte sie dir selbst.« Der Priester streckte die Hand aus, um Mbem ba das Brevier zu geben. Doch sein Arm wurde jäh zur Seite gestoßen, das Brevier flog durch die Luft und landete auf der Erde. Der NsakuSoyo trat zwischen die beiden und begann, laut und heftig auf den jungen Prinzen einzure den. »Was ist los? Was ist geschehen?« rief Pater Sebastião und lief be stürzt zu seinem Gebetbuch. Mbemba starrte NsakuSoyo wütend an, was diesen jedoch nicht im geringsten beeindruckte. Er schrie weiterhin auf den Prinzen ein und schimpfte ihn aus wie ein Kind. Offenbar hatte er als Juju-Mann, als Zauberer und Medizinmann das Ansehen und den Status, sogar einen Königssohn anzufahren. 106
»Was ist die Schwierigkeit, worum geht es, mein Sohn?« fragte Pater Sebastião, als er mit dem Brevier in der Hand wieder auftauchte. Und nun wirbelte der NsakuSoyo herum und baute sich vor dem Pa ter auf. Und alle Missgunst, Abneigung und auch Furcht, alles, was der Juju-Mann von Anfang an dem weißen Priester gegenüber empfunden hatte und nur schwer verbergen hatte können, brach nun aus ihm her aus. Er schlug dem Pater mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Nsa kuSoyo konnte nicht viel jünger sein als der Padre, war aber mit Si cherheit wesentlich stärker. Sein Schlag warf Pater Sebastião zu Bo den. »Du Heidenhund. Du Dreckskerl!« Diese Worte kamen von einem der Hellebardiere, Vasco Dias, dem frommeren – oder abergläubische ren – der beiden. Er stürmte auf den NsakuSoyo zu. »Nein, Dias, nicht! Mbemba.« Gil eilte an Pater Sebastiãos Seite und warf dabei einen Blick über die Schulter zurück auf Mbemba in der Er wartung, dass dieser etwas gegen den NsakuSoyo unternehmen wür de. »Es ist alles in Ordnung, mein Sohn. Mir ist nichts passiert. Es ist nicht der Rede wert«, versicherte Pater Sebastião und versuchte, auf zustehen. »Ruht Euch einen Augenblick aus, Padre.« »Nein, nein, es geht schon wieder. Hilf mir nur, auf die Füße zu kom men.« Mit Gils Unterstützung stand er auf, dann fasste er sich an den Mund, um zu sehen, ob er blutete. Aber er war nicht verletzt. »Warum hat er das getan?« fragte er. »Ich weiß es nicht.« Gil musterte Mbemba. Der junge Kongo-Prinz hatte dem NsakuSoyo nicht Einhalt geboten. Der Zauberer schrie ihn noch immer an. Mbemba hörte ihm zwar nicht zu, aber er erwiderte auch nichts. Er tat gar nichts. Weshalb nicht? Er war ein Prinz. Pater Sebastião stand unter seinem Schutz. Warum be strafte er den NsakuSoyo nicht für sein unerhörtes Benehmen? Warum protestierte er nicht zumindest dagegen? War der NsakuSoyo zu mäch tig? Oder war Mbemba zu jung und unerfahren? Und was hatte den NsakuSoyo überhaupt zu diesem Gefühlsausbruch bewogen? Hatte er 107
in Mbembas Interesse an dem Priester, der aus einem Buch vorlas, eine größere Gefahr gesehen als in dem Interesse, das die Träger und Frauen dem Rosenkranz und dem Kruzifix entgegengebracht hatten? Oder war es das Brevier selbst, der Zauber der Schrift an sich, was ihn veranlasst hatte, zur Verteidigung seines eigenen Glaubens gewalttätig zu werden? »Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Pater Sebastião. »Nein, Padre, bitte, lassen wir die Sache für den Augenblick auf sich beruhen.« »Aber es handelt sich doch nur um ein dummes Missverständnis, mein Sohn. Wir müssen es richtig stellen. Wir dürfen diese gottgege bene Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Verstehst du das nicht? Wir haben Mbembas Seele in unseren Händen.« Er trat erneut auf Mbemba und den Juju-Mann zu. Und wieder stürzte sich der Zauberer wutentbrannt auf ihn. »Nein!« schrie Gil und warf sich zwischen die beiden, so dass der Arm des Juju-Manns dieses Mal ihn traf anstatt Pater Sebastião. Er taumelte nach rückwärts auf den Geistlichen, und sie stürzten beide zu Boden; Gil fiel auf den Priester, dessen Kopf mit einem dumpfen Ge räusch auf die Erde aufschlug. »Du Haufen Hundescheiße!« »Pass auf, Dias!« Dias war wieder einen Schritt vorgetreten, doch auf Gomes' Warnruf hin blieb er stehen. Gomes hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Trotz dem kamen die Kongo-Krieger auf sie zu, die Lanzen und Schilde dro hend erhoben. Und die beiden Hellebardiere trugen weder Rüstung noch Waffen. In diesem Augenblick, da die Zeit stillzustehen schien und die Ge fahr förmlich zu greifen war, schritt Segou ein. Segou war derjenige, der handelte, der, obwohl er ebenfalls weder Rüstung noch Waffen trug, vorsprang, um Gil und dem Priester zu Hilfe zu kommen. Was dachte er in jenem Augenblick? Wollte er Gil und den Priester vor ei ner weiteren Attacke des Zauberers schützen? Oder war sein Hass auf die Kongo und die Soyo, die ihn so verächtlich behandelten, der Grund für seine impulsive, unvernünftige, mutige Tat? 108
Auf der Stelle bohrte sich eine Lanze in seinen Bauch. »Mutter Maria!« schrie Gil. Segou krümmte sich vornüber und umklammerte den Schaft der Lanze. Dann richtete er sich mit vor Überraschung und Entsetzen weit aufgerissenen Augen wieder auf, ließ den Schaft los und fiel schließlich ganz langsam nach hinten. Die glänzende, stählerne Klinge der Lanze ragte bluttriefend knapp unterhalb der Taille aus seinem Rücken und grub sich beim Aufschlagen des Körpers in die Erde. Der Krieger, der den tödlichen Stoß ausgeführt hatte, ließ die Waffe los, als sein Opfer zu Boden ging. Segou wurde an der Erde festgenagelt. Aber noch lebte er; wieder ergriff er den Schaft des Speers, der aus seinem Bauch rag te. Und er begann, mit den Beinen zu schlagen. Der Krieger trat ihm auf den Brustkorb und zog den Speer langsam aus Segous Körper; da bei zerschnitt er ihm die Hände. Blut quoll aus ihnen hervor, Blut quoll aus Segous Bauch und Mund. »Mutter Maria, heilige Muttergottes!« Gil stürzte zu seinem Freund und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Der Ashanti sah ihn mit glasigem Blick an. »Mein Kleiner«, flüsterte er, dann schloss er die Augen. Seine Beine hörten zu schlagen auf, die Hände sanken auf die Erde. »Segou. Segou!« Segou gab keine Antwort. »Er ist tot«, sagte Gil ungläubig. »Sie haben ihn umgebracht.« Er sah auf und ließ den Blick über die Umstehenden schweifen. »Sie haben ihn umgebracht.« »Der dumme Wilde, was hat er sich bloß dabei gedacht?« brummte Gomes ärgerlich. »Was? Was hast du gesagt?« Gomes schwieg unwirsch; sein Kamerad Dias schob ihn zur Seite. »Er ist tot«, sagte Gil, lauter diesmal. Abscheu und Entsetzen schwan gen in seiner Stimme mit. »Sie haben ihn umgebracht. Sie haben Se gou ermordet!« Die Kongo-Krieger hielten ihre Lanzen und Schilde noch immer kampfbereit, und von der Waffe, die Segou getötet hatte, tropfte Blut. 109
Die Soyo-Träger und die Frauen standen da, der NsakuSoyo, die Hel lebardiere, Mbemba – alle standen sie einfach nur da und blickten auf Segou, den toten Ashanti, ohne die leiseste Regung von Mitleid erken nen zu lassen. Für sie war er nur ein Guineer gewesen, ein Sklave, ein Hund, weiter nichts. »Padre, Segou ist tot, sie haben Segou umgebracht, Padre.« Erst jetzt bemerkte Gil, dass Pater Sebastião nicht bei den anderen stand. Er lag noch immer auf der Erde, flach auf dem Rücken wie Se gou. »Padre? O mein Gott, Padre!« Gil sprang auf und kniete neben dem Priester nieder. »Pater Sebastião. Bitte … Lieber Gott, bitte!« Der alte Mönch öffnete die Augen. »Mein Kopf«, stöhnte er, hob den Kopf ein wenig und führte langsam und umständlich eine Hand an seine Tonsur. Dieses Mal waren seine Finger blutig. »Ich habe mir den Schädel angeschlagen«, stellte er verwirrt fest. »Ich glaube … ich muß wohl in Ohnmacht gefallen sein.« »Könnt Ihr aufstehen?« Pater Sebastião richtete sich vorsichtig auf und stützte sich auf die Ellbogen. Blut rann von seinem glattrasierten Schädel über den Haar kranz in den Nacken. »Gleich, mein Sohn. Ich glaube, ich bin durch den Aufschlag auf den Boden ohnmächtig geworden.« »Segou ist tot, Padre.« »Segou?« »Sie haben ihn umgebracht, Padre.« »Wer hat ihn umgebracht?« »Die Kongo. Mit einer Lanze durchbohrt.« »Weshalb?« »Weshalb? Ich weiß nicht, weshalb. Was spielt denn das für eine Rol le?« Gil konnte seine Gefühle nicht mehr beherrschen; Tränen traten ihm in die Augen. »Er ist tot, Padre! Begreift Ihr nicht? Er hat versucht, uns zu helfen, und sie haben ihn mit einer Lanze totgestochen!« »Wo ist er jetzt?« »Wo er jetzt ist? Wo soll er schon sein? Er liegt da, wo sie ihn um gebracht haben!« Gil wandte sich um und warf einen Blick auf Se 110
gou. Schon jetzt schwärmten Fliegen um sein Gesicht, und glänzen de, schwarze Käfer krochen in dem geronnenen Blut, das aus seinem Bauch ausgetreten war. »Oh, deckt ihn doch zu!« schrie Gil die beiden Hellebardiere an. »Holt etwas, womit ihr ihn zudecken könnt! Habt ihr denn überhaupt kein Mitgefühl?« Aber die beiden nahmen keine Notiz von ihm. Sie starrten unbeweg lich auf die Kongo-Krieger, wie gelähmt vom Anblick der tödlichen Speere, von denen einer den Ashanti durchbohrt hatte – so schnell und mühelos, als handelte es sich nicht um Haut, Fleisch und Knochen, sondern um weiche Butter. Doch dann sagte Mbemba etwas zu seinen Männern, und sie ließen Speere und Schilde sinken und verschwanden in der Dunkelheit. Auch die Soyo-Träger und die Frauen zerstreuten sich, und der NsakuSoyo schlenderte mit grimmiger, aber zufriedener Miene zu seiner Hütte. Nur Mbemba blieb noch einen Augenblick stehen, betrachtete Gil mit ausdruckslosem Gesicht, machte dann wortlos kehrt und ließ die vier weißen Männer mit dem Leichnam des getöteten Ashanti allein in der Mitte des Dorfes zurück.
Pater Sebastião reiste jetzt in einer Sänfte. Er betonte, dass er sich nur so lange tragen lasse wolle, bis er sich von dem Schlag auf seinen Kopf erholt habe. Jeden Abend war er sicher, dass er am nächsten Morgen wieder laufen könne. Aber was er in seiner gutmütigen Zuversichtlich keit als kleines Missgeschick abtat – er weigerte sich, darauf einzuge hen, wie es eigentlich dazu gekommen und wer dafür verantwortlich gemacht werden konnte –, war in Wirklichkeit eine ernsthafte Verlet zung. Die Blutung hörte zwar auf, die Schwellung ging zurück, und die Platzwunde begann zu heilen, so dass er nach ein paar Tagen kei nen Verband mehr brauchte. Aber er musste sich bei dem Aufschlag etwas zugezogen haben, das schlimmer war als eine Schwellung und eine blutende Wunde. Ihm war ständig schwindlig, er litt unter hefti gen Kopfschmerzen, sein Sehvermögen hatte schlagartig nachgelassen, 111
und oft blutete er aus der Nase. Er konnte die Morgen- und Abendan dachten nur mehr mit größter Mühe abhalten. Deshalb ging ihm jetzt Vasco Dias dabei zur Hand. Das überraschte Gil; er hatte gedacht, dass die täglichen Gebete wegen Pater Sebastiãos Verfassung immer sporadischer werden und allmählich ganz aufhören würden. Doch das wollte weder Gomes noch Dias erlauben. Der Mord an Segou hatte das Selbstvertrauen der beiden weit mehr in Mitleiden schaft gezogen, als sie zugeben wollten. Natürlich glaubten sie, dass diese wilden Guineer viel eher bereit seien, einen der ihren zu töten als einen Weißen – zwischen einem Ashanti, einem Soyo oder Kongo machten die Hellebardiere keinen Unterschied –, dass ihnen ihre wei ße Haut, die für die Afrikaner so etwas Neues und Ungewohntes war, einen Schutz biete, den der arme Segou von vornherein nicht genossen hatte. Trotzdem wollten sie kein Risiko eingehen; sie hätten es für toll kühn gehalten, unter den plötzlich so ungewissen Umständen auf Got tes Segen zu verzichten und nicht mehr um seinen Schutz zu beten. »Wie geht es Euch, Padre?« »Viel besser, mein Sohn. O ja, viel besser. Ab morgen werde ich wie der laufen können, du wirst sehen.« Pater Sebastião sagte es mit zu sammengekniffenen Augen, als könne er so die schlimmen Kopf schmerzen lindern, die das Holpern der Sänfte ihm bereitete. Seinen breitrandigen Hut hielt er mit gefalteten, vom Rosenkranz umschlun genen Händen vor die Brust; unter seinen Nasenlöchern klebte geron nenes Blut. »Ja, morgen werde ich endlich mit Mbembas Unterweisung beginnen können.« »Mbembas Unterweisung?« »Ich werde ihn das Wort Gottes lehren. Er wünscht doch noch im mer, die Schrift zu verstehen, nicht wahr, mein Sohn?« »Ja, Padre«, erwiderte Gil, doch er war sich alles andere als sicher, ob das der Wahrheit entsprach. »Oh, welch großer Triumph. Deo gratias.« Pater Sebastião öffnete die Augen. »Wir haben eine Seele gewonnen, mein Sohn. Wir haben eine Seele vor der ewigen Verdammnis gerettet. Wir werden seine Taufe sehr feierlich vollziehen.« 112
»Ja, Padre. Aber erregt Euch nicht zu sehr. Ihr braucht Ruhe.« Pater Sebastião schloss wieder die Augen. Gil blickte nach hinten, ohne die Hand von der Sänfte zu nehmen, da er bemüht war, das Sto ßen und Schwanken etwas abzufangen. Der NsakuSoyo ging ein paar Schritte hinter ihm, als wollte er wie zum Hohn Segous Platz einneh men. Gil hasste den Zauberer; am liebsten hätte er ihn weggejagt, aber seit der Juju-Mann demonstriert hatte, wieviel Macht er sogar über Mbemba besaß, fürchtete Gil ihn auch. Ein Stückchen vor der Sänfte des Padre marschierten Gomes und Dias einträchtig nebeneinander. Sie blieben jetzt immer in der Nähe des Priesters, behielten tagsüber, während des Marsches, seine Sänfte im Auge und bewachten nachts abwechselnd die Hütte, in der er schlief – sie fürchteten, Gott könn te ihnen seine Gnade entziehen, falls der Priester stürbe. Außerdem waren sie seit Segous Ermordung immer in voller Rüstung und legten die Hellebarden kaum mehr aus der Hand. Auch Gil trug seither wie der Kettenhemd, Helm und Kurzschwert. Seit sie gesehen hatten, wie leicht die stählernen Klingen dieser Lanzen einen Körper durchboh ren konnten, war sich zwar keiner von ihnen mehr sicher, ob Ketten hemd und Brustharnisch einen solchen Angriff wirkungsvoll abweh ren konnten, aber auch in dieser Hinsicht wollten sie kein Risiko mehr eingehen. Vor den Hellebardieren war die Straße leer. Die Trommler und Blä ser und Fetischträger, die Jäger, Fährtensucher und Treiber waren wie immer weit voraus. Aber auch Mbemba und seine Leibwache waren nicht zu sehen; Gil hatte keine Ahnung, ob sie vor oder hinter ihnen marschierten. Seit Segous Ermordung hatte er den Kongo-Prinzen kaum zu Gesicht bekommen und kein Wort mit ihm gesprochen; wer allerdings wem aus dem Weg ging, wusste er nicht zu sagen. Gil emp fand für Mbemba keineswegs dieselben Hassgefühle wie für den Nsa kuSoyo, aber er verachtete ihn dafür, dass er nicht Manns genug gewe sen war, um gegen den Zauberer einzuschreiten. Was Mbemba seiner seits empfand, konnte er nur raten; und er vermutete, dass er ihn mied, weil er sich schämte. Der Marsch wurde immer beschwerlicher. Abgesehen von der quä 113
lenden, drückenden Hitze und der beklemmenden Düsterkeit des Ur waldes, die allein schon Strafe genug gewesen wären, wurde die Straße, wenn sie auch nach wie vor breit und gut gepflegt war, immer steiler und kurvenreicher. Gil bemerkte, dass sie nun in die südlichen Aus läufer der Gebirgskette hineinführte, die der Zaire durchschnitt, und dass die zahlreichen Kehren und Schleifen wohl die steilsten Anstiege erleichtern sollten. Er war froh, dass Pater Sebastião in der Sänfte saß und nicht zu Fuß gehen musste. Selbst ohne seine Verletzungen hät te dieser Teil des Weges dem alten Franziskanermönch unzumutbare Anstrengungen abverlangt. Am Vormittag des vierten oder fünften Tages nach Segous Ermor dung, dem vierzehnten oder fünfzehnten Tag seit dem Aufbruch der Ka rawane in Mpinda – Gil vermutete, dass er sich, seit sie sich im Dschun gel befanden, um mindestens einen Tag verzählt hatte –, sah er plötzlich Mbemba und seine Krieger in etwa hundertfünfzig Fuß Entfernung am Wegrand warten. Die Männer kauerten auf einem riesigen, überhängen den Felsblock, um den sich die Straße herumwand. Als die Hellebardie re, Pater Sebastiãos Sänfte und Gil in den Blickwinkel der Kongo kamen, sprang Mbemba auf die Straße herunter. Gomes und Dias nahmen ihre Piken von den Schultern, blickten alarmiert zu den Kriegern hinauf – sie dachten wohl sofort an einen Überfall – und hielten inne. Hinter ihnen blieben die Sänftenträger und Gil stehen. Der NsakuSoyo ging weiter, bis er an der Sänfte angelangt war, und gab dann den Trägern und Frauen hinter ihm ein Zeichen, zu warten. Auch Mbemba begab sich zu Pater Sebastiãos Sänfte und schaute hinein. Der alte Mönch merkte von alle dem nichts. Er saß mit geschlossenen Augen da; wahrscheinlich hatte er nicht einmal registriert, dass die Sänfte angehalten hatte. »Er ist sehr schlimm verletzt«, sagte Gil. »Der NsakuSoyo hat ihn sehr schlimm verletzt.« Mbemba ignorierte seine Worte. Er wusste auch ohne sie bestens Be scheid. Als er den Soyo etwas zurief, kamen sofort die Träger für die anderen Sänften angelaufen. »Du steigst jetzt in die Sänfte, Gil Janesch«, sagte er. »Ich gehe jetzt auch in die Sänfte.« 114
Gil blickte auf den NsakuSoyo. Mbemba hatte nichts davon gesagt, dass auch der Zauberer nun in der Sänfte Weiterreisen dürfe, aber Gil wusste, es handelte sich nicht um eine Strafe für den Vorfall mit Pa ter Sebastião. Dem NsakuSoyo brauchte man nicht zu sagen, dass er ab jetzt die Sänfte benutzen könne; der Etikette zufolge durfte er das, so bald Mbemba es tat. »Nein, Mbemba, ich steige nicht in die Sänfte.« Eigentlich wäre Gil froh darüber gewesen, getragen zu werden, aber jetzt hatte er die Möglichkeit, sich wenigstens ein kleines bißchen an dem Juju-Mann zu rächen. Denn, so schrieb es das Protokoll vor, wenn er nicht die Sänfte benutzte, dann würde auch Mbemba sich nicht tra gen lassen, und dann würde auch der verhasste Zauberer weiterhin marschieren müssen. Wie kindisch und sogar sinnlos dies auch sein mochte – so konnte Gil den NsakuSoyo dafür bestrafen, was er Pater Sebastião und Segou angetan hatte. Und als er sah, wie sich das Gesicht des Zauberers bei seiner Bemerkung ärgerlich verzog, verspürte er eine gewisse Befriedigung über seinen Entschluss. »Nein, Mbemba, ich steige nicht in die Sänfte.« »Höre, Giljanesch. Die Straße wird jetzt sehr schwierig. Dort, hinter diesem Felsen, wird die Straße sehr schwierig für dich. Für diese Strek ke steigst du in die Sänfte.« »Nein, du kannst ja die Sänfte benutzen, Mbemba. Du nimmst die Sänfte, wenn die Straße für dich schwierig wird. Ich bin stark genug für die Straße, gleichgültig, wie schwierig oder anstrengend sie wird. Ich steige nicht in die Sänfte.« Mbemba schüttelte verärgert den Kopf. »Du wirst sehen«, meinte er, »die Straße ist so schwierig, wie ich sage.« Damit reihte er sich neben Gil ein, und die Gruppe setzte ihren Weg fort. Nach dem Felsüberhang konnte Gil den Verlauf des Weges überblik ken, und es sah tatsächlich so aus, als würde der Marsch nun noch an strengender werden. Steil und kurvenreich wand sich die Straße ost wärts den Berg hinauf, verschwand dann im Wald, kam in wesent lich größerer Höhe wieder in Sicht und führte in westlicher Richtung erneut in den Dschungel zurück. Zwischen den niedrigeren und hö 115
heren Abschnitten war eine tiefe und breite Schlucht erkennbar, die nicht ganz so von üppiger Vegetation überwuchert war wie der Urwald zu beiden Seiten davon, dafür aber gewaltige Felsen und Granitblöcke aufwies. Es sah ganz so aus, als würde am Grund dieser Schlucht ein recht breiter Fluss verlaufen. »Es tut mir leid um Pader Sebastam, Gil Janesch«, bemerkte Mbem ba nach einer Weile. »Und was ist mit Segou, Mbemba?« fragte Gil, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Tut es dir auch leid um Segou?« »Deinen Sklaven?« »Er war nicht mein Sklave. Er war mein Freund.« »Wieso war er dein Freund? Kam er aus deinem Land auf dem ande ren Ufer des Meeres?« »Nein. Aber trotzdem war er mein Freund.« »Das verstehe ich nicht.« »Auch du kommst nicht aus meinem Land auf dem anderen Ufer des Meeres, nicht wahr?« »Nein.« »Und bist du mein Freund?« Diese Frage verwirrte Mbemba sichtlich. Er blickte Gil lange an. Dann lächelte er plötzlich wie ein zufriedenes Kind und sagte: »Ja, Gil Janesch, ich bin dein Freund.« »Ja, Mbemba, du bist mein Freund«, wiederholte Gil ernst. »Und ge nauso war Segou mein Freund.« Er ging eine Weile schweigend wei ter, und dann sagte er: »Aber Segou war ein guter Freund. Du bist ein schlechter Freund.«
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KAPITEL 7
E
ine Woche nach dem Zwischenfall, bei dem Pater Sebastião ver wundet und Segou ermordet worden war, erlag der Geistliche sei nen Verletzungen. Es war der siebzehnte Tag seit dem Aufbruch von Mpinda – vielleicht auch der sechzehnte oder sogar der achtzehnte; Gil hatte sich inzwischen um mindestens zwei Tage verzählt, wusste je doch nicht, ob er zu viele oder zu wenige Tage gerechnet hatte. Der Tod des Padre war für ihn und die Hellebardiere ein schwerer Schock. Kei ner hatte bemerkt, wie schlimm seine Verletzung wirklich gewesen war: Er hatte einen Schädelbruch erlitten. Dias fand ihn am Morgen tot in seiner Hütte, als er ihn zur Morgen andacht holen wollte. Der Tod des Priesters traf den Soldaten so un vorbereitet, dass er die Hütte wieder verließ und sagte, der Zustand des Padre sei so schlecht, dass man ihn nicht wecken könne. Es war Go mes, der geistesgegenwärtig ein Ohr auf die Brust des alten Franziska ners legte und feststellte, dass sein Herz nicht mehr schlug. Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich in einem Dorf der Mbata – dem letzten, wie sich herausstellen sollte. Die Karawane hatte sich be reits beim ersten Tageslicht versammelt, das durch die Kronen der ho hen Bäume drang, und Mbemba und der NsakuSoyo warteten darauf, dass die weißen Männer ihren kurzen, allmorgendlichen Gottesdienst abhielten. Gil folgte Gomes in die Hütte des Paters und legte eben falls prüfend ein Ohr auf seine Brust. Dann kniete er neben dem al ten Mann nieder und betrachtete sein Gesicht. Es sah nicht aus wie das Antlitz eines friedlich Entschlafenen; es glich vielmehr einer schmerzverzerrten Fratze. Ein schrecklicher Gedanke stieg in Gil auf, als er den Toten betrachtete, ein Verdacht, den er jedoch nicht zu äußern wagte: Vielleicht war der alte Mann gar nicht an seiner Kopfverletzung 117
gestorben, sondern in der Nacht auf Befehl des NsakuSoyo ermordet worden. Gil schauderte, als er aus der Hütte trat. »Pater Sebastião ist tot«, sagte er zu Mbemba. Der junge Prinz antwortete ihm nicht sofort; zweifellos verblüffte ihn diese Nachricht. Der NsakuSoyo jedoch wandte sich rasch von ih nen ab. »Hast du gehört, was ich sage, Mbemba? Pater Sebastião ist tot!« Gils bebende Stimme rutschte um eine Oktave nach oben. »Nein, Pader Sebastam ist nicht tot«, entgegnete Mbemba endlich und ging auf die Hütte zu. Dias und Gomes standen vor dem niedrigen Eingang und versperr ten ihn mit ihren gekreuzten Hellebarden. »Er ist nicht tot«, wiederholte Mbemba ärgerlich und starrte zornig auf die Soldaten. Die beiden rührten sich nicht vom Fleck. Die Angst, die der Tod ih res Priesters in ihnen aufwühlte, die schreckliche Erkenntnis, dass der freundliche alte Franziskanermönch nun nicht mehr da sein würde, um ihr Gebet zu leiten, ihre Beichte zu hören und bei Gott Fürbitte für sie einzulegen, schien ihnen einen Mut verliehen zu haben, den sie zuvor nie gezeigt hatten – oder aber sie waren vor Entsetzen wie ge lähmt. »Lasst ihn vorbei«, sagte Gil auf portugiesisch zu ihnen. »Er soll es mit eigenen Augen sehen.« Darauf gaben Dias und Gomes den Eingang frei, und Gil folg te Mbemba in die Hütte. Mbemba kniete neben Pater Sebastião nie der und betrachtete das hagere, aschfahle, schmerzentstellte Gesicht. Dann schob er eine Hand unter den Kopf und hob ihn an; mit der an deren Hand begann er, eine Wange des alten Mannes zu reiben, ihn zu zwicken, an der Nase zu drücken und an den Lidern zu ziehen. »Hör auf. Er ist tot. Lass ihn in Frieden.« »Nein, er ist nicht tot. Ich sage, er ist nicht tot.« Mbemba stand auf. Er wusste genau, dass der Priester nicht mehr am Leben war, aber er wollte es nicht wahrhaben. Es schien für ihn fast ein ebenso großer Schock zu sein wie für Gil und die Hellebardiere. »Er schläft nur. Der 118
NsakuSoyo wird ihn mit einem Zauber aufwecken.« Damit kroch er aus der Hütte. »Nein!« Gil stürzte Mbemba nach. Doch dieser hatte den Juju-Mann schon herbeigerufen; er näherte sich bereits mit seiner Rassel der Hütte. »Er soll wegbleiben. Hörst du, Mbemba? Ich will nicht, dass dieser Teufel zu ihm geht; er wird Pater Sebastião nicht berühren. Das erlau be ich nicht!« In einem Anfall wilder Wut zog Gil sein Schwert. »Er hat Pater Sebastião getötet. Wenn er es wagt, ihn noch einmal zu be rühren, bringe ich ihn um. Hörst du, was ich sage, Mbemba? Wenn er es noch einmal wagt, Pater Sebastião mit seinen schmutzigen Fin gern anzufassen, bringe ich ihn um, so wie er Pater Sebastião und Se gou umgebracht hat!« Zum Glück war Gil so erregt, dass diese Worte auf portugiesisch aus ihm heraussprudelten und nur die Hellebardiere ihn verstanden. »Ist das dein Ernst, Junge?« zischte Gomes. »Wenn du das wirklich meinst, Junge, dann solltest du dich auf deinen eigenen Tod gefasst machen.« »Wir sollten alle darauf gefasst sein zu sterben!« schrie Gil und hielt dem NsakuSoyo das Schwert vor die Brust. »Nicht einen Schritt wei ter, du Zauberer, du Hexer des Teufels! Keinen Schritt mehr, du Scheiß kerl!« Er stieß nach ihm, so dass der Zauberer erschrocken zurück wich. »Kyrie Eleison. Christe Eleison. Herr, vergib mir. Christus vergib mir. Ich bin bereit zu sterben!« sang Dias laut und senkte seine axtbewehr te Pike. Doch Mbemba sprang zwischen Gil und den NsakuSoyo, so dass Gils Schwert nun auf ihn gerichtet war. »Ve, ve, Gil Janesch!« rief er, während die Spitze der Waffe seine Brust zerkratzte. »Tu das nicht, Gil Janesch. Der NsakuSoyo wird Pader Sebastam nicht berühren, wenn du es nicht willst.« »Ich will es nicht.« »Keba. Es wird so sein, wie du es willst.« Gil senkte das Schwert, steckte es jedoch nicht in die Scheide zurück. 119
Das Herz schlug ihm bis zum Hals; Ströme von Schweiß rannen ihm über das Gesicht. Er zitterte so sehr, dass die Waffe in seiner Hand ge gen sein Bein schlug. Dias und Gomes hielten ihre Piken kampfbereit; auch sie standen keuchend und schwitzend da und zitterten am gan zen Leib. »Du bist ja verrückt, Junge«, flüsterte Gomes heiser, aber nicht ohne Bewunderung. Gil nahm davon keine Notiz. Er hielt den Blick auf den NsakuSoyo geheftet, der sich von seinem Schrecken erholt hatte und nun wütend auf Mbemba einredete. Nach einer Welle erwiderte Mbemba etwas und wandte sich dann ab, doch dies erzürnte den Juju-Mann nur noch mehr. Es war erkennbar, dass er sich über Gils Drohung beschwerte und darüber, dass Mbemba nichts dagegen unternahm. Als Segou ähn lich reagiert hatte, hatte der Prinz ihn ohne zu zögern und ohne jegli ches Mitleid von seinen Kriegern töten lassen. Warum also verfuhr er mit Gil nicht ebenso? Was er getan hatte, war um einiges bedrohlicher gewesen als die Tat des Ashanti. Mbemba fertigte den Zauberer kurz ab, ohne sich zu ihm umzudrehen. Das brachte den Juju-Mann vollends aus der Fassung; er packte Mbemba zornig am Arm. Doch nun drehte sich Mbemba um und stieß den NsakuSoyo von sich weg. Ein entsetzter Aufschrei brach aus den Soyo heraus, als sie sahen, wie ihr Priester misshandelt wurde. »Du hast Unheil genug angerichtet, NsakuSoyo«, brauste Mbemba auf. »Mein Vater, der König, hat mich gesandt, um die weißen Männer zu ihm zu bringen, die aus ihrem Land im Himmel zu uns herabgeflo gen sind. Einer ist bereits tot. Es wird nicht noch einer sterben!« Der NsakuSoyo schwieg darauf, aber in seinem verschlossenen, an gespannten Gesicht lagen Hass und Wachsamkeit. Seine Miene schien zu sagen, dass Mbemba für sein Verhalten bezahlen würde – dafür, dass er die Partei der weißen Männer ergriffen und sich gegen ihn, ei nen Zauberer des Königs, gestellt hatte. Sie begruben Pater Sebastião in der Hütte, in der er gestorben war. Zuvor hatte es noch einen Streit darüber gegeben, wo er bestattet wer den sollte. Die Portugiesen hatten befürchtet, dass die Mbata nach 120
der Rückkehr in ihr Dorf das Grab entweihen würden. Gomes war überzeugt davon, dass diese Menschen Kannibalen seien – seiner An sicht nach waren alle ›Guineer‹ Kannibalen – und dass sie den Leich nam des armen Padre ausgraben und verspeisen würden. Aber diese Möglichkeit bestand immer, gleichgültig, wo sie ihn beerdigten, es sei denn, sie machten das Grab nicht kenntlich. Dias jedoch beharrte dar auf, die Grabstätte müsse ein Kreuz bekommen; dies zu unterlassen wäre ein Frevel. Es war Mbemba, der den Disput schließlich beendete. Während Gil und die beiden Hellebardiere den Leichnam des Paters für die Bestattung fertigmachten, hatte er sie genau beobachtet, um zu sehen, wie die weißen Männer einen ihrer Priester für die Reise zu Nz ambi Mpungu vorbereiteten, und dabei war ihm ihre Sorge allmählich bewusst geworden. »Lass ihn in der Hütte schlafen, Gil Janesch«, sagte er. »Lass ihn dort schlafen, so wie er ist.« Gil und die Soldaten hatten dem Priester die Messgewänder ange legt und ihm den Rosenkranz mit dem Kruzifix zwischen die gefalte ten Hände gesteckt. Sie knieten unter dem niedrigen Dach der Hütte neben dem Leichnam und schauten erst auf, als Mbemba im Eingang erschien. »Wir werden das Haus mit Lehm verschließen, dann wird er nicht gestört. Ich werde es den Mbata sagen. Ich sage ihnen, dass das nun ein heiliger Ort ist, der nicht gestört werden darf.« Gil übersetzte die Nachricht für Gomes und Dias. »Das wäre ja wie ein Mausoleum«, meinte Dias etwas unsicher. »Aber das wäre doch in Ordnung, meint ihr nicht?« »Wir könnten davor ein Kreuz aufstellen.« »Ja, das wäre schon in Ordnung«, stimmte Gomes zu; zweifellos dachte er dabei auch an die Arbeit, die sie sich sparten, wenn sie kei ne Grube auszuheben brauchten. »Ja, das wäre gut, wenn er nur die se gottverdammten Heiden dazu bringt, sich von dem Ort fernzuhal ten.« »Die Mbata werden ihn in Ruhe lassen, nicht wahr, Mbemba?« frag te Gil. »Versprichst du mir das?« 121
»Ngete, Gil Janesch, ich sage es dir: Die Mbata werden ihn nicht stö ren. Er wird in Ruhe schlafen.« »Er verspricht, dass die Mbata die Hütte in Ruhe lassen werden.« »Dann bin ich damit zufrieden. Was meinst du, Dias?« Dias nickte bedächtig. »Gut, aber zuerst müssen wir ein Gebet spre chen.« »Du sagst es.« »Ich kann nicht lesen. Aber du kannst es, Junge.« Dias holte Pater Sebastiãos Brevier aus der Truhe mit den Messutensilien hervor und drückte es Gil in die Hand. »Du liest das Gebet.« »Ich kann nicht lateinisch lesen«, protestierte Gil und schlug das Buch auf einer beliebigen Seite auf. »Ich könnte nicht einmal das Ge bet für die Toten finden.« »Aber wir müssen ein Gebet haben. Er hat nicht einmal die Letz te Ölung bekommen. Deshalb muß man zumindest ein Gebet für ihn sprechen.« Gil blätterte das Brevier durch und suchte nach einem Abschnitt, einem Spruch, einem Satz, der ihm bekannt vorkam. »Dem qui inter apostólicos sacerdos familum tuum …« Seine Stimme wurde immer leiser, und er blätterte weiter. »Das Pater Noster«, sagte er schließlich. »Das wäre doch gut, meint ihr nicht auch? Das ist es, hier. Ich glaube, das kann ich auch lesen.« »Also, dann lies.« Sie nahmen ihre Helme ab, und Gil begann vorzulesen. »Pater no ster, qui es in caelis …« Er merkte, dass Mbemba ihm zuschaute, genau wie er damals Pater Sebastião beobachtet hatte, als dieser aus dem Brevier vorgelesen hat te; wie er dessen Augen gefolgt war, die Zeile für Zeile von links nach rechts über das Papier geglitten waren. Auch jetzt versuchte der junge Prinz wieder angestrengt, eine Verbindung zwischen dem geschriebe nen und dem gesprochenen Wort herzustellen. »… sed libera nos a malo«, schloss Gil und blickte zu den Hellebar dieren auf. »Das war sehr gut«, sagte Gomes. 122
»In nominepatris, etfilii, et spiritus sancti …« »Amen.« Sie machten das Kreuzzeichen, erhoben sich und setzten die Helme wieder auf. »Was sollen wir mit diesen Dingen machen?« fragte Gil und deutete auf die Truhe mit den Messutensilien. »Die lassen wir hier«, meinte Gomes. »Wir begraben sie mit ihm.« »Können wir sie nicht irgendwie verwenden?« »Wie denn? Du meinst zum Tauschen oder so?« »Nein. Zum Beten vielleicht. Was meinst du, Dias?« »Ich glaube nicht, dass wir ein Recht haben, diese Sachen zu benut zen. Das kann nur ein Priester.« »Gut, dann würde ich sagen, wir lassen sie hier bei ihm«, wiederhol te Gomes. »Es wäre passend«, stimmte Dias zögernd zu. Sie verließen die Hütte, und Gil hielt noch immer das Brevier in der Hand, denn seine Gedanken waren ganz woanders. Hätte er das be merkt, so hätte er es bei dem Priester zurückgelassen. »Wir verschließen jetzt das Haus von Pader Sebastam, Gil Janesch?« fragte Mbemba. »Ngete.« Mbemba rief die Soyo-Träger. Sie waren reisefertig und hatten die ganze Zeit über mit den Lasten zu ihren Füßen gewartet. Auf Mbem bas Ruf hin kamen einige von ihnen heran. »Sie werden das Haus jetzt verschließen«, erklärte Mbemba. Gil nickte. Es war bereits hell – so hell, wie es im grünen Däm merlicht des Urwaldes nur werden konnte; es musste also schon Vormittag sein. Der NsakuSoyo saß vor seiner Hütte und beobach tete das Geschehen mit undurchdringlicher Miene. Die Trommler, Bläser und Fetischträger, die die Karawane anführten, und viele der Soyo-Frauen waren um ihn versammelt. Sie hatten den Schrecken noch nicht überwunden, den ihnen Mbembas respektloser Umgang mit ihrem Juju-Mann eingejagt hatte, und Gil fragte sich, ob der Zauberer sie wohl dazu aufstacheln könnte, seine Demütigung zu rächen. 123
Dias und Gomes schickten sich an, mit ihren Piken in den Wald zu gehen. »Wo wollt ihr denn hin?« fragte Gil die beiden. »Holz schneiden für das Kreuz des Padre«, erwiderte Gomes. Gil sah ihnen nach, bis sie im Dickicht des Dschungels verschwun den waren. Sie redeten leise, aber sehr erregt miteinander. Dann wand te er sich um. Die Soyo-Träger hatten begonnen, den Eingang zu Pater Sebastiãos Grab mit der roten Erde des Urwaldes zu verschließen. Die Kongo-Krieger standen herum und schauten ihnen zu; offenbar waren sie für derartige Arbeiten nicht zuständig. Der NsakuSoyo verharrte auf seinem Platz, umgeben von der Schar seiner Anhänger. »Gil Janesch?« wandte sich der junge Prinz an Gil. »Welche Worte hast du gesprochen, als du die Schrift von Pader Sebastam sprachst?« Gil brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass Mbemba sich auf das Gebet bezog, das er aus Pater Sebastiãos Brevier vorgelesen hatte. Und erst jetzt bemerkte er, dass er das Buch noch immer in der Hand hielt. »Ich sprach die Worte von Nzambi Mpungu«, erklärte er. »Die Schrift sind die Worte von Nzambi Mpungu?« »Nicht jede Schrift ist das Wort von Nzambi Mpungu, aber diese schon. Diese Schrift ist das Wort, das Nzambi Mpungu an uns richtet. Und wir an ihn.« Mbemba runzelte die Stirn. Wieder war er auf etwas gestoßen, das jenseits seines Erfahrungshorizonts lag und das zu verstehen ihm des halb fast unmöglich war. »Dann muß diese Schrift ein sehr starker Zauber sein.« »Sie ist ein sehr starker Zauber. Sie ist stärker als der Zauber des Nsa kuSoyo oder irgendeines anderen Juju-Manns.« Mbembas Stirn legte sich noch mehr in Falten. Anscheinend dachte er, er dürfe Gil nicht erlauben, solche Worte auszusprechen, ja dass es schon Lästerung war, wenn er, der Kongo-Prinz, sich etwas Derartiges auch nur anhörte. Gil erwartete, dass Mbemba sich dagegen verwah ren würde. Aber das Gegenteil war der Fall: Mbemba richtete eine Fra ge an ihn, und zwar so leise, dass Gil sich zunächst nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte. 124
»Gibst du mir diese Schrift, Gil Janesch?« fragte Mbemba und be hielt dabei den NsakuSoyo im Auge; er flüsterte fast, damit dieser sei ne Worte nicht hörte. »Wirst du mir diesen starken Zauber, das Wort von Nzambi Mpungu, geben?« Auch Gil blickte jetzt zum NsakuSoyo hinüber. Vielleicht wird Pater Sebastião noch im Tode über diesen verabscheuungswürdigen Mann triumphieren, dachte er dabei; vielleicht ist sein Tod kein dummer, sinnloser Zufall, sondern erweist sich als eine Art Martyrium. Und so händigte er dem jungen Kongo-Prinzen das Brevier aus. Dieses Mal war niemand zur Stelle, der es ihm aus der Hand schlug.
Am nächsten Tag traten sie aus dem Urwald heraus; es kam völlig über raschend und unerwartet. Gerade noch hatten sie sich in der übel rie chenden, beklemmenden Düsternis des Dschungels einen steilen Ab hang hinaufgekämpft, doch im nächsten Moment, als sie die Anhöhe erreicht hatten, traten sie zwischen den Bäumen hervor in strahlendes Sonnenlicht, und über ihnen wölbte sich ein wolkenloser, leuchtend blauer Himmel. Frische Luft füllte ihre Lungen, und vor ihnen breitete sich ein gewaltiges Panorama aus, so weit das Auge reichte: eine welli ge Landschaft mit Hügeln und Tälern; üppige Wiesen und Niederun gen, die mit hohem, gelbem Elefantengras bestanden waren; blühende Wälder von Akazien, Eukalyptusbäumen, Mimosenbüschen und Ta marinden, durchzogen von glitzernden Flüssen und Bächen und be völkert von großen Herden wilder Tiere und riesigen Vogelschwär men – ein atemberaubend schönes Land, das vielleicht tausend oder auch zweitausend Fuß über dem Meeresspiegel lag. Es war das Gebiet der Nsundi, die wichtigste Provinz des Königreiches der Kongo. Die Straße war noch immer breit und in gutem Zustand; sie stieg weiter an, nun meist in Richtung Ost zu Süd, doch längst nicht mehr so steil wie zuvor. Wegen der frischen Luft und der offenen Landschaft war das Gehen jetzt wesentlich leichter und angenehmer. Und je wei ter der Weg hineinführte in die leuchtendgrüne Hügellandschaft, sich 125
über saftige Wiesen, durch Täler und über hurtige Wasserläufe dahin schlängelte, desto öfter sammelten sich Menschen am Straßenrand, um die vorbeiziehende Karawane zu betrachten. Diese Leute gehörten dem Volk der Nsundi an; es waren hochge wachsene, kräftige, gutaussehende und stolze Menschen, die Röcke und Kleider aus dem gleichen samtartigen Stoff trugen wie die Soyo; dazu Tuniken und Umhänge aus wunderschön gegerbtem Leder und gefleckten Pelzen sowie Kopfbedeckungen aus Federn und Elfenbein. Ihr Schmuck bestand aus erlesenen Perlen, und an den Armen und Fußknöcheln hatten sie Reifen, die dem Aussehen nach nur aus Silber sein konnten und mit kostbaren Steinen verziert waren. Die Waffen, die sie mit sich führten, waren aus Stahl. Ihre Dörfer waren noch größer und eindrucksvoller als die der Soyo an der Küste, von den Siedlungen der Mbata im Urwald ganz zu schweigen. Sie waren von hohen, star ken Palisaden umgeben und besaßen Wachtürme und schwere, kunst voll geschnitzte Tore. Und die Häuser gruppierten sich nicht nur um einen Marktplatz, sondern um mehrere. Sie waren aus rechteckigen Balken gebaut und hatten an der Vorder- und Rückseite je eine über dachte Veranda; die Dächer selbst bestanden aus dicht geflochtenem Stroh und waren abgeschrägt und gegiebelt. Auch der Empfang, der der Karawane in diesen Orten bereitet wurde, war anders – weder un terwürfig, wie bei den Mbata, noch so übertrieben festlich wie bei den Soyo, sondern ruhig, korrekt und sehr würdevoll. Die Nsundi-Häupt linge warfen sich nicht vor Mbemba auf die Erde, sondern sie gingen direkt auf ihn zu und umfassten ihn zum Gruß an den Schultern. Und obwohl sie sich über die drei weißen Männer mit ihren Helmen und Kettenhemden sicher ebenso wunderten wie die Soyo und Mbata, ver bargen sie ihr Erstaunen hinter höflichem Gleichmut. Sie veranstalte ten auch keine besonderen Feierlichkeiten zu Ehren der Fremden und wiesen ihnen nur ein gemeinsam zu bewohnendes Haus an. »Noch zwei oder drei Tage«, murmelte Gil. »Was ist in zwei oder drei Tagen, Junge?« fragte Gomes. »So lange dauert es noch, bis wir in Mbanza Kongo sind.« »Noch zwei, drei Tage, ja? Na ja … ich weiß nicht.« 126
»Was meinst du damit – du weißt nicht?« Gomes zuckte die Achseln. »Komm, Gomes, gib dem Jungen eine Antwort. Was meinst du, wenn du sagst, du weißt nicht?« fragte Dias. »Na ja, ich weiß wirklich überhaupt nicht, warum wir eigentlich noch zwei oder drei Tage weitermarschieren sollen.« »Du meinst, weiter bis nach Mbanza Kongo?« »Ja. Warum in Gottes Namen sollten wir dorthin gehen? Welchen Zweck soll das haben?« »Aber wir haben Befehl, dorthin zu gehen«, wandte Gil ein. »Der Kapitän hat uns befohlen, in die Stadt zu gehen, den König der Kon go aufzusuchen und ihn im Namen unseres Königs Johann zu grüßen. Außerdem sollen wir uns ansehen, was das für eine Stadt ist, und et was zurückbringen, das …« »Zurückbringen werden wir von dort gar nichts«, fiel Gomes ihm rüde ins Wort. »Wir werden dort sterben.« Gil und Dias sahen einander an. »Wir werden ganz bestimmt dort sterben«, fuhr Gomes mit erhobe ner Stimme fort. »Wieso glaubt ihr das nicht? Den Guineer haben sie umgebracht, stimmt's? Und den Padre ebenso. Wieso glaubt ihr, dass sie ausgerechnet uns am Leben lassen werden?« »Aber der Guineer war kein Weißer«, erwiderte Dias ängstlich. »Das hast du selbst gesagt. Diese Wilden bringen sich gegenseitig um, ohne mit der Wimper zu zucken. Und der Padre – das war ein Unfall.« »Ein Unfall? Das nennst du einen Unfall, was mit dem Padre passiert ist? Dieser Scheißkerl von Zauberer hat ihm mit aller Kraft ins Gesicht geschlagen. Und da redest du von einem Unfall!« »Ich weiß nicht, was du meinst. Sag es doch! Was sollen wir denn dei ner Meinung nach tun, wenn wir nicht nach Mbanza Kongo gehen?« »Zurückmarschieren.« »Zurückmarschieren – wohin?« »Zum Zaire, um dort auf die Leonor zu warten.« »Wir drei allein? Du meinst, wir drei sollen allein bis zum Zaire zu rückmarschieren?« 127
»Ja.« »Wie sollen wir denn das machen? Wie sollen wir den Weg finden? Wie sollen wir unsere Truhen und unsere Vorräte befördern? Und wo von sollen wir leben?« »Und was sollen wir dem Kapitän sagen, wenn die Leonor zurück kommt?« warf Gil ein. »Wir könnten uns etwas ausdenken. Wir könnten unter uns ausma chen, was wir ihm erzählen.« »Du meinst, etwas erfinden? Ihn belügen?« Gomes zuckte die Achseln und blickte zur Seite. »Zum Beispiel, dass wir in Mbanza Kongo waren und den König ge sehen haben – und dann spinnen wir irgendeine Geschichte zusam men, was wir dort alles gesehen haben? Oder dass wir unterwegs ange griffen wurden, Segou und Pater Sebastião dabei zu Tode kamen und wir davongelaufen sind, um unser Leben zu retten?« Bei dieser Bemerkung wandte sich Gomes wieder Gil zu. »Ja, genau, Junge«, sagte er begeistert, »irgend so etwas. Ja, genau so etwas. Das ist doch gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Das ist doch gar nicht so arg gelogen. Etwas in der Art wird früher oder später sowie so passieren, da könnt ihr euren Kopf darauf wetten – aber wir werden eben einfach nicht so lange warten, bis es tatsächlich passiert.« »Er hat recht«, pflichtete Dias seinem Kameraden bei. »So etwas wird passieren, das spüre ich ganz deutlich.« Sie schwiegen eine Welle. Dann fragte Dias: »Glaubt ihr wirklich, dass wir es schaffen, allein zum Fluss zurückzufinden?« »Natürlich glaube ich das«, antwortete Gomes. »Sonst würde ich es doch nicht vorschlagen.« »Und wann?« »Wir passen morgen oder übermorgen eine Gelegenheit ab, und dann verschwinden wir. Vielleicht nachts. Vielleicht auch tagsüber beim Marschieren. Wir bleiben einfach immer weiter zurück, und dann machen wir uns aus dem Staub. Was sagst du dazu, Junge?« Gil ließ sich mit seiner Antwort etwas Zeit. »Ich glaube nicht, dass sie uns umbringen«, sagte er dann. »Segou haben sie getötet, weil er 128
den Juju-Mann angriff, und außerdem konnten sie ihn von Anfang an nicht ausstehen. Und das mit dem Padre war wirklich ein Unfall. Der Juju-Mann wollte ihn nicht umbringen. Er wollte ihn nur von Mbem ba fernhalten und verhindern, dass er ihn im Glauben unterweist. Und ihr habt ja gesehen, was geschah, als ich das Schwert gegen ihn zog – sie haben mich nicht getötet.« »Das ist wahr, Gomes«, pflichtete Dias ihm bei. »Der Junge war drauf und dran, diesen Scheisskerl totzustechen, und sie haben ihm nichts getan.« »Aber nur, weil sie glauben, dass er ein Prinz ist, du Narr. Und ei nen Prinzen werden sie so schnell nicht erledigen. Aber dir werden sie nicht glauben, dass du ein Prinz bist, Dias. Und dass ich einer bin, neh men sie mir ebenso wenig ab, hab' ich recht?« »Ja.« »Also?« Dias schwieg. »Du kannst dir ja ruhig einbilden, dass du sicher bist, Junge. Der Prinz. Der Sohn des Herrn Kapitän. Und vielleicht bist du's ja auch. Vielleicht aber auch nicht. Du kannst es ja darauf ankommen lassen, wenn du das unbedingt willst. Aber ich und Dias …« Seit Pater Sebastiãos Tod waren Gil und die beiden Hellebardiere im mer miteinander marschiert. Aber am nächsten Tag blieben Gomes und Dias einige Schritte hinter Gil – außer Hörweite. Gil hatte keinen Zweifel darüber, warum sie das taten – sie wollten nicht, dass er mitbe kam, worüber sie sich unterhielten. Sie sprachen über die Möglichkeit wegzulaufen. Gil wusste es, aber es bekümmerte ihn nicht allzu sehr. Solange sie weitermarschierten, mochten sie reden, soviel sie wollten. Was ihm Sorgen bereitete, war ein anderer Gedanke: Falls sie nach ih rem Palaver tatsächlich beschlossen wegzulaufen, falls Gomes seinen Kameraden davon überzeugen konnte, dass sie in Mbanza Kongo ge tötet würden und dass sie den Weg zurück zur Küste allein schaffen könnten – dann würden sie sich einfach absetzen, ohne ihm ein Wort davon zu sagen. Es war Gils feste Überzeugung, dass die Kongo sie nicht ermorden 129
würden, was immer sich in Mbanza Kongo auch ereignen mochte; er war sicher, dass Mbemba sie auch dort beschützen würde, so wie er Gil gegen den NsakuSoyo beigestanden hatte. Aber selbst wenn er sich in diesem Punkt täuschen sollte, so war es doch gewiß, dass sie den Rück weg zum Zaire niemals allein schaffen konnten. Sie würden sich ver irren – die ›Karte‹ in seinem Kopf war schließlich alles andere als zu verlässig –, sie würden verhungern, von Wilden angegriffen werden oder großen Raubtieren zum Opfer fallen. Aber trotzdem wollte er mit Dias und Gomes zurückmarschieren, falls die beiden wirklich dazu entschlossen waren. Die Aussicht, ganz allein in Mbanza Kongo ein zutreffen, sich als einziger Weißer in einem Königreich von Wilden aufzuhalten, jagte ihm wesentlich mehr Angst ein als all die Gefahren, die ihm und den beiden Soldaten beim Rückmarsch durch den Ur wald drohen mochten. Aus diesem Grunde blickte er sich immer wie der nach ihnen um, und als sie einmal zu weit zurückblieben, wartete er, bis sie aufgeholt hatten. Mbemba blieb mit ihm stehen. »Was ist los?« rief Gomes schon von weitem. »Warum halten wir an? Sind wir etwa schon da?« »Nein. Es sind noch ein oder zwei Tage.« »Warum bleiben wir also stehen?« »Aus gar keinem Grund. Ich habe nur gewartet, bis ihr aufgeholt habt.« »Also gut, wir haben aufgeholt.« »Ja.« Gil reihte sich neben die beiden ein und ließ Mbemba einige Schritte vorausgehen. »Habt ihr etwas entschieden?« fragte er mit ge dämpfter Stimme. »Was denn?« »Du weißt genau, was ich meine.« Gomes sah zu Dias. »Haben wir irgend etwas entschieden, Dias?« »Nein«, erwiderte dieser. »Du hast gehört, was der Junge gesagt hat, Dias. Wir haben nur noch ein oder zwei Tage.« Dias gab keine Antwort. Gil setzte alle Hoffnung auf ihn. Wenn er bis Mbanza Kongo weitermarschierte, dann würde wahrscheinlich 130
auch Gomes mitkommen. Er konnte nicht so verrückt sein zu glau ben, dass er sich ganz allein durch diesen Urwald bis zur Küste durch schlagen könne. »Hör zu, Gomes, du gibst mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast, ja?« »Wieso denn? Ich dachte, dir ist das sowieso egal. Du bist schließlich der Sohn des Herrn Kapitän. Der Prinz!« »Dias?« »Ja?« »Sagst du mir Bescheid?« »Ja.« Gil glaubte ihm nicht. Aber was konnte er schon tun? Er durfte die beiden einfach nicht mehr aus den Augen lassen. Er holte Mbemba ein, und als er einige Minuten später nach hinten schaute, waren sie schon wieder zurückgefallen und redeten hitzig miteinander. Nein, sie wür den ihm bestimmt nicht Bescheid sagen. Sie wollten nicht, dass er mit ihnen zurückmarschierte. Sie wollten ihn nicht dabeihaben, wenn die Leonor wieder zum Zaire kam, weil sie ihm nicht zutrauten, dass er den Kapitän belog. Nein, auf Dias durfte er seine Hoffnung nicht set zen. Auf Mbemba dagegen schon. Anders als im Dschungel konnte man in diesem offenen, leicht hüge ligen, von leuchtendgelbem Gras bestandenen Land sehen, wie sich die Straße in der Ferne die Berge hinauf- und hinabwand und sich um sie herumschlängelte. Die Vorhut der Bläser, Trommler und Fetischträger marschierte leicht erkennbar ein ganzes Stück voraus; die palisaden bewehrten Dörfer lagen gut sichtbar an den Hügeln und an der Stra ße, und ihre Bewohner sammelten sich immer wieder entlang des We ges. Am Horizont, noch einige Leguas entfernt, erhob sich zwischen den höchsten der gelben Hügel ein mächtiger Berg in den kristallkla ren, blauen Himmel, an dem Adler und Falken wie Wachposten ihre Kreise zogen. »Dort ist Mbanza Kongo«, sagte Mbemba. »Dort, auf diesem Berg?« »Ja, das ist der Berg von Mbanza Kongo.« 131
Als sie sich dem Massiv über eine lang gestreckte, abfallende Wie se näherten, erkannte Gil, dass es eigentlich ein hochgelegenes Tafel land war, das sich über einem wild zerklüfteten Steilhang mit schroffen Felsen und roter Erde über das tiefer liegende Land erhob. An seinem Fuß floß ein ziemlich großer Wasserlauf, der Lelunda, und unweit von dessen Ufer lag die größte Ansiedlung, auf die sie bisher gestoßen wa ren. Sie hieß Mpangala, und die Straße führte geradewegs auf ein Tor in den Palisaden dieses Ortes zu. Als die Gruppe erstmals das Dorf und den Tafelberg mit dem Fluss davor sah, schlossen Gomes und Dias zunächst zu Gil und Mbemba auf. Aber dann blieben sie immer weiter zurück. Für sie hieß es jetzt oder nie, das wusste Gil; wenn sie davonlaufen wollten, dann mussten sie es tun, bevor der Zug den Lelunda überschritt und mit dem Anstieg nach Mbanza Kongo begann. Plötzlich vernahm Gil Musik; ein leichter Wind trug sie von der Spit ze der Karawane zu ihm herüber. Entweder hatten die Trommler, Blä ser und Fetischträger wieder zu spielen begonnen, seit sie den Wald verlassen hatten, oder sie hatten nie damit aufgehört, und er war ihnen erst jetzt nahe genug gekommen, um sie zu hören – sie hatten nämlich das Tor von Mpangala erreicht und davor angehalten. In spätestens ei ner Stunde würde auch er dort angekommen sein. Er drehte sich nach den Hellebardieren um, und dieses Mal waren sie nicht zu sehen. »Wir müssen anhalten, Mbemba. Meine Soldaten.« Gil zeigte über seine Schulter zurück, und Mbemba blickte nach hinten. »Ich sehe meine Soldaten nicht«, erklärte Gil. »Wir müssen auf sie warten.« Mbemba machte noch ein, zwei Schritte, und hielt dann mit einem ärgerlichen Seufzer ebenfalls an. »Wir können nicht hier auf sie war ten«, sagte er schließlich, kam zu Gil zurück und fasste ihn energisch am Arm. »Wir werden sie in Mpangala erwarten.« Eine riesige Menge – Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Men schen – hatte sich zu beiden Seiten des offenen Eingangstores zum Dorf versammelt. Der NsakuSoyo und seine Musiker und Fetischträger wa ren bereits hindurchgegangen; sie warteten auf dem ersten Marktplatz, als Gil und Mbemba, flankiert von dessen Leibwache, durch das Tor 132
schritten. Die Musiker und Fetischträger schlugen zu Ehren des Kon go-Prinzen und seines Gastes ihre Trommeln, bliesen auf ihren Hör nern und schüttelten ihre Rasseln. Ein Stück hinter dem NsakuSoyo saß unter einem riesigen Feigenbaum der Häuptling von Mpangala auf einem Hocker, umringt von Clanführern, Zauberern, Frauen und Leibwächtern. Als Mbemba und Gil beim NsakuSoyo ankamen, reih te sich dieser neben ihnen ein, die Musiker und Fetischträger versam melten sich hinter ihm, und so schritten sie alle zusammen auf den Mpangala-Häuptling zu. Er erhob sich, fasste Mbemba an den Schultern und hieß ihn mit ei nigen Worten willkommen. Mbemba erwiderte seine Begrüßung auf dieselbe Weise. Dabei warf Gil erneut einen raschen Blick nach hinten. Aber er konnte nicht sehen, ob Dias und Gomes mittlerweile ebenfalls eingetroffen waren; zu viele Menschen drängten jetzt mit den SoyoTrägern und den Frauen der Karawane durch das Tor. Falls die beiden hier waren, konnten sie nur irgendwo in der Menge sein. »Gil Janesch.« Gil drehte sich wieder um. Die Musiker und Fetischträger hatten auf gehört zu spielen. Mbemba stellte Gil dem Mpangala-Häuptling vor. »Gil Janesch, Prinz der Porta Gies, der weißen Fremden, die auf den Flügeln eines großen Vogels aus ihrem Land im Himmel zu uns her untergeflogen sind.« Aus ihrem Land im Himmel? Gil starrte verdutzt auf Mbemba. Er wusste doch, dass sie nicht aus einem Land im Himmel kamen, son dern vom anderen Ufer des Meeres! Das hatte Gil ihm schon vor Tagen gesagt. Aber offensichtlich wollte Mbemba daraus ein Geheimnis ma chen. Warum? Wollte er Gil schützen und ihm weiterhin die Ehrfurcht zukommen lassen, die die Menschen hier vor dem Vertreter eines Lan des im Himmel hatten? War es ein Zeichen der Freundschaft? »Mpanzu a Nzinga.« Jetzt stellte Mbemba ihm den Mpangala-Häupt ling vor. »ManiNsundi. MtuKongo.« Den Titel ManiNsundi verstand Gil: der höchste Herr und Häupt ling von Nsundi, der Provinz, die sie seit dem Verlassen des Urwal des der Mbata durchquert hatten. Aber MtuKongo? Das bedeutete, der 133
Mann war ein Prinz der Kongo, wie auch Mbemba ein Prinz der Kon go war. Hatte er diesen Titel als Herrscher des bedeutendsten Lehens gebiets des Königreiches inne? Oder war er ein Prinz königlichen Ge blüts, wie sein Name es nahe zu legen schien? »Mpanzu a Nzinga?« wiederholte Gil fragend. »Mpanzu, der Sohn von Nzinga?« »Ngete.« »So wie du Mbemba a Nzinga heißt? Mbemba, der Sohn von Nzin ga?« »Nzinga a Nkuwu, der ManiKongo, ist unser Vater. Mpanzu ist mein Bruder.« Gil betrachtete den Mpangala-Häuptling genauer. Er war wesentlich älter als Mbemba, mindestens zwanzig Jahre, und um einiges größer und breitschultriger, allerdings nicht gerade sehr muskulös, sondern eher schlaff, dickbäuchig und mit teigigem Gesicht und hervorquellen den wässrigen Augen. Sie können bestenfalls Halbbrüder sein, dachte Gil; sicher hatte der geschmeidige, gutaussehende Mbemba eine ande re Mutter. Mpanzu trug einen langen, himmelblauen Rock und einen Umhang aus demselben Samtstoff, der mit einem weißen Zickzack muster gesäumt war. Um seinen Hals hingen viele Ketten, und an den Armen hatte er Reifen aus Silber und Elfenbein, Kaurimuscheln und Tierzähnen; sein Haupt schmückte ein Kopfputz aus Adlerfedern und Antilopenhörnern. In der Rechten hielt er ein kurzes, mit Silber ver ziertes Zepter aus Elfenbein. »Warum bist du zu uns gekommen, Gil Janesch?« fragte er mit einer leisen, rauen Stimme. »Warum bist du aus deinem Land im Himmel zu uns herabgeflogen, Prinz der Porta Gies?« »Weshalb fragst du, MtuKongo?« »Sicher bist du aus einem bestimmten Grund zu uns gekommen, Gil Janesch. Sicher ist dein Besuch mit einer Absicht verbunden. Ich frage dich, was ist dieser Grund? Was ist deine Absicht?« Die Frage war einfach genug; dennoch wusste Gil nicht recht, wie er sie beantworten sollte. Wie sollte er erklären, dass er aus purem Zu fall in dieses Land gekommen war und dass hinter seiner Reise nach 134
Mbanza Kongo keine bedeutsamere Absicht stand als bloße Neugier? Sie hatten den Seeweg nach Indien gesucht, waren dabei den Zaire hinaufgefahren, hatten von dem Königreich gehört, das im Land hin ter diesem großen Strom lag, und Gil war ausgeschickt worden, um sich dieses Reich anzusehen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Doch Mpanzu vermutete natürlich, dass eine bedeutsamere Absicht dahin tersteckte. Wie konnte man von ihm auch erwarten zu glauben, dass weißhäutige Menschen aus reinem Zufall vom Himmel auf die Erde geflogen seien, dass sie lediglich aus Neugier gekommen waren, nach dem sie ihre Existenz seit Anbeginn der Zeit geheim gehalten hatten? Nein, sie mussten aus einem bestimmten Grund gekommen sein; hin ter ihrem Besuch musste eine Absicht stehen. »Was ist dein Begehr in diesem Königreich, Gil Janesch?« »Ich überbringe Grüße meines Königs, MtuKongo. Ich bringe dem ManiKongo Grüße und Geschenke des portugiesischen Königs als Be weis seiner Wertschätzung.« Mpanzu legte den Kopf zur Seite, als hätte ihn diese Antwort nicht ganz überzeugt. Doch dann sagte er: »Keba, dann lass uns zum Ma niKongo gehen, Gil Janesch, damit du ihm die Grüße und Geschenke deines Königs überbringen kannst. Er erwartet dich.« Das heißt, dass ab jetzt nicht mehr Mbemba für die Reise nach Mbanza Kongo verantwortlich ist, sondern Mpanzu, der ältere Prinz, dachte Gil. Aber erst, nachdem der Häuptling sie über die verschie denen Marktplätze des Ortes bis zum Tor auf der anderen Seite ge führt hatte, verstand er, was Mpanzu vorhatte. Das Tor ging zum Fluss hinaus, und dort lag eine Flottille von Kanus bereit, um die Karawa ne überzusetzen. Sie sollten also ohne Aufenthalt weiterziehen. Es war noch nicht Mittag, und offenbar war der Aufstieg über den Steilhang auf das Plateau des Tafellandes noch vor Einbruch der Dunkelheit zu bewältigen. »Ve, Mbemba. Halt. Du hast gesagt, wir würden in Mpangala auf meine Soldaten warten.« Auf der dem Lelunda zugewandten Seite des Dorfes waren hektische Aktivitäten im Gange. Hunderte von Menschen machten sich emsig 135
am Ufer zu schaffen, Hunderte strömten durch das Tor in den Ort hin ein, und Hunderte drängten aus dem Ort hinaus und hinunter zum Fluss. Die Soyo-Träger und die Frauen wateten im Wasser und belu den die Kanus mit ihren Bündeln, Körben und den anderen Gepäck stücken – es war ersichtlich, dass für sie die Reise hier endete. Nsun di-Träger und ihre Frauen traten an ihre Stelle; sie bestiegen die Boote, und einige waren bereits dabei, zum anderen Ufer abzulegen. Krieger, Musiker, Fetischträger, Jäger und Fährtensucher aus Mpangala besetz ten weitere Kanus, die Untergebenen des ManiNsundi übernahmen die Plätze der Soyo. Bevor er sich versah, war Gil in all diesem Trubel unten am Fluss angelangt, obwohl er es gar nicht wollte; beinahe hätte er in dem Durcheinander auch noch Mbemba verloren. »Ich sehe meine Soldaten nicht, Mbemba. Wir müssen warten, bis sie hier sind. Du hast versprochen, dass wir in Mpangala warten, bis mei ne Soldaten kommen.« »Worum geht es?« fragte Mpanzu ungeduldig. »Seine Soldaten, Mpanzu«, erklärte Mbemba. »Er hat zwei Soldaten, die ihn begleiten.« »Wo sind diese Soldaten? Warum sind sie nicht bei ihm? Was sind das für Soldaten, die nicht stets an der Seite ihres Prinzen sind?« »Faule Soldaten. Wertlose Soldaten«, erwiderte Mbemba. Gil war schockiert, das zu hören. Er hatte nicht bemerkt, dass Mbem ba die Hellebardiere so sehr verachtete; dass er von Anfang an klar er kannt hatte, wie nutzlos die beiden sowohl für ihn, Gil, als auch für den armen Pater Sebastião waren. War ihm vielleicht auch aufgefallen, dass Gil sie nicht so kommandierte, wie es einem Prinzen anstand – dass er es nicht einmal versucht hatte, weil er wusste, dass sie ohne hin nicht gehorchen würden? Und wenn es ihm aufgefallen war, wel chen Schluß hatte er wohl daraus gezogen? Am Ende den, dass Gil, der nicht fähig war, zwei Soldaten zu befehligen, weder aus einem Land im Himmel kam noch in seinem Heimatland als Prinz galt? Andererseits aber behandelte Mbemba ihn weiterhin wie seinesgleichen, und er hat te ihn auch dem NsakuSoyo und soeben seinem älteren Halbbruder als einen Prinzen vorgestellt, der aus dem Himmel auf die Erde gekom 136
men sei. Warum? War er so sehr von den weißen Männern fasziniert, dass er bereitwillig log, nur damit sie in seinem Königreich blieben? »Wenn sie so faule und wertlose Soldaten sind«, fuhr Mpanzu fort, »warum hat er sie dann nicht getötet?« »Er ist ein sanfter Prinz«, antwortete Mbemba. »Ha«, prustete Mpanzu, »er ist wie du.« Mbemba nahm diese spöttische Bemerkung mit dem bitteren Lä cheln eines jüngeren Bruders hin. »Er möchte hier auf sie warten«, sag te er nur. »Nein. Wir werden dort drüben auf sie warten«, bestimmte Mpanzu und deutete auf das gegenüberliegende Ufer. Dann bestieg er das größ te der bereitliegenden Kanus. »Komm, Gil Janesch«, sagte Mbemba. Er ergriff Gils Arm und führ te ihn zu dem großen Kanu. »Deine Soldaten haben Zeit, dich einzu holen, bevor wir den Aufstieg nach Mbanza Kongo beginnen.« Zu Gils Entsetzen saß der NsakuSoyo in dem Kanu. Er war von al len Soyo der einzige, der die Reise fortsetzte. Vielleicht hatte er den Auftrag, den ManiKongo von der Ankunft der Leonor zu unterrich ten und von all den Dingen, die sich mit den Weißen zugetragen hat ten, bevor Mbemba nach Mpinda gekommen war. Vielleicht wollte er aber auch nur mitkommen, um seine Meinung über die weißen Frem den kundzutun? Die Überquerung des Flusses ging sehr schnell. Er war zwar über dreitausend Fuß breit, doch das Boot war sehr groß, mindestens sech zig Fuß lang, und es hatte auf beiden Seiten je zehn Ruderer, die es mit bemerkenswerter Geschwindigkeit vorwärtstrieben. Die Kanus, die schon früher abgefahren waren, kamen ihnen ohne Insassen wie der entgegen, und auf dem anderen Ufer erwartete sie eine geschäftige Menge – Krieger, Fetischträger, Jäger, Fährtensucher, Träger und Frau en sortierten Bündel, Körbe und anderes Gepäck und formierten die neue Karawane, die nach Mbanza Kongo hinaufsteigen würde. Gil war der letzte, der an Land ging; er blieb so lange wie möglich im Heck des Bootes und hielt von dort nach den beiden Hellebardie ren Ausschau. Nachdem er das Kanu verlassen hatte, stand er am Ufer 137
und suchte weiter die Umgebung des Tores von Mpangala ab, ohne das aufgeregte Treiben um ihn her zu beachten. Eigentlich wusste er ja be reits, dass er Gomes und Dias nicht mehr zu Gesicht bekommen wür de, dass sie davongelaufen waren. Aber noch war er nicht bereit, die se Tatsache zu akzeptieren. Sie waren wertlose Soldaten, das war si cherlich richtig; sie hatten sich von Anfang an weder für ihn noch für Pater Sebastião oder Segou als nützlich erwiesen. Aber dennoch hät te er sie lieber bei sich gehabt. O Gott, wie sehr wünschte er sich, dass sie hier wären – oder ein anderer Soldat, Matrose oder Kamerad von der Leonor; jedes vertraute Gesicht, jeder Portugiese, ja jeder beliebige Weiße wäre ihm jetzt recht gewesen. Er konnte den Gedanken, ganz auf sich gestellt zu sein, nicht ertragen; er wollte sich nicht vorstellen, wie einsam und verlassen er sein würde – der einzige Weiße in diesem schwarzen, wilden Land. »Gil Janesch.« Er wandte den Blick vom Fluss ab. Mbemba hatte seinen fürstli chen Schmuck wieder angelegt: die Halsketten, die silbernen Reifen um Hand- und Fußgelenke, das silberne Stirnband mit dem grü nen, smaragdähnlichen Stein. Wie sein Halbbruder Mpanzu trug auch er jetzt einen Umhang, eine Tunika aus weichem Leder und einen Kopfschmuck aus Federn und Hörnern. Hinter ihm standen zwei Träger aus Mpangala, die Gils Seetruhe über den Fluss beför dert hatten. »Wir gehen zum König«, sagte Mbemba und zeigte auf die Truhe. Gil wusste Bescheid; er kniete neben der Truhe nieder und öffne te sie. »Soll ich dir helfen?« fragte Mbemba. Gil schüttelte den Kopf. Ein Prinz hätte einen Diener haben sollen, der ihm half, aber er hatte keinen. Langsam, wie in einer Art Tran ce, zog er ohne Hilfe sein Prinzenkostüm an. Als er fertig war, kamen Mpanzu und der NsakuSoyo zu ihnen. »Wir brechen auf«, sagte Mpanzu zu Mbemba. Mbemba sah Gil fragend an, und dieser blickte noch einmal über den Fluss zurück. 138
»Sie kommen nicht.« Es war der NsakuSoyo, der diese Worte sprach. »Die wertlosen Soldaten kommen nicht.« Gil fuhr herum und starrte ihm wütend ins Gesicht. »Warum sagst du das, Zauberer? Du kannst es nicht wissen!« »Ich weiß es«, erwiderte der NsakuSoyo mit seinem bösen Grinsen. »Ich sehe es mit meinen eigenen Augen.« »Was siehst du mit deinen eigenen Augen?« »Ich sehe sie in den Wald zurückgehen.« O Gott. O guter Gott. Gil blickte den verhassten Juju-Mann an und wusste, dass er die Wahrheit sagte. O Gott. »Gehen wir jetzt, Gil Janesch?« fragte Mbemba. Gil nickte. Mpanzu und der NsakuSoyo wandten sich um. Sänften wurden herbeigetragen, und Gil beobachtete, wie Mpanzu und der Zauberer einstiegen. Die Träger zweier weiterer Sänften standen war tend daneben. »Wir gehen jetzt zum König«, erklärte Mbemba. Gil nickte wieder und blickte ein letztes Mal über den Fluss. Dann stieg er in seine Sänfte, und die vier Träger hoben ihn auf ihre Schul tern.
KAPITEL 8
M
banza Kongo war eine Stadt mit mehr als dreissigtausend Ein wohnern und über fünftausend Gebäuden. Sie nahm auf dem mit hellgelbem Gras bewachsenen Tafelberg eine Fläche von gut drei tausend Hektar ein und bildete ein riesiges Gewirr aus verschlungenen Gassen, breiten Straßen, geschäftigen Marktplätzen, blühenden und baumbestandenen Gärten. Selbst nach den Maßstäben des damaligen Europa war es also eine königliche Stadt, und für Gil ohne jeden Zwei fel eine Metropole. Sie war nicht von Palisaden umgeben; ganz offen bar war ihre beherrschende Lage auf der höchsten Erhebung des Lan 139
des Schutz genug. Der Steilhang mit seinen schroffen Felsen aus rotem Lehm fiel Hunderte von Fuß ab bis zum Tal des Lelunda im Norden, Westen und Süden; nach Osten hin senkte sich das Plateau über Tau sende von Hektar kultivierten Acker- und Weidelandes zu einem Wald hin ab. Diesen östlichen Abhang hinauf und durch die Felder hindurch be wegte sich die Karawane gegen Abend desselben Tages, an dem sie in Mpangala aufgebrochen war, auf die Stadt zu; Gil schätzte, dass es der sechzehnte September sein musste. Ganz offensichtlich waren alle Be wohner von Mbanza Kongo auf den Beinen; sie säumten die Straßen, drängten sich auf den Plätzen, standen auf den Dächern und saßen in den Bäumen der Gärten, um den weißen Prinz zu sehen, der aus einem Land im Himmel zu ihnen gekommen war. Gil saß aufrecht in seiner Sänfte und bemühte sich, einen würdevol len Eindruck zu erwecken. In dem Versuch, das Schaukeln und Sto ßen der Träger auszugleichen, klammerte er sich aber eher krampf haft mit einer Hand an die Streben seines Reisevehikels; mit der ande ren musste er seinen federgeschmückten Helm festhalten, der ihm im mer wieder vom Kopf zu rutschen drohte. Bei alledem war er sich vol ler Unbehagen bewusst, dass Tausende von Augen auf ihn gerichtet waren, Tausende von Fingern auf ihn zeigten. Mbemba wurde neben ihm getragen; er saß aufrecht im Schneidersitz und mit verschränk ten Armen da, die Lanze in der Beuge des Ellbogens, und wirkte ohne jede Anstrengung wie ein echter Prinz. Die Federn seines Kopfput zes flatterten in der leichten Brise, die über das liebliche, offene Savan nenhochland wehte. Vor ihnen war Mpanzus Sänfte, und die des Nsa kuSoyo folgte ihnen. Eine große Anzahl von Kriegern eskortierte sie, und die Trommler und Bläser und die tanzenden Fetischträger spiel ten zur Feier der Ankunft in der Stadt des Kongo-Königs eine aufwüh lende, leidenschaftliche Musik. Sobald sie die Felder hinter sich gelassen und die ersten Ausläufer von Mbanza Kongo erreicht hatten, verlor Gil die Orientierung. Das Gewirr von Gebäuden verschiedenster Größe und Gestalt, das Laby rinth der Straßen, die kreuz und quer eine unübersehbare Menge von 140
Plätzen und Gärten verbanden, dazu die unglaublichen Menschen massen – es würde schwer sein, sich hier nicht zu verlaufen. Noch dazu folgte die Karawane einer verwirrenden Route mit Umwegen, die in alle Himmelsrichtungen zu führen schien, als sollte Gil wie eine be sondere Kriegsbeute oder ein außergewöhnlicher Schatz in sämtlichen Vierteln der Stadt zur Schau gestellt werden. An einem Fluss kam der Zug zum Stehen. Es war der Luezi, ein Ne benfluss des Lelunda. Er floß in einem gewundenen Bogen von Norden nach Südwesten und ergoss sich dann in einem glitzernden Wasserfall über den Steilhang hinab; mit seinem Verlauf trennte er etwa ein Drit tel der Stadt ab, das somit einen eigenen, abgeschlossenen Bereich bil dete. Gil erkannte sofort, dass es sich dabei um den Bezirk des Königs und seines Hofes handelte. Die Gebäude waren hier eng an den Rand des Plateaus gebaut und boten eine beeindruckende Aussicht auf die hügelige Landschaft unterhalb des Steilhangs; sie waren größer, impo santer und komplexer gestaltet, aus Brettern und Balken gefügt, mit kunstvoll gearbeiteten, spitzen Strohdächern und überdachten Ein gängen versehen und durch Säulengänge und blühende Laubengän ge verbunden. Zusätzlich zum Fluss trennte noch eine Palisadenmau er diesen Bereich von den Stadtvierteln der einfachen Leute. Von drei bewachten Toren in diesem Schutzzaun führten breite, von Feigenbäu men und Palmen gesäumte Straßen zu drei Brücken über den Luezi. An der mittleren dieser Brücken wurden die Sänften abgesetzt. Gil stieg aus, massierte seinen verkrampften Oberschenkel und blickte mit der Neugier und Beklommenheit eines ganz normalen Jungen um sich. Der Abend rückte jetzt schnell heran; eine dünne Mondsichel war auf gegangen, blinkende Sterne wurden am tiefblauen, wolkenlosen Him mel sichtbar, die Luft war frisch und klar und angenehm kühl. Sie be fanden sich hier hoch über der erstickenden Hitze und Feuchtigkeit des Urwaldes und weit weg von den moskitoverseuchten Sümpfen der Küstenebene an den Ufern des Zaire. Kein Wunder, dass die KongoKönige für ihre Hauptstadt dieses Hochland gewählt hatten – es war ein wunderschöner und wohltuender Ort. Eine große Gruppe von Männern erwartete die Ankömmlinge an 141
der mittleren Brücke. Die meisten waren Krieger, und sie waren nicht nur mit Lanzen und Schilden bewaffnet, sondern auch mit Pfeilen und Bogen, Äxten, Keulen und Messern. Einige schienen jedoch Würden träger zu sein, wahrscheinlich Höflinge des Königs; sie waren ähnlich wie Mbemba und Mpanzu mit farbenfrohen Umhängen und perlenbestickten Tuniken bekleidet und trugen Kopfbedeckungen, die mit Federn, Elfenbein und Hörnern verziert waren. Mbemba und Mpan zu gingen zu ihnen, aber als Gil den beiden folgen wollte, zischte ihm der NsakuSoyo zu, er solle stehenbleiben. Doch er warf dem Zauberer nur einen kurzen, grimmigen Blick zu und ging weiter. Nun aber dreh te sich Mbemba um, bedeutete ihm zu warten, und eilte dann seinem Halbbruder nach. Es bestand kein Zweifel daran, dass Mpanzu hier der Wortführer war und nicht Mbemba. Die Männer auf der Brük ke behandelten ihn mit besonderer Ehrerbietung und hörten respekt voll zu, als der große, stämmige Prinz zu ihnen sprach. Vielleicht war Mpanzu, der Herrscher der Nsundi, von bedeutenderem Rang, als Gil gedacht hatte. Vielleicht war er nicht nur der ältere der beiden Gil be kannten Söhne des ManiKongo, sondern der älteste von allen Söhnen des Herrschers überhaupt und damit der Kronprinz und Erbe. Eine Bewegung hinter ihm ließ Gil herumfahren. Die Träger und die Frauen der Karawane nahmen ihre Lasten wieder auf und liefen damit in die von Menschen wimmelnde, verwinkelte Straße hinein, auf der sie an den Luezi gekommen waren. Wo gingen sie hin? Unter den Bün deln und dem anderen Gepäck, das sie mit sich führten, waren auch Gils Truhe und sein Seesack. Wohin trugen sie diese Dinge? Die un terschwellige Furcht, die ihn seit der Flucht der Hellebardiere erfüll te, verstärkte sich. Er blickte zur Brücke. Mpanzu sprach noch immer mit den Männern, die ihn umringten, und Mbemba hörte ebenso auf merksam zu wie die anderen. Der NsakuSoyo hielt sich wie immer etwas abseits. Die Leibwachen der beiden Brüder – sie unterschieden sich durch die Farbe und das Muster ihrer Kleidung: Mpanzus Krie ger trugen himmelblaue Röcke, die mit einem weißen Zickzackmu ster gesäumt waren, die Röcke von Mbembas Männern waren blass grün mit roten Säumen – hatten mit ihren Lanzen und Schilden eine 142
Phalanx gebildet; sie hielten die neugierige Menge zurück, die sich in den am Fluss endenden Straßen drängte. Auch die Dächer und Veran den der Häuser am Fluss waren von Menschen belagert. Die meisten Gebäude in diesem Teil der Stadt hatten an der Rückseite umzäun te Höfe mit Ziegen, Schweinen und Geflügel, und unter den Feigen bäumen und Palmen am Flussufer befanden sich auch Marktstände, eine Werkstatt – womöglich eine Schmiede, denn aus einer Öffnung im Dach stieg schwarzer Rauch – und ein Bau, der wie ein Lagerhaus oder eine Versammlungshalle aussah. »Mbemba!« rief Gil und lief erneut auf die Brücke zu. Aber wieder zischte der NsakuSoyo warnend, und Mbemba drehte sich um und hob seine Lanze, um anzudeuten, dass Gil stehenbleiben solle. Doch Gil ging weiter. »Wo gehen sie hin, Mbemba?« fragte er, wobei er auf die Lastenträger zeigte. »Sie tragen meine Sachen fort.« Nach einem kurzen Blick auf Mpanzu eilte Mbemba zu Gil, um ihn aufzuhalten. »Du bleibst hier, Gil Janesch«, sagte er bestimmt und drückte ihn am Arm von der Brücke weg. »Aber meine Sachen!« »Hab keine Angst. Sie bringen deine Sachen in dein Haus.« »Mein Haus?« »Dort, das ist dein Haus. Dort werden deine Sachen sicher sein.« Gil betrachtete das Haus. Es war eines der kleineren direkt am Fluss, neben dem Gebäude, das er für eine Schmiede hielt. An seiner Vor derseite entlang verlief eine Veranda, auf der einige Frauen und Kin der standen. »Du bleibst mit deinen Sachen in deinem Haus, bis mein Vater bereit ist, dich zu empfangen.« »Und du, Mbemba? Kommst du mit mir?« »Nein. Ich muß zu meinem Vater gehen. Er erwartet mich. Ich kom me zu dir, wenn mein Vater bereit ist, dich zu empfangen.« Als Mbemba wieder bei Mpanzu war, traten die Höflinge zurück, und die beiden Prinzen gingen über die Brücke. Die anderen folgten ihnen, und der NsakuSoyo schloss sich dem Zug an. Damit war Gil 143
klar, was nun passieren würde: Sie würden dem ManiKongo über ihn Bericht erstatten. Sicher wollte der Herrscher auf den überraschenden Anblick des weißen Fremden vorbereitet sein. Als die Gruppe das jenseitige Ufer des Luezi erreicht hatte und durch das mittlere der beiden Palisadentore schritt, war es dunkel geworden. Der Himmel war mit Sternen übersät, die Mondsichel stand direkt über dem königlichen Bezirk, und in der ganzen Stadt leuchteten Feu er auf. Gil beschloss, sich sein Haus näher anzusehen. Auf der Veranda standen zwei ältere und vier jüngere Frauen, ein Mädchen und zwei kleine Jungen, die sich an die Beine einer der älte ren Frauen klammerten. Auf dem Rücken der anderen saß in einem Tragetuch ein Säugling und winkte mit den winzigen Händchen. Die kleinen Jungen waren nackt; die Frauen hatten einfache braune Klei der an, die unter den Achselhöhlen zusammengewickelt waren. Das braune Tuch war aus Baumrinde gefertigt, ebenso wie die Turbane, die sie um den Kopf gebunden hatten. Das Mädchen jedoch trug eine Kanga, ein blassgrünes, rot gesäum tes Kleid aus samtartigem Stoff, und keinen Turban. Sie hatte einen schön geformten Kopf und kurz geschnittenes, eng in kleinen Kreuzmustern geflochtenes Haar. Ihr Schmuck bestand aus mehreren Ketten mit glänzenden Steinen und Kaurimuscheln, die ihr auf die Brust hin gen. Sie stand dicht hinter der Frau mit dem Kleinkind, aber während die anderen mit unverhüllter Faszination auf Gil herabstarrten, tat sie, als würde sie ihn gar nicht beachten, und spielte mit dem Kind. Und sie war hübsch – weiche, honigdunkle Haut, eine hohe Stirn und mar kante Backenknochen, schrägstehende, glänzende, braune Augen mit langen Wimpern, volle, feuchte Lippen, kleine Ohren, ein spitzes Kinn und die Figur einer gerade erblühenden Frau. Wahrscheinlich war sie nicht älter als dreizehn oder vierzehn Jahre. Gil rückte den Gürtel mit den Silberbeschlägen zurecht, an dem sein Kurzschwert hing, ergriff die Waffe am Heft – nicht, weil er etwas von diesen Frauen und Kindern befürchtete, sondern um sich vor ihnen ein wenig in Pose zu werfen – und ging auf die Veranda hinauf. »Keba bota«, begrüßte er die Frauen. 144
»Keba bota«, erwiderten sie, »keba bota, keba bota«, erwiderten sie nacheinander, auch die kleinen Jungen; nur das schöne Mädchen blieb stumm. Sie traten zur Seite, damit er ins Haus gehen konnte; einer der Jungen zog die aus Raffiabast gewebte Matte beiseite, die vor dem Ein gang hing. Der Raum ging nach hinten auf eine zweite Veranda, von der man in einen weiteren Hof gelangte. Dort brannte ein Kochfeuer, zu dem die vier jüngeren Frauen jetzt hinausgingen. Zwei von ihnen brachten einen Kessel mit einem dampfenden, würzig riechenden Gericht zu rück, dazu eine Schale mit Früchten und Gemüse und einen Flaschen kürbis mit Palmwein; die beiden anderen hielten brennende Späne in der Hand, mit denen sie die Palmöllampen an den Dachbalken ent zündeten. Gil sah sich um; er konnte nicht feststellen, ob dies das ein zige Zimmer des Hauses war, hoffte aber, dass es noch weitere Räume gab, weil er seine Habseligkeiten nirgendwo entdeckte. Der Raum war spärlich ausgestattet: An den Wänden waren ein paar große, bemal te Tontöpfe und Kürbisse aufgereiht, vor den Fensteröffnungen hin gen gewebte, mit rautenförmigen Mustern verzierte Matten, von de nen einige auch über den aus Brettern gefügten Boden verstreut la gen, und in der Mitte stand ein stundenglasförmiger Hocker. Die Frau mit dem Kind auf dem Rücken lud Gil mit einer Handbewegung ein, darauf Platz zu nehmen. Seit dem Aufbruch von Mpinda hatte er im mer zusammen mit Menschen gegessen, die er kannte – Mbemba, Pa ter Sebastião, Segou, Gomes, Dias; die letzten Tage hatte er nur mehr die beiden Soldaten als Gesellschaft gehabt, aber auch das war noch schöner gewesen, als ganz allein essen zu müssen. Würde ab jetzt nie mand mehr seine Mahlzeiten mit ihm teilen? Er nahm den Helm und das Schwert ab, zog seinen Rock aus, löste die Riemen seines Brusthar nischs, legte alles auf den Boden und setzte sich im Kettenhemd auf den Hocker. Die Frauen und die beiden Jungen beobachteten ihn dabei mit großer Spannung. Auch das schöne Mädchen in der grün-roten Kanga konn te seine Neugier nicht verbergen, obgleich sie auf der vorderen Terras se geblieben war und sich halb hinter der Matte versteckte, die im Ein 145
gang hing. Gil schaute sich nach ihr um, aber sie hatte den Blick schon wieder abgewandt, bevor er ihr in die Augen sehen konnte. Also beug te er sich über den dampfenden Kessel. Er enthielt einen bräunlichen Brei, Stücke von Hühnerfleisch, Erbsen, Nüsse und Pilze. Diese Art von Gerichten kannte er mittlerweile und hatte sie schätzen gelernt; deshalb zögerte er nicht lange, sondern bekreuzigte sich nur flüchtig, wobei er die Kette aus Blutstein berührte und ein »Gegrüßet seist du, Maria« murmelte. Dann formte er mit den Fingern aus dem Brei einen klebrigen Ball und rollte ihn zum Kühlen auf der Handfläche hin und her, bevor er ihn in den Mund schob. Das Essen war sehr scharf – für Mildgewürztes hatten die Kongo anscheinend nichts übrig –, aber dar an war Gil inzwischen gewöhnt und mochte es sogar. Vielleicht war es ja gar nicht schlecht, sich ein bißchen zu betrinken, dachte er und nahm als nächstes einen kräftigen Schluck Palmwein. Dann versuchte er noch einmal, einen Blick von dem schönen Mädchen zu erhaschen. Dieses Mal war er schnell genug; er konnte ihr zulächeln, aber sie ließ die Matte fallen, hinter der sie sich verbarg, und lief davon. »He! Was ist los?« fragte er die Frauen im Zimmer und stand auf. »Weshalb läuft sie weg? Wo will sie hin?« »Sie wird zu Hause erwartet«, erwiderte die Frau mit dem Kind. »Wo wohnt sie denn?« Aber noch bevor die Frau antworten konnte, war Gil schon an der Tür, schlug die Matte zur Seite und trat auf die Veranda hinaus. Es dauerte eine Welle, bis er sie entdeckte. Sie lief gerade über die mittlere der drei Brücken auf das Tor in den Palisaden zu, durch das Mbemba, Mpanzu und der NsakuSoyo auf ihrem Weg zum König ge gangen waren. Sie wohnte also im königlichen Bezirk. Und plötzlich fiel Gil ein, dass ihr Kleid ebenso grün und rot gewesen war wie Mbem bas Kanga und die seiner Leibwache. Gehörte sie demnach zu Mbem bas Familie oder zu seinem Gefolge? Oder war sie seine Dienerin, sei ne Konkubine, seine Frau? Das Tor wurde geöffnet, und sie schritt hin durch. Als es wieder geschlossen war, ging Gil ins Haus zurück. »Wer ist sie, mchento?« fragte er die Frau mit dem Kind. »Nimi a Nzinga.« 146
Gil hob erstaunt die Augenbrauen. »Nimi a Nzinga? So wie auch Mbemba a Nzinga heißt?« »Ngete«, antwortete die Frau mit einem erfreuten Lächeln, da Gil so fort verstanden hatte. »Sie ist princesa?« platzte er auf portugiesisch heraus. Er kannte das Kongo-Wort für Prinzessin nicht; schließlich hatte er bislang noch kei ne kennen gelernt. Die Frau verstand die Bemerkung in Gils Mutter sprache natürlich nicht; deshalb versuchte er es noch einmal. »Sie ist ein Kind von Nzinga a Nkuwu?« fragte er. »Ngete«, erwiderte die Frau. »Sie ist eine Tochter des ManiKongo. Sie ist die NtinuKongo.« »NtinuKongo«, wiederholte Gil. Prinzessin der Kongo. Er setzte sich wieder und nahm noch einen großen Schluck Palmwein. Nimi a Nzin ga, die NtinuKongo. Sie war entweder Mbembas Schwester oder Halb schwester, je nachdem, wer ihre Mutter war. Und sie war ein hübsches kleines Ding.
Mbemba kam an diesem Tag nicht mehr zu ihm, und auch am fol genden Tag nicht. Aber wenngleich die Abwesenheit des jungen Prin zen Gils Unbehagen schürte, gab es bislang nichts, was ihm wirklich Grund zur Furcht hätte geben können. Im Gegenteil, er wurde ehrer bietig behandelt, man war äußerst freundlich und kümmerte sich sehr gut um ihn. Die vier jüngeren und die beiden älteren Frauen mit ihren Kindern – dem Kleinkind und den beiden kleinen Jungen – blieben als seine Dienerinnen bei ihm; doch die schöne Prinzessin zeigte sich lei der nicht mehr. Und das Haus hatte tatsächlich noch ein weiteres Zim mer, in dem er nicht nur seine Habseligkeiten vorfand, sondern auch die von Dias und Gomes sowie sämtliche Vorräte von der Leonor, die ihnen Kapitän Cão mit auf den Weg gegeben hatte. Der andere Raum war sein Schlafzimmer; die Frauen und Kinder wohnten in eigenen, kleineren Behausungen im Hinterhof. Neben ei ner Ansammlung von Töpfen und Flaschenkürbissen, einem zweiten 147
Hocker in der Form eines Stundenglases, den Truhen und Kisten vom Schiff – die sich gut als Tische eigneten – und der geschnitzten Sta tue einer Tänzerin mit überaus üppigen Brüsten (eine Art Hausgöt tin?) enthielt der Raum einen Stapel gewebter Matten, Tagesdecken aus dem samtartigen Stoff und eine hölzerne Kopfstütze; diese Gegenstän de dienten als Schlafstatt und waren unter dem Fenster angeordnet, das zur vorderen Veranda hinausging und einen Blick auf den Luezi und den königlichen Bezirk auf dem jenseitigen Ufer freigab. Als sich Gil am ersten Abend nach dem Essen in das Schlafzimmer zurück zog, folgten ihm die beiden älteren Frauen mit Kesseln voll heißem und kaltem Wasser, Tüchern, Schwämmen und Bimssteinen. Er zog die Stiefel und das Kettenhemd aus und wartete, dass sie ihn allein lie ßen, damit er sich waschen konnte. Aber sie gingen nicht, und auch die vier jüngeren Frauen und die beiden kleinen Jungen blieben an der Tür stehen. Offenbar warteten sie darauf, dass er sich vor ihnen auszog. War ein nackter Körper für sie nicht etwas, dessen man sich schämen musste? Oder war ihre Neu gier so unbezwingbar, dass sie jegliches Schamgefühl verloren hatten und unbedingt wissen wollten, wie er unter seiner Kleidung aussah – ob der weiße Prinz aus dem Himmel genauso gebaut war wie ihre ei genen Männer? Wie sich zeigte, traf beides zu, und es gab sogar noch einen weiteren Grund – seine weiße Haut. Sie konnten einfach nicht glauben, dass Gil wirklich am ganzen Körper weiß war, dass er sich nicht mit Farbe angemalt hatte; sie hatten wirklich damit gerechnet, dass das Weiß beim Waschen abgehen und darunter eine Haut er scheinen würde, die so dunkel war wie die ihre. Nervös, aber auch ir gendwie belustigt, gab er ihnen zu verstehen, sie sollten ihn allein las sen. Aber als er sich ausgezogen hatte und sich mit einem Schwamm wusch, entdeckte er, dass eine der jüngeren Frauen sich wieder zum Eingang geschlichen hatte und ihn beobachtete. Er wandte sich ab rupt zu ihr um und zeigte sich ihr ganz unverfroren in der Erwar tung, dass sie peinlich berührt weglaufen würde. Aber sie blieb ganz unbefangen stehen, begutachtete ihn interessiert und trat sogar noch einen Schritt näher. Nun war er es, dem die Situation peinlich wur 148
de; er drehte sich wieder um und zog sein Hemd an, aber er befahl ihr nicht, zu gehen. Er trat ans Fenster und blickte zum königlichen Bezirk hinüber. Er dachte noch immer, Mbemba würde später am Abend zu ihm kom men, und deshalb fragte er sich, ob er nicht vielleicht sein Prinzen kostüm wieder anlegen sollte. Aber nichts deutete darauf hin, dass Mbemba ihn noch aufsuchen würde. Die Tore in den Palisaden jen seits des Flusses blieben geschlossen; das einzige, was er dort drüben in der Dunkelheit erkennen konnte, waren Hunderte von Feuern. Gil trat vom Fenster zurück. Die Junge Frau saß jetzt mit gekreuzten Beinen neben dem Eingang an die Wand gelehnt. Ihre Kanga hatte sie über die Knie hochgezogen und unter den Achseln etwas gelockert, und so be obachtete sie ihn gelassen mit leicht geöffneten Lippen. Gil war nicht so jung und dumm, als dass er nicht gewusst hätte, weshalb sie hier war, aber er sagte nichts. Statt dessen legte er sich auf sein Bett und wandte ihr den Rücken zu. Aber er konnte die Augen nicht schließen; er war hellwach, er spürte ihre Gegenwart, hörte, wie sanft ihr Atem ging – so klar und deutlich, wie er die kühle Luft spürte und das Sirren der Zikaden und die Schreie der Eulen draußen in der Nacht vernahm. War es an ihm, sie anzusprechen? Er wagte es nicht. Mit pochendem Herzen und stockendem Atem lag er reglos da und wartete. Und na türlich legte sie sich nach einer Welle zu ihm. Als er am nächsten Morgen frierend aufwachte, war sie verschwun den. Nachts wurde es auf dieser Hochebene erstaunlich kalt. Er stand auf und wickelte sich in eine Wolldecke aus seiner Truhe ein, und da er wusste, dass es kein Frühstück geben würde, genehmigte er sich etwas Schiffszwieback, gepökeltes Schweinefleisch und einen Schluck Madeira-Wein aus den Vorräten vom Schiff. Dann trat er wieder ans Fenster und sah hinaus. Einer der kleinen Jungen stand auf der vor deren Veranda und schaute ins Haus; als er Gil erblickte, lief er er schreckt davon. Gil musste laut lachen, als er sah, wie der Kleine nackt zum Fluss hinunterrannte. Das Sonnenlicht brach sich zwar schon auf dem Wasser des Luezi und ließ die Oberfläche erglitzern wie tausend Diamanten, aber es war noch sehr früh, wahrscheinlich erst eine Stun 149
de nach Sonnenaufgang. Es war die Höhenlage, die kristallklare Luft, der grenzenlose, blaue Himmel, weshalb alles so strahlend hell wirk te. Im Staub des Flussufers pickten Trauertauben und Ziegenmelker nach Nahrung. Irgendwo hinter dem Haus krähte ein Hahn. Frauen trugen auf ihren Köpfen Bündel, Körbe und Töpfe zu den Verkaufs ständen unter den Feigenbäumen und Palmen am Fluss und bereite ten sich auf den Markt vor. Von dem Dach der Werkstatt nebenan stieg noch kein Rauch auf, obwohl darin schon ein Feuer brannte. Gil zog seine Prinzenkleider an und ging auf die vordere Veranda hinaus, um auf Mbemba zu warten. Die beiden kleinen Jungen leisteten ihm Gesellschaft. Zuerst stan den sie zögernd und etwas unsicher am Daumen lutschend am Ein gang und sahen ihn mit großen Augen an. Aber als sie sich nach ei ner Weile an seinen Anblick gewöhnt hatten, setzten sie sich auf die Treppe zur Veranda, ließen die Beine baumeln und spielten mit Mur meln und bunten Kieselsteinen. Unten am Fluss sammelten sich im mer wieder kleine Gruppen von Menschen, die miteinander tuschel ten und neugierig heraufschauten, um den weißen Prinzen genauer zu betrachten. Ihre Blicke und ihr Geflüster verunsicherten Gil; er ver suchte, wichtig zu tun, und schritt stolz und ungeduldig auf der Veran da auf und ab, zog zwischendurch sein Schwert und machte damit ein paar Streiche in der Luft, als würde er üben, und setzte dann und wann den Helm ab, um die Federn zu untersuchen. Dann wieder stand er da, verschränkte die Arme vor seinem Brustharnisch und blickte herrisch über den Luezi hinweg auf das mittlere Tor in den Palisaden; er hoffte, dass es sich jeden Augenblick öffnen würde und Mbemba mit seinen Kriegern erschiene, um ihn zum ManiKongo zu führen. Doch die Zeit verstrich, und noch immer war keine Spur von Mbemba zu sehen. Gil wurde sein dummes Spiel langweilig; also setzte er sich zu den beiden Jungen auf die Veranda und beobachtete, was um ihn herum vorging. Vor dem Haus, am Flussufer, herrschte lautes und fröhliches Trei ben. Herden von Ziegen wurden vorbeigetrieben, dunkelbraune Rin der mit geschwungenen Hörnern und mächtigen Buckeln wirbelten den Staub auf und scheuchten dabei Hühner und anderes Geflügel auf. 150
Der Handel an den Verkaufsständen schien immer von großen Strei tereien und lauten Worten eingeleitet zu werden, doch am Ende wurde man stets mit Gelächter und freundlichen Handschlägen handelseinig, und die Käufer zogen mit ihren Bündeln davon. Einbäume, die ohne Zweifel noch vor der Morgendämmerung auf dem Luezi zum Fischen unterwegs gewesen waren, wurden an Land gezogen; der Fang wurde in Netzen, Körben und an Schnüren aufgereiht ans Ufer geschafft und an Ort und Stelle ausgenommen, gereinigt und verkauft. Es gab kei nen Tauschhandel – die Kongo benutzten Fluss- und Seemuscheln, die sie nzimbu nannten, als Geld; dabei waren Meermuscheln wertvoller als solche aus Flüssen, große Muscheln besaßen mehr Wert als klei ne und schön gefärbte galten mehr als einfache. Schließlich stieg auch schwarzer Rauch aus dem Dach des Nachbarhauses, und die metalli schen Schläge, die jetzt zu hören waren, bestärkten Gil in der Vermu tung, dass es sich wirklich um eine Schmiede handelte. Er beschloss, sich anzusehen, wie diese Leute ihrem Handwerk nachgingen; wenn Mbemba käme, würde er ihn nicht verpassen, denn es war ja gleich nebenan. Zwei Männer bedienten Blasebälge, die aus mit Leder bespannten, ausgehöhlten Holzklötzen gefertigt waren, und hielten damit zwei Holzkohlenfeuer weißglühend. Die Ambosse waren rechteckige Ei senblöcke, die Hämmer hatten dreieckige Köpfe aus Eisen und dik ke Holzgriffe. Das Erz, aus dem das Metall herausgeschmolzen wur de, war im Hinterhof aufgehäuft – es war das rote, offenbar leicht ab zubauende Gestein des Steilhangs. Die Schmiede, große, starke Män ner mit ledernen Schürzen und Mützen, hantierten mit ihren Häm mern und Zangen und stellten verschiedenste Klingen und Werkzeu ge her, aber auch kunstvolle Geräte. Außerdem war im Hinterhof eine Metallgießerei untergebracht; dort wurde aus grünem Malachiterz Kupfer geschmolzen und zu vielfälti gen Schmuckgegenständen und Zierrat gegossen. Und ein Stück wei ter Flussabwärts, aber noch in Sichtweite seines Hauses, konnte Gil be obachten, wie das ungewöhnliche, samtartige Tuch für die Kangas und andere Stoffe hergestellt wurde: Es bestand nicht aus Baumwolle, Wol 151
le oder Seide, sondern es war ein Material aus äußerst feinen Fäden, die aus den Blättern der Bambuspalme gewonnen und auf besonderen Webstühlen zu Stoffen verarbeitet wurden, welche Samt, Satin oder auch Taft und Damast ähnelten. Angesichts dieser großen Kunstfer tigkeit der Kongo in der Metallbearbeitung und Stoffherstellung war es nicht verwunderlich, dass die Tauschwaren, die ihnen Kapitän Cão so feierlich als Geschenke darbot, keinen Eindruck auf sie gemacht hat ten. Gil ging zum Haus zurück. Er hatte Hunger und Durst, und trotz des angenehmen Wetters schwitzte er in seiner Rüstung. Er nahm sie ab, machte sich etwas zu essen – ohne Gomes und Dias und den armen Pater Sebastião musste er sich die mitgebrachten Lebensmittel nicht mehr einteilen – und ging dann, nur mit seiner ledernen Hose und ei nem Hemd bekleidet, aber mit Schwert und Helm, wieder auf die Ve randa hinaus. Es war mittlerweile schon längst Nachmittag; weit im Westen des Plateaus tauchten Schäfchenwolken am Himmel auf, und ein frischer Wind war aufgekommen. Mbemba hatte sich noch immer nicht blicken lassen. Wenn er noch heute kommen wollte, blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Aber er kam nicht, und so verstrich eine weitere Nacht. Und auch in dieser Nacht kam die junge Dienerin wieder zu Gil. Er wusste nicht, wie sie hieß. Die Nacht zuvor hatte er kein einzi ges Wort mit ihr gewechselt; er war sehr ungeschickt, angespannt und überhastet gewesen. Doch er wollte ihren Namen wissen; er wollte sei ne Einsamkeit durchbrechen und sie als Freundin gewinnen. Und da er nun schon einmal mit ihr geschlafen hatte und deshalb nicht mehr ganz so aufgeregt und durcheinander war, brachte er es an diesem Abend fertig, sie zu fragen. Doch er bekam keine Antwort. Wortlos zog sie ihn auf sich, schlang ihre überraschend starken Beine um seine Hüften und ihre Arme um seinen Hals, presste ihre vollen, weichen Brüste gegen seinen nackten Oberkörper und füllte seinen Mund mit ihrer Zunge, als wollte sie ihn daran hindern, seine Frage zu wiederholen. Er drehte das Gesicht zur Seite und spürte deutlich die langsamen, 152
bedachten Bewegungen ihrer Hüften, mit denen sie ihn in sich aufneh men wollte. »Sag mir, wie du heißt«, flüsterte er drängend. Aber sie packte ihn nur an seinen langen Haaren und zog ihn fest zu sich herunter, fasste mit ihren kleinen scharfen Zähnen seine Unterlip pe und biss heftig zu. Gleichzeitig wurden die Bewegungen ihrer Hüf ten ungeduldiger und rascher, der Zugriff ihrer Arme und Beine wur de stärker. Mit einem dummen Kichern versuchte er sich freizukämp fen; er schmeckte Blut auf seiner Lippe und roch den aufregend frem den Duft ihres Körpers. »Warum willst du mir deinen Namen nicht sagen?« keuchte er leise. Jetzt wurde ihm klar, worauf sie hinauswollte. Sie drängte ihn zur Eile. Man hatte sie zu ihm geschickt, damit sie ihre Pflicht erfüllte, letzte Nacht bereits und auch diese Nacht wieder, und sie wollte es auch dieses Mal so schnell wie möglich hinter sich bringen. Und sie wusste, wie sie ihn mit den Bewegungen ihrer Hüften, den Stößen ih res Bauches, dem Druck ihrer Schenkel rasch zum Höhepunkt trei ben konnte; dazu zog sie an seinen langen Haaren und grub ihre klei nen, scharfen Zähne in seinen Hals. Er ballte die Fäuste, um sich zu rückzuhalten. »Sag mir, wie du heißt! Sag mir um Gottes willen deinen Namen!« »Nimi.« »Was?« »Nimi. Nimi a Nzinga.« Mit einem Ruck richtete sie sich auf, und im nächsten Augenblick steckte eine ihrer Brustwarzen in seinem Mund; mit den Händen fasste sie ihn von hinten, und ihre Finger suchten sich einen Weg in ihn. Und er war plötzlich jung und stark und voller Leben und konnte sich nicht mehr zurückhalten. Dann schob sie ihn von sich weg. Gil rollte zur Seite, schloss die Augen und hielt den Atem an; dann ließ er die Luft aus seinen Lungen strömen und sog kühle, frische Nachtluft ein. Er öffnete die Augen wieder und betrachtete die junge Frau im kalten, blauen Licht der Sterne. Sie lag auf dem Rücken; ihre Brüste hoben und senkten sich mit ihrem Atem, eine Hand hatte sie 153
zwischen die Beine gelegt und verstrich geistesabwesend die Flüssig keit auf ihrem Schenkel. »Warum hast du gesagt, dass du Nimi a Nzinga heißt?« fragte er lei se. Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Nimi a Nzinga ist die NtinuKon go«, sagte sie und setzte sich auf. »Du solltest mit der Ntinu schlafen. Du bist ein Mtu«, erklärte sie lustlos. »Du solltest mit einer Prinzessin schlafen. Du bist ein Prinz.« »Aber wie heißt du wirklich?« »Das ist unwichtig.« »Es ist nicht unwichtig. Mir ist es wichtig.« Sie zuckte die Achseln und suchte auf der Schlaf statt nach ihrer Kan ga; dann stand sie auf und zog sich sorgfältig an. »Wohin gehst du? Geh nicht weg. Bleib. Ich möchte, dass du bleibst. Ich befehle es dir.« Er meinte es nicht so, wie er es sagte. Er wollte ihr nichts befehlen, sondern erlaubte sich lediglich einen Scherz. Er wollte, dass sie lächel te. Aber sie blieb ernst. Sie nahm seinen Befehl wörtlich; sie entkleidete sich wieder und legte sich neben ihn auf die Schlafstelle. Eine traurige Ruhe ging von ihr aus – die pflichtbewusste Ergebenheit einer Diene rin, die gesandt worden war, um einem Prinzen zu Gefallen zu sein. »Du mußt nicht bleiben, wenn du nicht willst«, sagte er. »Ich bleibe.« »Aber willst du denn wirklich bleiben?« »Ngete, Gil Janesch, ich will hier bleiben.« Sie schmiegte sich an ihn, verschlang ihre Beine mit den seinen, legte einen Arm um seine Taille und den Kopf auf seine Brust. Aber sie lächelte nicht. Er lag auf dem Rücken, hatte einen Arm um ihre Schulter geschlun gen und blickte auf ihren Hinterkopf. Ihre Haare waren kurz geschnit ten – anscheinend hatten alle Frauen hier unter ihren Turbanen kurzes Haar –, aber es war nicht in kleinen Kreuzmustern geflochten wie das der Prinzessin Nimi. Wie seltsam, dass sie in der Hitze des Gefechts diesen Namen für sich gewählt hatte … Hatte sie vielleicht gedacht, die Vorstellung, eine Prinzessin zu lieben, würde ihn noch mehr erregen 154
und die Sache damit verkürzen? Oder vielleicht hatte sie sich in diesem Augenblick gewünscht, selbst eine Prinzessin zu sein? »Ich sage es niemandem.« »Was?« Sie war eingedöst, und seine Worte hatten sie wieder geweckt. »Ich werde deinen Namen als Geheimnis für mich behalten, wenn du ihn mir sagst.« Sie preßte das Gesicht gegen seine Brust. »Schlaf, Gil Janesch«, mur melte sie. »Lass uns jetzt schlafen.« Aber er konnte nicht. Er lauschte ihrem Atem, fühlte ihn warm an seiner Brust. Sie war nicht glücklich, bei ihm zu liegen. Sie wollte ihm keine Freundin sein. Er spielte mit den Perlen seiner Blutsteinkette, die er um den Hals trug, und musste dabei an Dom Nuno und Dom José und den Kapitän denken. Auch er war nicht glücklich darüber, dass er hier war. Er sehnte sich nach einem Freund. Wo war Mbemba? Plötzlich richtete sie sich auf. »Was ist los?« fragte er. »Still. Horch.« Er konnte nichts hören außer den gewöhnlichen Geräuschen der Nacht – den Rufen der Eulen, dem Summen der Zikaden. »Was?« frag te er noch einmal. Sie war hellwach, hielt den Kopf zur Seite und stützte sich mit den Händen auf der Schlafstelle ab, als wollte sie jeden Augenblick auf springen. Und in der Tat fuhr sie mit einem Mal hoch und rannte zum Fenster. Er trat zu ihr. »Das ist Mbemba«, sagte er und seufzte erleichtert auf. »Endlich kommt er, um mich zu holen.« »Nein«, widersprach sie und eilte in den Raum zurück. Das mittlere Tor der königlichen Anlage hatte sich geöffnet, und eine Prozession von Fackelträgern schritt auf die Brücke zu. In ihrer Mitte wurde ein Mann in einer Sänfte getragen; ein zweiter ging daneben zu Fuß, und weitere Fackelträger bildeten den Schluß des Zuges. Gil konn te keinen der beiden Männer erkennen, aber sicher war einer von ihnen Mbemba, der endlich zurückkam, um ihn zum König zu bringen. 155
»Wer ist es denn, wenn nicht Mbemba?« fragte er die Frau und trat vom Fenster zurück. »Mpanzu?« »Nein.« Sie zog ihre Kanga wieder an. »Wer dann?« »Lukeni a Wene.« »Wer?« »Der NgangaKongo.« »Ich weiß nicht, wer … wo gehst du hin?« Sie rannte aus dem Zimmer; er lief ihr nach. »Warte! Ich befehle es dir!« Dieses Mal meinte er es ernst; seine Stim me überschlug sich fast, als er es ihr befahl. Sie blieb verängstigt auf der hinteren Veranda stehen. Ihre panische Furcht steckte ihn an; sie hielt ihre Kanga fest, die sie in der Eile nicht richtig um ihren Körper gewickelt hatte und die deshalb herunterzu rutschen drohte, und starrte mit Entsetzen im Blick auf den Eingang des Hauses, als erwarte sie, dort gleich etwas Schreckliches auftauchen zu sehen. Die Prozession aus dem königlichen Bezirk hatte die Brük ke noch nicht erreicht, aber nun hörte Gil Trommeln; sie schlugen ei nen langsamen, leisen, bedrohlich wirkenden Rhythmus. Wie spät war es? Die dünne Sichel des Mondes war bereits untergegangen. Es mus ste nach Mitternacht sein. »Wer ist Lukeni a Wene? Wer ist der NgangaKongo?« »Der, der die Sterne scheinen und die Sonne aufgehen läßt und die Toten erweckt.« Ein Zauberer? Ein Priester? Der Juju-Mann der Kongo? Hieß der Ti tel hier nicht Nsaku, sondern Nganga? »Nsaku?« fragte er sie. »Der NsakuKongo?« »Größer als der Nsaku. Mächtiger, gefährlicher, wunderbarer.« NgangaKongo, der höchste Priester der Kongo. »Er kommt hier her?« »Ngete, Gil Janesch. Er kommt zu dir.« Jetzt überquerte der Fackelzug die Brücke. Die Trommeln wurden lauter. Unwillkürlich zitterte Gil in der Kühle der Nacht, und da fiel ihm ein, dass er nackt war. 156
»Du bleibst hier. Ich befehle dir, hier zu bleiben«, sagte er und lief in das andere Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Er wusste nicht, warum er wollte, dass sie blieb. Er wusste nur, dass er nicht allein sein wollte. Er wollte jemanden bei sich haben, und wenn es nur diese verängstigte junge Frau war. Aber er machte sich kaum Hoffnungen, dass sie bleiben würde; ihre Angst vor dem Ngang aKongo war einfach zu groß. Und tatsächlich, als er sein Hemd über gestreift und die ledernen Beinkleider angezogen hatte – für die Rü stung hatte er keine Zeit mehr –, war sie verschwunden. Er ging auf die rückwärtige Veranda hinaus. Der Hinterhof lag verlassen da, die Behausungen der Frauen waren in Dunkel gehüllt und die Fenster und Eingänge mit Matten verhängt. Gil rannte durch das Haus zur vorde ren Veranda. Trotz des Lärms der Trommeln und des blendendhellen Lichts der vielen Fackeln war keine Menschenseele am Flussufer, und die Häuser am Wasser waren so still und dunkel wie die im Hinterhof. Alle Menschen schienen sich vor dem NgangaKongo zu verstecken. Gil umklammerte den Griff seines Schwertes und versuchte, eine tap fere, beherzte Pose einzunehmen. Die nächtliche Kälte ließ ihn zittern, der Wind zerzauste seine langen Haare, aber er stand herausfordernd da und beobachtete, wie die Prozession die Brücke überquerte und am Ufer entlang auf ihn zukam. Die Fackelträger waren Krieger; sie hatten Bogen um den Oberkör per geschlungen und Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken, und in ihren Gürteln steckten Messer ohne Scheiden. Ihre Kangas waren karmesin rot und mit gelben Sonnenstrahlen bestickt, und die wild im Wind lo dernden Fackeln verbreiteten einen süßen Geruch, der an Weihrauch erinnerte. Die Trommler trugen dunkle, glänzende Lendenschur ze aus Leder und Kopfbedeckungen aus roten und gelben Papageienfedern. Ihre Gesichter waren geisterhaft weiß bemalt; die Trommeln hingen an ihren Hüften und wiegten sich bei jedem Schritt der Spie ler im Rhythmus mit. Auch Fetischträger waren dabei; sie waren eben falls weiß bemalt und schüttelten zum hypnotisierenden Rhythmus der Trommeln ihre Rasseln, hieben Stöcke gegeneinander und schlu gen mit kleinen Hämmern auf hufeisenförmige Gongs. Der Zug nä 157
herte sich mit einem langsamen, würdevollen, rhythmischen Schwan ken; auch die Sänftenträger ließen ihre Last im Rhythmus der Musik leicht hin und her schwingen wie ein Pendel, und der Mann, der da neben ging, folgte dieser Bewegung ebenfalls, als befände er sich in Trance. Und als die Männer am Haus anlangten, stimmten sie einen tiefen, düsteren, klagenden Gesang an, der eine Atmosphäre der An dacht und Heiligkeit verbreitete und – der Gedanke schoß Gil plötz lich durch den Kopf – ebensogut aus der lateinischen Liturgie hätte stammen können. Die Krieger hielten ihre duftenden Fackeln wie Votivkerzen mit bei den Händen auf Brusthöhe und reihten sich vor dem Haus am Ufer auf. Die Trommler und Fetischträger sangen weiter ihre geheimnis vollen Gebete und behielten ihren Rhythmus bei, während sie unter halb der Veranda einen Halbkreis bildeten, der an die Kanzel in ei ner Kirche erinnerte. Die Sänftenträger und der Mann, der neben der Sänfte ging, traten in diesen Halbkreis hinein. Im tanzenden Licht der Fackeln erkannte Gil ihn sofort, und sein Herzschlag stockte. Es war der NsakuSoyo in seiner zeremoniellen Kleidung aus Federn; in der ei nen Hand hielt er Rasseln, in der anderen ein Messer. Als die Träger die Sänfte absetzten, kniete der Juju-Mann daneben nieder. Trommeln und Gesang verstummten; nur das knatternde Geräusch der im Wind flackernden Flammen war noch vernehmbar. Dann erklang ein Gong, und der Mann in der Sänfte kam zum Vorschein. Lukeni a Wene, der NgangaKongo. Der Hohepriester der Kongo, der Papst dieses Volkes. Gil wich einen Schritt zurück. Der Mann sah schrecklich aus. Gil verstand nun, weshalb die junge Frau davonge laufen war – es war ein buckliger Zwerg, dessen Alter man nicht mehr schätzen konnte, uralt und dazu völlig unbehaart. Diese groteske Haar losigkeit wurde noch dadurch hervorgehoben, dass er am ganzen Kör per weiß bemalt war, und da auch sein einziges Kleidungsstück, ein Lendenschurz, weiß war, wirkte er völlig nackt. Um den Hals hatte er mehrere schwarze Lederbeutel hängen, doch er trug keinen Schmuck, und auch seine Hände waren leer. Aus schwarzen Augenhöhlen, die wie Löcher in einer weißen Maske wirkten, blickte er zu Gil hinauf. 158
Das Weiße seiner Augen leuchtete unnatürlich, seine Lippen waren schwarz bemalt. »Gil Janesch!« Seine Stimme war schrill und hoch, und es lag eine sonderbare Kraft in ihr. Der Blick aus den dunklen Löchern in dem maskenhaften Weiß des Gesichts war fest und durchdringend. Sieh dich vor, sagte Gil stumm zu sich selbst, behalte einen klaren Kopf. Er kann zaubern, er kann womöglich sogar einen Fluch über dich aussprechen. »Ngete, ich bin Gil Janesch, Lukeni a Wene.« »Du weißt, wer ich bin?« »Man hat mir gesagt, wer du bist.« »Wer bin ich?« »Der NgangaKongo.« »Ja, ich bin der NgangaKongo, der große Zauberer des Reiches, der Erste an den Nüstern des Universums, der die Sterne zum Leuchten bringt, der die Sonne aufgehen und den Regen fallen läßt und die To ten wieder zum Leben erweckt. Ich bin der Priester des Königs, dem dieses Reich gehört und der mich in allen Dingen zu Rate zieht. Fürch test du mich?« »Ich verehre dich, Lukeni a Wene. Ich verehre und achte dich, so wie ich den Priester meines Königs verehre und achte.« »Du antwortest gut, Gil Janesch. Er antwortet gut, NsakuSoyo. Viel leicht ist es in Wirklichkeit nicht so, wie du sagst.« Der Juju-Mann aus Mpinda, der die ganze Zeit über gekniet hatte, erhob sich. »Es ist, wie ich sage, NgangaKongo. Du wirst es sehen.« »Ja. Komm zu mir, Gil Janesch.« Gil blickte um sich und verließ dann zögernd die Veranda. »Komm näher.« Gil wollte dem grotesken, buckligen Zwerg nicht ins Gesicht sehen. Er wusste nicht, welcher unheilvolle oder fremde Zauber sich hinter diesem steten, durchdringenden Blick verbarg. Mit niedergeschlage nen Augen näherte er sich dem Zauberer. Der Halbkreis der Tromm ler und Fetischträger zog sich um ihn herum zusammen, und der Nsa kuSoyo trat an die Seite des Hohenpriesters. 159
»Näher, Gil Janesch. Näher.« Obwohl Gil noch einige Schritte von dem Mann entfernt war, konnte er den Geruch, der von ihm ausging, schon jetzt wahrnehmen – auch er erinnerte Gil an den Duft von Weihrauch und Kerzenwachs in den Kirchen zu Hause. »Ich erwarte Mbemba a Nzinga, den MtuKongo, Lukeni a Wene. Bist du an seiner Stelle gekommen, um mich zum König zu führen?« »Nein, Gil Janesch. Der König ist noch nicht bereit, dich zu empfan gen.« »Er ist noch nicht bereit, mich zu empfangen? Wann wird er bereit sein?« »Wenn ich ihm eine Locke deines Haars gebracht habe.« »Was?« »Schneide eine Locke seines Haars ab, NsakuSoyo.« »Was? Nein! Bleib mir vom Leib, NsakuSoyo.« Gils Hand wander te wie von selbst an den Knauf seines Schwerts. »Ich warne dich, Nsa kuSoyo, komm nicht einen Schritt näher!« Der verhasste Juju-Mann hatte das Messer in seiner Hand erhoben und war auf Gil zugegangen; aber bei dessen Worten erinnerte er sich wohl daran, wie Gil ihn mit dem Schwert bedroht hatte, und wich wie der zurück. »Was fürchtest du, Gil Janesch?« fragte der NgangaKongo. »Ich dach te, du hast keine Angst vor mir. Ich dachte, du verehrst und achtest mich als den Priester meines Königs.« »Ich verehre und achte dich, Lukeni a Wene. Aber nicht ihn. Er hat Pater Sebastião getötet, der mein Priester war. Und er tötete Segou, meinen Freund.« »Ein böser Priester. Ein Sklave, kein Freund.« »Sei still, NsakuSoyo. Gib mir das Messer.« Der Juju-Mann schwieg verärgert und legte das Messer in die for dernd ausgestreckte Hand des NgangaKongo. »Du sagst, du verehrst und achtest mich, Gil Janesch, als den Prie ster meines Königs.« »Ja, Lukeni a Wene.« 160
»Also wirst du mir auch erlauben, dass ich eine Locke deines Haars abschneide und sie meinem König bringe.« Gil schluckte. »Ja, Lukeni a Wene, ich erlaube es.« »Dann komm näher.« Ein Gong ertönte; durchdringend klang der Ton durch die Stille. Und dann setzte der leise, düstere Gesang wieder ein, um das Ritual zu begleiten, das nun vollzogen wurde. Da der Zauberer so klein war – er reichte Gil kaum bis an die Brust –, musste der Junge den Kopf beu gen wie vor einem Priester, der einen Segen spendet. Dieser Priester je doch ergriff statt dessen eine Handvoll von Gils blonden, langen Haa ren; ganz offensichtlich überrascht, dass sie so weich und seidig waren, strich er kurz mit den Fingern darüber, schnitt dann ein kleines Bü schel heraus und verbarg es in seiner Faust. Im selben Augenblick wur de der Gesang eine Oktave höher, als sollte er das Geschehen feierlich unterstreichen. Aber was war geschehen? Gil wusste es nicht. Er wus ste lediglich, dass das Ritual, das nun vollzogen, der Zauber, der ge übt worden war, für diese Menschen nichts anderes darstellte als für ihn und seinesgleichen die Rituale und Glaubenshandlungen in sei ner Kirche. »Nun werden wir sehen, Gil Janesch.« »Was wirst du sehen, Lukeni a Wene?« »Wer du bist und was deine Absicht ist. Nun werden wir sehen, wa rum du aus deinem Land im Himmel in unser Land gekommen bist.« »Wie wirst du das erkennen, Lukeni a Wene?« »An dieser Locke aus deinem Haar.« Der Zauberer öffnete seine Faust. »Denn dies ist ein Teil deiner selbst, Gil Janesch. Ein Teil dei nes Wesens.«
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KAPITEL 9
E
r wurde krank. Aber er wusste, woher die Krankheit kam: Es war der Zauber des NgangaKongo. Das träumte er noch in der glei chen Nacht; es war ein einfacher, aber erschreckender Traum, der von da an jede Nacht wiederkehrte. Ein Feuer brannte in der Nacht; ein kleines Feuer, in dem glänzen de Blätter verbrannten und von dem ein grüner Rauch und ein sü ßer Duft aufstiegen. Der haarlose, bucklige Zwerg, der Hohepriester der Kongo, nackt und mit Kalk weiß bemalt, eine riesige, ebenfalls ge weißte, hölzerne Maske vor dem Gesicht, saß im Schneidersitz vor dem Feuer und hielt die Hände mit den Innenflächen nach oben über die Flammen. Die Locke, die er Gil abgeschnitten hatte, lag in seinen Hän den. Die Fetischträger, ebenso nackt und mit weißem Kalk bestrichen, standen hinter ihm und starrten gebannt auf das blonde Büschel. Im Hintergrund standen noch mehr Menschen, die Gil aber nicht erken nen konnte; dazu reichte der gespenstische grünliche Schein des Feu ers nicht weit genug in die kalte Nacht hinaus. »Nzambi Mpungu«, rief der Zauberer mit seiner schrillen Stimme in die Dunkelheit und hob die Hände höher. »Nzambi Mpungu, dies sen de ich dir!« Die rituelle Musik der Fetischträger setzte ein: das Schütteln der Rasseln, das Aufeinanderschlagen der Stöcke, die dumpfen Schläge der Trommeln, die Gongs und die frommen, düsteren Gesänge. Der NgangaKongo drehte die Hände um, so dass Gils Haare in die Flam men fielen, Feuer fingen und einen prasselnden Funkenschauer zum Himmel sandten. Und im selben Augenblick wurde Gil von Fieberhit ze erfasst. Der Zauberer hatte ihn entzündet. Er bemühte sich aufzuwachen, sobald der Traum begann, aber es ge 162
lang ihm nicht. Er wollte in die Nacht hinausschreien, aber die Wor te blieben ihm in der Kehle stecken. Und dann erstarben die prasseln den Funken, die fiebrige Hitze ließ nach, und er erschauerte in der Kälte des Nachtwindes. Er versuchte, sich seine Decke aus der Seetru he zu holen, doch auch dies wollte ihm nicht gelingen. Als er sich fe ster in die Decken seiner Schlafstatt einwickeln wollte, verließ ihn jeg liche Kraft. Und so musste er frierend, zitternd und mit klappernden Zähnen ausharren. Doch der bucklige Zwerg warf immer wieder neue Haarbüschel von ihm in das Feuer, so dass Gil immer wieder von der Fieberhitze erfasst wurde. Und das wiederholte sich Nacht für Nacht – wie viele Nächte? Er lag mit offenen Augen da. Es war noch immer Nacht. War es noch immer dieselbe Nacht, oder war es bereits die nächste oder übernäch ste? Jemand wischte mit einem kühlen, feuchten, nach Essig riechen den Tuch sein Gesicht ab. Es war die junge Frau, die Frau ohne Na men. Demnach konnte es nicht noch immer dieselbe Nacht sein, denn sie war ja weggelaufen. Er drehte das Gesicht von ihrem kalten Tuch weg, weil er wieder fror, zog die Knie an, steckte die Hände dazwi schen und krümmte sich zusammen, um den kalten Wind nicht mehr zu spüren. »Nimi, die Nacht ist kalt.« Sie kroch neben ihn unter die Decken. Natürlich, es war nicht Nimi, die Kongo-Prinzessin. Diesen Namen hatte sie nur genannt, um ihn zu erregen. Sie legte ihre Arme um seine Schultern, schlang ihre Bei ne um die seinen und drückte ihn an ihre Brust, um ihn in der kalten Nacht zu wärmen. Doch der NgangaKongo hatte kein Mitleid; der schreckliche Zaube rer entzündete ihn erneut. Und wieder brannte ein entsetzliches Fieber in ihm. Sie musste fühlen, wie er brannte, sie musste mit ihm brennen; auch ihr Haar musste Feuer gefangen haben. »Nzambi Mpungu, dies sende ich dir!« »Warum tut er das?« »Seht.« »Nzambi Mpungu, ich sende dir dieses Stück des weißen Fremdlings. 163
Ich sende dir diesen Teil seines Wesens. Sag mir nun, Nzambi Mpun gu, wer er ist und weshalb er gekommen ist. Sag mir, Nzambi Mpungu, ob wir ihn willkommen heißen oder davonjagen sollen.« »Was?« Gil versuchte, sich aufzusetzen. »Seht, Gil Janesch. Seht, still.« Sie drückte ihn fester an sich. Wusste sie von seinem Traum? Konnte sie hören, was er hörte? Konnte sie sehen, was er sah? Der NgangaKongo warf das letzte Haar büschel in die Flammen, und im Schein des Funkenregens erkann te Gil die Menschen, die hinter den Fetischträgern standen. Mbemba war bei ihnen, und auch Mpanzu und der NsakuSoyo. Jetzt traten sie vor und setzten sich um das Feuer, und dann sprach jeder von ihnen lange mit dem NgangaKongo. Sie redeten so leise, dass Gil nichts ver stehen konnte; aber ihren Gesten und dem Ausdruck ihrer Gesichter entnahm er, dass sie heftig miteinander stritten. Sprachen sie über ihn? Sprachen sie darüber, ob sie ihn willkommen heißen oder fortjagen sollten? Aber weshalb sollten sie ihn nicht willkommen heißen? Wa rum sollten sie ihn fortschicken? In seiner jugendlichen Unschuld war ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass sie ihm gegenüber Arg wohn empfinden könnten. »Was sagen sie? Ich kann nicht hören, was sie reden.« »Seht, Gil Janesch, still.« Sie drückte sein Gesicht an ihre Brust. »Schlaf, Gil Janesch, schlafe.« Nein, sie wusste nichts von seinem Traum. Sie sah nicht den Funken schauer, der in den schwarzen Nachthimmel aufstieg und zwischen den Sternen erlosch. Sie sah nicht, wie der NgangaKongo sich erhob und in das Feuer lief. Sie sah nicht, wie der Zauberer mit nackten Fü ßen die Flammen austrat und damit gleichzeitig seinen Traum. Die brennende Fieberhitze ließ nach; er fühlte wieder die Kälte der Nacht, doch der Körper der jungen Frau, die keinen Namen hatte, wärmte ihn, und schließlich versank er in einen traumlosen Schlaf. Als er aufwachte, war es hell. Nimi a Nzinga stand an dem niedrigen Eingang zu seinem Schlafzimmer. Er war sich sicher, dass es die rich tige Nimi war, die Kongo-Prinzessin – die blassgrüne, rot eingefas ste Kanga, das in kleinen Kreuzmustern geflochtene Haar, die schräg 164
stehenden, glänzenden Augen –, aber plötzlich sah er sie nicht mehr, weil sich die junge Frau ohne Namen über ihn beugte. Sie hielt ihm ei nen Flaschenkürbis an die Lippen, und mit der anderen Hand hob sie seinen Kopf an, damit er trinken konnte. Er dachte, es sei malafu, der Palmwein, aber es war etwas Fettiges, das bitter schmeckte – wahr scheinlich Ziegenmilch. Er nahm den Kürbis in die Hand und trank gierig. Mit einem Mal verspürte er Hunger und Durst; das Fieber hatte seinen Körper ausgezehrt, und er hatte seit Tagen nichts gegessen. Seit wie vielen Tagen? Er wusste es nicht. Es mussten wenigstens drei gewe sen sein, womöglich aber auch mehr – vier oder fünf, vielleicht sogar sechs. Und Mbemba hatte kein einziges Mal nach ihm gesehen? Viel leicht war es tatsächlich so wie in seinem Traum; vielleicht stritten sie wirklich darüber, ob sie ihn in ihrem Königreich als einen Überbrin ger des Guten willkommen heißen oder als Sendboten des Bösen da vonjagen sollten, und dies war der Grund dafür, dass Mbemba noch nicht gekommen war. Fünf oder sogar sechs Tage. Er musste heraus finden, wie viele es genau waren, und durfte sich nicht mehr verzäh len; es war ihm ohnehin schon zu oft passiert. Schließlich musste er ein Treffen einhalten; er musste rechtzeitig wieder in Mpinda sein, wenn die Leonor wiederkam, um ihn nach Hause mitzunehmen. Als Gil den Kürbis leergetrunken hatte, nahm ihn die junge Frau ohne Namen an sich und verschwand aus seinem Blickfeld, so dass er wieder Nimi, die Prinzessin, sehen konnte. »Keba bota, NtinuKongo.« Sie erwiderte nichts, aber zumindest lief sie nicht wieder weg. Die Dienerin kam mit einer Schüssel Brei zurück, die sie ihm wortlos reichte; dann hockte sie sich neben ihn nieder und beobachtete ihn und die Prinzessin, als wollte sie verfolgen, was sich zwischen den bei den abspielen würde. Gil hielt die Schüssel an den Mund, beobachte te über den Rand hinweg das Mädchen und aß mit Heißhunger. Es war ein gutes Zeichen, dass er solchen Hunger und Durst verspürte, ein Zeichen, dass er genesen war. Er stellte die leere Schüssel zur Seite und blickte um sich. Nach dem Licht im Raum zu urteilen, war es noch früher Morgen. Er hörte die Stimmen der Marktfrauen an den Stän 165
den unten am Fluss, das Hämmern in der Schmiede nebenan. Es war Zeit, aufzustehen und etwas zu tun. Er wollte die Decke zurückschie ben, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass er darun ter nackt war. »Ich möchte mich anziehen, mchento.« Er sagte das aus Rücksicht auf das Mädchen, denn er bezweifelte, dass eine Prinzessin ebenso wenig Schamgefühl besaß wie die Dienerinnen. »Holst du mir meine Kleider?« »Möchtest du auch baden?« »Ja, ich möchte auch baden.« »Ich hole das Badewasser.« »Ntondesi. Danke.« Das Mädchen trat vom Eingang zurück, um die junge Frau vorbei zulassen. Draußen unterhielten sich die beiden kurz im Flüsterton und kicherten, dann kam die Prinzessin zurück. Gil saß auf seiner Schlaf statt, die Decken bis zur Taille hochgezogen, und fühlte sich durch die Anwesenheit des Mädchens und seine eigene Scheu wie gefangen. »Du bist Nimi a Nzinga?« fragte er. Sie nickte. »Und du bist die Schwester von Mbemba a Nzinga und eine Tochter des Königs?« Sie nickte wieder. »Ich bin Gil Eanes.« »Ich weiß«, antwortete sie jetzt. Ihre Stimme war zart und lieblich, und sie zog beim Sprechen die Augenbrauen hoch und spitzte die Lip pen, als wollte sie ein schelmisches Lächeln unterdrücken. »Alle wis sen das.« »Ich warte darauf, dass Mbemba mich zu deinem Vater bringt. Wis sen das auch alle?« »Ngete, auch das wissen alle.« »Und wissen auch alle, warum er während der ganzen Zeit, seit ich in diesem Haus bin, noch nicht zu mir gekommen ist?« »Oh, er ist zu dir gekommen, Gil Janesch. Er ist viele Male zu dir ge kommen. Aber jedesmal, wenn er kam, hast du so tief geschlafen, dass niemand dich wecken konnte.« 166
Das war es also … Gil atmete erleichtert auf. An dem Traum war demnach nichts Wahres; der Grund, warum der König ihn noch nicht empfangen hatte, war nur Gils Krankheit und nicht etwa ein Streit darüber, ob er überhaupt empfangen werden sollte oder nicht. »Ich war krank«, sagte er, doch er fühlte sich bereits viel besser. »Und bist du jetzt wieder gesund?« »Ja.« »Das ist gut, denn Mbemba wird auch heute wieder zu dir kommen.« »Heute? Dann muß ich mich beeilen. Ich muß fertig sein, wenn er kommt. Wo ist die Frau mit dem Badewasser – wie heißt sie? Und wo sind meine Kleider?« »Sie heißt Nimi.« »Wie?« »Hast du sie nicht nach ihrem Namen gefragt?« »Sie heißt Nimi, genau wie du?« »Ja. Und deine Kleider sind dort.« Sie zeigte auf Gils Truhe. »Soll ich sie dir herausholen?« Wie seltsam, dass die Dienerin tatsächlich Nimi hieß! »Ja, bring sie mir.« »Ich kann sie dir nicht bringen. Ich bin die NtinuKongo, und ich bringe niemandem etwas.« Zu diesen Worten lächelte sie aufreizend; anscheinend freute sie sich diebisch darüber, dass sie ihn zum Narren gehalten hatte. Er lachte über ihr plötzlich so keckes und freches Auftreten und be schloss, es ihr heimzuzahlen. »Dann muß ich sie mir selbst holen, nicht wahr?« gab er zurück und tat, als wolle er die Decke zurückschlagen und seine Nacktheit entblößen. »Ja, das mußt du wohl«, erwiderte sie, ohne den Blick von ihm ab zuwenden. Gil zögerte. Sie beobachtete ihn mit einer Unschuld, wartete mit solch unverhohlener Spannung darauf, dass er sich vor ihr entblößte, dass er errötete. Offensichtlich war sie genauso neugierig darauf, sei nen Körper zu sehen, wie es die Dienerinnen gewesen waren, und auch Scham schien sie ebenso wenig zu empfinden wie diese. 167
»Geh hinaus, Nimi«, sagte er mit einem verlegenen Grinsen, »du bist doch noch ein kleines Mädchen.« »So klein bin ich nicht mehr.« »Aber so groß auch noch nicht. Geh jetzt hinaus, damit ich mich an ziehen kann.« Als sie draußen war, trat Gil ans Fenster und holte tief Luft. Sein Kopf fühlte sich noch ein bißchen schwer an, und vom tagelangen Lie gen war er etwas schwach auf den Beinen. Auch mit der Tageszeit hatte er sich geirrt; es war schon spät am Vormittag. Der Grund für das ge dämpfte Licht war eine geschlossene, schiefergraue Wolkendecke, die die Sonne verbarg. Solche Wolken hatte er hier noch nie gesehen. Un ten an der Küste hatte es welche gegeben, aber sie waren immer erst um die Zeit der Abenddämmerung vom Osten aufgezogen. Hier im Hochland dagegen war der Himmel bisher Tag und Nacht völlig klar gewesen. Vielleicht hatte während seiner Krankheit ein großer Wetter umschwung stattgefunden. Es war jetzt Ende September, vielleicht so gar schon Anfang Oktober; womöglich begann jetzt eine Regenzeit. Während Gil zum Fenster hinaussah und darauf wartete, dass die andere Nimi, die Dienerin, mit dem Badewasser zurückkam, öffne te sich das mittlere Tor des königlichen Bezirks auf dem jenseitigen Ufer des Luezi. Er wartete gar nicht erst ab, wer herauskommen wür de; es konnte ohnehin nur Mbemba sein, der ihn endlich zum ManiKongo bringen würde. An ein Bad war also nicht mehr zu denken. Ha stig zog er sein Prinzenkostüm an und suchte dann in den Kisten mit dem Schiffsproviant nach den Geschenken für den König der Kongo, die der Kapitän ihnen mitgegeben hatte. Doch nun, da er Kunst und Handwerk der Kongo kannte, war er sicher, dass diese Geschenke oh nehin nur als Tand betrachtet würden. Vielleicht fand sich ja in dieser Kiste noch etwas anderes, etwas Besonderes, etwas Eigenartiges und Ungewöhnliches. Die Stoffe, Glöckchen oder Angelhaken waren sicher nicht geeignet, und die Spiegel, Messer, Töpfe und Pfannen ebensowe nig. Solches Zeug hatten die Kongo selbst mehr als genug. Gil räum te es zur Seite. Er musste etwas Besseres finden; er wollte etwas Beein druckendes überreichen. Die Menschen hier betrachteten ihn mit Arg 168
wohn, und er wollte versuchen, diesen Argwohn zu zerstreuen. Plötz lich fiel ihm Pater Sebastiãos Brevier ein – wie sehr Mbemba davon fasziniert gewesen war und welche Furcht es dem NsakuSoyo einge flößt hatte. Ja, das war genau das richtige, etwas, das die Kongo nicht hatten: die Schrift. »Der MtuKongo kommt, Gil Janesch.« Nimi a Nzinga, die NtinuKongo, stand plötzlich wieder im Eingang des Zimmers. Gil nickte und folgte ihr in den anderen Raum. Dort hatten sich be reits die Dienerinnen mit dem Kleinkind und den beiden Jungen in ei ner Reihe aufgestellt. Alle wirkten sehr ernst, denn nun würde er über den Fluss gehen und dem König vorgestellt werden. Gil blickte die jun ge Frau an, die andere Nimi, die seine Nächte in diesem Haus mit ihm geteilt hatte, und lächelte ihr zu. Zu seiner Überraschung und Freude erwiderte sie diese Geste. War es ihre Art, von ihm Abschied zu neh men – oder freute sie sich womöglich, dass sie ihn nun los war? Er trat auf die vordere Veranda hinaus; Nimi, die Prinzessin, blieb am Eingang stehen. Am Ufer entlang kam Mbemba mit Kriegern sei ner Leibwache auf das Haus zu. Er war nicht festlich gekleidet, sondern trug lediglich seine blassgrüne, rot eingefasste Kanga, aber er führ te eine Lanze mit sich. Anscheinend nahm er an, dass dies wieder ein vergeblicher Besuch sein würde, dass Gil noch krank war und wieder schlief. Gil strich seinen bestickten Rock aus schwarzem Samt über dem Brustharnisch seines Kettenhemdes glatt, rückte den Helm etwas keck zurecht und trat an die Treppe, die von der Veranda nach unten führte. Eine Hand legte er an das Heft seines Schwerts. »Keba bota, Mbemba«, begrüßte er den Prinzen. »Es freut mich, dass ich dich hier stehen sehe, Gil Janesch.« »Mich freut es auch, Mbemba. Und es tut mir leid, dass ich die vielen Male, die du zuvor kamst, nicht hier stehen konnte.« »Du warst krank.« »Ja, ich war krank. Ich brannte. Ich träumte, dass ich in die Flammen eines Feuers geworfen wurde.« »Das ist ein sehr seltsamer Traum.« »Ja, wahrhaftig. Glaubst du, dass dieser Traum Wahrheit ist?« 169
»Alle Träume sind wahr.« »Aber ich kenne das Ende dieses Traums nicht, Mbemba. Ich habe ihn nicht zu Ende geträumt.« »Dies ist das Ende des Traums, Gil Janesch. Du bist aufgewacht, und ich bin gekommen, um dich zu meinem Vater zu bringen. Ich bin ge kommen, um dich dem König vorzustellen.« Mbemba trat auf die Veranda und umfasste Gils Schultern zum Gruß der Kongo. Es war das erstemal, dass er dies tat, und es erfüllte Gil mit großer Freude; es gab ihm Vertrauen und Zuversicht. »Wer ist das?« »Wer?« »Ist das Nimi? Bist du es, Nimi? Komm heraus.« Gil drehte sich um. Mbemba hatte seine Schwester entdeckt, die aus dem Haus hervor lugte. »Komm heraus!« wiederholte er in befehlendem Ton. »Du kommst sofort hierher!« Nimi trat auf die Veranda heraus, stellte wie ein Kind einen nack ten Fuß auf den anderen und verschränkte die Arme hinter dem Rük ken. Doch ihre glänzenden braunen Augen blitzten schelmisch; offen bar hatte sie vor ihrem Bruder keine Angst. »Was tust du hier? Bist du eine Dienerin in diesem Haus?« »Nein.« »Warum bist du dann hier?« »Ich besuche meinen Freund.« »Deinen Freund? Was für einen Freund hast du in diesem Haus?« »Gil Janesch.« »Gil Janesch?« Gil war über diese unverfrorene Aussage nicht weniger überrascht als Mbemba. Er sah zu Nimi und dann zu ihrem Bruder. Beide beobachte ten ihn, das Mädchen mit einem breiten, neckischen Lächeln, Mbemba jedoch mit einem keimenden Argwohn im Blick. Dann wandte er sich wieder seiner Schwester zu. »Wie kann er dein Freund sein? Du hast ihn noch nie zuvor gese hen.« 170
»Doch.« »Wann?« »Als du ihn in dieses Haus brachtest. Und seitdem jeden Tag.« »Das habe ich nicht gewusst, Mbemba«, warf Gil hastig ein. »Ich wusste nicht, dass sie hier war. Ich war krank.« Mbemba war sehr zor nig, darüber bestand kein Zweifel; er hegte den Verdacht, zwischen seiner Schwester und Gil hätte sich etwas Heimliches, Verbotenes ab gespielt. »Sag es deinem Bruder, Nimi. Sag ihm, dass ich nicht wusste, dass du hier warst.« »Er hat es nicht gewusst. Er war sehr krank und hat die ganze Zeit geschlafen.« »Warum bist du dann hergekommen?« »Um ihn zu sehen.« »Um ihn schlafen zu sehen?« »Ja, um ihn schlafen zu sehen«, entgegnete Nimi frech. Mbemba schüttelte den Kopf. Er war alles andere als besänftigt; sein Argwohn war nicht verflogen. »Das hättest du nicht tun dürfen«, sag te er ärgerlich. »Und du solltest auch jetzt nicht hier sein. Ich werde da für sorgen, dass du zur Strafe eine Tracht Prügel bekommst. Und jetzt geh! Geh nach Hause zurück!« »Ich werde mit dir und Gil Janesch zurückgehen.« »Soll ich dich hier an Ort und Stelle verprügeln lassen?« »Du kannst mich nicht schlagen lassen. Ich bin die Ntinu-Kongo!« Das sagte sie im gleichen Tonfall, in dem sie es zuvor zu Gil gesagt hat te – als hätte sie erst vor kurzem erkannt, welche Privilegien ihr dieser Titel verlieh. Aber vielleicht war sie ja auch eine Lieblingstochter des ManiKongo. Sie stemmte die Arme trotzig in die Hüften. Mbemba schüttelte noch einmal ärgerlich den Kopf, aber er war jetzt nicht mehr so wütend. Anscheinend amüsierte ihn das freche Auftre ten des Mädchens sogar, wenn er es auch nicht zugeben wollte. Wo möglich war sie seine Lieblingsschwester? »Du bist einfach schreck lich, Nimi«, sagte er und seufzte tief. »Du machst mich vor Gil Janesch lächerlich. Dabei weißt du doch genau, dass ich dich nie vor seinen Au gen geschlagen hätte.« 171
»Du hättest mich überhaupt nicht geschlagen, Mbemba«, erwider te Nimi. Sie ging zu ihm und nahm seine Hand. »Du bist nämlich ein sanfter Prinz.« »Sei dir dessen nicht allzu sicher, du schreckliches Mädchen«, mein te er und schob sie von sich. Sie hüpfte fröhlich die Treppe hinunter und reihte sich in Mbembas Leibwache ein. Die Krieger verbeugten sich achtungsvoll vor ihr, aber sie begann sogleich, mit ihnen zu plaudern, und einige der Männer lachten herzlich über ihre Worte. »Bist du bereit, vor meinen Vater zu treten, Gil Janesch?« wandte sich Mbemba jetzt an Gil. »Ich habe Geschenke vom Kapitän der Leonor für ihn, Mbemba, von Diogo Cão.« »Das ist freundlich und aufmerksam von Djogo Cam.« »Sie sind nichts Besonders, aber er schickt sie deinem Vater als Zei chen seiner Wertschätzung.« »Als solche wird mein Vater sie annehmen. Wo sind sie?« »In dem Zimmer, in dem ich schlafe.« Mbemba rief zwei Männer seiner Leibwache zu sich; sie gingen in das Haus, um die Kiste mit den Geschenken zu holen. »Erinnerst du dich an Pater Sebastiãos Brevier, Mbemba?« fragte Gil. Mbemba hielt verwundert der Kopf schräg. »Pader Sebastam?« »Ja, sein Brevier.« »Ich verstehe nicht, was du meinst, Gil Janesch.« »Das Brevier. Das Buch mit der Schrift. Die escrita.« »Die escrita? Die Schrift? Ja, die Schrift, durch die Nzambi Mpungu spricht.« »Hast du es noch?« »Ja.« »Es ist sehr kostbar, Mbemba. Es ist ein starker Zauber. Der stärkste Zauber, den die Portugiesen besitzen.« »Das weiß ich.« »Es ist ein stärkerer Zauber als der des NsakuSoyo, und sogar stärker als der Zauber des NgangaKongo.« 172
Mbemba gab darauf keine Antwort. Er kniff lediglich die Augen zu sammen, um zu zeigen, dass er solch lästerlichen Gedanken nicht zu stimmte. »Willst du es deinem Vater zeigen, Mbemba?« fragte Gil. »Willst du es ihm geben als Geschenk der Portugiesen?«
Krieger mit Bogen und Pfeilen und Bläser, deren elfenbeinerne Hör ner anmutig über die Schultern geschwungen waren, standen auf den Wachtürmen zu beiden Seiten des mittleren Tors vor dem königlichen Bezirk. Krieger, die mit Schilden und stählernen Lanzen bewaffnet wa ren, öffneten das Tor, und die Bläser gaben ein lautes, schrilles Signal. Nicht mehr als dreißig Schritte hinter dem Tor folgte eine zwei te Palisadenwand mit einem zweiten Tor, das ebenfalls von Wachtür men flankiert war. Nimi rannte darauf zu, aber als sie es erreichte, bog sie plötzlich nach links ab und war verschwunden. Gil und Mbemba schritten würdevoll vor der Leibwache auf das innere Tor zu und blie ben davor stehen. Gil warf einen raschen Blick nach links, aber von Nimi war keine Spur zu sehen. Der Weg in dieser Richtung schien an den äußeren Palisaden zu enden. Er schaute zum Himmel auf; die graue Wolkendecke verfinsterte sich immer mehr. Sicher würde es bald regnen. Am Horizont war auch schon das erste Wetterleuchten zu be obachten, und in der Ferne grollte leiser Donner. »Warte hier, Gil Janesch, bis dieses Tor für dich geöffnet wird«, sag te Mbemba. »Wohin gehst du?« »Ich muß mich vorbereiten, damit ich vor den König treten kann.« »Kommst du zurück, bevor dieses Tor für mich geöffnet wird?« »Nein, wenn sich dieses Tor vor dir öffnet, bin ich bereits beim Kö nig.« Mbemba ging den Weg nach links hinunter, den Nimi zuvor einge schlagen hatte, und verschwand auf ebenso geheimnisvolle Weise wie seine Schwester. Gil blickte sich um. Mbembas Krieger hatten zu bei 173
den Seiten von ihm Aufstellung genommen; nur die beiden Männer mit der Kiste waren direkt hinter ihm stehengeblieben. Gil rückte sei nen Helm zurecht, strich seinen Rock glatt, legte eine Hand an den Griff seines Schwertes und wandte sich dem Tor zu. Ein erster Blitz durchschnitt den Himmel, ein krachender Donnerschlag folgte. Eini ge Minuten später schmetterten die Bläser auf den Wachtürmen des inneren Tores ihr Signal; es öffnete sich, und nun erblickte Gil die kö nigliche Palastanlage. Sie war nicht so groß, wie er sie sich vorgestellt hatte, aber man konn te sie auch nicht gerade als klein bezeichnen. Die inneren Palisaden umschlossen sie nicht vollständig, sondern waren nach Westen hin of fen, so dass man über den Steilhang einen herrlichen Ausblick auf das darunterliegende hügelige Grasland hatte. Und dort, direkt am Rand des Plateaus, erhob sich das größte und schönste der vielen Gebäude der Anlage – der Palast des Königs. Das Haupthaus war rechteckig und auf beiden Seiten von Nebenge bäuden flankiert, die durch Säulengänge mit ihm verbunden waren. Das Dach hatte drei spitze Giebel und war mit riesigen, in das Stroh eingeflochtenen Sonnenstrahlenmustern verziert. Um jeden Gebäude flügel liefen breite, überdachte Veranden, die auf massiven, geschnitz ten Balken ruhten. Zwei Reihen von Fenstern und mehrere Eingän ge, die von Matten mit demselben Muster wie auf dem Dach verhängt waren, gingen auf die Veranden hinaus. Der ganze Palast war von ei nem Park umgeben – Rote Jasminbäume, Flamboyants, Bougainvil leen, Orchideen blühten in voller Pracht –, und zahlreiche kleinere Ge bäude waren darin verstreut. Der Pfad vom Tor zum Hauptgebäude war mit Tausenden herrlicher, bunter Steine gepflastert und von Fei genbäumen, Palmen, Akazien, blau und rot blühenden Bäumen ge säumt. Unter den Bäumen stand eine dreireihige Phalanx von Krie gern mit Lanzen und Schilden; sie trugen gelbe und rote Papageienfe dern im Haar und karmesinrote Kangas mit gelben Sonnenstrahlen – zweifelsohne die Farben und das Zeichen des Königs. Und auf den Ve randen der vielen im Park verteilten Häuser sah man Hunderte von Menschen, die erwartungsvoll auf das offene Tor blickten. 174
Gil war sich nicht sicher, ob er auf ein Zeichen warten sollte, be vor er die Palastanlage betrat, aber als nach einigen Minuten noch im mer nichts geschehen war, schritt er durch das Tor. In diesem Augen blick ließen die Bläser auf den Wachtürmen noch einmal ein lautes Si gnal ertönen; daraufhin erklang von unsichtbaren Hörnern eine Ant wort, und gleichzeitig setzte ein pulsierender, aufwühlender Trommel rhythmus ein. Die beiden Krieger mit der Kiste voller Geschenke folg ten dicht hinter Gil; die anderen Mitglieder von Mbembas Leibwache marschierten rechts und links von ihm. Gil versuchte zwar, sich wür devoll und einem Prinzen gemäß zu geben und nicht wie ein staunen der Junge zu wirken, aber er konnte nicht umhin, sich dann und wann verstohlen umzublicken. Inzwischen hatte ein leichter Regen einge setzt, den der Wind aus dem Westen von den gelben Hügeln unterhalb des Plateaus herübertrug, und die Blitze und das Donnergrollen ka men näher und wurden häufiger. Auf der langen vorderen Veranda des Haupthauses, die ein weit vor springendes Dach hatte, stand eine Gruppe von Männern, doch durch den feinen Regen konnte Gil keinen von ihnen erkennen. Sie waren ze remoniell gekleidet mit Kopfbedeckungen aus Federn und Antilopenhörnern, Umhängen aus Federn und samtartigen Stoffen und Tuni ken aus perlenbesticktem Leder. Ihre Kangas waren unterschiedlich geschnitten und hatten verschiedene Farben. Offenbar waren es An gehörige des Königshofes – Prinzen, Gouverneure von Provinzen, Be fehlshaber königlicher Legionen, Minister des königliches Rates – so lauteten jedenfalls die entsprechenden Titel der Fürsten, Grafen, Her zöge, Kapitäne und fidalgos am Hof von König Johann. Als Gil den Fuß der Veranda erreichte, traten sie zur Seite und gaben den Blick auf einen mit Stoff verhängten Eingang frei. Die Trommeln und Hörner verstummten. Gil sah nach hinten; das Tor war wieder verschlossen, und die Krieger hatten vor dem Palast ei nen Halbkreis gebildet, um die neugierig näher drängende Menschen menge zurückzuhalten, welche den weißen Prinzen bestaunen wollte, der vom Himmel herabgeflogen war. »Keba bota«, begrüßte Gil die Höflinge auf der Veranda. »Mein Name 175
ist Gil Eanes. Ich überbringe dem König der Kongo Grüße vom König der Portugiesen.« Niemand gab ihm eine Antwort, doch der karmesinrote Vorhang mit den gelben Sonnenstrahlen wurde zur Seite geschoben. Genau in diesem Augenblick fuhr ein riesiger Blitzstrahl über den Himmel, dem ein ohrenbetäubender Donner folgte. Und dann öffneten sich die Schleusen des Himmels. Gil beeilte sich, unter das Vordach der Veran da zu kommen, um nicht augenblicklich durchnässt zu werden. Der Raum, den er betrat, war lang und schmal und dunkel; nur am anderen Ende sah man Licht. Dort, in einer Entfernung von fünfzig oder sechzig Schritten, brannten auf einem Podest in großen Tonscha len zwei Holzkohlenfeuer. Zwischen den Feuern stand ein Thron, und darauf saß Nzinga a Nkuwu, der ManiKongo. Der Thron war aus ei nem einzigen Stück Ebenholz geschnitzt. Er hatte eine hohe, mit El fenbeinintarsien verzierte Rückenlehne, die vom Kopf eines Löwen ge krönt war, und die breiten, mit Leopardenfell bezogenen Armlehnen stellten die Pranken dar. An manchen Stellen war er mit gegerbtem Leder, Stücken aus Leopardenfell und dem königlichen karmesinro ten Stoff mit aufgestickten gelben Sonnenstrahlen bezogen. Es war ein großer Thron, aber der ManiKongo passte kaum hinein. Denn er war so dick, dass Gil beinahe ein Schrei über die Lippen ge kommen wäre, als er diesen gewaltigen Körperumfang sah. Und es war alles Fett; große Polster und Wülste schlaffen Fleisches, die dem Mann in dicken Säcken und tiefen Falten an Kinn, Armen, Schenkeln, Brust und Bauch herabhingen – seine Brüste hätten in der Tat mehr einer Frau angestanden als einem Mann. Alle diese Fleisch- und Fettmassen waren in abstoßender Weise zur Schau gestellt, denn der ManiKongo war halbnackt. Sein Oberkörper war nur zum Teil mit dem goldenen Fell eines Löwen bedeckt; der Schwanz des Tieres hing ihm über die Schulter. Die Scham des Königs verhüllte ein kurzer, mit gelben Son nen verzierter karmesinroter Rock. Obwohl sein Kopf von normaler Größe war und er darauf überdies einen kleinen, runden Hut aus ge webtem Raffiabast trug, der mit seinem Sonnenemblem bestickt war, wirkte er auf dem massigen Körper winzig klein. Dazu hielt er ihn auf 176
eine eigenartige Weise – das Kinn war nach vorn geschoben, die Au gen schauten unter schweren Lidern hervor und über eine dicke Knol lennase hinweg. Seine fleischigen Arme ruhten ausgestreckt auf den Lehnen des Throns, auf seinen voluminösen Oberschenkeln lag ein el fenbeinernes, mit silbernen Spiralen und Splittern aus grünem Stein verziertes Zepter, und die geschwollenen, nackten Füße ruhten auf ei nem kleinen Schemel, der mit Leopardenfell überzogen war. Und dort, zu Füßen des Herrschers, saß Lukeni a Wene, der Ngang aKongo, der Priester des Königs, der große Zauberer des Reiches. Der uralte, unbehaarte, bucklige Zwerg sah genauso aus wie bei seiner er sten Begegnung mit Gil – er war bis auf seinen weißen Lendenschurz nackt und am ganzen Körper weiß bemalt; um den Hals trug er wie der die schwarzen Beutelchen aus Leder. Zu beiden Seiten des ManiKongo standen die MtuKongo; der schlan ke, knabenhafte Mbemba a Nzinga zur Linken seines Vaters und der große, stämmige Mpanzu a Nzinga, der Herr der Nsundi, zur Rech ten, wie es sich für den Erstgeborenen und Erben des Throns geziem te. Beide trugen prächtige Umhänge und Röcke aus samtartigem Stoff, Kopfbedeckungen mit Kuduhörnern, die mit blauen und weißen Rei herfedern verziert waren, und dazu Armreifen und Halsketten aus Sil ber und Elfenbein, in denen grüne und gelbe Steine funkelten. Einen Schritt hinter Mpanzu stand der NsakuSoyo und beobachtete Gil mit unverhohlener Feindseligkeit. Hinter dem Thron schließlich waren mehrere Diener aufgereiht; sie trugen die karmesinroten Kangas mit dem Sonnenemblem des königlichen Hofes und hielten einen gefran sten Sonnenschirm aus geflochtenen Palmblättern über den Kopf des ManiKongo. Gil blickte sich nach Nimi um. Sie war nicht da; es war keine einzi ge Frau anwesend, weder Prinzessinnen noch Königinnen. Doch an gesichts der Leibesfülle des ManiKongo war eindeutig klar, dass Nimi und Mbemba von der gleichen Mutter abstammten; nur Mpanzu hatte die körperlichen Merkmale seines Vaters geerbt. Zögernd begann Gil durch den langen Raum auf den Thron zuzugehen. Die beiden Krie ger mit der Kiste voller Geschenke folgten ihm; der Rest von Mbem 177
bas Leibwache musste draußen im strömenden Regen ausharren. Die auf der Veranda versammelten Höflinge folgten Gil in den Thronsaal und nahmen ihre Plätze ein. Sobald sich seine Augen an das Halbdun kel des Raumes gewöhnt hatten, bemerkte er, dass an den langen Wän den Krieger des Königs aufgereiht standen. Während sich Gil, so würdevoll schreitend, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich war, dem Thron näherte, suchte er Mbembas Blick. Er hatte keine Ahnung, was man von ihm erwarte te, wie er sich zu benehmen hatte oder was schicklich war, und hoffte, Mbemba würde ihm irgendwie behilflich sein. Doch der junge Prinz wirkte ernst und abweisend; von ihm würde Gil mit Sicherheit keine Hilfe bekommen. Nun, er würde jedenfalls nicht zu Kreuze kriechen und sich vor dem König der Kongo auf die Erde werfen. Er dachte dar an, wie heftig sich Diogo Cão gewehrt hatte, als der ManiSoyo versuch te, ihn zu einem Kniefall vor Mbemba zu zwingen, und beschloss, mit mindestens ebenso viel Würde aufzutreten wie der Kapitän. Anderer seits durfte er nicht vergessen, dass er hier vor dem Monarchen eines großen Königreiches stand, der nicht weniger Ehrerbietung und Un terwürfigkeit verdiente als jeder andere Herrscher eines fremden Rei ches. Als er nur mehr einige Schritte von dem erhöhten Thron entfernt war, legte Gil eine Hand an das Heft seines Schwertes, nahm mit einem eleganten Schwung den Helm ab, so dass die Federn am Boden schleif ten, und ließ sich auf ein Knie sinken. »Meu senhor – mein Herr«, entbot er seinen Gruß auf portugiesisch. Er hielt mit gesenktem Kopf das Knie gebeugt und hörte, wie drau ßen der Regen auf das Dach niederprasselte. Ein Blitz erhellte den Raum, und ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Als Gil wieder aufsah, blickte er geradewegs in die erschreckenden schwarzen Augenhöh len in dem maskenhaft weißen Gesicht des NgangaKongo. Mit einem Schauder richtete er den Blick auf den ManiKongo; der König hatte das Kinn noch immer so eigenartig vorgeschoben und die schweren Lider halb geschlossen und beachtete Gil offenbar gar nicht. Er schien auf irgend etwas links hinter Gil zu schauen. Die beiden Krieger mit der Geschenkkiste hatten sich zu Boden geworfen, aber der Herrscher 178
schien auch sie nicht wahrzunehmen. Worauf richtete sich sein Au genmerk? Gil schaute zu Mbemba, der daraufhin kaum wahrnehm bar nickte. Das wertete Gil als ein positives Zeichen; er wollte aufste hen, doch da schüttelte Mbemba ebenso verstohlen den Kopf, und so blieb er knien. Nun legte Mpanzu einen Arm auf die Rückenlehne des Throns, beugte sich zu seinem Vater und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin drehte der ManiKongo seinen sonderbar geneigten Kopf so, dass er Gil direkt im Blickfeld hatte. Und jetzt erkannte Gil den Grund für das eigenartige Verhalten des Herrschers: Seine Augen waren trüb, von milchigem Weiß überzogen. Der ManiKongo war blind. »Dies ist Gil Janesch, mein Vater, der weiße Prinz, der aus einem Land im Himmel zu uns gekommen ist.« Es war Mpanzu, der Kron prinz, der die Vorstellung übernahm. »Dies ist Nzinga a Nkuwu, Gil Janesch, der ManiKongo, ntotila nekongo, ngangula a kongo.« Ntotila nekongo? Ngangula a kongo? Diese Worte hatte Gil noch nie gehört. Waren es zusätzliche Titel des Königs? Er schaute noch ein mal hilfesuchend zu Mbemba, der daraufhin wieder, dieses Mal deut licher, nickte. Mit einem scheuen Blick auf den buckligen Zwerg, des sen schwarze, unergründliche Augen jede seiner Bewegungen verfolg ten, erhob sich Gil. »Keba bota, meu senhor«, begann er. Er hatte sich eine kleine Rede ausgedacht, die er nun vortragen wollte. »Ich danke dir dafür, dass du mich in deinem Haus empfängst, ManiKongo. Ich habe ungeduldig auf diesen Tag gewartet, um dir Grüße meines Königs, Johanns des Zwei ten von Portugal, zu überbringen, und dir zum Zeichen seiner Wert schätzung Geschenke zu überreichen. Er hat mir aufgetragen …« »Aber er ist ja noch ein Junge«, unterbrach ihn der ManiKongo. Er beugte den massigen Körper vor, reckte das Kinn noch mehr nach vorn und schaute mit seinen blinden Augen zu Gil hinab. »Was für eine jun ge, reizvolle Stimme. Wie alt bist du, weißer Prinz aus dem Himmel?« Diese Frage kam für Gil völlig unerwartet und überraschend; mit ei nem Schlag hatte er seine vorbereitete Rede vergessen. »Ich bin beina he sechzehn Jahre alt, meu senhor«, erwiderte er. »Sechzehn Jahre. Wie mein Sohn.« Der ManiKongo tastete mit der 179
linken Hand nach Mbemba. »Auch du bist sechzehn Jahre alt, mein Sohn, nicht wahr?« fragte er. Mbemba ergriff seine Hand. »Ja, Vater«, antwortete er. »Sechzehn Jahre. Ein junger Prinz. Komm zu mir, junger Prinz aus dem Himmel.« Schwungvoll schritt Gil am NgangaKongo vorbei, der ihn nicht aus den Augen ließ, und stieg auf das Podest. »Gib mir deine Hand, Gil Janesch.« Einen Augenblick lang hielt der ManiKongo Gils und Mbembas Hand. »Ja, die kräftigen Hände der Ju gend. Aber deine Hand ist weiß, wie ich höre.« »Ja, ManiKongo.« »Jeder Teil deines Körpers ist weiß, wie ich höre.« »Ja, ManiKongo.« Der Herrscher ließ Gils und Mbembas Hände los und lehnte sich wieder in seinen Thron zurück. »So weiß wie der NgangaKongo?« fragte er. Verblüfft starrte Gil auf den haarlosen, buckligen Zwerg, dessen gan zer Körper mit weißem Kalk bestrichen war. Hatte er das gemacht, um Gil nachzuahmen? Sah Gil für diese Menschen so aus? Sollte die häs sliche weiße Fratze das Gesicht eines Weißen darstellen? »Aber deine weiße Farbe läßt sich nicht abwaschen, wie ich höre.« »Nein, ManiKongo. Meine Haut ist weiß. Es läßt sich nicht abwa schen.« »Das wurde mir berichtet.« Der ManiKongo seufzte und sank noch weiter zurück, als sei es sehr ermüdend für einen Mann mit seiner Kör perfülle, aufrecht zu sitzen und sich mit Gil zu befassen. Und so warteten alle, bis er wieder bei Kräften war, während drau ßen der Regen auf das Dach prasselte und der Donner krachte. Nach einigen Minuten hob der ManiKongo schließlich wieder das Haupt. »Mein Vater«, sagte Mpanzu, legte einen Arm auf die Lehne des Throns und flüsterte dem ManiKongo ins Ohr. »Gil Janesch möchte dir die Geschenke überreichen, die er von seinem König mitgebracht hat. Soll er sie dir jetzt zeigen?« »Ja, er soll sie jetzt zeigen.« 180
Es war jedoch nicht der ManiKongo, der dies sagte, sondern der NsakuSoyo, der hinter Mpanzu im Schatten stand. Nun trat er vor ins Licht der Feuerschalen. Gil erstarrte, als er das böse Gesicht sah; er wusste, dieser Mann würde alles tun, um ihm Schwierigkeiten zu be reiten. »Ja, er soll sie dir jetzt zeigen, ManiKongo. Er soll dir zeigen, wie schön sie sind!« »Wer spricht?« »Ich spreche, ManiKongo, der NsakuSoyo.« »Sprich, NsakuSoyo.« »Ich habe die Geschenke des weißen Königs aus dem Himmel gese hen, ManiKongo. Ich habe sie gesehen, als sie dem ManiSoyo in Mpin da gezeigt wurden. Ich habe gesehen, wie wunderbar sie sind.« In sei ner Stimme schwang beißender Hohn mit. »Er soll sie dir zeigen, da mit auch du siehst, wie wunderbar dieses wertlose Zeug aus dem Land im Himmel ist!« »Es sind nur symbolische Gaben, ManiKongo«, warf Gil hastig ein. Doch Mbemba unterbrach ihn. »Es ist kein wertloses Zeug, Vater«, sagte er bestimmt. »Es sind auch nicht nur symbolische Gaben. Auch ich habe sie gesehen, Vater, und sie sind wunderbar. Und hier ist das erste und wunderbarste von allen.« Mit diesen Worten schob er seinen Umhang zurück. Gil schlug das Herz bis zum Hals. Denn unter dem Umhang trug Mbemba Pater Sebastiãos Brevier, das kleine, in schwarzes Leder gebun dene Gebetbuch mit dem goldenen, erhabenen Kreuz auf dem Deckel. »Nein!« stieß der NsakuSoyo hervor, als er es sah, und wirbelte her um. »NgangaKongo«, zischte er, »er hat es hierhergebracht – genau wie ich es befürchtet habe!« Der bucklige Zwerg stand langsam auf und blickte argwöhnisch auf das Buch in Mbembas Hand. »Was ist es?« fragte der ManiKongo und hob den Kopf. »Etwas Böses!« erwiderte der NsakuSoyo. »Berühre es nicht, ManiKongo. Es ist ein böser Zauber.« Er versuchte, Mbemba das Buch weg zunehmen. 181
Doch dieser zog rasch seine Hand zurück. »Ja, es ist ein Zauber, Va ter«, erklärte er, »aber es ist kein böser Zauber. Es ist ein guter Zauber. Es ist der Zauber der Porta Gies, der wunderbare Zauber ihres König reiches im Himmel. Es ist escrita, Vater.« Er benutzte das portugiesi sche Wort, weil es in seiner Sprache kein entsprechendes gab. »Was ist escrita?« fragte der ManiKongo. »Was ist das? Hier, gib es mir in die Hand, mein Sohn, vielleicht weiß ich dann, was es ist.« Mbemba legte das Brevier in die dicke, fleischige Hand des Herr schers. »Ich warne dich, ManiKongo«, sagte der NsakuSoyo. »Nimm die ses Ding nicht an dich. Es ist ein schrecklicher Zauber. Ich warne dich, Nzinga a Nkuwu. Lass es ins Feuer werfen, bevor sein böser Zauber unser Königreich vergiftet.« »Vor welchem bösen Zauber warnst du mich, NsakuSoyo? Welches schreckliche Übel birgt dieses Ding, dass es unser Königreich vergiften könnte?« fragte der ManiKongo und hielt das Brevier vor seine blin den Augen. »Ich weiß nicht, was es ist. Ich habe so etwas noch nie in der Hand gehabt.« Seine Finger glitten über das kleine Buch; er ent deckte, wie es zu öffnen war, und blätterte durch die Seiten. »Ist es eine Schachtel? Aber was für eine Schachtel ist das, die man so öffnen kann? Und was für Blätter sind das, die nicht herausfallen?« »Es ist Schrift, Vater.« »Wieder sagst du, das sei Schrift, mein Sohn. Aber was ist Schrift?« »Etwas, das uns völlig unbekannt ist, Vater. Es sind gezeichnete Wor te, die man sprechen kann. Es sind Zeichen für gesprochene Wörter. Diese Schrift, Vater, die du in der Hand hältst, sind die Zeichen, die die weißen Männer von den Worten gemacht haben, die Nzambi Mpungu gesprochen hat. Es sind die Zeichen für Nzambi Mpungus Worte.« »Das ist nicht wahr, MtuKongo!« fuhr der NsakuSoyo zornig dazwi schen. »Es ist wahr«, entgegnete Mbemba ärgerlich. »Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, Vater. Ich habe gesehen, wie Nzambi Mpungu durch diese Schrift zu den weißen Männern gesprochen hat.« »Nein, MtuKongo!« unterbrach der NsakuSoyo mit wachsender Er 182
regung, da Mbemba mit solch lästerlicher Hartnäckigkeit seine reli giöse Autorität in Frage stellte. »Die weißen Männer haben dich ge täuscht, Mbemba a Nzinga. Du bist noch jung und läßt dich leicht von der List dieser Fremdlinge blenden. Was du gesehen hast, war nicht Nzambi Mpungu, der durch diese Schrift gesprochen hat. Das Böse hat daraus gesprochen!« Der ManiKongo betastete noch immer das Brevier, um festzustellen, was dieses rätselhafte Ding sein könnte, und wandte sich dann fragend an den Kronprinzen. »Und du, mein Sohn Mpanzu«, sagte er, »der du mein Erstgeborener und meinem Thron am nächsten bist – was hast du mit deinen eigenen Augen gesehen?« Während der hitzigen Auseinandersetzung hatte Gil bislang gebannt Mbemba, den NsakuSoyo und den ManiKongo beobachtet. Jetzt wan derte sein Blick zu Mpanzu. Natürlich – dies war es, was er im Traum gesehen hatte. Mbemba war davon überzeugt, dass Gil den Kongo Gu tes brachte. Der hasserfüllte Juju-Mann aus Mpinda glaubte, der weiße Prinz bringe Böses. Was glaubte Mpanzu? Und dann mussten auch noch der NgangaKongo und zuletzt der ManiKongo ihre Meinung kundtun. Doch Mpanzu zog sich auf eine neutrale Haltung zurück, die schon fast an Gleichgültigkeit grenzte. »Ich habe nichts von alledem mit ei genen Augen gesehen, mein Vater«, antwortete er lakonisch. »Ich habe bislang noch nicht einmal diese erstaunliche escrita gesehen.« »Dann sieh sie dir jetzt an, mein Sohn«, sagte der ManiKongo und reichte sie dem großen, stämmigen Prinzen. »Sieh sie dir mit deinen eigenen Augen an und sag mir dann, was du siehst.« Mpanzu nahm das kleine Buch in die Hand; er betrachtete es mit milder Neugier von allen Seiten, befühlte das erhabene, goldene Kreuz und untersuchte, wie die Seiten an den Buchrücken gebunden waren. Dann schlug er es auf und betrachtete die Seiten. »Diese schwarzen Zeichen und Symbole – das ist Schrift, Gil Janesch?« fragte er in einem verächtlichen und zweifelnden Tonfall. »Ngete.« Mpanzu betrachtete die Seite, und nachdem er eine Weile überlegt hatte, fragte er: »Diese Schrift sind Nzambi Mpungus Worte?« 183
»Es ist, wie Mbemba sagt. Schrift sind gezeichnete Worte, die man sprechen kann. Die Zeichen der Schrift geben die Worte Nzambi Mpungus wieder.« Mpanzu blätterte noch einmal in dem Buch, und dann sagte er: »Wir wollen die Worte hören, die Nzambi Mpungu gesprochen hat, Gil Ja nesch.« Er händigte Gil das Brevier aus. »Lass uns hören, was Nzam bi Mpungu spricht.« Wenn nur Pater Sebastião hier wäre, dachte Gil. Der arme Padre hatte um eine Gelegenheit wie diese gebetet; er hatte dafür sogar den Märtyrertod auf sich genommen. Wie sehr hätte es ihn beglückt, das Wort Gottes einem heidnischen König und seinen Prinzen vorzu tragen! Dies war die Aufgabe eines Priesters, es war nichts für einen Schiffsjungen und halben Analphabeten wie Gil. Ohnehin hatte er sich bei dem Versuch, das Wesen der Schrift zu erklären, schon selbst über troffen. Er blickte unglücklich auf Mbemba, der ihm ermutigend zu nickte. Also setzte er den Helm wieder auf und öffnete das Buch. Zu fällig schlug er es beim Sanctus auf; er überflog es kurz und kam zu dem Schluß, dass er es gut genug auswendig konnte, um es vortragen zu können, wenn er sich anstrengte. Dieser Gedanke gab ihm wieder etwas Selbstvertrauen. »In nomine patris, etfilii, et spiritus sancti«, begann er und machte das Kreuzzeichen. »Ve, ve!« schrie der NsakuSoyo. »Erlaube das nicht, Mani-Kongo. Es ist das Böse! Dies ist das Böse, das deinen Sohn verzaubert hat!« Gil beachtete ihn nicht und las weiter. »Sanctus, sanctus, sanctus Do minus Deus Sabaoth. Pleni sunt caeli et terra gloria tua …« »Beobachte seine Augen, Mpanzu«, hörte er Mbemba flüstern. »Be obachte, wie sie von einem Ende zum anderen über die Linie der Schrift gleiten und dann hinunter auf die nächste Linie und die näch ste. Er spricht die Schrift, Mpanzu. Er sieht die Schrift und spricht, was er sieht.« »Hosianna in excelsis«, schloss Gil und blickte auf. Mpanzu starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Hast du es gesehen, Mpanzu?« fragte Mbemba. 184
Der große, stämmige Prinz nickte. »Ja, ich habe es gesehen«, erwi derte er. »Was hast du gesehen, mein Sohn?« fragte der blinde ManiKongo und beugte sich wieder in seinem Thron nach vorn. »Er spricht die Schrift, Vater. Es ist, wie Mbemba sagt. Die Schrift birgt die Zeichen für die Worte, die er spricht.« »Und liegt darin ein böser Zauber, mein Sohn?« »Ich weiß es nicht, mein Vater. Wie könnte ich dies auch wissen? Es liegt nicht in meiner Macht zu erkennen, was noch nie zuvor jemand erkannt hat. Wir müssen den NgangaKongo fragen.« »Du bist klug, mein Sohn. Ja, der NgangaKongo wird entscheiden, ob dieses Geschenk ein böser Zauber ist. Gib die Schrift dem NgangaKongo, Gil Janesch. Nimm sie in deine Hand, Lukeni a Wene, und sage mir, ob in dem Geschenk, das der junge Prinz aus dem Himmel uns bringt, ein guter oder ein böser Zauber liegt.« »Ich werde es dir sagen, Nzinga a Nkuwu.« Der bucklige Zwerg trat vor. »Ich werde dir sagen, ob dieses Geschenk der Schrift einen guten oder einen bösen Zauber birgt.« Der Hohepriester des Königs, der große Zauberer der Kongo, der Er ste an den Nüstern des Universums, der die Sterne leuchten, die Son ne aufgehen und den Regen fallen ließ und die Toten wieder zum Le ben erwecken konnte – er hatte bislang in diesem Disput Zurückhal tung bewahrt. Geduldig hatte er den Augenblick abgewartet, in dem seine oberste Autorität anerkannt und er um ein Urteil gebeten wur de. Ein leichtes, zufriedenes Lächeln umspielte seine schwarzen Lip pen, als er das Brevier von Gil in Empfang nahm. Er war eine grotes ke, furchteinflößende Gestalt – aber auch ein Mann, der Macht und Einfluss besaß wie ein Papst über einen König. Hatte Gil Grund, ihn zu fürchten? Was wusste er? Was hatte er aus Gils Locke erschlossen? Hatte er entdeckt, dass Gil nicht vom Himmel kam? Er hielt das Bre vier in den Händen, wie er in Gils Traum dessen Haare gehalten hat te, und schloss die Augen. In diesem Augenblick setzte der leise, rituelle Gesang ein, die fei erliche Musik der Fetischträger. Gil blickte sich überrascht um. Alle 185
im Thronsaal Anwesenden, die an den Wänden aufgereihten Höflinge und Krieger, hatten zu singen begonnen. Sogar Mbemba und Mpan zu und der NsakuSoyo, ja selbst der ManiKongo hatten angefangen zu singen, und alle hielten die Augen geschlossen. Ein Schauer lief Gil über den Rücken. Sie schienen alle in Trance gefallen zu sein. Ein ge waltiger Donner zerriß die Luft, und der Regen prasselte laut auf das Dach wie Hagel. Gil trat zurück. Der Zauberer hatte die Augen wie der geöffnet. »Sage mir, Lukeni a Wene, sollen wir dieses Geschenk der Schrift an nehmen, das der junge weiße Prinz aus dem Himmel zu uns gebracht hat? Oder birgt es einen bösen Zauber?« »Es birgt einen bösen Zauber, ManiKongo. Wir dürfen es nicht an nehmen. Wir werden es ins Feuer werfen, bevor es unser Königreich vergiftet.« »Nein!« Es war Mbembas Stimme. »Nein, Vater, das ist nicht wahr. Die Schrift der Porta Gies ist kein böser Zauber …« »Schweig, mein Sohn. Der NgangaKongo spricht. Sprich, Lukeni a Wene. Welcher böse Zauber liegt in der Schrift, der unser Königreich vergiftet?« »Das Böse, Nzinga a Nkuwu, ist wie die Schrift selbst. Das Böse ist das, was uns völlig unbekannt ist.« »Drücke dich deutlicher aus, NgangaKongo. Sag mir, was das Böse ist, das uns völlig unbekannt ist.« »Zuerst wird es unsere Seelen stehlen, ManiKongo. Und dann unse re Körper.«
KAPITEL 10
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as machst du hier? Du darfst doch gar nicht hier sein.« »Natürlich darf ich hier sein. Ich darf überall hingehen. Ich bin die NtinuKongo.« 186
Gil schüttelte den Kopf. Unwillkürlich musste er über ihre Dreistig keit lächeln, aber andererseits machte ihre Gegenwart ihn auch nervös. »Das wird Mbemba nicht gefallen«, wandte er ein. »Er wird wütend auf dich sein, und auf mich auch.« »Nein, er wird nicht wütend werden. Wie könnte er wütend werden, wenn er mich selbst zu dir geschickt hat?« Es war spät am folgenden Tag – Gil wusste noch immer nicht genau, welcher Tag es war –, und es regnete nach wie vor. Er befand sich in ei nem kleinen Haus im Königsbezirk, zu dem man ihn nach der Audi enz beim ManiKongo am Abend zuvor gebracht hatte. Wegen des un aufhörlichen Regens hatte er es seitdem nicht verlassen. Der Abend hatte ein seltsames und ungewisses Ende gefunden, oder zumindest empfand Gil es so. Nach seinem verhängnisvollen Urteils spruch über das Brevier hatte der NgangaKongo zur Bestätigung zum ManiKongo geblickt und seine Absicht wiederholt, das gefährliche Ge schenk ins Feuer zu werfen. Aber der Herrscher hatte seine Zustim mung verweigert. Als hätte die Auseinandersetzung ihn erschöpft und das Ergebnis ihn enttäuscht, hatte sich der dicke, blinde König nur schweigend wieder in seinen Thron zurücksinken lassen. Und noch be vor Mpanzu an seines Vaters Statt antworten konnte, waren plötzlich die Gemahlinnen des Königs mit einer Entourage von Prinzessinnen und Hofdamen im Thronsaal erschienen. Im darauf folgenden Trubel – die Höflinge hatten sich wieder entlang der Wände aufgereiht und un ter Verbeugungen Begrüßungen gemurmelt – hatte Gil das Brevier aus den Augen verloren. Zunächst glaubte er, der NgangaKongo habe es doch auf die glühenden Kohlen in einer der tönernen Feuerschalen ge worfen, auch wenn er weder vom ManiKongo noch von Mpanzu die Erlaubnis dazu bekommen hatte, denn plötzlich hielt er es nicht mehr in den Händen. Doch im nächsten Moment blickte er verwirrt um sich, und da wurde Gil klar, dass jemand es ihm entrissen hatte. Zwei der Gemahlinnen des ManiKongo gingen direkt auf den König zu, und Gil wusste sofort, welche Frauen er vor sich hatte. Die eine – klein, zart und etwa zehn Jahre jünger als die andere – war eindeutig Mbembas Mutter. Die andere hatte einen kräftigen Knochenbau, eine 187
dunklere Haut und breite Hüften und war mindestens fünfzig Jahre alt; bei ihr handelte es sich zweifellos um Mpanzus Mutter. Beide trugen die karmesinroten Kangas mit den gelben Sonnenstrahlen, die sie als Mitglieder des königlichen Haushalts auszeichneten, und dazu Turba ne mit demselben Emblem. Außerdem waren sie förmlich beladen mit Schmuck aus Silber und Messing, Elfenbein und Edelsteinen. Die jün gere der beiden Frauen kniete sofort neben dem Thron des ManiKon go nieder und brachte ihre Sorge um seine offenkundige Erschöpfung zum Ausdruck, worauf er ihr zartes Gesicht in seine großen, fleischi gen Hände nahm und sie anlächelte. Die ältere Königin, deren schwar ze Augen im Licht der Flammen funkelten, musterte zunächst Gil, be vor auch sie sich zu ihrem Gemahl niederbeugte. Sie war eindeutig die Hauptfrau und herrschende Königin, die MbandaKongo, die Mutter des Erstgeborenen und Thronerben, die Herrin des königlichen Haus halts. Doch die Zärtlichkeit, mit der der alte ManiKongo das Gesicht der Jüngeren hielt, verriet, dass diese hübsche Braut seiner späten Jah re seine Lieblingsfrau war. Damit hatte die Audienz abrupt ein Ende gefunden. Die MbandaKongo hatte entschieden, dass der ManiKongo zu müde sei, um sie noch weiter auszudehnen. Auf ihren geflüsterten Befehl hin erhob Mpanzu den Arm, und plötzlich herrschte hektisches Treiben im Raum. Alle Herren und Damen des Hofes stürzten zum Thron. Gil wurde rüde zur Seite gestoßen und verfolgte ein Schauspiel, das ihm ebenso erstaunlich wie bizarr erschien. Frauen und Männer, Königinnen und Prinzessinnen ebenso wie Hauptleute und Edelleute wetteiferten darum, den massigen Leib des ManiKongo aus dem Thronsessel zu heben. Sie versuchten, ihn an den Armen oder Beinen, unter der Achsel oder an den Schenkeln zu pak ken, den voluminösen Bauch oder die füllige Brust zu umfassen; die jenigen, denen das nicht gelang, warfen sich auf den Boden zu seinen Füßen. Acht riesige Krieger trugen eine Sänfte herbei, und unter lau tem Stöhnen und Ächzen wurde der beleibte Herrscher hinaufgehoben und durch eine Tür hinter dem Thron in einen anderen Raum getra gen. Der Hofstaat folgte ihm unter großem Gedränge. 188
Einen Augenblick dachte Gil, dass Mbemba zu ihm kommen würde; er war der letzte am Eingang und blieb einen Moment zögernd stehen und warf Gil einen Blick zu. Aber dann trat auch er durch den karme sinroten Samtvorhang mit den Sonnenstrahlen. So blieb Gil allein mit den Kriegern der königlichen Leibwache zurück, die ihn durch den strömenden Regen zu seinem neuen Haus im Königsbezirk brachten. Dort wartete Nimi auf ihn – nicht die Prinzessin Nimi, sondern die andere Nimi von dem Haus auf der anderen Seite des Luezi. Zuerst be merkte er sie gar nicht, denn in dem neuen Haus war er von mehre ren Frauen umgeben, die ihm dienen sollten. Überdies war er nass bis auf die Haut und wollte sich so rasch wie möglich seiner Kleider ent ledigen. Auch war seine Unterkunft spärlich beleuchtet; der Regen fiel prasselnd herab, Blitze zuckten über den Himmel, der Donner groll te drohend, und in seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Was war bei der Audienz passiert, was war beschlossen worden? Er wusste nicht, was er dem Kapitän von diesem Abend erzählen sollte, wenn die Leonor wiederkam, um ihn nach Hause zu bringen. Der ManiKongo hatte ihn empfangen. So viel konnte er immerhin berichten. Aber wie hatte er ihn empfangen, würde der Kapitän fragen. Hatte man ihn höf lich begrüßt? War seine Botschaft von König Johann freundlich aufge nommen und erwidert worden? Waren die Portugiesen im Königreich willkommen? Er wusste es nicht; er wusste es wirklich nicht. Erst als er sich abends in seinem neuen Haus schlafen legte, merkte er, dass die andere Nimi da war. Sie kam aus der Dunkelheit der stür mischen Nacht zu ihm und schlüpfte wie immer wortlos, mit pflicht bewusster Ergebenheit, unter seine Decke. Er war überrascht, aber auch erfreut. Allerdings war ihm klar, dass sie nicht aus freien Stücken zu ihm gekommen war; von selbst hätte sie nie die Brücke und die Pa lisaden passiert, um in den Königsbezirk zu gelangen. Irgend jemand hatte sie zu ihm geschickt, genauso wie jemand ihm seine Truhe und seinen Seesack geschickt hatte und dazu die Habseligkeiten der Helle bardiere, die Kisten und Kästen mit den Schiffsvorräten aus dem Haus auf der anderen Seite des Flusses. Er hatte sie in dem neuen Haus vor gefunden, wie er nun Nimi vorgefunden hatte. Wer hatte sie zu ihm 189
geschickt? Offenbar hielt jemand sie für seinen Besitz, ebenso wie all die Truhen und Seesäcke und Vorräte. Aber wer? Diese Frage stellte er ihr nicht. Mittlerweile wusste er genug, um ihre Gegenwart einfach zu akzeptieren, ebenso, wie er alle anderen Dienste akzeptierte, die man ihm anbot. Also schlief er mit ihr und ließ sie gehen, wann sie es für richtig hielt; dann lag er wach und lauschte dem Regen, der auf das Dach trommelte. Es goß unaufhörlich. Den ganzen nächsten Tag sah Gil zu, wie der Regen in stahlgrauen Massen vom Himmel fiel, Flüsse und Seen bilde te und das Land überschwemmte. Sein Haus lag auf der Südseite der Palastanlage nahe dem inneren Palisadenzaun. Rechts und links befand sich eine Reihe ähnlicher Ge bäude; sie lagen zwischen seinem Haus und dem Palast des ManiKon go, so dass er nicht sehen konnte, was dort vor sich ging. Er wäre gern hinausgegangen, um sich umzuschauen, aber der peitschende Regen, der Donner, die Blitze, die Dunkelheit, die finsteren Wolken, die tief über dem überfluteten Land dahintrieben, und der stürmische Wind hatten ihn davon abgehalten. Also war er auf der Veranda geblieben und hatte den Regen beobach tet. Und dann hatte er Nimi gesehen, die Kongo-Prinzessin, die durch den Regen zu seinem Haus lief und unter das schützende Vordach der Veranda sprang. »Mbemba hat dich zu mir geschickt? Nein, Nimi, das glaube ich dir nicht.« »Das stimmt aber«, gab sie scharf zurück und sah ihn mit leuchten den Augen an. »Du darfst nicht sagen, dass du mir nicht glaubst. Ich bin die NtinuKongo.« »Und weshalb hat er dich zu mir geschickt?« »Um dich zur Mbanda Lwa zu bringen.« »Zur Mbanda Lwa?« »Sie ist unsere Mutter, die zweite Königin des Reiches. Komm, ich bringe dich zu ihr.« Es war nicht weit zum Haus der Mbanda Lwa, und obwohl sie im Laufschritt durch den strömenden Regen eilten, die riesigen Pfützen 190
mit großen Sprüngen überquerten und so oft wie möglich unter Vor dächern Schutz suchten, war Gil ziemlich durchnässt, als er und Nimi dort ankamen. Das Anwesen lag im Garten des Königspalasts, von üp pig blühenden Büschen und Bäumen umgeben, nahe am Rand des Pla teaus. Obwohl es ein weitläufiges Gebäude war, reichte seine Größe bei weitem nicht an die des Palasts heran. Es hatte auch nur ein spitzes Dach, jedoch mehrere Flügel, als ob es immer wieder erweitert worden wäre. Mit Lanzen und Schilden bewaffnete Krieger in den Farben des Königshauses bewachten die Veranda des Hauptbaus. Mbemba stand bei ihnen am Eingang, nur mit seiner Kanga bekleidet. »Geh hinein«, sagte er. »Schnell, Gil Janesch.« Die ungewohnte Dringlichkeit, mit der er ihn ins Haus schickte, be unruhigte Gil. Es war, als wolle er nicht, dass Gil gesehen wurde. Aber von wem? Wer sollte in diesem höllischen Unwetter schon unterwegs sein? Er warf einen Blick zurück und dachte, dass natürlich die Wa chen rund um den Palast des ManiKongo ihn sehen konnten. Wurde er ohne Wissen des Königs zu Mbanda Lwa gebracht? »Hier entlang«, sagte Mbemba ungeduldig. Sie durchquerten eine Reihe kleiner Räume, in denen Dienerin nen mit niedergeschlagenem Blick zur Seite huschten, und betraten schließlich ein etwas größeres Zimmer, das offenbar in der hintersten Ecke des großzügig angelegten Gebäudes lag. Dort erwartete ihn die Mbanda Lwa. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Stapel von Matten und gefalteten Tüchern und war ebenso schlicht gekleidet wie ihr Sohn. Sie trug eine schwarz-weiß ge streifte Kanga, ihr Kopf war unbedeckt, so dass ihr kurzgeschnitte nes Haar zu sehen war, das ebenso geflochten war wie Nimis. Um ih ren Hals hing eine Kette aus weißen und schwarzen Steinen und Mu scheln. Die Hände waren im Schoß gefaltet und hielten nachlässig ein karmesinrotes Tuch, das ihr über die Knie fiel – das einzig Königliche an ihr. Die Einrichtung des Raumes war ebenso schlicht wie das Ge wand der Königin; außerdem befand sich niemand außer ihnen dar in. Die Matten vor den Fenstern an der westlichen Wand waren auf gerollt; bei schönerem Wetter hätte zu dieser Tageszeit die Sonne her 191
eingeschienen, doch jetzt war das Zimmer trüb und grau. Allerdings war es hell genug, dass Gil erkennen konnte, welche Züge Nimi von ih rer Mutter geerbt hatte – die schrägstehenden Rehaugen und die gold braune Haut. Die Mbanda Lwa war schön, wenn auch nicht mehr ganz jung, und sie besaß die reife Anmut einer Frau an der Schwelle zum Alter. »Das ist Gil Janesch, Mutter«, stellte Mbemba vor. »Minha senhora.« Gil machte Anstalten, sich tief zu verbeugen, doch Mbemba hatte bereits zur Rechten seiner Mutter Platz genommen, und Nimi ließ sich zu ihrer Linken auf die Matten fallen. Offensicht lich war es bei dieser Königin nicht notwendig, auf die Etikette zu ach ten, oder zumindest nicht unter diesen Umständen. Aber was waren die Umstände? »Setz dich, Gil Janesch«, sagte die Mbanda Lwa. »Mach Platz, Nimi. Siehst du nicht, dass du im Weg bist? Setz dich an meine Seite, wei ßer Prinz, der aus einem Land vom anderen Ufer des Meeres zu uns kommt.« Als er das hörte, setzte Gils Herz einen Schlag aus. Er blickte zu Mbemba hinüber. »Ich habe meiner Mutter dein Geheimnis erzählt, Gil Janesch. Sie wird es für sich behalten. Setz dich neben sie, wie sie dich bittet.« Gil nahm Platz, während Nimi zur Seite rückte und es sich dann neben ihm bequem machte. Er wusste nicht, was er von alledem hal ten sollte. Warum hatte Mbemba seiner Mutter anvertraut, dass er nicht vom Himmel kam, sondern vom anderen Ufer des Meeres? Wa rum hatte er es ihr gesagt, aber niemandem sonst? Aber dann stellte sich auch die Frage, warum er es überhaupt als Geheimnis betrach tete, und zwar als eines, das er außer seiner Mutter niemandem an vertrauen wollte? Gil sah sich unbehaglich im Raum um, und plötz lich wurde ihm bewusst, dass keine einzige Dienerin anwesend war, nicht einmal eine Leibwache. Auch die seltsame Art und Weise, wie er hierhergebracht worden war, machte ihn misstrauisch – dass Nimi und nicht Mbemba ihn geholt hatte, obwohl dieser zuvor wütend ge wesen war, weil er und Nimi allein gewesen waren; dass Mbemba 192
ihn ins Gebäude gescheucht hatte, damit niemand ihn sah, obwohl alle ihn doch bereits gesehen hatten. Auch der formlose Charakter dieser Begegnung und die Kargheit des Raums ließen Sorge in ihm aufsteigen; zweifellos wurde das Zimmer nur selten benutzt. Wur de hier eine Verschwörung angezettelt, in die er unwissentlich ver strickt werden sollte? »Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, Gil Janesch«, sagte die Mbanda Lwa und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf das Knie. »Es ist, wie mein Sohn sagt. Ich werde dein Geheimnis so sicher be wahren wie er.« »Ntondesi, minha senhora«, antwortete Gil. Jetzt, da sie ihre Hän de fortgenommen hatte, sah er einen kleinen, schwarzen, rechteckigen Gegenstand auf ihrem Schoß liegen, der nur teilweise von dem karme sinroten Tuch verdeckt wurde. »Dass du aus einem Land am anderen Ufer des Meeres zu uns ge kommen bist, ist für uns ebenso wunderbar, wie wenn du wirklich von einem Land im Himmel zu uns gekommen wärst. Denn bisher haben wir nicht gewusst, dass das Meer ein anderes Ufer hat.« »Das freut mich, Mbanda Lwa.« »Aber andere in diesem Königreich finden es nicht so wunderbar.« »Welche anderen sind das, Mbanda Lwa?« »Mpanzu. Lukeni a Wene. Die Mbanda Vunda.« »Die Mbanda Vunda?« »Mpanzus Mutter. Die erste Königin des Reichs.« »Und auch der ManiKongo, Mbanda Lwa, der König des Reiches?« »Ja, womöglich auch Nzinga a Nkuwu, der König des Reiches. Den Himmel kennen sie, weil sie den Himmel sehen können, und deswegen ist es wunderbar für sie, dass du vom Himmel gekommen bist. Aber sie wissen nicht, dass das Meer ein jenseitiges Ufer hat, weil sie dieses Ufer nicht sehen können. Deswegen wissen sie nicht, dass der Zauber, den du von dem Land auf der anderen Seite des Meeres mitbringst, ebenso wunderbar ist wie jeder Zauber, den du von einem Land im Himmel bringen könntest. Aber mein Sohn Mbemba und ich wissen, dass dieser Zauber ebenso wunderbar ist.« Bei diesen Worten entfern 193
te sie das karmesinrote Tuch, das den kleinen schwarzen Gegenstand halb verborgen hatte. Es war das Brevier. Also hatte Mbemba es dem Nganga-Kongo ent wendet, bevor der Zauberer es ins Feuer werfen konnte. Und er hatte es seiner Mutter gegeben. »Zeig mir, wie man den Zauber verwendet, den du von deinem Land am anderen Ufer des Meeres mitgebracht hast, Gil Janesch.« »Ich verstehe nicht, was du meinst, Mbanda Lwa.« »Den Zauber, den du uns gegeben hast, Gil Janesch«, erklärte sie und schlug das Brevier an einer beliebigen Stelle auf. Dann ließ sie ihre Hand darauf ruhen, als wäre es ein heiliger Talisman. »Du hast meinem Sohn gesagt, dass dieser Zauber stärker ist als der Zauber des NsakuSoyo.« »Ja.« »Auch stärker als der Zauber des NgangaKongo.« »Ja.« »Ich möchte diesen Zauber gerne verwenden.« »Aber genau das verstehe ich nicht, Mbanda Lwa. Auf welche Weise möchtest du ihn verwenden?« »Ich möchte ihn gegen den Zauber des NsakuSoyo einsetzen. Ich möchte ihn gegen den Zauber des NgangaKongo einsetzen. Ich möch te ihn zum Nutzen meines Sohnes einsetzen.« Gil schaute zu Mbemba. Mbemba beobachtet ihn genau. Allmählich ahnte Gil, welcher Art die Verschwörung war, in die er verstrickt wer den sollte. »Zeig mir, wie man diesen Zauber verwendet«, drängte die Königin erneut. Gil betrachtete sie, die Lieblingsfrau und zweite Königin – die Kö nigin, deren Sohn nicht der Thronerbe war. »Ich kann dir den Zauber nicht zeigen, Mbanda Lwa«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, wie man ihn zu solchem Zwecke einsetzt.« »Weißt du es nicht, Gil Janesch, oder willst du es nicht sagen?« »Nein, Mbanda Lwa. Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Aber ich weiß es nicht. Nur ein Priester meines Volkes weiß, wie man die Schrift auf diese Weise einsetzt.« 194
Mbemba beugte sich vor. Die abrupte Bewegung ließ Gil zusammen fahren. Mittlerweile verstand er nur allzu gut, was im Schwange war, und es behagte ihm gar nicht. Aber Mbemba griff nur nach dem Bre vier und nahm es seiner Mutter aus der Hand. »Dann zeig uns, wie man die Schrift spricht, Gil Janesch«, forderte er. »Zeig uns, wie man sie spricht, so, wie du sie sprichst. Zeig es uns, denn das ist Zauber genug.«
Sein Haus war durchsucht worden. Das spürte er, noch bevor er hin einging. Er trat von der Veranda wieder in den strömenden Regen hin aus und zog sein Schwert. Auf dem Rückweg hatte er sich verirrt. Nimi hatte ihn nicht beglei tet – sie war längst eingeschlafen –, und Mbemba hatte ihn durch an dere Räume aus dem Haus der Mbanda Lwa hinausgeführt; dadurch hatte er völlig die Orientierung verloren. Dazu kamen der Regen, die Finsternis, die verwirrenden Formen und Schatten im Licht der Blit ze und die Tatsache, dass alle Häuser ähnlich aussahen und er nicht richtig auf seinen Weg achtete. Im Geiste war er noch immer bei dem Unterricht, den er Mbemba und seiner Mutter gegeben hatte, und sei ner Mühe, ihnen das Lesen beizubringen – das Lesen einer Sprache, die er selbst nicht verstand, von der Königin und dem Prinzen ganz zu schweigen. Es war lächerlich. Es war unsinnig. Aber Mbemba und sei ne Mutter hatten nicht nachgegeben und ihn bis zur dunkelsten Stun de vor Sonnenaufgang bei sich behalten. Sie waren entschlossen zu ler nen, wie man die Schrift in dem Brevier sprach. Mittlerweile kannte Gil den Grund für die Beharrlichkeit der Mban da Lwa. Wenn sie die Schrift sprechen konnte, so glaubte sie, besäße sie einen Zauber, der stärker war als der Zauber des NsakuSoyo und des NgangaKongo – stark genug, um die bestehende Ordnung der Dinge im Reich umzustoßen. Und wenn die Zeit kam und der König starb, dann würde sie ihren Sohn an Mpanzus Statt auf den Thron setzen. Für Mbemba stellte sich die Sache etwas komplizierter dar. Zweifel 195
los hegte auch er ehrgeizige Hoffnungen und glaubte, dass die Fähig keit zu lesen und zu schreiben ihm eine besondere Macht verleihen würde, die ihn bei der Erfüllung seiner Wünsche unterstützen könn te. Aber irgendwie ahnte der junge, aufgeschlossene, heidnische Prinz, dass die Schrift auch in anderer und besserer Hinsicht nützlich sein konnte. Für ihn war sie ein greifbarer Talisman aus der geheimnisvol len Welt jenseits des entferntesten Horizonts des Kongo-Reiches, aus einer Welt jenseits des Meeres, von dessen anderem Ufer niemand et was gewusst hatte. Diese größere, unbekannte Welt wollte er jetzt ken nenlernen, obwohl er nicht hätte sagen können, zu welchem Zweck er das wollte. Dennoch war es ein gefährliches Spiel, auf das er und sei ne Mutter sich hier einließen, und Gil wollte nicht daran beteiligt sein. Die Vorstellung, in einen Machtkampf zwischen der alten und der jun gen Königin hineingezogen zu werden, zwischen dem Thronerben und seinem Rivalen, zwischen der bekannten Welt und einer unbekannten neuen – diese Vorstellung behagte Gil gar nicht. Er war nur ein Schiffs junge und hegte eigene Ambitionen. Für ihn wurde es Zeit, sich zu ver abschieden. Welches Haus war das seine? Während er unter dem vorspringenden Dach eines Gebäudes Schutz suchte und sich das Regenwasser vom Gesicht wischte, das vom Rand des Helms auf seine Wangen tropfte, blickte er über einen wahren See hinweg. Niemand war zu sehen. Nir gends brannten Feuer oder Laternen. Außer dem Donner und dem Re gen war nichts zu hören. War dieses Haus das seine? Die Matten vor den Fenstern waren noch hochgerollt. Hatten Nimi und die anderen Dienerinnen vergessen, sie herunterzulassen? Aber wenn dies nicht sein Haus war, wenn hier andere wohnten, dann hätten sie die Mat ten sicher zum Schutz vor dem Regen heruntergelassen. Also musste es sein Haus sein. Gil drückte den Helm mit einer Hand fest auf den Kopf und sprang über den See auf die vordere Veranda des Hauses. Er hielt sofort inne. Irgend etwas stimmte nicht. Gil legte die Hand an sein Schwert und lauschte. Donner grollte, dann zuckte ein Blitz über den Himmel, ein lauter Donnerschlag folgte, und der Regen pras selte hernieder. Er trat einen Schritt vor die Veranda zurück, zog das 196
Schwert und blickte sich um. Da er nichts Ungewöhnliches sehen oder hören konnte, stieg er langsam wieder hinauf, hielt aber kampfbereit seine Waffe vor sich. Mit der Spitze schob er die Matte vor dem Ein gang beiseite. Drinnen war es pechschwarz. Er wartete, bis seine Au gen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und trat dann ein. »Nimi? Mchento?« Es war niemand da. Er ging zur hinteren Veranda und sah in den Hof. Dort hatte sich ein großer Tümpel gebildet, auf dem einige ausge höhlte Kürbisse trieben. Die Kochhütte und die Unterkünfte der Die nerinnen – gehörte Nimi auch zu dieser Schar, oder war sie zu ihrer Familie und ihren Freunden jenseits des Luezi zurückgekehrt? – wa ren wegen des Sturms mit Latten verstärkt worden. Mit erhobenem Schwert ging er vorsichtig in sein Schlafzimmer. Eine Minute lang horchte er auf ungewöhnliche Geräusche, die im Sturm untergehen könnten, dann schob er den Vorhang vor der Tür beiseite. Der Anblick, der sich ihm bot, traf ihn wie ein körperlicher Schlag. Das Zimmer war durchsucht worden. Mit wild klopfendem Herzen machte er einen Satz zurück, sprang herum und wirbelte sein Schwert durch die Luft. Als ihm bewusst wurde, was er tat, zwang er sich, in nezuhalten und wieder das Zimmer zu betrachten. Die Strohmatrat ze war aufgerissen worden; seine Truhe und der Seesack waren geöff net, ebenso wie die der Hellebardiere, und ihr Inhalt lag auf dem Bo den verstreut; die Kisten mit den Schiffsvorräten waren aufgebrochen. Wer hatte das getan? Und zu welchem Zweck? Wer immer es war, was immer diese Leute suchten, sie waren zweifellos in großer Eile ge wesen, als hätten sie jeden Augenblick mit seiner Rückkehr gerechnet. Vielleicht hatte er sie überrascht. Vielleicht waren sie immer noch da. Er schritt noch einmal langsam durch den größten Raum des Hau ses und stieß mit dem Schwert nervös in dunkle Winkel, dann ging er wieder ins Schlafzimmer zurück. Offenbar hatte man ihm nichts ge stohlen. Er kniete sich neben seiner Truhe nieder und nahm den Helm ab, hielt aber das Schwert fest umklammert. In diesem Augenblick sprangen sie auf ihn. »Nimi! Mbemba!« 197
Er bekam keine Luft. Er konnte nichts sehen. Ein Sack war ihm über den Kopf gestreift worden. Man warf ihn auf den Rücken, und ein Seil wurde ihm um den Hals gezurrt, um den Sack zuzubinden. Gleichzei tig wurde er an Händen und Füßen gefesselt, damit er sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte. »Mbemba! Nimi!« Keine Antwort. Kein einziges Wort fiel. Er konnte nichts hören au ßer dem heftigen Atmen und Ächzen derer, die ihn überwältigten. Wie viele waren es? Ein Dutzend? Zwanzig? Im Hintergrund dazu das Donnergrollen und der Regen. Sie taten ihm nicht weh; fast schien es, als bemühten sie sich, ihm nicht weh zu tun. Aber er konnte nicht mehr schreien. Das grobe Sacktuch über seinem Kopf geriet ihm in den Mund und verschloss ihm die Nase, sobald er nur Atem holte. Er würgte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Seine Brust schien zu ber sten, sein Kopf zu zerplatzen. Panik erfasste ihn. Gleich würde er das Bewusstsein verlieren. Jetzt schoben sie einen langen, glatten Stock zwischen seine gefes selten Beine und Arme hindurch, und er wurde daran hochgehoben. Gil konnte sich genau vorstellen, wie er aussah – wie ein aufgehäng tes Schwein hing er von dem Stecken herab, wie ein Kalb, das zum Schlachthaus getragen wurde. Er versuchte, den Kopf zu heben, aber das war zu anstrengend; er ließ ihn wieder nach unten fallen, so dass sein Hinterkopf auf dem Boden aufschlug und ihm das Blut ins Ge hirn schoß. Daraufhin wurde der Stock hoch genug angehoben, dass sein Kopf nicht mehr den Boden berührte, und er wurde getragen. Er schwang hin und her, und dabei schmerzten seine Fuß- und Handge lenke höllisch, weil das Gewicht seines Körpers und der Rüstung an den Fesseln zerrte, so dass die Haut aufriß. Er versuchte, sich hochzu ziehen, aber auch das gelang ihm nicht. Sie trugen ihn aus dem Haus. Die zwei Stufen von der Veranda hin ab verursachten einen schmerzhaften Ruck, und dann prasselte der Regen auf ihn hernieder. Er musste seine Panik überwinden. Aber er konnte es nicht. Sein Herz hämmerte. Er bekam keine Luft. Er er trank im Regen. Würde Mbemba erfahren, dass er entführt wurde? 198
Und selbst wenn Mbemba davon erfuhr – würde er etwas unterneh men können? Gil begann wirr zu beten. Fetzen der Gebete, die er vor kurzem noch Mbemba und der Mbanda Lwa aus dem Brevier vorgele sen hatte, zuckten durch sein Hirn. O mein Gott, ich bereue aus ganzem Herzen, dass ich mich gegen dich versündigt habe … Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum … Gnädiger Gott, unser Erlöser, ich flehe dich an um deinen Beistand … De profundis clamavi ad te, Domine … Er musste sich beruhigen, einen kühlen Kopf bewahren. Er musste nachdenken. Wer waren diese Leute? Es mussten diese ›anderen‹ sein, von denen die Mbanda Lwa gesprochen hatte, jene anderen, die ihn nicht wunderbar finden würden, wenn sie wüßten, dass er nicht ein Prinz vom Himmel war. Aber sie wussten es nicht. Oder doch? Hatte jemand sein Geheimnis verraten? Aber wer kannte das Geheimnis, um es verraten zu können? Nur Mbemba, die Mbanda Lwa und die Prin zessin Nimi wussten darum. Hatte das dumme Mädchen es versehent lich preisgegeben? Wohin trugen sie ihn? Darauf musste er achten. Nach den zwei Stu fen von der Veranda in den strömenden Regen hinab glaubte er, dem Schwingen seines Körpers nach zu urteilen, dass sie sich nach links wandten, nach Süden. Also fort vom Palast des ManiKongo, fort vom Haus der Mbanda Lwa, auf den inneren Palisadenzaun zu. Das mus ste er sich merken; er musste nachvollziehen, in welche Richtung sie ihn trugen. Vielleicht verlor er das Bewusstsein. Der Regen presste den Sack auf sein Gesicht, verschloss ihm Nase, Mund, Augen. Seine Arme schie nen sich aus den Gelenken zu lösen. Mit jedem Schritt wurden die Handgelenke noch mehr wundgerieben. Seine Füße verdrehten sich in den Stiefeln. Die Kanten seines Brustharnischs schnitten ihm in Bauch und Hals. Die leere Schwertscheide schlug klappernd auf dem Boden auf. Vielleicht wurde er wieder ohnmächtig. Er hatte keine Ahnung, wohin sie ihn trugen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er getragen wurde. Und dann fiel er plötzlich auf den Boden. Der Sturz in eine kalte, sumpfige Wasserlache brachte ihn auf einen 199
Schlag wieder zu Bewusstsein. Der Schmerz in Armen und Beinen ließ etwas nach und wurde zu einem heftigen Pochen. Gil versuchte, den Sack aus dem Mund zu spucken. Dann merkte er, dass es nicht mehr so heftig regnete. Nieselte es nur noch, oder waren sie an einem geschütz ten Ort angekommen? Möglicherweise hatte der Regen etwas nach gelassen, aber er ahnte, dass sie irgendwo unter Bäumen waren, weil er die Regentropfen auf die Blätter fallen hörte. Als er in dem eisigen Wasser auf dem Rücken lag, wurde die Stange zwischen seinen Hän den und Füßen herausgezogen und ihm dabei ins Gesicht, über seinen Brustharnisch und zwischen die Beine gestoßen. Er versuchte, sich auf den Ellbogen aufzurichten, wurde aber gleich wieder in die Pfütze ge drückt. Die Fessel an seinen Füßen wurde gelöst. Sofort begann er, wild mit den Beinen zu strampeln. Er wusste, dass es töricht war, aber er konnte sich nicht beherrschen; er wollte nur noch weglaufen. Aber er konnte nicht weglaufen. Sie packten ihn unter den Achseln, zerr ten ihn auf die Füße und nahmen ihm die Handfesseln ab. Er umfas ste seine Gelenke, um das Brennen zu lindern, und fand sie blutver schmiert. Er blickte wild um sich, konnte wegen des Sacks aber nichts erkennen. Offenbar waren sie zurückgetreten und beobachteten ihn aus einiger Entfernung. Er begann, an dem Sack zu zerren, um ihn aus Mund und Nase zu entfernen; dann versuchte er, das Seil zu lösen, mit dem der Sack um seinen Hals gebunden war. Seine Fingernägel bra chen ab, weil es so nass war, und er konnte den Knoten nicht finden. »Nehmt ihn ab. Bitte. Ich bekomme keine Luft. Ich ersticke! Bitte, nehmt ihn ab! Faça favor.« Ohne nachzudenken, schrie er diese Worte auf portugiesisch her aus. Niemand reagierte. Aber nicht, weil Gils Hilferuf nicht verstanden worden wäre. So jämmerlich, wie er an dem Seil und dem Sack zerrte, hätte jeder Mensch verstanden, was er wollte. Wieder überkam ihn Pa nik. Er musste sich beruhigen. Er ließ die Hände sinken und schnapp te nach Luft. »Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?« Auch diesmal erhielt er keine Antwort. Aber er konnte fühlen, dass sie da waren, Dutzende von Leuten standen um ihn herum, umzin 200
gelten ihn. Er glaubte, ihren Atem zu hören. Es regnete stetig, aber das Donnergrollen kam jetzt aus größerer Ferne, und es schien nicht mehr zu blitzen. Mit aller Ruhe, die er aufbieten konnte, versuchte er noch einmal, das Seil zu lösen. Er fand den Knoten hinten am Nacken, aber nachdem er es mehrmals versucht hatte, musste er aufgeben – das Seil war zu nass, der Knoten durch den Regen aufgequollen. Es musste durchgeschnitten werden. Gil ließ die Arme wieder fallen und konzen trierte sich darauf, so ruhig wie möglich zu atmen. Plötzlich berührte ihn jemand. Er fuhr zusammen. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass jemand so nah bei ihm stand, dass er ihn be rühren konnte. Er hatte niemanden kommen hören. Panisch schlug er um sich. Aber er traf niemanden, er schlug nur in die Luft. Sein Arm wurde gepackt und auf den Rücken gedrückt. Da er nun wusste, wo der Angreifer stand, holte er mit dem anderen Arm aus und traf mus kulöses Fleisch, eine Schulter oder eine Brust; aber dann wurde auch dieser Arm gepackt und auf seinen Rücken gedreht. Er konnte nicht sagen, ob eine oder zwei Personen hinter ihm standen, aber auf jeden Fall war vor ihm jemand, und zwar nah genug, dass der Geruch sei nes Atems zu ihm drang. Gil stieß mit dem Kopf nach ihm und traf ihn am Kinn; er hörte die Zähne aufeinanderschlagen, so dass der An greifer einen Schritt zurückwich, und Gil trat mit dem Fuß nach ihm. Sie würden ihn umbringen. Plötzlich war er davon überzeugt. Sie wus sten, dass er nicht vom Himmel gekommen war, und sie würden ihn umbringen. Mit einem Mal kämpfte er um sein Leben, und plötzlich besaß er enorme Kräfte, Kräfte, wie Todesangst und rasende Wut sie verleihen. Sie hatten keinen Grund, ihn umzubringen, er war in friedlicher Ab sicht zu ihnen gekommen. Aber die Kräfte der anderen, der vielen an deren, waren noch größer. Es war, als würden ihm die Arme gebrochen. Sie legten ihm eine Schlinge um den Hals und zwangen ihn auf die Knie. Sein Rock wurde hinten aufgeschlitzt und ihm vom Leib gezerrt. Einen Augenblick lang waren seine Hände frei, und er packte sofort die Hand, die ihm den Hals zudrückte, und trieb seine Fingernägel tief in das bloße Fleisch 201
des Angreifers. Doch sein Griff wurde brutal gelöst, und seine Arme wurden ausgestreckt, als sollte er kniend gekreuzigt werden. Jemand machte sich an den Schnallen zu schaffen, die den Brustharnisch an seinem Kettenhemd befestigten. Aber offenbar war es zu mühsam, sie zu lösen: sie wurden kurzerhand durchgeschnitten – mit einem Mes ser, o mein Gott, ein Messer, sie würden ihn sicher umbringen! –, und der Brustharnisch wurde ihm vom Kettenhemd gerissen und lande te mit einem klatschenden Geräusch auf der Erde. Dann fühlte er, wie das Messer das Kettenhemd durchtrennte. Jetzt erst wurde Gil bewusst, was sie vorhatten: Sie wollten ihn aus ziehen! Nach dem Kettenhemd wurde ihm das Hemd vom Leib geris sen, und da sie mit seinen Stiefeln Schwierigkeiten zu haben schienen, schnitten sie sie einfach mit dem Messer auf und rissen sie ihm mit samt den Strümpfen von den Füßen. Dann musste er sich wieder hin stellen, und mehrere Hände machten sich an seinen Beinkleidern zu schaffen. Bislang hatte er sich nach Leibeskräften gewehrt, aber als er das Messer am Schritt fühlte, hielt er still aus Angst um seine Männ lichkeit. Die Beinkleider wurden ihm abgerissen, aber damit noch nicht genug: Auch der Hosenbeutel wurde abgeschnitten. Dann end lich ließen seine Angreifer von ihm ab und traten zurück. Er war nackt bis auf den Sack über seinem Kopf und die Blutsteinkette um den Hals. Instinktiv legte er sich schützend die Hände vor die Lenden. Der Regen fiel beständig, aber schwächer, und Donnergrollen war nur noch in der Ferne zu hören. Gil stand bis zu den Knöcheln in einer schlammigen Pfütze; er fror, er hatte Angst, und er fühlte sich gedemütigt. Er kam sich töricht vor, wie ein Mädchen dazustehen und sein Geschlecht mit den Händen bedecken. Er war ein starker Junge, der durch seine Arbeit auf hoher See kräftig und muskulös geworden war. Wenn er hier sein Ende finden sollte – ein sinnloses, unerwartetes Ende; er hätte den Tod im Meer finden sollen und nicht auf einer un nützen Reise zu einem König der Wilden –, wenn dies das Ende war, das Gott ihm bestimmt hatte, dann würde er es wie ein Mann ertra gen. In nomine patris, etfilii, et Spiritus sancti. Er nahm die Hände von den Lenden und schlug das Zeichen des Kreuzes. 202
»Zuerst stiehlst du unsere Seelen, Gil Janesch, und dann stiehlst du unsere Körper.« Nach dem langen, bedrohlichen Schweigen schreckten diese Wor te ihn auf. Er drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen wa ren – im schrillen Ton der hohen Stimme des NgangaKongo. Das Bild des haarlosen, buckligen Zwergs tauchte vor ihm auf, und er erschau derte in dem kalten Regen. »Zuerst stiehlst du unsere Seelen, Gil Janesch, und dann stiehlst du unsere Körper.« »Warum sagst du das, Lukeni a Wene? Ich bin in friedlicher, freund schaftlicher Absicht zu euch gekommen und habe euch Grüße und Geschenke von meinem König mitgebracht.« »Geschenke des Bösen, Gil Janesch. Geschenke der bösen escrita.« »Die Schrift ist nicht böse. Warum sagst du, dass die Schrift böse ist?« »Nzambi Mpungu sagt mir, dass die Schrift, die du bringst, böse ist.« »Wie kann Nzambi Mpungu sagen, dass die Schrift böse ist, wenn sie Nzambi Mpungus eigene Rede ist? Nzambi Mpungu spricht nichts Bö ses.« »Sag mir nicht, was Nzambi Mpungu spricht. Ich bin der NgangaKongo, der Erste an den Nüstern des Universums. Ich habe mein Le ben lang mit Nzambi Mpungu gesprochen, wie schon mein Vater vor mir und dessen Vater vor ihm, wie alle großen Priester und Zauberer des Königs es seit Bestehen des Reiches getan haben, seit der Zeit, als Nzambi Mpungu dieses Königreich errichtete. Also sag mir nicht, was Nzambi Mpungu spricht. Nzambi Mpungu spricht zu mir und sagt mir, dass die Schrift böse ist.« Die Umstehenden murmelten beifällig. Sie glaubten ihm, das war nur natürlich. Warum sollten sie ihm auch nicht glauben? Sie hatten ebenso wenig Grund, ihm zu misstrauen, wie Gil Grund hatte, an Pa ter Sebastião und den anderen Geistlichen zu zweifeln. Sie schenkten den Ritualen und der Zauberkunst des NgangaKongo ebenso Glau ben, wie Gil dem Glauben und dem Ritus der Kirche vertraute. Bemer 203
kenswert war nur, dass Mbemba bereit war, seinen Glauben gegen ei nen anderen einzutauschen. »Ja, die Schrift ist böse, und das Böse wird unsere Körper und unse re Seelen stehlen.« »Wo ist dieses Böse, Gil Janesch?« Diese Stimme, heiser und knur rend, gehörte einem anderen. Gil wandte sich in die Richtung, aus der sie kam. »Mpanzu?« »Ich habe alle deine Sachen durchsucht, aber ich konnte es nicht fin den.« Das war also der Grund, warum sein Haus auf den Kopf gestellt wor den war – sie hatten nach dem Brevier gesucht. »Ich habe es nicht, Mpanzu. Der NgangaKongo hat es. Erinnerst du dich nicht? Auf den Befehl des ManiKongo hin habe ich es ihm gegeben.« Nach diesen Worten hielt Gil den Atem an, wenngleich er sich da bei relativ sicher fühlte. Mpanzu hätte ihn nicht nach dem Brevier ge fragt, wenn er gewusst hätte, dass Mbemba es dem NgangaKongo ent rissen und dann der Mbanda Lwa gegeben hatte. Aber selbst wenn er das wusste, konnte er nicht ahnen, dass Gil es ebenfalls wusste. Und dabei wollte Gil es belassen; diese Sache sollten die Brüder unter sich ausmachen. Er durfte nicht zulassen, dass er in diesen Streit hineinge zogen wurde. Mit ihm hatte das nichts zu tun. Er musste sich um je den Preis heraushalten. »Das mußt du doch noch wissen, Mpanzu. Auf Wunsch deines Va ters gab ich die Schrift dem NgangaKongo. Ist es nicht so, NgangaKon go?« Darauf kam keine Antwort. Da Gil nichts sehen konnte, verstand er das Schweigen nicht. Was hatten sie vor? »Der NgangaKongo hat die Schrift«, wiederholte er noch eindring licher, denn die Stille ängstigte ihn. »Sagt er, dass er sie nicht hat? Ich habe sie doch in seine Hände gelegt. Das hast du mit eigenen Augen gesehen, Mpanzu.« Und dann wurde er wieder gepackt. Er wehrte sich heftig, aber sie drehten ihm die Arme auf den Rücken, so dass er vor Schmerzen jeg liche Gegenwehr aufgeben musste. Jemand trat direkt vor ihn, und er 204
spürte, wie die Spitze einer Messerklinge ihm direkt an die Kuhle un ten am Hals gesetzt wurde, dort, wo sein Puls wild pochend schlug. »Ich habe die Schrift nicht!« schrie er. »Wer hat die Schrift, wenn du sie nicht hast?« fragte Mpanzu. Er war es, der Gil das Messer an die Kehle hielt. »Ich weiß es nicht, Mpanzu. Bitte. Ich weiß nur, dass ich sie nicht habe. Ich habe sie als Geschenk von meinem König zu deinem Vater gebracht, und er sagte mir, ich solle sie dem NgangaKongo geben. Was dann damit geschah, das weiß ich nicht.« »Mbemba hat die Schrift.« Das war wieder eine andere Stimme, die Stimme einer Frau. Gehörte sie der Mbanda Vunda, der herrschenden Königin, Mpanzus Mutter? »Mbemba und die Mbanda Lwa«, sagte sie und trat näher. »Sie hat die Schrift, ist es nicht so, Gil Janesch? Sie haben die Schrift, um den Zauber gegen uns einzusetzen.« Ihre Stimme klang ruhig und selbstbewusst. Sie wusste Bescheid. Aber durfte er das zugeben? Würde er sich nicht selbst belasten, wenn er gestand, dass Mbemba und die Mbanda Lwa das Brevier hatten? Gab er damit nicht preis, dass er von der Verschwörung wusste, die sie planten? Also wiederholte er verzweifelt: »Ich weiß es nicht, Herrin. Ich weiß nicht, wer die Schrift hat.« Daraufhin wurde ihm das Messer noch fester an die Kehle gedrückt. Jeden Augenblick konnte es ihm ins Fleisch dringen. »Nein, Mpanzu! Bitte! Faça favor.« »Mbemba hat die Schrift. Ist es nicht so, Gil Janesch?« »Ja. Ja.« Mpanzu riß das Messer nach oben. Segne mich Vater, denn ich habe gesündigt … Gils Herz setzte aus. Er konnte seinen Schließmuskel nicht mehr be herrschen. Es wurde ihm schwarz vor Augen. Aber er fiel nicht um. Er fiel nicht, weil diejenigen, die seine Arme festhielten, es nicht zuließen. Aber warum empfand er keinen Schmerz? Warum spürte er nicht, wie heißes Blut aus seiner Kehle spritzte? War er bereits tot? 205
Nein, er war nicht tot. Mpanzu hatte ihm nicht die Kehle durchge schnitten. Er hatte nur die Schnur durchgeschnitten, mit der der Sack um Gils Kopf gebunden war. Und dann wurden seine Arme losgelas sen. Gütiger Gott … er regte sich nicht. Er wagte es nicht, sich zu be wegen. Er wartete. O Heilige Muttergottes … Er wartete, was als näch stes passieren würde. Aber nichts geschah. Er fühlte die Exkremente an seinen Beinen hinablaufen. Sie würden das sehen; alle würden die ses schmachvolle Zeichen seiner Feigheit und seiner Angst sehen. Aber niemand sagte etwas dazu. Niemand sagte irgend etwas. Er wartete und wartete und wagte nicht, sich zu bewegen. »Mpanzu«, flüsterte er nach einiger Zeit. »Mpanzu?« War er nicht mehr hier? War niemand mehr da? Langsam streifte er den Sack über den Kopf, in der Gewißheit, dass ihn jeden Augenblick jemand daran hindern würde. Nichts geschah. Niemand war da. Er wusste nicht, wo er war. Er war in einem Wald. Der Regen war in ein beständiges Nieseln übergegan gen, und am Himmel standen weder Mond noch Sterne.
KAPITEL 11
L
ange Zeit war er vor Angst wie erstarrt; er zitterte in seiner demü tigen Blöße und schämte sich entsetzlich wegen seiner Feigheit. Lange Zeit glaubte er auch, er sei nicht allein, und dachte, sie wären noch irgendwo im Urwald, im Dunkel des Dschungels versteckt. Als der Morgen graute, war es immer noch kalt und nass, aber zumindest hatte es aufgehört zu regnen. Er konnte im wallenden Nebel kein Zei chen von ihnen erkennen und kam zu dem Schluß, er sei sicher genug, um sich zumindest hinzusetzen. Er kauerte sich gegen den Stamm ei ner Palme, zog die Knie bis zum Kinn hoch und umklammerte sie wie ein kleiner, verlorener Junge. Und so fühlte er sich auch. Dann betrach tete er seine Umgebung: eine Waldlichtung, in der einige von Flechten 206
überwachsene Felsen aufragten, ein vom Blitz gespaltener Baum stamm, auf dem vom strömenden Regen der letzten Tage durchnässte Pilze wucherten. Doch auf welcher Lichtung in welchem Urwald er sich befand, das wusste er nicht zu sagen. Im Verlauf des Morgens lö ste sich seine Starre ein wenig, und er fühlte sich in der Lage, den Lauf der Sonne zu verfolgen, die wie eine matte Zinnscheibe über den be wölkten Himmel wanderte; nun konnte er wenigstens die Himmels richtungen bestimmen. Er blickte nach Norden; zu seiner Linken war Westen, zu seiner Rechten Osten, und in seinem Rücken war Süden. Der Sack, den sie ihm über den Kopf gestreift hatten, war unweit von ihm halb in einer Schlammkuhle versunken. Daneben lag das Seil, mit dem der Sack um seinen Hals gebunden gewesen war, und in einer an deren Lache schwammen die Schnüre, mit denen sie ihm Hände und Füße gefesselt hatten. Aber von seinen Kleidern konnte er nirgends et was entdecken, nicht einmal einen Fetzen – weder vom Kettenhemd, dem Brustharnisch und seinem zerrissenen Rock noch von seinem Hemd oder den Strümpfen; auch von seinen Stiefeln, den Beinkleidern und dem Hosenbeutel war keine Spur zu sehen. Alles war weg; viel leicht hatte man diese Dinge alle als Gegenstände des Bösen in einem reinigenden Feuer verbrannt. Er starrte lange auf den Sack, bis ihm einfiel, dass er damit seine peinliche Blöße bedecken könnte. Bevor er ihn aus dem Schlamm fischte, vergewisserte er sich noch einmal, ob er auch tatsächlich allein war; dann spülte er ihn in einer Wasser pfütze und trennte die Nähte mit einem scharfkantigen Stein auf. Er konnte sich den Stoff als Rock um die Hüften binden oder als Lenden schurz zwischen den Beinen hindurchziehen. Besonders befriedigend fand er keine der beiden Möglichkeiten, aber mit dem Lendenschurz hatte er zumindest das Gefühl, dass seine Männlichkeit geschützt war. Die Schnüre knotete er zu einer Art Gürtel zusammen. Offenbar hatten sie ihn nur deshalb nicht getötet, weil sie immer noch glaubten, er käme vom Himmel – sie hatten wohl Angst davor, sich die Hände mit dem Blut eines solch fremden Wesens zu beflek ken –, aber es war eindeutig, dass sie ihn dem Tod preisgeben wollten. Nackt und allein in einer ihm unbekannten Wildnis ausgesetzt, konn 207
te er gar nicht überleben. Was sollte er essen? Er hatte schon jetzt Hun ger. Wohin sollte er gehen? Es nützte ihm nichts zu wissen, wo Süden, Norden, Osten und Westen waren, wenn er nicht wusste, was in die sen Richtungen lag. Während er geistesabwesend die Perlen seiner Blutsteinkette durch die Finger gleiten ließ, das Kinn auf die Knie stützte und Rosenkränze murmelte, sah er Frösche in den Pfützen sitzen, schlammig-grüne Le bewesen, die zufrieden vor sich hin quakten. Konnte er einen Frosch töten und ihn essen? Aber er hatte keine Möglichkeit, ihn zu garen; er hatte nichts, um ein Feuer zu entzünden. Und selbst wenn er etwas ge habt hätte – es gab in diesem regendurchnässten Urwald kein trok kenes Brennholz. Aber das machte nichts. Er würde das Tier roh es sen, wenn er es denn töten konnte. Der Stein, mit dem er die Sacknäh te aufgetrennt hatte, lag noch neben ihm. Er griff danach und schleu derte ihn auf den nächstbesten Frosch. Aber er zielte so weit dane ben, dass das Tier sich nicht einmal die Mühe machte, wegzusprin gen. Doch mit diesem erfolglosen, halbherzigen Versuch regte sich zu mindest sein Lebenswille wieder. Er wollte nicht sterben, und schon gar nicht auf diese elende Art und Weise. Es war nicht unmöglich, ei nen Frosch zu fangen, und wenn er ihn fangen konnte, würde er nicht verhungern. Und wenn er nicht verhungerte, würde er lange genug am Leben bleiben, um einen Ausweg zu finden. Mit den Händen schöpfte er Regenwasser aus einer Pfütze und trank es gierig; erst jetzt bemerkte er, dass er Durst hatte. Gut, das war ein Anfang – seinen Durst zu löschen. Er kniete sich auf den Boden, hielt den Kopf ganz nah über die Wasseroberfläche und spritzte sich das Wasser wie ein Dachs in den Mund. Aufgeschreckt durch den Lärm suchten die Frösche das Weite. Aber sie sprangen nicht weit. Als er ge nug getrunken und einige Minuten unbeweglich auf den Knien ver harrt hatte, kamen sie wieder. Reglos wartete er ab, bis einer von ihnen ganz in seine Nähe hüpfte. Dann griff er nach ihm. Er fing den Frosch. Er hielt ihn zwischen den Händen, die bis zu den Gelenken im Schlamm steckten, während das Tier sich zappelnd wehrte, sich aufblies und wieder zusammenzog und sein kleines Herz 208
wie wild klopfte. Gil drückte mit aller Macht zu und preßte das Leben aus ihm heraus. Dann zog er den Frosch aus dem Schlamm. Ein gel ber, braungefleckter Bauch; die Beine zuckten noch, und aus dem Maul trat eine blasige, schleimige Flüssigkeit aus. Gil schlitzte den Bauch mit dem Daumennagel auf und riß ihn auf. Er hatte sein Leben lang Fi sche ausgenommen. Es war gar nicht so viel anders, einen Frosch aus zunehmen. Die Teile, die ihm bekannt vorkamen, stopfte er sich in den Mund, dann riß er die Beine aus und nagte die Knochen ab. Das tat er mit beinahe hysterischer Hast – nicht, weil er so hungrig war, sondern weil er sich keine Zeit lassen wollte, darüber nachzudenken, was er tat. Danach hockte er sich auf die Fersen, atmete tief durch und wehr te sich gegen die aufsteigende Übelkeit. Es gelang ihm; er musste sich nicht übergeben. Es war in Ordnung. Es war nicht mehr als ein Mund voll, aber es war in Ordnung; es schmeckte sogar ziemlich gut. Gil ju belte innerlich. Er wusch sich Gesicht und Hände in einer Pfütze und sah sich um. Es gab jede Menge Frösche. Der Tod ihres Kameraden hatte sie nicht vertrieben. Gil konnte so viele davon essen, wie sein Ma gen erlaubte. Und was noch? Auf dem vom Blitz gespaltenen Baumstamm wuch sen hellrosafarbene, fächerförmige Pilze. Er brach ein Stück davon ab, zerdrückte es zwischen den Fingern, roch daran und leckte schließlich vorsichtig davon. Die pulverartige Masse schmeckte ein wenig nach fauligen Brotkrümeln. Er aß den Rest. Selbst wenn der Pilz giftig sein sollte, hatte er nicht genug gegessen, um daran zu sterben. Wenn er in einigen Stunden Magenkrämpfe bekam, würde er wissen, dass der Pilz giftig war; wenn nicht, konnte er ihn auf seinen Speiseplan setzen. Au ßerdem gab es noch andere Dinge, die er essen konnte, Früchte von Bäumen, Beeren von Sträuchern, Knollen wie Yamswurzeln und wilde Zwiebeln; und er konnte noch andere Pilze probieren, weitere kleine Tiere töten. Er würde durchkommen. Er würde nicht verhungern. Was er jetzt tun musste, war, zu versuchen, sich wieder zum Zaire durchzuschlagen, und zwar rechtzeitig, um die Leonor nicht zu ver passen und mit ihr nach Hause zu fahren. Aber er wusste nicht, wieviel Zeit ihm blieb, bis die Leonor dort eintraf; er hatte jegliches Zeitgefühl 209
verloren. Der Abmachung zufolge sollte sie nach sechzig Tagen wieder zum Zaire zurückkehren. Abgesehen von den Tagen, die er unterwegs zu zählen vergessen hatte, hatte die Reise nach Mbanza Kongo rund zwanzig Tage in Anspruch genommen. Wenn er davon ausging, dass er während seiner Krankheit höchstens fünf oder sechs Tage nicht ge zählt hatte, war er vermutlich nicht mehr als zehn Tage hier. Wenn er sich nicht völlig verrechnet hatte, blieben ihm also rund dreißig Tage Zeit, um den Zaire zu erreichen. Aber da das Wetter ungünstig und er auf sich allein gestellt war, die Gegend nicht kannte, ohne Werkzeug und Waffen nach Nahrung suchen musste und nicht mit Hilfe rechnen konnte – ganz im Gegenteil, nachdem er als Überbringer des Bösen ge brandmarkt und im Dschungel ausgesetzt worden war, um zu sterben, musste er unterwegs alle Menschen meiden –, würde er jede Stunde, jede Minute dieser dreißig Tage benötigen, um rechtzeitig zum Zaire zurückzufinden. Er musste sich also gleich auf den Weg machen. Aber welchen Weg sollte er nehmen? Soweit er es hatte feststellen können, hatten sie ihn in südlicher Rich tung aus dem Königsbezirk hinausgetragen. Also musste er davon aus gehen, dass er sich jetzt irgendwo südlich von Mbanza Kongo befand. Diese Vermutung war nicht abwegig, aber trotzdem war es besser, sie zu überprüfen. Am besten war es wohl, eine Zeitlang nach Norden zu marschieren. Wenn er dann den Stadtrand erreichte, konnte er sich orientieren und Richtung Osten gehen, in der Hoffnung, einen Pfad zu finden, der vom Plateau zum Lelunda hinabführte. Was er dann tun würde – wie er den Fluss und das hügelige Grasland der Nsundi über queren und im Urwald der Mbata überleben sollte (ob es wohl den Hellebardieren Gomes und Dias gelungen war?) –, darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen. Was jetzt vor ihm lag, bereitete ihm schon genügend Probleme. Er würde also nach Norden gehen. Aber wie? Nördlich von ihm rag te der Urwald auf, eine undurchdringliche Mauer von Unterholz, ein Gewirr von verschlungenen, im Nebel dampfenden Lianen und Ästen. Es gab keinen Pfad, der in nördlicher Richtung aus der Lichtung her ausführte, und es war ihm nicht möglich, sich einen Weg zu bahnen – 210
sein Schwert hatte er schon vor langer Zeit eingebüßt. Seine ganzen scharfsinnigen Überlegungen, sein großartiger Plan waren also um sonst gewesen. Er musste wohl die Richtung einschlagen, in der ein Vorankommen überhaupt möglich war. Er umkreiste die Lichtung, watete durch die sumpfigen Pfützen, wobei er die Frösche aufstörte, und entdeckte einen Wildwechsel, der nach Westen führte. Obwohl der peitschende Regen alle Fußtritte und jegliche Spuren weggespült hatte, musste dies der Pfad sein, auf dem er zu der Lichtung getragen worden war. Es gab keinen anderen Weg. Vielleicht machte der Pfad später eine Biegung nach Norden. Er würde es einfach versuchen müs sen. Nachdem er sich von dem umgestürzten Baum einen Ast als Stock abgebrochen hatte, ging er los. Und blieb wie angewurzelt stehen; die Nackenhaare sträubten sich ihm. Direkt vor ihm war eine schwarze Schlange, die zusammenge rollt, mit drohend erhobenem Kopf, in einer Pfütze mitten auf dem Weg lag. Beinahe wäre er mit seinen nackten Füßen auf sie getreten. Er wich zurück, und ihm gefror das Gesicht, während er in die unbeweg lichen Augen des Reptils starrte. Er hatte keine Ahnung, welche Art von Schlange es war und was er von ihr zu befürchten hatte, doch als Kreatur Satans im Garten Eden flößte sie ihm panische Angst ein. Ihre gespaltene Zunge fuhr hinein und hinaus, das grinsende Maul ent blößte ihre Giftzähne. Doch dann schien ihre Neugier befriedigt, sie senkte den Kopf und glitt in das Unterholz davon. Er war nur noch ein zitterndes Häuflein Elend. Daran hatte er über haupt nicht gedacht, dass es hier neben den Menschen, die er meiden musste, natürlich auch gefährliche Tiere gab, vor denen er auf der Hut sein musste. Also brauchte er eine Waffe. Er blickte auf den Stock in seiner zitternden Hand, der jedoch weder robust genug war, um als Keule zu dienen, noch spitz genug für einen Speer. Gil beschaffte sich beides: zuerst einen dicken Ast, dann einen kräftigen Trieb aus dem Unterholz, den er mit einem scharfkantigen Stein zuspitzte. Die Keu le ließ sich auch als Gehstock benutzen; den Speer klemmte er sich un ter den Arm. Mit den Augen suchte er den Pfad, der vor ihm lag, nach eventuellen Gefahren ab, denn eine weitere böse Überraschung woll 211
te er sich ersparen. Doch er stellte fest, dass es von Schlangen wim melte; eine gelbschwarze hing wie eine Ranke von einem Ast herab, eine grüngesprenkelte wand sich um den Stamm einer Palme, und im Schlamm zu seinen Füßen wanden sich zwei große schwarze Blutegel. Gott allein mochte wissen, welches Getier hier noch unsichtbar im Dunkel lauerte und erst durch seine Schritte aufgestört wurde: Spin nen, Feuerameisen, Leoparden und Löwen, die jetzt gerade schliefen, aber bei jedem ungewohnten Geräusch aufschrecken würden. Bei die sem Gedanken sank Gil der Mut. Wie konnte er sich in diese Wild nis vorwagen? Dann blickte er zurück zu der Lichtung. Er konnte ent weder dort bleiben und Frösche essen, bis er zugrunde ging, oder er konnte weitergehen und versuchen, lebend aus dem Urwald herauszu kommen. Er gab sich einen Ruck und setzte seinen Fuß behutsam in den von Egeln wimmelnden Schlamm. Und dann begann es wieder zu regnen. Gut eine Stunde bevor der Regen tatsächlich einsetzte, konnte Gil ihn bereits riechen, hören und schmecken; er bemerkte, wie das silbrige Licht schwand, er sah das Wetterleuchten, hörte das Donnergrollen in der Ferne und spürte den kühlen, feuchten Wind von Westen. Die ganze Zeit war er dem Wild wechsel gefolgt, der sich immer tiefer in den Urwald hineinschlängel te. Als dann schließlich der Regen herniederprasselte, musste er ste henbleiben. Er hatte keine nennenswerte Strecke zurückgelegt und war nicht einmal zu einer weiteren Lichtung gelangt. Der Wildwechsel hatte sich einige Male nach Norden gewandt, dann aber bald wieder seine Richtung geändert, so dass Gil vermutete, dass er im wesentli chen nach Westen ging. Nichts deutete darauf hin, dass er in die Nähe des Plateaus und zu den Felsen des Steilhangs kam; es gab keine An zeichen dafür, dass er sich dem Ende des Urwalds näherte. Und in der Dunkelheit, die sich mit dem Unwetter über den Dschungel gesenkt hatte, konnte er nicht mehr feststellen, wo der Pfad verlief und was ihn dort erwartete. Verstört von den furchterregenden Schatten im Licht der zuckenden Blitze kauerte er sich auf das sumpfige Moos zwischen den weitverzweigten Stelzwurzeln einer riesigen Mangrove, um dort das Ende des Sturms abzuwarten. 212
Er tastete im Moos herum und fühlte Pilze zwischen den Fingern. Da ihm die Pilze vom Morgen keine Übelkeit verursacht hatten, steckte er sie sich hungrig in den Mund. Als er seine Umgebung weiter mit den Händen absuchte, fand er mehrere Raupen, die er sich auf die Hand kriechen ließ. Der Gedanke behagte ihm zwar wenig, aber er wusste aus den Erzählungen der Matrosen, dass Raupen eine gute Mahlzeit darstellten. Er zerquetschte sie zwischen den Fingern und leckte die breiige Masse auf. Es war nicht viel, denn der Hunger nagte an ihm, aber zumindest ließ das Magenknurren nach. Doch jetzt fror er in der nassen Kälte. Er riß Moosklumpen aus der Erde und legte sie sich wie eine Decke auf die Beine und den Schoß. Als er aufwachte, lag er auf der Seite. Rasch setzte er sich auf. Es reg nete noch immer, aber nicht mehr so heftig, und im Osten schien der Himmel ein wenig aufzuklaren. Blitz und Donner hatten aufgehört. Irgend etwas anderes hatte ihn auffahren lassen. Er tastete nach sei ner Keule und dem Speer und kniete sich auf die Erde. Was war es? Er blickte auf das Blätterdach über sich; Wasser tropfte in sein Gesicht. Er schaute in beiden Richtungen den Pfad entlang; der Sturm hatte den Wildwechsel in einen knöcheltiefen Bach verwandelt. Dann wandte er sich nach Norden um. Ja, dort war ein Geräusch, als bräche jemand durch das Unterholz und käme direkt auf ihn zu. Er sprang auf und preßte seinen Körper gegen den Baumstamm; vielleicht konnte er sich auf diese Art unsichtbar machen. Wer immer es war, sie bewegten sich rasch auf ihn zu, brachen krachend durch das dichte Gestrüpp und machten sich gar nicht die Mühe, ihre Gegen wart zu verbergen – sie grunzten, kreischten und schrien. Gil hielt die Luft an und drückte sich noch fester gegen den Baum; er dachte nicht einmal daran, sich mit seiner Keule und seinem Speer zu verteidi gen. Es waren viel zu viele, mindestens ein Dutzend. Sie hetzten rechts und links des Baums an ihm vorbei, planschten durch den überflute ten Pfad und verschwanden auf der anderen Seite in einem Bambusge büsch. Es war eine Horde Paviane. Einige von ihnen witterten seinen Geruch und blieben stehen, um ihm aus ihren bärtigen Gesichtern ei nen finsteren Blick zuzuwerfen, bevor sie mit hocherhobenen Schwän 213
zen weiterstürmten, so dass er ihr lilafarbenes Hinterteil gut erkennen konnte. Vor Erleichterung brach er in hysterisches Kichern aus und ließ sich am Baumstamm hinab wieder in die Hocke gleiten. Doch sofort war er wieder auf den Beinen. Warum liefen die Pa viane in Panik davon? Vor wem waren sie auf der Flucht? Er späh te um den Baum in nördlicher Richtung, aus der die Affen gekom men waren. Durch das dichte Blattwerk und den silbernen Regenvor hang konnte er nichts ausmachen, aber hören konnte er etwas: ein Ge murmel, Stimmen, menschliche Stimmen. Woher kamen sie? Auf je den Fall nicht durch den Urwald; sie brachen nicht, der Spur der Pa viane folgend, durch das Gebüsch. Sie gingen den Wildwechsel ent lang. Gil blickte durch den Wald zu der Stelle, wo der Pfad schließ lich doch seine Richtung änderte und nach Norden führte, doch auf grund der dichten Vegetation konnte er nichts richtig erkennen. Aber sobald sie um diese Biegung kamen, würden sie ihn sehen. Wer waren sie? Jäger, die es zufällig in diesen Teil des Urwalds verschlagen hatte? Oder Leute, die ausgeschickt worden waren, um festzustellen, was aus ihm geworden war? Es war gleichgültig – sie durften ihn nicht sehen. Er kroch um den Baum und kauerte sich im Unterholz nieder. Sofort fiel sein Blick auf das Moos, das er ausgerissen hatte, um sich zuzu decken. Diese Verwüstung würde ihn verraten. Er schlich zurück, um das Moos wieder am Fuße des Baumes festzudrücken, erkannte aber bald die Vergeblichkeit seiner Mühe. Er musste in der Zeit, die ihm noch blieb, einfach so weit wie möglich von hier weglaufen. Er würde sich durch den Urwald zu der Stelle durchschlagen, wo der Wildwech sel nach Norden abbog, und damit hinter sie gelangen. Während sie den Pfad herunterkamen, würde er sich in der Gegenrichtung an ih nen vorbeistehlen. Aber das ging nicht. Die Vegetation war undurchdringlich. Die Zwei ge und Blätter, die Büsche und Ranken klammerten an ihm wie Fallschlingen, zerkratzten seine nackten Beine und seinen Oberkörper. Er stieß mit den Zehen gegen Felsen und Baumstümpfe und verdrehte sich im Schlamm die Knöchel. Immer wieder stolperte er und fiel zu Boden und machte dabei einen höllischen Lärm. Nach kaum mehr als 214
zwanzig Schritten musste er sein Vorhaben aufgeben. Er kauerte in ei ner Pfütze hinter einem Felsbrocken nieder, wobei er immer wieder vor den unzähligen Egeln und anderen schleimigen Tieren, die sich in dem Wasser tummelten, zurückzuckte. Dann erschien zwischen den Bäumen ein Mann auf dem Pfad. Er trug einen aus geflecktem Leopardenfell gefertigten Lendenschurz und eine schlichte Ledertunika, die im Regen schwarz glänzte. In der Hand hielt er eine stählerne Lanze, und über die Schulter hatte er einen Bo gen aus Rohr und einen Lederköcher mit Pfeilen geschlungen. Er blieb nur kurz stehen und ging dann direkt zu der Mangrove, zwischen de ren Wurzeln Gil geschlafen hatte. Dort kniete er nieder und unter suchte das ausgerissene Moos. Dann blickte er auf und sah nach Nor den in den Urwald direkt zu Gil. Es war Mbemba. An der Biegung des Pfads tauchten zwei weitere Männer auf. Sie ge hörten zu Mbembas Leibwache. Sie trugen Kangas mit seinem Em blem und seinen Farben und waren außer mit Lanzen und Schilden auch mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, die sie ebenfalls über den Rük ken geschlungen hatten. Schließlich erschienen auch noch die junge und die ältere Nimi zwischen den Bäumen; die ältere Frau trug einen Korb auf dem Kopf. Gil richtete sich auf. »Da ist er!« rief die Prinzessin Nimi und hüpfte auf einem Bein her um. »Wir haben ihn gefunden, Mbemba. Ich habe dir doch gesagt, dass wir ihn finden würden.« »Gil Janesch.« Mbembas Gesicht verzog sich zu einem fröhlichen, jungenhaften Grinsen. »Ich habe nach dir gesucht, Gil Janesch.« »Du hast mich gefunden, Mbemba«, sagte Gil und bahnte sich einen Weg aus dem Gestrüpp zu seinem Freund. »Ich danke Nzambi Mpungu dafür, dass ich dich lebend gefunden habe.« »Ich danke Nzambi Mpungu ebenfalls. Aber ich danke auch dir. Ich weiß, wie gefährlich es für dich ist, mir zu helfen, Mbemba, und ich danke dir für deine Freundschaft und deinen Mut.« Gil packte Mbem ba herzlich an den Schultern. 215
»Ich habe gewusst, dass wir dich finden würden«, sagte die junge Nimi, während sie immer noch auf einem Bein herumhüpfte. »Ich habe Mbem ba gesagt, dass wir dich finden würden. Geht es dir gut, Gil Janesch?« Gil lachte. »Jetzt geht es mir gut; jetzt, da ich dich sehe, NtinuKongo, geht es mir gut. Keba bota, Nimi.« »Keba bota«, sagte die andere Nimi, aber sie lächelte ihm nicht zu und sah ihn auch nicht an. Sie stellte ihren Korb auf einer kleinen Er höhung ab, damit er nicht im Wasser stand, und machte sich daran, ihn auszupacken. Ihre Gleichgültigkeit verstörte Gil, und er wandte sich wieder an Mbemba. »Ich kann nicht verstehen, warum man mich so behandelt hat, Mbemba. Weiß dein Vater davon? Hat er es gestattet?« Mbemba nickte und blickte auf die Dienerin Nimi, die einen gefleck ten Lendenschurz und eine genähte Ledertunika ganz ähnlich der sei nen aus dem Korb holte. »Er glaubt also auch, dass die Schrift böse ist?« »Ja. Komm, mchento, gib das mir.« Mbemba nahm der Frau das Len dentuch und die Tunika ab. »Leg den dummen Sack ab, Gil Janesch, und zieh diese Sachen an.« »Aber warum glaubt er das?« fragte Gil, während er die Kleidungs stücke an sich nahm. »Warum sollte er es nicht glauben? Der NgangaKongo hat es gesagt. Warum sollte er nicht glauben, was der NgangaKongo sagt? Er ist der große Zauberer im Königreich, der Priester des Königs. Glaubt dein König etwa nicht, was sein Priester sagt?« »Doch. Aber warum glaubst du dann nicht, was er sagt?« Darauf gab Mbemba keine Antwort. Statt dessen ergriff seine muntere kleine Schwester das Wort. »Weil er etwas weiß, was der NgangaKongo nicht weiß. Weil er weiß, dass du nicht vom Himmel kommst.« »Ist das der Grund, Mbemba? Weil der NgangaKongo noch nicht herausgefunden hat, dass ich nicht vom Himmel komme?« »Wir müssen weiter, Gil Janesch. Wie dürfen hier nicht bleiben. Ich werde dir den Weg zum Meer zeigen.« 216
Sie gingen nicht nach Mbanza Kongo zurück und verließen das Pla teau auch nicht in östlicher, sondern in südlicher Richtung, stiegen die Klippen des Steilhangs durch eine aufgegebene Eisenerz-Schürfstelle hinab, überquerten den Lelunda dann in westlicher, nicht in nördli cher Richtung, und gingen auch dann weiter nach Westen. Sie folgten nicht der breiten Königsstraße, sondern marschierten auf Wildwech seln und schmalen Pfaden über die sanften, mit gelbem Gras bestan denen Hügel der Nsundi und mieden die Dörfer, bis sie sich schließ lich nach Norden wandten und den dunklen, dampfenden, unheimli chen Urwald der Mbata erreichten. Für Gil war das Gehen sehr ermüdend. Er war nicht daran gewöhnt, solche Entfernungen auf unwegsamem Gelände barfuß zurückzule gen, und schon wenige Tage nach dem Aufbruch waren seine Füße blutig und zerschunden. Er hatte ständig Hunger, denn er war es nicht gewohnt, nur einmal am Tag zu essen, wie es bei den Kongo üblich war. Auch die Art Nahrung, die sie unterwegs erlegten und sammel ten, sagte seinem Magen nicht zu. Außerdem regnete es, tagelang und ohne Unterbrechung; im besten Fall nieselte es. Gil war immer nass. Mbemba bemerkte, wie schwer ihm das Vorankommen fiel, aber im mer, wenn er eine Rast vorschlug, lehnte Gil ab – zum Teil aus Stolz, weil er vor den beiden Nimis keine Schwäche zeigen wollte. Vor allem aber wollte er so rasch wie möglich vorankommen. Er wusste nicht, wieviel Zeit ihm noch blieb (mittlerweile war es bestimmt schon Okto ber), und ihm war klar, dass sie wesentlich länger brauchten, als er ver anschlagt hatte, weil sie bei schlechtem Wetter marschierten und Um wege gegangen waren. Besorgt fragte er sich, ob er zum verabredeten Zeitpunkt eintreffen und die Leonor erreichen würde. Prinzessin Nimi durfte nur bis zum Urwald der Mbata mitgehen. Sie hätte die Gruppe gerne weiter begleitet – für sie war das alles nichts weiter als ein großer Spass –, und tobte fürchterlich, als Mbemba ihr befahl umzukehren. Sie erreichten den Dschungel am späten Nach mittag bei leichtem, aber beständigem Regen. Die beiden Krieger wa ren auf der Jagd im Wald unterwegs. Die andere Nimi hatte ein klei nes Feuer in Gang gebracht – trotz der nicht endenden Nässe gelang 217
ihr das mit großem Geschick bei jeder Lagerstelle – und baute für die Nacht einen Unterschlupf aus Blättern und Zweigen. Gil saß auf einem Felsen am Feuer und untersuchte seine Füße. Sie sahen ziemlich mit genommen aus; einige der Schnittwunden hatten sich entzündet. Er wusch sie in einer Wasserpfütze und versuchte, den Eiter auszuspülen. Als die ältere Nimi das bemerkte, kam sie herüber, kniete vor ihm nie der und nahm wortlos seine Füße in ihre Hände. Zuerst rieb sie Hal me des gelben Grases über die schlimmsten Wundstellen, so dass sie wie Feuer brannten, und dann bestrich sie die Sohlen mit kühlendem Schlamm. »Aber ich werde ihn nie wiedersehen.« Gil blickte auf. »Das stimmt doch!« Die junge Nimi ließ nicht locker. Mbemba zuckte mit den Achseln. Er war ebenfalls dabei, einen Un terschlupf für die Nacht zu bauen. »Er wird doch nie von seinem Land im Himmel zu uns zurückkom men, oder?« beharrte das Mädchen. Ihr war nicht ganz klar, woher Gil tatsächlich kam, ob nun vom Himmel oder vom anderen Ufer des Meeres. Beides war so weit entfernt, dass es für sie das gleiche bedeute te. »Oder wirst du jemals wiederkommen, Gil Janesch?« Mbemba unterbrach seine Arbeit und blickte Gil an. Offenbar war er ebenso gespannt wie seine Schwester, was Gil auf diese Frage erwi dern würde. Gil zögerte, bevor er leise sagte: »Nein, Nimi, das glaube ich nicht.« »Siehst du, Mbemba, ich habe es doch gewusst. Ich werde ihn nie wiedersehen. Deswegen mußt du mich bleiben lassen, zumindest diese eine Nacht. Morgen früh gehe ich dann nach Hause.« »Nein. Du gehst nach Hause, sobald die Krieger von der Jagd zu rückkommen. Sie bringen dich heim.« »Nein, ich bleibe hier. Du kannst mich nicht zwingen zu gehen. Ich bin die NtinuKongo!« »Möchtest du sehen, wie ich dich zum Gehen zwingen kann, NtinuKongo?« sagte Mbemba und erhob sich abrupt. Ebenso plötzlich lief Nimi zu Gil und schlang ihren Arm um seinen 218
Hals. »Er ist mein Freund, und ich werde ihn nie wiedersehen«, rief sie. »Lass mich noch diese eine Nacht bei ihm bleiben!« »Lass sie doch bleiben, Mbemba«, warf Gil ein. »Es ist schon spät. Sie würde sowieso nicht mehr weit kommen, es wird bald dunkel.« »In dieser Angelegenheit hast du nichts zu sagen, Gil Janesch«, fuhr Mbemba wütend auf. »Du kehrst in dein Land am anderen Ufer des Meeres zurück und wirst nie mehr in unser Land kommen. Also hast du kein Recht, über Dinge zu sprechen, die nur uns in diesem Land an gehen.« »Es tut mir leid, Mbemba«, sagte Gil, bestürzt über den plötzlichen Zorn des jungen Kongo. Womit hatte er ihn heraufbeschworen? »Ich weiß, es geht mich nichts an.« »Ja, es geht dich nichts an. Was in diesem Land passiert, geht dich nichts mehr an, jetzt, da du in dein eigenes Land zurückkehrst.« »Ich werde dieses Land nie vergessen, Mbemba.« »Ja, du wirst dieses Land nie vergessen.« Mbembas Stimme klang jetzt ruhiger, aber er schien nicht besänftigt. »Mach dich fertig, Nimi. Die Krieger kommen zurück. Einer von ihnen wird dich nach Hause bringen.« Sobald Nimi die beiden Krieger aus dem Urwald auftauchen sah – sie hatten einen kleinen Buschbock erlegt, den sie auf einer Stange zwischen ihren Schultern hängend trugen –, schrie sie: »Nein, ich gehe nicht. Ich gehe nicht!« Und damit warf sie auch den anderen Arm um Gils Hals, so dass er beinahe von dem Felsen gefallen wäre, auf dem er saß. Die ältere Nimi ließ Gils Füße los und trat schüchtern zurück. »Nimi, bitte«, sagte Gil und versuchte, sich aus dem Griff des Mäd chens zu befreien. Dabei warf er Mbemba über ihre Schulter einen ängstlichen Blick zu. »Du mußt deinem Bruder gehorchen.« »Nein, ich bleibe bei dir. Du bist mein Freund. Bist du nicht mein Freund?« »Doch, Nimi, ich bin dein Freund, aber –« »Dann bleibe ich bei dir.« Sie klammerte sich noch fester an ihn, und nun verlor er tatsächlich den Halt und landete auf dem Boden, und da sie sich an ihm festhielt, fiel sie auf ihn. 219
»Hör mit diesem Unsinn auf«, rief Mbemba und kam drohend nä her. Dabei musste er allerdings ein Lächeln über die komische Szene unterdrücken. »Hör auf mit deinen Dummheiten, du kleine Närrin.« Dann packte er Nimi unter den Achseln, zerrte sie von Gil fort und setzte sie wie einen Sack auf dem Boden ab. Sie lief davon. Mbemba rannte ihr sofort nach, und mit drei großen Schritten hatte er sie eingeholt und packte sie, so dass sie beide zu Bo den stürzten und in dem hohen, nassen, gelben Gras herumrollten. Gil sprang auf die Füße, aber dann wurde ihm klar, dass die beiden die ses Spiel schon Hunderte von Malen gemacht haben mussten. Sie roll ten nur immer weiter im Gras herum, Bruder und Schwester, die sich ineinander verklammerten, miteinander rauften, bis sie schließlich la chend, über und über mit Schlamm bedeckt, wieder aufstanden. »Du bist ein schreckliches Mädchen, Nimi, ein ganz schreckliches Mädchen.« »Ich darf bleiben. Das darf ich doch, Mbemba? Darf ich?« Mbemba ging zum Feuer zurück und wischte sich den Schmutz von den Armen und der Tunika. »Aber nur diese eine Nacht. Morgen gehst du nach Hause.« »Ja, morgen gehe ich nach Hause. Aber heute Nacht bleibe ich hier.« Mbemba nahm den Buschbock aus, den sie halbroh essen mussten, weil das Feuer mit dem nassen Holz schlecht brannte. Dazu gab es Hülsenfrüchte und wilde Knollen, die die ältere Nimi gesammelt hat te; auch sie waren nur halb gar. Gil stocherte in dem Essen herum; das blutige Fleisch und die bitteren, ungegarten Gemüse verursachten ihm Magenschmerzen. Das war ein weiterer Grund, warum er immer das Gefühl hatte, hungrig zu sein. Aber den anderen machte es offenbar nichts aus. Sogar die kleine Nimi aß mit herzhaftem Appetit, plauder te fröhlich und zog ihren Bruder auf, weil sie ihren Kopf durchgesetzt hatte. Und als er ihr sagte, sie müsse schlafen gehen, wehrte sie sich wieder mit Händen und Füßen. Gil ließ die beiden Streithähne allein und verkroch sich in den Un terschlupf, den die ältere Nimi für ihn gebaut hatte. Dort begutach tete er noch einmal seine Füße. Nach einer Welle beendeten Mbem 220
ba und seine Schwester ihren Zank und suchten ihr jeweiliges Lager auf. Danach hörte Gil nur noch den Regen auf das Blätterdach seiner Unterkunft tropfen, das Donnergrollen in der Ferne und die Rufe der Baumfrösche. Er zog sein Lendentuch und die Ledertunika aus – bei de waren durchnässt –, legte sich auf das Bett aus Blättern und Zwei gen, das die Frau für ihn bereitet hatte, und deckte sich mit einer trok kenen Kanga zu, die sie aus ihrem Korb geholt hatte. Er wünschte sich, dass sie sich zu ihm legen würde, aber er erwartete sie nicht. Bislang war sie während des ganzen Marsches nie nachts zu ihm gekommen. Offenbar hatte Mbemba sie nicht für solche Dienste auf die Reise mit genommen. Mbemba war wütend, weil Gil die Kongo verließ, oder vielmehr, weil er wegging und nie mehr wiederkommen würde. Aber er musste doch immer gewusst haben, dass das passieren würde – selbst wenn man ihn im Königreich freundlich aufgenommen hätte. Und jetzt, da sich alle gegen ihn gestellt hatten und er als ein Überbringer des Bösen ge brandmarkt war, konnte Mbemba doch nicht erwarten, dass er jemals zurückkehren würde? Und zu welchem Zweck? Um ihn zu lehren, das Brevier zu lesen und dessen Zauber heraufzubeschwören, damit er an stelle von Mpanzu den Thron besteigen würde? Das war doch Un sinn. Gil konnte das Brevier selbst kaum lesen, und außerdem wusste er überhaupt nicht, ob Gebete für einen solchen Zweck taugten. Und selbst wenn dies der Fall wäre, wollte er mit einem derart gefährlichen Unterfangen nichts zu tun haben. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er diesen Ort lebend verlassen hatte. Ach, Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, lass nicht zu, dass ich die Leonor verpasse. »Wer ist da?« »Psst.« Er richtete sich auf einem Ellbogen auf. »Nimi?« »Ja.« Aber es war nicht die Dienerin Nimi. Es war die Prinzessin Nimi. »O mein Gott, was machst du hier? Nein, nein, komm nicht herein. Du darfst nicht reinkommen. Geh weg!« »Psst. Du weckst Mbemba auf.« 221
»Mein Gott, Nimi, er bringt uns um. Er bringt uns beide um.« Sie kroch auf allen vieren herein und legte ihm eine Hand auf den Mund. »Wenn du still bist, erfährt er nichts davon. Nimi passt auf.« »Bist du verrückt?« sagte er und schob ihre Finger von seinen Lippen. »Wenn du nicht weggehst, rufe ich nach ihm. Ich meine es ernst, Nimi. Gleich rufe ich nach ihm.« »Wenn du das tust, bringt er uns um. Dann bringt er uns beide um.« »Das habe ich doch gesagt.« »Also darfst du ihn nicht rufen.« Kichernd schmiegte sie sich in ih rer Kanga an seinen nackten Körper. »Nimi, hör auf damit. Tu das nicht. Was willst du denn? Warum bist du gekommen?« »Damit du mir ein Kind machst.« »Was?« »Psst. Psst. Du darfst Mbemba nicht aufwecken.« »Nein, Nimi.« Er umfasste ihre Handgelenke und versuchte, sie weg zuschieben, aber sie war schlüpfrig wie ein Aal. Sie hatte ihre Kanga geöffnet, legte eine seiner Hände auf ihre knospenden Brüste und die andere zwischen ihre Schenkel. »Das können wir nicht tun, Nimi. Das dürfen wir nicht. Es ist Wahnsinn. Ich gehe fort. Ich komme nie mehr wieder!« »Ich weiß. Und genau deshalb müssen wir es tun. Meine Mutter hat mir gesagt, wir müssen es tun, bevor du weggehst.« »Deine Mutter? Die Mbanda Lwa?« »Sie hat mir gesagt, ich muß mir von dir ein Kind machen lassen, da mit wir in unserem Land ein Leben von deinem Land im Himmel ha ben, auch wenn du weggegangen bist.« »Das hat sie dir gesagt?« »Ja. Sie hat gesagt, du würdest ein Leben in mir zurücklassen, das den Zauber von deinem Land im Himmel hat.« »Hat sie das Mbemba auch gesagt?« »Nein. Das wird sie später tun, wenn du weg bist und das Kind, das du in mir zurückläßt, wächst.« 222
»Dann wird er dich umbringen, Nimi. Dann bringt er dich und das Kind um.« »Nein, er wird niemanden umbringen. Auch er wird das Kind haben wollen, das du in mir zurückläßt. Auch er wird den Zauber des Kindes von deinem Land im Himmel haben wollen.« »Nein, das ist verrückt. Die Mbanda Lwa ist verrückt. Und du bist noch ein kleines Mädchen.« »Aber ich weiß, wie es geht. Die Mbanda Lwa hat mir erzählt, was ich tun muß und was du tun wirst. Wir dürfen nur Mbemba nicht wek ken.« Sie schälte sich aus ihrer Kanga und legte einen Arm über seine Brust. »Leg dich auf mich, Gil Janesch. Ich habe keine Angst. Ich will, dass du dieses Zauberkind in mir machst. Wird es auch weiß sein?«
Sie stiegen durch den Urwald der Mbata hinab – Gil und Mbemba, die ältere Nimi und ein Krieger –, aber sehr weit im Westen, so dass sie schließlich westlich von Mpinda aus dem Dunkel des Dschungels herauskamen. Sie befanden sich auf der felsigen südlichen Landspit ze der riesigen, buchtförmigen Mündung des Zaire und konnten das Meer deutlich erkennen. Und das erste, was Gil sah, waren die gebläh ten weißen Segel der Leonor. Er stieß einen Schrei der Erleichterung und der Freude aus. Er war nicht zu spät gekommen; er würde abge holt werden und nach Hause fahren. »So sehr freust du dich, uns zu verlassen, Gil Janesch?« fragte Mbemba. »Ich freue mich, meine Familie und meine Freunde wiederzusehen, Mbemba.« »Ja, das kann ich verstehen. Meine Familie und meine Freunde ha ben dich schlecht behandelt. Das tut mir leid. Wenn man dich gut be handelt hätte, wärst du vielleicht länger bei uns geblieben, und dann wären noch andere weiße Männer zu uns gekommen und bei uns ge blieben.« »Ist das dein Wunsch, Mbemba? Soll ich meinem König sagen, dass du das wünschst?« 223
»Ja, Gil Janesch, sag deinem König, dass ich wünsche, weiße Männer würden von ihrem Land am anderen Ufer des Meeres in unser Land kommen und einige Zeit bei uns bleiben, damit wir die Schrift und die anderen wunderbaren Zauber ihres Landes erlernen können.« »Aber das ist nicht der Wunsch von Mpanzu, und auch nicht der der Mbanda Vunda, des NgangaKongo oder des ManiKongo.« »Nein, deren Wunsch ist es nicht.« »Und das muß ich meinem König ebenfalls sagen.« »Ja, das mußt du deinem König ebenfalls sagen.« Der junge KongoPrinz blickte beiseite. »Mchento, gib mir das.« Die ältere Nimi brachte ihm den Korb. Während Mbemba darin her umkramte, blickte Gil noch einmal über das Meer hinaus. Wegen der großen Entfernung und des Regens konnte er nicht erkennen, wieviel Fahrt die Leonor machte. Mit gerefften Segeln schlingerte und stampf te sie durch die peitschenden Wogen und schien nur mit Mühe gegen den Wind anzukommen. »Hier, Gil Janesch.« Gil sah zu Mbemba. »Die Schrift.« Mbemba hatte das Brevier aus dem Korb gezogen und hielt es Gil hin. »Du hast es noch? Sie haben es dir nicht weggenommen und ver brannt?« »Nein, ich habe es gerettet, damit ich es dir zurückgeben kann.« »Aber es gehört dir, Mbemba. Pater Sebastião wollte, dass du es hast.« »Darf ich es behalten?« »Ja, natürlich.« »Ntondesi. Dann behalte ich es, und irgendwie werde ich lernen, es zu sprechen, so wie du es mir zeigen wolltest.« Gil blickte wieder zur Leonor. Es hatte gar nicht den Anschein, als würde sie sich der Einfahrt zur Mündung des Zaire nähern, ja es schien sogar, als sei sie mittlerwelle weiter entfernt. Der Wind und das Wet ter mussten ihr arg zu schaffen machen. Möglicherweise würde sie erst einlaufen können, wenn der Sturm nachließ. 224
Sie kletterten die felsige Landspitze hinab, bahnten sich einen Weg durch die Palmen, Mangroven und riesigen Farne, die am Ufer des Za ire wucherten, und mieden dabei die Wege und Pfade, die nach Mpinda und zu den anderen Soyo-Dörfern am Fluss führten. Es war ein müh seliger Abstieg; sie mussten auf allen vieren über Felsbrocken klettern, rutschten auf Schlamm und Moos aus und mussten sich an Büschen, Zweigen und Ranken festklammern. Mbemba und der Krieger schlu gen mit ihren Lanzen einen Pfad durch das Unterholz. So brauchten sie mehr als eine Stunde, bis sie schließlich den schmalen, felsübersä ten Strand des südlichen Flussufers erreicht hatten, wo das Wasser des Meeres und des Flusses aufeinandertrafen und die Brandung der See den gelbbraunen Schlamm aufwühlte, den der mächtige Zaire mit sich führte. Mittlerweile regnete es wieder heftiger. Blitze zuckten wie zar te Spinngewebe über den zinnfarbenen Himmel; in der Ferne krach te der Donner. Der Seegang war hoch, und von den windgepeitschten Wellen wirbelten Gischtwolken auf. Gil verließ den Schutz der Bäu me und watete in den Fluss. Um die Leonor richtig in den Blick zu be kommen, musste er bis zu den Schenkeln ins Wasser hinaus und sich mit aller Kraft gegen die Wellen stemmen. Die Leonor hatte den Kurs geändert. Gil wünschte, er hätte ein Fernrohr. Jetzt schien es, als wür de sie in nördlicher Richtung segeln und sich von der Einfahrt entfer nen. Mit einem Fernrohr hätte er vielleicht erkennen können, wie ihre Schoten getrimmt waren; dann hätte er sich ungefähr ausrechnen kön nen, wann sie wieder den Kurs wechseln würde. Er watete zum Ufer zurück. »Soll ich hier auf sie warten, Mbemba?« »Ja. Es wäre nicht gut, wenn du nach Mpinda gehst.« »Aber dort wollten sie mich abholen.« »Ich werde nach Mpinda gehen und mit dem ManiSoyo reden, damit sie wissen, wo sie dich finden können.« »Und für dich ist es nicht gefährlich, nach Mpinda zu gehen?« »Nein. Meine Mutter stammt aus dem Haus des ManiSoyo. Sie ist nicht nur eine Kongo-Königin, sondern auch eine Soyo-Prinzessin. 225
Deswegen wird der ManiSoyo tun, was ich ihm sage, und niemand wird davon wissen, bis du fort bist.« »Und dann? Wirst du dann nicht Schwierigkeiten bekommen?« Mbemba fasste Gil an der Schulter. »Du machst dir Sorgen um mich, Gil Janesch, und dafür danke ich dir«, sagte er. »Aber du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich bin der Liebling meines Vaters. Solange er lebt, wird mir nichts passieren.« »Dann möge deinem Vater ein sehr langes Leben beschieden sein.« Gil blickte Mbemba nach, wie er im Urwald verschwand und am Sü dufer des Zaire ostwärts nach Mpinda ging. Der Krieger folgte ihm mit einem Schritt Abstand; es wäre unschicklich gewesen, wenn ein Kongo-Prinz ohne wenigstens einen Leibwächter in einem Dorf er schienen wäre. Die ältere Nimi machte sich ohne Umschweife daran, einen Unter schlupf zu bauen. Dabei war sie flink und zeigte große Fingerfertigkeit; ohne jedes Werkzeug riß sie frische Pflanzentriebe aus, zwirbelte Ran ken und Zweige zusammen und wob Palmwedel dazwischen. Sie be saß großes Geschick für all diese Tätigkeiten, ob sie nun im Regen ein Feuer entzündete, Mahlzeiten aus den Schätzen des Waldes zuberei tete, Wunden versorgte oder Liebe machte. Hatte sie das alles gelernt, um am Königshof zu dienen oder um für einen Bauern oder Hirten, Schmied oder Krieger aus dem einfachen Volk in der Königsstadt eine gute Ehefrau abzugeben? Wie wenig er von ihr wusste! Woher kam sie? Hatte sie Familie und Freunde? Möglicherweise kannte er nicht ein mal ihren richtigen Namen. Aber eines wusste er: Sie hatte mit Sicher heit nie erwartet, ihm, einem weißen Prinzen vom Himmel, zu dienen. Welche Laune des Schicksals hatte ihr diese Rolle zugewiesen? Warum war ausgerechnet sie in jener ersten Nacht in Mbanza Kongo zu ihm geschickt worden? Doch gleichgültig, welchem Zufall sie diese Aufga be verdankte, es gefiel ihr nicht, das war offensichtlich. Sie tat, was ihr befohlen wurde, und erfüllte ihre Pflichten zuverlässig, aber sie warte te nur auf den Tag, an dem er fort war und sie wieder so leben konn te wie in der Zeit vor seinem unvermittelten Auftauchen – es musste wirklich so scheinen, als wäre er vom Himmel gefallen! Als der Unter 226
stand fertig war, zog sie ihren Korb unter das Dach und machte sich daran zu schaffen. Gil watete wieder in den Fluss hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, der Regen hatte nachgelassen, und die Flut kam herein, aber die Leonor hatte ihren Kurs nicht geändert. Sie segelte immer noch nach Norden. Das konnte er nicht verstehen. Wo hin fuhr sie? Wenn sie diesen Kurs beibehielt, würde er sie in einer Stunde nicht mehr sehen können; dann würde sie hinter den roten Lehmklippen verschwunden sein, die die Küste im Norden der Landspitze, auf der anderen Seite des Mündungstrichters, säumten. Er watete weiter Flussabwärts zu der Stelle, wo der Zaire sich ins Meer ergoß. Aber das war keine gute Idee. Die langen, gischtgekrönten Brecher, die auf den Strand zubrandeten, waren zu stark; dort konn te man allzuleicht den Halt verlieren, in die Tiefe gezogen werden und ertrinken. Gil kehrte schnell zum Ufer zurück und kletterte dann über die spitzen schwarzen Felsen den schmalen Strand entlang zum äu ßersten Punkt der südlichen Landspitze. Hier war er der ganzen Ge walt des stürmischen Wetters ausgesetzt, unter ihm krachte die her einkommende Flut auf die hinausfließende Flussströmung, doch zu mindest konnte er von hier aus die Leonor noch etwas länger im Auge behalten. Es sah aus, als segele sie jetzt nur noch unter der Fock; so gar das Besansegel war offenbar zusammengerollt. Was sollte das be deuten? Ohne das Besansegel war es unmöglich zu lavieren und den Kurs zu wechseln. Aber sie musste den Kurs wechseln. Es konnte nicht sein, dass sie immer weiter nach Norden segelte. Der Regen schlug ihm wie Peitschenhiebe ins Gesicht, der Wind pfiff ihm um die Ohren. Die gelbe Brandung brach sich krachend an den Felsen unter ihm, Blitze zuckten über den Himmel, der Donner grollte. Komm, dreh jetzt bei, flehte er, dreh bei. Bitte, lieber Jesus, mach, dass sie jetzt beidreht. »Gil Janesch! Gil Janesch!« Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die ältere Nimi über die rutschigen Felsen zu ihm heraufstieg. Wie lange hatte sie wohl schon nach ihm gerufen? Sogar jetzt ging ihre Stimme im Wind bei nahe unter. Sie deutete stromaufwärts, und er sah in die angezeigte Richtung. Ein Einbaum kam den Fluss heruntergepaddelt. Gil kletter 227
te von seinem felsigen Aussichtspunkt hinab und folgte der Frau zu rück zu dem Unterstand, den sie zwischen den Bäumen errichtet hat te. Er dachte, sie habe ihn nur auf das Kanu aufmerksam machen wol len und bringe ihn nun an einen Ort, wo er sich verstecken könne. Doch sobald sie die behelfsmäßige Hütte erreicht hatten, kroch sie hin ein und machte sich wieder an ihrem Korb zu schaffen. Er beobachte te den Einbaum, der mit der Strömung schnell auf ihn zukam. Im Bug stand Mbemba, hinter ihm sein Krieger. Im Heck saß der Mann, der paddelte, ein Soyo aus Mpinda. Gil blickte zur Leonor. Sie war gerade auf die Höhe der Klippen ganz im Norden der Küste gelangt. »Deine Soldaten, Gil Janesch.« Gil sah zu den Ankömmlingen. Mbemba war aus dem Kanu ge sprungen und watete an Land. »Die zwei Soldaten, die dich begleitet haben, aber dann weggelaufen sind, bevor wir Mbanza Kongo erreichten …« »Ja, die Hellebardiere Gomes und Dias.« »Sie sagten, du seist getötet worden.« »Was?« »Sie sagten, Pader Sebastam sei getötet worden, und auch dein Sklave Segou. Und sie sagten, dass du auch getötet worden seist.« »Wem haben sie das erzählt? Dir? Sind sie in Mpinda? Ich hätte nicht gedacht, dass sie es schaffen würden, durch den Dschungel hierher zu rückzufinden.« »Sie haben es geschafft, ihren Weg durch den Dschungel zurückzu finden, aber sie sind nicht in Mpinda.« »Wo sind sie dann?« »Sie sind fort, Gil Janesch. Sie sind fortgegangen zu ihrem Land am anderen Ufer des Meeres.« »Ich verstehe dich nicht, Mbemba. Wie sind sie zu ihrem Land am anderen Ufer des Meeres gegangen?« »Mit dem großen geflügelten bwato. Es ist hiergewesen. Und jetzt ist es schon wieder fort.« Gil wirbelte herum und sah aufs Meer hinaus. Soeben verschwand die Leonor hinter den Klippen ganz weit im Norden der Küste. 228
»Nein, Mbemba, das kann nicht sein. Etwas stimmt nicht. Du sagst, sie hätten dir erzählt, dass ich getötet worden sei. Du sagst, sie hätten dir erzählt, dass Pater Sebastião und Segou getötet worden seien. Wie können sie dir das erzählt haben, wenn sie nicht mehr hier sind?« »Nein, Gil Janesch, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Sie haben es nicht mir erzählt.« »Wem denn dann?« »Djogo Cam.« »Diogo Cão?« »Djogo Cam war schon hier. Das große geflügelte bwato war schon hier. Djogo Cam kam in dem großen geflügelten bwato nach Mpinda, und dort haben deine Soldaten ihm erzählt, dass du tot bist und Pader Sebastam und dein Sklave Segou auch tot sind. Also hat er sie auf das bwato genommen, und sie sind fortgefahren, zurück zu ihrem Land am anderen Ufer des Meeres.« »Nein, Mbemba, das kann nicht sein.« »Es tut mir leid, Gil Janesch.« Wieder wandte Gil sich um und ließ seinen Blick über das Meer schweifen. Die Leonor war außer Sichtweite. Sie war hinter den Klip pen verschwunden und segelte nach Norden, nach Portugal. Sie hatte ihn hier zurückgelassen, in diesem Königreich der Wilden in Afrika. Mbemba legte ihm einen Arm um die Schultern. Doch Gil schob ihn fort. Er war noch keine sechzehn Jahre alt. Er brach in Tränen aus.
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KAPITEL 1
H
ier ergießt sich der Fluss ins Meer. Wie ruhig es war, das Meer, eine azurblaue Scheibe zart gesprenkelten Glases, deren Färbung bis ins tiefste Blau reichte, und der Fluss zog unter dem rosig schim mernden, blassblauen Morgenhimmel seine breite, schlammige Spur durch die gekräuselte Oberfläche. Weiße Möwen mit langen Schwanz federn und Flügeln mit schwarzen Spitzen jagten kreischend über das Wasser hinweg; Nashornvögel und Papageien mit gelben Schnäbeln und farbenprächtigem Federkleid zeterten im smaragdgrünen Dik kicht der Palmen und Mangroven am Ufer. Er saß reglos in seinem Se gelkanu, ließ es treiben und horchte auf die Geräusche; vor Müdigkeit sank ihm der Kopf auf die Brust. Der Bug seiner seltsamen Schaluppe stieß im sanften Auf und Ab der Flut gegen die schwarzen Felsen am Ufer. In Kürze würde die Sonne über der felsigen Landspitze erschei nen, an dieser Stelle, wo der Fluss sich ins Meer ergießt. Er war wieder am Kap St. Catherine gewesen, zwei Längengrade süd lich des Äquators – eine Reise von über hundert Leguas. Möglicherwei se war es seine hundertste Fahrt zum Kap St. Catherine gewesen, und zum hundertstenmal war es ihm nicht gelungen, weiter nach Norden vorzudringen. Das Problem bestand darin, weit genug aufs offene Meer hinauszusegeln, so dass kein Land mehr in Sicht war und er nicht den hinderlichen Strömungen und Winden an der Küste ausgesetzt war; dort draußen musste er dann die günstigen Westwinde bekommen, 230
die ihn nach São Jorge da Mina treiben würden. In dieser Siedlung würde er Portugiesen antreffen und Schiffe, die ihn nach Hause brin gen konnten. Aber er hatte weder ein geeignetes Boot noch eine Mann schaft, weder die Instrumente noch die Karten, um eine derart gefähr liche Seereise zu unternehmen, und vielleicht fehlte ihm auch der Mut. Deswegen hatten ihn die Winde und Strömungen jedesmal wieder zu rückgetrieben, vielleicht hundertmal in all den Jahren. Aber vielleicht würde es beim nächstenmal anders sein. Vielleicht würde ihn beim nächstenmal der Mut nicht verlassen. Es war der Plan eines Wahnsin nigen, das war ihm bewusst – und vielleicht war er durch dieses lan ge, sinnlose Leben als Schiffbrüchiger tatsächlich wahnsinnig gewor den –, aber es war ein lebensnotwendiger Wahnsinn. Die unablässige, besessene Hoffnung, eines Tages tatsächlich fortzusegeln, und all die Arbeit, die dieser Plan mit sich brachte – immer noch bessere, manö vrierfähigere Segelboote zu entwerfen und zu bauen, zu jeder Jahres zeit wieder die Sterne auf einer Karte zu verzeichnen und die Gezeiten und Winde zu beobachten –, das war das einzige, was seiner jämmer lichen Existenz noch Sinn gab und ihn am Leben erhielt. Die Sonne war aufgegangen, und als er landwärts in ihr orangeglü hendes Licht blinzelte, sah er ein paar Kinder oben auf der Landspit ze stehen, die zu ihm hinunterstarrten. Es waren Soyo-Kinder, vorwie gend Jungen; vermutlich kamen sie aus Mpinda. Er stand auf, und sie liefen weg. Sie hatten Angst vor ihm und waren gleichzeitig fasziniert von seiner abweisenden Andersartigkeit. Er war sehr groß und kräf tig geworden. Seine lange, lohfarbene Haarmähne war von sonnenge bleichten Strähnen durchzogen, sein Bart war nur einen Ton dunk ler, und seine Augen leuchteten so blau wie das Meer. Die nackte Brust trug die Krallenspuren einer Zibetkatze, seine breiten Schultern hatten bei der Jagd zweimal Brüche davongetragen, auf den kräftigen Armen traten die Adern stark hervor, und die Blutsteinkette, die er schon oft neu aufgezogen hatte, lag ihm eng um den Hals. Mit den losen, knie kurzen Beinkleidern aus gegerbter Haut, zusammengehalten von Le derriemen, von denen ein Messer mit elfenbeinernem Griff herabhing, sah er aus wie eine Gestalt aus der Geschichte eines Zauberers, eine 231
mythische Figur, der böse weiße Prinz, der vom Himmel herabgefal len war und beständig versuchte, wieder nach Hause zurückzufliegen. Einer der wagemutigeren Soyo-Jungen schlich sich wieder näher heran und warf einen Stein nach ihm. Das Geschoß verfehlte sein Ziel, prall te von einem Felsen ab und landete im Wasser. Gil drehte sich um und sah wieder hinaus in die Ferne zum Horizont, wo der hellblaue Him mel und das tiefblaue Meer aufeinandertrafen. Jahrelang hatte er den Horizont abgesucht, immer wieder, in der fe sten Überzeugung, dass dort eines Tages die prallen Segel einer Kara velle auftauchen würden, die auf die Mündung des Zaire zuhielt. Na türlich nicht, um ihn abzuholen – er galt als tot, und überdies war er nicht von Bedeutung –, sondern um die Erkundung dieses mächtigen Flusses, den die Leonor entdeckt hatte, fortzuführen und mit dem Kö nigreich an seinen Ufern Handel zu treiben. Aber kein Schiff hatte sich je gezeigt. Vielleicht hatte die Leonor Lissabon nie erreicht, um vom Zaire und dem Königreich der Kongo zu berichten, sondern war auf dem Heimweg untergegangen. Möglich war auch, dass sie die Seerou te um die Südspitze Afrikas entdeckt hatte und die Schiffe, die in Por tugal Segel setzten, inzwischen auf direktem Weg zu den reichen Han delsstädten Indiens fuhren. Was auch immer der Fall sein mochte – mittlerweile war es gleichgültig. Schon vor langer Zeit hatte er sich mit dem Gedanken abgefunden, dass er nur eine Möglichkeit hatte, jemals wieder nach Hause zu kommen: Er musste wagemutig Kurs auf die Mitte des Ozeans halten, jenseits des fernen Horizonts, ohne Land in Sicht, und sich von den Westwinden nach Hause tragen lassen. Er rollte das Segel zusammen, wickelte das stehende Gut auf, hob den Masten aus der Mastspur in der Mitte des Boots und legte alles auf den Boden des Kanus. Dann nahm er das Steuerruder und die Pin ne im Heck ab und legte sie neben den Masten, das Seil und das Segel. Schließlich griff er nach dem Paddel, stieß sich von den Felsen ab und fuhr in den Fluss ein. Gil lebte auf einer der größeren Inseln im Mündungstrichter des großen Stromes. Sie war dicht bewaldet und, abgesehen von kleinem Wild, Affen, Wildkatzen, Vögeln und grauen Fledermäusen, Schlan 232
gen, Krokodilen und Schwärmen von Schmetterlingen, unbewohnt. Von ihrer östlichen Spitze Flussaufwärts blickend, konnte man das Soyo-Dorf Mpinda am Südufer des Zaire sehen; von der westlichsten Stelle aus hatte man einen freien Blick auf das offene Meer. Dort hatte er sein Haus errichtet, und dorthin paddelte er nun. Sein Zuhause lag in einer Lichtung, die er selbst in der Nähe einer Wasserquelle gerodet hatte. Es bestand aus einem größeren Haus, das mehr oder minder im europäischen Stil gebaut war; allerdings hat te er das Dach mit Palmwedeln gedeckt und die Mauern mit kalkhal tigem Schlamm verputzt. Daneben gab es vier kleinere Gebäude: ein Lagerhaus, ein Kochhaus, einen Getreidespeicher und einen Arbeits schuppen. Hinter dem großen Haus befanden sich eine Einfriedung für Schweine und Ziegen, ein Hühnerstall und ein Garten, in dem er Yamswurzeln, Pisang, Zwiebeln, Taro und Blattgemüse anbaute. Am sumpfigen Ufer vor dem Hauptgebäude hatte er einen kleinen Anlege platz errichtet, wo ein Einbaum und ein weiteres Segelboot lagen. Die ses Gefährt, das er mit einem doppelten Rumpf, einem Rahsegel als Großsegel und einem Lateinersegel ausgestattet hatte, war eines seiner ehrgeizigeren Projekte gewesen, aber es hatte sich als unmöglich er wiesen, bei stürmischer See allein damit zu segeln. Er schob das Boot, in dem er saß, zwischen die beiden anderen und sprang an Land. Die ses Mal war er beinahe einen Monat fort gewesen, und er wusste nicht, was er zu Hause vorfinden würde. Er wusste nie, was ihn erwartete, wenn er von seinen Reisen zurückkehrte. »Mchento.« Er betrat die vordere Veranda seines Hauses und schaute hinein. »Mchento.« Dann ging er um das Haus herum. Im Hof hielt er einen Eber und zwei trächtige Säue, einen Ziegen bock und eine Geiß mit einem jungen Zicklein. Sie schienen gut ver sorgt; im Trog lag reichlich Futter. Auch der Gemüsegarten war vor kurzem geharkt worden; zwischen den Furchen pickten eifrig Hen nen mit ihren Küken herum. Sie musste irgendwo hier sein. Gil lehn te sich erschöpft an den Zaun und hielt den Schweinen und Ziegen sei ne Hände hin, damit sie das auf seiner Haut getrocknete Meersalz ab lecken konnten. 233
Er war am Kap Ste. Catherine an Land gegangen mit dem sicheren Gefühl, dass sein Mut ihn diesmal nicht im Stich lassen würde. Drei Tage hatte er dort verbracht, hatte die Takelage repariert, immer wie der das Segel gesetzt, gejagt und Beeren und Wurzeln gesammelt und frisches Wasser an Bord genommen. Aber kaum hatte er das offene Meer erreicht, als eine Sturmbö ihn erfasst und sein Boot zum Ken tern gebracht hatte. Praktisch all seine Ausrüstung und Vorräte waren dabei abhanden gekommen, und beinahe hätte er auch noch das Boot verloren und wäre ertrunken. Wie immer war der Rumpf das Problem gewesen. Im Verlauf der Jahre hatte er die verschiedensten Segel, Ma sten und Takelagen ausprobiert, und im Grunde hätten sie alle ihren Zweck erfüllt. Aber ein Einbaum mit unten gerundetem Rumpf ken terte im offenen Meer einfach zu leicht; selbst zwei zusammengebun dene Kanus lösten das Problem nicht. Sosehr er sich auch bemüht hat te, es war ihm nie gelungen, einen Kiel für einen flacheren, breiteren Rumpf zu legen, der nicht sofort voll Wasser stand. Deswegen hatte er immer wieder zur Form des Einbaums zurückkehren müssen. Ande rerseits wusste er, wenn er jemals mit einem solchen Boot fortkom men wollte, musste er mindestens einen zweiten Mann an Bord haben, um das Krängen des Boots auszugleichen. Nur einen einzigen. Er war überzeugt, dass er es schaffen würde, wenn er nur einen einzigen Men schen fand, der mit ihm fahren würde. Aber in diesem wilden Land gab es niemanden, der willens war, mit ihm fortzufahren. »Du bist also wieder zurückgekommen.« Er drehte sich um. Sie war alt. Jedesmal wenn er sie nach einer längeren Abwesenheit wiedersah, erschreckte es ihn erneut, wie rasch sie gealtert war, wie schnell ihr Körper verfallen war. Sie trug ihre Kanga wie ein Mann um die Hüften gewickelt, so dass er die unschönen, leeren Säcke sehen konnte, zu denen ihre einst vollen Brüste geschrumpft waren; dazu verzog sie grinsend den Mund, um ihm ihre vielen Zahnlücken zu zei gen. Es war seine Schuld – nur seinetwegen war sie von ihrem Volk in Mbanza Kongo vertrieben und zur Ausgestoßenen auf dieser Insel ge worden –, aber er empfand kein Mitleid mit ihr. Er schlief auch nicht 234
mehr mit ihr. Sie war ihm ebenso verhasst wie er ihr. Sie war unfrucht bar, und das war auch der Grund, warum sie ihm vor all diesen Jah ren überhaupt gegeben worden war. Obwohl es unsinnig war, machte er ihr ihre Kinderlosigkeit zum Vorwurf. Hätte sie ihm auch nur ein einziges Kind geschenkt, einen Sohn oder eine Tochter, dann wäre es mittlerweile fast zehn Jahre alt und könnte mit ihm nach São Jorge da Mina segeln. Aber vielleicht hatte er ja doch ein Kind; vielleicht hat te die andere Nimi, die Prinzessin Nimi, einen Sohn oder eine Tochter von ihm geboren. Er wusste es nicht, und er rechnete auch nicht da mit, es jemals zu erfahren. »Ja, ich bin zurückgekommen, mchento, und ich bin hungrig.« »Dann hat also der neue kleine Vogel dich auch nicht nach Hause ge flogen?« Damit meinte sie das mit Segeln ausgestattete Kanu. Beharrlich be zeichnete sie die Segelboote, die er mit solcher Besessenheit baute, als kleine Vögel, Nachkommen der großen Leonor mit ihren Segelflügeln, auf denen er in sein Land im Himmel zurückfliegen wollte. Natürlich wusste sie, dass das nicht stimmte; sie wusste schon lange, dass er nicht vom Himmel kam. Dass sie das beständig behauptete, war nur ein wei teres Mittel, ihn zu reizen. »Ich habe gesagt, dass ich Hunger habe. Ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen. Holst du mir etwas, oder muß ich dich erst schlagen?« Sie zuckte die Achseln und verschwand im Haus. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich ins Bett und schlief traum los, erschöpft von der Reise, den ganzen Tag. Als der Abend herein brach, stand er auf, wusch sich an der Quelle hinter dem Haus und zog eine Kanga an. Hosen und andere Zugeständnisse an die europä ische Kleidung trug er nur auf den Fahrten, auf denen er die portugie sische Siedlung in São Jorge da Mina zu erreichen versuchte – er woll te bei den Weißen dort nicht den Eindruck erwecken, er sei ein Wilder. Dann paddelte er mit seinem ungetakelten Einbaum den Fluss strom aufwärts. Er wollte fischen. Im Haus gab es keinen frischen Fisch und auch kein frisches Fleisch, weil die Frau während seiner Abwesenheit we 235
der fischen noch jagen ging. Er fuhr am Nordufer seiner Insel entlang bis zur östlichen Spitze, von wo er Mpinda am Südufer des Zaire se hen konnte. Auch von dort schoben sich Fischerkanus ins Wasser hin aus; sie waren mit Fackeln erleuchtet, damit die Männer in der zu nehmenden Dunkelheit ihren Weg finden konnten. Er hielt Distanz zu ihnen; wenn er das nicht tat, würde er in Schwierigkeiten geraten. Ihm war verboten, sich unter die Menschen von Mpinda zu mischen, aus welchem Grund auch immer. Er paddelte weiter Flussaufwärts und warf dann mit einer geschickten Bewegung sein Netz aus; anschlie ßend ließ er das Kanu mit der Strömung und der Ebbe Flussabwärts treiben, so dass es das Netz hinter sich her schleppte. Das wiederhol te er mehrmals, doch jedesmal ohne Erfolg. Nach einiger Zeit ließ er den Einbaum zum östlichen Strand seiner Insel treiben und warf dort nach europäischer Art eine Angel aus; dann legte er sich ins Boot und blickte hinüber nach Mpinda. Im Dorf brannten bereits die Kochfeuer, und die Einwohner eilten zwischen den hohen, konischen Hütten hin und her. Vom Anwesen des ManiSoyo hinter der Palisade drang ge dämpftes Trommeln zu ihm herüber. Wahrscheinlich begingen sie ein Fest oder Ritual, aber für ihn hätte es ebensogut in einer anderen Welt stattfinden können. In all den Jahren hatte er nie wieder einen Fuß in das Dorf gesetzt; er wusste weder, ob der großväterliche ManiSoyo noch lebte, noch, ob der verhasste NsakuSoyo gestorben war. Und es war ihm auch völlig gleichgültig. Ein leises Krachen und Schritte im Unterholz ließen ihn auffahren. Er drehte sich auf den Bauch, strich sich die langen Haare aus den Au gen und blickte über den Dollbord. Ein Buschbock war aus dem Wald gekommen, um am Fluss seinen Durst zu stillen. Es war ein junges Tier mit noch moosiggrünem Geweih. Am Boden von Gils Kanu la gen neben seinem Messer mit dem Elfenbeingriff auch ein Bogen aus Rohr mit einer dünnen Ledersehne und dazu ein Köcher voller Pfeile, die mit einer Eisenspitze versehen und mit Möwenfedern gefiedert wa ren. Er legte einen Pfeil in die Bogensehne ein, berührte die Blutstei ne um seinen Hals als Bitte um Jagdglück und kniete sich dann hin. Das Tier konnte ihn wegen des Gegenwinds nicht wittern. Es hob den 236
Kopf, sah sich wachsam um, bemerkte ihn aber nicht und begann wie der zu trinken, wobei sein weißer Schwanz zuckte. Gil spannte den Bo gen. Der Buschbock war eine leichte Beute – er konnte den Pfeil zwi schen die Vorderläufe mitten ins Herz schießen. Und am besten rasch, bevor die anderen Tiere der Herde aus dem Wald hervorkamen und ihn vielleicht doch witterten. Aber es war allzu leicht. Er nahm den Pfeil von der Sehne, legte sich wieder flach ins Kanu, löste den Knoten seiner Kanga, so dass sie zu Boden fiel, steckte sich das Messer zwischen die Zähne, und nachdem er das Wasser nach Krokodilen abgesucht hatte, ließ er sich geschmeidig und leise wie eine Schlange ins Wasser gleiten. Es war hier nur hüfthoch und der Grund glitschig; auf der schwar zen Oberfläche huschten Wasserkäfer hin und her. Er ging in die Knie, so dass nur sein Kopf aus dem Wasser ragte, griff nach dem Dollbord und schob das Kanu vor sich her auf den Buschbock zu. Dabei achte te er darauf, nicht in die Witterung des Tieres zu geraten. Als er rund dreissig Fuß von ihm entfernt war, richtete er sich gerade so weit auf, dass er über den Einbaum hinwegblicken konnte. Der Bock hatte den Kopf wieder gehoben und starrte witternd direkt auf das Boot, als wis se er nicht, was er davon halten solle. Gil ließ den Dollbord los, holte tief Luft und tauchte unter. Mit zwei kräftigen Zügen, das Messer noch immer zwischen den Zähnen, schwamm er unter dem Boot hindurch und stürzte mit einem mörderischen Schrei aus dem seichten Uferwas ser hervor. Vögel flatterten kreischend aus den Bäumen auf, Affen sprangen hysterisch durch die Baumkronen. Der Buschbock, der plötzlich die Gefahr erkannte, wollte sich zur Flucht wenden, fand aber auf dem schlammigen Ufer keinen Halt. Wie ein Löwe sprang Gil das Tier von hinten an. Unter dem Gewicht seines Jägers gaben die dünnen Läu fe des Bocks nach; in seiner Verzweiflung warf das Tier den Kopf her um und streifte Gils Wange mit seinem Geweih, so dass sie zu bluten begann. Aber er gab nicht auf. Er umklammerte den langen, schlan ken Hals noch kräftiger; der Buschbock ging in die Knie und fiel wild um sich schlagend auf eine Seite. Gil stürzte mit ihm zu Boden, wo 237
bei ein Bein unter den Körper des Tieres geriet, nahm das Messer aus dem Mund und stieß es mit aller Wucht in die Kehle des Bocks. Blut spritzte ihm ins Gesicht und strömte heiß über seine Hand. Er trieb das Messer tiefer ins Fleisch hinein, drehte es dann und schnitt seinem Opfer die Kehle durch. Der Buschbock sah ihn traurig an. Seine Augen wurden glasig, und nach einigen Minuten war er tot. Warum hatte er das getan? Warum hatte er nicht einfach den Pfeil abgeschossen? Woher rührte diese Wut in ihm, die ihn dazu trieb, mit bloßen Händen zu töten? Guter Gott, erbarme dich meiner. In solchen Augenblicken glaubte er, er sei tatsächlich wahnsinnig geworden.
»Der MtuKongo kommt. Wach auf. Hörst du mich nicht? Ich habe ge sagt, der MtuKongo kommt.« Sie schüttelte ihn an den Schultern. Er schlug ihr auf die Hand. »Lass mich los, Frau. Ich habe dich ge hört.« Er schwang die Beine über die Kante der Koje und setzte sich auf, um sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Er war im Schlafzimmer des Haupthauses. Die Koje, die er nach dem Vorbild einer Kapitänskoje in der Heckkajüte einer Karavelle ge baut hatte, befand sich an der Nordseite des Hauses und hatte als Fen ster ein Bullauge in der westlichen Wand, so dass er im Liegen auf das Meer hinausschauen konnte. Das Bettzeug bestand aus einer Grasma tratze und zwei Kissen aus Möwenfedern sowie Tüchern und gegerb ten Häuten als Decken. Am Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl, dessen Sitzfläche und Lehne aus Leder waren. Dort saß er oft, wenn er aß – denn dabei blickte er ebenfalls gerne auf das Meer hinaus – und wenn er schrieb; dafür verwendete er Pergament, Federkiele von Was servögeln und eine lilafarbene Tinte aus Beerensaft (die allerdings im Laufe der Zeit verblasste). Mit diesen Utensilien notierte er seine un nützen Berechnungen über den Wind und die Gezeiten und zeichne te seine unnützen Karten von Meer und Himmel. Auf dem Fußboden aus gestampfter Erde – es war zwecklos, Bretter zu verlegen, sie ver faulten in der feuchten Nässe, die Ameisen und Termiten fraßen sie 238
auf, und in den darunterliegenden Hohlräumen nisteten mit Vorliebe die Ratten – lagen überall Tierfelle, und von den kalkgeweißten Dach balken hingen Lampen, die mit Palmöl gefüllt waren. Sein Bogen und der Lederköcher voller Pfeile hingen an der südlichen Wand neben ei ner Tür gegenüber der Schlafkoje, daneben lehnten ein Schild und eine Eisenlanze, und über dem Kopfende der Koje war ein Kreuz mit ei nem blutenden Jesus Christus angebracht, das er selbst geschnitzt hat te. Unter der Schlafstatt stand eine Truhe für seine Kleider. »Er kommt von Mpinda. Er wird bald hier sein.« »Ngete, mchento. Keba«, fuhr er sie gereizt an. »Ich habe dich gehört. Jetzt lass mich in Ruhe.« Trotzdem blieb sie in der Tür stehen und passte auf, dass er nicht wieder einschlief. An diesem Tag war sie sogar korrekt angezogen; ihre Kanga bedeckte ihre Brust, und um den Hals trug sie eine Kette aus Muscheln. Der Besuch des MtuKongo versetzte sie in Aufregung; sie würde die seltene Gelegenheit nutzen, um erneut um eine Aufhebung ihrer Verbannung zu bitten. Das würde zwar zu nichts führen, aber ihre erbärmliche Hoffnung, eines Tages wieder frei zu sein, war für sie ebenso zur Obsession geworden wie für ihn seine erbärmliche Hoff nung, eines Tages nach Hause zu segeln. »Hast du etwas zu essen vorbereitet?« »Der MtuKongo ißt nicht um diese Zeit.« »Aber ich. Mach etwas zu essen.« Nachdem sie zum Kochhaus gegangen war, kniete er vor der Koje nie der, faltete die Hände unter dem Kinn und schloss die Augen. Aber er betete nicht. Es war nur eine Gewohnheit, die noch aus der Zeit stamm te, als er nach dem Aufwachen immer darum gebetet hatte, ein Schiff möge kommen und ihn von diesem sinnlosen Leben erretten. Dann zog er die Kanga an, band sich das Messer um und ging barfuß aus dem Haus. Vor langer Zeit hatte er sich zwar einmal Stiefel gemacht, doch mittlerweile war er daran gewohnt, barfuß zu gehen. Die Frau brachte ihm eine Schüssel Tarogrütze und eine Tasse Ziegenmilch, und während er dieses Frühstück verzehrte, ging er den Südstrand der Insel nach Osten entlang, Flussaufwärts in Richtung Mpinda. 239
In der kleinen Bucht von Mpinda lagen viele Kriegskanus, eine Flotte aus rund fünfzig großen Einbäumen mit stark hochgezogenen Bugen, die mit schwarzen Augen, weißen Blitzen oder Köpfen von Schlan gen und wilden Tieren bemalt waren. In jedem standen zehn Paddler auf jeder Seite und dazu etwa vierzig Krieger, die mit stählernen Lan zen, Schilden aus Eisen und Leder, Langbogen und Pfeilen, Äxten und Keulen bewaffnet waren. Insgesamt waren es über zweitausend kamp ferprobte Männer, die in irgendeinen Krieg zogen. Er hatte schon öfter solche Armeen gesehen. Zwar hatte Gil nie in Erfahrung bringen können, aus welchen Gründen diese Kriege ge führt wurden – überhaupt hatte er im Verlauf seines Exils wenig über das Leben in Kongo gelernt –, aber er wusste mittlerweile, dass es in diesem Land häufig Kriege gab. Ähnlich wie die europäischen Königs häuser war auch das Königreich der Kongo erst durch Kriege entstan den. Die einzelnen Provinzen und Lehensgebiete, die Stämme, Clans und Vasallenstaaten waren einst unabhängige Nationen gewesen. Die Eroberungskriege, die sie zu einem einzigen Reich vereint und ihre Häuptlinge und Fürsten unter die Oberherrschaft von Mbanza Kongo gezwungen hatten, waren zwar in grauer Vorzeit ausgetragen worden, zur Zeit des ersten ManiKongo, des mythischen Schmied-Königs, der den Völkern die Kunst der Eisenverarbeitung beigebracht hatte. Trotz dem hatten sich die einzelnen Stämme – nicht anders als die feudalen Fürsten der europäischen Königreiche – ein relativ hohes Maß an Un abhängigkeit bewahren können, und es kam immer wieder zu Abspal tungsversuchen. Ihre Ergebenheit gegenüber dem ManiKongo konnte jederzeit ins Wanken geraten, und auch Aufstände waren nichts Unbe kanntes. Das letztemal, als Gil eine derartige Kriegsflotte auf dem Za ire gesehen hatte, waren es die Bateke gewesen, die sich erhoben hat ten, ein Vasallenvolk am Nordufer des Oberlaufs, oberhalb von Mata di und jenseits der Katarakte des Hexenkessels. Vielleicht stifteten sie nun erneut Unfrieden. Er aß den Rest der Tarogrütze mit den Fingern, leerte die Tasse Zie genmilch, hockte sich an das Wasser, um sich die Hände zu waschen, und spähte in der aufsteigenden Sonne über den Fluss nach Mpinda 240
hinüber. Das größte der Kriegskanus mit wilden Löwen zu beiden Sei ten des Bugs hatte sich von der restlichen Flotte gelöst und fuhr Flus sabwärts auf die Insel zu. Es trug nur einen Krieger, der mitschiffs zwi schen den Ruderern stand. Er war mit einer blassgrünen, rot einge fassten Kanga bekleidet, hatte einen Kopfschmuck aus Reiherfedern und Antilopenhörnern und eine Kette aus Löwenzähnen um den Hals. Noch bevor das Boot das Ufer erreichte, sprang er hinaus und watete an Land. »In nomine patris, etfilii, et spiritus sancti, Gil«, rief er, machte das Kreuzzeichen und grinste über das ganze Gesicht. Gil stand auf. »Mbemba!« sagte er. Der Kongo-Prinz packte Gil an den Schultern und schüttelte ihn hef tig. Er war zwar nicht so groß wie Gil, aber im Verlauf der Jahre war auch seine Statur kräftig und beeindruckend geworden. Außerdem sah er, abgesehen von einer hässlichen Narbe über der linken Wange, die von einer Lanzenwunde herrührte, auffallend gut aus. »Deo grati as«, sagte er, noch immer lächelnd. »Ich freue mich, dass du noch bei uns bist.« Gil schüttelte den Kopf. Er war wütend auf Mbemba – er war im mer wütend auf ihn –, aber trotzdem musste er lächeln, sobald er des sen gutmütiges Gesicht sah und hörte, wie er mit seinem GebetbuchLatein prahlte. »Ich für meinen Teil, Mbemba, freue mich nicht, noch immer bei euch zu sein.« Mbemba überhörte Gils bitteren Tonfall bewusst und wandte sich an die Frau. »Und du, mchento, hast du gut auf meinen Freund aufgepasst, seitdem ich das letztemal hier war?« »Das ist gar nicht nötig, MtuKongo. Er passt sehr gut auf sich selbst auf. Dafür braucht er mich nicht. Er braucht mich überhaupt nicht. Frag ihn selbst. Ich könnte zu meinen Leuten in Mbanza Kongo zu rückkehren und …« »Was? Willst du wieder anfangen zu jammern? Hör auf, mchento. Ich werde mir deine Klagen nicht anhören.« »Aber MtuKongo, bitte …« Sie ergriff Mbembas Hand und führte sie an die Lippen. »Bitte. So viele Jahre sind vergangen. Wenn ich nur ein 241
mal noch meine Familie sehen könnte. Du darfst mich nicht hier ster ben lassen, ohne dass ich meine Familie noch einmal sehe …« »Hör auf! Sofort!« Er riß seine Hand von ihren Lippen und versetzte ihr dabei unabsichtlich einen Schlag aufs Kinn, so dass sie überrascht nach hinten taumelte, stolperte und zu Boden fiel. Verärgert starrte er zu ihr hinunter. »Dein Platz ist hier, mchento, und hier wirst du blei ben.« »Ach, lass sie gehen, Mbemba«, sagte Gil. »Lass sie nach Mbanza Kongo zurückgehen. Mir ist es gleichgültig.« »Hast du das gehört, MtuKongo?« Die Frau richtete sich hastig auf. »Er sagt es selbst. Es ist ihm gleichgültig.« »Aber mir ist es nicht gleichgültig. Er muß eine Frau haben. Ohne eine Frau kann er nicht hierbleiben. Das wäre nicht normal.« »Dann schick ihm eine andere Frau. Schick ihm eine jüngere Frau, eine schönere.« »Es gibt keine andere Frau. Keine andere Frau, kein anderer Mensch darf hierherkommen. Das weißt du selbst. Und jetzt lass uns allein.« Mit Tränen in den Augen ging sie zum Haus zurück. Keiner der bei den Männer sah ihr nach. »Warum hast du eine so große Streitmacht hergebracht, Mbemba?« fragte Gil. »Was ist passiert? Lehnen sich die Bateke wieder auf?« »Ja, es sind wieder die Bateke.« »Ich dachte, ihr hättet beim erstenmal ihren Häuptling getötet und Hunderte seiner Krieger als Sklaven gefangengenommen?« »Das stimmt auch. Aber jetzt haben sie einen neuen Häuptling.« »Und auch er verweigert deinem Vater den Tribut?« »Ja. Jetzt muß ich ihn wohl ebenfalls töten und seine Krieger zu Skla ven machen.« »Nimm mich mit. Ich werde dir helfen, ihn zu töten.« Mbemba verzog das Gesicht. »Schon gut.« »Gil, du weißt …« »Ja, ich weiß.« »Es ist dir verboten, diese Insel zu verlassen.« 242
»Ich sagte ja, ich weiß.« »Es tut mir leid.« »Ja, es tut dir leid.« »Sei nicht so wütend, Gil. Ich habe dir viele kostbare Dinge mitge bracht.« »Ntondesi«, gab Gil zurück und wandte sich ab. Mbemba winkte den Paddlern, die mittlerweile das große Kriegs kanu an Land gezogen hatten. Daraufhin fingen sie an, Körbe, Bün del, Gefäße und metallene Kessel auszuladen. Gil schaute nicht zu. Er wusste genau, was Mbemba ihm mitbrachte – Werkzeuge, Waffen, Seile, Tonwaren, Stoff, Häute, Palmöl und Palmwein. Diese Dinge wa ren in der Tat kostbar. Mbemba brachte bei seinen regelmäßigen Be suchen immer solche Waren mit, und Gil war dankbar dafür. Diese Dinge erleichterten ihm das Leben und ermöglichten ihm, sich ganz und mit wahrer Besessenheit auf seine erfolglosen Fluchtversuche zu konzentrieren. Trotzdem wandte er sich jetzt missmutig ab und ging nach Westen, den Strand hinab zum Meer. Mbemba holte ihn ein und schritt dann neben ihm her. Die Besuche des Kongo-Prinzen waren schon lange kein Geheimnis mehr. Jeder wusste davon, und niemand erhob mehr Einwände dage gen. Als im Laufe der Jahre klar wurde, dass die anderen weißen Män ner nicht wiederkehren würden, betrachtete man Gil immer weniger als Bedrohung, sondern eher als eine sonderbare Missbildung der Na tur, eine erstaunliche Laune der Götter. Da er auf den eng begrenz ten Raum der Insel, des Flusses und des offenen Meeres beschränkt war und keine Verbündeten hatte, glaubte man nicht, dass er wirklich Schaden heraufbeschwören könnte. Und die unwandelbare Freund schaft, die Mbemba ihm entgegenbrachte, wurde lediglich als ein Zei chen für die Gutmütigkeit des sanften Prinzen gedeutet. »Ist das ein neues Boot? Ich glaube nicht, dass ich es schon einmal gesehen habe!« Mittlerweile hatten sie die westliche Spitze der Insel erreicht, wo das mit Segeln ausgestattete Kanu zwischen dem Boot mit doppeltem Rumpf und dem Einbaum am Anlegeplatz lag. 243
»Hast du es schon auf dem Meer eingesetzt?« Gil nickte. »Hat es sich bewährt?« »Warum stellst du mir diese Frage? Bin ich nicht immer noch hier? Glaubst du, ich wäre noch hier, wenn das Boot sich besser bewährt hät te als die anderen?« Mbemba seufzte. Er hatte diese Antwort schon viele Male gehört. Dann blickte er sich nach den Paddlern um, die unter der Aufsicht der Frau die Vorräte an Land trugen. »Ich werde mit keinem dieser Boote je Erfolg haben, solange ich sie allein segeln muß. Wenn ich nur noch einen anderen Menschen hät te … sogar die Frau dort würde reichen. Ich könnte ihr zeigen, was sie tun muß. Ich könnte ihr beibringen, mein Maat zu sein. Aber davon will sie nichts wissen. Sie wäre von Herzen froh, wenn ich fortsegeln und nie zurückkommen würde, aber helfen will sie mir nicht. Alle wä ren froh, wenn ich fortsegeln und nie mehr zurückkommen würde, aber helfen will mir niemand. Nicht einmal du, Mbemba.« Mbemba berührte die Narbe an seiner Wange, die sich rot färbte, wenn er wütend wurde. »Du könntest ihr befehlen, mit mir zu segeln. Du könntest irgend jemandem befehlen, mit mir zu segeln. Du bist der MtuKongo. Du könntest sogar selbst mit mir segeln.« »Gil …« »Ich könnte es dir beibringen, Mbemba. Es ist nicht schwierig. Komm, lass mich es dir zeigen. Komm her. Ich setze den Mast. Wir können jetzt gleich hinausfahren. Dann wirst du sehen, wie einfach es ist. In ein paar Tagen weißt du alles, was du wissen mußt, um mein Maat zu sein. Dann können wir zusammen zum Land am anderen Ufer des Meeres segeln.« »Hör auf, Gil. Ich habe genug von deinem Unsinn.« »Was? Du willst nicht mit mir zu dem Land am anderen Ufer des Meeres segeln? Aber ich dachte, du wolltest dort den Zauber der wei ßen Männer erlernen.« »Das ist lange her.« 244
»Ja, das ist lange her«, erwiderte Gil, der sich allmählich beruhigte. »Das ist sehr lange her. Zu lange. Du hast keinen Grund mehr, den Zau ber der weißen Männer erlernen zu wollen.« Er stieg in das Segelboot, setzte sich auf die Ruderbank und starrte finster übers Meer hinaus. Mbemba beobachtete ihn eine Welle und sah sich dann wieder nach seinen Paddlern um. Die Vorräte waren inzwischen alle ausgeladen. »Ich muß jetzt gehen, Gil«, sagte er. »Nein!« Gil fuhr herum. »Geh nicht. Du bist doch gerade erst gekom men. Bleib noch ein wenig bei mir. Der Häuptling der Bateke kann auf seinen Tod warten.« »Ich muß gehen, bevor die Sonne zu hoch steht.« »Gut, aber bis dahin ist noch etwas Zeit. Setz dich neben mich und lass uns eine Weile reden.« »Und du willst mich nicht überlisten und mit dem Boot aufs Meer hinaussegeln, sobald ich darin sitze?« »Nein, nein.« Gil lächelte. »Verzeih, dass ich soviel Unsinn geredet habe. Manchmal weiß ich nicht mehr, was ich sage. Ich bin zuviel al lein. Ich grüble zuviel.« »Ich verstehe.« Mbemba nahm seinen Kopfschmuck ab, stieg in das Boot und setzte sich neben Gil auf die Bank; die Kopfbedeckung legte er zwischen seine Füße auf den Boden. »Erzähl mir ein bißchen, was in der Welt geschieht, Mbemba. Ich weiß wenig von dem, was da draußen vor sich geht, selbst wenn es nur in einer Legua Entfernung von dieser verfluchten Insel passiert. Sag, wie geht es deinem Vater?« »Es geht ihm gut.« »Wirklich?« »Auf jeden Fall ist er noch am Leben.« »Das freut mich. Das eine Mal, als er mich empfing – daran muß ich oft denken –, war er sehr freundlich zu mir. Erkundigt er sich jemals noch nach mir?« »Nein. Ich glaube nicht, dass er sich noch an dich erinnert. Er er innert sich an kaum etwas mehr. Mpanzu übernimmt zusehends die Herrschaft.« 245
»Aber deine Mutter, die Mbanda Lwa – sie erinnert sich noch an mich.« »Sicher, sie erinnert sich noch an dich.« »Aber sie denkt nicht gerne an mich.« »Sie hat zuviel von dir erwartet, Gil.« »Ja, sie hat viel von mir erwartet … und vom Zauber der Schrift. Bit tet sie dich noch, ihr beizubringen, wie man die Schrift des Breviers spricht?« »Nein, schon lange nicht mehr.« »Es ist auch sehr lange her, dass sie glaubte, die Schrift habe große Zauberkräfte. Ich kann sie verstehen.« »Sie hat andere Dinge im Kopf.« »Was?« Mbemba zuckte die Achseln. »Sie ist eine sehr ehrgeizige Frau, und eines Tages wird sie deswegen in Schwierigkeiten geraten.« »Sie hofft also immer noch, dafür sorgen zu können, dass du Mpan zus Platz einnimmst, wenn es einmal soweit ist.« »Das darfst du nie zu irgend jemandem sagen, Gil.« »Wem sollte ich es schon sagen? Den Vögeln in den Bäumen? Den Fi schen im Meer?« Mbemba lächelte. »Sie ist eine Soyo, wie du weißt, aus dem Haus des ManiSoyo, und so stolz und ehrgeizig, wie nur eine Soyo es sein kann. Deswegen glaubt sie, ein Sohn der Soyo, ihr Sohn, sollte nach dem Tod des ManiKongo den Thron des Kongo-Reichs besteigen, und nicht Mpanzu, der rechtmäßige Erbe. Er ist vom Volk der Nsundi.« »Aber du glaubst das nicht?« »Nein. Diesen Ehrgeiz habe ich nicht. Ich bin zufrieden mit dem Platz, den ich einnehme.« »Weiß Mpanzu das?« »Würde er mir sonst den Befehl über die Heere des Königreichs über tragen? Würde er mir sonst diese Krieger anvertrauen, um sie in die Schlacht gegen die Bateke zu führen?« »Und seine Mutter, die Mbanda Vunda? Und der NgangaKongo?« »Sie vertrauen mir auch. Sie vertrauen mir alle. Warum sollten sie 246
mir nicht vertrauen? Ich habe ihr Vertrauen nie missbraucht. Ihr Arg wohn richtet sich einzig gegen die Mbanda Lwa, und nur die große Liebe des ManiKongo schützt sie. Aber wenn er stirbt, wird sie in gro ße Schwierigkeiten geraten, wenn sie ihren Ehrgeiz nicht aufgibt.« »Also wirst du nie König werden.« »Nein.« »Der sanfte Prinz wird nie König werden, und deswegen wird es nie jemanden geben, der mir hilft fortzusegeln.« Darauf gab Mbemba keine Antwort, und Gil starrte wieder auf das Meer hinaus. »Ich muß jetzt gehen, Gil.« »Ja.« Mbemba griff nach seinem Kopfschmuck und stand auf. Gil erhob sich ebenfalls. »Sie muß sehr schön geworden sein«, sag te er. »Wer?« »Nimi.« »Nimi?« »Nicht diese Nimi. Deine Schwester Nimi, die Ntinu-Kongo.« Mbembas Narbe färbte sich rot, und er starrte Gil finster an. Dann setzte er seinen Kopfschmuck auf und ging an Land. »Ist sie wirklich schön geworden, Mbemba? Sie war so ein hübsches Mädchen, also müßte sie jetzt ausgesprochen schön sein, eine erwach sene Frau. Ist sie verheiratet? Hat sie viele Kinder?« Diese Fragen stellte er, während er neben Mbemba am Strand ent lang zu dem Kriegskanu ging. Er erwartete nicht, eine Antwort zu be kommen. Mbemba ging nie auf seine Fragen über Nimi ein. Sie war ein verbotenes Thema, und Gil fragte nach ihr, um Mbemba in Ver legenheit zu bringen, um seine Bitterkeit und Enttäuschung über sei nen Freund zum Ausdruck zu bringen, der ihm nicht helfen wollte, die Insel zu verlassen. Aber er stellte diese Fragen auch, weil er wirk lich eine Antwort darauf haben wollte. In seiner Einsamkeit grübel te er oft über die Prinzessin Nimi nach, über das freche kleine Mäd chen, das vor so langer Zeit zu ihm gekommen war, um sich von ihm 247
ein Zauberkind machen zu lassen. Im Verlauf dieser endlos langen, leeren Jahre hatte er eine ganze Romanze um sie gewoben und diese eine Nacht zu einem törichten Märchen verklärt. Was war aus ihr ge worden? Hatte sie ein Kind von ihm? Und wenn ja, was war aus die sem Kind geworden – einem halbweißen Kind in einem Negerreich? Er wusste nicht, ob Mbemba jemals entdeckt hatte, was zwischen ih nen vorgefallen war – Gil hatte nie den Mut gefunden, es ihm zu sa gen –, aber er ging davon aus, dass sein Freund davon erfahren hatte und es deswegen ein verbotenes Thema war. Wenn sie das Mischlings kind zur Welt gebracht hatte, wusste er zweifellos davon. »Spricht sie jemals von mir?« Mbemba stieg in das Kriegskanu und sagte etwas zu den Paddlern, bevor er sich erneut Gil zuwandte. »Dominus vobiscum, Gil Janesch.« »Du antwortest mir nicht.« »Nein.« »Vielleicht beim nächstenmal.« Mbemba zuckte die Achseln. »Wann wird das nächstemal sein?« »Auf dem Rückweg von den Bateke werde ich wieder hier vorbei kommen, wenn ich nicht getötet worden bin.« »Und wenn ich noch hier bin.« »Ja, und wenn du noch hier bist. Viel Glück, Gil. Möge Gott dir bei stehen.« »Und möge er dir beistehen.« Mbemba stieß einen heiseren Befehl aus, und die Paddler stießen das Boot vom Ufer ab und ruderten mit langen, anmutigen Bewegungen nach Mpinda zurück. Innerhalb der nächsten Minuten formierten sich die Kriegskanus zu zehn Reihen von je fünf Einbäumen, mit Mbem bas Kanu an der Spitze. Dann fuhren sie Flussaufwärts, eine gewalti ge Kriegsflotte, die einen Feind vernichten, einen Häuptling töten und viele Männer zu Sklaven machen wollte. Gil sah ihnen nach, bis das letzte Boot um eine Biegung verschwun den war, und blickte dann wieder auf das Meer hinaus. Nun war er wieder allein. Die Frau stand auf der Veranda des Hauses und betrach 248
tete ihn düster, aber er hatte ihr nichts zu sagen. Genausogut hätte sie gar nicht dasein können. Er ging über den Strand zum Anlegeplatz und stieg in sein neuestes Segelboot. Vielleicht sollte er ein Auslegerboot bauen. Ein viel kleineres Kanu, das als Ausleger für ein wesentlich größeres Boot diente; das könnte die Krängung bei stürmischer See verringern. Eigentlich sollte das gar nicht so schwer zu bauen sein. Er fuhr sich mit den Fingern durch das lange Haar, strich es aus dem Gesicht und sah über das Meer hinaus zum fernen Horizont, zu der Linie, über die er hinaussegeln musste, wenn er jemals wieder seine Heimat Portugal erreichen wollte.
KAPITEL 2
D
er Himmel war bedeckt. In den letzten Wochen war es mit jedem Tag dunkler geworden. Wolken trieben mit den südöstlichen Pas satwinden herein, verdunkelten die Sonne zu einer zinnfarbenen Schei be, hüllten den Mond und die Sterne in einen gespenstischen Schleier, benetzten das Gebüsch mit Tau und färbten den Fluss und die See stahlgrau. Gils Berechnungen zufolge war es der 12. Oktober 1492. Die Regenzeit war im Anzug. Sein neues Segelboot war fertig. Der Ausleger war durch Bambushol me mit der Luvseite des Hauptboots verbunden. Der nach hinten ge neigte Mast hatte ein übergroßes Lateinersegel mit einer schrägen Rahe; die Falleine und die Schote hatte er so befestigt, dass er sie, wenn er sich in den Ausleger setzen musste, um ein Kentern zu verhindern, von dort aus bedienen konnte. Und das Ruder im Heck des Hauptboots hatte ei nen verlängerten Griff, damit er im Notfall auch vom Ausleger aus steu ern konnte. Eigentlich sah das Boot sehr gut aus, wie es am Anlegesteg vor seinem Haus halb im Wasser, halb außerhalb lag; gut genug, um ei nen Namen zu bekommen. Vielleicht würde er es Princesa Nimi nennen. Er hockte sich auf die Fersen und betrachtete den dunklen Himmel. 249
Das Wetter war das nächste Problem. Sollte er die letzten Wochen vor der Regenzeit nutzen, um das Boot auszuprobieren und die ent sprechenden Veränderungen vorzunehmen, und dann das Ende der Regenfälle im Februar abwarten, bevor er nach São Jorge da Mina se gelte? Allerdings würde er dann direkt in die Regenzeit nördlich des Äquators geraten. Wenn er jetzt sofort aufbrach, könnte er mit etwas Glück den Äquator erreichen, noch bevor die Regenzeit südlich davon einsetzte, während sie nördlich davon gerade vorüber war. Vermut lich war die zweite Alternative die bessere. Es war wichtiger, nördlich des Äquators gutes Wetter zu haben, denn dort würde er auf der Su che nach westlichen Winden den gefährlichen Kurs auf die offene See halten müssen. Und wenn sich das Wetter während der Fahrt entlang der Küste zum Äquator hinauf verschlechtern würde, konnte er jeder zeit an Land gehen. Außerdem, weshalb sollte er noch warten? Es gab nichts, worauf zu warten sich lohnte. Mbemba hatte ihn besucht und war wieder verschwunden; vermutlich würde er erst wiederkommen, wenn die Bateke erneut Schwierigkeiten machten. Und darauf zu war ten war sinnlos. Mbemba konnte nichts für ihn tun. Trotzdem sollte er das Boot zumindest einmal ausprobieren, bevor er aufbrach. Er stieß es vom schlammigen Ufer ab, sprang hinein, setzte sich auf die Ruderbank achtern, griff nach dem langen Ruder und paddelte in das Mündungsbecken des Flusses hinein. Ein frischer, feuchter Wind wehte von Südost nach Nordwest, und als er die felsige Landzunge an der Südspitze der Einfahrt erreichte, legte er das Paddel weg und hiß te das Segel. Einen Augenblick flatterte es heftig, dann blähte es sich im Wind. In einer Hand hielt er die Segelleine, mit der anderen zog er die Ruderpinne nach Steuerbord, und als das Boot vor dem Wind nach Norden kreuzte, sah er zu dem gebauschten Segel hinauf und dachte bei sich, dass er vor seiner großen Fahrt noch ein Zeichen darauf ma len würde, eine Art Kreuz, damit er auf dem Meer als Christ zu erken nen wäre. Er segelte die vier oder fünf Leguas über den Fluss zur Nordspitze des Mündungstrichters. Unterwegs lockerte er vollständig das Segel, beobachtete, wie der Ausleger über die graue, bewegte Wasseroberflä 250
che dahinglitt, und spürte, dass das Boot trotz der Geschwindigkeit das Gleichgewicht hielt. Am nördlichen Ende trimmte er das Segel und fuhr ins Meer hinaus. Hier zogen sich an der Küste die roten Lehm klippen hin, hinter denen er vor so vielen Jahren die Leonor hatte ver schwinden sehen. Er behielt seinen Abstand zu ihnen bei und nahm Kurs nach Norden. Das Boot ließ sich gut lenken. Aber dies war noch gar nicht die eigentliche Prüfung. Auf der Fahrt nach Norden zum Äquator mit dem Wind achtern hatten sich alle seine Boote als geeig net erwiesen. Die eigentliche Bewährungsprobe kam erst, wenn er auf der Suche nach westlichen Winden nördlich des Äquators gegen den Wind kreuzen musste. Doch er konnte ja versuchen, diese Bedingun gen hier zu simulieren, indem er weit aufs Meer hinausfuhr, wendete und scharf am Wind segelte. Er blickte zum Himmel empor. Die Sonne, die blass leuchtend in den dahintreibenden Wolkenfeldern zu schwimmen schien, stand fast di rekt über ihm. Er hatte also noch den ganzen Nachmittag Zeit, um sei nen Versuch zu wagen, und er brauchte sich auch keine Sorgen zu ma chen, dass er bei einem eventuellen Kentern etwas Wertvolles verlie ren könnte (außer seinem Leben), weil er nur sein Messer, einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile an Bord hatte. Also steuerte er aufs of fene Meer hinaus, Nord zu West, so dass seine langen Haare im Wind flatterten. Über ihm kreisten kreischende Möwen, hinter seinem Rük ken verschwanden die Klippen am östlichen Horizont. Aber jetzt war Vorsicht geboten; er durfte seine Richtung nicht ver lieren und musste genau nach Sicht navigieren. Ach, was hätte er für einen Kompass gegeben! Er bestimmte den Stand der blassen Son ne, indem er ihre Position über dem dunstigen westlichen Horizont mit der Handspanne maß. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, um an den nassen Wangen besser zu spüren, aus welcher Richtung der Wind kam. Ganz besonders achtete er auf die wechselnde Größe der Wel len, die stürmisch auf die Küste zurollten. Doch selbst mit diesen Vor sichtsmaßnahmen verließ ihn nach einigen Minuten der Mut, und er drehte wieder nach Norden, um zur Orientierung noch einmal einen Blick auf die Küste zu werfen. 251
Im Verlauf der Jahre war er diese Küste so oft entlanggesegelt, dass er sie in- und auswendig kannte. Dort war der großen Felsen, den er den Robbenfelsen nannte, weil er dort einmal Robben beim Sonnen beobachtet hatte. Und da war die Löwenbucht, wo er ein Löwenru del im seichten Wasser hatte schwimmen sehen. Weiter nördlich lag der Schiffbruchstrand, wo ein heftiger Sturm ihn an Land gespült hat te und er vier Tage hatte ausharren müssen. Dort drüben war die Was serfallbucht – ein wunderschöner Wasserfall stürzte über die Klippen in einen großen Teich von erstaunlicher Tiefe. Also gut, er wusste ge nau, wo er sich befand. Er legte die Pinne nach Backbord und locker te das Segel. Der Bug des Boots drehte von Norden nach Westen und zeigte dann direkt ins offene Meer hinaus. Und dann sah er es. Er sah es praktisch sofort, wollte aber wegen der tiefen Wolken am westlichen Horizont nicht glauben, dass er sei nen Augen trauen konnte. Sicher sind es nur andere tiefhängende Wol ken, dachte er zunächst. Aber sein Herz begann zu rasen. Er befestig te die Leine und stand auf. Was hätte er jetzt für ein Fernrohr gege ben! Er tauchte unter der Rah durch, ging nach vorne in den Bug und schüttelte heftig den Kopf, damit der Wind ihm die Haare aus dem Ge sicht blies. Waren es wirklich nur niedrige Wolken? Nein, guter Gott, das waren keine Wolken. Das waren Segel. Es konnten nur Segel sein, die allmählich am gekrümmten Horizont auftauchten. Was sollte es sonst sein? Ein Vogel mit großen Flügeln? Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ja, ein Vogel mit großen Flügeln, der vom Himmel her abschwebte. Er fing unwillkürlich zu lachen an. Er kletterte achtern, zurrte das Seil um die Pinne fest und eilte wieder nach vorne, um über das bewegte Meer zu spähen. Es waren wirklich Segel. Es konnte nichts anderes sein. Auch wenn er nicht erkennen konnte, welche Segel oder wie viele es waren oder um welchen Schiffstyp es sich handelte. Aber es waren wirklich Segel; guter Gott, es waren Segel. »Ahoi! Amigos, ahoi! Männer Gottes, ahoi!« Das war natürlich lächerlich. Wie weit war das Schiff entfernt? Min destens eine Legua. Sie konnten ihn unmöglich hören, wahrscheinlich konnten sie ihn nicht einmal sehen. Aber das war ihm gleichgültig. Er 252
schrie immer weiter, schrie sich die Seele aus dem Leib und winkte wie verrückt mit den Armen. Schließlich holte die Wirklichkeit ihn wieder ein. Er konnte nicht feststellen, in welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit das Schiff segelte, aber er war nicht so übermütig anzunehmen, dass es zum Zaire unterwegs war. Wahrscheinlich segelte es nach Indien, oder es kam von dort. Er hatte ja schon lange vermutet, dass der Seeweg um Afrika entdeckt worden war – vermutlich von Diogo Cão selbst – und dass diese Route bereits seit Jahren regelmäßig von Schiffen be fahren wurde, allerdings in großer Entfernung von der Küste. Und er hatte nur deshalb nie eines gesehen, weil er nie den Mut gehabt hat te, weit genug aufs Meer hinauszusegeln, und auch nicht das Glück, genau zum richtigen Zeitpunkt hinauszufahren. Aber diesmal hatte er sowohl den Mut als auch das Glück gehabt. Er durfte dieses Schiff nicht einfach vorbeifahren lassen. Ein solches Glück würde er nie wie der haben. Er kroch zum Steuer zurück. Er würde mit dem Wind von achtern nach Nordwesten segeln, um so rasch wie möglich voranzu kommen; vielleicht würde er dann feststellen können, in welcher Rich tung es fuhr. Und nach ungefähr einer Legua wusste er Bescheid. Das Schiff hielt Kurs nach Süden, in Richtung Indien also. Demnach fuhr er in die falsche Richtung. Er wendete eilig und so ungeschickt, dass Wasser ins Boot schwappte, und segelte dann hart am Wind nach Südwesten. Jetzt war er beinahe zwei Leguas von der Küste entfernt, das Schiff war noch eine Legua weiter draußen im Meer. Er befand sich eine Legua gegen den Wind von ihm entfernt. Wenn er seinen jetzigen Kurs bei behielt und so schnell war wie dieses Schiff, würde er seinen Bug kreu zen. Er umklammerte die Pinne so fest, dass sein Arm taub wurde. Die Leine, die er sich um die Faust gewickelt hatte, rieb ihm die Handflä che wund. Er entfernte die Ruderbank und legte sich flach auf den Bo den des Boots, um den Windwiderstand möglichst zu verringern, und trieb sein Boot mit jeder Faser und jedem Muskel seines Körpers an. Es war eine dreimastige Karavelle von vielleicht hundert Tonnen Tragfähigkeit. Und sie segelte unter portugiesischer Flagge! Aber noch 253
ermutigender war, dass sie nicht direkt nach Süden zu fahren schien, sondern vielmehr Süd zu Ost. Wenn er sich mit dem Wind, den Wol ken und der See nicht täuschte, dann würde sie vor seinem Bug vorbei fahren und nicht er vor dem ihren. Er korrigierte seinen Kurs nach Süd zu West, befestigte das Steuerruder, vergrößerte die Segelfläche und machte die Leine fest. Dann zog er seine Kanga aus, stellte sich vor den Masten und begann, wie verrückt mit dem Tuch zu winken. Das Schiff war mit Geschützen ausgerüstet – vielleicht war es doch kein Handelsschiff –, vier Bombarden, die durch Stückpforten auf dem Hauptdeck backbord gerichtet waren, drei drehbare Falkonette, die an der Backbordreling des Spardecks angebracht waren, und vermutlich die gleiche Anzahl an der Steuerbordseite. Er konnte mehrere Matro sen auf dem Spardeck ausmachen, einen Posten im Krähennest am Großmast, einen wachhabenden Offizier am Kompasshaus auf dem Achterdeck und einen Maat, der am Bugspriet des Vorderdecks lehn te und durch ein Fernrohr direkt geradeaus spähte. Auf diesen Maat richtete er all seine Konzentration, all sein Sinnen, als könnte er ihn zwingen, sich umzudrehen und die wild im Wind flatternde Kanga zu sehen. Das Schiff hieß Beatriz. Er hatte gerade die goldenen Buchstaben am Bug backbord entziffert, als der Maat sein Fernrohr auf ihn richtete. Keine tausend Fuß trennten ihn mehr von dem Schiff, doch der Maat schwenkte das Rohr direkt an ihm vorbei und blickte nach achtern. »Mannheim, ahoi. Companheiro de Beatriz, aqui.« »Acolá. Olhar acolá.« Es erstaunte Gil, dass der Posten im Mastkorb ihn gesichtet hatte und nicht der Maat am Vorderdeck. »Olhar acola, acola. Mas que …? Schaut, dort drüben, zwei Strich nach Backbord. Wer ist das?« Auf die Rufe aus dem Krähennest hin schwenkte der Maat das Fern rohr auf Gil. Die Matrosen auf dem Spardeck rannten schreiend und gestikulierend zur Backbordreling, und der wachhabende Offizier eil te vom Achterdeck zum Mitteldeck. Nachdem Gil wusste, dass man ihn gesichtet hatte, zog er seine Kanga wieder an, kroch zum Ruder zu rück und hielt das Boot auf Kurs Süd zu Ost parallel zum Schiff. Er war 254
noch rund dreihundert Fuß von seiner Backbordseite entfernt, wagte aber aus Angst vor dem Kielwasser nicht, näher zu segeln. Der Maat rannte vom Vorderdeck hinunter und trieb die glotzen den Matrosen an ihre Arbeit zurück; dann reichte er dem wachha benden Offizier das Fernrohr – möglicherweise war es der Lotse oder der Schiffsprofos. Ein weiterer Offizier – der Kapitän? – erschien jetzt an Deck, griff nach dem Fernrohr und musterte den großen, musku lösen, halbnackten, blondbärtigen Mann in dem seltsamen Ausleger boot, das neben seinem Schiff hersegelte. Dann rief er dem Maat et was zu, der daraufhin Matrosen die Wanten des Großmasts und des Fockmasts hinaufschickte. Sie wollten beidrehen. Gil sprang auf und strich ebenfalls sein Segel. An der Backbordreling erschienen Soldaten, die mit Arkebusen und Armbrüsten bewaffnet waren, aber deswegen machte er sich keine Sorgen. Niemand würde auf ihn zielen; er wür de nicht sterben, nicht jetzt, nicht nach all diesen Jahren. Er war geret tet. Er griff nach seinem Paddel, und als das Schiff seine Fahrt verlang samte, paddelte er mit der Begeisterung und der Geschicklichkeit ei nes Wilden darauf zu. »Wer bist du?« Der Kapitän und der Lotse oder Schiffsprofos, der Maat und nun auch ein Priester blickten über die Reling zu ihm herab. Es war der Maat, ein großgewachsener, schlaksiger Mann mit einem kurzge schnittenen grauen Bart und einer fast vollständigen Glatze, der ihm die Frage zurief. »Bleib, wo du bist, und sag uns, wer du bist!« »Werft mir eine Leiter herunter, damit ich an Bord kommen kann!« »Fragt ihn, ob er Portugiesisch kann.« »Was?« »Sprichst du Portugiesisch?« Da erst bemerkte Gil, dass er bis jetzt Kongo gesprochen hatte. »Ja, ich spreche Portugiesisch. Natürlich spreche ich Portugiesisch. Ich bin ein Portugiese. Von Villa Real in Tras-os-Montes.« »Was sagt er da?« Das war der Kapitän. »Versteht Ihr, was er sagt?« »Er sagt, er sei ein Portugiese aus Tras-os-Montes.« 255
»Glaubt Ihr das?« »Im Namen des Herrn, schaut mich an. Könnt Ihr nicht sehen, dass ich ein Portugiese bin? Ich war früher auf der Leonor, einem Schiff des Königs.« »Was sagst du da? Auf der Leonor? Das kann nicht sein. Ich kenne alle, die auf der Leonor gesegelt sind; ich war ja selbst dabei. Wie heißt du?« »Gil Eanes.« »Gil Eanes?« In dem Augenblick, als der Maat seinen Namen wiederholte, erkann te Gil den Mann. Er war ebenfalls auf der Leonor gesegelt. »Nuno Gon çalves? Seid Ihr es, Dom Nuno? Natürlich seid Ihr es. Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin Gil Eanes.« »Das ist nicht möglich. Du bist doch tot.« »Nein, ich bin nicht tot. Schaut her. Seht, was ich um den Hals trage. Erinnert Ihr Euch nicht an diese Blutsteine?« »Gil, bist das wirklich du? Heilige Muttergottes, ich kann's nicht glauben!« »Wer ist er?« »Gil Eanes. Er war der Page von Diogo Cão, dem Kapitän der Leonor auf ihrer ersten Fahrt in diesem Gewässer. Wir glaubten, die Neger des Königreichs am rio poderoso, den wir entdeckten, hätten ihn getötet. Werft ihm eine Leiter hinunter.« Eine Strickleiter wurde über die Reling hinabgelassen. Gil packte sie und wollte gerade hinaufklettern, als er abrupt innehielt und sich die Gesichter, die ihn neugierig anstarrten, näher betrachtete. Die ersten weißen Menschen seit zehn Jahren. Sie erschreckten ihn. Sie erschie nen ihm so hässlich und schmutzig und fremd, rosa-grau und gelb, be deckt mit verfilzten, fettigen Haaren. Ihre Gesichtszüge waren grob und kantig; schwarze Zahnstümpfe, blutunterlaufene, tränende Au gen, vernarbte, leere Augenhöhlen, die manche hinter einer schwarzen Klappe verbargen. Sahen weiße Männer tatsächlich so aus? Sah wo möglich er selbst so aus? Nicht in seiner Erinnerung. Er trat ins Boot zurück, hängte sich sein Messer an den Gürtel, schlang sich den Bogen 256
und den Köcher mit den Pfeilen über die Schulter und befestigte sein Boot an der untersten Sprosse der Leiter, damit es nicht wegtreiben würde. Aber wozu? Er würde sein Messer nie wieder brauchen, ebenso wenig wie den Bogen, die Pfeile und den Ausleger. Er fuhr nach Hau se, nach Portugal, möglicherweise auf dem Umweg über Indien, aber schließlich und endlich doch nach Portugal. Kaum war er an Deck, als Nuno Gonçalves ihn mit seiner Umar mung fast erdrückte; dann hielt der Obermaat ihn in Armeslänge von sich und grinste von einem Ohr zum anderen. »Dom Nuno.« »Ich kann's nicht fassen, Gil. Wie könnte ich es auch fassen? Es ist ein Wunder. O Heilige Muttergottes, bist es wirklich du, Kleiner, der von den Toten zurückgekommen ist? Sieh dich nur an. Ein wilder Mann aus dem Urwald. Wo ist der Junge, den ich kannte? Vor dem Mann, der vor mir steht, muß man ja regelrecht Angst haben!« Aber natür lich war Gonçalves keineswegs ängstlich, sondern drückte Gil erneut an sich. »Ach, die Geschichten, die du uns zu erzählen hast, Kleiner! Welche Abenteuer du durchgestanden hast – du mußt uns alles erzäh len!« »Gonçalves.« »Oh, verzeiht, Kapitän, ich habe mich vergessen … Gil, darf ich dir unseren Kapitän vorstellen, den Entdecker des Cabo Bom Esperança, Bartolomeu Dias de Novais.« Der Kapitän war ein kleiner Mann mit großem Bauch und spindel dürren Beinen, wässrigen Augen und einem traurigen Gesicht. Obwohl seine Haare und sein Bart schlohweiß waren, konnte er noch nicht sehr alt sein; vermutlich hatten sich die Haare nach einem Schock weiß ge färbt. Er trug einen eleganten bestickten Rock aus Samt und dazu pas sende Beinkleider, weiße Spitzen um die Hand- und Kniegelenke, ei nen steifen weißen Rüschenkragen, einen polierten Stahlhelm auf dem Kopf und ein Schwert an der Seite. Der Entdecker des Kaps der Gu ten Hoffnung, der felsigen Landspitze ganz im Süden Afrikas, wo der Atlantik und der Indische Ozean aufeinandertreffen. Gil, der in sei ner Kanga halbnackt vor ihm stand, ein blonder Wilder aus dem afri 257
kanischen Dschungel, wusste nicht, wie er ihn begrüßen sollte. Sollte er auf die Knie fallen? Seinen Ring küssen? Er konnte sich nicht an die korrekte Art der Begrüßung erinnern, und deshalb nickte er nur. Dias nickte ebenfalls; er wirkte weniger verärgert als vielmehr verblüfft. Sol daten und Matrosen umdrängten sie und starrten Gil mit unverhoh lener Neugier an. Auf Gil, dem der Anblick dieser weißen Menschen noch fremd war, wirkte der Schiffsprofos Tomé Rodrigues, den Gonçalves ihm als näch sten vorstellte, wie der Wildeste in diesem wilden Haufen: Er trug ein Kettenhemd mit Schulterpanzer, hatte ein rotes Tuch um den Kopf ge bunden, einen Messingring in einem Ohr und eine Lederbinde über einem Auge. Sein schwarzer Bart war fettig und ungepflegt, das lan ge Haar zu einem verfilzten Zopf geflochten, und in der Hand hielt er ein Entermesser ohne Scheide. Fast ebenso abstoßend wirkte auch der Lotse Antão Paiva: eine verdreckte Hose, ein schmutziges Hemd und ein riesiger Dolch im Gürtel; seiner grünlichen Hautfarbe und seinem Mundgeruch nach zu urteilen litt er vermutlich an der Ruhr. Der Schiffsgeistliche Rui de Sousa hingegen gehörte einem völlig an deren Menschenschlag an. Er war ein Pater vom Colégio de Santo Eloi, etwa so groß wie Gil, aber wesentlich zarter gebaut, und mit seinen viel leicht neunundzwanzig oder dreissig Jahren wohl nur wenig älter als dieser; seine Lippen waren auffallend rot. Er trug eine gutsitzende, ge knöpfte schwarze Soutane und einen schwarzen Samthut mit breiter Krempe. Auf seiner schmächtigen Brust prangte ein silbernes Kreuz an einem schwarzen Rosenkranz aus Onyxsteinen; an seinem kalkweißen, scharf geschnittenen, etwas fuchsähnlichen Gesicht fielen sofort ein schmucker schwarzer Schnurrbart und ein Ziegenbärtchen ins Auge. »Seid Ihr ein Christ, mein Sohn?« fragte er, nachdem Gonçalves sie bekanntgemacht hatte, und ergriff Gils Hände. Dabei blickte er miss billigend auf dessen nackte Brust. »Natürlich bin ich ein Christ, Padre.« »Und seid Ihr dem Glauben treu geblieben?« Diese Frage ärgerte Gil ein wenig. Er entzog dem Priester seine Hän de und sagte: »So gut es einem Schiffsbrüchigen möglich ist.« 258
»Wenn Ihr bereit seid, werde ich Eure Beichte hören.« Darauf erwiderte Gil nichts, wenngleich ihm einige unhöfliche Ant worten durch den Kopf schossen. »Und jetzt mußt du uns deine Geschichte erzählen, Gil. Von An fang an.« Gonçalves umarmte ihn wieder. »Das muß eine erstaunliche Geschichte sein. Aber ich könnte nicht sagen, dass das Abenteuer dir nicht bekommen ist. Du bist so groß geworden, und du siehst auch wie ein richtiger Wilder aus! Als ich ihn das letztemal sah, Herr Kapitän, war er noch grün hinter den Ohren. Ich kann es nicht fassen. Von den Toten auferstanden. Es ist doch ein Wunder, oder nicht, Padre?« »Das wissen wir erst, wenn wir seine Geschichte gehört haben«, gab der Priester zurück. Als alle am Tisch des Kapitäns in der großen Kajüte im Achterkastell saßen, erzählte Gil von seinem Leben. Gonçalves saß auf der Bank ne ben ihm, der Kapitän am Kopf des Tisches in einem Stuhl, der Priester auf der Bank ihm gegenüber. Der Lotse und der Schiffsprofos waren an Deck geblieben, um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. »Und was ist aus diesem Bemba geworden?« fragte der Priester. »Mbemba.« »Mbemba. Was ist aus ihm geworden? Ist er getötet worden?« Gil schüttelte den Kopf. Zu Anfang seiner Erzählung hatte Gonçalves ihn häufig unterbro chen, um seinen Teil der Geschichte beizusteuern – wie die Leonor zum Zaire zurückgekehrt war, aber in Mpinda nur die beiden Hel lebardiere vorgefunden hatte, die vom Tod Gils und Pater Sebastiãos berichtet hatten, und so weiter. Aber als Gil in Fahrt geriet, sagte er nichts mehr, sondern lauschte ihm nur noch in staunender Bewun derung. Kapitän Bartolomeu Dias saß lässig in seinem Stuhl und hör te ebenfalls schweigend zu, allerdings mit weit geringerer Anteilnah me. Mit seinen traurigen Augen und dem abwesenden Ausdruck hat te er etwas seltsam Apathisches an sich, als ob der Schrecken, der seine Haare weiß gefärbt hatte, noch in ihm nachwirkte. Er ließ den jungen, blassen Priester mit dem scharf geschnittenen Gesicht das Gespräch führen, als wäre der Geistliche und nicht er der Befehlshaber. 259
»Ich hätte gedacht, sie würden ihn töten, weil er Euch geholfen hat. Was meint Ihr, warum sie das nicht getan haben?« »Er ist der Liebling seines Vaters, des Königs.« »Kennen sie solche Gefühle?« »Perdão?« »Diese Neger – kennen sie Gefühle wie Sohnesliebe?« »Sie empfinden mehr oder minder die gleichen Gefühle wie wir, Pa dre.« »Tatsächlich? Das ist ja interessant.« Der Priester verzog seine leuch tendroten Lippen zu einem leichten Lächeln. Dann wandte er sich an Gonçalves. »Nun, Dom Nuno, ich glaube, Ihr hattet recht.« »Womit, Padre?« »Es ist wirklich ein Wunder, dass Euer Freund überlebt hat. Wie wundersam sind doch die Wege des Herrn. Er hat Euren Freund all diese Jahre überleben lassen … Er hat Euch gerettet, Senhor Eanes, nicht nur um Eurer selbst willen, sondern auch, um uns bei dem Werk zu helfen, das Er uns aufgetragen hat.« »Und welches Werk ist das?« »Das Königreich der Kongo zu christianisieren.« »Das Königreich der Kongo? Was habt Ihr mit dem Königreich der Kongo zu tun? Ihr seid doch unterwegs zum Indischen Ozean und weiter nach Calicut. Oder vielleicht nicht? Nuno. Herr Kapitän. Seid Ihr nicht unterwegs nach Indien?« »Indien?« Plötzlich richtete sich Dias hellwach in seinem Stuhl auf. »Wie könnten wir nach Indien fahren? Der Weg nach Indien ist noch nicht ent deckt worden. Sie sagen, ich hätte ihn finden müssen. Sie sagen, schon Cão vor mir hätte ihn finden müssen. Der arme Cão. Zumindest blieb mir sein Schicksal erspart. Doch ich hätte den Weg gefunden, wenn Johann mir noch eine Chance gegeben hätte. Aber nein, er hat sie da Gama gegeben.« »Dom Bartolomeu, Ihr sprecht schlecht über Seine Majestät.« »Wirklich, Pater de Sousa? Ja, Ihr habt recht. Aber ich hadere mit ihm. Er hätte mir eine zweite Chance geben sollen.« »Er hat Euch eine zweite Chance gegeben. Dies ist Eure zweite Chan ce.« 260
»Wirklich? Vermutlich habt Ihr recht. Und wenn ich auch hierbei scheitere, werde ich zweifellos denselben Weg gehen wie der arme Cão.« »Ihr werdet nicht scheitern. Keiner von uns wird scheitern. Es ist Gottes Wille. Hat Er uns nicht durch dieses Wunder – das Überleben von Senhor Eanes – gezeigt, dass wir nicht scheitern werden?« »Vielleicht, Pater de Sousa. Vielleicht.« Damit ließ sich Dias wieder in seinen Stuhl zurücksinken. Was hatte er nur? Und was meinte er damit, dass er den gleichen Weg wie Cão gehen würde? Was war mit Diogo Cão passiert? »Nein, wir sind nicht auf dem Weg nach Indien, Senhor Eanes. Wir fahren zu den Kongo, um ihre Seelen zu retten und mit ihnen Handel zu treiben.«
»Es ist Wahnsinn, Nuno. Ich sage Euch, sie werden uns nicht an Land gehen lassen. Und wenn wir es trotzdem versuchen, werden sie uns ab schlachten.« »Das mag schon sein, Gil, aber was sollen wir tun? Wir sind auf Be fehl von König Johann hierhergesegelt.« Sie waren allein im Magazin im Achterkastell der Beatriz, und wie damals, vor vielen Jahren auf der Leonor, suchte Gonçalves in den Tru hen und Schränken nach passender Kleidung für Gil. Er konnte nicht immer halbnackt wie ein Wilder herumlaufen. »Aber König Johann weiß nicht, was ich weiß, Nuno. Dias kann mich nach unserer Rückkunft bei Hof vorstellen lassen, und dann kann ich alles erklären. Der König wird es verstehen. Außerdem ist ihm Vasco da Gamas Reise wichtiger als diese, das habt Ihr selbst gesagt.« »Aber Dias wird auf keinen Fall umkehren. Er fürchtet um sein Le ben. Er schätzt sich glücklich, dass er nicht das gleiche Schicksal wie Cão erlitten hat, als es ihm nicht gelang, am Kap der Guten Hoffnung vorbei nach Indien zu kommen. Und selbst wenn man ihn dazu über reden könnte, nach Hause zurückzufahren, würde Pater de Sousa das 261
nie zulassen. Der Priester ist sehr ehrgeizig. Für ihn ist das die große Chance, sich in Rom einen Namen zu machen. Hier, zieh das an.« Gil nahm das Hemd aus blauer Serge, das Gonçalves ihm hinhielt, zog es aber nicht an. Er blickte auf die Öllampe, die von einem Bal ken herabhing und im schlingernden Rhythmus des Schiffs hin- und herschwang. Sie machten rund vier oder fünf Knoten, Süd zu Ost. In wenigen Stunden, noch vor Einbruch der Nacht, würde die Beatriz die Mündung des Zaire erreichen. Er musste die Fahrt abbrechen. Er konnte nicht zu den Kongo zurück, nicht auf einem Schiff mit weißen Männern. Sie würden ihm die Schuld dafür geben. Sie würden sagen, dass er die ganzen Jahre über nur deswegen versucht habe, in seinen kleinen Vögeln fortzufliegen, um mit einem zweiten Schiff voll weißer Männer zurückzukehren. Und sie würden ihn umbringen. Sie würden alle umbringen. Aber wie konnte er Dias davon überzeugen? Gonçalves hatte ihm von Dias' Befürchtungen erzählt. Als die Leonor vor vielen Jahren (nämlich 1484) nach Lissabon zurückgekommen war, ohne den Seeweg nach Indien gefunden zu haben – sie war die Atlan tikküste nur noch dreihundert Leguas weiter nach Süden hinabgefah ren, bevor sie umkehrte –, war König Johann derart erzürnt gewesen, dass er Cão ins Gefängnis werfen ließ. Ob er, wie die Gerüchte gingen, den Kapitän auch hatte hinrichten lassen, wusste niemand zu sagen. Gonçalves bezweifelte es; er glaubte, Cão schmachte noch in einem feuchten Verlies des Palastes in Sintra. Doch eines stand fest: Man hat te nie wieder von ihm gehört. Da Johann von den Schwierigkeiten wusste, an denen Cão geschei tert war – nämlich, dass die Gegenwinde und Strömungen zunehmend stärker wurden, je weiter südlich man kam –, hatte er kurz den Vor schlag eines gewissen Christovão Colom erwogen, eines genuesischen Kapitäns, der zu jener Zeit in Lissabon lebte. Colom behauptete, man könne Indien nicht nur entlang der westafrikanischen Küste errei chen, sondern auch durch eine Überquerung des Atlantiks in westli cher Richtung. Doch schließlich hatte Johann diesen Plan verworfen, und Columbus war mit seiner Idee und seiner Empresa de las Indias beim spanischen Herrscherhaus vorstellig geworden. Dann erteilte der 262
portugiesische König Dias den Auftrag, zu vollbringen, woran Cão ge scheitert war. Und das wäre Dias 1488 beinahe auch gelungen. Er hat te das Prassum Promontorium an der Südspitze Afrikas umrundet – er nannte es Cabo Tormentoso, Kap der Stürme, doch Johann taufte es später um in Cabo Born Esperança, das Kap der Guten Hoffnung – und war auf der anderen Seite rund fünfzig Leguas weit hinaufgese gelt. Aber als es dann darum ging, quer über den Indischen Ozean zu segeln, hatte seine Mannschaft mit Meuterei gedroht. Das Schiff war leck, die Takelage zerfetzt gewesen; die Vorräte gingen zur Neige, und der Heimweg war sehr lang. Deshalb hatte Dias umkehren müssen. Der Empfang, der ihm bei der Ankunft bereitet wurde, fiel kaum herzlicher aus als bei Cão. Da er Afrika umrundet und den Indischen Ozean erreicht hatte – er war der erste Europäer, dem dies seit der An tike gelungen war, ja vielleicht der erste überhaupt –, entging er zwar der Verhaftung und Gefangenschaft, fiel aber dennoch in Ungnade. Die Aufgabe, die Reise nach Indien zu vollenden, wurde Vasco da Gama übertragen. In der Hoffnung, seinen Ruf zu retten, hatte Dias daraufhin um das Kommando der Beatriz gebeten, um den rio pode roso zu erforschen und im Königreich der Kongo eine Handelsnieder lassung zu gründen. Wie es da Gama ergangen war, konnte Gonçalves nicht sagen, da die Beatriz bereits abgesegelt war, bevor da Gamas Flot te zusammengestellt wurde. Dias jedenfalls war davon überzeugt, dass sein Leben vom Erfolg dieser Mission abhing. »Er würde lieber ruhmreich am Ufer des Zaire sterben als entehrt im Kerker von Sintra, Gil«, meinte Nuno Gonçalves. »Und das wird er auch, genau wie Ihr, Nuno. Wie wir alle.« In diesem Augenblick wurde die Schiffsglocke achtmal geschlagen. »Jetzt beginnt meine Wache, Gil«, sagte Gonçalves. »Teilst du sie mit mir? Du kennst diese Küste. Wenn ich mich richtig erinnere, sollten wir im Verlauf dieser Wache in lotbares Wasser kommen.« »Habt Ihr denn gar nicht gehört, was ich gesagt habe, Nuno? Wir dürfen nicht in den Zaire hineinsegeln. Wenn wir das tun, werden wir umgebracht. Wir müssen umkehren. Ihr müßt mir helfen, Dias davon zu überzeugen.« 263
»Er wird sich nicht überzeugen lassen. Er muß zumindest den Ver such wagen, an Land zu gehen. Das verlangt seine Ehre von ihm. Und wenn die Situation dann wirklich so gefährlich wird, wie du sagst …« »Was meint Ihr damit – wenn sie so gefährlich ist, wie ich sage? Glaubt Ihr mir nicht?« »Natürlich glaube ich dir, aber …« »Aber was?« »Du mußt doch zugeben, dass die Neger uns damals recht anständig behandelt haben.« »Aber jetzt ist es anders, glaubt mir doch. Sie denken, dass wir Bö ses bringen. Sie glauben, dass wir nur kommen, um ihnen ihre Körper und ihre Seelen zu stehlen. Dieses Mal werden sie uns nicht anständig behandeln. Dieses Mal werden sie uns töten.« »Das muß Dias selbst erkennen. Und Pater de Sousa auch. Jetzt komm mit mir an Deck und schiebe mit mir Wache.« »Ihr glaubt mir nicht. Ihr denkt, ich sage das nur, weil ich nicht mehr dorthin möchte. Weil ich nach Hause will.« Vielleicht war das auch wirklich der Fall. Vielleicht übertrieb er die Gefahren tatsächlich, weil er nie wieder zu den Kongo zurückkehren und nach all diesen Jahren nur noch nach Hause wollte. Mittlerweile hatte er das blaue Hemd angezogen, das Gonçalves für ihn herausge sucht hatte, und Beinkleider aus Sackleinen, aber er war noch immer barfuß, sein Messer hing am Gürtel, und auch Bogen und Köcher hat te er um die Schulter geschlungen. In diesem Aufzug folgte er Gonçal ves hinauf zum Achterdeck. Die Matrosen und Soldaten wichen vor ihm zurück und tuschelten. Er bot einen unglaublichen Anblick – halb portugiesischer Seemann, halb wilder Kongo. Die blasse Sonnenscheibe stand jetzt weniger als zwei Handbreit über dem wolkenverhangenen Horizont im Westen. Dias, Pater de Sousa und der Lotse Palva standen an Deck. Der Padre hatte gerade die neue Wache gesegnet, und Dias und Palva beugten sich wieder über eine Karte, die auf dem Tisch des Lotsen neben dem Kompasshaus ausge breitet war. Gil erkannte sie wieder: Es war die Karte von der Mün 264
dung des Zaire, die José Vinzinho, der Lotse der Leonor, vor zehn Jah ren gezeichnet hatte. »Senhor Eanes, Ihr seid sicherlich mit den Gezeiten und Strömun gen auf dem Zaire vertraut«, sagte Dias, als er von der Karte aufblick te. »Ebenso mit den Untiefen und Winden.« »So ist es, Herr Kapitän.« »Dann würde ich Euch um den Gefallen bitten, das Ruder zu über nehmen, wenn wir lotbares Wasser erreichen.« »Nein, Herr Kapitän, das tue ich nicht.« »Gil!« »Nein, Nuno. Ich werde uns nicht ins sichere Unglück lotsen.« »Warum ins sichere Unglück, senhor?« fragte Dias. »Warum beharrt Ihr darauf, dass uns eine Katastrophe erwartet? Wir sind gut bewaff net. Ich habe Kanonen und Falkonette an Bord. Und Soldaten, die im Handel mit Guinea sehr erfahren sind und viele Kämpfe mit den Ne gern ausgefochten haben. Ich fürchte, Ihr wart zu lange fort, senhor, und habt vergessen, was portugiesischer Stahl, Schießpulver und Sol daten bewirken können.« »Nein, Herr Kapitän, ich habe es nicht vergessen. Aber ich weiß, dass uns all das gegen die Kongo wenig nützen würde.« »Warum? Schaut her. Schaut Euch Cãos Karte an. Darauf sieht man, dass die Mündung des Flusses rund vierzig Leguas weit ohne Schwie rigkeiten schiffbar ist. Stimmt das nicht?« »Doch.« »Also kann ich den Fluss bis zu diesem großen Dorf hinaufsegeln, zu dieser Stadt … wie heißt sie? … Mpinda.« »Das ist möglich.« »Gut. Wenn die Neger dann wirklich so unfreundlich sind, wie Ihr sagt, und uns nicht an Land kommen lassen, dann kann ich mich vor Mpinda aufstellen und meine Geschütze einsetzen, bis ihr Widerstand gebrochen ist oder bis ich sie vertrieben habe.« »Und was hofft ihr, damit zu erreichen?« »Wie?« »Ich kann Euch sagen, was Ihr damit erreicht. Ihr werdet zunächst 265
sehr viele Menschen töten, aber dann werden sich Zehntausende ge gen Euch stellen. Und was wollt Ihr dann tun? Glaubt ihr, dass Ihr dann die Forderung des Königs erfüllen und eine Siedlung gründen könnt, um mit den Negern Handel zu treiben? Glaubt ihr, der Pater kann dann Gottes Auftrag erfüllen und ihnen den rechten Glauben beibringen?« »Er hat recht, Dom Bartolomeu«, warf Pater de Sousa ein. »Ich fürch te, er hat recht. Wenn wir Gewalt anwenden, werden wir nicht tun können, wozu wir hergekommen sind.« »Was schlagt Ihr also vor?« »Ich finde, das sollten wir Senhor Eanes fragen. Was schlagt Ihr vor, mein Sohn?« »Was ich die ganze Zeit schon vorgeschlagen habe, Pater. Kehrt um. Fahrt nach Portugal zurück. Ich werde dem König erklären …« »Nein, wir kehren nicht um. Wir fahren nicht nach Portugal zurück. So leicht geben wir uns nicht geschlagen. Verschwendet keinen weite ren Gedanken daran. Überlegt Euch etwas anderes.« »Was?« »Nachdem Ihr so lange unter diesen Negern gelebt habt, fällt Euch sicher etwas sein.« »Ich wüßte nicht, was.« »Was ist mit Mbemba, diesem Kongo-Prinzen, dem Liebling seines Vaters, des Kongo-Königs? Er war Euer Freund, dem Ihr einst das Le sen beibrachtet. Was ist mit ihm, mein Sohn?«
KAPITEL 3
D
ie Beatriz lag vor Topp und Takel in der kleinen Bucht, die Gil die Wasserfallbucht getauft hatte. Sie ankerte verborgen im Schutz der Klippen rund zwei Leguas nördlich der Nordspitze der Zaire-Mün dung. Dorthin hatte Gil sie gelotst. Mittlerweile hatte er seine geliehe 266
ne Seemannskluft wieder gegen seine Kanga vertauscht; sein Messer hing am Gürtel, Pfeil und Bogen hatte er sich über die Schulter ge schlungen. Sein Auslegerboot trieb an der Strickleiter befestigt im Wasser. Es war Nacht; dichte Wolken jagten vor dem soeben aufgegan genen abnehmenden Mond über den schwarzen Himmel. Kein Stern war zu sehen. »Ich habe Euer Wort, Herr Kapitän? Ihr werdet Euch nicht von hier fortbewegen, bis ich wiederkomme?« »Ihr habt mein Wort, senhor.« »Ihr seid in einem sicheren Hafen, Herr Kapitän. Am Wasserfall be kommt Ihr soviel frisches Wasser, wie Ihr wollt. Am Strand gibt es reichlich Brennholz und im Meer genügend Fische. Ihr werdet sehen, in der Abenddämmerung kommt allerlei Wild zu dem Tümpel unter halb der Wasserfälle, um zu trinken; das könnt Ihr erlegen, wenn es Euch nach frischem Fleisch verlangt. Es gibt also keinen Grund für Euch, diesen Ort zu verlassen, bis ich wiederkomme.« »Was schätzt Ihr, wann das sein wird?« »Das kann ich nicht sagen. Es ist durchaus möglich, dass ich von dem wahnsinnigen Unternehmen, zu dem Pater de Sousa mich über redet hat, nie mehr zurückkomme. Ich würde Euch raten, bis zum übernächsten Neumond auf mich zu warten. Wenn ich bis dahin nicht wieder hier bin, brecht nach Portugal auf. Fahrt auf keinen Fall in den Zaire ein. Denn dann bin ich mit Sicherheit gefangengenommen wor den, und wenn das geschieht, wissen die Kongo von Eurer Anwesen heit und werden Euch an den Ufern des Flusses mit einer großen Ar mee erwarten.« »Woher werden sie das wissen?« »Sie werden es von mir erfahren haben«, gab Gil trocken zurück. »Wenn mir ein Messer an die Kehle gesetzt wird, werde ich nicht den Helden spielen.« Dias warf Pater de Sousa einen Blick zu. »Darf ich nicht Eure Beichte hören, bevor Ihr geht, mein Sohn?« frag te der Geistliche. »Ich habe nichts zu beichten, Padre.« 267
Wieder umspielte ein dünnes Lächeln Pater de Sousas scharlachrote Lippen. »Dann möge Gott mit Euch sein, mein Sohn.« »Und mit Euch, Pater.« »Nimm mich mit, Gil.« »Nein, Nuno. Der beste Dienst, den Ihr mir erweisen könnt, ist, hier zubleiben und sicherzustellen, dass die Beatriz sich nicht vom Fleck rührt. Denn wenn die Kongo sie sehen, bevor ich zurückkomme, ist das mein sicherer Tod.« »Warum wollt Ihr mich beleidigen, senhor?« warf Dias gereizt ein. »Habe ich Euch nicht mein Wort gegeben?« »Ihr habt mir Euer Wort gegeben, Herr Kapitän, Pater de Sousa aller dings nicht.« Damit sprang Gil geschmeidig wie eine Raubkatze über die Backbordreling und kletterte die Strickleiter zu seinem Ausleger hinab. Er paddelte aus der Bucht ins Meer hinaus, setzte Segel und kreuz te hart Südwest zu Süd gegen den Südostwind. Das Licht des wolken verschleierten Halbmondes war fahl, aber es genügte. Seine Augen wa ren gut; all seine Sinne waren nach den vielen Jahren in der Wildnis geschärft. Er erspähte die Felsen entlang der Küste, die ihm gefähr lich werden konnten, die hohe Brandung, die sich an dem von Klip pen gesäumten Strand brach, die sandigen Untiefen. Er schmeckte das Salz in der feuchten Luft und roch den honigsüßen Duft der Bougain villeen, die an den Lagunen wuchsen. Er spürte die Nippebbe, die un ter dem Rumpf seines Bootes hinausströmte, und auch die nördliche Strömung; vom Land hörte er das Brüllen eines Löwen und das Bel len einer Hyäne, und er spürte die endlose Weite der See. Er fühlte sich wohl hier auf dem Meer vor der Küste und hatte Zeit, seinen Gedan ken nachzuhängen. Der Plan – Pater de Sousas Plan – war, Mbemba eine Botschaft zu kommen zu lassen. Anfänglich hatte Gil daran gedacht, den Geistli chen zu hintergehen. Er würde zum Zaire zurückfahren, sich eine Zeit dort versteckt halten, dann zur Beatriz zurücksegeln und berichten, Mbemba habe den Vorschlag abgelehnt. Dann könnte er Dias drän gen, nach Portugal zu segeln, und endlich nach Hause zurückkehren. 268
Aber er wusste, dass eine solche Schuljungenlist nicht aufgehen wür de. Gonçalves hatte recht. Der Padre und der Kapitän – den einen trieb Ehrgeiz, den anderen Angst – würden nicht umkehren, bevor sie nicht einen Landungsversuch unternommen hatten, wenn nötig auch mit Gewalt. Sie wollten hier die Fahne des Königs hissen und das Kreuz der Kirche aufrichten. Das würde zu einem Krieg führen, die Beatriz würde zerstört werden, und er würde nicht nach Portugal kommen. Also musste er den Vorschlag des Priesters in die Tat umsetzen und Mbemba die Botschaft zukommen lassen, dass die weißen Männer wieder erschienen waren. Vor langer Zeit, als Mbemba noch ein Junge war, hatte er sich ge wünscht, die weißen Männer würden wiederkommen. Als Erwachse ner hatte er diesen Wunsch jedoch nie mehr geäußert. Im Verlauf der Jahre, in denen der sanfte Prinz allmählich in seine Rolle als Heer führer seines Volkes hineinwuchs, war seine Erinnerung an die wei ßen Männer verblasst, und sein Staunen über ihren Zauber hatte sich verloren. Aber was würde geschehen, wenn er erfuhr, dass die wei ßen Männer tatsächlich wiedergekommen waren und nun an Bord ei nes anderen großen Schiffs mit Vogelflügeln warteten? Würde seine schlummernde Faszination wiederaufleben? Würde sein halb verges senes Staunen aufs neue geweckt werden? Würde er sich an den Ge danken erinnern, den er einst geäußert hatte – dass man viel Gutes von ihnen lernen könne? Oder war auch der Kongo-Prinz im Lauf der Zeit zu der Überzeugung gelangt, dass die Gaben der weißen Män ner keine himmlischen Geschenke waren, sondern etwas Böses, und dass sie deshalb aus dem Kongo-Reich vertrieben werden mussten? Gil wusste es nicht. Woher sollte er es auch wissen? Er würde es nur er fahren, wenn er Mbemba mitteilte, dass die weißen Männer wiederge kommen waren. Als er die Landspitze im Norden der Flussmündung erreichte, war der Mond bereits untergegangen, und Himmel, Wasser und Land la gen in tiefer Dunkelheit. Er holte das Segel ein, entfernte die Takelage, legte den Mast um und paddelte auf seine Insel zu, wobei er sich von 269
seinem Gefühl, den Gerüchen und Geräuschen leiten ließ. Es war er staunlich, wie gut er in der Dunkelheit zurechtkam, wie vertraut ihm diese Gewässer, dieses Land und dieser Himmel geworden waren. Hier war er zu Hause; die Insel war jetzt mehr sein Zuhause als Portugal. Nun, da es eine wirkliche Chance gab, dieses Land für immer zu ver lassen, kehrte er nicht mit dem üblichen Gefühl von Verzweiflung und Niedergeschlagenheit zurück, sondern mit einer überraschenden Auf wallung von Zuneigung, von unerwarteter Wehmut und einem Sinn für die wilde Schönheit der Insel. Hier war er zum Mann herange wachsen. Hier, im Land der Kongo, war er zu dem Mann geworden, der er war. Was für ein Mann würde er in Portugal sein? Auf der Insel war alles still. Sogar die Baumfrösche, die Zikaden und Eulen verstummten, als er plätschernd am Strand anlegte. Er warte te, bis wieder ihre leise nächtliche Musik ertönte, und horchte, ob er ir gendwelche ungewöhnlichen Geräusche vernehmen konnte – seine üb liche Vorsichtsmaßnahme. Als er nichts hörte, ging er auf das Haus zu. Warum hatte er dem Priester nicht gebeichtet? Hatte er keine Sün den begangen? Natürlich hatte er Sünden begangen. Dem christlichen Glauben zufolge hatte er millionenfach gegen Gottes Gebote versto ßen. Er hätte die Gelegenheit wahrnehmen müssen, zu beichten und wieder einmal die Worte zu hören, die ihm als Jungen so tröstlich er schienen waren: Ego te absolvo. Aber irgend etwas an diesem Priester behagte ihm nicht. Sein Ehrgeiz missfiel ihm. Doch es gab noch einen anderen Grund: Seine Sünden erschienen ihm gar nicht so schreck lich. Vielleicht hatte der Priester recht gehabt, ihn zu fragen, ob er Ka tholik sei. Vielleicht war er kein Katholik mehr. Vielleicht war er ein Heide dieses Flusses und Meeres geworden, ein Heide dieses Himmels, dieses Urwalds, dieser Kongo. Er betrat das Haus und warf einen Blick in das Zimmer der Frau. Sie schlief zusammengerollt mit dem Rücken zu ihm auf ihrem Strohl ager. Während er in dem niedrigen Eingang stand, wachte sie auf – er merkte es an ihren Atemzügen –, doch sie drehte sich nicht um. Sie tat, als würde sie weiterschlafen. »Nimi.« 270
Hätte er sie, wie sonst, einfach als Frau, als mchento, angesprochen, hätte sie vermutlich weiterhin Schlaf vorgetäuscht. Aber dass er sie bei ihrem Namen nannte, beunruhigte sie, und sie setzte sich auf. »Was? Was ist los?« Lange Zeit sagte er nichts. »Was ist los?« wiederholte sie gereizt. Doch als er sie weiter schwei gend ansah, weiteten sich ihre Augen, und ihr Ärger legte sich. Sie be griff, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. »Was ist passiert?« fragte sie. Er trat in den Raum, hockte sich neben ihren Strohsack und fasste sie mit ungewohnter Zärtlichkeit an den Schultern. Sie erschauderte unter seiner Berührung. »Was ist passiert? Was willst du von mir?« »Ich brauche deine Hilfe.« »Wofür?« »Wenn du mir hilfst, Nimi, verspreche ich dir etwas. Du wirst frei sein, wirst mich und diese verfluchte Insel nie mehr wiedersehen, wirst zu deiner Familie zurückgehen können. Aber wenn du mir nicht hilfst, wenn du mich verrätst, verspreche ich dir das.« Damit fuhr er mit sei nen großen Händen über ihre Schultern zum Hals und umschloss, zärtlich wie einst der Geliebte, ihre Kehle mit seinen Fingern. »Dann bringe ich dich um.« Sie rührte sich nicht. Ihr Atem ging etwas heftiger, aber sie hatte keine Angst. Kühn hielt sie seinem Blick stand. Nein, sie hatte keine Angst, weder vor ihm noch vor dem Tod. Wie immer ergab sie sich in ihr Schicksal. »Wobei soll ich dir helfen?« Er nahm seine Hände von ihrem Hals und kauerte sich wieder auf die Fersen. »Ich muß zu Mbemba. Ich muß Mbemba finden und mit ihm sprechen.« »Warum?« »Wie ich schon sagte – um uns zu befreien. Um uns beide zu befrei en, voneinander und von diesem verfluchten Ort.« »Wie kann uns das befreien? Du hast schon oft mit Mbemba gespro chen, und er hat nie eingewilligt, uns freizulassen.« 271
»Dieses Mal wird es anders sein.« »Und warum?« Wieviel konnte er ihr sagen, dieser Frau, die ihn für ihr schmachvol les Leben verantwortlich machte? Inwieweit konnte er ihr vertrauen, dieser Frau, der er so lange mit liebloser Verachtung begegnet war? »Was ist passiert, damit es anders sein wird?« »Es ist ein Geheimnis, Nimi, ein schreckliches Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das nur Mbemba hören darf.« Sie wartete darauf, dass er weitersprach. Ihr zahnloser Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepreßt, ihr ledernes Gesicht war aus druckslos. »Erinnerst du dich an das bwato mit den großen Flügeln, das mich hergebracht hat?« Sie nickte. »Es ist wiedergekommen. Es ist gekommen, um mich nach Hause zu bringen, zu meinem Land am anderen Ufer des Meeres. Und wenn ich fort bin, dann bist du frei und kannst nach Hause zurückkehren.« Sie schwieg. »Aber du weißt auch, was Mpanzu tun würde, wenn er davon erfährt. Du weißt, was seine Mutter, die Mbanda Vunda, und der NgangaKon go tun würden, wenn sie das erfahren.« Sie nickte wieder. »Dann weißt du, warum es ein schreckliches Geheimnis ist.« »Ja.« »Also? Wirst du mir helfen, nach Mbanza Kongo zu gehen und mit Mbemba zu sprechen?« »Wann willst du aufbrechen?« »Jetzt. Noch in dieser Nacht.« Sie stellte keine weiteren Fragen. Sie stand nur auf, legte ihre Kanga an und holte einen Korb mit einigen Dingen für die Reise. Sie überquerten den Fluss zum Festland in seinem Fischerboot. Da nach versenkte er es mit Steinen im sumpfigen Altwasser am südlichen Flussufer und hoffte, die Soyo-Jungen aus Mpinda würden es nicht fin den, damit er es auf dem Rückweg wieder verwenden konnte. Dann 272
brachen sie nach Mbanza Kongo auf, allerdings nicht auf der Königs straße östlich von Mpinda – das wäre Wahnsinn gewesen –, sondern von der Meeresküste im Westen durch den Wald der Mbata. Er behielt sie scharf im Auge. Obwohl sie ihm willig folgte, vertraute er ihr nicht ganz. Er kannte ihre Gefühle für ihn nur allzu gut. Aller dings brauchte er auf dem Weg nach Mbanza Kongo kaum zu befürch ten, dass sie ihn verraten würde – schließlich war sie unterwegs genau so in Gefahr wie er. Es war ihr ebenso wie ihm verboten, die Insel zu verlassen, und wenn man sie gefangennahm, würde sie genauso wie er bestraft werden. Aber in Mbanza Kongo war sie unter ihren eigenen Leuten, und dort hatte sie weniger zu befürchten. Genau darin lag sein Problem. Er brauchte sie eben deshalb, weil sie in Mbanza Kongo zu Hause war – nur ihre Familie konnte ihm helfen, Mbemba eine Nach richt zukommen zu lassen. Doch unter ihren Leuten hatte sie auch die beste Chance, ihn zu verraten.
»Psst.« »Was ist?« »Jäger kommen vorbei. Psst.« Er kroch wieder in die Hütte. Sie blieb mit einem Korb voller Pilze auf der Hüfte draußen stehen. Hinter ihrer Gestalt verborgen, konnte Gil die Jäger sehen, die auf einem Wildwechsel keine hundert Fuß von ihnen entfernt durch den Wald gingen. Offenbar hatten sie irgendwo in der Nähe eine Elefantenfalle gebaut und Jagdglück gehabt. Zwei der Männer trugen die riesigen gelblichen Stoßzähne eines ausgewachse nen Bullen, die anderen waren mit großen, blutigen Fleischstücken be laden, die Schwärme von schwarzen Fliegen anlockten. Die Männer warfen der Frau im Vorübergehen nur einen kurzen Blick zu – es war nichts Ungewöhnliches, einige Leguas südwestlich von Mbanza Kon go einer Frau beim Pilzesuchen zu begegnen. »Kommt er?« fragte Gil, sobald die Jäger verschwunden waren. »Nein. Er wird nach dir schicken lassen.« 273
»Nach mir schicken lassen? Ich soll in den königlichen Bezirk?« »Ja.« »Nein, das ist zu gefährlich. Warum kann er nicht hierherkommen? Das wäre besser.« »Ich weiß es nicht. Das hat man mir nicht gesagt.« »Was hat man dir gesagt? Stell deinen Korb ab und erzähl mir alles, was sie dir gesagt haben.« Sie hatten sich Mbanza Kongo von Westen her genähert, waren durch die aufgegebenen Eisenerzbrüche am Steilhang zum Plateau des königlichen Berges hinaufgestiegen und hatten hier ein Lager errich tet, genau in den Wäldern, in denen man ihn vor so vielen Jahren dem sicheren Tod ausgeliefert hatte. Das Haus am Ufer des Luezi, wo er vor zehn Jahren auf Mbemba gewartet hatte, der ihn zum ManiKon go bringen sollte, wo Nimi das erstemal zu ihm gekommen war, wo ihre Schwestern, ihre Mutter und Tante, das kleine Kind und die zwei Jungen lebten (nur waren sie jetzt keine Kinder mehr, und Mutter und Tante konnten inzwischen gestorben sein) – dieses Haus lag etwa vier Leguas nordöstlich von der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sobald sie die kleine Hütte gebaut hatten, war sie dorthin auf gebrochen. Das war vor fünf Tagen gewesen, und er hatte ihre Rück kehr mit großer Spannung erwartet. Mittlerweile brachte er ihr wesentlich mehr Vertrauen entgegen als am Anfang der Reise. Er hatte auch allen Grund dazu. Während ih res Marsches durch den Urwald der Mbata und über das offene, hü gelige Land der Nsundi hatte sie sich als eine umsichtige Gefährtin erwiesen, die Gefahren zu vermeiden wusste. Sie hatte gejagt und Beeren und Wurzeln gesammelt, sie hatte Plätze gefunden, wo sie sich verbergen konnten. Sie hatte das Kanu gestohlen, mit dem sie den Lelunda am Fuß des Steilhangs überquert hatten, und den klu gen Vorschlag gemacht, es anschließend Flussabwärts treiben zu las sen, damit man ihnen nicht so leicht nachstellen konnte, wenn der Diebstahl entdeckt wurde. Sie war es auch gewesen, die sich an den Aufstieg durch die alten Eisenerzbrüche erinnert hatte. Offenbar war ihr sowohl die Gefährlichkeit dieses Unternehmens bewusst als auch 274
der mögliche Gewinn, und sie war bereit, das eine auf sich zu neh men, um das andere zu bekommen. Dennoch hatte er mit wachsen der Unruhe darauf gewartet, dass sie endlich vom Haus ihrer Fami lie wiederkam. Alles mögliche hätte missglücken können. Wenn nicht sie ihn ver riet, dann konnte immer noch jemand anderer sie verraten. Da sie nicht selbst die Brücken über den Luezi überqueren durfte, um in den königlichen Bezirk zu gelangen, und auch nicht die Palisaden des kö niglichen Anwesens passieren durfte, um Mbemba die Nachricht zu überbringen, musste sie jemanden finden, der das für sie tat. Allein damit konnte sie Verdacht erregen. Ihr Plan war gewesen, ihre ältere Schwester als Vertraute zu gewinnen. Als sie sie das letztemal gesehen hatte, vor zehn Jahren, war die Schwester die Frau eines Kriegers in Mbembas Leibwache gewesen. Aber möglicherweise war die Schwester nun nicht mehr die Frau des Kriegers, oder dieser gehörte nicht mehr der Leibwache des Prinzen an; und selbst wenn alles beim alten ge blieben war, konnte einer der beiden sich weigern, sich an einem der art gefährlichen Unternehmen zu beteiligen. Die andere mögliche Bo tin war die Tante, der das Haus auch gehörte. Der Grund, weshalb Gil einst dort auf Mbemba gewartet hatte, war, dass die Tante als Dienerin im Haus von Mbembas Mutter, der Mbanda Lwa, arbeitete. Aber ob sie überhaupt noch lebte, ob sie noch immer der zweiten Königin diente und ob sie ihrer Nichte zuliebe ihr Leben aufs Spiel setzen würde, das war nach all diesen Jahren ungewiß. »Mir wurde gesagt, dass er nach dir schicken würde.« »Wer hat dir das gesagt? Deine Schwester?« »Nein, meine Tante.« »Sie ist zu Mbemba gegangen?« »Nein, sie ist zur Mbanda Lwa gegangen.« »O nein.« »Wieso?« »Ich weiß nicht, ob das klug war. Was hat sie zur Mbanda Lwa ge sagt?« »Dass du mit Mbemba sprechen möchtest.« 275
»Nicht mehr? Sie hat nichts von dem bwato mit den großen Flügeln gesagt?« »Sie weiß nichts von dem bwato mit den großen Flügeln. Ich habe ihr nichts von dem bwato mit den großen Flügeln gesagt. Ich habe nie mandem davon erzählt. Du hast gesagt, es ist ein schreckliches Ge heimnis, das nur Mbemba erfahren darf.« »Das stimmt. Das hast du gut gemacht. Und dann? Was ist dann pas siert? Was hat die Mbanda Lwa gesagt, als deine Tante ihr erzählte, dass ich mit Mbemba sprechen möchte?« »Dass Mbemba nach dir schicken würde.« »Das hat die Mbanda Lwa gesagt? Nicht Mbemba?« »Meine Tante hat nicht mit Mbemba gesprochen. Nur mit der Mban da Lwa.« Gil spähte durch den niedrigen Eingang der Hütte. Der Mond, der fahl hinter den Wolken hervorschien, war fast voll. Die Beatriz würde warten, bis Neumond war. »Wie lange ist das her?« fragte er. »Drei Tage.« »Das war vor drei Tagen, und Mbemba hat immer noch nicht nach mir geschickt?« »Er wird dich nicht von hier abholen lassen.« »Von wo dann?« »Er weiß nicht, dass du hier bist; er weiß überhaupt nicht, wo du bist. Das weiß niemand. Auch das habe ich niemandem gesagt.« »Du passt gut auf mich auf, Nimi.« »Er wird dich vom Haus meiner Familie abholen lassen. Meine Tan te sagte der Mbanda Lwa, er solle dorthin nach dir schicken. Ich wer de da sein. Und wenn die Leute, die dich abholen wollen, wirklich von Mbemba kommen, führe ich sie hierher. Wenn nicht …« Ihre Stimme erstarb. »Dann vertraust du der Mbanda Lwa auch nicht?« Sie zuckte die Achseln. »Ich gehe jetzt wieder zum Haus meiner Fa milie.« »Ich komme mit.« »Nein, dort ist es zu gefährlich für dich. In dieser Hinsicht vertraue 276
ich auch meiner Familie nicht«, erwiderte sie. Dann verließ sie geduckt das Versteck und verschwand im schwachen Mondlicht des Urwalds. Gil blickte ihr nach. Doch, er vertraute ihr, aber er wusste auch, dass Nimi – wenn die Mbanda Lwa sie beide verriet –, ihn genauso wenig schützen konnte wie sich selbst. So groß ihr Mut auch sein mochte, man würde sie doch zwingen, seinen Aufenthaltsort zu verraten. Da mit musste er rechnen. Deshalb ließ er ihr einige Minuten Vorsprung und machte sich dann auf, ihr zu folgen. Der Mond war schon untergegangen, als sie den Stadtrand erreich ten, wo der Dschungel endete und man bestellte Äcker und die ersten Häuser erblickte. Als sie durch ein Feld mit mannshoch stehendem Getreide gingen, schritt er aus Angst, Nimi in der Dunkelheit zu ver lieren, schneller aus, um den Abstand zu ihr zu verringern. Er kannte die Stadt nicht und hätte sich in dem Gewirr von Gärten, Marktplät zen und engen Gäßchen leicht verirren können. Außerdem ging er da von aus, dass sie auf Schleichwegen zu dem Haus am Flussufer gehen würde, um möglichst von niemandem gesehen zu werden. Aber das tat sie nicht. Mit dem Korb voll Pilzen auf dem Kopf ging sie zielstrebig auf den Fluss zu. Ihr dorthin zu folgen war zu gefähr lich: Krieger bewachten die Brücken zum königlichen Bezirk. Er ließ sie weitergehen und sah sich um. Trotz der späten Stunde waren noch Leute unterwegs. In der Nähe einer Einfriedung mit Rindern brannte ein Feuer, an dem Männer lagerten und malafu tranken. Auf der Ve randa eines kleinen Hauses stand eine Frau und stillte ein Kleinkind. Direkt vor ihm lag ein Marktplatz, wo mehrere Frauen zwischen ihren Körben und Bündeln auf dem Boden schliefen, damit sie gleich bei Ta gesanbruch ihre Verkaufsstände errichten konnten. Aus einer kleinen Straße drang gedämpftes Lachen zu ihm herüber. Gil zog sich an den Waldrand zurück und dachte über seine Lage nach. Er war ihr gefolgt in der Absicht, einen prüfenden Blick auf die Per son zu werfen, die ihn im Haus abholen sollte, und zwar bevor Nimi diese Person – oder auch mehrere – bereitwillig oder unter Zwang zum Lager im Wald führte. Wenn er sah, dass diese Leute nicht von Mbem ba geschickt waren, hätte er noch genügend Zeit gehabt, um zu fliehen. 277
Aber vielleicht war es ja gar nicht notwendig, zu Nimis Haus zu gehen, um sich diese Leute anzuschauen. Vielleicht konnte er das auch hier im Wald tun, wenn sie zu seinem Versteck gingen. Vermutlich würde Nimi für den Rückweg wieder dieselbe Route wählen; also konnte er hier warten und die Leute in Augenschein nehmen. Genau das passierte auch. Beinahe hätten sie ihn sogar überrum pelt, weil er nicht so bald mit ihnen gerechnet hatte. Nur wenige Stun den waren vergangen; die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er hat te sich auf eine viel längere Wartezeit eingestellt und war auf einen Baum geklettert. Als er sie hörte, schwang er sich wie ein Affe zu Bo den und rannte tiefer in den Wald hinein. Sie kamen um die Biegung der kleinen Straße, wo er zuvor Lachen vernommen hatte. Nimi ging vornweg, gefolgt von zwei Männern. Ihrem Alter und Aussehen nach konnten sie Krieger sein, aber sie waren offenbar unbewaffnet. Einer trug eine lange Stange, wie sie zum Staken von Fischerkanus in seich tem Wasser verwendet wurden, der andere hatte sich ein großes Tuch aus geschlagener Baumrinde über die Schulter geworfen; möglicher weise war es auch ein Netz. Waren es Fischer? Nimi trug wie zuvor ih ren Korb auf dem Kopf. Sie ging rasch, und die Jungen Männer mussten sich bemühen, mit ihr Schritt zu halten. Gil deutete das als ein gutes Zeichen. Nimi schien es eilig zu haben, den Lagerplatz im Wald zu erreichen, und machte nicht den Eindruck, als ginge sie gegen ihren Willen dorthin. Ein gutes Zei chen war auch, dass sie so bald wiedergekommen war. Wenn die Män ner nicht von Mbemba geschickt worden wären, hätten sie bestimmt länger gebraucht, um Nimi zu zwingen, sie zu Gils Versteck zu führen. Er schlich durch die Bäume und behielt die kleine Gruppe dabei ständig im Auge. Als sie den Marktplatz überquerte, wachten die dort schlafenden Frauen auf. Nimi warf ihnen über die Schulter einen Blick zu und machte eine abwehrende Geste, ohne ihren Schritt zu verlang samen. Offenbar hatte eine der Marktfrauen ihr etwas zugerufen. Dann traten die drei in den Lichtkreis des Feuers an der Einfriedung mit den Rindern, und Gil erkannte die Farben der Kangas, die Nimis Beglei ter trugen: blassgrün mit roter Einfassung. Also mussten sie trotz ihrer 278
erstaunlich jungen Jahre zu Mbembas Kriegern gehören. Als sie durch das mannshohe Hirsefeld gingen, verlor Gil sie für einige Minuten aus den Augen, doch dann tauchten sie am Waldrand wieder auf. Dort blieb Nimi stehen und blickte zurück; offenbar wollte sie si chergehen, dass niemand ihnen folgte. Auch die beiden jungen Män ner sahen sich um. Nimi sagte etwas zu ihnen. Gil trat näher. Die bei den waren wirklich sehr jung und hörten Nimi aufmerksam zu, als wäre sie ihre Mutter oder eine andere ältere Verwandte. Sie deutete zu erst in eine, dann in eine andere Richtung. Daraufhin ging der Jun ge mit der langen Stange allein in den Wald. Kurze Zeit später schick te Nimi den zweiten nach. Auch das war ein gutes Zeichen. Wenn die beiden sie gezwungen hätten, sie zu führen, würden sie sie niemals al lein zurücklassen. »Nimi.« Sie fuhr zusammen. »Hier bin ich.« »Gil Janesch?« »Ja.« »Du hast mir einen großen Schrecken eingejagt«, sagte sie, als er sie am Arm packte und zwischen die Bäume zog. »Ist alles in Ordnung?« »Ich glaube schon.« »Kommen sie von Mbemba?« »Das sagen sie zumindest. Sie tragen die Farben seines Haushalts.« »Aber du bist dir nicht sicher? Erkennst du sie nicht wieder?« »Wie sollte ich? Schau sie dir doch an. Sie sind fast erwachsen. Als ich mit dir weggeschickt wurde, waren sie noch kleine Kinder. Sie sagen, sie seien meine Vettern.« »Deine Vettern?« »Erinnerst du dich an die zwei kleinen Jungen im Haus meiner Tan te, als du dort gewohnt hast? In dem Haus am Luezi? Das sind die bei den – zumindest behaupten sie das. Sie sagen, Mbemba hätte sie ge schickt, weil er glaubt, dass du sie wiedererkennst und ihnen deshalb vertraust.« 279
»Und deine Tante war nicht zu Hause, um dir zu sagen, ob es ihre Söhne sind?« »Nein.« »Wo war sie?« »Bei der Mbanda Lwa.« Gil blickte den jungen Männern nach. Der erste war bereits im Dun kel des Urwalds verschwunden. Der zweite mit dem Tuch über der Schulter warf immer wieder einen Blick zurück. »Wohin hast du sie geschickt?« »Zu der Lichtung weiter vorne. Ich sagte, sie sollten dort auf mich warten. Ich wollte sehen, ob sie mir gehorchen.« »Das tun sie wohl.« »Ja. Ich glaube, sie sind wirklich die, für die sie sich ausgeben. Sonst hätte ich sie auch gar nicht zu dir gebracht.« »Das weiß ich, Nimi«, erwiderte Gil. Er zog sein Messer aus der Schei de und trat aus dem Gebüsch. »Mbakala«, rief er leise. »Junge.« Der junge Mann mit dem Tuch über der Schulter blickte zurück, sah Gil und erstarrte. Gil ging rasch mit ausgestrecktem Messer auf ihn zu, und als er ihn erreichte, schlug er ihm mit der flachen Hand auf die Brust. Der Hieb war so kräftig und unerwartet, dass der Junge rück wärts zu Boden fiel. Im nächsten Augenblick kniete Gil auf ihm. »Gil Janesch«, schrie Nimi auf. »Was machst du da?« »Hol seinen Bruder, Nimi. Bring ihn her«, befahl Gil, drückte dem Jungen ein Knie auf die Brust und hielt ihm sein Messer an die Keh le. »Sag die Wahrheit, mbakala. Wenn dir dein Leben lieb ist, sag die Wahrheit.« »Ja, Gil Janesch.« »Bist du vom Haushalt des MtuKongo, Mbemba a Nzinga?« »Ja, Gil Janesch.« Er war außer sich vor Furcht. In seinen Augen stand nackte Angst, Schweiß strömte ihm über das Gesicht. Gil konnte sich leicht vorstel len, was der arme Junge dachte: Der böse weiße Prinz, der vom Him mel gefallen war, das entsetzliche Wesen aus den Märchen der Zau berer hatte ihn gefangen und würde ihm nun seine Seele rauben. Gil 280
blickte auf und sah, dass Nimi den zweiten Jungen hergebracht hat te. Auch er starrte Gil an, als begegne er leibhaftig dem Dämon seiner schrecklichsten Alpträume. »Hast du mich schon einmal gesehen, Junge?« herrschte Gil ihn an. »Ja, Gil Janesch.« »Welche Kleidung habe ich getragen, als du mich gesehen hast?« »Eisen und Stahl«, stieß der junge Mann hervor. »Einen Kopfschmuck aus Eisen und ein Gewand aus Stahl.« Gil nahm sein Knie von der Brust des Jungen und hockte sich neben ihn. »Und ihr seid gekommen, um mich in den königlichen Bezirk zu bringen?« »Ja, Gil Janesch.« »Wie wollt ihr das anstellen?« »Sie werden dich als Leiche hineintragen«, erklärte Nimi. Sie nahm dem einen Jungen die lange Stange ab, dem anderen das Tuch aus geschlagener Rinde. In den Stoff sollte Gil eingenäht wer den – Nadel und Faden hatte Nimi in ihrem Korb –, und dann sollte er, an der Stange hängend, von den beiden Jungen über den Luezi ge tragen werden. »Niemand wird Fragen stellen«, fuhr Nimi fort. »Niemand stellt Fra gen über die Toten im Haus eines Prinzen.« »Und du?« »Ich werde an unserem Lagerplatz im Wald auf dich warten.« »Wie lange?« »Bis du kommst und mich befreist.«
KAPITEL 4
M
banda Lwa …« »Aus dem Jungen, den ich einstmals gesehen habe, ist ein kräftiger Mann geworden, Gil Janesch. Tritt näher und lass dich betrachten.« 281
»Mbanda Lwa, bei allem Respekt, aber mir wurde gesagt, ich wür de zum MtuKongo gebracht werden, deinem Sohn Mbemba a Nzinga, und nicht zu dir, seiner Mutter.« »Das wirst du auch, Gil Janesch.« »Wann?« »Sobald er zurückkommt.« »Er ist also nicht hier? Weiß er nicht, dass ich nach Mbanza Kongo gekommen bin, um mit ihm zu reden?« »Nein. Aber er wird bald zurückkommen, und dann wird man es ihm sofort sagen.« »Dann hast also du diese Jungen zu mir geschickt und sie in Mbem bas Farben gekleidet, um mich zu täuschen.« »Eine kleine List, verzeih mir. Aber als meine Dienerin mir sagte, du seist in Mbanza Kongo, hielt ich es für besser, dich hier bei mir auf Mbembas Rückkehr warten zu lassen als irgendwo im Wald, wo man dich jederzeit entdecken könnte.« Er glaubte ihr nicht. Er glaubt ihr kein Wort – weder, dass sie ihn hierher gelockt hatte, um ihn zu schützen, noch, dass Mbemba nicht in Mbanza Kongo war –, aber er sagte nur: »Es ist sehr freundlich von dir, Mbanda Lwa, dass du dich um meine Sicherheit sorgst.« »Ja, das ist wirklich freundlich von mir, und deswegen brauchst du auch gar nicht so ängstlich um dich zu blicken. Hier wird dir nichts passieren. Du und ich, wir haben dieselben Feinde, Gil Janesch. Setz dich.« Er nahm mit gekreuzten Beinen auf dem Stapel Matten Platz, auf den sie deutete; sie saß ihm mit untergeschlagenen Füßen gegenüber und ließ sich in ihre Kissen sinken. Natürlich war sie zehn Jahre äl ter geworden, seitdem er sie das letztemal gesehen hatte; ihre Taille war fülliger, der Busen faltiger, das Kinn fleischiger geworden, aber sie war noch immer eine auffallend schöne Frau mit feinen Gesichtszü gen, einem honigfarbenen Teint und großen Augen mit langen Wim pern, unter denen hervor sie ihn aufmerksam betrachtete. Sie trug drei samtene Röcke übereinander, die jeweils in einem anderen Braun ge halten waren; der erste ging ihr bis zu den Knöcheln, der zweite bis zu 282
den Knien, und der dritte war praktisch nur eine Schürze. Um ihren Kopf war ein Turban in ganz hellem Braun gewickelt, während die lose fallende, mit Kaurischnecken besetzte Bluse im dunkelsten Braunton gehalten war. Als Schmuck trug sie Halsketten und Armreifen aus El fenbein und Messing. Zweifellos war es nicht ihr festlichstes Gewand, aber doch wesentlich prächtiger als die Kleidung, in der sie ihn beim letztenmal in diesem Raum empfangen hatte. Es war dasselbe Zimmer, ihr Refugium im hinteren Teil ihres Pa lastes, ebenso karg eingerichtet wie damals – der Raum, in dem sie ihre Pläne und Ränke schmiedete. Die beiden jungen Männer, die Gil hergebracht hatten, waren eilig verschwunden, sobald sie ihn aus dem Rindentuch befreit hatten. Außer der Mbamba Lwa und Gil war nur noch eine alte Dienerin im Raum, die außerhalb des Lichtkegels der einzigen Palmöllampe im Dunkel stand. War sie Nimis Tante, die Mutter der beiden, die ihn hierhergetragen hatten? Wenn sie es war, dann wussten vielleicht wirklich nur wenige Menschen, dass er sich in Mbanza Kongo aufhielt. »Ich freue mich, dass du gekommen bist, Gil Janesch. Es war zwar sehr töricht von dir, hierherzukommen, aber trotzdem freut es mich.« »Warum, Mbanda Lwa?« »Weil ich mich oft gefragt habe, wie die Männer deines Volkes aus sehen. Ich habe sie nicht gesehen, als sie hier waren. Ich habe nur dich gesehen, aber du warst noch ein Junge. Jetzt sehe ich dich als Mann. Ich habe gehört, dass die Männer bei euch Haare im Gesicht haben, und ich dachte mir, wie hässlich das aussehen muß. Aber jetzt, da ich sie auf deinem Gesicht sehe, finde ich sie gar nicht so hässlich.« Sie beugte sich vor und strich ihm zart mit dem Handrücken über den Bart. »Nein, gar nicht so hässlich. Weich und gelb wie eine Löwenmäh ne.« Während sie das sagte, lachte sie leise und lehnte sich dann wieder in ihre Kissen zurück. »Ja, ich freue mich, dass du gekommen bist, Gil Janesch, und ich endlich mit eigenen Augen sehen kann, wie ein Mann mit Haaren im Gesicht aussieht. Aber das ist nicht der Grund, warum du gekommen bist.« »Nein, Herrin.« 283
»Du bist gekommen, um mit meinem Sohn zu sprechen. Aber wor über willst du mit ihm sprechen? Es muß etwas sehr Bedeutsames sein, wenn du deshalb sogar dein Leben aufs Spiel setzt.« »So ist es in der Tat.« »Und worum handelt es sich?« Er legte den Kopf zur Seite und schwieg. »Du willst es mir nicht sagen? Nein, natürlich nicht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du es mir sagen würdest, als ich dich holen ließ. Ich wusste, dass ich es selbst erraten muß.« Sie hatte etwas Verführerisches an sich, wie sie sich vorbeugte, um ihn zu berühren; wie sie sich lässig wieder in ihre Kissen sinken ließ, die Füße untergeschlagen wie ein Mädchen, und wie sie ihn jetzt ko kett anlachte. Aber dieses Verführerische hatte auch etwas Verschla genes. Sie wollte herausfinden, warum er nach Mbanza Kongo gekom men war, denn möglicherweise ging es um etwas, das ihr bei ihren endlosen Intrigen und Ränken nützlich sein könnte. Mbemba hatte Gil oft von ihrer rastlosen Seele erzählt und von ihrer Vorliebe, Pläne zu schmieden. Bestimmt hätte Mbemba ihr nicht mitgeteilt, dass Gil in Mbanza Kongo war; aus Furcht, dass sie versuchen würde, Gil für ihre Pläne zu benutzen. »Ja, ich wusste, dass ich es selbst erraten muß. Soll ich es versu chen?« »Wenn du willst.« »Die weißen Männer sind von ihrem Land am anderen Ufer des Meeres wiedergekommen.« Gil bemühte sich, seinen Schrecken zu verbergen, aber sein Herz setzte einen Schlag aus. Woher konnte sie das wissen? Nimi hatte ge schworen, dass sie es niemandem erzählt hatte. Sie konnte es einfach nicht wissen. Sie hatte nur geraten. Aber sie war eine schlaue Frau. »Habe ich richtig geraten? Ist das der Grund, warum du unter Le bensgefahr nach Mbanza Kongo gekommen bist? Um Mbemba zu sa gen, dass die weißen Männer wiedergekehrt sind? Wenn das stimmt, würde es mich ebenfalls freuen.« »Damit du die Haare auf ihren Gesichtern sehen kannst?« 284
»Das«, erwiderte sie leise lachend, »und um zu lernen, wie man ih ren Zauber anwendet.« »Um zu lernen, wie man ihren Zauber anwendet? Denkst du immer noch an die Schrift? Nach all dieser Zeit?« »Warum nicht? Es ist ein starker Zauber, oder nicht? Hast du mir nicht einmal gesagt, es sei ein stärkerer Zauber als der des NsakuSoyo, sogar als der des NgangaKongo?« »Das stimmt, Mbanda Lwa. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du mir glaubst, da ich dir nicht zeigen konnte, wie man ihn anwendet.« »Aber wie hättest du mir das zeigen können? Du hast mir doch auch gesagt, dass nur ein Priester deines Volkes mir das zeigen könnte. Und du bist kein Priester, Gil Janesch.« »Nein, ich bin kein Priester, Mbanda Lwa.« »Ich habe oft gedacht, wenn die weißen Männer jemals wiederkom men sollten, würden sie vielleicht einen Priester mitbringen, der mir zeigen kann, wie man diesen starken Zauber anwendet.« »Für Mbemba? Damit er Mpanzus Platz einnimmt?« Wieder lachte sie ihr kehliges, trillerndes Lachen und sagte: »Ja, für Mbemba. Damit er Mpanzus Platz einnimmt.« »Würde das auch Mbembas Wunsch entsprechen?« »Mbemba spricht nicht mehr von den weißen Männern und hat mir verboten, sie jemals zu erwähnen. Er befürchtet, das könnte nach dem Tod seines Vaters, des ManiKongo, zu Schwierigkeiten führen.« »Aber du hast keine Angst.« »Nein, ich habe keine Angst.« »Das sehe ich. Du bist eine Frau, die sich nicht leicht einschüchtern läßt. Dennoch bin ich überrascht, dass du nach all dieser Zeit noch an den Zauber der weißen Männer denkst. Ich bin erstaunt, dass du das nicht schon längst vergessen hast.« »Wie hätte ich es vergessen können, wenn mich ständig etwas daran erinnert … das Geschenk, das du auf meinen Wunsch hin zurückge lassen hast, bevor du fortgeschickt wurdest?« »Von welchem Geschenk sprichst du, Mbanda Lwa? Von dem Bre vier?« 285
»Dem Brevier?« »Von der escrita, der Schrift.« »Nein, ich spreche nicht von der Schrift. Dieses Geschenk hast du Mbemba hinterlassen.« »Von welchem Geschenk dann?« »Weißt du das nicht?« »Nein.« »Nein, natürlich weißt du nichts davon. Wie könntest du auch? Wer hätte es dir sagen sollen? Nur Mbemba, aber er würde es dir nie erzäh len.« »Was würde er mir nie erzählen?« »Mchento.« Sie gab der Dienerin ein Zeichen. »Bring sie zu uns, mchento. Sie warten draußen.« »Wer wartet draußen?« Gil sprang auf. »Wen soll sie zu uns brin gen?« »Warum hast du solche Angst? Habe ich dir nicht gesagt, dass wir dieselben Feinde haben, du und ich? Du hast nichts von mir zu be fürchten, Gil Janesch. Setz dich wieder.« Aber er blieb stehen. Wenige Augenblicke später kehrte die Dienerin mit zwei Personen zurück. »Nimi«, sagte die Mbanda Lwa. Nimi? Hatte sie auch Nimi überlistet, damit sie vom Lagerplatz im Wald hierherkam? Aber es war nicht seine Nimi, die aus dem Dunkel in den Schein der Lampe trat. Es war keine alte Frau, keine ausgezehrte Frau, die vor der Zeit gealtert war. Es war eine junge Frau, eine wunderschö ne Frau, deren Anblick einem Mann, der jahrelang keine Frau gehabt hatte, den Atem verschlagen musste: lange Beine, schmale Taille, üp pige Brüste und Hüften, breite Schultern, eine enganliegende Kanga in Blassgrün mit rotem Saum und eine einzelne Kette aus Flussperlen um den schlanken Hals. Guter Gott, natürlich, sie war die andere Nimi, die NtinuKongo, die Prinzessin, um die sich in den langen Jahren der Verbannung seine Fantasie gerankt hatte. Wie alt mochte sie jetzt sein? Dreiundzwanzig, vierundzwanzig? Eine Frau in ihrer vollen Blüte, in 286
ihrer reifsten, verlockendsten Schönheit. Ihre Haut war glatt und rein wie dunkler Bernstein, ihr Haar kurzgeschnitten, aber nicht mehr ge flochten wie damals, als sie ein junges Mädchen war; sie hatte volle Lippen, hohe, ebenmäßige Wangenknochen, schrägstehende, glühen de braune Augen, das Kinn so fest, als wäre es aus dunklem Holz ge schnitzt, weite, flache Nasenlöcher. Sie betrachtete Gil mit ruhigem Ernst und erinnerte in nichts an das lebhafte, freche Mädchen, das sie einmal gewesen war. Aber er bemerkte den schnellen Pulsschlag in ih rer Halsgrube über den Perlen. Und plötzlich schlug sein Herz eben falls rascher. »Gil Janesch.« »Nimi a Nzinga.« »Erkennst du mich, Gil Janesch?« »Wie könnte ich? Du warst noch ein Kind, als ich dich das letztemal sah.« »Aber du erinnerst dich an mich?« »Natürlich erinnere ich mich an dich. Wie schön du geworden bist.« Sie lächelte, aber es war ein freudloses Lächeln. »Und erkennst du mich?« »Nein. Als ich dich das letztemal sah, hattest du keine Haare im Ge sicht.« »Aber du erinnerst dich an mich.« »Wie könnte ich mich nicht an dich erinnern? Bist du nicht der Va ter meines Sohnes?« Der Anblick der wunderschönen Prinzessin hatte ihn derart über wältigt, dass er gar nicht die zweite Person bemerkt hatte, die mit der Dienerin in das Zimmer gekommen war: ein kleiner Junge, der schüch tern im Schatten stand und die Hand der alten Dienerin umklammert hielt. Jetzt wandte sich Nimi zu ihm, nahm seine Hand und führte ihn in den Lichtkegel der Lampe. Dann kniete sie sich neben ihn und leg te ihm einen Arm um die Schultern. Zehn Jahre war er alt … nein, zehn Jahre minus die neun Monate, die sie ihn unter dem Herzen getragen hatte nach der Regennacht am Rand des Dschungels. Wird er weiß sein? hatte sie damals gefragt. Er 287
war nicht weiß. Seine Haut war so dunkel wie Nimis Arm, der auf sei nen Schultern lag. Aber sein Haar war lang und weich und lohfarben, und seine Augen waren blau. »Er ist das Geschenk, das meine Mutter haben wollte, als du fort geschickt wurdest«, sagte Nimi und drückte den Jungen fest an sich. »Das Zauberkind, das ich mir von dir machen ließ, zur Erinnerung an den Zauber deines Volkes vom anderen Ufer des Meeres. Dein Sohn, Gil Janesch.« Gil ging ebenfalls in die Knie und sah in die hellblauen Augen des Jungen, seine eigenen Augen. So wenig er über Kinder wus ste, fand er doch, dass dieser kleine Junge in seinem Lendenschurz kräftig, gesund und ansehnlich war – allerdings wirkte auch er so unnatürlich ernst wie seine Mutter. »Wie heißt du, mbakala?« frag te er ihn. Der Junge drückte sich in den Arm seiner Mutter, wandte sich halb von dem großen, behaarten weißen Mann ab und runzelte die Stirn. »Kimpasi«, antwortete Nimi an seiner Statt. »Weiß er, wer ich bin?« »Ja.« »Komm zu mir, Kimpasi.« »Geh zu deinem Vater, mbakala.« Sie nahm ihren Arm von der Schulter des Jungen, und er trat vor, runzelte aber noch stärker die Stirn und musterte den Fremden mis strauisch. Gil umfasste ihn auf die Art, wie die Kongo sich begrüß ten, und hielt ihn auf Armeslänge von sich. Er betrachtete die wunder bare Mischung von Hell und Dunkel bei diesem kleinen mestiço mit seinen weichen und dennoch herben Gesichtszügen, dem ernsten und unschuldigen Ausdruck, und eine wunderbare Verwirrung bemäch tigte sich seiner. Ein Sohn, ein Sohn von dieser außergewöhnlich schö nen schwarzen Prinzessin, ein Sohn des Kongo und Portugals – sein Sohn. Was hatte das zu bedeuten? Auf einen Schlag schien sein ganzes Leben verändert. Plötzlich wirkte die lange Einsamkeit seiner Verban nung nicht mehr ganz so öde, und die verlorenen Jahre seines Lebens erschienen nicht mehr ganz so sinnlos. Er hatte einen Sohn. Er zog den 288
Jungen an sich, Tränen traten ihm in die Augen, und er bemerkte, dass auch der Junge leise zu weinen begonnen hatte. »Er hätte nie geboren werden dürfen«, sagte Nimi traurig. »Nicht doch, Nimi, das darfst du nicht sagen. Wie kannst du das sa gen?« »Weil er viel leiden muß. Er leidet für die Sünden seines Vaters.« »Was meinst du damit?« »Wie du, Gil Janesch, gilt er in diesem Land als Ausgeburt des Bösen und muß sein Leben als Ausgestoßener fristen, verhasst und gefürch tet von allen, die ihn umgeben.« »Oh, mbakala, armer mbakala.« Der Junge entzog sich Gils Umarmung, wischte sich mit den Fäusten die Tränen ab und ging zu seiner Mutter zurück. »Und du, Nimi? Ist es das gleiche für dich, seine Mutter?« »Auch ich lebe verborgen in diesem Haus, Gil Janesch. Meine Ge burtsrechte wurden mir genommen. Ich lebe in Schande, weil ich bei dem bösen weißen Prinzen lag, der aus dem Himmel herabfiel, und weil ich seinen bösen Sohn geboren habe.« »Das tut mir leid, Nimi. Das tut mir sehr, sehr leid. Gibst du mir die Schuld dafür?« »Nein, ich gebe meiner Mutter die Schuld dafür, weil sie mich zu dir schickte, als ich ein dummes Mädchen war und nicht wusste, welches Schicksal mir dann blühen würde.« Gil sah zur Mbanda Lwa. Sie schien ungerührt; offenbar hatte sie diesen Vorwurf schon oft gehört. »Bist du gekommen, um uns von unserer Schande und unserem Kummer zu befreien, Gil Janesch? Ist das der Grund, weshalb du ge kommen bist? Ich habe oft davon geträumt, dass du eines Tages kom men und uns mit dir fortnehmen würdest.« »Wohin sollte er dich mitnehmen, dummes Ding?« fuhr die Mbanda Lwa spöttisch dazwischen. »Zu seiner Insel im Fluss? Glaubst du wirk lich, dein Leben dort wäre auch nur eine Spur besser? Glaubst du, du würdest dort weniger leiden?« Nimi erwiderte nichts. Sie schloss ihren Sohn in die Arme, legte ih 289
ren Kopf auf sein langes, weiches Haar und ließ die Tränen über ihre Wangen rinnen. Wie schwer musste es gewesen sein für sie, die als Mädchen so stolz auf ihren Titel als NtinuKongo gewesen war und die sich so königlich an ihren Vorrechten gefreut hatte. Und nun, als Er wachsene, war sie eine Ausgestoßene in ihrem Königreich. »Nein, du und Kimpasi bleiben hier bei mir, bis Gil Janesch einen besseren Ort gefunden hat, zu dem er euch mitnehmen kann.« »Wird das je der Fall sein?« »Wenn die weißen Männer wiederkommen.« »Aber werden sie jemals wiederkommen?« »Sie sind einmal gekommen. Sie werden wiederkommen.« Die Mban da Lwa drehte sich zu Gil um. »Vielleicht sind sie schon da.« Gil wandte den Blick ab. »Stimmt das, Gil Janesch? Sind sie da?« Gil richtete sich auf. »Mbanda Lwa, wo ist Mbemba? Ich bin hier, um mit ihm zu sprechen.« »Ja, du bist hier, um mit ihm zu sprechen. Mchento, hol den MtuKongo. Sag ihm, dass Gil Janesch hier ist, um mit ihm zu sprechen. Sag ihm, dass Gil Janesch eine wichtige Nachricht für ihn hat.«
»Nein.« »Du mußt zu ihnen gehen, Mbemba. Ich begleite dich. Wir dürfen den Fehler von damals nicht wiederholen. Ein drittes Mal wird es nicht geben.« »Kein Wort mehr, Mutter. Ich will von dir kein Wort mehr über die se Sache hören. Sie geht dich nichts an. Ich spreche nur mit Gil Janesch darüber.« »Ihr Zauber ist sehr stark, mein Sohn. Ihr Zauber ist wunderbar. Das hast du schon als Junge gewusst. Du warst der erste, der es gemerkt hat. Wir dürfen uns die Chance, diesen Zauber zu bekommen, nicht ein zweites Mal entgehen lassen.« »Hast du mich nicht gehört? Du hast in dieser Sache nichts zu sagen. 290
Nichts. Ich kenne dich. Du willst das alles nur wieder für deine Rän ke verwenden.« Gil hatte Mbemba noch nie derart erregt erlebt. Seine Wut richtete sich sowohl gegen seine Mutter und ihre Einmischung als auch gegen Gil, weil er das Verbot übertreten hatte und nach Mbanza Kongo ge kommen war. Die Narbe an Mbembas Wange flammte scharlachrot. Aber es war mehr als nur Wut. Gils Neuigkeit hatte große Verwirrung in ihm ausgelöst. Seine Begeisterung für die weißen Männer, seine Neugier auf ihre Welt jenseits des fernen Horizonts, sein Wunsch, die se Welt kennenzulernen, und zwar nicht nur wegen ihres Zaubers – all diese Gefühle, die im Verlauf der vielen Jahre abgestumpft und erstor ben waren, wurden durch Gils Botschaft wieder wachgerüttelt. Und das wollte er nicht. Er wurde davon hin und her gerissen. Es brachte sein Leben in Unordnung. Es machte ihn in seinem Pflichtgefühl, sei nem Loyalitätssinn irre. »Wer weiß noch davon?« fragte er. »Nur diejenigen, die hier im Zimmer sind«, antwortete die Mbanda Lwa, die sich nicht so leicht den Mund verbieten ließ. »Und meine Dienerin«, fügte Gil hinzu. »Wo ist sie?« »Im Wald südlich der Stadt.« »Mutter, ich habe Gil Janesch diese Frage gestellt. Würdest du ihm einmal erlauben, selbst zu antworten.« »Gut. Aber du verschwendest kostbare Zeit mit diesen unnützen Fra gen.« »Das werde ich selbst entscheiden. Ich werde alles entscheiden, was diese Sache betrifft.« »Du brauchst dir wegen dieser Frau keine Sorgen zu machen, Mbem ba. Sie spricht mit niemandem darüber. Sie weiß, dass es ein Geheim nis bleiben muß.« »Also weiß niemand außer uns davon?« »Nein.« »Keba. Jetzt sag – wie viele sind es diesmal?« »Wie beim letztenmal. Ein Schiff, der Kapitän und seine Mannschaft.« 291
»Djogo Cam?« »Nein, diesmal ist es ein anderer Kapitän.« »Und ein Priester«, warf die Mbanda Lwa ein. »Ja, und ein Priester.« »Wie viele Männer insgesamt?« »Vierzig Seeleute. Zwanzig Soldaten. Der Priester und die Schiffsoffi ziere. Siebzig, nicht mehr.« Mbemba sah sich im. Raum um. Seine Verwirrung und Unent schlossenheit waren ihm deutlich anzumerken. Alle Anwesenden wa ren äußerst erregt; aufgewühlt standen sie im flackernden Licht der Öllampe, das tanzende Schatten warf. Nur Kimpasi war auf den Kis sen der Mbanda Lwa eingeschlafen, und sein langes, blondes Haar fiel ihm über das hübsche Gesicht. »Was macht er hier?« fuhr Mbemba plötzlich seine Schwester an. »Bring ihn in sein Zimmer!« Seine Wut richtete sich auch gegen Nimi und den Jungen, vielleicht insbesondere gegen diese beiden. Die Tatsa che, dass Gil nun um das Geheimnis wusste, das er ihm so lange ver schwiegen hatte, störte den geordneten, geregelten Lauf des Lebens, den er sich seit der Abreise der weißen Männer aufgebaut hatte; es ver wirrte ihn ebenso wie die Nachricht von ihrer Rückkehr. »Er hat hier nichts zu suchen. Es ist schon spät. Warum ist er überhaupt hier?« »Um seinen Vater zu sehen«, entgegnete Nimi scharf. »Und wessen Idee war das?« »Meine«, erklärte die Mbanda Lwa. »Nein, es war meine Idee«, fuhr Nimi dazwischen. »Als ich hörte, dass Gil Janesch in Mbanza Kongo ist, fand ich es an der Zeit, dass er den Sohn sieht, den er gezeugt hat – und dass ich den Vater des Soh nes wiedersehe, den ich zur Welt gebracht habe! Zehn Jahre sind seit dem vergangen, Mbemba. Findest du nicht, dass genügend Zeit ver gangen ist?« »Keba. Du hast Ihn gesehen, und er hat den Jungen gesehen. Jetzt bring den Jungen weg. Diese Sache geht euch beide nichts an.« »Was meinst du damit, dass sie mich nichts angeht? Was könnte mich mehr angehen als das? Wegen dieser Sache führe ich das Leben 292
einer Ausgestoßenen. Mein Leben besteht darin, die Mutter des Soh nes des weißen Mannes zu sein, der vom Himmel herabfiel. Jetzt sind wieder weiße Männer vom Himmel herabgefallen. Und da sagst du, das ginge mich nichts an! Natürlich geht es mich etwas an, und den Jungen ebenso.« Die temperamentvolle Aufsässigkeit, die sie als Mädchen besessen hatte, war durch das jahrelange Leben in Abgeschiedenheit und Schan de zu einer schwermütigen, eisernen Beharrlichkeit geworden, aber sie hatte vor ihrem Bruder genauso wenig Angst wie damals. Und Mbem ba seinerseits, den ihr jahrelanges Unglück sicher belastete, konnte ihr ebenso wenig widerstehen wie einst. Entnervt schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder an Gil. »Wo sind sie jetzt?« fragte er. »An Bord der Beatriz, so heißt das Schiff. Es liegt in einer kleinen, versteckten Bucht nördlich des nzere. Ich sagte ihnen, sie sollten dort bleiben, während ich hier um Erlaubnis frage, ob sie das Königreich betreten dürfen.« »Geh zurück und sag ihnen, dass sie die Erlaubnis bekommen«, mischte sich die Mbanda Lwa wieder ein. »Wie oft muß ich dir noch sagen, dass du dich aus dieser Sache her aushalten sollst? Natürlich erhalten sie die Erlaubnis nicht. Wer sollte sie ihnen erteilen?« »Dein Vater, Nzinga a Nkuwu, der ManiKongo. Er wird ihnen die Erlaubnis geben.« »Siehst du, es ist, wie ich sage. Du solltest dich heraushalten. Wenn du dich einmischst, redest du nur Unsinn. Mein Vater wird ihnen die Erlaubnis nicht erteilen. Er ist alt und blind und wird in dieser Sache keine Entscheidung treffen. Er wird Mpanzu darüber entscheiden las sen, zusammen mit der Mbanda Vunda und dem NgangaKongo, ge nau wie damals. Und wie damals werden sie sich gegen die weißen Männer entscheiden.« »Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen ihn davon überzeugen, dass er die weißen Männer willkommen heißen muß. Das hätten wir damals schon tun sollen. Da warst du noch ein Junge, aber ich hätte 293
es tun sollen. Und jetzt werde ich es tun, auch wenn du es nicht willst. Ich werde nicht noch einmal zehn Jahre warten, bis die weißen Män ner wiederkommen.« »Du wirst nichts dergleichen tun. Ich verbiete dir, überhaupt etwas in dieser Sache zu unternehmen.« Mbemba berührte die gerötete Nar be an seiner Wange und fügte dann nachdenklicher hinzu: »Außer dem könnten wir ihn nie dazu bringen, sich gegen die Entscheidung Mpanzus, seines rechtmäßigen Nachfolgers, und seiner ersten Köni gin, der Mbanda Vunda, oder seines Priesters Lukeni a Wene zu stel len. Es wäre sehr dumm von uns zu glauben, wir könnten ihn jemals dazu überreden, sich gegen die natürliche Ordnung seines Reiches auf zulehnen.« »Doch, das können wir, Mbemba. Ich weiß es.« »Nein, Mutter, das können wir nicht. Und selbst wenn wir es könn ten, würde ich es nicht wollen.« »Was?« »Er ist mein Vater. Er ist der König. Sicher, der Zauber der weißen Männer ist wunderbar, aber ich stehe in Treue zu meinem Vater, dem König, und der natürlichen Ordnung seines Reichs. Ich werde nichts tun, was dem zuwiderläuft.« Mbemba sagte das mit einem gewissen Bedauern – die Verlockungen der großen Welt, die die Portugiesen für ihn bedeuteten, lebten in seinem Herzen noch fort –, doch er war ein treuer Sohn und ein Prinz, der sich seiner Pflichten bewusst war. »Sag ihnen das, Gil. Geh zu den weißen Männern und sag ihnen, dass sie heute ebenso wenig willkommen sind wie damals.« »Das habe ich ihnen schon gesagt.« »Und?« »Sie hören nicht auf mich. Dieses Mal sind sie gekommen, um zu bleiben, und sie werden nicht abfahren, nur weil ich ihnen sage, dass sie nicht willkommen sind. Man muß ihnen zeigen, dass sie nicht will kommen sind.« »Wie?« »Ich sagte ihnen, wenn sie in den nzere einfahren, würde sich ein Heer von zehntausend Kriegern gegen sie stellen.« 294
»Willst du Krieg mit ihnen, Gil? Du kannst keinen Krieg mit ihnen wollen. Sie sind dein eigenes Volk.« »Nein, ich will keinen Krieg mit ihnen.« »Ein Krieg würde sie vernichten.« »Ich weiß. Aber es braucht ja nicht zum Krieg zu kommen, Mbemba. Sie sind nicht wahnsinnig. Wenn sie in den nzere einfahren und von zehntausend Kriegern empfangen würden, die sich ihnen kampfbe reit entgegenstellen, dann würden sie erkennen, dass ich die Wahrheit sage. Dann würden sie abfahren, ohne dass es zum Krieg kommt.« »Und du würdest mit ihnen abfahren?« »Das hoffe ich. Das ist meine Überlegung.« »Ja, endlich würdest du nach Hause fliegen können, wie du es immer gehofft und geplant hast.« »Und du könntest uns mitnehmen.« Das war Nimi. Gil wandte sich zu ihr um. Sie hatte sich neben Kim pasi gesetzt und seinen Kopf auf ihren Schoß gebettet. Noch einmal durchfuhr Gil der Gedanke, dass diese Mutter und dieser Sohn die verlorenen Jahre wettmachten, dass diese beiden die Leere all der ein samen Jahre füllten. Sie waren seine Familie; eine andere hatte er nicht. In Portugal wartete niemand auf ihn. Man wusste dort nicht einmal, dass er noch am Leben war. »Du darfst uns nicht hierlassen, jetzt, da du einen besseren Ort hast, zu dem du uns mitnehmen kannst, Gil Janesch. Du mußt uns helfen, unserem Elend zu entkommen, so wie du dem deinen entkommst.« »Würden dein Bruder und deine Mutter das erlauben?« »Es steht ihnen nicht an, mir das zu erlauben oder zu verbieten. Wir gehen mit dir, ganz gleich, was sie sagen.« »Ach, Mädchen, meine Erlaubnis hast du«, sagte die Mbanda Lwa. »Geh mit ihm. Damit wenigstens eine Angehörige unserer Familie den Zauber der weißen Männer erlernt.« Gil sah Mbemba fragend an. »Sie hat viel gelitten«, stellte Mbemba fest. »Beide haben viel gelitten. Nimm sie mit, wenn du glaubst, dass du ihnen ein besseres Leben bie ten kannst als hier.« 295
»Jedes Leben ist besser als das Leben hier«, meinte Nimi. »Kimpasi, wach auf. Wir machen eine Reise, mbakala, eine großartige Reise, zum Land am anderen Ufer des Meeres.« Sie half dem Jungen aufzustehen und eilte mit ihm aus dem Zimmer. »Komm, Gil«, sagte Mbemba, sobald die beiden verschwunden wa ren. »Wohin geht ihr?« wollte die Mbanda Lwa wissen. »Den weißen Männern zeigen, dass sie hier nicht willkommen sind.« »Tu das nicht. Bitte, mein Sohn. Sprich mit ihnen, bevor du eine Ent scheidung triffst.« »Ich brauche nicht erst mit ihnen zu sprechen, bevor ich eine Ent scheidung treffe. An sie bindet mich keine Verpflichtung.« »Dann werde ich mit ihnen sprechen.« »Ich warne dich, Mutter. Ich warne dich zum letztenmal. Du wirst nicht mit ihnen sprechen. Du wirst mit niemandem sprechen. Du wirst hierbleiben und deine törichten Pläne ein für allemal vergessen.« Es war schon spät am Morgen, als Gil und Mbemba auf die Veran da vor dem Palast der Mbanda Lwa traten. Der Wind wirbelte graue Nebelschwaden durch die Luft. Auf der Veranda wartete eine Leib wache von Mbembas Kriegern in ihren blassgrünen, rot eingefassten Kangas. Sie sahen Gil überrascht an, sagten aber nichts. Auch Krie ger der Mbanda Lwa saßen dort, und vor dem Haus, unter den Aka zien und blühenden Jakarandas, die die gepflasterten Wege des inner sten Hofs im königlichen Bezirk säumten, standen Krieger des ManiKongo in ihren karmesinroten Kangas, die mit gelben Sonnenstrahlen bestickt waren, und Krieger Mpanzus in himmelblauen, mit weißen Blitzen verzierten Kangas. Sie alle zeigten sich überrascht, den wei ßen Mann hier zu sehen, mitten im Herzen des Königreichs, aus dem er verbannt war, doch auch sie sagten kein Wort, und niemand mach te Anstalten, etwas gegen Gil zu unternehmen. An Mbembas Seite war er in Sicherheit. »Geh zu den weißen Männern«, sagte Mbemba, »und sag ihnen noch einmal, dass sie nicht willkommen sind. Dann werde ich sie mit einem 296
Heer von zehntausend Kriegern empfangen, wie du es vorgeschlagen hast, und ihnen zeigen, dass du die Wahrheit gesprochen hast.« »Keba.« »Niemand wird etwas davon erfahren. Weder mein Vater noch mein Bruder oder seine Mutter. Auch der NgangaKongo nicht. Denn wenn sie es wüßten, würden sie ein Heer gegen die weißen Männer aufstel len – aber nicht nur, um sie abzuschrecken. Die weißen Männer wür den getötet und ihr Schiff würde zerstört werden, und du würdest nicht mit meiner Schwester und deinem Sohn wegfliegen können.« »Ich danke dir, Mbemba.« »Du weißt, wie ich über dein Volk denke, Gil. Du weißt, ich glaube nicht, dass sie Böses bringen. Du weißt, ich glaube, dass sie Gutes brin gen. Du weißt, dass ich sie willkommen heißen würde, wenn ich Kö nig wäre.« »Ja, das weiß ich.« »Und deshalb möchte ich nicht, dass sie getötet werden; nicht nur wegen dir und Nimi und Kimpasi, sondern auch, weil ich sie nicht zu unseren Feinden machen will. Denn wer weiß, ob sie nicht ein anderes Mal wiederkommen, zu einer Zeit, wenn man sie willkommen heißt.« »Aber das werden wir beide nicht mehr erleben, Mbemba, weder du noch ich. Denn du wirst nie König sein.« »Nein, wir werden es nicht erleben, Gil, denn ich werde niemals Kö nig sein.«
KAPITEL 5
I
n der Ferne grollte leiser Donner; Wetterleuchten zuckte am Him mel, der Wind fegte Nieselregen und Nebelschwaden von der See landeinwärts, und hinter den am mitternächtlichen Himmel dahinja genden Wolken lugte immer wieder die Sichel des Mondes hervor. In weniger als einer Woche war Neumond, und falls Gil bis dahin nicht 297
zur Beatriz zurückgekehrt war, würde sie die Anker lichten und in den Zaire einfahren. Er musste sich also beeilen, um sie dann hinhalten zu können – so lange, bis Mbemba seine Armee von zehntausend Krie gern an der Mündung des Stromes aufgestellt hatte, um das Schiff zu empfangen. Niemand hatte sein Fischerboot entdeckt, das er vor fast sechs Wo chen unweit von Mpinda im sumpfigen Stauwasser des Südufers ver senkt hatte; er konnte die Umrisse des Kanus unter der dunklen Was seroberfläche genau erkennen. Allerdings hatte ein Krokodil es sich als bequemen Platz ausgesucht, um dort auf Beute zu lauern. Gil schleu derte einen Stein auf das Tier, ohne eine Reaktion abzuwarten; er wus ste, dass es sich davon nicht stören lassen würde – der Steinwurf war lediglich ein Ausdruck seines Ärgers. Dann ging er in den Wald zu rück, um die Paddel zu holen. Er hatte zwar sein Messer bei sich, wollte aber keine Zeit damit vergeuden, das Krokodil zu töten. Deshalb wate te er, mit einem der Paddel bewaffnet, ins knietiefe Wasser, umkreiste das Reptil, so dass er vor dessen Kopf zu stehen kam, und schlug ihm mit aller Kraft auf das Maul. Schnell wie der Blitz fuhr die Bestie auf; der Schwanz peitschte wild das Wasser, als sie losschwamm. Doch darauf war Gil gefasst; als das Tier auf ihn zukam, sprang er behende beiseite und versetzte ihm gleichzeitig einen zweiten, krachenden Schlag auf Stirn und Augen. Wieder schlug das Krokodil heftig mit dem gefährlichen Schwanz um sich, doch dieses Mal riß es auch seinen mörderischen Rachen auf. Und genau darauf hatte Gil gewartet – er rammte dem Krokodil das Paddel zwischen die Kiefer, wo es sich zwischen den Zahnreihen ver klemmte, ließ es los und lief schnell ans Ufer. Mehr brauchte er für den Augenblick nicht zu tun. Irgendwann würde das Krokodil es schaffen, sich von dem Knebel in seinem Maul zu befreien, aber angreifbar, wie es nun war, würde es dazu einen sicheren Ort aufsuchen. Es ließ sich Flussabwärts treiben, kroch ein Stück weiter unten an Land und be gann, das aus seinem Rachen ragende Paddel immer wieder gegen den Stamm einer Mangrove zu schlagen. Nun konnte Gil gefahrlos unter tauchen und sein Kanu bergen. Vom Ufer aus beobachteten Nimi, die 298
Prinzessin, die ältere Dienerin gleichen Namens und der kleine Kim pasi, wie er schließlich das Boot ans Ufer zog und das Wasser aus schöpfte. »Wo ist sie, Gil Janesch?« fragte ihn die Prinzessin. »Wer denn?« »Die Beatriz. Ich sehe sie nicht.« »Sie wartet weiter oben an der Küste auf uns, wo Mpanzu und die anderen sie nicht finden können«, erklärte Gil und ließ das Kanu in den Fluss gleiten. »Wer ist das, die Beatriz?« wollte Kimpasi wissen. »Das große, geflügelte bwato, von dem ich dir erzählt habe, mbaka la«, antwortete Nimi. »Wir gehen zu ihm und fliegen mit ihm fort. Es wird sein, als würden wir auf den Flügeln eines großen Vogels durch die Luft getragen werden. Du wirst es sehen.« »Wir fliegen mit ihm in das Land am anderen Ufer des Meeres?« »Weißt du etwas von dem Land am anderen Ufer des Meeres, Kim pasi?« fragte Gil, während er das Kanu noch einmal ans Ufer zog. »Hat deine Mutter dir davon erzählt?« »Nein, aber meine Großmutter, die Mbanda Lwa. Sie hat mir oft da von erzählt.« Natürlich, es konnte nur die Mbanda Lwa gewesen sein. Sicher hat te sie dem Kleinen unzählige märchenhafte Geschichten über dieses Zauberland am anderen Ufer des Meeres erzählt, um ihm begreiflich zu machen, wer er war und dass er ein ganz besonderer Mensch sei. »Warum fliegen wir dorthin?« »Weil dieses Land besser für uns ist, mbakala«, sagte Nimi und knie te neben ihm nieder. »Dort sind wir keine Ausgestoßenen. Dort be handeln sie uns nicht, als ob wir leibhaftige Dämonen wären.« Der Junge zog die Augenbrauen zusammen und blickte sehr ernst. »Dort wird es dir gutgehen, Kimpasi, das verspreche ich dir«, fuhr Nimi fort und legte ihm einen Arm um die Taille. »Du wirst nicht immer allein sein, so wie hier. Du wirst Freunde haben, mit denen du spielen kannst. Niemand wird dich ärgern oder verjagen oder vor dir weglaufen, denn dort haben alle Jungen so blaue Augen und gelbe 299
Haare wie du. Schau deinen Vater an, seine Augen, seine Haare. Alle Menschen in seinem Land auf der anderen Seite des Meeres haben sol che Augen und solches Haar. Ist es nicht so, Gil Janesch?« Gil zögerte. Hatte es einen Sinn, die Dinge noch komplizierter zu ma chen, indem er versuchte, die vielen in Portugal lebenden Volksgrup pen zu beschreiben oder darzulegen, was ein kleiner mestiço von den Menschen dort erwarten konnte? Nein, das war vollkommen sinnlos, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Also nickte er einfach nur. »Siehst du, mbakala, es ist, wie ich gesagt habe.« Doch der Junge runzelte weiterhin zweifelnd und beunruhigt die Stirn und schwieg. Anders als seiner Mutter schien es ihm nicht leicht zu fallen, seine vertraute Umgebung zu verlassen, auch wenn er dort sehr unter der Ablehnung durch die anderen gelitten hatte. »Du brauchst dir über solche Dinge jetzt noch keine Gedanken zu machen, Kimpasi«, versuchte Gil ihn zu beschwichtigen. »Dazu wirst du später noch Zeit genug haben. Viel Zeit.« »Warum werden wir viel Zeit haben?« fragte Nimi. »Weil wir mit diesem kleinen Boot nicht zur Beatriz fahren können. Wir müssen zuerst zu meiner Insel rudern und dort in ein größeres Boot umsteigen, mit dem wir auf das Meer hinaussegeln können. Au ßerdem müssen wir warten, bis es Tag ist.« »Gut, mbakala, du hast es gehört. Wir müssen also zuerst zu Gil Ja neschs Insel fahren, um das andere Boot zu holen. Dann warten wir dort, bis es hell geworden ist. Und dann kannst du entscheiden, ob du auf den Flügeln der Beatriz fortfliegen willst, in das Land, in dem du glücklich sein kannst – in dem wir endlich alle glücklich sein kön nen.« Gil hielt das Kanu fest, während Nimi den Jungen hineinhob. Da nach reichte er der anderen Nimi die Hand. Die Dienerin ergriff Gils Hand, aber sie stieg nicht in das Boot. »Für uns ist die Zeit des Abschieds gekommen, Gil Janesch«, sag te sie. »Du fährst nun nach Hause in dein Land auf dem anderen Ufer des Meeres, und ich gehe zurück nach Mbanza Kongo. Nach all diesen Jahren können wir uns endlich trennen, wie du es versprochen hast.« 300
»Ja, das habe ich dir versprochen«, antwortete Gil, ohne ihre Hand loszulassen. »Du warst während all dieser Jahre gut zu mir, mchento«, sagte er nach einem Augenblick des Schweigens, »und dafür möchte ich dir danken.« Sie lächelte ihr zahnloses Lächeln, und das lederne Gesicht legte sich in tausend Falten. »Es tut mir leid, dass ich dir ein solch schreckliches Leben beschert habe. Ich bitte dich dafür um Verzeihung.« »Ich verzeihe dir.« Er ließ ihre Hand los. »Geh nun, mchento. Geh nach Hause. Und geh mit Gott.« »Du auch, Gil Janesch. Dominus vobiscum.« Das sagte sie mit fast unhörbarer Stimme, und als ihm bewusst wur de, dass sie Lateinisch gesprochen hatte – sie musste also die ganzen Jahre über viel mehr mitbekommen haben, als er immer geglaubt hat te –, war sie bereits zwischen den Mangroven und Palmen am Ufer verschwunden. Überrascht blickte er ihr noch einen Augenblick lang nach, schob dann das Kanu ins Wasser, sprang hinein und kniete sich ins Heck. »Tut es dir leid, dass sie nicht mitkommt?« fragte ihn Prinzessin Nimi, die mit Kimpasi im Bug stand. »Tut es dir leid, dass du jetzt nur noch mich hast?« Gil betrachtete die wunderschöne junge Frau. »Nein, Nimi«, sagte er lächelnd, »nein, es tut mir nicht leid.« Er griff nach dem verbleibenden Paddel und tauchte es ins Wasser. »Komm her und setz dich zu mir. Du auch, Kimpasi. Komm, setz dich zu deinem Vater.« Nimi setzte sich vor ihm auf den Boden und schaute nach vorn, doch der Junge schüttelte den Kopf; er blieb im Bug stehen und blickte auf den Fluss hinaus, den er noch nie gesehen hatte, in eine Zukunft, die sich keiner von ihnen ausmalen konnte. Das leise Donnergrollen und die fernen Blitze, die von Zeit zu Zeit das Dunkel erhellten, wurden häufiger, und der feuchte, salzige Wind vom Ozean kräuselte die Ober fläche des schwarzen Wassers. »Und du, Nimi?« fragte Gil, während seine kräftigen Ruderschläge 301
das Kanu rasch vom Ufer forttrugen. »Wird es dir leid tun, dass du mit mir gekommen bist?« »Nein, auch mir wird es nicht leid tun.« Sie drehte sich zu ihm um, und ihre großen, braunen Augen glänzten. »Ich habe sehr lange auf diesen Tag gewartet, Gil Janesch. Ich habe sehr lange darauf gewartet, dass du mich aus Mbanza Kongo wegholst und in ein Land bringst, in dem ich wieder eine Prinzessin sein kann.« Der Ton, in dem sie dies sagte, erinnerte Gil an die kindlich-hochnä sige Art, mit der sie sich damals immer als die NtinuKongo bezeichnet hatte. Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie viel dieser Titel ihr bedeu tet hatte, wie sehr sie seinen Verlust betrauerte und sich danach sehn te, ihn wieder zu besitzen – und wie sehr sie es bedauern würde, ihn für immer zu verlieren. »Ich werde doch wieder eine Prinzessin sein in deinem Land am an deren Ufer des Meeres, nicht wahr? Denn du bist doch ein Prinz dort, und ich bin die Mutter deines Sohnes, also muß ich eine Prinzessin sein, nicht wahr?« Gil zögerte mit seiner Antwort auf diese Frage ebenso wie zuvor, als sie die Hoffnung geäußert hatte, Kimpasi würde von den Portugiesen wie einer der ihren aufgenommen werden. »Das sagt jedenfalls meine Mutter.« Wieder ihre Mutter; wieder die Mbanda Lwa. Er würde die unzutref fenden Ansichten dieser Frau richtigstellen müssen. Über all ihre er dachten Geschichten und ihre Märchen musste er Nimi reinen Wein einschenken – und nicht nur über jene, die Kimpasi betrafen. Er mus ste sie vor allem auch über seine eigene Person aufklären: dass er in Wirklichkeit kein Prinz, sondern ein gewöhnlicher Matrose war und dass ihn und seine Familie zu Hause in Portugal ein ganz normales durchschnittliches Leben erwartete. Am besten stellte er diese Dinge wohl klar, noch bevor sie an Bord der Beatriz gingen. Gil dachte an die Offiziere dort, an den Priester und die hässlichen, ungehobelten See leute. Er stellte sich die Reaktion der Mannschaft vor, wenn er nicht al lein zurückkam, sondern mit einer afrikanischen Frau und einem me stiço als seinem Sohn. Er musste Nimi und den Jungen darauf vorbe 302
reiten. Aber er wusste nicht, wie er dazu den Mut aufbringen sollte, und deshalb nickte er nur wie schon zuvor. Aber auch dieses Mal schien ihr diese Antwort zu genügen, und als sie sich wieder umdrehte und über den Bug blickte, rückte sie ein Stück weit nach hinten und lehnte sich an seine Knie und Oberschenkel. Ob sie bemerkte, dass sogar diese oberflächliche Berührung mit ihrem hinreißend schönen Körper für ihn wunderbar war, ihn verzückte und erregte, nachdem er so lange ohne eine junge, begehrenswerte Frau ge lebt hatte? Natürlich bemerkte sie es. Aber er missverstand dies nicht als Ausdruck ihres Begehrens. Solche Gefühle konnte sie für ihn noch nicht hegen, sie kannte ihn ja kaum. Nein, sie war eine Frau, die aus einer verhassten Vergangenheit in eine hoffnungsvolle Zukunft floh. Im Augenblick war Gil für sie nicht viel mehr als das Werkzeug, das ihr diese Flucht ermöglichte, und diese behutsame körperliche Annä herung konnte nicht mehr sein als eine Ermutigung für ihn in seiner Rolle als ihr Retter, ihr weißer Prinz. »Nimi, hör mir zu.« »Ich höre dir zu, Gil Janesch.« »Nenne mich nicht mehr Gil Eanes. Sag nur Gil, so wie ich dich nur Nimi nenne und nicht Nimi a Nzinga.« »So nennt dich Mbemba, er sagt nur Gil zu dir.« »Weil er mein Freund ist, und auch du mußt jetzt meine Freundin sein.« Er hörte zu paddeln auf, legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich, erfüllt von dem Begehren, ihren Körper an seinem zu füh len. »Willst du meine Freundin sein?« »Ja, ich will deine Freundin sein, Gil. Und auch deine Frau. Und dei ne Prinzessin.« In diesem Augenblick wandte sich Kimpasi mit gerunzelter Stirn zu ihnen um. Er deutete über das Wasser und fragte: »Ist das deine Insel, Gil Janesch?« Gil blickte über Nimis Schulter. Sie hatten bereits mehr als die Hälf te des Flussarms überquert und näherten sich dem westlichen Ufer der Insel. »Ja, das ist meine Insel. Und dort, siehst du … das ist mein Haus.« 303
Das interessierte auch Nimi; sie befreite sich aus Gils Umarmung und kroch nach vorn in den Bug. »Wo ist dein Haus?« »Dort, am Ende der Insel; es ist dem Meer zugewandt«, erklärte er und begann wieder zu paddeln. »Jetzt sehe ich es. Siehst du es auch, mbakala? Da, gleich bei den Bäu men. Oh, es ist ein hübsches Haus, nicht?« Der Junge blieb eine Antwort schuldig. Wahrscheinlich dachte er, dass es im Vergleich zu den Gebäuden im königlichen Bezirk von Mbanza Kongo kein hübsches Haus war. Und wahrscheinlich dach te auch Nimi ganz ähnlich, aber sie wollte wohl so tun, als gefiele es ihr sehr. Gil ruderte westwärts, auf das Meer zu, und wendete dann, so dass er direkt vor dem Haus anlegen konnte. Als das Kanu anlandete, zeigte Kimpasi auf das Auslegerboot, das dort am Ufer lag. »Ist das das Boot, mit dem wir auf das Meer hinaus fahren, Gil Janesch?« fragte er. »Dieses mit der Stange in der Mitte und dem kleinen bwato an der Seite?« »Sehr gut, Kimpasi«, antwortete Gil und schob das Kanu neben den Ausleger. »Was für ein kluger Junge du bist, dass du das sofort erkannt hast.« »Warum können wir mit diesem Boot auf das Meer fahren, und mit dem Kanu nicht?« »Mit dem großen Boot muß man nicht rudern.« Gil legte sein Paddel in das Kanu und sprang heraus. »Es ist ein Segelboot. Soll ich dir zei gen, wie man damit fährt?« »Ja.« Als Gil das Kanu ans Ufer zog, stieg auch Nimi aus. Sie dachte nicht daran, ihm zu helfen, wie es die andere Nimi sicher getan hätte – wahr scheinlich hatte sie noch nie in ihrem Leben irgendeine Arbeit verrich ten müssen –, und lief sofort ins Haus. »Zeig es mir«, drängte Kimpasi und kletterte in das Auslegerboot. »Was ist das? Und das?« Er zerrte am Takelwerk, spielte mit dem Segel tuch herum und bewegte das Steuerruder hin und her. »Vorsichtig, Kimpasi. Pass auf, dass du nichts kaputtmachst. Ich zei 304
ge es dir.« Aber Gil hatte eigentlich nicht vor, sogleich mit dem Jungen in das große Boot zu steigen. Sobald er das Kanu an Land gehievt hat te, warf er erst einmal einen Blick auf das Haus und fragte sich, was Nimi wohl darin machte. »Aber hier ist ein Paddel. Schau, ich habe ein Paddel gefunden. Also muß man mit diesem Boot doch paddeln!« »Man benutzt es nur, wenn das Segel nicht gehißt ist.« Gil stieg zu Kimpasi in das Boot. »Dies ist das Segel. Wenn es gehißt ist, braucht man nicht zu rudern, weil der Wind hineinbläst und das Boot vor wärts schiebt. Komm, hissen wir es einmal. Aber zuerst müssen wir diese Stange hier hineinstecken. Komm, das kannst du machen.« Als Nimi wieder aus dem Haus trat, hatte Gil das Lateinersegel ge setzt; zu Kimpasis großer Freude flatterte es knatternd im Wind. Nun zeigte er dem Jungen, wie man damit umging. »Horch, was es für ein Geräusch macht«, sagte Kimpasi aufgeregt. »Wie die Flügel eines großen Vogels im Wind!« »Genauso ist es, Kimpasi. Und genau wie die Flügel eines Vogels funktioniert es auch. Das wirst du sehen, wenn wir draußen auf dem Meer sind. Aber willst du dir vorher nicht noch mein Haus ansehen?« »Doch.« Nimi kam ihnen von der Veranda aus entgegen. »Es ist Zeit zum Schlafengehen«, meinte sie. »Oh, ich bin so müde. Es ist schon so spät. Bist du auch müde, mbakala?« »Nein, ich habe Hunger.« »Ja, wir haben alle Hunger«, sagte Gil. »Ich mache uns etwas zu essen.« »Das habe ich schon getan«, erwiderte Nimi. »Du warst hinten in der Küche?« »Und im Hof, in der Werkstatt, im Getreidespeicher und im Garten. Ich habe mir alles angesehen.« »Und?« »Es ist schön, Gil. Es ist alles sehr schön. Aber wir bleiben ja sowie so nicht lange hier. Sobald es Tag ist, machen wir uns auf den Weg in das Land am anderen Ufer des Meeres, wo ich wieder eine ntinu sein werde.« 305
Sie nahm Kimpasi bei der Hand, um ihn die Stufen zur Veranda hin aufzuführen. Dann schaute sie zurück, reichte Gil die andere Hand, und zusammen gingen sie ins Haus – eine eigenartige kleine Familie zwischen zwei Welten.
Das Unwetter kam eine Stunde vor Tagesanbruch. Ein krachender Donnerschlag weckte Gil auf; gleichzeitig begann der Regen auf das Dach herniederzuprasseln. Er hatte nicht sehr tief geschlafen, eigent lich gar nicht, weil er zu aufgeregt war. Er setzte sich auf und sah zu Nimi. Sie schlief tief und fest. Im Gegensatz zu ihm war sie sehr müde gewesen, erschöpft von den vielen schnellen Veränderungen in ihrem Leben. Sie befanden sich im Zimmer der anderen Nimi; Kimpasi schlief in Gils Zimmer. Der Junge war von Gils Schlafstelle und den ande ren Dingen in dem Raum – der Seetruhe, dem Schreibtisch und dem Stuhl, dem Kruzifix an der Wand – so begeistert gewesen, dass er sich geweigert hatte, woanders zu schlafen. Gil war darüber froh gewesen, denn so näherte sich Kimpasi ein Stück weiter seiner, Gils, Welt – die fremde Welt, mit der er sich nun rasch vertraut machen musste. Nimi hatte das Strohlager im Zimmer ihrer Namensvetterin in Beschlag ge nommen, und Gil hatte daneben ein zweites hergerichtet. Gleich nach dem Essen hatten sie sich zusammen hingelegt, ohne große Verlegen heit zu zeigen oder Umstände zu machen. Er hatte sich in ihr geirrt. Sie war weder das verzogene Kind noch die behütete und verwöhnte Prinzessin, für die er sie gehalten hatte. Of fenbar hatte sie, nachdem sie in Ungnade gefallen war, lernen müssen, für sich selbst zu sorgen. Jedenfalls hatte sie ein gutes Essen gekocht – über einem Feuer, das sie im Hof hinter dem Haus selbst entzündet hatte, mit Vorräten, die sie im Lagerhaus und im Getreidespeicher ge funden und mit Gemüse, das sie im Garten geerntet hatte. Sogar die Ziege hatte sie gemolken, damit Kimpasi Milch statt malafu zu trinken bekam. Danach hatte sie einen Kessel Wasser heiß gemacht und den 306
Jungen gebadet, bevor er in Gils Schlafkoje kroch. Anschließend hatte sie einen zweiten Kessel mit heißem Wasser in das Zimmer der ande ren Nimi gebracht, damit sie und Gil sich waschen konnten, bevor sie sich zusammen hinlegten. Ihr Körper war so makellos, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Im sanft orangefarbenen Schein der Palmöllampe, die vom Dachbalken hing, schaute Gil ihr zu, wie sie sich ohne jede Scheu oder falsche Zimper lichkeit vor seinen Augen mit einem Schwamm wusch. Er hatte sich bereits zuvor gewaschen und lag nun bäuchlings nackt auf dem Strohl ager, den Kopf in die Hände gestützt. Zunächst hatte er nicht gewusst, was er von ihr erwarten konnte, und deshalb versucht, sich nicht von ihrer Nacktheit erregen zu lassen. Aber das hatte sich als unmöglich erwiesen. Sie hatte so getan, als würde sie seine Erregung nicht bemerken und sich ganz ihrer Körperpflege gewidmet. Aber gleichzeitig kostete sie jeden Augenblick bewusst aus und bewegte sich höchst verführerisch: Wie sich die vollen Brüste im Rhythmus ihrer Armbewegungen hoben und senkten, als sie sich den Rücken massierte; wie sich die Pobacken anspannten und wieder lockerten, während sie den Schwamm über ihre langen Beine hinauf- und hinuntergleiten ließ; wie ihr schlanker Nacken sich bog, als sie den Kopf zurücklegte und den Schwamm ans Gesicht drückte, so dass das Wasser über Hals und Brustwarzen und dann über ihren Bauch nach unten rann, wo es sich in dem schwarzen Dreieck zwischen ihren Schenkeln in einem glitzernden Teich sam melte; wie ihre dunkle bernsteinfarbene Haut seidig schimmerte, als sie das Wasser mit dem Schwamm aufsog und sich dabei berührte, so wie er sie zu berühren sich sehnte, und wie sie sich liebkoste, so wie er sie liebkosen wollte; wie ihr Gesicht in das weiche Licht der Lampe ein tauchte, um dann wieder geheimnisvoll im Dunkel zu verschwinden – und ihre scheinbar teilnahmslose Miene bei alledem, eine vorgebliche Teilnahmslosigkeit, die sie geradezu unerträglich verführerisch mach te, vor allem, wenn sie sich dazu noch auf die Lippe biß … Als sie fertig war, wickelte sie sich zu seinem Bedauern in eine frische Kanga und blies die Lampe aus. Die Sterne verbargen sich hinter den 307
Wolken, und der Mond war schon fast untergegangen, und so war sie von einem Augenblick auf den anderen in einem undurchdringlichen Dunkel verschwunden. Dann, im aufflackernden Schein eines Wetter leuchtens, sah er sie wieder: Sie lag ausgestreckt neben ihm auf dem Strohlager, ihre Kanga hatte sich geöffnet und gab den Blick auf ihre Schenkel frei. Den Kopf noch immer in die Hände gestützt, wandte er sich ihr zu und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt hatten. Sie sah zu ihm auf; ihre Lippen waren feucht und leicht geöffnet. Er bewegte sich nicht; er wollte sie auf keinen Fall missverste hen. Und dann öffnete sie die Kanga, so dass sie ganz von ihrem Kör per glitt, und wandte sich mit einer hingebungsvollen Geste von ihm ab. Doch er verharrte noch immer unbeweglich; jetzt, da er wusste, dass sein steigendes Verlangen bald gestillt würde, wollte er die wach sende Spannung bis zuletzt auskosten. Verwirrt und mit einem An flug von Ärger über sein Hinhalten drehte sie sich wieder zu ihm, er griff seinen Bart und zog ihn zu sich herab. Und nun widerstand er ihr nicht mehr. Er schob einen Arm unter ihre Schulter, ließ die andere Hand zwischen ihre Beine gleiten und drückte seinen Mund auf ihre Lippen, als wollte er sie verschlingen. »Auch darauf habe ich sehr lange gewartet, Gil«, sagte sie danach zu ihm. Er lag noch immer auf ihr, drückte sie fest an sich, verschlang seine Beine mit den ihren und spürte die klebrige Feuchtigkeit zwischen ih ren Bäuchen. »In all diesen Jahren war ich mit keinem anderen Mann zusam men.« »Das freut mich.« Sie wartete einen Augenblick, dann schob sie ihn sanft auf das Strohl ager und rieb sich die Augen. »Nicht, weil es mich nicht danach ver langte«, murmelte sie und drehte sich auf die Seite. »Aber kein anderer Mann wollte mich. Denn der NgangaKongo sagte, ich sei eine Hexe.« Gil stützte sich wieder auf die Ellbogen und ließ den Blick von ih rem Hinterkopf über den Nacken, den sanft geschwungenen Rücken, den wohlgeformten, runden Po und die langen Beine hinabgleiten, 308
und erneut stieg Verlangen in ihm auf. Doch sie sank gerade in Schlaf; ihr Atem ging leicht und gleichmäßig. Er wandte sich von ihr ab und dachte wieder an das, was vor ihnen lag – die ganzen Widerwärtig keiten, denen sie an Bord der Beatriz mit Sicherheit ausgesetzt wür den, und auch die Probleme, die es bereiten würde, sich in Portugal ein Zuhause zu schaffen. Aber das war gleichgültig. Sie war märchen haft schön, eine Prinzessin, und sie war die Mutter seines Sohnes. Und er gehörte ihrem Königreich ebenso an wie dem seinen. Welche Frau konnte besser für ihn sein als die bezaubernde Prinzessin eines Rei ches, in dem er zum Mann herangewachsen war und einen Sohn ge zeugt hatte? »Werden wir eines Tages zurückkommen, Gil?« Es überraschte ihn, dass sie noch wach war. »Du meinst, hierher zu rück, Nimi, zu den Kongo?« »Ja.« »Warum sollten wir noch einmal hierherkommen? Warum würden wir das wollen? Haben wir hier nicht beide genug gelitten?« »Ich meine, wenn ich wieder eine Prinzessin bin. Wenn du mich wie der zu einer Prinzessin gemacht hast.« Sie war so schläfrig, dass ihre Worte undeutlich wurden. »Ich wäre lieber eine Prinzessin hier, bei meinem eigenen Volk, als in deinem Land auf der anderen Seite des Meeres.« »Nimi.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Hör mir zu, Nimi. Es gibt noch so vieles, was ich dir über mein Land am anderen Ufer des Meeres erzählen muß …« Aber sie hörte ihm nicht zu. Sie nahm nur vertrauensvoll seine Hand in die ihre und schlummerte dann ein.
Und nun schlief sie tief und fest, obwohl der Donner grollte, Blitze zuckten und der Regen auf die Palmblätter des Daches prasselte. Sie sah sehr jung aus, wie sie da lag; jünger als die dreiundzwanzig Jah re, die sie zählte, jung und unschuldig und naiv, und bestimmt träum 309
te sie gerade von den dummen Dingen, die ihre Mutter ihr eingere det hatte. Er musste sie von diesen Irrtümern befreien. Er musste ihr in einfachen und klaren Worten sagen, was die Zukunft für sie brin gen würde. Er musste sie den Plänen und Träumen ihrer Mutter ent reißen. Er stand auf, zog eine Kanga an und verließ das Zimmer, um nach Kimpasi zu sehen. Auch der Junge schlief fest – was er wohl träum te? –, aber er lag nicht mehr in Gils Schlafkoje. Anscheinend war der Reiz des Neuen verflogen, und er hatte es auf der ungewohnten Gras matratze und den Federkissen doch zu unbequem gefunden. Also hat te er sich auf den Boden gelegt. Seine Stirn war gerunzelt, die Hände zu kleinen Fäusten geballt, und das Blondhaar hing ihm ins Gesicht. So bald man sich an seine ungewohnte Mischung aus dunkler Haut und hellem Haar gewöhnt hatte, wirkte er auffallend hübsch. Und er hat te ganz die Statur seines Vaters. Gewiß würde er ein kräftiger, hochge wachsener Mann werden, vielleicht auch klug und aufgeweckt und auf seine eigene Art wohl auch recht ansehnlich. Und womöglich würde er ebenfalls zur See fahren. Schon in ein paar Jahren würde er alt genug sein, um als Page auf einem Schiff anheuern zu können. Und warum auch nicht? Für einen mestiço wie ihn war das sicherlich kein schlech tes Auskommen; schließlich fanden sich an Bord der Schiffe, die nach Westafrika segelten, Männer sämtlicher Rassen aus aller Herren Län der. Er würde nur den katholischen Glauben annehmen müssen. Daran hatte Gil bisher noch gar nicht gedacht, und deshalb traf es ihn nun fast wie ein Schlag. Guter Gott, natürlich, der Junge musste getauft werden. So wie die Dinge lagen, hatte Gil selbst fast zehn Jahre lang am Rande der ewigen Verdammnis gelebt. Glaubte er das wirk lich? Vielleicht nicht mehr mit derselben inbrünstigen Gewißheit wie früher, doch die Seele seines Sohnes wollte er auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Sobald sie an Bord der Beatriz waren, wollte er Pater de Sousa bitten, den Jungen zu taufen und ihm einen christlichen Namen zu ge ben. Und Nimi? Sicher, auch Nimi musste getauft und dann richtig mit ihm verheiratet werden, wie es die Kirche vorschrieb. Kimpasi drehte sich um und öffnete die Augen. Offenbar wusste er 310
im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Er sah Gil verständnislos an, dann lächelte er. »Gil Janesch«, murmelte er schließlich. »Ich habe von dir geträumt.« »Wirklich, mbakala?« Gil trat näher und hockte sich neben seinen Sohn. »Was hast du geträumt?« Kimpasi legte die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er und setzte sich auf. »Ist es schon hell? Können wir jetzt mit dem Segel boot auf das Meer hinausfahren?« »Bald. Aber wir könnten schon losgehen und es startklar machen.« »Ich mache es. Ich weiß, wie es geht. Du hast es mir gezeigt.« Er stand auf. Er war nackt, aber das kümmerte ihn nicht weiter; wahrscheinlich war er daran gewöhnt, nackt herumzulaufen. Aber in Portugal würde er das nicht mehr tun können, dafür war er bereits zu alt. »Wo ist deine Kanga, Kimpasi? Oder möchtest du lieber eine von meinen anziehen?« fragte Gil. »Eine von deinen.« Gil zog die Kiste unter seiner Schlafkoje hervor und suchte eine sei ner besten Kangas aus. Er faltete sie, damit sie nicht zu lang war, zog den Jungen zu sich und wickelte ihm das Kleidungsstück um die Hüf ten. Dabei blickte er in seine hellblauen, klugen Augen. Ja, er würde groß und stark werden und gescheit. Welchen christlichen Namen sollte er bekommen? »Und das. Kann ich das auch haben?« »Was denn?« Der Junge deutete auf die Blutsteinkette um Gils Hals. »Ngete, Kimpasi«, antwortete Gil mit einem freudigen Lächeln. »Das kannst du auch haben.« Er nahm die Kette ab und legte sie Kimpa si an, dem sie tief über die Brust herabhing. Gil klopfte seinem Sohn leicht auf den weichen, runden Bauch und sagte: »Hier. Das sieht sehr schön aus.« »Ntondesi, Gil Janesch.« »Hör zu, Kimpasi. Tust du mir einen Gefallen?« »Was?« 311
»Nenn mich pai.« »Was ist das?« »Das ist das Wort für Vater – in der Sprache meines Landes am an deren Ufer des Meeres. In Portugal.« »Portugal?« »Ja, so heißt das Land, aus dem ich komme, und pai ist dort das Wort für Vater. Willst du mich so nennen?« Kimpasi legte die Stirn in Falten. »Ich bin dein Vater. Das weißt du doch, nicht wahr?« Der Junge nickte und sah zur Seite. »Gut, dann überlege es dir. Mir würde es sehr gefallen, wenn du mich Vater nennen würdest. Willst du es dir überlegen?« »Ja.« »Keba. Und jetzt lass uns das Segelboot fertigmachen.« Sobald sie die Veranda erreichten, rannte Kimpasi voraus zur An legestelle und kletterte in das Auslegerboot. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Zu dieser Jahreszeit regnete es gewöhnlich jeden Tag und jede Nacht mehrmals und oft sehr stark, aber es hielt nie lange an. Bis zum Tagesanbruch würde der Regen ganz aufhören und frühestens am Nachmittag aufs neue einsetzen. Das Gewitter hatte sich bereits ge legt. Gil folgte dem Jungen in das Boot. Doch im selben Augenblick, als Gil hineinkletterte, sprang Kimpasi flink wieder heraus. »Mutter!« schrie er. Gil drehte sich um. Nimi war aus dem Haus gekommen. »Wohin gehst du, Mutter?« rief Kimpasi noch einmal. Nimi hörte ihn nicht. Sie verließ die Veranda und ging am südlichen Strand der Insel Flussaufwärts, nach Osten. Irgend etwas hatte sie aus dem Schlaf gerissen. »Wohin geht sie?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Gil und ergriff Kimpasis Hand. Auf dem Südufer in Mpinda fand ein Fest statt. In der Mitte des gro ßen Marktplatzes brannte ein riesiges Freudenfeuer, und Stelzengän ger in engen Anzügen aus Raffiabast und mit hölzernen Masken, die verschiedene Fabelwesen darstellten, tanzten zur Musik von Kuduhör 312
nern und Trommeln darum herum. Am Ufer lag eine Flotte von Ka nus mit federgeschmückten und bewaffneten Soyo-Kriegern, die sich zum Auslaufen vorbereiteten. Nimi stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und verfolgte die Szene. »Was ist dort los?« fragte Gil und beeilte sich, mit Kimpasi zu ihr zu kommen. »Die Soyo feiern den Besuch einer Kongo-Königin.« »Einer Kongo-Königin? Welcher denn?« »Den Besuch meiner Mutter, der Mbanda Lwa.« »Die Mbanda Lwa ist in Mpinda?« Gil blickte angestrengt über den Fluss. »Sie ist uns gefolgt, Gil. Obwohl Mbemba es ihr verboten hat, ist sie uns zu den weißen Männern gefolgt. Sie will nicht, dass sie wieder wegfahren. Sie hat Angst, dass sie vielleicht nie mehr wiederkommen und sie nie ihren Zauber erlernen wird.« »Aber wie kann sie glauben, sie könnte die weißen Männer zum Blei ben überreden, wenn alle im Königreich, sogar Mbemba selbst, wollen, dass sie absegeln?« »Sie ist eine Soyo, Gil. Weiß du das nicht?« »Doch.« »Sie ist eine Tochter aus dem Haus des ManiSoyo. Sie ist eine NtinuSoyo und eine MbandaKongo. Deshalb kann sie die Soyo bitten, ihr zu helfen, dass die weißen Männer bleiben.«
KAPITEL 6
S
eine Mutter?« »Ja, seine Mutter. Die Mbanda Lwa.« »Aber was ist mit ihm?« wollte der Kapitän wissen. »Wo ist er? Kommt er?« »Oh, sicher kommt er, Herr Kapitän«, erwiderte Gil. »Er kommt ganz 313
bestimmt. Mit einer Armee aus zehntausend Kriegern, genau wie ich es Euch gesagt habe.« »Zehntausend?« warf der einäugige Schiffsprofos Tomé Rodrigues ein. »Da übertreibt Ihr doch sicherlich, senhor.« »Nein, Marschall, ich übertreibe keineswegs. Während wir uns hier unterhalten, stellt er an der Mündung des Zaire ein zehntausend Mann starkes Heer zusammen und bereitet alles vor, um uns zu vernichten, falls wir verrückt genug sind und es wagen, sein Reich zu betreten.« Jetzt meldete sich Pater de Sousa zu Wort. »Diese Mbanda Lwa, Se nhor Eanes«, begann er interessiert. »Da sie seine Mutter ist, muß sie ja wohl die Königin der Kongo sein.« »Sie ist eine Kongo-Königin, Padre. Sein Vater, der König, hat meh rere Frauen.« Sie hatten sich auf dem Achterdeck der Beatriz um Gil versammelt – nicht nur Dias, Rodrigues und Pater de Sousa, sondern auch Nuno Gonçalves und der kränkliche, übelriechende Lotse Antão Palva –, und alle waren äußerst gespannt darauf zu hören, welche Nachricht Gil aus Mbanza Kongo mitgebracht hatte. Es war später Nachmittag; der Regen hatte aufgehört, aber den dunklen Wolken nach zu urteilen, würde er sicher vor Einbruch der Nacht erneut einsetzen. »Darum bitte ich Euch, meinen Rat zu beherzigen, Herr Kapitän«, fuhr Gil fort. »Segelt zurück nach Portugal. Das ist der klügste, ja der einzige Kurs, den Ihr nehmen könnt. Denn wenn Ihr weiterfahrt, er wartet uns alle der sichere Tod. Und tote Männer können weder das Werk des Königs noch das Gottes verrichten.« Dias nestelte an den Spitzen herum, die aus den Ärmeln seines Rockes lugten. »Was meint Ihr dazu, Dom Tomé«, fragte er den Schiffsprofos. Rodrigues schüttelte den Kopf. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass dieser Mbemba eine Armee von zehntausend Mann aufstellen kann, Herr Kapitän«, sagte er und umfasste dabei immer wieder das Heft des Entermessers an seinem breiten Gürtel. »In all meinen Jahren im westafrikanischen Handel habe ich nie eine so riesige Streitmacht von Guineern zu Gesicht bekommen. Aber selbst wenn Senhor Eanes nicht übertreibt, sage ich dennoch, wir sollten weiterfahren. Wir haben 314
nichts zu fürchten, gleichgültig, wie viele von diesen Guineern sich ge gen uns stellen werden. Gegen unsere Gewehre und Kanonen sind sie machtlos.« »Wie viele könnt Ihr mit der ersten Salve Eurer Geschütze töten, Marschall?« warf Gil ein. »Was?« »Hundert? Einige Hundert? Vielleicht sogar tausend? Aber späte stens dann müßt Ihr neu laden, und in dem Augenblick werden Tau sende von Überlebenden sofort an Bord des Schiffes sein, und das wäre das Ende, für uns und für die Beatriz.« »Hat er recht, Dom Tomé?« fragte Dias mit wachsender Sorge. Aber bevor Rodrigues antworten konnte, ergriff Pater de Sousa wie der das Wort. »Diese Kongo-Königin, Senhor Eanes, die Mbanda Lwa – weshalb ist sie gekommen?« Auf diese unangenehme Frage hatte Gil schon gewartet. Sobald er erfahren hatte, dass die Mbanda Lwa ihm zum Versteck der Beatriz folgte, war die Befürchtung in ihm aufgestiegen, Pater de Sousa oder einer der anderen könnte darin eine gute Gelegenheit sehen, die sie beim Schopf packen mussten – und neuen Mut schöpfen, weil damit die Bedrohung durch Mbembas Krieger um einiges geringer wurde. »Was will sie?« »Sie will Eure Bärte sehen.« »Perdão?« Der Priester zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Was meint Ihr damit, senhor?« »Nur, dass sie ein neugieriges Weib ist, Padre. Außer mir hat sie noch keinen weißen Mann gesehen. Die Besatzung der Leonor hat sie nie zu Gesicht bekommen, weil keiner von diesen Leuten je in Mbanza Kon go war. Als sie hörte, dass ein zweites Schiff mit weißen Männern ge kommen ist, hat sie deshalb beschlossen, sich diese Leute anzusehen, bevor sie getötet oder verjagt werden. Die Männer der Kongo haben nämlich keine Bärte.« »Ich verstehe.« Die dünnen, roten Lippen des Priesters verzogen sich zu einem listigen Lächeln. »Nun, dann werden wir ihr eben unsere Bärte zeigen«, meinte er. 315
»Was redet Ihr da für dummes Zeug, Pater de Sousa?« protestierte Dias. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns mit einer Frau abzuge ben, die neugierig auf unsere Bärte ist. Wir müssen uns überlegen, wie wir uns gegenüber einer Armee von zehntausend guineischen Krie gern verhalten sollen!« »Habt Ihr nicht gehört, was Senhor Eanes sagte, Dom Bartolomeu? Diese Frau ist eine Königin. Befassen wir uns doch zuerst ein wenig mit ihr und danach mit den zehntausend Kriegern. Denn wer weiß – vielleicht hat sie als Königin Einfluss auf dieses Heer? Wie seht Ihr das, Senhor Eanes?« Wieder erschien ein Lächeln auf den dünnen, auffal lend roten Lippen des Paters, und er schritt zur Backbordreling des Schiffes. Die Beatriz ankerte noch immer vor Topp und Takel im Windschat ten der Klippen der Wasserfallbucht, wo Gil sie sechs Wochen zuvor zurückgelassen hatte. Doch nun stand eine große, von einer niedri gen Palisadenwand umgebene Hütte aus Bambus mit einem Dach aus Palmwedeln zwischen den blühenden Bäumen am Ufer des Teiches, den der Wasserfall geformt hatte. Die Mbanda Lwa hatte sie bauen las sen, bevor sie Gil angewiesen hatte, den weißen Männern mitzuteilen, dass sie hier sei. Sie wollte einen Ort haben, an dem sie den Fremden einen gebührenden Empfang bereiten konnte. Am Tor der Palisaden mauer standen Angehörige ihres Gefolges, das sie von Mpinda hier herbegleitet hatte. »Welche der Frauen ist es denn?« fragte Pater de Sousa, während er durch den Dunst und den Nieselregen über die Reling landwärts späh te. »Sie zeigt sich nicht. Sie ist in der Hütte.« »Und was sind das für Leute, die davor stehen?« »Die Männer sind Krieger ihrer Leibwache, die Frauen gehören zu ihrer Dienerschaft.« »Und diese junge Frau am Ufer – ist das auch eine Dienerin?« »Nein, das ist ihre Tochter.« »Mbembas Schwester?« fragte der Priester mit sichtlichem Interesse. »Ja, seine Schwester. Nimi a Nzinga, die NtinuKongo.« 316
»NtinuKongo?« »Die Prinzessin der Kongo.« »Es ist also nicht nur eine Kongo-Königin gekommen, um unsere Bärte zu sehen, sondern auch noch eine Prinzessin. Und der Knabe, den die Kongo-Prinzessin an der Hand hält?« Auch Dias und Gonçalves, Rodrigues und Paiva waren inzwischen an die Reling gekommen. Gil fragte sich, ob einer von ihnen sehen konnte, dass Kimpasi ein mestiço war. Aber wahrscheinlich war das aus dieser Entfernung und im trüben Licht des stürmischen Nachmit tags nicht möglich. Er konnte es ja selbst kaum erkennen. »Das ist ihr Sohn.« »Und wer ist sein Vater?« »Ich.« Ein raues, höhnisches Gelächter brach aus. Gil blickte um sich. »Bei Gott, ich gratuliere Euch, senhor«, sagte Rodrigues und grinste unverschämt. »Ihr habt Euch in nichts zurückgehalten, was? Ihr seid wirklich ein echter Wilder geworden!« Er stieß Paiva den Ellbogen in die Seite, worauf dieser ebenfalls losprustete. »Ja, bei unserem lieben Herrn Jesus, ganz und gar – sogar zwischen die Beine ist sie Euch ge fahren, die Wildheit!« Gonçalves entging die Veränderung in Gils Miene nicht. »Passt auf, was Ihr sagt, und fangt hier nichts an«, wies er Rodrigues zurecht. »Was fange ich denn an?« erwiderte der einäugige Schurke mit sei nem Ohrring und dem Kettenhemd. »Ich tue überhaupt nichts. Es ist doch unser Senhor Eanes, der da etwas angefangen hat – eine Fami lie von Bastardwelpen!« Er brüllte vor Lachen über seine eigene Be merkung. »Wie viele Bastardmischlinge habt Ihr denn mit den wilden Schönheiten dieses Königreichs in die Welt gesetzt, senhor?« »Rodrigues, ich warne Euch«, sagte Gonçalves noch einmal. Der Schiffsprofos zuckte mit den Achseln und ließ anzüglich sein einziges Auge hin- und herrollen. Paiva kicherte noch immer. »Hör nicht auf sie, Gil.« Aber Rodrigues' und Paivas Verhalten war genau das, womit Gil ge rechnet hatte. Es war das beste, sofort darauf zu reagieren, bevor Nimi 317
und Kimpasi an Bord kamen und solche demütigenden Bemerkungen über sich ergehen lassen mussten. Deshalb fragte er Dias mit gezwun gener Ruhe: »Herr Kapitän, ist Euch dieser Mann sehr wichtig?« »Welcher Mann, senhor?« Die Frage verblüffte den Kapitän, denn er war in Gedanken noch mit Mbembas Armee beschäftigt und hat te den Wortwechsel nicht verfolgt. »Der Schiffsprofos? Natürlich ist er mir wichtig. Er kommandiert schließlich die Soldaten und Kanoniere auf meinem Schiff.« »Ihr würdet Euch also nicht sehr freuen, wenn seine Kehle durchge schnitten würde?« »Was höre ich da?« Rodrigues' ekelhaftes Grinsen verschwand schlag artig, und sein hässliches Gesicht verfärbte sich dunkel. »Ihr droht mir, senhor?« Seine Hand fuhr an das Heft seines Entermessers. Aber Gil sprang mit der Behendigkeit einer Raubkatze auf ihn und zog blitzartig sein Messer. Bevor Rodrigues sein Entermesser parat hatte, war Gil bereits hinter ihm, packte ihn an seinem verfilzten, fet tigen Zopf, zog ihm den Kopf nach hinten, drückte ihm ein Knie ins Kreuz und setzte ihm die Klinge seines Messers an die Kehle. Paiva stieß einen erschreckten Schrei aus und sprang zur Seite. »Was macht denn dieser Wahnsinnige!« schrie Dias. »Er ist wohl ver rückt geworden! Gonçalves, tut doch etwas!« Aber Gonçalves konnte nichts tun. Gil hatte Rodrigues in einem tödlichen Griff – er hielt seinen Kopf nach hinten, beugte den Kör per über sein Knie ebenfalls zurück und drückte sein Messer an Rod rigues' Kehle. Und dann zog er die scharfe Klinge blitzschnell über den gedehnten Hals des Schurken. Sofort trat eine Linie von kleinen Blut stropfen hervor. Als Rodrigues den Schnitt fühlte, ließ er das Enter messer fallen und packte Gil mit beiden Händen am Unterarm. Aber Gil war zu stark für ihn; er stieß das Entermesser mit einem Fuß weg und drehte seine Waffe so, dass die Spitze genau in die Höhlung un ter Rodrigues' Kehlkopf drückte. Wieder quollen kleine Tropfen hel len Blutes hervor. »Gil, nicht. Hör auf.« »Haltet Euch raus, Nuno!« 318
Die Messerspitze an Rodrigues' Kehle und der Druck von Gils Knie in seinem Rücken taten ihre Wirkung; Rodrigues' Beine gaben nach, und er fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Aber Gil glitt mit ihm nach unten und ließ sich auf ein Knie fallen, ohne den Zug an den Haaren des Mannes zu lockern oder sein Messer von dessen Kehle zu nehmen. »Das geht entschieden zu weit!« rief Dias erregt. »Ich dulde auf mei nem Schiff kein derartiges Verhalten!« »Dann wäre es das beste, wenn Ihr diesem Mann befehlt, sein unver schämtes Maul zu halten«, knurrte Gil. »Beruhigt Euch, senhor«, mischte sich Pater de Sousa ein. »Ihr seid zu hitzig.« »Ich will nie mehr solch widerwärtige Bemerkungen über meinen Sohn und seine Mutter hören, Padre. Und auch nie mehr solch schmut ziges Gelächter hinter ihrem Rücken!« »Nein, natürlich nicht. Aber Ihr habt Dom Tomé missverstanden. Er hat es nicht so gemeint.« »Ach, wirklich nicht?« Gil sah auf Rodrigues hinab, der in seinem ei sernen Griff hilflos dalag. »Habt Ihr es wirklich nicht so gemeint, Mar schall?« wiederholte er. Rodrigues' Auge war geschlossen. Jetzt öffnete er es; es funkelte vor Angst und Hass. »Hört auf«, stieß er hervor. »Hört in Gottes Namen auf. Ihr bringt mich um!« Schweiß rann ihm über das Gesicht und ver mischte sich mit dem Blut an seinem Hals. »Das ist keine Antwort auf meine Frage, Marschall. War Eure Be merkung beleidigend gemeint oder nicht?« Gil setzte die Spitze seines Messers direkt auf Rodrigues' Mund. »Ich möchte eine Antwort von Euch!« forderte er und schob die Klinge zwischen die zusammenge preßten Lippen des Mannes, so dass dieser den Mund öffnen musste. »Um Gottes Willen, antwortet ihm, Dom Tomé«, rief Pater de Sousa. »Bittet ihn um Vergebung!« »Ich bitte um Vergebung«, flüsterte Rodrigues, wobei er zu verhin dern versuchte, dass das Messer ihm die Lippen zerschnitt. Mit einer Geste äußerster Verachtung schleuderte Gil Rodrigues zur 319
Seite wie eine ausgediente Stoffpuppe und blickte auf Paiva. Der Lotse zitterte am ganzen Leib. »Eine solche Ausschreitung kann ich nicht dulden!« rief Dias. »Damit ist die Sache beigelegt, Dom Bartolomeu«, beschwichtigte ihn der Priester. »Senhor Eanes hat für einen Augenblick die Beherr schung verloren, weil er sich beleidigt fühlte. Aber jetzt hat er sich wie der beruhigt.« »Es ist mir gleichgültig, ob er sich beruhigt hat oder nicht. Rodrigues ist ein Offizier auf meinem Schiff. Solltet Ihr etwas Derartiges noch einmal versuchen, senhor, werde ich Euch in Ketten legen lassen!« »Ich gehöre nicht zur Mannschaft Eures Schiffes. Ich stehe nicht un ter Eurem Kommando«, entgegnete Gil. »Jeder an Bord dieses Schiffes steht unter meinem Kommando, se nhor.« Gil stand auf, ging zur Reling zurück und spähte landwärts. Kimpa si und Nimi standen am Strand. Er konnte sich vorstellen, wie sie ver wundert auf das große, geflügelte bwato hinaussahen, das in der ver borgenen Bucht ankerte – das große, geflügelte bwato, mit dem sie in ein Zauberland am anderen Ufer des Meeres fliegen würden. Wahr scheinlich hatte er ihnen mit seinem Zornesausbruch keinen guten Dienst erwiesen. Sobald sie an Bord waren, würden sie trotzdem un flätige Bemerkungen zu hören bekommen. Außerdem hatte er sich Ro drigues zum Todfeind gemacht. Gonçalves kam zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Kleiner«, sagte er leise. »Niemand wird dei nem Jungen oder der Frau Schwierigkeiten machen. Dafür werde ich sorgen.« »Ntondesi.« »Ntondesi?« »Danke.« »Ist das die Sprache der Kongo?« »Ja.« »Sprechen der Junge und die Frau portugiesisch?« »Nein.« 320
»Na, dann müssen wir es ihnen rasch beibringen. Und zu Christen machen wir sie auch möglichst bald.« »Ja, Nuno, das möchte ich. Ich will, dass sie so schnell wie mög lich Christen werden. Habt Ihr gehört, Padre? Ich möchte, dass Ihr sie tauft.« »Habt Ihr sie deshalb hergebracht? Nicht, um unsere Bärte zu se hen?« »Ja, deswegen habe ich sie hergebracht. Werdet Ihr sie taufen?« »Natürlich. Das ist eine besondere Freude und eine große Ehre für mich. Schließlich hat mich unser Herr gesandt, die Seelen aller armen Heiden in diesem finsteren Land zu retten und ihnen den Weg zum ewigen Leben zu weisen. Die Taufe Eures Jungen und seiner Mutter wird der erste von vielen Triumphen der Lehre des Herrn bei den Kon go sein. Und die Mbanda Lwa? Wird sie die nächste sein?« »Sie ist nicht gekommen, um sich taufen zu lassen.« »Nein, sie kam, um unsere Bärte zu sehen.« »Richtig.« »Nun denn, dann wollen wir ihr unsere Bärte zeigen.«
Als das große Beiboot der Beatriz am nächsten Morgen bei einem leichten, aber beständigen Regen auf das Ufer zuhielt, wartete Gil mit Nimi und Kimpasi bereits dort; er war mit seinem Auslegerkanu vor ausgefahren. Dias, Pater de Sousa und Rodrigues sowie acht Ruderer saßen in dem Boot; dazu zehn Soldaten, die Helme und Kettenhemden trugen und mit Armbrüsten und Arkebusen bewaffnet waren. Gil hätte lieber Gonçalves anstatt Rodrigues in dem Boot gesehen, doch als Obermaat hatte sein Freund an Bord der Karavelle bleiben müssen, um in Abwesenheit des Kapitäns das Kommando zu überneh men. Der Schiffsprofos hatte Schulter- und Beinpanzer und sein Ket tenhemd angelegt und einen zerbeulten Helm über sein rotes Kopf tuch gestülpt; mit gezogenem Entermesser stand er im Bug und schau te finster landwärts, als warte er nur darauf, dass es Ärger geben wür 321
de. Dias saß mittschiffs auf einer Ruderbank unter einem Stück Segel tuch, das seine vornehme Kleidung vor dem Regen schützen sollte. Pa ter de Sousa stand im Heck neben dem Steuermann; seine schmalen Hände hielten das silberne Kruzifix seines Rosenkranzes umfasst, und er blickte mit einem erwartungsvollen Lächeln zum Ufer, während der Regen vom breiten Rand seines Hutes tropfte. »Ich mag sie nicht«, sagte Nimi, als das Boot nah genug war, dass man die Gesichter der Insassen erkennen konnte. »Sie sind hässlich, und sie machen mir angst.« »Du brauchst keine Angst zu haben, Nimi. Sie sind nicht hässlicher als ich.« Gil legte ihr einen Arm um die Schultern. »Kimpasi, du hast doch keine Angst vor ihnen, nicht wahr?« fragte er dann den Jungen. Kimpasi schüttelte tapfer den Kopf, aber gleichzeitig legte er die Stirn in Falten. Vielleicht fürchtete er sich nicht, aber zumindest brachte ihn der erste Anblick eines Haufens haariger, bewaffneter weißer Männer ziemlich aus der Fassung. »Komm, mbakala, helfen wir ihnen, ihr bwato an Land zu bringen.« Gil nahm Kimpasi bei der Hand und watete mit ihm ins Wasser, da mit sie beide zupacken konnten, um das Boot ans Ufer zu ziehen. Aber sobald der Bug auf Grund lief, sprang Rodrigues heraus und brüllte ein Kommando, worauf die Soldaten ebenfalls das Boot verließen und zum Ufer liefen. Diese unerwartete und offenkundig bedrohliche Ak tivität reichte aus, um Kimpasis tapfere Entschlossenheit zu erschüt tern; er ließ Gils Hand los und rannte zu seiner Mutter zurück. »Was macht Ihr da, Rodrigues?« rief Gil. »Das ist doch völlig unnö tig!« Rodrigues beachtete ihn nicht. Einen Augenblick später hatten sei ne Soldaten in zwei Reihen Aufstellung genommen – die Arkebusiere knieten nieder und zielten auf die Hütte der Mbanda Lwa, die Arm brustschützen standen hinter ihnen und legten Pfeile in ihre Waffen ein. Als die Leibwächter der Königin am Eingang der Palisadenwand dies sahen, hoben sie ihre Schilde und Lanzen; die Dienerinnen eilten hinter die Schutzmauer. Nimi zog Kimpasi ein Stück vom Ufer fort. »Ich sage Euch noch einmal, Rodrigues, das ist völlig überflüssig.« 322
»Ich bin nicht so blöd, dass ich blind in eine Falle laufe, senhor!« »Falle? Welche Falle? Hier gibt es keine Falle.« »Und woher soll ich wissen, dass hinter diesen Bäumen nicht noch ein ganzer Haufen von diesen Wilden versteckt ist?« »Guter Gott«, murmelte Gil und fuhr dann laut fort: »Herr Kapitän, pfeift Euren Hund zurück!« Dias war im Beiboot aufgestanden, aber wegen des Regens hielt er noch immer das Segeltuch über den Kopf. Er blickte sich unschlüs sig um. »Padre, dieser Narr wird uns mit seinem kriegerischen Gehabe un nötigen Ärger bereiten.« »Es handelt sich lediglich um eine Vorsichtsmaßnahme, Senhor Eanes«, erwiderte Pater de Sousa und schürzte seine Soutane, um ans Ufer zu waten. »Solche Vorsichtsmaßnahmen sind überflüssig, Padre. Die Mbanda Lwa hat nur diese paar Krieger hier.« »Seid Ihr sicher?« »Natürlich bin ich mir sicher.« »Na gut, in diesem Fall … Dom Tomé, lasst Eure Soldaten zurück treten.« »Sie werden da stehenbleiben, wo sie sind, Padre. Ihr mögt diesem Mann vertrauen, aber ich nicht. Ich traue ihm keinen Deut mehr als diesen Wilden.« »Dann lasst sie wenigstens die Waffen senken«, sagte Gil erregt. »Denn wenn einer von ihnen die Nerven verliert und feuert, kann ich für nichts garantieren.« »Tut, was er sagt, Dom Tomé.« »Ihr macht einen Fehler, Padre!« Gil drehte sich zu den Kriegern um, die den Eingang zur Hütte der Mbanda Lwa bewachten. Sie hielten ihre Schilde empor und die Lan zen zum Einsatz bereit. Ganz offenbar behagte es ihnen nicht, wie sich die weißen Männer am Strand aufgestellt hatten. Aber Gil wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, den vollständigen Rückzug der Soldaten durchzusetzen. Nicht nur Rodrigues, auch Dias und Pater de Sousa 323
waren viel zu aufgeregt. Immerhin war es für sie das erstemal, dass sie an einem unbekannten Strand in Afrika an Land gingen. »Stellt uns der Prinzessin Nimi a Nzinga vor, senhor«, sagte der Pa dre. »Und auch dem Jungen. Wie heißt er?« »Kimpasi.« »Ich würde sie gerne kennenlernen – die ersten, die ich zum wahren Glauben bekehren werde.« Gil warf Rodrigues einen grimmigen, warnenden Blick zu und rief dann Nimi. Doch sie tat, als würde sie ihn nicht hören, und ging mit Kimpasi an der Hand weg. Und als Gil ihr nachlief – der Priester folg te ihm auf dem Fuße –, verschwand sie mit dem Jungen hinter den Pa lisaden. »Rodrigues hat ihr mit seinem mannhaften Säbelgerassel Angst ein gejagt«, bemerkte Gil ärgerlich und ging zur Hütte. Doch als er sich dem Eingang näherte, wurde die Leibwache der Mbanda Lwa noch nervöser. So wie Rodrigues ihn für einen Wilden hielt, betrachteten ihn diese Krieger eindeutig als einen Weißen, einen Dämon, der vom Himmel gefallen und von ihrem Hohenpriester ver bannt worden war. Argwöhnisch beobachteten sie, wie er durch das Tor schritt. Sie misstrauten ihm ebenso sehr wie Rodrigues und ließen ihn nur passieren, weil es der Wille ihrer Königin war. »Sind sie gegangen?« fragte Nimi, als Gil eintrat. »Du weißt sehr gut, dass sie nicht gegangen sind«, antwortete er ge reizt. »Du weißt doch, weshalb sie hier sind. Deine Mutter will sie ken nenlernen.« »Trotzdem möchte ich, dass sie weggehen. Sie sind so hässlich. Und warum sind sie so überstürzt aus dem Boot ausgestiegen und auf uns zugerannt? Ich dachte schon, sie wollten uns töten.« »Das war ein Fehler, ein ganz dummer Fehler.« »Sie haben auch Kimpasi Angst eingejagt.« »Ich weiß.« Gil kauerte sich vor dem Jungen nieder. »Es war ein Irr tum, mbakala. Sie wollten euch nichts tun. Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben. Sie sind nicht so böse, wie es den Anschein hat.« »Ich habe keine Angst vor ihnen«, behauptete Kimpasi. 324
»Das ist gut. Du wirst sehen, im Lauf der Zeit gewöhnst du dich an sie.« Gil stand auf. »Wir müssen uns alle an sie gewöhnen, Nimi«, sag te er mit großem Ernst. »Denn früher oder später werden wir mit ih nen leben müssen. Sie werden unser Volk sein.« »Hast du ihnen gesagt, dass ich eine NtinuKongo bin?« »Natürlich habe ich ihnen das gesagt.« Gil nahm ihr Gesicht in sei ne großen Hände. »Und sie werden dir mit Anstand und Ehrfurcht be gegnen, mach dir keine Sorgen – und zwar nicht nur, weil du eine Nti nuKongo bist, sondern auch, weil du bald getauft wirst.« »Getauft? Was ist das?« »Ein Ritual, nach dem du zu ihrem Glauben gehörst. Und jetzt geh zu deiner Mutter und sag ihr, dass ich die weißen Männer zu ihr brin ge«, schloss Gil und ging wieder hinaus. Inzwischen hatten die portugiesischen Soldaten zwar ihre Waffen ge senkt, aber sie waren nach wie vor auf der Hut; nervös fingerten sie an ihren Gewehren und Armbrüsten herum und beobachteten unabläs sig die Krieger am Eingang zu den Palisaden. Rodrigues schritt vor ih nen auf und ab und schlug sich unentwegt sein Entermesser ans Bein. Dias, der sich das Segeltuch wie einen Umhang um die Schultern ge legt hatte, bot in dem strömenden Regen einen jämmerlichen Anblick. Pater de Sousa war zu dem Teich hinübergegangen, den der Wasserfall geformt hatte; dort kniete er unter den blühenden Bäumen und betete mit dem Rosenkranz in den Händen, den Blick auf den oberen Rand der Klippen gerichtet, von denen das Wasser tosend herabstürzte. »Wie schön dieser Ort ist, Senhor Eanes«, sagte er, als Gil zu ihm kam. »Wie ein Paradies, in dem nur Gott fehlt. Aber genau das ist un sere Aufgabe. Wir werden Gott in dieses Paradies bringen, und er wird ihm seinen Segen schenken und es dadurch noch herrlicher machen.« Gil schaute mit Pater de Sousa nach oben, und für einen Augenblick war er wie dieser überwältigt von der atemberaubenden Schönheit des weiß schäumenden Wasserfalls, der sich von den Felsen herab und durch den grau schimmernden Vorhang des Regens hindurch in den Teich ergoß, welcher gleich einem Juwel zwischen dem Smaragdgrün und dem kräftigen Rot der blühenden Bäume eingebettet lag. Doch in 325
einem hatte der Priester unrecht: Gott war da, aber es war der KongoGott Nzambi Mpungu. Der Gott der Christen konnte diesen Ort nicht schöner machen, als Nzambi Mpungu es getan hatte. »Kommt, Padre. Wir dürfen die Mbanda Lwa nicht warten lassen.« Das Innere der runden Bambushütte mit ihrem kegelförmigen Dach wurde vom sanften, orangefarbenen Schein einiger Palmöllampen er leuchtet. Im Hintergrund warteten Dienerinnen mit großen Holztel lern, auf denen sie Speisen und Getränke darboten; zwischen ihnen standen Nimi und Kimpasi. Vor ihnen stand die Mbanda Lwa, umge ben von Kissen, gewebten Matten und gefalteten Tüchern. Sie war königlich gekleidet. Zu ihren verschiedenen karmesinro ten und goldfarbenen Röcken und ihrer roten Bluse mit dem golde nen Sonnenemblem des ManiKongo trug sie einen Umhang aus roten und gelben Papageienfedern und einen Kopfschmuck aus ähnlichen Federn, die in einer Krone aus Elfenbein steckten. An ihren Unterar men hingen viele mit Silbereinlegearbeiten verzierte Reifen aus Elfen bein, auf ihrer Brust prangten perlenbesetzte Halsketten aus Messing, und ihre großen, bronzenen Ohrringe – fliegende Vögel mit Augen aus rubinroten Steinen – berührten fast ihre Schultern. Doch was Gil als allererstes auffiel, sobald er zusammen mit Dias und Pater de Sou sa die Hütte betrat – Rodrigues blieb draußen bei seinen Soldaten und behielt die Soyo-Krieger im Auge –, war das kleine, in schwarzes Le der gebundene und mit einem goldenen Kreuz versehene Buch, das sie in den Händen hielt. Es war Pater Sebastiãos Brevier. Als Gil es sah, wusste er sofort, dass er den wahren Grund, weshalb die Königin die weißen Männer zu se hen wünschte, nun nicht mehr lange verheimlichen konnte. »Bitte sie, sich zu setzen, Gil Janesch«, sagte sie und ließ sich mit ge kreuzten Beinen zwischen den Kissen und Matten nieder. Das Brevier legte sie auf ihren Schoß. Nimi setzte sich neben sie, zog Kimpasi zu sich und legte schützend den Arm um ihn. Nachdem Gil, Dias und Pater de Sousa ebenfalls Platz genommen hatten, gab die Mbanda Lwa ein Zeichen, worauf eine der Dienerinnen ein Tablett mit bemalten Kelchen aus Holz brachte. 326
Die Königin behielt einen für sich und ließ die anderen ihren Gästen reichen. »Das ist malafu«, erklärte Gil, »Palmwein.« »Sollen wir einen Trinkspruch ausbringen?« fragte der Padre. »Oder wird sie das tun?« »Ich weiß es nicht.« Die Mbanda Lwa hielt ihren Kelch mit beiden Händen direkt un terhalb des Kinns und betrachtete mit leicht zur Seite gelegtem Kopf so aufmerksam die Gesichter der weißen Männer, dass man meinen konnte, sie habe die Fremden tatsächlich nur wegen ihres Aussehens, wegen ihrer Bärte, kommen lassen. Ihre großen braunen Augen wan derten unaufhörlich zwischen dem Priester und dem Kapitän hin und her, registrierten die offensichtlichen Unterschiede zwischen den bei den Männern: Dias' weißes Haar, seinen weißen Bart, die wässrigen Augen und die gerötete Haut sowie seinen bestickten Rock und die an deren vornehmen Kleidungsstücke; die marmorweiße Haut des Prie sters, seinen schwarzen Schnurrbart und Spitzbart, die enggeschnitte ne schwarze Soutane und das silberne Kruzifix auf seiner Brust. »Ist er der Priester deines Volkes, Gil Janesch?« fragte sie, nachdem sie ihre Gäste einige Minuten schweigend gemustert hatte, und deutete dabei mit einer leichten Bewegung des Kopfes auf Pater de Sousa. »Ja, Mbanda Lwa«, antwortete Gil. Klug, dass sie das sofort erkannt hat, dachte er für sich. Schließlich hätte sie auch denken können, der ältere der beiden, der weißhaarige, in Samt und Spitzen gekleidete Dias sei der Priester und nicht etwa der jüngere Pater in seinem schlichten Gewand. »Wie heißt er?« »Rui de Sousa. Um ihm unsere Achtung zu zeigen, nennen wir ihn Pater. Pater de Sousa.« »Pader de Susa.« »Was sagt sie zu mir, senhor?« fragte dieser sofort. »Nichts, Padre. Sie wollte nur Euren Namen wissen.« »Mbanda Lwa«, sprach Pater de Sousa jetzt die Königin an; dazu hob er seinen Kelch und neigte ehrerbietig den Kopf. 327
Sie nickte als Antwort; ihre Augen funkelten im Licht der Öllampen, und ein leichtes, bezauberndes Lächeln spielte auf ihren Lippen. »Und der andere, Gil Janesch? Wer ist der andere Mann?« »Der Herr der Beatriz, Mbanda Lwa, des großen, geflügelten bwato, das die weißen Männer von ihrem Land am anderen Ufer des Meeres hierher brachte. Bartolomeu Dias de Novais.« Dieser Name war zu lang für die Kongo-Königin. »Wir nennen ihn Herr Kapitän, Mbanda Lwa. Senhor Capitão.« »Senjor Captan.« Als Dias hörte, dass von ihm die Rede war, hob auch er seinen Kelch und nahm einen kräftigen Schluck. »Ich muß schon sagen, das ist ein hervorragendes Zeug«, sagte er danach und fuhr sich genüßlich mit der Zunge über die Lippen. »Genau das richtige, um an einem scheuß lichen Tag wie diesem die Knochen aufzuwärmen.« Obwohl sie es offenbar nicht vorgehabt hatte, nahm nun auch die Mbanda Lwa einen Schluck von dem Palmwein; sicher wollte sie damit Dias' Unhöflichkeit überspielen. Daraufhin folgten auch Nimi, Gil und Pater de Sousa ihrem Beispiel. Während Gil trank, wanderte sein Blick zu dem Brevier im Schoß der Königin. Er fragte sich, ob der Priester es wohl schon bemerkt hatte. Womöglich nicht – es gab zu viele ande re Dinge, die seine Aufmerksamkeit fesseln mochten. An der hinte ren Wand der Hütte, wo die Dienerinnen standen – auch Gil bemerk te es erst jetzt –, waren Bündel und Körbe aufgeschichtet, höchstwahr scheinlich Geschenke, die die Mbanda Lwa aus Mbanza Kongo für die weißen Männer mitgebracht hatte. Sie waren noch nicht geöffnet, aber es war unschwer zu erraten, was sie enthielten: einige der schö nen, samtartigen Stoffe, die die Kongo aus der Raffiapalme herstellten, in verschiedenen Farben einfärbten und zu vielen unterschiedlichen Mustern woben; die schönsten Waffen und Werkzeuge aus Eisen und Stahl von den geschicktesten Schmieden dieses Volkes; Geschmeide aus Silber und Elfenbein, die mit kostbaren Edelsteinen besetzt waren; Gebrauchsgegenstände, Fetische und Statuetten aus Bronze, Holz oder Stein; Krüge mit Palmöl und Palmwein sowie gegerbte Leopardenund Löwenfelle. Diese Dinge würden Dias und den Priester auf jeden 328
Fall sehr beeindrucken, und natürlich war das genau die Absicht, die die Königin damit verfolgte. Aber zweifellos würden sie in den weißen Männern den dringenden Wunsch erwecken, in einem Königreich mit derartigen Gütern einen Handelsstützpunkt zu errichten. »Sie ist eine äußerst attraktive Frau«, bemerkte Pater de Sousa. »Was für ein edles, feines und intelligentes Gesicht. Es ist nicht im minde sten das Gesicht einer Wilden.« »Überrascht Euch das?« fragte Gil. Pater de Sousa zuckte die Achseln. »Sie sind alle sehr schön, vor al lem das Mädchen. Sie ist wirklich wunderschön, Senhor Eanes. Ich kann verstehen, dass es ihr ein leichtes war, Euch in Eurer Einsam keit zu verführen. Und auch Euer Junge ist ein wahres Prachtexem plar, mit seinem Blondschopf und den blauen Augen. Findet Ihr nicht auch, dass sie eine wirklich gutaussehende Rasse sind, Dom Bartolo meu?« »Ich finde, wir sollten zusehen, wie wir mit dieser Sache weiterkom men, Padre«, erwiderte Dias unwirsch. »Sie hat unsere Bärte gesehen – und was nun?« »Sie haben ein Mahl bereitet«, bemerkte Gil. »Ich gehe davon aus, dass sie uns dazu einlädt. Außerdem hat sie Geschenke mitgebracht, die sie vermutlich überreichen will, bevor weiteres geschieht.« Dias schüttelte ärgerlich den Kopf und trank seinen Kelch leer. So gleich gab die Mbanda Lwa einer Dienerin ein Zeichen, ihm nachzu schenken. Die Frau trat mit einem Krug malafu zwischen Gil und die Königin und verstellte ihm für einen kurzen Augenblick die Sicht. Und genau in diesem Moment hörte er lateinische Worte: »Agnus Dei, qui tollis peccata mundi: miserere nobis.« Er konnte es kaum fassen. Es war nicht Pater de Sousa, es war eine Frauenstimme, die die lateinischen Worte rezitierte. Und als die Die nerin mit dem Palmweinkrug wieder zurücktrat, sah Gil, dass die Mbanda Lwa das Brevier aufgeschlagen und daraus vorgelesen hatte. Mittlerweile blickte sie allerdings mit strahlenden Augen auf Pater de Sousa, der wiederum höchst verblüfft die Königin anstarrte. Es war offenkundig, dass er ebenso wie Gil kaum fassen konnte, was gesche 329
hen war. Dann senkte sie den Blick wieder auf die offene Seite und las noch einmal: »Agnus Dei, qui tollis peccata mundi: miserere nobis.« Sie hatte die Worte nicht auswendig gelernt; sie las tatsächlich aus dem Brevier vor. Sie hatte lateinisch lesen gelernt, wenngleich sie nicht wusste, was die Worte bedeuteten. »Agnus Dei, qui tollis peccata mun di: dona nobis pacem.« »Herrin! O Herrin!« rief Pater de Sousa entzückt und ging auf die Knie. »O wie wunderbar, Herrin! Wie großartig! Gott hat Euch gefun den und Euer Herz ergriffen. Unser Herr Jesus, das Lamm Gottes, hat zu Euch gesprochen und Eure Seele in Besitz genommen. Ehre sei Gott in der Höhe! Te Deum laudamus!« Er schlug ein Kreuzzeichen. Natürlich verstand die Mbanda Lwa nicht, was er sagte, und da sie auch noch nie gesehen hatte, wie jemand sich bekreuzigte, fuhr sie be unruhigt zusammen. »Padre …« »Das ist mehr, als zu erwarten ich je das Recht hatte. O großer Gott, hier in dieser wunderschönen Wildnis, in diesem Paradies der Wil den – ich habe gehört, wie eine heidnische Königin zum Lamm Got tes gebetet hat!« »Sie versteht die Worte nicht, Padre. Das könnt Ihr leicht erkennen. Sie hat gelernt, den Text zu lesen, ohne zu wissen, was er besagt.« »Das mag durchaus sein. Aber sie hat gelernt, ihn zu lesen. Und das bedeutet, dass sie die Worte verstehen will. Das ist ein erster, wichti ger Schritt, ein großer, wunderbarer erster Schritt in ihrem Verlan gen, dem Herrn zu begegnen.« Er streckte eine Hand nach der Mban da Lwa aus, doch sie wich ängstlich zurück. »Lasst uns zusammen be ten, Herrin«, sagte er. »Ihr macht ihr Angst, Padre.« »Ich will ihr keine Angst einjagen. Nein, nein, natürlich nicht. Des culpe-me, minha senhora.« »Was sagt er, Gil Janesch?« »Er bittet dich um Verzeihung, Mbanda Lwa. Er war sehr erregt, als er dich die Schrift sprechen hörte. Und ich muß sagen, ich war auch 330
ganz aufgeregt. Ich wusste nicht, dass du gelernt hast, die Schrift zu sprechen.« »Ja, ich habe gelernt, die Schrift zu sprechen, Gil Janesch. Und jetzt werde ich lernen, ihren Zauber zu verwenden.« »Wie bitte?« »Du hast mir immer gesagt, dass nur ein Priester deines Volkes mir beibringen kann, den starken Zauber zu benutzen, der in der Schrift der weißen Männer liegt. Und jetzt endlich ist ein Priester deines Vol kes hier. Sag ihm, dass ich lernen will, diesen starken und wunderba ren Zauber zu benutzen, den du aus deinem Land am anderen Ufer des Meeres zu uns gebracht hast.« Gil sagte nichts. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Aber er wusste nur zu gut, was passieren würde, wenn er die Worte der Mbanda Lwa für Pa ter de Sousa übersetzte. Der Padre würde genau den Schluß daraus zie hen, den er Gils Meinung zufolge nicht ziehen sollte: dass sich durch diese Königin eine Gelegenheit bot, im Reich der Kongo Fuß zu fassen. »Weshalb sprichst du nicht, Gil Janesch? Warum sagst du Pader de Susa nicht, was ich will?« »Was sagt sie, mein Sohn?« »Hat es Euch die Sprache verschlagen, senhor?« warf jetzt Dias ein; Gils langes, unentschlossenes Schweigen machte ihn ungeduldig. »Was sagt die Frau?« »Sie ist eine törichte Frau, Herr Kapitän«, erwiderte Gil, nur um et was zu sagen. »Ich dachte, wir hätten bereits festgestellt, dass sie eine schöne und intelligente Frau ist.« »Sie glaubt, dass dieses Brevier ein Zauberding ist.« »Wie?« »Die Kongo kennen keine Schrift, und deshalb glauben sie, die Schrift in diesem Brevier – es ist die einzige, die sie je gesehen haben – wäre ein starker Zauber. Sie glauben, dass die Schrift in diesem Buch die Worte enthält, mit denen Gott zu uns spricht und wir zu ihm.« »Wie sind sie dazu gekommen, das zu glauben?« fragte Pater de Sou sa interessiert. 331
»Das habe ich ihnen gesagt.« »Und so ist es auch, mein Sohn. Ihr habt sie nicht getäuscht. Durch die Lieder, Psalmen und Lehren des Breviers reden wir zu Gott. Und die Lesungen aus der Schrift und den Evangelien sind die Worte, mit denen Gott zu uns spricht.« »Ja, aber sie hat daraus mehr gemacht als das, Padre.« Die Mbanda Lwa beobachtete Gil aufmerksam. »Sie glaubt, indem wir durch die Schrift in dem Brevier zu Gott spre chen und er zu uns, üben wir einen Zauber aus, der so stark und wun dersam ist, dass wir mit ihm die Kräfte aller Priester und Zauberer ih res Königreiches besiegen können.« »Und auch das glaubt sie deshalb, weil Ihr es ihr gesagt habt?« Gil nickte. »Und genau so ist es. Natürlich ist es so. Der Zauber unserer Gebete, der Zauber des Wortes unseres Herrn, ist stärker als jeder andere Zau ber dieser Welt.« »Ja, aber sie will lernen, wie man diesen Zauber benutzt.« »Wie man ihn benutzt?« »Sie will, dass Ihr sie lehrt, wie sie ihn benutzen kann, Padre. Ich habe ihr gesagt, nur ein Priester meines Volkes könne ihr das beibringen.« »Aber wie will sie den Zauber benutzen? Welche Absicht verfolgt sie damit?« »Sie verfolgt ihre eigenen Absichten.« »Ich verstehe.« Pater de Sousa ging in die Hocke, hob das silberne Kruzifix seines Rosenkranzes an die Lippen und küßte es. »Gloria in excelsis Deo«, murmelte er leise. »Herr Jesus, ich danke dir für diese Gnade. Ich werde mich ihrer würdig erweisen.« Nun beobachtete die Mbanda Lwa den Priester. Sie wusste, dass Gil ihm ihr Anliegen mitgeteilt hatte. »Mein Sohn, sagt ihr, dass es nur einen Weg gibt, wie sie lernen kann, den Zauber des Breviers zu benutzen.« »Und welcher Weg ist das?« »Sie muß eine Christin werden. Sie muß das Sakrament der Taufe empfangen.« 332
Das hatte Gil erwartet. Für Pater de Sousa war die Bekehrung ei ner Kongo-Königin der erste Schritt zur Christianisierung eines gan zen Königreiches. Und die Mbanda Lwa würde ohne zu zögern einwil ligen, weil sie damit einen Zauber zu erwerben glaubte, durch den sie Mbemba zum König machen konnte.
KAPITEL 7
Z
uerst müssen wir uns über ihre christlichen Namen einig werden. Das ist das Wichtigste.« Gil saß mittlerweile neben Nimi und hatte Kimpasi auf dem Schoß. »Für die Mbanda Lwa«, fuhr Pater de Sousa fort, »schlage ich Leonor vor.« »Nach der portugiesischen Königin?« fragte Gil. »Findet Ihr das nicht passend?« »Die Mbanda Lwa ist nicht die erste Königin der Kongo, Padre, so wie es Leonor in Portugal ist.« »Nein, aber sie wird die erste christliche Königin des Kongo sein.« Dazu wollte Gil nichts sagen. »Und entsprechend schlage ich für ihre Tochter Nimi a Nzinga, Eure Frau, senhor, den Namen Beatriz vor.« »Wer ist Beatriz?« fragte Gil. »Die Tochter von Johann und Leonor, die Herzogin von Viseu. Un ser Schiff ist nach ihr benannt.« »Ich verstehe.« »Und was Euren Jungen anbelangt – da würde ich die Entscheidung gern Euch überlassen.« »Nennt ihn doch Affonso, nach dem Sohn unseres Monarchen.« »O nein, senhor, diesen Namen sollten wir Mbemba vorbehalten.« »Für Mbemba?« 333
»Er ist der Sohn des Kongo-Königs, und deshalb muß er den Namen des Sohnes des portugiesischen Königs bekommen.« »Aber Padre, das ist völlig abwegig. Mbemba braucht keinen christli chen Namen. Er wird sich nicht taufen lassen – nichts würde ihm fer ner liegen. Er marschiert an der Spitze einer Armee gegen uns, die in die Tausende geht. Wie könnt Ihr da glauben, er würde auch nur im Traum daran denken, sich bekehren zu lassen?« »Ich bin nicht so schnell wie Ihr bereit, die Hoffnung aufzugeben, Senhor Eanes. Mich erfüllt ein tiefer, unerschütterlicher Glaube. Der Herr hat uns auf dieser Mission bereits mehr als einmal mit seinem Se gen überrascht. Als erstes hat er Euch am Leben erhalten. Dann sandte er Eure Frau und Euren Sohn hierher, damit sie gerettet werden. Und nun erwartet auch noch die Mbanda Lwa das heilige Sakrament. Die Wege des Herrn sind in der Tat unergründlich. Es wäre doch durchaus möglich, dass er auch Mbemba zu uns schickt.« »Nicht in tausend Jahren«, winkte Gil ab. »Gott hat tausend Jahre Zeit, Senhor Eanes. Wir wollen es in Seine Hände legen. Und nun, welchen Christennamen wollt Ihr für den Jun gen?« Gil überlegte einen Augenblick. »Ich hoffe, dass er einmal zur See fährt. Deshalb soll er den Namen des Infanten Dom Henrique tra gen.« »Sehr gut. Er wird also Henrique heißen.« Das große Beiboot war zur Beatriz zurückgeschickt worden, um die Truhe zu holen, in der sich Pater de Sousas Messgewand und alles wei tere befand, was zur Feier eines Gottesdienstes notwendig war. Nun öffnete der Priester ihren schweren, eisenbeschlagenen Deckel und be gann darin herumzukramen. Die Mbanda Lwa, Nimi und Kimpasi verfolgten interessiert, wie er seine Alba aus weißem Leinen über die schwarze Soutane zog, die goldbestickte Stola anlegte und schließlich die Truhe in einen behelfsmäßigen Altar verwandelte: Er breitete ein Tuch darüber, legte das Messbuch darauf und stellte zwei Kerzen in sil bernen Ständern und einen Silberkrug mit Weihwasser auf. Auch Ro drigues war jetzt in der Hütte; er wollte an dem Mahl teilnehmen, das 334
die Mbanda Lwa für die weißen Männer hatte bereiten lassen, und sei nen Anteil an den Geschenken, die sie mitgebracht hatte, im Empfang nehmen. Wie Dias döste auch er immer wieder im milden Schein der Kerzen und Öllampen ein, denn die beiden hatten zuviel Palmwein ge trunken. »Dom Bartolomeu. Dom Tomé. Wir können anfangen.« »Wurde auch Zeit«, grunzte Dias und fuhr auf. »Gibt es noch etwas von diesem Palmwein?« »Ja, bestimmt. Aber warten wir doch noch ein wenig, damit wir dann auf die Seelen anstoßen können, die wir nun zu Christus führen.« Der Padre öffnete das Messbuch. »Senhor Eanes, wollt Ihr der Pate dieser Kinder sein?« »Ja.« »Welche christlichen Namen wollt Ihr ihnen geben?« »Leonor. Beatriz. Henrique.« »Und worum bittet Ihr die Kirche Jesu für sie?« Gil wusste die Antwort nicht, deshalb musste Pater de Sousa ihm die Worte leise vorsagen. »Glaube. Die Gnade Christi. Aufnahme in die Kirche. Ewiges Le ben«, wiederholte er dann. Die Zeremonie dauerte kaum eine halbe Stunde. Pater de Sousa las aus dem Matthäus-Evangelium vor, und anschließend folgte das Gebet der Gläubigen: »Bade diese Kinder im Licht durch das Wunder deines Todes und deiner Auferstehung, gib ihnen das neue Leben der Taufe und heiße sie in deiner heiligen Kirche willkommen …« Dias und Rodrigues sprachen zusammen die Antwort: »Herr, erhö re uns …« Es folgte die Anrufung der Heiligen: »Heilige Maria Muttergottes, heiliger Johannes der Täufer, heiliger Joseph, heiliger Petrus und Pau lus, bittet für uns …« Und im Anschluss daran das Gebet der Teufels austreibung: »Allmächtiger, ewiger Gott, du hast deinen einzigen Sohn in die Welt gesandt, um die Macht Satans zu brechen, die Menschen vor dem Reich der Dunkelheit zu bewahren und ihnen den Glanz dei nes Reiches des Lichtes zu bringen. Wir beten für diese Kinder: Befreie 335
sie von aller Sünde, mache sie zu Tempeln deines Ruhms und sende ih nen deinen Heiligen Geist, damit er in ihnen wohne. Darum bitten wir dich im Namen Christi, unseres Herrn …« Pater de Sousas Stimme war leise, doch sie bebte vor freudiger Erre gung. Keine Spur von Zynismus war darin zu hören; offenbar glaubte er fest an die Worte, die er sprach, an das Sakrament, das er spendete, und an seinen Auftrag, diese von Finsternis umfangenen Seelen zu ret ten. Und dieser feste Glaube hatte große Macht – Gil fühlte sich an die längst vergangenen Mysterien seiner Kindheit erinnert. Wieviel stär ker musste die Wirkung auf die Mbanda Lwa, auf Nimi und Kimpasi sein! Er sah in ihre Gesichter, die vom weichen Licht der Öllampen be schienen, vom unruhigen Flackern der Kerzen erhellt wurden; er be trachtete ihre weit geöffneten, staunenden, fragenden Augen und be obachtete, wie sie ohne ein Wort zu verstehen der sonoren Stimme des Priesters lauschten. Sogar der Schurke Rodrigues und der betrunkene Dias schienen ergriffen von dem beinahe hypnotischen Klang dieser Stimme und dem mystischen Gefühl, das sie hervorrief. Ehrfurchts voll rezitierten sie die Antworten. »Gelobt sei Gott der Herr.« Pater de Sousa blätterte in seinem Messbuch, blickte einen Augen blick lang stumm auf eine neu aufgeschlagene Seite und schloss dann die Augen, als wolle er Kraft sammeln. Als er sie wieder öffnete, be merkte Gil, dass Tränen darin standen. Der Geistliche legte eine Hand flach auf das Buch, mit der anderen hob er den Weihwasserkrug empor und richtete seine glänzenden Augen direkt auf Gil. »Glaubst du an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde?« fragte er. Wieder war Gil sich nicht sicher, ob von ihm eine Antwort erwar tet wurde, doch der Priester nickte ihm zu, und deshalb erwiderte er: »Ich glaube.« »Glaubst du an Jesus Christus, Seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begra ben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstan 336
den von den Toten, aufgefahren in den Himmel, er sitzet zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters, von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten?« »Ich glaube.« »Glaubst du an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, die Aufer stehung des Fleisches und das ewige Leben?« »Ich glaube.« »Denn dies ist unser Glaube, der Glaube der Kirche, zu der wir uns bekennen in Jesus Christus, unserem Herrn.« »Amen«, sagte Gil, und Dias und Rodrigues fielen ein. »Sagt ihnen, dass sie niederknien sollen, mein Sohn.« Gil nahm Kimpasi von seinem Schoß, ließ sich auf die Knie sinken und hielt ihn an, es ihm nachzutun. Die Mbanda Lwa und Nimi folg ten seinem Beispiel. »Leonor.« »Spricht er zu mir, Gil Janesch?« fragte die Königin. »Ja.« Pater de Sousa legte das Messbuch zur Seite und hielt den Weihwas serkrug über ihren Kopf. »Leonor«, begann er, »ich taufe dich im Na men des Vaters …« Das unerwartete, kühle Wasser erschreckte sie, so dass sie unwill kürlich zurückzuckte. Doch sie machte keine Anstalten, es abzuwi schen, sondern ließ es über ihre Stirn und auf die Wangen rinnen. Und im nächsten Augenblick wich der Ausdruck von Überraschung auf ih rem Gesicht einem Lächeln – dies war der Zauber, sie wusste es, und deshalb war sie nicht enttäuscht. »… und des Sohnes …« Als das zweite Rinnsal über ihr Gesicht lief, hellte sich ihre Miene auf, ihr Lächeln wurde breiter, und ihre Augen leuchteten, als fühlte sie, wie sie den Zauber des Gottes der weißen Männer in Gestalt der Wassertropfen empfing. »… und des Heiligen Geistes.« Sie schloss die Augen und neigte den Kopf, als wüßte sie, was jetzt 337
kam – vielleicht gab es bei den Kongo einen ähnlichen Ritus –, und Pa ter de Sousa legte ihr die Hand auf das Haupt. »Dies ist der Quell des Lebens, Wasser, das durch das Leiden Christi geheiligt wurde und die Welt reinwäscht. Leonor, du wurdest mit die sem Wasser gewaschen; nun trägst du die Hoffnung auf das Himmel reich in dir.« Als der Priester seine Hand von ihr nahm, öffnete die Mbanda Lwa die Augen und sah zu Gil. »Ist es geschehen, Gil Janesch? Bin ich jetzt katholisch?« fragte sie. »Ich weiß es nicht genau, Herrin.« »Beatriz.« »Nimi, jetzt bist du an der Reihe.« Nimi zuckte jedesmal zusammen, wenn Pater de Sousa Wasser über sie goß. Und Kimpasi kicherte, als die Reihe an ihn kam, und konnte sich nicht beruhigen, bis der Geistliche geendet hatte, den Silberkrug neben dem Messbuch abstellte und sich mit geschlossenen Augen auf den Boden hockte. Darauf verstummte der Junge und musterte Pater de Sousa mit gerunzelter Stirn. Der Priester wirkte plötzlich erschöpft; sein ohnehin sehr blasses Gesicht schien mit einemmal noch bleicher zu sein, und sein Atem ging langsam und schwer. »Ist Euch nicht wohl, Padre?« fragte Gil. Pater de Sousa öffnete die Augen. »O doch, es geht mir sehr gut. Es war ein in höchstem Maße freudvolles Erlebnis für mich, Senhor Eanes, diese Seelen zu Christus zu führen.« »Habt Ihr daran irgendwelche Zweifel?« »Warum stellt Ihr diese Frage? Natürlich habe ich nicht den gering sten Zweifel.« »Dann sind sie also getauft?« »Nun, da wäre noch der Ritus, sie in Weiß zu kleiden, und die Sal bung mit dem geweihten Öl. Aber eigentlich ist das gar nicht notwen dig. Ja, sie sind getauft. Lasst uns nun beten.« Er nahm das Messbuch wieder zur Hand. »Vater unser, der du bist im Himmel …« Sobald die Mbanda Lwa diese Worte hörte, schlug sie das Brevier auf, das die ganze Zeit auf ihrem Schoß gelegen hatte, und suchte die 338
entsprechende Seite. »Pater noster, qui es in caelis: sanctificetur nomen tnum …« Pater de Sousa unterbrach sein Gebet und ließ sie allein weiterlesen. »… adveniat regnum tuum,fiat voluntas tua, sicut in caelo, et in ter ra.« Überrascht durch das plötzliche Schweigen im Raum sah die Kö nigin auf. Als sie bemerkte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren, fuhr sie mit einem stolzen Lächeln fort: »Panem nostrum quotidianum da nobis hodie, et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris, et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo.« »Großer Gott, gesegnete Jungfrau, ich danke dir für diesen Augen blick!« Pater de Sousa bekreuzigte sich. »Ihr fragt mich, ob ich irgend welche Zweifel habe, Senhor Eanes. Wie könnte ich noch zweifeln, nachdem ich dies habe erleben dürfen?« Gil wusste selbst nicht recht, was er von alledem halten sollte. Die Mbanda Lwa mit ihrem prächtigen Kopfputz aus Federn und Elfen bein und ihrem im Kerzenlicht funkelnden Schmuck strahlte. Viel leicht war in der Tat etwas Wunderbares geschehen? »Sie sind also ge tauft«, sagte er auf portugiesisch und erklärte dann auf Kongo: »Es ist vollbracht, Mbanda Lwa.« »Ich bin Katholikin?« hakte die Königin nach. »Ja, Mbanda Lwa, du bist jetzt eine Katholikin.« »Also besitze ich nun den Zauber der Schrift?« »So gut wie jeder andere Katholik auch«, antwortete Gil mit einem Seufzer. »Ja, du besitzt nun den Zauber der Schrift.« »Keba. Dann lasst uns nach Mpinda gehen.« »Nach Mpinda?« »Der ManiSoyo erwartet uns. Ich habe ihm gesagt, dass ich mit den weißen Männern zurückkommen werde.« »Du hast ihm von den weißen Männern erzählt? Er weiß also, dass sie wiedergekommen sind?« »Ja.« »Wer weiß noch davon? Weiß es der NsakuSoyo?« »Ja, auch er weiß es. Alle Soyo wissen es.« 339
»Ach du lieber Gott«, stöhnte Gil. Aber damit hätte er rechnen müs sen; er hätte wissen müssen, dass diese ränkesüchtige Frau das Ge heimnis nicht für sich behalten würde. Nun war es also bekannt; bald würde jeder im ganzen Kongo-Reich wissen, dass die weißen Männer wiedergekommen waren. »Ich habe dem ManiSoyo gesagt, dass ich dir zu den weißen Män nern folge, um ihren Priester kennenzulernen. Ich habe ihm gesagt, ich werde von dem Priester lernen, wie man den Zauber der Weißen benutzt, und dann mit ihnen nach Mpinda zurückkommen und ihm und allen Soyo zeigen, wie wunderbar dieser Zauber ist.« »Was sagt sie?« fragte Pater de Sousa. Aber bevor Gil antworten konnte, ergriff Nimi das Wort. »Ich werde nicht nach Mpinda gehen«, erklärte sie hitzig. »Du kannst gehen, Mut ter. Du kannst gehen und dem ManiSoyo alles zeigen, was du willst. Aber Kimpasi und ich werden nicht mit dir gehen. Wir werden nie mals mehr in das Land zurückgehen, in dem man uns gehasst und ge fürchtet hat. Wir sind mit Gil Janesch daraus geflohen, und wir werden mit ihm in sein Land fahren, wo man uns mit Ehrerbietung behandeln wird – und wo ich wieder eine Prinzessin sein kann.« »Aber jetzt kannst du doch in deinem eigenen Land wieder eine Prinzessin sein, Kind«, wandte die Mbanda Lwa ein. »Ist dir das nicht lieber? Wärst du nicht lieber eine Prinzessin bei deinem eigenen Volk als bei diesen weißen Menschen?« »Warum sagst du das?« mischte sich jetzt Gil verärgert ein. »Wie soll sie bei ihrem eigenen Volk wieder eine Prinzessin werden können?« »Aber das weißt du doch, Gil Janesch. Das weißt du ganz genau – wenn ich dem ManiSoyo zeige, wie wunderbar der Zauber ist, den ich von den weißen Männern erhalten habe, wird er ihn auch haben wollen.« »Hat er das gesagt?« »Ja, das hat er gesagt. Er sagte, wenn ich ihm zeigen kann, dass der Zauber der weißen Männer wirklich Wunder wirkt, dann wird er die Porta Gies in Mpinda willkommen heißen. Er wird ihnen dort eine Bleibe geben und mit ihnen gegen die kämpfen, die sie von hier ver treiben wollen.« 340
»Das wäre Empörung, Mbanda Lwa.« Die Mbanda Lwa lächelte. »Ja, das wäre Empörung. Und mit den wei ßen Männern und ihrem wunderbaren Zauber auf seiner Seite wird es eine Empörung sein, bei der der ManiSoyo den Sieg davonträgt.« »Und dann wäre ich wieder eine Prinzessin bei meinem eigenen Volk?« warf Nimi ein. »Durch mich bist du eine Tochter aus dem Haus des ManiSoyo. Und durch Gil Janesch bist du die Mutter eines Sohnes der weißen Män ner. Was, glaubst du, wird passieren, wenn der ManiSoyo zusammen mit den weißen Männern diejenigen besiegt, die dich ausgestoßen ha ben? Natürlich wirst du dann wieder eine Prinzessin in deinem eige nen Königreich sein!« »Ist das richtig, Gil?« fragte Nimi. Es war offensichtlich, dass diese Vorstellung ihr sehr behagte. »Dafür müßte der ManiSoyo zusammen mit den weißen Männern gegen seinen eigenen König ins Feld ziehen. Glaubst du, dass er das tun würde?« gab Gil zu bedenken. »Ja, wenn der Zauber der Weißen stark genug ist. Und du hast selbst gesagt, dass er das ist. Du hast gesagt, er ist stärker als der Zauber des NsakuSoyo und sogar stärker als der des NgangaKongo.« »Worum geht es denn jetzt eigentlich, senhor?« fragte Pater de Sou sa noch einmal. »Hättet Ihr die Güte, uns mitzuteilen, worum sich die ses Gespräch dreht?« Gil wandte sich ihm zu. »Ich fürchte, Ihr habt Euch mit dieser Taufe ein Problem eingehandelt, Padre«, sagte er vorsichtig. »Welches denn, senhor?« »Die Mbanda Lwa will jetzt nach Mpinda. Sie glaubt, nun, da sie ge tauft ist, kann sie einen großen Zauber vollbringen. Ich habe Euch da vor gewarnt, Padre. Das war der einzige Grund, weshalb sie das Sa krament empfangen wollte. Sie glaubt, dass sie jetzt mit Gottes Hilfe ein Wunder bewirken und die Leute von Mpinda dazu bringen kann, Euch willkommen zu heißen.« Pater de Sousa sah zu Dias und dann zu Rodrigues, und für einen Augenblick blickten die drei Männer einander stumm an. 341
»Ich weiß nicht so recht, weshalb Ihr das für ein Problem haltet, Se nhor Eanes«, sagte der Pater schließlich mit ruhiger Stimme. »Ganz im Gegenteil – es scheint mir vielmehr, als sei dies genau das, was wir uns erhofft haben.« »Padre, Ihr habt mir nicht zugehört. Sie glaubt, mit der Taufe hat sie von Euch die Kraft empfangen, Wunder zu wirken.« »Vielleicht hat sie das ja auch«, gab der Priester lakonisch zurück. »Padre, ich bitte Euch. Ich respektiere gerne Euren tiefen Glauben, aber so tief kann selbst Euer Glaube nicht sein. Wir haben dieser Frau erlaubt, sich falschen Vorstellungen hinzugeben. Sie besitzt keine Zau berkräfte. Sie kann keine Wunder vollbringen. Wir wissen das, auch wenn sie selbst es nicht weiß. Mit ihr nach Mpinda zu gehen hieße, eine Katastrophe heraufzubeschwören. Sie wird nicht in der Lage sein, die Menschen dort davon zu überzeugen, dass sie uns willkommen heißen müssen. Denn sie hat keinen Zauber, den sie ihnen vorführen könnte.« »Ich meine, diese Frage sollten wir Gott überlassen, senhor.« »Oder unseren Kanonieren«, warf jetzt Rodrigues ein. »Wie?« »Wenn wir ein Wunder brauchen, Senhor Eanes, wenn wir einen großen Zauber veranstalten müssen, um diese Wilden davon zu über zeugen, dass sie uns besser willkommen heißen sollten als uns zu ver jagen, dann weiß ich nichts Beeindruckenderes als eine Demonstrati on der Feuerkraft unserer Bombarden und Falkonette.« »Da irrt Ihr Euch, Rodrigues«, erwiderte Gil erregt. »Damit könnt Ihr diese Leute nicht beeindrucken. Das haben wir schon einmal ver sucht. Fragt Nuno Gonçalves! Er war dabei. Als wir das erstemal in Mpinda waren, ließ Diogo Cão seine Soldaten die Arkebusen abfeu ern, aber die Soyo waren nicht einmal überrascht. Sie haben reagiert, als wäre das nichts weiter als ein harmloses Feuerwerk.« »Es fällt mir schwer, das zu glauben. Nach meiner Erfahrung ha ben sich die Wilden überall an der Küste Afrikas entsetzt mit den Gesichtern zu Boden geworfen, wenn sie sahen, was die Munition unserer Feuerwaffen an Land anrichten kann – und wenn Fleisch 342
und Knochen zerfetzt wurden. Warum sollte es bei diesen hier an ders sein?« Gil erwiderte nichts. Er erinnerte sich daran, dass Diogo Cão seine Soldaten ohne Munition hatte feuern lassen. Der ManiSoyo und seine Leute hatten also gar nicht gesehen, was Feuerwaffen bewirken konn ten. Hätten sie die Zerstörungskraft der Arkebusen tatsächlich erlebt, dann wären sie vielleicht ebenso beeindruckt – und entsetzt – gewe sen wie die Menschen, von denen Rodrigues sprach. Wahrscheinlich hätten sie diese Waffen dann für einen unglaublich starken Zauber ge halten, für ein Wunder, das man nur ehrfürchtig bestaunen, nicht aber verstehen konnte – und das zu besitzen sogar einen Aufstand gegen den eigenen König lohnenswert erscheinen ließ. »Vielleicht ist Dom Diogo zu zartfühlend vorgegangen, als er die Ge schütze vorführte«, meinte Rodrigues spöttisch. »Hat er denn jeman den töten lassen?« »Natürlich nicht. Dom Diogo kam nicht in der Absicht hierher, je manden zu töten.« »Seht Ihr, da habt Ihr es. Das erklärt alles. Ich garantiere Euch, wenn ein paar von diesen Wilden dabei ins Gras gebissen hätten, wären die anderen sehr beeindruckt gewesen.« »Padre, wollt Ihr Euch solche Reden wirklich anhören? Ihr könnt doch nicht damit einverstanden sein, dass die Mbanda Lwa ihren ei genen Leuten den Zauber des christlichen Glaubens oder zumindest das, was sie dafür hält, auf eine Art und Weise demonstriert, bei der sie umkommen.« »Nein, natürlich nicht. Aber trotzdem … Vielleicht wäre es gar nicht notwendig, jemanden zu töten. Vielleicht würde es ausreichen, wenn man die Geschütze nur einmal abfeuerte. Wenn diese Menschen so et was noch nie zuvor gesehen haben, könnte das durchaus wie ein Wun der auf sie wirken. Wie das Blitzen und Donnern Gottes.« »Ich kann es wirklich nicht glauben, Padre. Ihr wollt ein heiliges Sa krament Eurer Kirche tatsächlich auf diese Weise benutzen? Ihr wollt die Taufe der Mbanda Lwa allen Ernstes zu einem derart billigen Trick verkommen lassen?« 343
»Wenn das überhaupt ein Trick ist, Senhor Eanes, dann jedenfalls kein billiger«, hielt der Priester ihm entgegen. »Im Dienste Gottes und Seiner Kirche gibt es keine billigen Tricks.«
KAPITEL 8
H
underte von Kriegskanus blockierten die Mündung des Zaire. Zunächst waren sie gar nicht zu sehen gewesen. Ein heftiger Regen ging nieder, der einen fast undurchsichtigen grauen Vorhang über alles warf; Donner krachten, und Blitze zuckten über den dunk len Himmel, während die Beatriz sich langsam ihren Weg von dem sturmgepeitschten Ozean in das geschützte Mündungsbecken des Stromes bahnte. Sie hatte nur die Fock und das Besansegel gesetzt, und der Wind heulte in ihrem Takelwerk und in den Wanten. Gil stand auf dem Achterdeck; im bläulich-weißen Licht der Blitze suchte er nach Landmarken, und zwischen den ohrenbetäubenden Donnerschlägen rief er dem Lotsen Paiva immer wieder Weisungen zu. Auch Nimi, Kimpasi und die Mbanda Lwa befanden sich auf dem Achterdeck; sie waren an die heftigen Stürme dieser Jahreszeit gewöhnt und empfan den die schlingernden Bewegungen des Schiffes sogar als spannend und ungewohnt. Übrigens war die Königin ohne Gefolge; Kapitän Dias hatte weder ihren Dienerinnen noch der Leibwache erlaubt, das Schiff zu betreten. Auch Gonçalves war auf dem Achterdeck, denn er schob gerade Wache. Dias und Pater de Sousa hingegen hatten sich, als der Regen einsetzte, zum Steuermann nach unten auf das Zwischendeck bege ben. »Wir kommen jetzt in auslotbare Wassertiefe«, teilte Gil dem Lot sen mit. Paiva gab die Information durch das Kommandoluk zu seinen Fü ßen an den Steuermann weiter. 344
»Ich gehe nach vorn und werfe das Senkblei aus«, rief Gonçalves und schickte sich an, das Achterdeck zu verlassen. »Nein, Nuno, wartet. Was ist das?« »Was?« Gil wischte sich den Regen vom Gesicht, schob das durchnässte Haar zurück und spähte angestrengt nach vorne. Sie hatten die Klip pen nördlich des Mündungstrichters bereits hinter sich gelassen und auch die obere Landspitze schon umrundet; Gils Insel, der Ort seines Exils, lag nur etwa dreitausend Fuß backbord. Die Beatriz hielt auf das Südufer des Zaire zu und kämpfte gegen die Wellen und die Strömung der Ebbe an. »Ich kann in dieser Suppe wirklich überhaupt nichts erkennen«, schimpfte Gonçalves, als er zum Kompasshaus zurückkam. »Schaut dort hinüber.« Der Obermaat starrte in die Richtung, die Gil anzeigte – ostwärts den Flussarm hinauf, der zwischen der Insel auf Backbord und dem felsenübersäten Ufer lag –, und schüttelte dann hilflos den Kopf. »Kannst du sie sehen, Nimi?« »Bwato«, antwortete sie, während sie mit einer Hand die Augen be schirmte. »Viele bwato, Gil. Mehr, als ich je gesehen habe.« »Herr Kapitän!« rief Gil durch das Kommandoluk hinunter. »Es wäre gut, wenn Ihr an Deck kommen würdet.« »Welche bwato? Wo?« fragte die Mbanda Lwa ihre Tochter. »Dort«, antwortete Nimi und deutete ebenfalls nach Osten. »Sieh, wie viele es sind.« »Ich sehe sie!« rief Kimpasi aufgeregt. »Sie sind überall!« »Was sagen sie, Gil? Was sehen sie?« »Kanus, Nuno. Hunderte von Kanus.« Dias und Pater de Sousa gesellten sich zu ihnen; sie mussten sich ge gen den Wind und den Regen stemmen. »Darf ich Euer Fernrohr haben, Herr Kapitän.« »Was gibt es denn, senhor?« Gil gab ihm keine Antwort; er nahm lediglich Dias' Fernrohr und hielt es ans Auge. 345
Gonçalves antwortete an seiner Stelle. »Es sind Kanus auf dem Fluss, Herr Kapitän. Hunderte von Kanus.« »Das sind die bwato des ManiSoyo, Gil Janesch«, erklärte die Mban da Lwa, die die Boote nun ebenfalls gesichtet hatte. Gil blickte die Königin zweifelnd an und beobachtete dann weiter mit dem Fernrohr die Boote. Sie waren von unterschiedlicher Größe, aber allesamt Kriegskanus. In diesem Punkt täuschte er sich nicht mehr; dazu hatte er solche Boote zu oft gesehen. Ihre hohen, geschwungenen Buge waren mit Schlangen und wilden Tieren bemalt; die größten die ser Fahrzeuge konnten neben den bewaffneten Ruderern bis zu vier zig Kämpfer aufnehmen, während die kleineren mit zehn Kriegern be mannt waren. Die ersten Einbäume dieser riesigen Flotte waren etwa eine halbe Legua entfernt, aber es waren so viele, dass Dutzende Seite an Seite lagen und ebenso viele hintereinander – diese Flotte erstreck te sich über tausend Fuß stromaufwärts und füllte die gesamte Was serbreite von der Insel bis zum südlichen Ufer aus, so dass sie den Flus sarm, durch den Gil die Beatriz nach Mpinda hatte steuern wollen, vollständig blockierte. Flankiert von vier kleineren Kanus schob sich nun eines der größten Boote an die Spitze der Flotte; zu beiden Seiten seines Bugs waren dro hend aufgerichtete Löwen gemalt. Gil justierte das Fernrohr so, dass er dieses Boot genau betrachten konnte: An jeder Seite zählte er zehn Ru derer, deren Paddel mit runden Knäufen aus Elfenbein versehen wa ren; mittschiffs befanden sich in Fünferreihen dreissig federgeschmück te Krieger mit Lanzen und Schilden. Und vorne im Bug, ebenfalls mit einer Lanze bewaffnet und geschmückt mit einem Kopfputz aus Federn und Hörnern, stand Mbemba; er blickte grimmig auf das große Segel schiff, und die Narbe auf seiner Wange war vor Erregung gerötet. »Der ManiSoyo hat sie gesandt, damit sie uns in Mpinda willkom men heißen, Gil Janesch«, meinte die Mbanda Lwa. »Er erwartet uns dort, er wartet darauf, den Zauber zu sehen, den zu bringen ich ihm versprochen habe.« »Nein, Mbanda Lwa, das sind nicht die bwato des ManiSoyo. Sie sind auch nicht gesandt worden, um uns willkommen zu heißen. Dies sind 346
die bwato deines Sohnes Mbemba, und er ist gekommen, um uns zu vertreiben.« Als Rodrigues bemerkte, dass Dias und Pater de Sousa bei Gil und Gonçalves am Kompasshaus standen, kam auch er von mittschiffs, wo sich seine Soldaten und Kanoniere aufhielten, auf das Achterdeck. »Was ist los?« fragte er. »Senhor Eanes sagt, auf dem Fluss sind Hunderte von Kanus«, erwi derte Dias. »Gebt mir das Fernrohr, senhor.« Rodrigues versuchte, durch den dichten, peitschenden Regen zu spä hen, konnte aber ebenso wenig ausmachen wie die anderen. »Heilige Muttergottes«, ächzte Dias, nachdem er eine Welle durch das Glas geschaut hatte. »Seht Euch das an, Dom Tomé.« Er reichte das Fernrohr Rodrigues. Es war ein furchterregender Anblick, vor allem für jemanden, der et was Derartiges noch nie gesehen hatte: Hunderte von Kanus und Tau sende von Kriegern, die mit Federn geschmückt und grell bemalt wa ren und drohend ihre Lanzen und Schilde, Bogen und Pfeile, Äxte und Keulen schwangen und einen anscheinend unüberwindlichen Riegel quer über den Fluss bildeten. Der Regen prasselte auf sie nieder, Don ner zerrissen die Luft, Blitze zuckten über ihren Köpfen, der Fluss war schwarz, und das Ufer wirkte wie eine dunkle Wand aus Bäumen, die ein wildes, unzivilisiertes Königreich verbarg. In der Tat, es war ein furchteinflößender Anblick, der gewiß jeden vernünftigen Menschen zurückschrecken lassen würde – selbst Dias, Rodrigues und Pater de Sousa. Mbemba hatte Wort gehalten … »Wer ist das?« fragte Rodrigues, während er das Fernrohr absetzte. »Das ist die zehntausend Mann starke Armee, vor der ich Euch ge warnt habe, ihr wolltet nicht glauben, dass Mbemba so viele Krieger aufbieten kann. Glaubt Ihr es jetzt?« Rodrigues gab keine Antwort; statt dessen begann er noch einmal, den Strom mit dem Fernrohr abzusuchen. »Wir können nicht weiterfahren, Herr Kapitän«, sagte Gil. »Das seht Ihr wohl selbst. Genau das hatte ich Euch prophezeit. Wir müssen um kehren, sonst werden wir alle getötet.« 347
»Nein!« Zornig schob Rodrigues das Fernrohr mit einem Ruck zu sammen. »Wir werden nicht umkehren. Nein, bei Gott nicht – nicht, solange wir Königin Leonor an Bord haben!« »Wie meint Ihr das?« fragte Dias und warf einen Blick auf die Mban da Lwa. »Ich meine, dies ist genau der richtige Augenblick, dass sie den Zau ber vorführt, den sie durch die Taufe erworben hat, Herr Kapitän«, erwiderte Rodrigues höhnisch. »Den Zauber unserer Kanonen. Lasst mich feuern, Herr Kapitän.« »Ihr irrt Euch, Dom Tomé«, hielt ihm Pater de Sousa entgegen. »Dazu ist dies beileibe nicht der richtige Augenblick.« »Wieso nicht? Ich garantiere Euch, Padre, eine Salve aus unseren Backbordgeschützen, und diese Wilden werden auseinanderstieben wie die Karnickel.« »Das mag sein, aber wie sollen sie dann begreifen, dass Eure Salve der Blitz und Donner Gottes war?« »Wie?« »Wir wollen nicht, dass sie davonrennen wie die Karnickel, Dom Tomé. Wir wollen sie auf unsere Seite ziehen. Darauf kommt es uns doch an – wir wollen nicht einen Krieg vom Zaun brechen, son dern Freunde gewinnen. Wir müssen das Ganze also so arrangie ren, dass sie die Kanonade wirklich für Gottes Blitz und Donner halten, dass sie Blitz und Donner als einen Zauber betrachten, den sie ebenso vom Himmel erbitten können wie ihre katholische Kö nigin – nämlich dadurch, dass sie das Sakrament der Taufe emp fangen.« »Und wie sollen wir das machen?« »Indem wir Mbemba an Bord holen und ihn Zeuge werden lassen, wie Königin Leonor den Zauber ausübt.« Der Padre wandte sich Gil zu. »Ihr müßt versuchen, Mbemba an Bord zu bringen, senhor.« Gil spähte hinaus auf den Fluss, auf die Stelle, wo sich Mbembas gro ßes Boot befand. Es war jetzt nur mehr knapp tausend Fuß von der Beatriz entfernt, und unter den kräftigen Schlägen seiner zwanzig Ru derer kam es stetig näher heran. Vier Kanus folgten in seinem Kiel 348
wasser. Und auch die vielen anderen Boote bewegten sich nun auf das Schiff und die Mündung des Flusses zu. »Holt ihn an Bord, senhor. Sagt ihm, seine Mutter ist hier.« »Das weiß er. Er war in Mpinda. Der ManiSoyo hat ihm bestimmt erzählt, dass sie mir zum Schiff gefolgt ist.« »Sagt ihm, sie will ihm den Zauber zeigen, den sie durch ihre Tau fe erworben hat.« »Auch das wird er bereits wissen. Der ManiSoyo hat es ihm sicher gesagt.« »Dessen könnt Ihr nicht gewiß sein. Fragt nach. Sprecht mit ihm. Geht zu ihm.« »Ihr könnt ihn nicht gehen lassen, Padre«, mischte sich jetzt Rod rigues ein. »Wir können ihm nicht vertrauen. Wenn wir ihn gehen las sen, wird er unsere List verraten.« »Darüber braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Ich werde nicht zu ihm gehen. Ich brauche gar nicht zu ihm zu gehen. Er kommt nämlich zu uns.« Obwohl Mbembas Boot noch gut dreihundert Fuß entfernt war, konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Ruderer mit ihren unentwegten Schlägen direkt auf die Beatriz zuhielten. Und auch die ganze Flotte rückte durch den grauen Regen immer näher; gleichzei tig begann sie, sich fächerartig über den breiten Mündungstrichter des Zaire zu verteilen. »Er kommt tatsächlich zu uns«, rief Pater de Sousa. »Deo gratias. Ge nau das, was wir wollen. Dom Tomé, macht die Geschütze bereit zum Feuern.« »Herr Kapitän?« wandte sich Rodrigues an Dias. Er war nicht bereit, von einem Priester Befehle entgegenzunehmen. »Ja, Dom Tomé, macht die Kanonen feuerbereit«, stimmte Dias ner vös zu. »Niemand darf verletzt werden, Herr Kapitän«, sagte Gil, den jähe Besorgnis ergriff, als Rodrigues auf das Hauptdeck zu den Stückpfor ten rannte. »Habt Ihr gehört, Rodrigues? Ihr dürft nicht auf diese Ka nus feuern!« 349
Rodrigues beachtete ihn nicht; er lief unbeirrt weiter. »Wo ist Königin Leonors Brevier?« fragte Pater de Sousa mit wach sender Erregung. »Mbemba muß sehen, wie sie daraus Gebete liest, wenn die Kanonen abgeschossen werden.« »Pader de Susa spricht mit mir, Gil Janesch?« mischte sich die Mban da Lwa ein, als sie ihren neuen Namen hörte. »Erklärt es ihr, Senhor Eanes. Sie kann das Pater Noster oder das Ag nus Dei lesen, es spielt keine Rolle, was. Gott wird sie erhören, gleich gültig, was sie betet, und ihr antworten, indem er sein Blitzen und Donnern auf die Erde schickt.« Gil blickte von dem Priester zur Mbanda Lwa und dann wieder hin aus auf den Fluss. Mbembas Kanu hatte das Schiff fast erreicht. »Nuno, werft ihm eine Strickleiter hinunter«, rief er dem Obermaat zu. Gonçalves verließ eilig das Achterdeck. »Senhor Eanes. Erklärt es ihr. Erklärt ihr, dass dies der Zauber ist, den sie erhalten hat.« »Das könnt Ihr ihr selbst erklären, Padre. Es ist Eure List, ein billiger Trick, mit dem ich nichts zu tun haben möchte.« Pater de Sousas Gesicht wurde aschfahl, und auch er sah jetzt wie der auf das Wasser hinaus. Mbembas Kanu und die vier Begleitboo te legten gerade an der Backbordseite der Beatriz an, wo Gonçalves die Strickleiter auswerfen ließ. »Palva, lauft zu meiner Kabine und holt mein Brevier«, rief er dem Lotsen zu und drehte sich dann wieder zu Gil um. »Ich werde es ihr erklären, senhor«, sagte er. »So schwierig ist das nicht. Beeilt Euch doch, Paiva!« Als der Lotse zur Kabine des Priesters im Heckkastell lief, erschien plötzlich Rodrigues wieder auf dem Spardeck. »Herr Kapitän!« schrie er. »Diese Wilden kreisen das Schiff ein!« Es stimmte. Die Flotte hatte sich aufgeteilt, um die Beatriz zu um zingeln. Sie war bereits vom offenen Meer abgeschnitten, nur der Weg zum südlichen Zaire-Ufer war noch frei. »Sie kommen zu nah für die Geschütze. Wenn wir das zulassen, sind die Kanonen nutzlos. Wir müssen auf offenes Wasser hinaus, Herr Ka pitän, bevor es zu spät ist!« 350
Aber es war bereits zu spät. Soeben kletterten Krieger aus Mbem bas Kanu die Strickleiter hinauf. Die Schilde hatten sie über die linke Schulter geschlungen, ihre Lanzen hielten sie in der linken Hand, und so kamen sie flink und leichtfüßig, immer zwei Männer nebeneinan der, an der Bordwand empor. »Nein!« bellte Rodrigues. »Das geht nicht an. Ihr dürft diese Wilden nicht an Bord lassen, Herr Kapitän.« »Das ist nur seine Leibwache, Herr Kapitän«, erwiderte Gil. »Er ist ein Prinz, und deshalb muß seine Leibwache bei ihm sein.« »Zur Hölle mit der Leibwache!« Rodrigues schrie seinen Soldaten und Kanonieren Befehle zu. Die Soldaten nahmen rasch Aufstellung auf dem Spardeck, mit Hel men, Rüstung und Kettenhemden angetan und bewaffnet mit ihren Armbrüsten, Arkebusen und Hellebarden. Die Kanoniere an der Re ling schwenkten die Falkonette herum. Jeder Matrose an Bord wurde mit einem Entermesser oder einem Maripfriem ausgestattet. Unten auf dem Hauptdeck luden die Kanoniere ihre Geschütze. »Ruft sie zurück, Herr Kapitän«, sagte Gil zu Dias. »Es wird keine Schwierigkeiten geben.« Aber noch bevor Dias etwas unternehmen konnte, waren die ersten zwei von Mbembas Kriegern über die Reling gestiegen und bauten sich vor dem Kapitän auf, so dass er unwillkürlich einen Schritt zurück wich. Es waren hochgewachsene, starke Männer, und nun standen sie mit erhobenen Schilden und Lanzen vor ihm; ihre Gesichter und Kör per waren in grellem Grün und Rot bemalt. Innerhalb von Sekunden folgten zwei weitere, und in kürzester Zeit formierte sich eine Phalanx von zehn Kriegern mittschiffs entlang der Reling. Und dann erschien Mbemba selbst. Das erste, was von ihm sichtbar wurde, waren die Hörner und Fe dern seines Kopfschmucks; dann tauchte sein Gesicht auf, das durch die wild aussehende Narbe vom linken Auge zum linken Mundwinkel um so beeindruckender wirkte. Wegen des peitschenden Regens kniff er die Augen zusammen, der Mund wirkte streng, um seinen Hals hing eine Kette aus Löwenzähnen. Als sein Oberkörper, der im Regen wie 351
polierter Bernstein schimmerte, über der Reling zum Vorschein kam, machten seine stark hervortretenden Muskeln, die breite Brust und die massiven Schultern sofort deutlich, dass er ein ungewöhnlich kräftiger Mann war. Er übersprang die Reling mit der Behendigkeit einer Katze, stützte sich dann leicht auf seine Lanze und sah mit der ruhigen Auto rität eines Herrschers um sich. »Mein Gott«, murmelte Pater de Sousa, »was für eine prachtvolle Kreatur!« Mbemba musterte den Priester und dann Dias, als die beiden vom Achterdeck herunterkamen; dann wanderte sein Blick von Gonçal ves zu Rodrigues und den Soldaten und Kanonieren, die hinter die sem aufgereiht standen, und weiter zu den Matrosen, die in den Wan ten und im Takelwerk des Schiffes hingen; er betrachtete die gesamte Mannschaft mit einem bedrohlichen Schweigen, einer gefährlichen Ruhe, ohne dass sein Gesicht die geringste Regung verriet. Als näch stes nahm er das gesamte Schiff vom Bug bis zum Heck in Augen schein, und dabei fiel Gil ein, dass Mbemba noch nie auf einer Kara velle gewesen war. Vor Jahren hatte er bei Mpinda die Leonor vor An ker liegen sehen, doch Diogo Cãos Einladung, an Bord zu kommen, hatte er in seinem jungenhaften Stolz abgelehnt. Was dachte er wohl nun über all die Dinge, die er hier sah? War er so beeindruckt, so er staunt, so fasziniert, wie er es erwartet hatte? Falls er es war, verzog er jedenfalls keine Miene. Statt dessen wandte er sich an die Mban da Lwa. Die Königin stand noch immer mit Nimi und Kimpasi auf dem Ach terdeck. Sie wirkte nervös, aber sie versuchte, tapfer zu sein, und lä chelte ihrem Sohn zu. »Warum hast du meinen Befehl missachtet, Mutter?« fragte Mbemba sie leise, als wolle er vermeiden, dass die anderen es hörten. »Warum bist du zu den weißen Männern gekommen, obwohl ich es dir verbo ten habe?« »Ich hatte einen guten Grund, und wenn du ihn erfährst, wirst du froh sein, dass ich gekommen bin …«, begann sie trotzig. Doch sie führte ihren Gedanken nicht zu Ende. Plötzlich verschwand ihr Lä 352
cheln; es wich einem Ausdruck des Erstaunens und dann schierem Entsetzen. Nimi begriff nicht, warum ihre Mutter ihren Satz nicht zu Ende ge bracht hatte, und sprach für sie weiter. »Sie hat gelernt, den Zauber der Schrift zu benutzen, Mbemba«, erklärte sie. »Sie ist jetzt eine Katho likin, und darum weiß sie nun, wie man den Zauber der Schrift be nutzt.« »Sei still«, erwiderte Mbemba kühl. »Nein, ich bin nicht still! Du mußt ihr erlauben, dir den Zauber zu zeigen. Er wird dich zum König machen.« »Gil, sie ist deine Frau. Sag ihr, sie soll schweigen.« »Nimi.« Gil ging zu ihr. »Werft sie in den Fluss.« Gil drehte sich blitzschnell um. Zwei von Mbembas Kriegern kamen auf das Achterdeck. Im ersten Moment dachte Gil, sie wollten Nimi et was antun, und stellte sich schützend vor sie, bereit, sofort das Messer zu ziehen. Aber sie hatten es nicht auf Nimi, sondern auf die Mbanda Lwa abgesehen. Die Königin wich zurück. Die beiden Krieger packten sie. »Werft sie in den Fluss«, wiederholte Mbemba. Sie war eine kleine Frau; einer der Männer reichte aus, um den Be fehl auszuführen. Er ergriff sie an den Hüften, hob sie über die Reling und ließ sie einfach fallen. Sie überschlug sich, landete mit einem lau ten Klatschen rücklings auf der Wasseroberfläche und versank wie ein Stein.
»Du grober Kerl!« schrie Nimi, als ihre Mutter wieder auftauchte und wild in dem regengepeitschten Wasser um sich zu schlagen begann. »Du grober Kerl! Du Narr!« Die Krieger in einem der Kanus, die Mbemba begleitet hatten, fisch ten die Königin aus dem Wasser und brachten sie sofort nach Mpinda zurück. Sie kauerte sich auf den Boden des Bootes und bedeckte den 353
Kopf mit beiden Händen; sie war aufs äußerste gedemütigt worden, aber zumindest schien sie sich bei dem Sturz nicht verletzt zu haben. Erschreckt von dem Übergriff gegen seine Großmutter und dem Ge schrei seiner Mutter, begann Kimpasi zu weinen. »Du bist ein grober Kerl, Mbemba, und außerdem ein Dummkopf!« Nimi war außer sich. »Halt dich aus dieser Sache heraus, Nimi.« Gil ergriff ihren Arm, um zu verhindern, dass sie auf ihren Bruder losging. Sie versuchte, sich loszumachen. »Er könnte König sein«, jammerte sie, und Tränen der Wut und Enttäuschung standen in ihren Augen. »Er könnte durch den Zauber der weißen Männer König werden, und dann wäre ich die Schwester des Königs und wieder eine Prinzessin in meinem eigenen Land!« »Ich sagte, halt dich aus dieser Sache heraus!« Gil schüttelte sie zor nig. Sie verfolgten jetzt gegensätzliche Ziele – und das taten sie bereits, seit die Mbanda Lwa ihren Plan eines Bündnisses zwischen den Soyo und den Portugiesen offenbart hatte. Gil lehnte dieses Vorhaben strikt ab. Nimi dagegen, die sich vom hässlichen Aussehen der weißen Män ner abgestoßen fühlte und den verlockenden Vorstellungen ihrer Mut ter Glauben schenkte, hielt ein solches Bündnis für den besseren Weg, um ihren Status als Prinzessin wiederzuerlangen, als eine Flucht mit Gil nach Portugal. Gil erkannte, dass ihm daraus endlose Probleme erwachsen konnten, falls er sie nicht von vornherein in ihre Schran ken wies. »Dein Sohn heult, Frau«, fuhr er sie an. »Kümmere dich gefälligst um ihn.« Verschreckt von seinem barschen Ton – so hatte Gil noch nie mit ihr gesprochen – lief Nimi zu Kimpasi, legte den Arm um ihn und ver suchte, ihn zu trösten. Aber gleichzeitig warf sie ihrem Bruder zorni ge Blicke zu. Mbemba nahm keine Notiz von ihr. Er hatte ihr den Rücken zuge wandt und blickte über den Fluss auf das Südufer. Dort, zwischen den schwarzen Felsblöcken, gegen die die sturmgepeitschte Flut anbrande 354
te, versammelten sich gerade etwa hundert mit Langbogen und Pfei len bewaffnete Soyo-Krieger. In ihren dunkelblauen Kangas waren sie leicht zu erkennen, doch Gil nahm sie erst jetzt wahr. Was machten sie dort? War ihr Vorstoß ein Teil von Mbembas Plan, die Beatriz zu vertreiben? Oder waren sie erst aufgebrochen, nachdem die Mbanda Lwa nach Mpinda zurückgekehrt war? Gil schaute Mbemba fragend an, aber der Prinz wich seinem Blick aus. »Nuno Gonsalves«, sagte er dann. Gonçalves sah überrascht auf, als er seinen Namen hörte. »Du erinnerst dich an ihn, Mbemba?« fragte Gil verblüfft. »War er nicht dabei, als die Porta Gies mit Djogo Cam zum ersten mal zu uns kamen?« »Ja, das stimmt.« »Ich erinnere mich, dass er rechts von Djogo Cam stand.« »Er erinnert sich an Euch, Nuno.« »Mbemba a Nzinga.« Gonçalves nickte als Andeutung einer ehrer bietigen Verbeugung leicht mit dem Kopf. »Fahr nach Hause, Nuno Gonsalves«, sagte Mbemba ruhig, aber ge bieterisch. »Kehre zurück in dein Land am anderen Ufer des Meeres. Du bist hier nicht willkommen.« Hielt er Gonçalves vielleicht für den Kapitän, nun, da Diogo Cão nicht mehr hier war? Oder sprach er ihn einfach deshalb an, weil er unter all den hässlichen Fremden das einzige bekannte Gesicht war? »Wenn du für deine Heimreise Lebensmittel benötigst, werden wir sie dir zur Verfügung stellen. Falls du für die Reise in dein Land am anderen Ufer des Meeres Tuch oder Werkzeuge, Wein oder Wasser brauchst, wirst du auch das bekommen. Aber mach dich auf den Weg, Nuno Gonsalves. Fahre zurück in diese unbekannte Welt, aus der du gekommen bist, oder wir werden dich vernichten, um uns vor dem Bö sen zu bewahren, das du von dort zu uns bringst.« Gonçalves entgegnete nichts, als Gil ihm diese Botschaft übersetzte. Es war nicht an ihm, darauf zu antworten. Er bückte fragend auf den Kapitän und Pater de Sousa. Und der Padre setzte sofort zu einer Rede an. »Von welchem Bösen 355
sprichst du, Mbemba a Nzinga? Wir bringen kein Übel. Sagt ihm das, Senhor Eanes. Sagt ihm, wir sind nicht mit bösen Gedanken im Her zen hierhergekommen, sondern in Frieden und Freundschaft, und um das Wissen unserer Welt zu verkünden, seine Welt kennenzulernen, Handel zu treiben und das Wort des einzigen, des wahren Gottes zu predigen.« »Das habe ich ihm alles längst gesagt, Padre«, erwiderte Gil erregt. »Glaubt Ihr etwa nicht, dass ich ihm genau diese Dinge schon neulich in Mbanza Kongo mitgeteilt habe? Du lieber Gott, wie oft soll ich ihm das Eurer Meinung nach noch sagen, bis Ihr endlich begreift, dass seine Entscheidung feststeht? Er will, dass wir abfahren, und sonst nichts!« »Dann sagt ihm, dass wir das tun werden.« »Was?« Es war Rodrigues, von dem diese Bemerkung kam. »Das ist der beste Weg heraus aus der Falle, in der wir im Augenblick sitzen«, führt der Schiffsprofos fort. »Seine Kanus haben uns von der See abgeschnitten. Sie sind zu nah für unsere Kanonen. Aber wenn wir sagen, wir fah ren ab, wird er sie zurückrufen. Er wird uns losfahren lassen, und wir segeln so lange, bis wir auf offener See sind. Und dann – bei Gott! –, dann wenden wir und kehren mit vollem Geschützfeuer wieder zu rück.« »Nein.« »Aber versteht Ihr denn nicht, Padre? Wir können unseren Trick nicht mehr verwirklichen. Die Königin Leonor ist nicht mehr an Bord. Dieser schlaue Wilde hat sie weggeschafft. Also haben wir gar keine andere Wahl.« »Es muß eine andere Wahl geben. Wir werden das Ziel, dessentwe gen wir hierhergekommen sind, niemals mit Gewalt erreichen.« Pater de Sousa faltete die Hände. »O himmlischer Vater, hilf mir, damit er versteht, dass wir nichts Böses im Schilde führen. Hilf mir, ihm deut lich zu machen, dass er in deinen Augen eine heldenhafte Tat voll bringt, wenn er uns in seinem Land willkommen heißt und seine Welt mit der unseren vereint. Er würde damit sein Königreich zivilisieren. Er würde die Seelen seiner Untertanen vor der ewigen Verdammnis 356
bewahren, wie es mit dem Volk der Ashanti in São Jorge da Mina ge schehen ist … Ja – São Jorge da Mina! Das ist es, Senhor Eanes. Damit können wir ihn dazu bringen, dass er seine Haltung überdenkt. Das ist das Beispiel, von dem wir ihm berichten müssen. Erzählt ihm von den Ashanti in São Jorge da Mina, senhor.« »Was soll ich ihm von denen erzählen?« fragte Gil. »Sagt ihm, dass unsere Siedlung bei den Ashanti diesem Volk viel Gutes gebracht hat. Berichtet ihm, wie unser Handel sie reicher ge macht hat, wie unsere Kirche sie aufgerichtet hat, wie unsere Waffen ihnen gegen ihre Feinde helfen und wie unsere Schiffe ihnen den Zu gang zu der ganzen Welt eröffnet haben …« Mbemba wusste nichts von den Ashanti (Gil erinnerte ihn daran, dass Segou diesem Volk angehört hatte), und er hatte auch noch nie von São Jorge da Mina gehört (Gil erklärte, dieser Ort läge jenseits des nördlichsten Horizonts des Kongo-Gebiets). Doch der Hinweis, dass die Portugiesen ein anderes afrikanisches Land besucht hatten und dort willkommen geheißen worden waren, weckte sein Interesse und machte ihn neugierig; und da er sich genau das immer für sein eige nes Volk gewünscht hatte, wurde er sogar etwas neidisch. Seine stei nerne Miene wurde weicher; er ließ den Blick wieder über die Beatriz schweifen und betrachtete all die Wunderdinge, die in seinem Land unbekannt waren – das Schiff selbst, die an Flügel erinnernden Segel, die komplizierte Takelage und die vielen mechanischen Gerätschaf ten, das Kompasshaus, die Waffen und Rüstungen von Soldaten und Mannschaft, die Geschütze … all jene Dinge, die die weißen Männer, wie Gil berichtete, in dieses andere afrikanische Land, zu diesem an deren Volk Afrikas, gebracht hatten. »Und auch die Schrift?« fragte er. »Die Schrift?« »Haben die Porta Gies diesen Ashanti auch die Schrift gebracht?« »Viele dieser Ashanti sind Katholiken geworden, genau wie deine Mutter, Mbemba.« »Und die Worte, die diese Ashanti sprechen – sind sie auch zu Schrift gemacht worden?« 357
Gil legte den Kopf zur Seite; er verstand Mbembas Frage nicht. »Ist aus den Worten, die diese Ashanti sprechen, Schrift gemacht worden, Gil? Kann man aus den Worten eines jeden Volkes Schrift machen? Können die Porta Gies auch aus den Worten meines Volkes Schrift machen?« »Das weiß ich nicht.« »Das wäre der allergrößte Zauber«, sagte Mbemba nachdenklich. Natürlich wäre das der allergrößte Zauber. Von allem, was die wei ßen Männer anzubieten hatten – ihren Künsten, ihren handwerkli chen Fertigkeiten und der spirituellen Kraft des Christentums –, war die Schrift das einzige, was die Kongo überhaupt nicht kannten. Sie hatten ihren eigenen Gott und ihre Priester, sie hatten ihre Rituale – sie brauchten die Riten der Kirche nicht. Ebensowenig konnte Portu gal ihnen etwas liefern, das in ihrem Alltag einen Fortschritt bedeutet hätte gegenüber den Erzeugnissen ihrer eigenen Weber und Schmie de, Bauern und Hirten, Jäger und Fischer, Maurer, Zimmerleute, Holz schnitzer und Bildhauer. Doch eine Schrift, eine geschriebene Spra che, würde ihre Kultur mit Sicherheit stärker verändern als jede Lei stung europäischen Erfindergeistes und jeder Gedanke der christli chen Theologie. Und es war ein Beweis für Mbembas außergewöhnli che Weitsicht, dass er ebendies erkannte. »Frag deinen Priester, ob man aus den Worten der Kongo Schrift ma chen kann«, forderte er. Doch diese Frage wollte Gil Pater de Sousa nicht stellen. Er wus ste, dass der Priester diesen Gedanken ebenso begierig aufgreifen wür de wie den Wunsch der Mbanda Lwa, getauft zu werden. Wie in der Sehnsucht der Königin, Zauberkräfte zu erlangen, würde er darin eine Schwäche sehen, die es auszunützen galt – eine Gelegenheit, fal sche Versprechungen zu machen und Mbemba durch eine List zu täu schen. »Frag ihn«, wiederholte Mbemba ungeduldig. »Er will wissen, ob man die Sprache der Kongo in Schrift fassen kann, Padre.« Pater de Sousas bleiches Fuchsgesicht hellte sich voller Erstaunen auf. 358
»Guter Gott!« rief er. »Das will er wissen? Wie außergewöhnlich! Welch ein außergewöhnliches Geschöpf er doch ist! Mit Zaubertricks ist ihm wahrhaftig nicht beizukommen; vom Donner unserer Geschütze läßt er sich nicht beeindrucken. Aber Schrift, eine geschriebene Sprache … wie ungewöhnlich, dass ausgerechnet dies seine Fantasie erregt – ein heidnischer Neger aus dem Urwald …« »Nun, geht das oder geht es nicht, Padre?« »Es geht. Ich bin mir sicher, dass das möglich ist. Es wäre wohl nicht einfach, es würde großer Anstrengungen bedürfen. Aber es wäre machbar – wenn man dafür viel Zeit hat.« Wieviel Zeit, drängte Mbemba. »Woher soll ich das wissen? Soweit mir bekannt ist, hat noch nie je mand versucht, eine Schrift für eine Sprache von Wilden zu entwik keln. Mein Gott, stellt Euch nur vor, was das für eine Arbeit wäre. Man müßte ein Vokabular erstellen und die Grammatik genau un tersuchen. Man müßte ein Alphabet erfinden, das die Aussprache der Wörter wiedergibt. Es könnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, auch nur einen Anfang zu machen. Aber es wäre die Mühe wert. Gro ßer Gott, was wäre das für eine großartige Leistung! Wir könnten sie allen Menschen beibringen. Wir könnten die Bibel in diese Sprache übertragen … Sagt ihm das, Senhor Eanes. Sagt ihm, wenn er uns in seinem Land willkommen heißt, wenn er uns erlaubt, hier eine Kirche und eine Siedlung mit einem Handelsstützpunkt zu bauen, dann wer den wir den Zauber einer geschriebenen Sprache in sein Reich brin gen.« »Frag ihn, welche Art von Siedlung er meint.« Mbemba blieb mis strauisch. »Warum soll ich ihn das fragen? Was macht das für einen Unter schied?« »Frag ihn, ob die Siedlung auf deiner Insel im Fluss gebaut werden könnte.« »Worauf willst du hinaus, Mbemba? Du glaubst doch nicht, dass du eine solche Siedlung geheimhalten könntest?« »Ich habe gesagt, du sollst ihn fragen, Gil.« 359
Doch bevor Gil die Frage an den Padre richten konnte, fuhr Rod rigues dazwischen. »Was ist jetzt los? Dort drüben. Schaut dort hinüber.« Der Schiffsprofos deutete auf das Südufer, wo sich die Soyo-Krieger ver sammelt hatten. »Was haben diese Wilden vor?« fragte er beunruhigt. Die Soyo ließen etwa ein halbes Dutzend Kanus zu Wasser. Eines war größer als die übrigen; es fuhr voraus, und die kleineren Boote es kortierten es. Mbembas Kanus, die die Beatriz umzingelt hatten, öff neten eine Gasse für die kleine Flotte. Mbemba trat an die Reling; zu Gils Überraschung schien er über diesen Vorgang ebenso verblüfft zu sein wie alle anderen. »Der ManiSoyo«, sagte er. Gil stellte sich neben ihn. »Warum kommt er?« fragte er. Mbemba schüttelte den Kopf. »Du hast ihn nicht gebeten zu kommen?« »Nein.« »MtuKongo«, rief der ManiSoyo von seinem Kanu zum Schiff her auf. »Hörst du mich, MtuKongo?« »Ich höre dich, ManiSoyo.« »Du bist verraten worden, MtuKongo. Der NsakuSoyo hat dich ver raten. Er hat eine Nachricht nach Mbanza Kongo geschickt, dass die weißen Männer wiedergekommen sind.« Mbemba zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten. »Wer ist das?« fragte Dias. »Der ManiSoyo.« »Der Häuptling der Soyo?« »Ja.« »Lasst ihn nicht an Bord kommen.« Doch der ManiSoyo schien gar nicht an Bord kommen zu wollen. Er sah nur ängstlich zu dem großen Schiff hinauf, während seine Rude rer das Kanu in einiger Entfernung von der Backbordseite hielten. »Es tut mir leid, MtuKongo. Ich habe nichts davon gewusst. Der NsakuSo yo hat die Nachricht nach Mbanza Kongo geschickt, ohne mir etwas davon zu sagen.« 360
»Wann?« fragte Mbemba. »Sobald er von der Mbanda Lwa erfuhr, dass die weißen Männer wieder hier sind.« »Also muß die Nachricht bald in Mbanza Kongo eintreffen.« »Das ist schon geschehen, MtuKongo. Die Läufer des NsakuSoyo wa ren schnell. Dein Bruder, Mpanzu a Nzinga, weiß bereits Bescheid.« Mbemba schloss einen Moment die Augen. »Und du weißt, was er jetzt glaubt, MtuKongo. Er glaubt, dass du dich gegen den König erheben willst. Weil du ihm die Rückkehr der weißen Männer verschwiegen hast und heimlich mit diesem großen Heer hierhergezogen bist, glaubt er, dass du dich mit ihnen gegen das Reich verbünden willst. Er wird sich daran erinnern, wieviel Gefallen du als Junge an ihnen fandest. Er wird an die vielen Pläne der Mban da Lwa denken, dich an seiner Statt zum König zu machen. Und er wird sich daran erinnern, dass du der Sohn der Mbanda Lwa bist, und glauben, dass du nun zusammen mit deiner Mutter um die Hilfe der weißen Männer bittest, damit du den Kongo-Thron besteigen kannst. Und deshalb wird er mit einer Armee hierherkommen, die hundert fach größer ist als deine, um den Aufstand seines Bruders niederzu schlagen und die weißen Männer zu verjagen.« »Weißt du sicher, dass es so ist, ManiSoyo? Weißt du, dass er mit ei ner Armee hierherkommt, die noch größer ist als meine?« »Ja, das weiß ich, MtuKongo.« Wieder schloss Mbemba gequält die Augen. Damit war sein Plan hinfällig und seine Strategie, die Portugiesen ohne einen Krieg zu ver treiben, gescheitert. »Müssen wir uns davor fürchten, MtuKongo?« rief der ManiSoyo herauf. »Warum fragst du das?« »Weil die Mbanda Lwa sagt, wir brauchen keine Angst zu haben. Sie sagt, sie hat den starken Zauber der weißen Männer erworben. Sie sagt, sie hat jetzt die Macht, zum Gott der weißen Männer zu sprechen und sein Blitzen und Donnern zu erbitten, und deshalb gibt es nichts zu fürchten, gleichgültig, wie groß Mpanzus Armee ist.« 361
»Die Mbanda Lwa«, sagte Mbemba verbittert. »Alles wäre gutgegan gen, niemand hätte gewusst, dass die weißen Männer wieder hier sind, wenn meine Mutter sich aus dieser Sache herausgehalten hätte, wie ich es ihr befohlen habe.« »Aber ist es so, MtuKongo? Hat die Mbanda Lwa wirklich einen so starken Zauber erworben? Denn wenn das wahr ist, dann werde ich Mpanzus Armee ebenso wenig fürchten wie sie.« »Wovon reden sie?« wollte Dias jetzt wissen. Gil drehte sich zu ihm um. »Mpanzu ist hierher unterwegs, Herr Ka pitän, mit einer Armee, die noch größer ist als diese.« »Mpanzu? Mbembas Bruder?« »Ja. Er hat erfahren, dass wir hier sind, und kommt mit einem Heer, das doppelt so groß ist wie Mbembas, um uns zu vertreiben. Und er wird nicht so vernünftig vorgehen wie Mbemba, das kann ich Euch versichern. Er wird nicht erst an Bord kommen, um mit uns zu re den, und er wird uns auch keinen Proviant für die Heimreise anbie ten. Wenn wir uns nicht aus dem Staub machen, bevor er hier eintrifft, wird er uns sofort mit seiner gesamten Streitmacht angreifen.« »Wann wird er hier sein?« fragte Rodrigues. »Einen Moment, Dom Tomé«, unterbrach jetzt Pater de Sousa. »Nur einen Moment, einen kleinen Moment. Da ist etwas, das ich nicht ganz verstehe. Ihr sagt, Mpanzu habe jetzt erfahren, dass wir hier sind, Se nhor Eanes? Wusste er das nicht von Anfang an? Hat Mbemba ihm das nicht mitgeteilt?« Gil hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er erkannte, dass er sich verraten hatte. Pater de Sousas dünne, rote Lippen verzogen sich zu einem wissen den Lächeln. »Er hat es ihm also nicht mitgeteilt. Er hat unser Hiersein vor ihm geheimgehalten. Offenbar teilt er also nicht Mpanzus Mei nung über uns.« »Er wollte uns lediglich eine Chance geben, die Mpanzu uns nicht eingeräumt hätte«, gab Gil hastig zurück. »Eine Gelegenheit, mit heiler Haut wieder von hier fortzukommen. Aber wenn wir diese Gelegenheit nicht ergreifen, wird er uns ebenso mit Gewalt verjagen wie Mpanzu.« 362
»Ich glaube, es ist gar nicht so sicher, dass Mbemba uns vertreiben will, wie Ihr offenbar meint, Senhor Eanes. Warum würde sein Bruder sonst mit einer eigenen Armee anrücken?« Gil antwortete nichts. »Ich frage mich, wer noch – abgesehen von Mbemba – Mpanzus Mei nung über uns nicht teilt?« fuhr der Priester fort. »Königin Leonor auf jeden Fall. Das wissen wir. Vielleicht ist der ManiSoyo ebenfalls ande rer Meinung – oder vielleicht wäre er es, wenn Königin Leonor ihm ih ren starken Zauber durch die Kraft ihres neuen Glaubens zeigen könn te … Wenn sie bloß wieder bei uns an Bord wäre …« Gil wandte sich angeekelt von ihm ab. »Was wirst du tun, wenn Mpanzu kommt, MtuKongo?« drang der ManiSoyo in Mbemba. »Wirst du gegen ihn kämpfen? Das sagt je denfalls die Mbanda Lwa – sie meint, jetzt, da sie den starken Zauber der weißen Männer besitzt, solltest du gegen ihn kämpfen, und wir, die Soyo, sollten dich unterstützen, damit du auf den Kongo-Thron kommst – ein Prinz, durch dessen Adern Soyo-Blut fließt.« »Wiederhole nicht die Dummheiten der Mbanda Lwa, ManiSoyo«, erwiderte Mbemba zornig. »Natürlich werde ich nicht gegen Mpanzu kämpfen, und du ebensowenig. Er ist der Thronfolger des ManiKon go. Wir erheben uns nicht gegen unseren König. Wir wollen den Kon go-Thron nicht.« »Was wirst du also tun?« Mbemba schaute über die Schulter noch einmal auf das Schiff zu rück. Die ganze Verwirrung und Unentschlossenheit, die ihm anzu sehen gewesen war, als er von der Rückkehr der Portugiesen gehört hatte, lag auch jetzt wieder auf seinem Gesicht. All seine widerstrei tenden Gefühle über die weißen Männer waren darin zu lesen. Schon ihre Nähe, die bloße Nähe all der wunderbaren Dinge, die sie besaßen, stellte seine Treue wieder vor eine Zerreißprobe. »Wirst du die weißen Männer vertreiben, bevor Mpanzu mit seiner Armee kommt? Willst du das tun, MtuKongo?« Mbemba wandte sich wieder dem Fluss zu. »Nein, ManiSoyo«, ant wortete er nachdenklich, wobei er fast mehr zu sich selbst sprach als 363
zum Häuptling der Soyo. »Nein, ich werde die weißen Männer nicht vertreiben, bevor Mpanzu kommt. Ich werde zu ihm gehen. Ich wer de ihn auf dem Weg hierher abfangen und ihn bitten, sich die weißen Männer mit eigenen Augen anzuschauen. Er hat sie noch nie gesehen. Und deshalb werde ich zu ihm gehen und ihn bitten, in Frieden zu den weißen Männern zu kommen und sie sich mit eigenen Augen anzuse hen.« »Nein, Mbemba«, rief Gil erschrocken und verärgert darüber, dass Mbemba zögerte, die Beatriz zu verjagen. Er wollte nicht, dass der Prinz etwas unternahm, was das Schiff davon abhalten würde, mit ihm, Nimi und Kimpasi an Bord nach Portugal zurückzukehren. »Tu das nicht.« »Ich muß.« »Weshalb? Etwa wegen der Schrift?« »So könnte man es auch sagen.« »Ist sie dir wirklich soviel wert?« »Sie ist etwas, wovon mein Volk keine Vorstellung hat. Etwas, wovon wir nicht einmal träumen konnten. Etwas aus einer Welt, die uns völ lig unbekannt ist. Und deswegen ist sie mir wirklich sehr viel wert, ja. Denn durch sie könnten wir Dinge erfahren, von denen wir nie etwas wussten; wir könnten uns Dinge vorstellen, die wir uns noch nie haben vorstellen können; träumen, wovon nicht einmal der weiseste unserer Zauberer je geträumt hat – von einer Welt, die größer ist als die unsere, der Welt auf der anderen Seite des Meeres. Wir sollten diese Welt ken nenlernen, Gil. Wir sollten ein Teil von ihr werden. Und offenbar ist es meine Aufgabe, dies ins Werk zu setzen.« »Und das willst du Mpanzu sagen, wenn du ihn auf dem Weg hier her triffst?« »Er ist kein schlechter Mensch, Gil. Er schätzt nur die Lage falsch ein. Bald wird mein Vater sterben und Mpanzu unser König werden. Und er wird ein größerer König sein, wenn ich ihn davon überzeugen kann, diese größere Welt kennenzulernen und ein Teil von ihr zu wer den.« 364
KAPITEL 9
G
il, Kleiner – wach auf!« Gil drehte sich auf den Rücken, öffnete die Augen und sah Gon çalves, der sich über seine Koje beugte. Er befand sich in einer kleinen Kajüte im Heckkastell gegenüber der des Kapitäns; Pater de Sousa hatte sie für die Mbanda Lwa, Nimi und Kimpasi herrichten lassen, als sie in der Wasserfallbucht an Bord der Beatriz gekommen waren. Auch die Habseligkeiten der Gäste waren dort untergebracht. Nimi schlief mit ihrem Sohn im Arm auf dem Boden in der Mitte der Kabine. Zuerst hatten die beiden sich in der zweiten Koje der Kabine hingelegt, sie dann aber im Lauf der Nacht verlassen, weil sie an die weiche Bettstatt nicht gewöhnt waren. Eine tropfende Öllampe, die mit den Bewegungen des Schiffes hin und her schwankte, hing von einem Deckenbalken herab und spendete ein spärliches orangefarbenes Licht. »Was ist los, Nuno?« »Die Königin ist hier.« »Was?« Aufgeschreckt setzte Gil sich auf. »Die Königin Leonor ist zum Schiff gekommen. Sie will dich se hen.« »Habt Ihr sie an Bord gelassen?« »Nein.« »Sie darf nicht an Bord kommen. Ihr wißt doch, was dann passie ren würde.« »Ja, das weiß ich.« »Wo ist sie?« »In einem Kanu an der Steuerbordseite.« Gil blickte zu Nimi. Gott sei Dank, sie schlief noch. Er wollte nicht, 365
dass sie aufwachte; wenn sie erfuhr, wo die Mbanda Lwa war, würde sie bestimmt versuchen, sich für ihre Mutter einzusetzen. »In Ordnung, Nuno, ich komme. Aber weckt niemand anderen auf. Niemand darf davon erfahren.« Er schob die raue wollene Decke beiseite, zog seine Kanga an, fuhr sich mit den Fingern durch die langen Haare, band sich das Messer mit dem elfenbeinernen Griff an den Gürtel und folgte Gonçalves aus der Kabine hinaus. Bald würde der Tag anbrechen. Während der Nacht war der Sturm abgeklungen, ein Großteil der Wolken war über das Meer hinausgetrieben worden, und die Sterne verblassten bereits im perlgrauen Licht der ersten Morgendämmerung. »Habt Ihr gerade Wache, Nuno?« »Nein.« »Wer dann?« »Paiva.« Gil sah sich nach dem Lotsen um, der lässig am Kompasshaus auf dem Achterdeck lehnte. »Warum seid Ihr dann auf?« »Ich konnte nicht schlafen.« Trotz des trüben Lichts konnte Gil die Sorgenfalten erkennen, die sich auf dem gutmütigen Gesicht des Obermaats abzeichneten. »Es wird Ärger geben, Kleiner. Das spüre ich in den Knochen.« »Ich auch, Nuno. Ich hätte mich nicht schlafen legen dürfen.« »Von jetzt an sollten wir vielleicht nur abwechselnd schlafen.« »Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Gil lächelnd. Er war froh, einen Freund bei sich zu haben, auf den er sich verlassen konnte. Gemeinsam gingen sie mittschiffs zur Steuerbordreling. Die Beatriz lag inzwischen mit gestrichenen Segeln in der Bucht von Mpinda. Sie war am Vorabend mit Mbemba an Bord und auf seinen Befehl hin hierher gekommen, wobei Gil dem Steuermann im strö menden Regen beigestanden hatte. Dann hatte Mbemba das Schiff verlassen und sich zusammen mit einigen Kriegern seiner Leibwa che auf den Weg zu Mpanzu gemacht. Seine Flotte aus Kriegskanus, die die Beatriz die Flussmündung entlang bis nach Mpinda begleitet hatte, lag in einem Kordon quer über der Bucht und versperrte dem 366
Schiff den Weg, ebenso wie sie es zuvor im Mündungsbecken getan hatte. Die Kanus hatten ihre Position nicht verändert, nur brannten jetzt auf vielen von ihnen Fackeln. Aber etwas anderes war passiert, wäh rend Gil geschlafen hatte: Am Ufer vor Mpinda waren jetzt ebenfalls Kriegskanus aufgereiht, doch sie gehörten nicht Mbemba. Es waren die Kanus des Mani-Soyo. Eines von ihnen war zum Schiff herüberge fahren. Wenn Gil nicht von Gonçalves gewusst hätte, dass die Mban da Lwa zusammen mit einigen Soyo-Leibwächtern darin stand, hätte er sie im trüben Licht der Fackeln nicht erkannt. »Mbanda Lwa!« rief er zu ihr hinunter. »Ist das Gil Janesch?« »Ja, ich bin es. Was wünschst du?« »Wirf mir die Strickleiter herab, Gil Janesch, damit ich auf das bwa to kommen kann.« »Das darf ich nicht, Mbanda Lwa; es ist verboten.« »Wer verbietet es?« »Du weißt sehr wohl, wer das verbietet – dein Sohn, der MtuKon go.« Sie schwieg einen Augenblick, um diese Antwort zu überdenken, und sagte dann mit lauter, herrischer Stimme: »Wirf die Leiter herab, Gil Janesch. Ich bin Katholikin und möchte mit meinem Priester spre chen.« Das gefiel Gil gar nicht. Die Stimme der Mbanda Lwa war in der Stille allzu deutlich zu vernehmen. Paiva, der am Achterdeck Wache schob, würde sie hören und neugierig herüberkommen. Und dann würde er die anderen benachrichtigen, denen ohnehin nichts lieber ge wesen wäre, als die Mbanda Lwa wieder an Bord zu haben. »Helft mir, die Leiter hinunterzulassen, Nuno.« »Willst du sie an Bord kommen lassen?« »Nein, ich gehe zu ihr.« Bevor Gil die Strickleiter hinunterkletterte, sah er sich rasch um. Paiva schien nicht bemerkt zu haben, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging; vielleicht döste er. Der Posten im Krähennest am Hauptmast 367
konnte zwar das Soyo-Kanu neben dem Schiff sehen, aber auch, dass der Obermaat die Situation in der Hand hatte; vermutlich war er zu dem Schluß gekommen, dass es überflüssig war, Alarm zu schlagen. Und offenbar waren die übrigen Matrosen der Wache der gleichen An sicht. Möglicherweise hatte Gonçalves ihnen sogar Bescheid gegeben. Gil dankte Gott für die Umsicht dieses Mannes. Anscheinend begriff er den Ernst der Lage und war aus Freundschaft zu Gil bereit, ihm die sen Dienst zu erweisen. Aber wie weit würde seine Hilfsbereitschaft gehen? Sicher nicht bis zur offenen Befehlsverweigerung. Dafür war er ein zu guter Matrose und ein zu loyaler Maat. In dem Kanu stand neben der Mbanda Lwa der Mani-Soyo. Das überraschte Gil zunächst, aber dann wurde ihm klar, dass er damit hätte rechnen müssen. Die Anwesenheit des Soyo-Herrschers erklärte, warum die Mbanda Lwa zur Beatriz gekommen war, sobald sie wus ste, dass Mbemba fort war. Gil sprang von der untersten Sprosse in das Boot. »ManiSoyo.« Der alte Häuptling nickte lediglich. Das Altern war ihm gut bekom men; vielleicht war er damals auch noch gar nicht so alt gewesen, wie Gil als Junge es geglaubt hatte. Mit seinem untersetzten Körper, den weißen Haaren, dem wunderschönen Gewand aus Reiherfedern und den gleichen Federn im Haar wirkte er noch immer so gütig und groß väterlich wie damals. Wenn der NsakuSoyo Gils erster Feind im Kon go-Reich gewesen war, dann war der ManiSoyo sein erster Freund ge wesen. Selbst jetzt wirkte er nicht feindselig, sondern lediglich zurück haltend, als ob er sich noch nicht schlüssig wäre, auf welche Seite er sich in diesem Konflikt widerstreitender Hoffnungen und Ambitionen stellen sollte. Hinter ihm, in den Kanus am Flussufer seines Dorfes, knieten Tausende seiner Krieger und blickten auf Tausende von Krie gern Mbembas in den Kanus auf dem Fluss. Würden sie gegeneinan der kämpfen oder Seite an Seite? »Sag Pader de Susa, dass ich hier bin, Gil Janesch. Sag ihm, dass Kö nigin Leonor, die er selbst zur ersten katholischen Königin der Kongo ernannt hat, mit ihm sprechen möchte.« 368
»Worüber möchtest du mit ihm sprechen?« »Ich habe die Mbanda Lwa gebeten, ihr Versprechen mir gegen über einzulösen, Gil Janesch«, brach der ManiSoyo sein abwartendes Schweigen. »Ich habe sie gebeten, mir den Zauber zu zeigen, den sie jetzt zu besitzen behauptet.« Genau das hatte Gil vermutet. Er wusste auch, dass Pater de Sou sa und Rodrigues ihr diesen Wunsch nur allzu gern erfüllen würden, wenn Gil es nicht verhinderte. Die beiden würden die Geschütze ab feuern lassen, und das würde den ManiSoyo verblüffen und beein drucken. Die donnernden Explosionen, die Blitzschläge des entflamm ten Pulvers, die von den Kugeln aufgewühlte Erde und die von Trau bengeschossen zerschmetterten Bäume, möglicherweise gar einige tot zu Boden sinkende Männer – da der Herrscher derlei noch nie gese hen hatte, würde es ihm unweigerlich wie ein schrecklicher Zauber er scheinen. Aber wäre dieser Zauber auch schrecklich genug, um ihn zu veranlassen, sich gegen seinen König aufzulehnen? »Warum mußt du mit Pater de Sousa sprechen, um dem ManiSoyo den Zauber zu zeigen, Mbanda Lwa? Wie du schon sagtest, hat Pater de Sousa dich zur Katholikin getauft und damit den Zauber in deine eigenen Hände gelegt.« »Diese Frage habe ich ihr auch gestellt, Gil Janesch«, sagte der Ma niSoyo. Natürlich hatte er das – er war ein schlauer alter Fuchs und hatte zweifellos alle ihre Erklärungen hinterfragt, bevor er eine derart schicksalsträchtige Entscheidung fällte. »Aber die Mbanda Lwa meint, um den Zauber durchzuführen, braucht sie den richtigen Fetisch.« »Welchen Fetisch?« »Die Schrift, Gil Janesch«, warf die Mbanda Lwa ein. »Das Brevier?« »Ich muß die Anrufung der Schrift aufsagen, um den katholischen Gott zu bitten, sein Donnern und Blitzen herniederfahren zu lassen. Aber ich habe die Schrift nicht mehr.« Diese Erklärung war logisch und erschien dem ManiSoyo zweifellos schlüssig: Ohne den richtigen Fetisch konnte kein Zauber bewirkt wer den, und bei ihrem unfreiwilligen Aufbruch vom Schiff am Tag zuvor 369
hatte sie den Fetisch, das Brevier, bei ihren anderen Habseligkeiten in der kleinen Heckkajüte gelassen. »Ich möchte, dass Pader de Susa mir die Schrift gibt, damit ich dem ManiSoyo ihren Zauber zeigen kann.« »Er wird dir die Schrift nicht geben, Herrin. Er wird dich überhaupt nicht empfangen. Er wird hier warten, bis Mbemba von seinem Ge spräch mit Mpanzu zurückkommt; er ist der Meinung, dass in dieser Sache die beiden Brüder eine Entscheidung treffen sollen.« »Aber es könnte viele Tage dauern, bis Mbemba zurückkommt.« »Pater de Sousa ist willens, viele Tage zu warten. Das solltest du auch sein. Und du ebenso, ManiSoyo.« Mit einem Schulterzucken ging der alte Häuptling in das Heck des Kanus, als wäre er erleichtert, der Last der Entscheidung, welche Partei er ergreifen solle, entledigt zu sein – zumindest für den Augenblick. »Aber in diesen vielen Tagen könnte vieles passieren, Gil Janesch«, beharrte die Königin. »Das ist richtig, Mbanda Lwa.« »Außerdem ist es möglich, dass Mbemba gar nicht zurückkommt. Vielleicht erlaubt Mpanzu ihm nicht, zurückzukommen.« »Oder Mpanzu kommt mit ihm, wie Mbemba es ihm nahelegt.« »Komm, Tochter.« Die Mbanda Lwa drehte sich zu dem alten Häuptling um, der sich auf der Bank im Heck niederließ und seinen Ruderern einen Befehl gab. Sofort tauchten sie ihre Paddel ins Wasser und setzten das Kanu in Bewegung. Widerstrebend ging die Mbanda Lwa zu ihrem Vater und nahm neben ihm Platz, während Gil auf die Strickleiter kletterte und das Kanu mit dem Fuß abstieß. Er blieb noch einige Zeit auf der untersten Sprosse stehen und sah zu, wie das Boot auf das Ufer zusteuerte. Er wusste, dass die Sache da mit noch lange nicht ausgestanden war. So schnell würde die Mban da Lwa ihren Plan, den ManiSoyo auf ihre Seite zu ziehen, nicht auf geben. Sie würde immer wieder zur Beatriz kommen, und früher oder später würden Pater de Sousa und die anderen sie sehen. Dann konn te Gil sagen, was er mochte, die Männer würden die Königin an Bord 370
bitten und die Kanonen abfeuern – und welche Folgen das haben wür de, wollte Gil sich nicht ausmalen. Er sah zum Himmel empor. Der Morgen graute, aber vom Meer trieben dunkle Sturmwolken herüber. Die Regenzeit war noch nicht vorbei; im Verlauf des Tages würde der Himmel wieder seine Schleusen öffnen. Gil kletterte die Strickleiter hinauf. »Nuno.« Gonçalves spähte über die Reling zu ihm herab. »Nuno, Ihr hattet recht. Es wird Ärger geben.« »Was hat sie gesagt?« »Sie will das Brevier. Sie glaubt, dass sie es braucht, um dem ManiSoyo den Zauber vorzuführen. Für den Augenblick konnte ich sie ab wimmeln, aber sie wird wiederkommen. Und beim nächstenmal wer den wir nicht mehr so viel Glück haben. Der Pater oder der Kapitän oder Rodrigues werden sie sehen und sie an Bord bitten, und dann kann ich nichts mehr tun, um das Unheil aufzuhalten.« »Du könntest dich weigern, für sie zu dolmetschen.« »Das würde auch nichts nützen. Der Pater würde sich bald zusam menreimen, was sie sagt.« »Was können wir unternehmen?« »Wir sollten Mbemba warnen. Wenn sie erst einmal an Bord ist und die Kanonen abgefeuert werden, ist es gut möglich, dass sich der Ma niSoyo auf ihre Seite schlägt. Das muß Mbemba wissen. Er darf nicht zurückkommen, ohne das zu wissen.« »Aber wie können wir ihn das wissen lassen?« »Er hat nur wenige Stunden Vorsprung, und ich bin mir ziemlich si cher, welchen Weg er genommen hat. Mpanzu kommt mit seiner Ar mee die Königsstraße von Mbanza Kongo herunter, und das heißt, dass Mbemba diesen Weg nimmt, um ihn abzufangen. Ich kenne die Straße. Ich glaube, ich kann ihn einholen, bevor er Mpanzu erreicht. Auf jeden Fall muß ich es versuchen.« »Und was soll ich tun?« »Tut alles, was in Eurer Macht steht, um die Mbanda Lwa vom Schiff fernzuhalten. Und kümmert Euch um Nimi und Kimpasi.« 371
»Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich kümmere mich um sie.« »Ntondesi.« Gonçalves kannte das Wort inzwischen und lächelte. Gil blickte sich um. Im Osten färbte sich der Himmel bereits rosa – er sollte sobald wie möglich aufbrechen, um noch im letzten Schutz der Dunkelheit fort zukommen. »Sagt niemandem, wohin ich gegangen bin, Nuno.« »Ich weiß nicht, wohin du gehst, Kleiner.« Gil stieg wieder die Leiter hinab – er wollte nicht vom Deck aus in den Fluss springen, aus Furcht, Paivas Aufmerksamkeit zu erregen – und glitt ins Wasser, ohne die Strickleiter loszulassen. Dann blickte er zu Mbembas Kriegskanus, die die Bucht abriegelten, und zu den So yo-Einbäumen am Ufer. Wahrscheinlich würden die Männer ihn gar nicht sehen können, aber er wollte kein Risiko eingehen. Es war besser, ihnen auszuweichen. Er hangelte sich am Schiffsrumpf zum Heck vor, umrundete es, tauchte dann unter und stieß sich mit den Füßen kräf tig ab. Er schwamm so weit unter Wasser, bis er zum Luftholen wieder auftauchen musste, und zwar nach Westen, Flussabwärts auf das Meer zu. Das war zwar die entgegengesetzte Richtung, in die er gehen mus ste, um Mbemba einzuholen, aber es wäre töricht gewesen, Flussauf wärts nach Osten zu schwimmen. Es würde zuviel Kraft kosten, gegen die Strömung und die Ebbe anzukämpfen. Viel klüger war es, unter halb der Kanus an Land zu gehen, westlich von Mpinda, und sich dann nach Süden in den Wald zu schlagen. Diesen Weg war er erst vor ei nigen Wochen mit seiner Dienerin, der anderen Nimi, nach MbanzaKongo gegangen, um Mbemba mitzuteilen, dass die Portugiesen wie dergekommen waren. Sobald er weit genug südlich von Mpinda war, konnte er sich dann nach Osten wenden und auf die Königsstraße sto ßen. Als er zum erstenmal auftauchte, um Atem zu schöpfen, zog er das Messer aus der Scheide und steckte es sich zwischen die Zähne. Wenn er an Land ging, lauerten möglicherweise Krokodile auf ihn. 372
Nachdem Gil beinahe vierundzwanzig Stunden ohne Unterbrechung marschiert war, holte er Mbemba in einem kleinen Soyo-Dorf rund fünfzehn Leguas oberhalb von Mpinda am Ufer des Zaire ein. Aber er kam zu spät. Mpanzu und seine Armee waren bereits eingetroffen. Der Morgen brach an. Den vorherigen Tag und die ganze Nacht hatte es immer wieder gestürmt, aber jetzt fiel nur mehr ein leichter Regen. In der Ferne war Donnergrollen zu hören, gelegentlich zuckten Blit ze über den Himmel, und auf dem Marktplatz und am Flussufer sam melten sich die vielen Einheiten von Mpanzus Kriegern. Im Wasser la gen bereits Hunderte von Kriegskanus; es war offensichtlich, dass sie bei Tagesanbruch ihre Reise nach Mpinda fortsetzen wollten. Mbem ba und sein Bruder standen am Ufer und überwachten das Gesche hen, das von aufwühlenden Trommelrhythmen, schmetternden Stö ßen der Kuduhornbläser und dem frenetischen Rasseln von Fetisch trägern begleitet war; dazu dröhnten eiserne Gongs, und kampfent schlossene Männer tanzten in wilder Ekstase. Sobald Gil den südlichen Waldrand erreichte, verbarg er sich in ei nem dichten, vom Regen durchnässten Gebüsch rund dreihundert Fuß östlich des Dorfes und beobachtete die kriegerische Szene vor sich. Er fragte sich, wie lange die Brüder wohl schon beisammen waren. Hatte Mbemba Gelegenheit gehabt, Mpanzu seine Gedanken über die Por tugiesen darzulegen? Und wie hatte dieser darauf reagiert? Aus der Ferne konnte Gil den Gesichtsausdruck der beiden nicht erkennen; er sah nicht einmal, ob sie überhaupt miteinander sprachen. Was soll te er tun? Konnte er es wagen, das Dorf zu betreten und sich zu zei gen, in der Hoffnung, dass Mbemba bei Mpanzu nicht in Ungnade ge fallen war und seinen weißen Freund noch zu beschützen vermoch te? Nach der Art und Weise zu schließen, wie die Vorbereitungen ge troffen wurden, war es zwischen den Halbbrüdern zumindest nicht zu offenen Feindseligkeiten gekommen; Mpanzu behandelte Mbemba nicht wie einen Verräter, der die Rückkehr der Portugiesen verheim licht hatte, um den Thron an sich zu reißen. Mpanzus Krieger gesell ten sich friedlich zu Mbembas Leibwächtern. Aber wozu sollte er in das Dorf gehen? Es würde ihm auf keinen Fall gelingen, mit Mbemba 373
zu sprechen, ohne dass Mpanzu es bemerkte. Vielleicht sollte er unver richteterdinge nach Mpinda zurückgehen. Aber irgendwie musste er Mbemba von den Plänen der Mbanda Lwa in Kenntnis setzen. Mit einem Mal schwiegen die Trommeln, und ein Kuduhorn nach dem anderen verstummte. Die Fetischträger und Tänzer spürten, dass etwas Unerwartetes geschah; sie hielten inne und wandten sich um. Als sie Gil aus dem Dschungel hervortreten sahen, wichen sie zurück. Plötzlich bemerkte Gil, dass unter ihnen auch der NsakuSoyo mit sei ner Rassel stand. Der unerwartete Anblick des dürren Juju-Mannes mit dem bösen Gesicht jagte ihm einen Schauder über den Rücken; so fort dachte er, dass der NsakuSoyo überall dort auftauchte, wo es Är ger gab. Gil würdigte ihn kaum eines Blickes, als er an ihm vorbei zum Flussufer ging, wo Mpanzu und Mbemba standen. In den zehn Jahren seiner Verbannung hatte er Mpanzu kein einzi ges Mal gesehen. Er hatte ihn als eine bedrohliche Gestalt in Erinne rung, einen unerbittlichen Feind, der größer, stämmiger und kräfti ger war als Mbemba und hervorquellende Augen hatte. Dieser Mann hatte ihm einmal ein Messer an die Kehle gesetzt. Im Verlauf der Jahre war er noch kräftiger, noch stämmiger und noch bedrohlicher geworden. Wie Mbemba hatte er sich zur Schlacht gekleidet und trug eine Kanga in den Farben seines Hauses, eine Kette aus Löwenzäh nen um den Hals und einen Kopfputz aus Adlerfedern und Wasser büffelhörnern. Er stützte sich auf seine Lanze und beobachtete Gil mit versteinertem Gesicht. Seine gelben Augen zeigten weder Über raschung noch Wut und auch keine andere Regung, sondern blickten ausdruckslos, mit tödlicher Ruhe. Mbemba hingegen waren sowohl Überraschung als auch Wut anzusehen, und seine Narbe flammte rot auf. »Gil Janesch«, sagte Mpanzu, als Gil zu ihm trat. Er sprach ernst, mit tiefer, heiserer Stimme, die aber ebenso unbewegt wirkte wie der Aus druck seiner Augen. »Der weiße Prinz vom Himmel.« »Mpanzu a Nzinga«, gab Gil zurück und bemühte sich dabei, ebenso ruhig wie Mpanzu zu klingen, obwohl sein Herz wie wild schlug, »der Kronprinz der Kongo.« 374
»Nimm dich in acht, MtuKongo«, zischte der NsakuSoyo, der sofort herübergeeilt war. »Er ist sicher nicht allein gekommen.« »Bist du allein hier, Gil Janesch? Fürchtest du nicht um dein Leben, weil du deinen Verbannungsort verlassen und dich unbewaffnet in meine Hände begeben hast?« »Ich bin unter dem Schutz deines Bruders hergekommen, MtuKon go.« Mpanzu warf Mbemba einen Blick zu. An Mbembas Gesicht war der Ärger über Gil deutlich abzulesen, aber trotzdem sagte er: »Ngete, Mpanzu, er ist unter meinem Schutz hergekommen.« »Natürlich steht er unter Mbembas Schutz«, stieß der NsakuSoyo ge reizt hervor. »Die beiden machen doch gemeinsame Sache, zusammen mit der Mbanda Lwa. Nimm dich in acht, MtuKongo, denn sie wollen dir deinen Thron entreißen.« Mpanzu schenkte den Worten des Zauberers keine Beachtung. »Und warum bist du unter dem Schutz meines Bruders allein hergekom men?« fragte er Gil ebenso gelassen wie zuvor. »Ich bringe dir eine Botschaft von meinem Volk, den Portugiesen.« »Und wie lautet diese Botschaft? Dass sie zu ihrem Land im Himmel zurückfliegen wollen, wie mein Bruder es ihnen befohlen hat?« »Ich habe nicht gesagt, dass sie zugestimmt haben, Mpanzu«, wand te Mbemba ein. »Ich habe dir gesagt, dass ich sie erst dann dazu zwin gen werde, wenn du sie mit eigenen Augen gesehen hast.« »Ja, das hast du mir gesagt. Aber ich dachte, dass sie in der Zwi schenzeit vielleicht Vernunft angenommen haben und von sich aus be reit sind, nach Hause zu fliegen, um der Vernichtung zu entgehen, die ich ihnen bereiten werde, wenn sie es nicht tun. Ich dachte, das sei die Botschaft, mit der sie Gil Janesch zu mir geschickt haben. Ist es so, Gil Janesch?« »Nein, MtuKongo.« »Welche Botschaft bringst du dann?« »Sie haben mich gebeten, dir zu sagen, dass sie mit dir sprechen und dir erklären möchten, warum sie gekommen sind …« 375
»Ich weiß, warum sie gekommen sind, Gil Janesch«, unterbrach Mpanzu ihn ruhig, ohne Drohung oder Prahlerei in der Stimme, aber mit unleugbarer Autorität. Vielleicht dachte er nicht so rasch und weit sichtig wie Mbemba, aber er war ein ruhiger, besonnener Mann, der von sich und seinen Ansichten völlig überzeugt war. »Das hat mir der NgangaKongo schon gesagt, als sie das erstemal hier waren.« »Aber der NgangaKongo hat sie nie gesehen«, fuhr Mbemba dazwi schen. »Er hat sie nie mit eigenen Augen gesehen. Und du auch nicht, ebenso wenig wie unser Vater. Aber jetzt hast du die Möglichkeit, sie mit eigenen Augen zu sehen und selbst zu entscheiden, ob sie Böses bringen, wie der NgangaKongo behauptet, oder Gutes, wie ich es glau be.« »Und wenn ich zu dem Ergebnis komme, dass sie Böses bringen, wer den sie dann bereitwillig zu ihrem Land im Himmel zurückfliegen?« »Es ist gleichgültig, ob sie dann bereitwillig zurückkehren oder nicht«, erklärte Mbemba mit fester Stimme. »Wenn du zu diesem Er gebnis kommst, nachdem du sie selbst gesehen und mit ihnen gespro chen hast, nachdem du ihren Zauber erlebt hast, dann werde ich sie vertreiben, ob sie es wollen oder nicht. Das habe ich dir versprochen.« Mpanzu musterte seinen Bruder eine Weile, bevor er sich dem Nsa kuSoyo zuwandte. »Glaub ihm nicht, Mpanzu«, fügte Mbemba eilig hinzu, bevor der Juju-Mann ein Wort äußern konnte, denn er wusste genau, was die ser sagen würde. »Schenk den Lügen, die er erzählt, keinen Glauben. Ich stehe zu dir und zu unserem Vater. Ich habe nicht denselben Ehr geiz wie meine Mutter. Ich verdamme sie dafür. Mach mit ihr, was du willst. Mach mit mir, was du willst. Ich bin in deiner Hand, und ich werde meine Mutter ebenfalls in deine Hände geben. Aber nütze zu erst diese Möglichkeit – geh zu den Porta Gies und sieh sie dir mit ei genen Augen an.« Mpanzu nickte langsam und bedächtig. Er war völlig anders, als Gil ihn immer eingeschätzt hatte. Er war kein unvernünftiger Wilder, son dern ein ruhiger, nachdenklicher Mann, der seinem Priester, seinem König und seinem Königreich ergeben war, wie man es von einem 376
Thronfolger erwartete. Sein Sinnen und Trachten galt nur der Welt, die er seit jeher kannte, und sein einziges Anliegen war, dass nichts Bö ses aus einer unbekannten Welt in sie eindrang. »Komm mit mir, Gil Janesch«, sagte er nach einigen Augenblicken und watete zu einem seiner Kanus im Fluss hinaus. »Wohin gehen wir, MtuKongo?« fragte Gil, während er ihm folgte. »Zu deinem Volk, den Porta Gies.« »Um ihnen den Krieg zu erklären? Um sie zu vertreiben?« »Nein, damit ich sie mit eigenen Augen sehen kann, wie mein Bru der mir rät.« Gil schaute zu Mbemba, der ihm zulächelte. Der Kongo-Prinz war zufrieden, dass er sein Ziel erreicht hatte. Er hatte Mpanzu überzeugt, dass er nichts zu verlieren, möglicherweise aber viel zu gewinnen hat te, wenn er die Portugiesen aufsuchte und sich sein eigenes Urteil über sie bildete. Wenn er sich gegen sie entschied, blieb ihm immer noch Zeit genug, sie zu vertreiben. Aber offenbar war Mbemba davon über zeugt, dass sein Bruder sich nicht gegen sie entscheiden würde; offen bar glaubte er, dass Mpanzu die Portugiesen so sehen würde, wie er selbst sie sah. Denn Mpanzu war kein schlechter Mensch. Der Kronprinz bestieg das größte Kanu, dessen hochgezogener Bug zu beiden Seiten mit Krokodilköpfen bemalt war. An jeder Dollwand standen zehn Ruderer, am Boden knieten dreißig Krieger in Reihen zu jeweils fünf Mann, und im Heck saßen ein Trommler und ein Blä ser. Nach Mpanzu kletterte der NsakuSoyo in das Kanu, und auf einen Wink Mpanzus hin auch Gil. Mbemba folgte ihnen allerdings nicht. Schweren Herzens beobachtete Gil, wie sein Freund in ein anderes Kanu stieg. Er fragte sich, wann er eine Gelegenheit finden würde, ihn von den Plänen seiner Mutter in Kenntnis zu setzen. Gil hatte sich noch nie inmitten einer solchen Kriegsflotte befun den, und anfangs erschien ihm alles wie ein barbarisches Durchein ander – Tausende von Kriegern, die sich am schlammigen Ufer auf stellten, Hunderte von Kanus, die sich auf dem vom Regen gepeitsch ten Fluss sammelten, die ohrenbetäubende Lautstärke der Trommler und Bläser, die wieder ihre wilde Musik spielten, und der Lärm der Fe 377
tischträger, die frenetisch auf ihre Gongs einschlugen und ihre Rasseln schüttelten. Aber der Kongo war ein Königreich, das nur durch Krieg aus rivalisierenden Stämmen, Clans und Fürstentümern zusammen geschweißt worden war; ein Königreich, dessen Soldaten durch Krie ge diszipliniert und in der Kriegführung gut bewandert waren. Und bald musste Gil feststellen, dass aus dem Durcheinander eine geordne te Aufstellung entstand. Die Krieger an Land und die Boote auf dem Fluss formierten sich zu erkennbaren Einheiten; jede hatte einen eige nen Anführer und eine eigene Gruppe von Fetischträgern, und jede reagierte rasch auf die Signale, die die Trommeln, Hörner und Eisen gongs gaben. Die Männer an Land setzten sich als erste in Bewegung. Die Fetisch träger führten sie nach Westen über die Königsstraße nach Mpinda, und die mit Schilden und Lanzen, Bogen, Äxten und Keulen bewaff neten Krieger folgten ihnen in einem langsamen Laufschritt. In die sem Tempo konnten sie Mpinda noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Allerdings würden die Kanus noch wesentlich früher dort eintreffen, denn sobald die Krieger an Land aufgebrochen waren, ga ben die Trommler und Bläser ein Zeichen, und die Geschwader auf dem Fluss machten sich stromabwärts ebenfalls auf den Weg nach Mpinda. Mbembas Kanu, begleitet von vier Einbäumen mit seiner Leibwa che, übernahm die Führung. Die Hunderte von Kanus hinter ihm for mierten sich zu Geschwadern von je fünfzehn Booten nebeneinander; sie erstreckten sich vom Südufer bis zum Ufer der Inseln mitten im Strom. Mpanzus Krokodil-Kanu fuhr in der Mitte des zehnten Ge schwaders hinter Mbemba. Von dieser beherrschenden Position aus konnte der Thronfolger seine gesamte Flotte im Auge behalten. Hinter ihm folgten mindestens zehn weitere Geschwader. Es war eine beacht liche Streitmacht, die zusammen mit den Kriegern an Land schier un bezwingbar schien – kein Wunder, dass Mpanzu der Bitte seines Bru ders entsprochen hatte, die Portugiesen selbst kennenzulernen. Zwei fellos glaubte er, dass es für ihn und sein Heer kein Risiko darstellte, Mbembas Wunsch zu erfüllen – und sicher wollte er auch seine eigene 378
Neugier befriedigen –, da er die weißen Männer jederzeit in die Flucht schlagen konnte, falls er sich dazu entschließen sollte. Allerdings rech nete er nicht mit den Geschützen. Wie sollte er auch? Er hatte nie mit erlebt, wie sie abgefeuert wurden, er hatte gar keine Vorstellung von ei nem Geschütz, und so konnte er sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausmalen, welches Ausmaß an Tod und Zerstörung sie mit sich brachten – selbst gegen eine so beeindruckende Streitmacht wie die seine.
KAPITEL 10
D
ie Beatriz wiegte sich vor Topp und Takel gemächlich in der Strö mung des Flusses; ihre Wimpeln flatterten im auffrischenden Wind. Ihr Heck war dem Ufer zugewandt, die Steuerbordseite zeigte Flussaufwärts nach Osten in die Richtung, aus der Mpanzus Flotte am späten Morgen in die Bucht vor Mpinda einfuhr. Die Karavelle war noch immer von dem Kordon aus Mbembas Kriegskanus in der Bucht eingeschlossen, und auch die Einbäume der Soyo lagen nach wie vor am Strand vor dem Dorf. Inzwischen hatte es zu regnen aufgehört, aber der Himmel war mit dunklen Wolken verhangen, und aus den Baumkronen stiegen Nebelschwaden auf. Die Luft war drückend schwül und feucht, und riesige Mückenschwärme summten über dem stahlgrauen Strom und bereiteten Gil zusätzliches Unbehagen. Er saß mittlerweile im Bug von Mpanzus Krokodil-Kanu; der Nsa kuSoyo hockte inmitten der dreissig knienden Krieger, während Mpan zu bei dem Trommler und dem Hornbläser im Heck stand und ihnen Befehle erteilte, wann sie der restlichen Flotte Signale geben sollten. Von seinem Platz aus konnte Gil Mbembas Einbaum und die vier Boo te seiner Leibwache im Auge behalten; diese kleine Flotte lag noch im mer mit einigem Abstand in Führung. Gil fragte sich, was Mbemba wohl tun würde, wenn er in Sichtweite der Beatriz gelangte. Würde er 379
direkt zum Schiff fahren, um Pater de Sousa und den anderen mitzutei len, dass Mpanzu in friedlicher Absicht gekommen war? Oder würde er auf Mpanzus Kanu warten, damit Gil für ihn dolmetschen konnte? Mit einem Mal erhoben sich die Krieger in Mpanzus Kanu, und mit ihnen auch der NsakuSoyo. Gil sah sich um. Mpanzu sagte gerade et was zu dem Kuduhornbläser, der daraufhin sein Instrument an die Lippen setzte und ein schrilles Signal erklingen ließ. Der Ton wurde sofort von den Bläsern in den anderen Kanus aufgegriffen und wieder holt, so dass ein gellendes Stakkato über den Fluss hallte. Gil schau te zur Beatriz und fragte sich, ob die Besatzung wohl die Flotte bereits bemerkt hatte, die sich ihr näherte. In diesem Augenblick nahm er vier flammende Blitze wahr, die auf der Steuerbordseite des Schiffs aufzuckten. Mehrere gespenstische Sekunden lang war kein Geräusch zu ver nehmen, doch noch bevor Gil die Explosion hörte und den schwar zen Rauch über dem Wasser wogen sah, wusste er, was passiert war. Die vier Steuerbordgeschütze der Beatriz hatten durch die Stückpfor ten am Hauptdeck gefeuert, und nach einigen weiteren Augenblicken schrecklicher Stille Schossen vier Fontänen von der Wasseroberfläche empor, etwa fünfhundert Fuß hinter Mbembas Kanu und seiner Es korte und etwa ebensoweit vor dem ersten Geschwader der fünfzehn Boote, die ihm folgten. Gil zuckte unwillkürlich zusammen. »Was war das, Gil Janesch?« Der Anblick war für Mpanzu derart fremdartig, derart ungewöhn lich und unvorstellbar, dass er keinerlei Angst zeigte. Er stellte die Fra ge mit einer ruhigen, heiseren Stimme, die lediglich verblüffte Neu gier zum Avisdruck brachte. Gil betrachtete ihn und wandte sich dann wieder zum Schiff. Würden die Geschütze erneut abgefeuert werden? Auf jeden Fall würde es einige Minuten dauern, bis sie nachgeladen waren. War Rodrigues für die Salven verantwortlich? War die Mbanda Lwa bei ihm? Und wo war der ManiSoyo? Ließ die Mbanda Lwa dem ManiSoyo gerade die Zauberkräfte vorführen, die sie durch die Taufe erworben hatte? Oder hatte sie ihm diese Macht bereits demonstriert, 380
und diese Schüsse bedeuteten etwas weitaus Schlimmeres? Bei der er sten Salve hatte es den Anschein gehabt, als sei sie bewusst in die Lük ke zwischen Mbemba und seiner Eskorte und dem ersten Geschwader von Mpanzus Flotte gezielt worden. Das gab Gil Grund zur Hoffnung. Sobald die Geschütze gefeuert hatten, verlangsamten die Kanus ihre Fahrt, doch als in den nächsten Minuten nichts geschah, steuerten sie wieder mit größerem Tempo auf die Beatriz zu, als ob sie die unfass bare Vorstellung, dass der Fluss vor ihren Augen explodiert war, hin ter sich lassen wollten. Aber dann gingen die Geschütze erneut los und machten Gils letzte Hoffnung zunichte. Rodrigues schoß sich nur auf die richtige Schusswei te ein. Die Kugeln und Traubengeschosse von zwei der Bombarden flo gen über Mbembas Kanus hinweg und landeten so nah vor dem ersten Geschwader im Wasser, dass die Wellen mehrere Boote überfluteten und sie zum Kentern brachten. Die Ladung der dritten schlug direkt in drei Einbäume an der nördlichen Flanke des Geschwaders ein, wäh rend die der vierten über das gesamte vordere Geschwader hinwegflog und zwei Einbäume weiter hinten zertrümmerte. Rodrigues visierte seine Ziele also bewusst an; er wollte töten. Und es gelang ihm. Diese zweite Salve hatte zwanzig, dreißig, vielleicht so gar fünfzig von Mpanzus Kriegern das Leben gekostet; sie wurden von fliegenden Metallstücken, Kettenkugeln und Traubengeschossen, Bleiund Steinkugeln und Felsbrocken zerfetzt und ins Wasser geschleu dert, wo die Überlebenden ertranken. Und wie um noch den letzten Zweifel an Rodrigues' Absicht zu zerstreuen, eröffneten in der Feuer pause, in der die Geschütze nachgeladen wurden, die drei drehbaren Falkonette an der Steuerbordreling des Spardecks das Feuer. Gil warf sich mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden des Ka nus. Kuduhörner gellten, Trommeln schlugen einen frenetischen Wir bel. Rings um ihn herrschte ein Höllenlärm. Der NaskuSoyo kreisch te, Mpanzu brüllte. Gil konnte nicht sagen, ob sie einander anschrien oder ob sie getroffen worden waren. Aber dann spürte er, wie das Kanu scharf nach Backbord drehte, auf das südliche Ufer zu, und nicht mehr Kurs auf die Beatriz hielt. 381
Er blickte auf in dem Augenblick, als die dritte Kanonade begann, und sah, dass der Kugelhagel in das vierte und fünfte Geschwader von Mpanzus Flotte niederging. Und jetzt hatten auch die Falkonet te die richtige Schussweite gefunden und trugen ihren Teil zu dem Tu mult und der Zerstörung bei. Doch trotz dieses unvorstellbaren Ge schützfeuers, trotz der unfassbaren Donnerschläge, der Blitze und des höllischen schwarzen Rauchs stoben die Kongo-Krieger nicht wie die Karnickel auseinander, wie Rodrigues es prophezeit hatte. Sie mach ten nicht eilends kehrt, sie ergriffen nicht panisch die Flucht. Mit be eindruckender Disziplin reagierten die Hunderte noch schwimmen der Kanus auf die Befehle der Trommeln und Kuduhörner, behielten ihre Formation bei und drehten ebenfalls nach Süden zum Flussufer vor Mpinda ab. Nur Mbemba und seine Leibwache nicht. Sie waren vorausgeeilt und waren der Beatriz mittlerweile nahe genug, um nicht mehr im Zielbe reich der Bombarden zu sein. Aber damit auch nahe genug, dass die Falkonette ihnen gefährlich werden konnten, ebenso wie die Arkebu sen der Soldaten, die sich an der Steuerbordreling aufgereiht hatten. Mit wild klopfendem Herzen beobachtete Gil, hinter dem hochgezo genen Bug von Mpanzus Krokodil-Kanu kauernd, was sich vor seinen Augen abspielte, und erwartete jeden Augenblick, dass das Kanu des Kongo-Prinzen getroffen und Mbemba fallen würde. Aber weder die Bombarden noch die Falkonette oder die Arkebu sen zielten auf Mbemba. Und erst jetzt fiel Gil auf, dass auch die Ka nus von Mbembas Flotte, die die Bucht von Mpinda absperrten, nicht unter Beschuß lagen. Die vier Geschütze auf der Backbordseite und die drei dazugehörigen Falkonette, die auf die Bucht gerichtet wa ren und das Ufer bequem beschießen konnten, wurden ebensowe nig bedient. Nur auf Mpanzu und seine Krieger war das Feuer eröff net worden. Das war zweifellos das Werk der Mbanda Lwa. Sicher befehligte sie den Angriff, mit dem sie nicht nur den ManiSoyo zu beeindrucken und auf ihre Seite zu bringen versuchte, sondern auch Mpanzu töten wollte, damit ihr Sohn den Kongo-Thron besteigen konnte. Sie mus 382
ste die Portugiesen davon überzeugt haben, dass Mpanzu in kriege rischer Absicht zu ihnen gekommen sei. Das war ihr sicherlich nicht schwer gefallen. Schließlich hatte Gil selbst den Kapitän gewarnt, dass das passieren würde – dass Mpanzu sie im Gegensatz zu Mbemba so fort angreifen würde, ohne mit ihnen zu verhandeln, und ihnen gar nicht die Chance zu einem kampflosen Abzug geben würde. Mbem ba hatte vermutlich genau das befürchtet und war deshalb zum Schiff vorausgeeilt, um den Männern an Bord zu sagen, dass sie nicht auf die Lügen seiner Mutter hören sollten und dass Mpanzu in friedlicher Ab sicht kam. Mit wachsender Furcht blickte Gil achtern. Der NsakuSoyo kauerte am Boden des Kanus und hielt ängstlich sei nen Kopf umklammert. Mpanzu hingegen stand aufrecht im Heck des Einbaums, scheinbar unberührt von der Gewalt, die um ihn herum tobte. Da er zur Beatriz zurückschaute, war sein Gesicht von Gil ab gewandt. Aber als würde er dessen Blick spüren, drehte er sich um und sagte etwas. Gil konnte seine Worte nicht verstehen. Er sprach mit derselben ruhigen, nachdenklichen Stimme wie immer und zeigte er staunlicherweise keine Angst, sondern wirkte gefasst und würdevoll. Vielleicht erkannte er noch immer nicht, wozu die Geschütze in der Lage waren; vielleicht war er noch immer nicht dazu bereit, seinen ei genen Augen zu trauen. Aber dann ging erneut eine Salve los, und die ses Mal schlug der Kugelhagel ganz in der Nähe seines eigenen Kanus ein, so dass die Wellen ihn umwarfen. Er richtete sich sofort wieder auf die Knie auf, und als er jetzt sprach, war seine Stimme so laut und wü tend, dass auch Gil ihn hören konnte. »Ist dies der Zauber, den Mbemba mich sehen lassen wollte, Gil Ja nesch? Ist dies das Gute, das die Porta Gies unserem Königreich seiner Ansicht nach bringen?« »Nein, MtuKongo. Dies ist das Werk seiner Mutter. Dies ist das Werk der Mbanda Lwa. Mbemba hat nichts davon gewusst.« »Wovon hat er nichts gewusst? Wie könnte er nichts davon wissen?« schrie der NsakuSoyo drohend. »Er ist der Sohn seiner Mutter – oder etwa nicht? Genau davor habe ich dich gewarnt, MtuKongo. Er steckt gemeinsam mit ihr hinter dieser Sache. Er hat dich überredet herzu 383
kommen, damit sie dich mit dem Zauber, den sie von den weißen Män nern bekommen hat, töten und dir den Thron, der dir zusteht, entrei ßen kann. Natürlich wusste er davon. Sieh doch, MtuKongo. Er ist in Sicherheit.« Die vierte Feuersalve hatte ebenfalls ins Volle getroffen. Überall im Fluss trieben Bruchstücke zerschmetterter Kanus und die verstümmel ten Leichen getöteter Krieger. Doch Mbembas Boot war bereits längs seits der Beatriz und damit außerhalb des Gefahrenbereichs. Der jun ge Kongo-Prinz stand im Bug, winkte verzweifelt und schrie den Män nern auf dem Spardeck aufgeregt etwas zu. »Er versucht, diesem Gemetzel ein Ende zu machen. Das siehst du doch, MtuKongo. Das hat nicht er angezettelt. Das ist das Werk seiner Mutter, und er will es beenden.« Doch die Geschütze feuerten erneut, und weitere Kanus wurden ge troffen oder von den aufgewühlten Wellen umgekippt. Weitere Krieger wurden verwundet, getötet oder ertranken in der Strömung. Mpan zus bislang ruhiges, nachdenkliches und würdevolles Gesicht verzerr te sich zu einer wütenden Grimasse, und in seinen hervorquellenden gelben Augen lag zornige Erbitterung. Offensichtlich glaubte nun auch er, dass Mbemba ihn verraten habe. Wie konnte er auch etwas anderes glauben? Er war davon überzeugt, dass Mbemba ihn in diesen tödli chen Hinterhalt gelockt hatte. Auch das hatte die Mbanda Lwa mit ih ren Plänen bewirken wollen. Und dann ereignete sich etwas noch viel Schrecklicheres: Die So yo-Kanus, die bislang unbeteiligt vor Mpinda gelegen hatten, schoben sich in den Fluss hinaus, und die darin knienden, mit Langbogen be waffneten Krieger ließen auf Mpanzus zum Ufer eilende Boote einen Hagel von Pfeilen herniederregnen. Guter Gott, stöhnte Gil. Gütiger Gott im Himmel. Der ManiSoyo, der freundliche alte Soyo-Häuptling, hatte sich vom Donnern und Blit zen der Geschütze einnehmen lassen. Der Krieg hatte begonnen. Die Mbanda Lwa hatte es geschafft, einen Krieg anzuzetteln. Gil brauch te nur einen Moment, um sich zu entscheiden. In diesem Krieg durf te er nicht auf der falschen Seite gefasst werden. Er musste zur Bea 384
triz zurück. Er musste zurück zu Nimi und Kimpasi. Er tauchte in den Fluss. Zwei von Mpanzus Kriegern sprangen ihm nach.
Es war unmöglich, den Feuerwaffen zu entkommen, so eilig die Padd ler auch auf das Ufer zuhielten. Und mochten auch die Falkonette oder die Arkebusen nicht genügend Reichweite haben, um das Ufer unter Feuer zu nehmen – die Bombarden konnten es mühelos beschießen. Und die Kanonade hielt praktisch ohne Unterbrechung an; es wur de nun nicht mehr gewartet, bis alle vier Geschütze nachgeladen wa ren, sondern jedes feuerte, sobald es bereit war. Im silbergrauen, trü ben Licht des wolkenverhangenen Tages mussten die rasch aufeinan derfolgenden grellen Blitze und das ohrenbetäubende Krachen zusam men mit den schwarzen Rauchschwaden, die über dem Fluss wogten, Mpanzus Kriegern wirklich wie das Donnern und Blitzen Gottes er scheinen, das der Zauber der weißen Männer mit verheerenden Aus wirkungen über sie herabbeschwor. Zehn, zwanzig, vielleicht auch dreißig ihrer Kanus waren getroffen worden und untergegangen, und etwa weitere zwanzig waren gekentert. Hunderte von Kriegern trieben tot oder sterbend im Wasser, Hunderte lagen verwundet und blutend in den noch schwimmenden Booten. Und jetzt mussten sie sich über dies noch den Soyo-Einbäumen stellen, die von Mpinda aus in rasen dem Tempo auf sie zusteuerten, um zu verhindern, dass sie das Ufer erreichten. Was ging in dem ManiSoyo vor, dass er seine Kanus in dieses infer nalische Gemetzel hinausschickte? War ihm nicht klar, dass der Ku gelhagel nicht unterscheiden würde zwischen seinen Kanus und de nen Mpanzus? Vermutlich nicht, mutmaßte Gil. Die zwei Krieger hat ten ihn in das Krokodil-Kanu zurückgeschleppt und hielten ihm dro hend eine Lanze an die Kehle, damit er nicht noch einmal entkommen konnte. Hilflos musste er mit ansehen, wie die Soyo-Kanus und Mpan zus Geschwader aufeinander zuhielten. Offenbar glaubte der ManiSo 385
yo, da er gemeinsame Sache mit der Mbanda Lwa machte, würden sei ne Krieger vom Gott der weißen Männer nicht vernichtet werden. Der arme, alte, hintergangene Mann. Die Mbanda Lwa benutzte ihn eben so grausam, um ihren Ehrgeiz zu befriedigen, wie sie Mbemba benutz te. Aber dann hörte das Geschützfeuer plötzlich auf. Sollten alle vier Kanonen wirklich auf einmal verstopft sein? Das war eher unwahr scheinlich. Gil drehte sich unter der Lanze an seiner Kehle zur Seite und sah zur Beatriz; gerade kletterte Mbemba über die Strickleiter an Bord. War es auf sein Eingreifen zurückzuführen, dass die Kanonen schwiegen? Hatte er Dias oder Pater de Sousa wirklich davon überzeu gen können, dass die Mbanda Lwa gelogen hatte, dass Mpanzu nicht gekommen war, um die Portugiesen zu vertreiben? Vielleicht hatten der Kapitän oder der Priester im Gegensatz zu Rodrigues begriffen, dass sie mit friedlichen Mitteln mehr erreichen konnten als durch ein Gefecht, und dem Schiffsprofos befohlen, das Feuer einzustellen. »MtuKongo, der Zauber ist vorüber. Mbemba hat ihn beendet. Sieh auf das bwato. Mbemba ist auf dem bwato und hat den Zauber been det, wie ich es sagte.« Aber Mpanzu hatte keine Zeit, einen Blick auf das Schiff zu werfen. Die Schlacht mit den Soyo hatte begonnen. Es war ein Gefecht, in dem Mann gegen Mann kämpfte. Ohne die Beteiligung der weißen Män ner war es eine Schlacht, wie die Kongo sie kannten – mit Pfeil und Bo gen, Lanzen und Schilden, Keulen, Äxten und Rammböcken, beglei tet von kreischenden Hörnern, dröhnenden Trommeln, donnernden Gongs und den ohrenbetäubenden Schreien der Krieger. Kanus prallten krachend aufeinander, Krieger sprangen mit erho benen Waffen hinüber und herüber. Pfeile zischten wie wildgeworde ne Hornissen mit bedrohlichem Summen durch die stickige Luft und bohrten sich in Leiber. Ursprünglich war Mpanzus Streitmacht den So yo-Kriegern zahlenmäßig weit überlegen gewesen und hätte sie leicht überwältigen können, doch da die Kugeln der Geschütze die Zahl sei ner Männer drastisch verringert und auseinandergetrieben hatten, waren die Soyo nun ein ebenbürtiger Gegner. 386
Ein Pfeil tötete den Krieger, der Gil die Lanze an die Kehle hielt. Die Waffe bohrte sich in seinen Rücken und trat am Bauch wieder aus, so dass der Mann blutspuckend auf Gil fiel. Er packte die Lan ze und schob sich rückwärts unter dem Sterbenden hervor. Aber der NsakuSoyo, der mitten auf dem Boden des Einbaums kauerte, stürz te sich hysterisch schreiend auf ihn. Gil, der halb so alt und doppelt so stark war wie der Zauberer, schüttelte ihn mühelos ab und stand ein fach auf. Trotzdem konnte er nicht aus dem Kanu ins Wasser sprin gen. Mpanzus Flotte war von einem Schutzwall von Einbäumen um ringt, die mit seinen Kriegern besetzt waren. Nur hier und da gelang es den Soyo, dieses schwimmende Bollwerk zu durchbrechen, und es war schrecklich, mit anzusehen, mit welch mörderischer Wut sie zu rückgetrieben wurden. Gliedmaßen wurden durch Axthiebe abge trennt, Kehlen von Lanzen durchbohrt, Brustkörbe von Rammböcken zerquetscht, Gesichter von Keulen verstümmelt. Ein Soyo wurde ent hauptet, als er sich gerade anschickte, einen Pfeil abzuschießen; sein Kopf fiel wie eine Kanonenkugel ins Wasser, und doch blieb er einen grausigen Augenblick lang noch stehen, spannte die Sehne, während das Blut zwischen seinen Schultern hochspritzte. Dann begann sein Körper wild zu zucken; er ließ den Bogen sinken und stürzte in den Fluss, als wollte er seinem Kopf hinterherspringen. Gil konnte nicht sagen, wie lange die Schlacht auf dem Zaire tobte. Vermutlich nicht viel länger als eine halbe Stunde, eine Umdrehung des Stundenglases nur, aber ihm erschien das Gemetzel angesichts sei ner schrecklichen Grausamkeit und des entsetzlichen Blutzolls, den es forderte, schier endlos. Dann war es plötzlich vorüber. Die Soyo-Kanus wichen zurück, ebenso wie diejenigen Mpanzus. Beide Seiten hatten so lange gekämpft, bis sich keine mehr bewegen konnte, und das bedeutete praktisch einen Sieg für die Soyo, denn sie hatten Mpanzu daran gehindert, am Ufer anzulegen. Die Trommeln schlugen einen langsameren Rhythmus, die Kuduhörner und Eisen gongs verstummten. Etwa dreihundert Fußbreit Wasser trennte die feindlichen Truppen voneinander; es war rot vom Blut der gefallenen Krieger. Gil fragte sich, ob Rodrigues nun den Beschuss wieder auf 387
nehmen würde. Da die Flotten nicht mehr ineinander verkeilt waren, konnte er Mpanzus Einbäume beschießen, ohne auf die Soyo Rück sicht nehmen zu müssen. Oder sollte es Mbemba tatsächlich gelungen sein, Pater de Sousa davon zu überzeugen, dass die Mbanda Lwa ihn hintergangen hatte? Das festzustellen, hatte er jedoch keine Zeit mehr, denn nur ein oder zwei Minuten später erhob Mpanzu seine Lanze, und der Hornbläser im Boot des Kronprinzen ließ ein schrilles Signal erklingen, das von den anderen Hörnern aufgegriffen wurde. Dann fielen erneut die Trommler mit einem frenetischen Rhythmus ein, die Gongs begannen zu dröhnen, die Fetischträger schrien, die Ruderer paddelten mit voller Kraft, und Mpanzus Kanus schossen auf das Ufer zu. Eilig kniete Gil sich auf, packte die Lanze, die er seinem Bewacher abgenommen hatte, und machte sich auf einen wütenden Zusammen prall mit den Soyo gefasst. Diese Schlacht dauerte länger, tobte heftiger und brachte Tod und Verderben über einen noch größeren Teil des Flusses, aber dann fand auch sie ein abruptes Ende. Wiederum hatten die Soyo standgehalten. Mpanzu formierte seine zerstreute Flotte rasch neu; dieses Mal signa lisierten die Trommler und Bläser seinen Kanus, weiter Flussaufwärts zu paddeln. Als Mpanzu wenige Minuten später erneut zum Angriff überging – die Pause war zu kurz, als dass Rodrigues die Geschütze hätte ins Spiel bringen können, falls denn er und nicht Mbemba für deren Schweigen verantwortlich war –, hatte er den Vorteil, die Strö mung für sich nutzen zu können. Nun mussten die Soyo nicht nur gegen die feindliche Flotte, sondern auch gegen den Fluss ankämp fen. Doch sie behaupteten sich wacker, und fast schien es, als könn ten sie Mpanzu ein drittes Mal bezwingen. Doch dann trafen die er sten Landtruppen von Mpanzus Heer in Mpinda ein, und damit wen dete sich das Blatt. Das bemerkte Gil allerdings erst nach einiger Zeit. Bei den ersten beiden Gefechten war Mpanzus Kanu im Zentrum seiner Flotte ge blieben, so dass Gil den hitzigsten Gefechten entzogen gewesen war. Aber beim dritten Angriff ließ Mpanzu aus Wut und Ärger über den Misserfolg seiner Krieger sein Kanu die Führung übernehmen, und 388
nun war Gil dem Kampfgeschehen in seiner ganzen Härte ausge setzt. Zwei Soyo-Boote drängten sich rechts und links an Mpanzus Kanu heran, und die darin stehenden Krieger sprangen herüber. Einer kam mit hocherhobener Axt direkt auf Gil zu; im Eifer des Gefechts be merkte er wohl nicht, wen er vor sich hatte. Gil stieß mit seiner Lan ze nach ihm und stellte mit Entsetzen fest, wie mühelos sie sich in die Leistengegend des Angreifers bohrte, bis sie auf einen Knochen traf. Der Soyo taumelte rückwärts zu Boden, und Gil, der seine Waffe um klammert hielt, fiel auf ihn. Sofort sprang er wieder auf die Beine und versuchte, die Lanze herauszuziehen, doch sie steckte in den Gedär men des Mannes fest. Der Krieger lebte noch und stieß markerschüt ternde Schreie aus. Überall war Geschrei und Gebrüll zu hören. Dann gellten wieder die Hörner, aber sie bliesen nicht einen einzelnen Ton, wie bisher, sondern zwei, einen höheren und einen tieferen, die in rascher Folge trillernd wiederholt wurden. Es war ein Befehl, der nicht den Flotten auf dem Fluss galt, sondern den Kriegern an Land. Erst da bemerkte Gil, dass Mpanzus Landheer in Mpinda eingetroffen war. Mit dem Hornruf be fahl Mpanzu diesen Männern, die Soyo von hinten anzugreifen. Damit war ihr Widerstand gebrochen; sie konnten sich unmöglich gegen die Überzahl von Mpanzus Kriegern behaupten, die von Osten auf der Königsstraße herangezogen waren und nun in Mpinda einfie len. Die Dorfbewohner ergriffen in wilder Panik die Flucht; die Frau en, die alten Männer und die Kinder liefen davon in den Wald oder in den Fluss. Und dann flohen auch die Soyo-Krieger – zuerst diejeni gen an Land, die sich neu formieren mussten, dann auch die Männer in den Kanus. Mpanzus Flotte griff mit neuer Kampfeslust an. Die beiden Soyo-Ka nus neben seinem Boot wurden zurückgedrängt. Eines kenterte, und die darin knienden Krieger wurden mit Speerwürfen getötet, wie Fi sche im Wasser. Gil, der noch immer die Lanze im Körper seines in zwischen toten Gegners umklammerte, war sich sicher, dass das Ge schützfeuer jeden Augenblick wieder beginnen würde. Rodrigues wür 389
de bestimmt nicht zulassen, dass seine Verbündeten, die Soyo, eine sol che Niederlage hinnehmen mussten; zweifellos würde er ihnen mit sei nen Bombarden zu Hilfe kommen. Und als er es nicht tat, erfüllte Gil ein fast hysterischer Jubel – möglicherweise hatte Mbemba Dias und Pater de Sousa doch für sich gewonnen. Dann ging in Mpinda eine Hütte in Flammen auf, danach eine zwei te und eine dritte. Mpanzus Krieger setzten das ganze Dorf in Brand. Die Soyo an Land flüchteten nach Westen in den Dschungel, jene in den Kanus flohen Flussabwärts dem Meer zu. Mpanzus Krieger woll ten ihnen nachsetzen, doch ihr Befehlshaber rief sie zurück. Wenige Minuten, nachdem seine Landarmee eingetroffen war, legten seine Ka nus am Ufer an. Schreiend sprang Mpanzu ans Ufer, und sein Horn bläser schmetterte einen neuen Befehl. Daraufhin eilten die Krieger, die in Kanus oder zu Fuß Verfolgungsjagd auf die Soyo machten, so fort nach Mpinda zurück. Gil konnte nicht verstehen, weshalb Mpan zu das tat. Warum ließ der Kronprinz mehr als die Hälfte der SoyoKrieger einfach entkommen? Befürchtete er denn nicht, dass sie bei nächster Gelegenheit wieder gegen ihn kämpfen würden? Mit einem kräftigen Stoß wurde Mpanzus Kanu so gedreht, dass sein Bug wieder in den Fluss zeigte. Gil sprang hinaus und watete an Land; die Lanze ließ er im Leichnam des Kriegers stecken. Die Kudu hörner kreischten, die Trommeln dröhnten, alle noch einsatzfähigen Kanus von Mpanzus Flotte, die am Strand anlegten, drehten sofort auf die Flussmitte, und die Krieger, die ins Dorf zurückliefen, sammelten sich am Ufer und formierten sich zu einer menschlichen Schutzmau er vor Mpinda. Und dann erkannte Gil, was dieses Vorgehen bezweck te. Mpanzu, der bis zu den Knöcheln im Wasser stand und den An führern seiner Geschwader und Einheiten Befehle zurief, betrachtete nicht mehr die Soyo als die große Gefahr. Die wirkliche Bedrohung lag draußen auf dem Wasser – die Beatriz mit ihren Kanonen, Mbemba und seine Kriegsflotte, die die Bucht vor Mpinda abriegelte. Mpanzu glaubte, dass Mbemba ihn in diese Falle gelockt hatte, um ihn zu töten, und jetzt erwartete er, dass sein Bruder ihn unter dem Schutz der por tugiesischen Geschütze angreifen und das Werk der Soyo vollenden 390
würde. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen Teil seiner Krie ger hinter den Soyo herzuschicken, so gern er sie auch für ihren Treue bruch bestraft hätte; er brauchte jeden seiner Männer, um den Angriff seines Bruders abzuwehren. Mittlerweile stand ganz Mpinda in Flammen. Selbst die hohen Hüt ten im Anwesen des ManiSoyo brannten. Grotesk verdrehte Leichen lagen über den Marktplatz verstreut, in Stücke gehauen, totgeschla gen, von Pfeilen durchbohrt, mit Fliegen und Würmern übersät und in der feuchten Hitze bereits verwesend. Der Gestank vermischte sich mit dem beissenden Geruch des schwarzen Rauchs, der aus den bren nenden Hütten aufstieg. Nicht allen überlebenden Soyo war die Flucht gelungen. Hunderte von Dorfbewohnern und Dutzende von Kriegern waren gefangengenommen worden und wurden jetzt in das brennen de Anwesen ihres Häuptlings getrieben. Gil hatte den grauenhaften Verdacht, dass sie zur Strafe für ihren Aufstand in den Flammen um kommen sollten. Aber er hatte keine Zeit, sich über diese schreckliche Vorstellung Gedanken zu machen, denn in dem Augenblick wurde der ManiSoyo durch die Menge der Krieger nach vorne gebracht. Gil war erschüttert. Er hatte geglaubt, der alte Mann sei zusam men mit der Mbanda Lwa auf der Beatriz, und nicht in Mpinda. Der Häuptling sah entsetzlich aus. Sein Gesicht und sein Oberkörper waren über und über mit Schlammspritzern bedeckt; seinen Kopf schmuck aus Reiherfedern hatte man ihm abgerissen, und sein wei ßes, wolliges Haar war mit geronnenem Blut verklebt; es stammte aus einer Kopfwunde, die er vermutlich bei einem Fluchtversuch erhal ten hatte. Einer der Krieger stieß ihn mit der Spitze seiner Lanze vor wärts. Als er wenige Schritte vor Mpanzu stand, fiel er – möglicher weise durch einen Lanzenstoß in den Rücken dazu getrieben – auf die Knie und warf sich der Länge nach auf die Erde, wie er es damals vor Mbemba getan hatte. Mpanzu sah kurz auf ihn hinab, blickte aber so fort wieder über den Fluss hinaus; er wollte keine Zeit verlieren und seine Armee und Flotte rasch neu formieren, um den erwarteten An griff seines Halbbruders abzuwehren. Der ManiSoyo würde so lange mit dem Gesicht im Uferschlamm liegenbleiben müssen, bis Mpanzu 391
ihm bedeutete, sich zu erheben, in dem er ihm die Klinge seiner Lan ze auf den Nacken legte. »Sag ihm, dass ich nichts damit zu tun habe, ManiSoyo«, schrie der NsakuSoyo. Er hatte das Gemetzel überlebt, indem er sich auf den Bo den von Mpanzus Kanu gekauert hatte. Jetzt sprang er aus dem Ein baum und eilte zu dem besiegten alten Häuptling. »Sag dem MtuKon go, dass ich dich vor diesem Verrat gewarnt habe. Sag ihm, dass ich dem König stets ergeben war.« Als der ManiSoyo nichts darauf erwi derte und nicht einmal den Kopf hob, lief der Juju-Mann zu Mpanzu. »Ich habe nichts damit zu tun, MtuKongo. Ich war immer schon ge gen die weißen Männer. War nicht ich es, der dir ausrichten ließ, dass sie wiedergekommen sind? War nicht ich es, der dich warnte, Mbem ba nicht zu vertrauen? War nicht ich es, der sagte, er mache gemein same Sache mit seiner Mutter?« Er bettelte um sein Leben; er war ein Soyo und befürchtete, zusammen mit seinen Stammesgenossen für ih ren Aufstand bestraft zu werden. »War nicht ich es, der …« Mpanzu wirbelte zu ihm herum. »Verschwinde, NsakuSoyo!« herrschte er ihn an. Sofort wurde der Zauberer von zwei Kriegern gepackt und zu der Stelle geschleppt, wo der alte Häuptling auf der Erde lag. Freiwillig sank er neben diesem in die Knie und warf sich auf den Boden. »Bitte, MtuKongo«, flehte er jämmerlich mit dem Gesicht im Schlamm. Er würde sterben, erkannte Gil. Sowohl er als auch der ManiSoyo würden sterben. Und er selbst, Gil, gleichermaßen. Zweifellos glaubte Mpanzu, dass er an diesem Verrat ebenso beteiligt war wie die beiden Männer; ebenso wie Mbemba und die Mbanda Lwa. »Warum zögert er?« fragte Mpanzu und sah wieder über den Fluss. »Warum läßt er sich so lange Zeit? Fehlt ihm der Mut?« Er stellte die se Frage mit ruhiger Stimme, als spräche er eher mit sich selbst und er warte keine Antwort. Doch Gil, der um sein Leben fürchtete, erwiderte: »Er wird dich nicht angreifen, MtuKongo. Er will nicht gegen dich kämpfen. Wenn er gegen dich kämpfen wollte, hätte er dich schon längst angegriffen, als du ihm den Rücken zugekehrt und gegen die Soyo gekämpft hast. 392
Und er hätte nicht dem Donnern und Blitzen, dem Zauber der weißen Männer, Einhalt geboten.« Aber Mpanzu verschloss sich der Logik von Gils Einwand. Zehn Jah re lang hatte er Mbembas Begeisterung für die weißen Männer und die Pläne der Mbanda Lwa für ihren Sohn misstrauisch beobachtet, und der heutige Tag hatte sein Misstrauen bestätigt. Seine großen, hervor tretenden Augen starrten auf das Wasser hinaus, geweitet vor Zorn. Doch im Moment war auf dem Fluss nichts Verdächtiges zu bemer ken. Die Kanonen der Beatriz blieben stumm, die Kanus von Mbem bas Flotte riegelten noch immer die Bucht ab. Die von der Schlacht verstümmelten Leichen und die zerschmetterten Kanus wurden von der Strömung rasch ins Meer getrieben, und Regen hing in der Luft. Die tief über dem Wasser hängenden Sturmwolken leuchteten in ei nem düsteren Gelb. »Du täuschst dich, was Mbembas Absichten betrifft, MtuKongo«, fuhr Gil fort. »Ich weiß, wie schlimm dies alles auf dich wirken muß, aber er hat dich nicht hintergangen. Er ist selbst hintergangen worden. Seine Mutter hat ihn hintergangen, ebenso wie dich. Er hat mit diesem Verrat nichts zu tun. Er hat den Zauber beendet, den sie auf dich her abbeschworen hat. Er hat nicht gegen dich gekämpft, als er die Mög lichkeit dazu hatte. Habe ich nicht recht, MtuKongo?« »Du hast recht, Gil Janesch«, gab Mpanzu zurück, ohne ihn anzuse hen. »Es stimmt, dass er nicht gegen mich kämpfte, als er die Möglich keit dazu hatte. Aber ebenso wahr ist, dass er nicht mit mir kämpfte, als er die Möglichkeit dazu hatte.« Gil seufzte. Ja, das stimmte. Genau dieser Punkt bekümmerte auch ihn am meisten: Mbembas Schwanken zwischen den Portugiesen und seinem eigenen Volk, seine Hoffnung, zwischen den beiden Welten vermitteln, sie zusammenbringen und das Beste von beiden vereinen zu können. Aber jetzt zeigte sich, was dieses Bestreben ihm eingetra gen hatte: Er gehörte keiner der beiden Welten an und erlitt von jeder das Schlimmste. »Wenn er an dem Verrat seiner Mutter nicht beteiligt war, wie du be hauptest, wenn es nicht seine Absicht war, mich in diese Falle zu lok 393
ken, die sie mir gestellt hat – warum hat er dann nicht auf meiner Seite gekämpft, als er ihren Verrat erkannte? Warum hat er seinen Kriegern nicht befohlen, die Porta Gies anzugreifen, als er sah, dass sie mich an griffen? Schau dir doch an, wie seine Krieger untätig in ihren Kanus sitzen. Es sind viele Männer, und sie sind gut bewaffnet. Warum be fiehlt er ihnen jetzt nicht, die Porta Gies anzugreifen, wenn er tatsäch lich so unschuldig ist, wie du mich glauben machen willst?« »Weil er immer noch hofft, zwischen dir und ihnen Frieden zu stiften.« »Frieden? Wird in deinem Land im Himmel auf diese Art Frieden gestiftet, Gil Janesch? Ist das der Grund, warum diese Hunde aus dem Haus der Mbanda Lwa, diese Soyo, so gehandelt haben?« Gil zuckte zusammen, als er die finstere Wut in Mpanzus heiserer, rauer Stimme hörte. »Ist das der Grund, ManiSoyo?« Mpanzu wandte sich zu dem SoyoHäuptling, der noch immer ausgestreckt auf dem Boden lag. »Ist das auch für dein Verhalten die Erklärung? Um mit diesen weißen Män nern aus dem Himmel Frieden zu schließen?« Der NsakuSoyo sah mit angsterfüllten Augen auf, aber der ManiSo yo blieb reglos mit dem Gesicht im Schlamm liegen. »Antworte mir, ManiSoyo! Sag mir, warum ihr Hunde aus dem Haus der Mbanda Lwa euch gegen euren König erhoben habt!« Mühsam richtete sich der ManiSoyo auf die Knie auf. Die Wun de an seinem Kopf hatte sich wieder geöffnet, und Blut floß ihm über die Wange seines vollen, großväterlichen Gesichts. Der Schlag auf den Schädel hatte ihn offenbar verwirrt, und er sah Mpanzu an, ohne sei ne Worte richtig zu verstehen. »Sag es mir, ManiSoyo! Sag mir, dass auch du nur Frieden mit den weißen Männern stiften wolltest!« »Wir müssen Frieden mit ihnen schließen, MtuKongo«, brachte der Häuptling mit erstickter Stimme hervor. »Ihr Zauber ist stark. Wir müssen mit ihnen Frieden schließen und ihren Zauber erlernen, denn sonst unterliegen wir ihnen und werden von dem Zauber vernichtet. Wir können ihnen nicht widerstehen. Du hast selbst gesehen, wie stark ihr Zauber ist.« 394
»Aber nicht stark genug, um dich zu retten, ManiSoyo«, erwiderte Mpanzu verächtlich. »Nein, dafür war er nicht stark genug, MtuKongo«, räumte der Ma niSoyo traurig ein. »Aber nur, weil ich nicht katholisch bin. Diese Macht erhalten nur diejenigen, die von ihrem Zauberer katholisch ge macht werden. Von Pader de Susa. Alle, die er katholisch macht, erhal ten die Zauberkraft ihres Gottes. Alle, die katholisch werden, werden durch den Zauber gerettet.« »Er kommt!« stieß der NsakuSoyo plötzlich hervor. »Sieh, MtuKon go, jetzt kommt Mbemba, um dich anzugreifen!« Mpanzu und Gil wirbelten gleichzeitig herum. Mbemba kletterte gerade die Strickleiter hinab und bestieg dann sein Kanu. Die vier Boote seiner Leibwache formierten sich in einer Phalanx mit Blick richtung zum Flussufer. Und dann verließen zehn, fünfzehn, zwan zig Kanus seiner Kriegsflotte den Kordon, der die Bucht abriegelte, um sich hinter ihm zu zwei Geschwadern zu formieren. Guter Herr Jesus, nein, das war nicht möglich; es konnte einfach nicht sein, dass Mbemba Mpanzu mit seiner Flotte angreifen wollte! Es war unmög lich, dass Gil sich derart in ihm getäuscht haben sollte. Aber dann sah Gil, dass noch eine weitere Person die Strickleiter herunterkam. Aus der Entfernung konnte er nicht sofort ausmachen, wer es war. Einer der Portugiesen? Dias? Pater de Sousa? Nein, es war eine Frau. Erst als sie von der untersten Sprosse in Mbembas Kanu stieg, konnte Gil sie erkennen. »Die Mbanda Lwa«, schrie der NsakuSoyo und stand auf, ohne dass es ihm gestattet worden war. »Sie kommt mit ihm. Gib acht, MtuKon go. Sei auf der Hut vor ihr. Sie besitzt den Zauber der weißen Männer und hat es auf deinen Thron abgesehen.« Mpanzu brüllte einen Befehl; die Kuduhörner trompeteten, die Trommeln erdröhnten in wildem Rhythmus, Mpanzus Kanus scho ben sich in den Fluss hinein, und die Krieger am Ufer liefen mit erho benen Schilden und schußbereiten Bogen zum Wasser. »Nicht, MtuKongo«, rief Gil über das Donnern der Trommeln hin weg. »Er bringt sie zu dir. Siehst du das nicht? Er bringt sie zu dir, um 395
Frieden zu machen. Er will dir erklären, dass sie all dies zu verantwor ten hat, nicht er. Er will Frieden mit dir schließen.« Mpanzu warf Gil einen raschen Blick zu und watete dann in den Fluss hinaus. Dort erwartete ihn sein Kanu, aber er bestieg es nicht. Er blieb bis zu den Knien im Wasser daneben stehen, legte eine Hand auf den hochgezogenen, mit Krokodilen bemalten Bug und beobach tete Mbembas Boote. Sie kamen nur langsam und vorsichtig näher; die vier Einbäume der Leibwache fuhren dicht nebeneinander, um eine Schutzmauer vor Mbemba zu bilden, und die zwei Geschwader folg ten gleich dahinter. Obwohl die Hunderte von anderen Booten aus Mbembas Flotte ebenfalls eine andere Position eingenommen hatten und jetzt dem Ufer näher waren als zuvor, bewegten sie sich nicht auf den Strand zu. Mpanzus Krieger wurden unruhig; sie wollten kämp fen. Ihre Augen waren auf ihren Prinzen geheftet, und sie warteten nur auf seinen Befehl, um anzugreifen. Dann rief Mbemba etwas zu ihnen herüber, aber er war noch zu weit weg, als dass man ihn verstehen konnte. Gil sah sich um. Niemand achtete auf ihn; alle beobachteten gebannt die beiden Kongo-Prinzen. Ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, dass er diesen Moment zur Flucht nutzen sollte. Aber wohin sollte er gehen? Nach Westen, Flus sabwärts? Der Großteil der Soyo-Armee war in den Dschungel nach Westen geflohen, und die meisten ihrer Kanus waren Flussabwärts ge paddelt; er war sich unsicher, ob sie ihn als Freund oder als Feind be trachten würden. Also nach Osten. Aber dort hielt sich die Mehrzahl von Mpanzus Kriegern auf; nach wie vor zogen sie über die Königs straße nach Mpinda hinab, und bei ihnen wusste Gil, was er zu erwar ten hatte. Er stand ebenso zwischen den Fronten wie Mbemba; deshalb entschied er sich dafür, zu Mpanzu in den Fluss hinauszuwaten und sich anzuhören, was Mbemba zu sagen hatte. Die Mbanda Lwa war in den Bug von Mbembas Kanu gegangen und stand jetzt direkt hinter ihrem Sohn. Ihre Kleidung wirkte prächtig, ja sogar verwegen angesichts der Umstände: Sie trug die Farben des kö niglichen Hofes, hatte sich rote und gelbe Papageienfedern ins Haar gesteckt und lächelte selbstbewusst und offensichtlich beglückt über 396
den Verrat, den sie begangen hatte. In ihren gefalteten Händen hielt sie ein Buch – das Brevier. Offenbar hatte sie es aus der Heckkajüte geholt, um dem ManiSoyo ihre vermeintliche Zauberkraft überzeugend vor führen zu können. Gils Gedanken überschlugen sich. Irgend etwas stimmte nicht. Wa rum sollten Pater de Sousa, Dias und Rodrigues die Mbanda Lwa ge meinsam mit Mbemba vom Schiff lassen, da sie ihnen an Bord doch so viel nützlicher war? Das konnte bedeuten, dass Mbemba die Mbanda Lwa vor den Portugiesen als Lügnerin entlarvt hatte und ihnen Mpan zus friedliche Absicht hatte erklären können. Aber es konnte auch et was völlig anderes heißen. »Mpanzu, ich möchte mit dir reden«, rief Mbemba. »Ich möchte dir diesen Verrat erklären und dich dafür um Verzeihung bitten.« »Komm näher, Mbemba«, schrie Mpanzu und sprang in sein Kanu. »Ich kann dich nicht verstehen.« Das war eine Lüge. Mbemba war nah genug. Wenn Gil ihn verste hen konnte, dann konnte Mpanzu es auch. Mpanzu wollte nur, dass sein Bruder näher kam, um sich seiner zu bemächtigen. Aber Mbem ba war nicht dumm. Er wusste sehr wohl, was der MtuKongo dank der Hinterlist der Mbanda Lwa über ihn denken musste. Gut sechshun dert Fuß vom Ufer entfernt, befahl er seinen Kanus stehenzubleiben. Mpanzus Boote glitten ein Stück vorwärts, und auch seine Krieger wa teten immer weiter in den Fluss hinaus, aber der Befehl zum Angriff kam nicht. Nervös und mit gezückten Waffen standen sich die Krieger der beiden Kongo-Prinzen gegenüber. Hinter Mbemba lag die Beatriz vor Anker, zweifellos mit geladenen Kanonen; hinter Mpanzu brannte Mpinda nieder, erfüllt von Rauch und Tod. In dieser Situation konn te die geringste Fehleinschätzung die Schlacht erneut aufflammen las sen. Vom Meer her zogen die drohend schwarzen Regenwolken im mer näher. »Ich habe gesagt, ich möchte dich um Verzeihung bitten für diesen Verrat, Mpanzu. Ich habe gesagt, ich möchte dir erklären, dass nicht ich dafür verantwortlich bin.« Mpanzu trat in den Bug seines Einbaums und stützte sich in einer 397
bewusst lässigen Haltung auf seine Lanze. »Wer ist dann dafür verant wortlich?« fragte er knapp. Mbemba drehte sich zu seiner Mutter um und zerrte sie neben sich. »Sie ist dafür verantwortlich, Mpanzu. Die Mbanda Lwa ist dafür ver antwortlich.« Dann sagte er etwas zu ihr, aber so leise, dass man seine Worte am Ufer tatsächlich nicht verstehen konnte. Die Mbanda Lwa trat vor ihren Sohn. Sie strahlte und richtete sich stolz auf. In den Händen hielt sie das Brevier. Es war offensichtlich, dass sie sich durch das heilige Buch im Besitz einer besonderen Macht wähnte und nicht die geringste Furcht verspürte. »Ist es wahr, was Mbemba sagt?« rief Mpanzu ihr zu. »Bist du für die sen Verrat verantwortlich, Mbanda Lwa?« »Nenn mich Königin Leonor, Mpanzu a Nzinga.« »Was?« Natürlich kannte Mpanzu weder den Namen noch den Ti tel. »Ich bin Leonor, die erste katholische Königin der Kongo. Dazu hat der Priester der weißen Männer mich gemacht, der Pader de Susa.« Wütend packte Mbemba sie am Arm. Ungerührt machte sie sich los und fuhr fort: »Ja, Mbemba sagt die Wahrheit, Mpanzu. Ich bin dafür verantwortlich.« In ihrer Stimme schwang großer Stolz mit. »Ich bin diejenige, die das Donnern und Blitzen des Gottes der weißen Männer auf dich herabbeschworen hat. Ich bin eine Katholikin, ich besitze diesen starken Zauber und kann ihn gegen dich heraufbeschwören, wann immer ich will.« Sie hob die Arme, um Mpanzu das Brevier zu zeigen. »Das ist die Schrift, MtuKongo«, schrie der NsakuSoyo und lief in den Fluss hinaus. »Hüte dich davor. Das ist der Fetisch, mit dem die weißen Männer ihren schrecklichen Zauber heraufbeschwören.« Mpanzu wandte sich zu ihm um. »Warum sagst du mir ständig, was ich schon weiß, NsakuSoyo?« herrschte er ihn an und fügte dann hin zu: »Führt ihn fort. Führt ihn fort und tötet ihn.« Sofort ergriffen zwei Krieger den Juju-Mann. Ihm blieb nur ein einzi ger Augenblick Zeit, um einen Schrei auszustoßen; dann wurde er von einer Lanze durchbohrt. Der Schrei erstarb ihm in der Kehle und wur 398
de zu einem grässlichen Gurgeln. Genau auf diese Art war Segou getö tet worden. Gil musste sich eingestehen, dass er Befriedigung über den Mord empfand. Er hasste den Zauberer, und es tat ihm wohl zu sehen, dass er auf dieselbe Art ums Leben kam wie Segou – niedergestreckt von einer Lanze, so dass seine Arme und Beine wild um sich schlugen, dann grotesk steif wurden und schließlich reglos herabfielen. Der Ma niSoyo ließ sich wieder mit dem Gesicht voran auf die Erde fallen; of fensichtlich glaubte er, dass jetzt er an der Reihe sei. Aber Mpanzu be achtete ihn nicht; die Mbanda Lwa redete immer noch auf ihn ein. »Unterwirf dich, Mpanzu a Nzinga. Deine Tage sind vorüber. Du mußt dich dem starken Zauber ergeben, den ich besitze.« Sie hob das Brevier hoch über den Kopf. »Ich bin Leonor, die erste katholische Kö nigin der Kongo. Du mußt dich mir unterwerfen und für meinen Sohn Platz machen.« Wütend über die Worte seiner Mutter packte Mbemba sie wieder am Arm, und dieses Mal versetzte er ihr einen kräftigen Stoß, so dass sie ins Heck des Kanus taumelte. Dort blieb sie sitzen und drückte sich lä chelnd das Brevier an die Brust. »Ist das die Art, wie du mich für diesen Verrat um Vergebung bit test, Mbemba?« rief Mpanzu. »Indem du mir befiehlst, mich zu unter warfen?« »Nein, Mpanzu …« »Denn ich werde mich nicht unterwerfen. Ich werde mich diesem Zauber der Porta Gies nicht ergeben. Ich werde das Böse, das sie in un ser Land bringen, nicht dulden, und ich werde dir meinen Platz nicht überlassen.« »Das würde ich auch nie von dir fordern, Mpanzu.« »Was forderst du dann von mir?« »Das gleiche, worum ich dich bat, bevor meine Mutter diesen Ver rat begangen hat. Sieh dir die Porta Gies mit eigenen Augen an. Bilde dir selbst ein Urteil über sie. Sie möchten mit dir Frieden schließen. Sie haben ihren Zauber gegen dich nur eingesetzt, weil die Mbanda Lwa sie angelogen hat. Jetzt tut es ihnen leid, und das möchten sie dir gern sagen.« 399
Mpanzu ließ seinen Blick schweifen, als würde er diesen Vorschlag erwägen. Aber Gil, der immer noch neben seinem Kanu im Wasser stand, konnte erkennen, dass er den Gedanken keineswegs erwog, son dern sich nur umschaute, um die Aufstellung seines Heers und seiner Flotte zu überprüfen und abzuschätzen, ob er gegen Mbembas Trup pen und die portugiesischen Kanonen eine Chance hatte. Seine Kühn heit war ebenso beeindruckend wie tragisch. Obwohl er die entsetzli che Zerstörungskraft der Geschütze mittlerweile kannte, war er den noch bereit zu kämpfen, um die Portugiesen aus seinem Königreich zu vertreiben. Schließlich sah er wieder zu Mbemba. »Die Mbanda Lwa muß bestraft werden, Mbemba.« Darauf erwiderte Mbemba nichts. »Wenn dieser Verrat nur auf sie zurückgeht, wenn weder du noch die Portugiesen daran beteiligt waren, wenn sie allein mit ihren Lügen dieses Werk vollbracht hat, dann liefere sie mir aus, damit sie dafür be straft werden kann.« Mbemba sah zu seiner Mutter. Sie stand auf. »Liefere sie mir aus zum Beweis dafür, dass du an diesem Verrat nicht beteiligt warst.« »Was wirst du mit ihr tun?« »Was mir beliebt. Bring sie zu mir.« Mbemba dachte kurz nach. Dann sagte er: »Schick eines deiner Ka nus herüber, um sie zu holen, Mpanzu.« Ganz offensichtlich vertraute er Mpanzu nicht genug, um selbst zu ihm hinüberzufahren. »Ich wer de sie in eines deiner Kanus setzen.« Mpanzu nickte langsam und bedächtig, bevor er mit seiner Lanze ei nem Kanu bedeutete, sich in Bewegung zu setzen. »Nein!« schrie die Mbanda Lwa. »Wenn du mich ihm übergibst, Mbemba, bringt er mich um!« In diesem Augenblick zuckte ein Blitz über den Himmel, dicht ge folgt von einem Donnerschlag. Mpanzu blickte auf. Mbemba blick te auf. Alle sahen zu den schwarzen Wolken am Himmel empor, so gar Gil. Es war nur das Unwetter, das immer näher zog, aber nach der heftigen Kanonade, die erst vor kurzem aufgehört hatte, waren alle Be 400
teiligten angespannt und auf das Schlimmste gefasst. Das Kanu, das Mpanzu zu Mbemba geschickt hatte, hielt auf halbem Weg an. Und dann begann Gils Herz plötzlich wild zu rasen, und er schrie: »Vorsicht, Mbemba! Halt sie fest!« Mbemba wirbelte herum. Seine Mutter hatte sich, das Gesicht zur Beatriz gewandt, auf die Knie sinken lassen und das Brevier geöffnet. Es war ein Signal, das erkannte Gil sofort. Sie wurde von Pater de Sou sa, Dias oder Rodrigues durch das Fernrohr beobachtet. Sicher hat ten sie das Zeichen vorher vereinbart: Wenn die Verhandlungen nicht nach ihrer Vorstellung verliefen, würde sie auf die Knie fallen und aus ihrem Brevier beten, und sofort würde Gott auf ihr Gebet mit einem schreckenerregenden Zauber antworten. Dann feuerten die Kanonen. Die erste Salve verfehlte ihr Ziel weit. Der Kugelhagel ging im Ur wald hinter Mpinda nieder, riß Äste ab, zerschmetterte Baumstäm me, ließ einen Regen von Blättern auf den Boden niedergehen und Af fen und Vögel kreischend auseinanderstieben. Instinktiv ging Gil ne ben Mpanzus Kanu auf die Knie, um hinter seiner Bordwand Schutz zu suchen. Aber zu seiner Überraschung begann das Kanu sich zu be wegen. Die Paddler fuhren in den Fluss hinaus. Mpanzu stand im Bug, wies mit seiner Lanze auf Mbemba und schrie etwas, die Kuduhörner gellten, die Trommeln dröhnten, und die Fetischträger hämmerten auf ihre Gongs ein und brüllten. Sie gingen zum Angriff über. Es war Wahnsinn – sie sollten fliehen und nicht direkt in die Schußlinie der Kanonen fahren. Es war ein hel denhafter Wahnsinn. Sie hatten gesehen, wozu die Kanonen fähig wa ren; sie glaubten, es sei das Donnern und Blitzen des Gottes der weißen Männer, und trotzdem waren sie bereit, den Angriff zu wagen und ge gen die weißen Männer zu kämpfen. Sie waren bereit, ihr Leben zu las sen im Krieg gegen die weißen Männer, die aus ihrem Land im Him mel das Böse in ihr Königreich gebracht hatten. Mbemba war auf die Mbanda Lwa losgegangen, hatte ihr das Bre vier aus der Hand gerissen und es in den Fluss geworfen. Aber es war zu spät. Und er wusste es. Als er sich umdrehte, sah er Mpanzus Flotte 401
auf sich zukommen. Er schob seine Mutter zur Seite, gestikulierte wild in Mpanzus Richtung und wollte ihn offenbar von seinem Vorhaben abhalten; er machte einen letzten, verzweifelten Beschwörungsversuch und hoffte wohl immer noch, Frieden zwischen seinem Bruder und den Portugiesen zu stiften. Auch dies war Wahnsinn, tragischer und gutgemeinter Wahnsinn. Mpanzus Bogenschützen ließen vom Ufer einen Pfeilhagel auf ihre Feinde niederregnen, eine Wolke schwarzer, drohend surrender Pfeile, und Mbemba wurde getroffen. Er fiel nach hinten, und sein Kopf lan dete auf dem Schoß seiner Mutter. Gil sprang auf und lief zum Ufer. Aber dann krachten wieder die Ka nonen. Eine Kugel streifte ihn an der Seite, und er stürzte zu Boden.
KAPITEL 11
D
ie kleine Hütte aus Lehm und Zweigen hatte keine Fenster, und der niedrige Eingang war mit Erde verschlossen. In den feuchten, dunklen Ecken hörte er Ratten herumstöbern. Er befand sich irgendwo im königlichen Bezirk von Mbanza Kon go, aber weil er nicht hinaussehen konnte, war er sich nicht sicher, wo genau er war. Und da ihm alles weh tat, war es ihm auch ziemlich gleichgültig. Zwei oder drei Rippen in seiner linken Seite waren an gebrochen, und eine hatte sich möglicherweise in die Lunge gebohrt. Die Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt, und um seinen Hals lag eine Schlinge, die am anderen Ende an einem Pfahl befestigt war. Dadurch war es ihm praktisch unmöglich, eine weniger schmerzhaf te Position einzunehmen. Außerdem hatte er entsetzlichen Hunger. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal etwas gegessen hat te. Mittlerwelle war er schon seit einigen Tagen in dieser Hütte – Tag und Nacht konnte er nur anhand des sich verändernden Lichts erah nen, das durch Spalten im Dach hereinfiel –, aber bislang hatte ihm 402
noch niemand etwas zu essen gebracht. Und soweit er wusste, hatte er auch auf dem langen Weg von Mpinda hierher nichts zu sich genom men. Am ersten Tag des Marsches war er zusammengebrochen. Die vier Krieger, die ihn nach Mbanza Kongo bringen sollten, hatten ein höl lisch schnelles Tempo vorgelegt, bei dem er nicht mithalten konnte. Je der Schritt hatte ihm stechende Schmerzen in der Seite bereitet; immer wieder war er gestolpert und gestürzt, hatte vor Qualen geschrien, ge hustet und Blut gespuckt. Obwohl die Krieger ihn fürchteten und has sten, wagten sie es nicht, ihn dem Tod zu überlassen. Man brauchte ihn lebend. Mpanzu hatte befohlen, ihn am Leben zu erhalten, da er ja ka tholisch sei und mit dem richtigen Fetisch das Donnern und Blitzen des Gottes der weißen Männer nicht nur heraufbeschwören, sondern auch beenden könne. Also hatten die Krieger widerwillig eine Bahre angefertigt und ihn getragen. Das war eine gewisse Erleichterung gewesen – zumindest brauch te er sich dann nicht mehr selbst körperlich anzustrengen. Aber die Schmerzen, die der rasche Gang der Krieger ihm verursachte, waren fast ebenso groß, als wenn er selbst marschiert wäre, und er hatte das Gefühl, als würde er von Messern durchbohrt. Dann bekam er Fie ber. Vielleicht hatten die Krieger ihm etwas zu essen angeboten, aber er hatte wegen des Fiebers und seiner Übelkeit nichts zu sich nehmen können. Er war mit dem Gesicht nach unten auf der Trage gelegen und hatte versucht, sich so gut wie möglich vor dem peitschenden Regen zu schützen; immer wieder hatte er das Bewusstsein verloren. So waren die Wochen der anstrengenden Reise verlaufen, durch den Urwald der Mbata, über die hügeligen Grasebenen der Nsundi und den Steilhang des Königsbergs von Mbanza Kongo hinauf. Auch als sie ihn in diese Hütte gebracht hatten, war er ohnmächtig gewesen. Die Ratten hatten ihn aufgeweckt, weil sie an seinen Zehen nagten. Erschrocken zog er die Beine eng an den Körper. Normalerweise hat te er keine Angst vor Ratten; er kannte sie von den Schiffen, auf denen er gesegelt war. Aber in seinem gefesselten Zustand war er ihnen hilf los ausgeliefert, und er wusste, dass sie dreist werden würden, wenn er 403
sich nicht gegen sie zur Wehr setzte. Er hatte schon öfter die schreck lichen Verletzungen gesehen, die sie mit ihren spitzen kleinen Zähnen anrichten konnten. Wie viele mochten es sein? Offenbar waren nur zwei oder drei mit ihm in dieser fensterlosen Hütte gefangen. Kratz te da nicht eine am Lehm, der den Eingang versperrte, und versuchte hinauszugelangen? Die Knie an die Brust gezogen, blinzelte er in die Dunkelheit. Er konnte am Eingang etwas kratzen und schaben hören, sah aber keine Ratten. Und dann war es mehr als nur ein Kratzen und Schaben – es war ein Hammer, mit dem sich jemand an dem Lehm zu schaffen machte, und dann wurde die Erde mit einer Spitzhacke abgetragen und weggeschaufelt. Mit stockendem Atem sah er zu, wie die Mauerung wegbröckelte. Tatsächlich, der verschlossene Eingang – ein niedriger Halbkreis, gerade groß genug, damit ein Mensch hin durchkriechen konnte – wurde geöffnet. Schließlich entstand ein klei ner Durchbruch; mit einem Mal wehte ein frischer Wind in die stik kige Hütte, und er konnte in die dunkle, sternlose Nacht hinaussehen. Der Himmel war bewölkt, aber es regnete nicht mehr. »Gil Janesch?« »Wer ist da?« »Nimi.« »Nimi?« Ungläubig wiederholte er den Namen, aber dann wusste er, wer gekommen war. »Ach«, sagte er. »Nimi. Mchento.« Es war die andere Nimi, seine alte Dienerin, die die Verbannung mit ihm geteilt hatte. Er hatte nicht erwartet, sie jemals wiederzuse hen. Hatte man auch sie gefangengenommen? Sie schob einen Korb durch den niedrigen Eingang, und dann folgte sie selbst auf Händen und Knien. Die Leute, die den Eingang für sie aufgehauen hatten, blie ben draußen stehen. »Binde mich los, mchento.« Sie schüttelte den Kopf und beschäftigte sich mit ihrem Korb. »Bitte, Nimi. Ich bin schwerverletzt, und alles tut mir weh.« »Es tut mir leid, Gil Janesch, ich darf nicht. Aber ich habe hier etwas zu essen und zu trinken für dich. Sie wollen nicht, dass du stirbst.« Sie hatte aus ihrem Korb einen Flaschenkürbis genommen und füll 404
te einen Becher. Dann hob sie mit der anderen Hand seinen Kopf an und hielt ihm den Becher an den Mund. Es war malafu, und er trank so gierig davon, dass ihm ein Großteil in den verfilzten Bart tropfte. Sie füllte den Becher ein zweites Mal, stellte ihn aber beiseite, bevor er ihn ganz leeren konnte, denn sie wusste, dass ihm in seinem augenblick lichen Zustand zuviel Flüssigkeit Übelkeit bereiten würde. Dann ent nahm sie ihrem Korb eine Schüssel mit kaltem Poscho, den sie ihm mit den Fingern in den Mund steckte. Er schlang die Getreidegrütze hin unter und hätte sich gierig daran verschluckt, aber sie gab ihm immer nur eine kleine Menge davon, und als er gerade gut die Hälfte des Breis gegessen hatte, stellte sie auch die Schüssel zur Seite. »Jetzt lass mich sehen, wo du verwundet bist«, sagte sie. »Hier, an der Seite.« Er deutete mit dem Kinn auf seine linke Seite. »Möglicherweise sind einige Knochen gebrochen; außerdem huste ich Blut.« »Leg dich hin.« Er streckte sich aus, so gut er konnte, legte aber nicht den Kopf auf den Boden, weil die Schlinge ihn würgte, sobald er ihn zu weit nach hinten neigte. Nimi kniete sich über ihn, befühlte die hässlichen blau en Flecken und verschorften Schnitte an seiner zerschundenen Seite und fuhr dann mit den Fingern die Rippen hinab; in der Dunkelheit musste sie die Verletzungen mehr ertasten, als dass sie sie sehen konn te. »Sei vorsichtig«, sagte er; ihre Berührung verursachte ihm starke Schmerzen, die ihn zusammenzucken ließen. Sie holte eine süß duftende Salbe aus ihrem Korb und begann, sie mit einem sauberen Tuch auf seine Wunden aufzutragen. Währenddessen versuchte er, sich zu erinnern, was passiert war, nachdem die Kano nenkugel am Strand von Mpinda ihn zu Boden geworfen hatte. Mpanzus Krieger hatten noch fünf oder sechs Kanonaden von der Beatriz durchgehalten, aber dann hatte Rodrigues die richtige Schuß weite gefunden und ein entsetzliches Gemetzel angerichtet. Als jedoch Mbembas Kanus ihrem verwundeten Prinzen zu Hilfe eilten und dabei auf Mpanzus Flotte stießen, die zum Angriff in den Fluss hinauspaddel 405
te, war ein derart heftiger Nahkampf entbrannt, dass Rodrigues den Be schuß einstellen musste, um nicht Mbembas Krieger zu treffen. Mpanzu erkannte, dass er hoffnungslos unterlegen war, und seine Krieger ergrif fen schließlich die Flucht. Dabei waren sie auf Gil gestoßen und hatten ihn gefangengenommen. Daran konnte er sich allerdings kaum mehr erinnern; er wusste nur noch, dass ihm im Tumult und der Hektik des ungeordneten Rückzugs die Hände gefesselt und er mit einem Seil um den Hals in den Wald hinter Mpinda geschleppt worden war. Beim Rückzug waren sie unerbittlichen Angriffen der Soyo ausge setzt gewesen, die sie so weit wie möglich vertreiben wollten. Aber dann hatte es wieder zu regnen begonnen, und die Soyo hatten ihre Verfolgung aufgegeben. Eines war inzwischen klar – sie würden sich nicht mehr dem Kongo-König unterwerfen, denn sie waren nun über zeugt, dass ihnen kaum etwas anderes übrigblieb, als sich den weißen Männern mit ihrem schrecklichen Zauber anzuschließen. Würden die anderen Völker des Reichs ihrem Beispiel folgen, sobald sie den Zau ber der weißen Männer kennenlernten? Dass sie ihn kennenlernten, war unvermeidbar, denn Rodrigues würde die Bombarden der Beatriz zweifellos an Land bringen lassen. »Weißt du, wie es jetzt aussieht, Nimi? Hast du gehört, wie der Kampf weitergegangen ist?« »Nur sehr wenig«, erwiderte sie, ohne sich von der Verarztung seiner Wunden ablenken zu lassen. »Hast du etwas von der NtinuKongo oder meinem Sohn gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, ob sie verwundet wurden?« »Es tut mir leid, Gil Janesch, ich weiß es nicht.« »Mbemba ist verwundet worden. Ich habe gesehen, wie er in einem Hagel von Pfeilen zu Boden fiel. Ist er tot?« »Ich weiß es nicht.« »Was weißt du denn?« »Nur, dass die weißen Männer nach Mbanza Kongo kommen, dass sie Donner und Blitz mit sich bringen und alles vernichten, was sich ihnen in den Weg stellt.« 406
»Wo sind sie jetzt?« »Auf der Königsstraße, mitten im Wald der Mbata.« »Kämpfen die Mbata gegen sie?« »Wie könnten sie denn? Das Donnern und Blitzen steckt ihre Häuser in Brand und zerstört ihre Dörfer. Nein, die Mbata setzen sich nicht zur Wehr. Die meisten flüchten, aber viele ergeben sich auch dem schreck lichen Zauber der weißen Männer, werden katholisch und kämpfen an ihrer Seite. Wie die Mbanda Lwa. Wie der ManiSoyo. Wie Mbemba.« »Mbemba? Hast du das wirklich gehört? Ist Mbemba wirklich katho lisch geworden?« »Das wird gesagt, ja.« »Die Mbanda Lwa möchte wohl gern, dass die Leute das sagen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es wahr ist.« Nimi zuckte die Achseln und wandte sich wieder ihrem Korb zu. Sie hatte Gils Wunden gereinigt und zog eine Kanga heraus. »Dreh dich um, Gil Janesch«, sagte sie und wickelte das Tuch fest um seine Rip pen. Natürlich konnte er nicht absolut sicher sein, dass Mbemba nicht doch katholisch geworden war. Wenn sein Freund überhaupt noch lebte, dann glaubte er sicherlich, dass Mpanzu nun von seinem Verrat überzeugt war, und hatte daher wohl jede Hoffnung aufgegeben, sein Bruder und die Portugiesen könnten noch Frieden schließen. Mögli cherweise war er daraufhin zu dem Schluß gekommen, dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich auf die Seite der Portugiesen zu stellen und sich taufen zu lassen. Aber eigentlich war es unwichtig. Denn eines war zweifellos wahr an Nimis Bericht: dass die Mbata vom unvorstellbaren Zauber der weißen Männer in ehrfürchtigen Bann geschlagen waren und es ebenso wenig wie die Soyo wagen würden, sich gegen sie zu stel len. Kein Volk des Kongo-Reiches würde das tun. Jeder Stamm, jedes Dorf und die Bewohner sämtlicher Provinzen würden entweder die Flucht ergreifen und oder sich den Portugiesen unterwerfen. Alle außer Mpanzu. Gil konnte sich gut vorstellen, wie Mpanzu vor den Kanonen flüchtete und sich durch den Urwald der Mbata auf das offene Grasland der Nsundi zurückzog, getrieben von der Hoffnung, 407
sein Königreich heroisch verteidigen zu können – und zwar indem er, Gil, die Kanonen zum Schweigen brachte. »Jetzt iß noch etwas, Gil Janesch«, sagte Nimi, nachdem sie das Tuch um seinen Oberkörper gebunden hatte. Er hob den Kopf, und sie führte die Schüssel mit Poscho wieder an seine Lippen. »Genug, Frau«, rief eine Stimme aus der Finsternis in die Hütte hin ein. Es war eine schrille, hohe Stimme. »Komm heraus.« Gil erkannte die Stimme. »Lukeni a Wene?« fragte er. »NgangaKon go, bist du es, der spricht?« Obwohl er ihn in der Dunkelheit nicht er kennen konnte, sah er den runzligen, buckligen Zwerg vor sich, den Hohenpriester des Königreichs in seiner weißen Bemalung. Auf den brüsken Befehl hin eilte Nimi zum Eingang der Hütte. »Gib das Gil Janesch, Frau.« Sie brachte Gil etwas, das wie ein kleines Kästchen aussah. »Was ist das, NgangaKongo?« »Der Fetisch, Gil Janesch. Der Fetisch, mit dem du das Donnern und Blitzen deines katholischen Gottes beenden wirst«, antwortete der Zauberer barsch. Gil blickte angestrengt auf das Kästchen in Nimis Hand. Es hatte die Größe und Form eines kleinen Buchs. »Ist das Schrift, NgangaKongo?« fragte er ungläubig. »Ja, das ist Schrift, Gil Janesch.« »Gib es mir, Nimi.« Überrascht, dass der NgangaKongo ein Buch ha ben sollte – welches Buch konnte es sein? –, vergaß er, dass seine Hän de gefesselt waren, und wollte begierig danach greifen. Doch der Strick hemmte seine Bewegung, ein stechender Schmerz brannte in seiner Seite, er hustete gequält und spuckte Blut. Als die Schmerzen abebb ten und er wieder durchatmen konnte, sagte er mürrisch: »Was soll ich mit dieser Schrift machen, NgangaKongo, wenn ich wie ein Schwein gebunden bin? Lass mich losbinden.« »Nimm ihm die Fesseln ab, Frau.« Nimi holte ein Messer aus ihrem Korb – Gil prägte sich ein, dass sie ein Messer bei sich hatte, für den Fall, dass er es eines Tages brauchen 408
könnte – und schnitt damit den Strick um seine Handgelenke durch. Dann nahm er sich die Schlinge vom Kopf und griff nach dem Buch. Aber es war kein Buch, sondern die bemerkenswerte Imitation ei nes Buches; eine brillante, sehr genaue Kopie des einzigen Buches, das der NgangaKongo je gesehen hatte. Wie bei Pater Sebastiãos Brevier bestand der Einband aus schwarzem Leder. Vorne war ein goldenes Kreuz eingeprägt, und die Seiten aus ganz feinem Tuch, rund hundert an der Zahl, waren fachmännisch zusammengenäht. Gil schlug es auf und erwartete beinahe, Hymnen und Gebete in lateinischer Sprache darin zu finden, so wunderschön war es. »Sprich die Schrift, Gil Janesch, und sag deinem Gott, er soll das Donnern und Blitzen einstellen, das unser Volk tötet.« »In dieser Dunkelheit kann ich die Schrift nicht sehen, um sie zu sprechen, NgangaKongo.« »Hier, Frau.« Nimi wurde eine brennende Öllampe gereicht. In der plötzlichen, ungewohnten Helligkeit musste Gil erst kurz die Augen schließen, be vor er auf die aufgeschlagenen Seiten blicken konnte. Dann schüttel te er den Kopf. Was für ein Zerrbild. O Gott. Es war einfach lachhaft, und er hätte losgeprustet, wenn dieser Versuch in all seiner Fehlerhaf tigkeit nicht so jämmerlich gewesen wäre. Das war keine lateinische Schrift; es war überhaupt keine Schrift. Es war ein Fantasiegebilde, das Gekritzel eines Kindes. Der NgangaKongo hatte die Wörter und Sät ze, die er im Brevier des Paters gesehen hatte, einfach nachgeahmt und die Seiten sorgfältig mit Sternen und Kreuzen, Punkten und Kringeln, Kreisen und X-en, Pfeilen und Quadraten gefüllt, mit nichts als bedeu tungslosen Symbolen, die verdeutlichten, wie unfassbar die Vorstel lung einer Schrift für Menschen war, die keine Verwendung für sie be saßen und deshalb auch keine erfunden hatten. Für sie war Schrift tat sächlich nichts anderes als ein Fetisch, der Fetisch einer ihnen frem den Zauberkunst. »Jetzt sprich die Schrift, Gil Janesch«, wiederholte der NgangaKon go mit seiner geisterhaften, hohen Stimme aus der Dunkelheit heraus. »Sprich die Schrift und beende den bösen Zauber deines Gottes.« 409
»Ich kann diese Schrift nicht sprechen, NgangaKongo. Ich weiß nicht, wie man diese Schrift spricht. Eine solche Schrift habe ich noch nie zuvor gesehen.« Darauf gab der NgangaKongo keine Antwort. »Hast du gehört, was ich gesagt habe, NgangaKongo? Das ist keine Schrift, mit der ich zu meinem Gott sprechen kann.« »Er ist fort, Gil Janesch«, unterbrach Nimi ihn. »Fort? Wohin?« »Um zu sehen, ob du das Donnern und Blitzen hast aufhören lassen, das unser Volk tötet.« »Nein, NgangaKongo, warte!« rief Gil und stürzte zum Eingang der Hütte. Ein derber Fußtritt traf ihn ins Gesicht. Er konnte nicht sehen, wer ihm den Tritt versetzt hatte. Er hatte nicht einmal nach draußen sehen können, so rasch war der Schlag gekom men. Er fiel auf den Rücken, umklammerte seine vor Schmerz wild po chende Seite und fiel in Ohnmacht. Lange konnte er nicht bewusstlos gewesen sein, aber als er zu sich kam, war er wieder allein in der Dunkelheit seiner Hütte. Nimi war fort, die Lampe ebenso, und der Eingang war wieder mit Lehm ver schlossen. Der ganze Zwischenfall hätte ein Traum sein können, wenn nicht das ›Buch‹ des NgangaKongo neben ihm gelegen hätte; außer dem war er nicht mehr gefesselt. Er nahm das Buch zur Hand. Und plötzlich wusste er, dass dies das Werkzeug war, mit dessen Hilfe er überleben und diesen Ort verlassen konnte. Am nächsten Morgen wurde der Eingang wieder geöffnet; frische Luft und helles Sonnenlicht strömten herein. Sonnenlicht? Das erstaun te ihn. Sollte die Regenzeit schon vorüber sein? Sollte bereits die erste Trockenzeit des Jahres beginnen? Waren seit der Rückkehr der Por tugiesen tatsächlich schon so viele Monate vergangen? Vor der Hütte standen zehn Krieger, gekleidet in den Farben und mit dem Emblem des königlichen Haushalts. Der NgangaKongo war nicht bei ihnen. »Der ManiKongo schickt nach dir, Gil Janesch«, sagte einer der Män ner. 410
Der ManiKongo? Nicht der NgangaKongo? Gil schlüpfte durch den niedrigen Eingang der Hütte und schaute sich neugierig um. Die Luft war klar, der Himmel strahlend blau mit einigen weißen Schäfchen wolken. Er sah eine Lichtung, um die sich rund zwanzig kleine, fen sterlose Lehmhütten ähnlich der seinen drängten; auf der Erde waren noch überall Regenpfützen, die in der Sonne glitzerten. Die Eingän ge zu den Hütten waren ebenfalls mit Erde verschlossen, und rings um war die Häusergruppe von einer Bambuspalisade umgeben. Sa ßen in den anderen Hütten noch weitere Gefangene? Obwohl er keinen Laut hören konnte, war er sich sicher, dass in den Hütten noch weite re Menschen eingeschlossen waren; zweifellos war diese kleine Anlage ein Gefängnis. Wer, fragte er sich, mochten die anderen Gefangenen sein? Gehörte Nimi zu ihnen? Die Krieger führten ihn über die Lichtung zu einem Tor in der Pa lisade. Als das Gatter geöffnet wurde und er hinausschritt, wusste er sofort, wo er war: Direkt vor ihm lag der Palast des ManiKongo mit den drei hohen Strohdächern, den zwei getrennten Flügeln, den säu lenbestandenen Veranden und dem Garten voll üppiger Frangipani, Bougainvilleen und anderer blühender Bäume, die, erfrischt von dem monatelangen Regen, im Sonnenlicht unter dem kristallklaren Him mel glänzten. Während die Männer ihn zur vorderen Veranda führ ten, dachte er daran, wie er zum erstenmal hierhergebracht worden war: Damals war er als Gesandter des Königs von Portugal zum König der Kongo gekommen, gekleidet in Samt, einem Kettenhemd und mit einem federgeschmückten Helm; er war mit einem Schwert bewaff net und mit Geschenken beladen gewesen, und eine Versammlung von Höflingen hatte ihn auf der Veranda erwartet. Jetzt war er ein Gefan gener – fast nackt, halb verhungert und womöglich dem Tode nahe, und auf der Veranda stand niemand, um ihn zu empfangen. In der klaren Morgenluft hing eine düstere Stille, die nur von Vo gelgezwitscher in den Bäumen unterbrochen wurde. Wo waren all die Menschen? Hatten sie die Flucht ergriffen, weil die weißen Männer nä herrückten? Oder waren sie alle in ein riesiges Heer eingegliedert wor den und warteten irgendwo draußen auf dem Plateau darauf, Mbanza 411
Kongo und den ManiKongo gegen die heranrückenden weißen Män ner zu verteidigen? Vom Druck einer Lanze im Rücken vorwärtsgesto ßen, betrat Gil die vordere Veranda des Palasts, und der bestickte kar mesinrote Vorhang vor dem Eingang wurde beiseitegezogen. Wie bei jenem erstenmal saß auch jetzt am Ende des langen Audienz saals Nzinga a Nkuwu, der ManiKongo, auf seinem erhöhten Thron, blind und unglaublich fett, mit einem runden Hütchen aus Flechtwerk auf dem lächerlich kleinen Kopf, das goldene Fell eines Löwen so über die massigen Schultern drapiert, dass die obszön üppigen Fleischmas sen seiner riesigen Arme und seiner Brust kaum bedeckt waren. Sein Hohepriester, der greisenhafte, bucklige, weiß bemalte Zwerg, saß wie damals dem Herrscher zu Füßen und war nackt bis auf ein Lenden tuch und eine Kette aus Lederamuletten. Rechts neben dem Thron stand die erste Königin, die Mbanda Vunda, Mpanzus Mutter. Sie war größer und schwärzer, als Gil sie in Erinnerung hatte; ihre Haut war alt und faltig geworden, und sie trug eine Kanga und einen Turban in den Farben und mit dem Emblem des königlichen Hauses, dazu eine Unmenge Halsketten und Armreifen, die ihren Rang verdeutlichten; eine Hand ruhte auf dem geschnitzten Löwenkopf an der Rückenleh ne des Throns. Diener hielten Palmwedel als Baldachin über dem Kopf des Königs. An den Wänden des langen, schmalen Raumes standen wie damals Krieger aufgereiht. Aber die Edelleute fehlten. Gil schritt auf den Thron zu und fragte sich erneut, ob der König von seinen Höf lingen im Stich gelassen worden war oder ob die Männer sich auf den Kampf mit den Portugiesen vorbereiteten. »Ist das Gil Janesch?« fragte der ManiKongo, als Gil etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Gil hielt inne, verblüfft von der flüsternden, sanften Stimme des rie sigen Mannes, bis ihm einfiel, dass sie auch damals schon so weich und freundlich geklungen hatte. Sollte er sich als Geste der Unterwerfung vor dem Herrscher auf den Boden legen? Damals hatte er es nicht ge tan, aber jetzt waren die Umstände auch wesentlich gefährlicher. »Ist das Gil Janesch, der weiße Prinz, der aus einem Land im Him mel zu uns gekommen ist?« wiederholte der blinde ManiKongo seine 412
Frage und legte den Kopf zur Seite, als wollte er Gil mit seinen verhan genen Augen unter den schweren Lidern betrachten. »Ja, ManiKongo.« »Tritt näher.« Als Gil weiterging, beugte sich die Mbanda Vunda zu ihrem Gemahl hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der NgangaKongo drehte den Kopf, um zu hören, was sie sagte. Dann wandten sich die beiden wie der Gil zu; ihre Gesichter wirkten hart und streng. Er blieb erneut ste hen und beschloss, sich nicht auf den Boden zu werfen. Bei diesen bei den würde ihm auch diese Geste nichts nützen. »Ich habe gehört, dass das Donnern und Blitzen deines Gottes nicht aufgehört hat, Gil Janesch. Obwohl der Regen vorüber ist und der Him mel aufgeklart hat, höre ich, dass dein Gott noch immer sein Donnern und Blitzen auf die Erde herniederschickt, um mein Volk zu töten.« War es das, was die Mbanda Vunda ihm zugeflüstert hatte? Wieder holte er vielleicht nur, was sie ihm zu sagen aufgetragen hatte? Es war sehr gut möglich, dass er wegen seiner Blindheit und seiner übermä ßigen Körperfülle gar nicht mehr in der Lage war, wirklich über sein Königreich zu herrschen. Mbemba hatte erzählt, dass Mpanzu immer mehr an seiner Statt regierte. Vielleicht waren in Mpanzus Abwesenheit die Mbanda Vunda und der NgangaKongo die eigentlichen Herrscher. »Warum, Gil Janesch?« fuhr der ManiKongo fort. »Erklär mir, wa rum die weißen Männer nach so langer Zeit, in der wir zufrieden ohne sie lebten und nicht einmal von ihnen wussten, aus ihrem Land im Himmel zu uns kamen und ihren Gott baten, uns mit seinem Don nern und Blitzen zu töten? Wir haben die weißen Männer nicht ge beten, aus dem Himmel zu uns zu kommen. Wir wollten es gar nicht. Warum also sind sie nach all dieser Zeit ungebeten, unerwünscht, un bekannt zu uns gekommen, um uns mit dem bösen Zauber ihres Got tes zu töten? Auf welche Weise haben wir sie beleidigt? Auf welche Weise haben wir ihren Gott beleidigt?« »Ihr habt sie in keiner Weise beleidigt, ManiKongo. Ihr habt auch ih ren Gott nicht beleidigt. Was passiert ist, war nie beabsichtigt. Es war ein Missverständnis. Mbemba …« 413
»Nenne gegenüber dem ManiKongo nicht Mbembas Namen, Gil Ja nesch«, fuhr die Mbanda Vunda scharf dazwischen. »Erwähne weder ihn noch seine Mutter. Sie haben sich gegen den ManiKongo erhoben und sind seine Feinde; deshalb darf in seiner Gegenwart nicht von ih nen gesprochen werden.« »Das stimmt, Gil Janesch. In meiner Gegenwart darf nicht von ih nen gesprochen werden«, sagte der ManiKongo mit seiner sanften, flü sternden Stimme. »Sie haben sich gegen mich erhoben und sind jetzt meine Feinde. Auch das habe ich den weißen Männern zu verdanken. Sie haben die Seele meines jüngsten Sohnes und die Seele meiner jüng sten Königin gestohlen und beide zu meinen Feinden gemacht.« »Wie ich es schon vor langer Zeit prophezeit habe, Nzinga a Nkuwu«, warf der NgangaKongo schrill ein. »Ja, Lukeni a Wene, wie du schon vor langer Zeit prophezeit hast«, stimmte der ManiKongo zu und streckte seine Hand aus. Der Zauberer ergriff die dargebotene Hand. »Aber wir werden ihre Seelen wiedergewinnen, Nzinga a Nkuwu. Wir werden alle Seelen, die die weißen Männer uns gestohlen haben, wiedergewinnen. Auch das habe ich prophezeit.« »Ja, auch das hast du prophezeit, Lukeni a Wene«, sagte der ManiKongo, gab die Hand des Priesters frei und ließ seinen Kopf traurig auf die Brust sinken. »Wo ist der Fetisch? Bring mir den Fetisch.« Der Fetisch, das Buch mit der ›Schrift‹, das der NgangaKongo an gefertigt hatte. Gil hatte es in seiner Hütte vergessen, aber einer der Krieger hatte es mitgenommen und reichte es nun dem NgangaKon go. Dieser nahm es an sich und trat dann von der Plattform des Throns herunter. »Hier, Gil Janesch.« Während Gil das Buch entgegennahm, betrachtete er den Herrscher. Er war in seinen Thron zurückgesunken und stützte den Kopf mit einer resignierten Geste in eine Hand, als würde er weinen. Vielleicht weinte er tatsächlich, aus übergroßer Trauer um die gestohlenen Seelen seines geliebten jüngsten Sohnes und seiner geliebten jüngsten Königin. 414
»Du wirst nun die Schrift des Fetischs sprechen, Gil Janesch«, sag te der NgangaKongo. »Gleich nachdem du sie bekommen hast, hast du sie nicht gesprochen. Wir haben geduldig darauf gewartet, dass du sie sprichst, um das Donnern und Blitzen zu beenden. Aber es donnert und blitzt weiter. Obwohl der Regen aufgehört hat und der Himmel klar ist, töten das Donnern und Blitzen unser Volk noch immer. Wir wollen nicht länger warten. Du wirst jetzt die Schrift zu deinem Gott sprechen und seinem Töten ein Ende bereiten.« Die Drohung, die in seiner schrillen Stimme, seinen wie eine Be schwörung gesprochenen Worten lag, war nicht zu überhören. Aber womit drohte er? Offenbar glaubte er nach wie vor, dass Gil die Macht besaß, die Geschütze zum Schweigen zu bringen. Also würde er ihm kaum mit dem Tod drohen – als Toter konnte er die Kanonen nicht mehr zum Schweigen bringen. Dann hörte Gil ein Geräusch. Der bestickte Vorhang hinter dem Thron, der – wie Gil sich vom letztenmal erinnerte – den Weg zu ei nem anderen Teil des Palastes freigab, wurde beiseitegezogen, und eine Frau wurde hereingeschoben. Es war eine Dienerin – seine Dienerin, die andere Nimi. Ein Krieger stieß sie grob nach vorn, und sie fiel auf die Knie und warf sich vor dem Thron der Länge nach zu Boden. Sie war wirklich eine Gefangene. Natürlich – sie hatte zusammen mit Gil ihren Verbannungsort verlassen, um Mbemba heimlich von der Rück kehr der weißen Männer zu berichten, und deshalb war sie an dem Verrat gegen den König ebenso beteiligt wie er, wie Mbemba und die Mbanda Lwa. »Was wollt ihr von ihr? Warum habt ihr sie hierhergebracht?« »Sag es ihm, Frau.« Nimi hob den Kopf und sah sich verängstigt um. Der Krieger, der sie in den Raum gebracht hatte, hielt seine Lanze drohend über sie. »Sprich die Schrift, Gil Janesch, und lass das Donnern und Blitzen aufhören, das unser Volk tötet.« Ihr flehentliches Bitten war jämmerlich anzuhören. Sie fürchtete um ihr Leben. Sie rechnete damit, getötet zu werden, und sie würde getö tet werden. Das also war die Drohung, die der NgangaKongo ausge 415
stoßen hatte. Gil wusste, wie schnell und unerbittlich die Kongo einen Menschen umbringen konnten. Er wollte einwenden, dass diese imi tierte Schrift in seinen Händen gar keine Schrift war und man mit ihr kein Gebet an seinen oder irgendeinen Gott richten konnte. Aber sie würden ihm nicht glauben und Nimi töten. Sie würden sie vor seinen Augen umbringen. Und ihn ebenso – weil es dann keinen Grund mehr gab, ihn am Leben zu lassen. Er öffnete das ›Buch‹ und starrte auf die nichtssagenden Zeichen. »Bitte, Gil Janesch, beeil dich«, drängte Nimi. Der Krieger, der drohend neben ihr stand, hatte die Klinge seiner Lanze auf ihren Nacken gelegt. »Rühr sie nicht an. Geh weg von ihr. Ich werde durch die Schrift zu meinem Gott sprechen, aber geh weg von ihr. Sie hat mit dieser Sache nichts zu tun.« Der NgangaKongo machte ein Zeichen, und der Krieger nahm seine Lanze von Nimis Nacken. Trotzdem blieb sie zitternd am Boden liegen und wagte nicht, sich zu bewegen. Es war abscheulich. Die arme, liebe Frau, die all die Jahre für ihn gesorgt hatte, obwohl er ihr Leben zer stört hatte. Würde Gott ihm vergeben? Würde Gott irgendeinem der Portugiesen verzeihen, die in dieses Königreich gekommen waren und so viele Menschenleben vernichtet hatten? »Sprich die Schrift, Gil Janesch.« »Ich werde sie sprechen, aber nicht hier. Es würde nichts nützen, sie hier zu sprechen.« »Wo dann?« »Wo mein Gott mich hören kann. Da, wo er ist. Bei den Portugiesen. Führt mich zu ihnen.«
Sie hatten den Urwald der Mbata hinter sich gelassen und die Grasebe nen der Nsundi erreicht und marschierten nun auf der Königsstraße in Richtung Mpangala. Von der Stelle, an der er gerade stand, viele Hun dert Fuß oberhalb der Ebene, am Rand des Steilhangs, bot sich Gil eine 416
fantastische Aussicht: die schwarzen Umrisse des Urwalds am Hori zont weit im Norden; die gelben Hügel der Hochland-Savanne, die sich nach Süden, Osten und Westen erstreckten, durchsetzt von dunklen Wäldchen, glitzernden Bächen und bevölkert von großen Herden von Wildtieren; die breite Königsstraße, die sich als braunrote Spur durch die Grasflächen zur Stadt Mpangala am Ufer des Lelunda hinzog; und der Fluss selbst, der sich in der Talsohle des Steilhangs um die Klippen wand. Der NgangaKongo und die Mbanda Vunda, umringt von einer Leibwache aus Kriegern des ManiKongo, standen neben ihm. Die Portugiesen waren noch einige Stunden Fußmarsch von Mpan gala entfernt. Soweit Gil es sehen konnte, würde sich ihnen kein Heer in den Weg stellen. Mpanzu hatte sich höchstwahrscheinlich mit sei nen verbliebenen Kriegern hinter den Palisaden von Mpangala ver schanzt. Die Portugiesen kamen wegen ihrer Geschütze nur langsam voran. Matrosen und Artilleristen schoben und zogen die Lafetten mit den vier Bombarden und die Wagen mit Munition und Vorräten berg auf und bergab. Vor ihnen marschierten die mit Arkebusen bewaff neten Soldaten, deren Rüstung in der Sonne schimmerte; über ihren Köpfen wehten in der auffrischenden Brise Wimpel der Kirche und Flaggen des portugiesischen Königs. Danach kamen die Hellebardiere und Bogenschützen mit ihren eigenen Fahnen und dazu eine Kampf truppe aus Matrosen, die viele Kriege mit den Guineern ausgefoch ten hatten. Sie waren mit Entermessern und Dolchen bewaffnet; einer von ihnen trug ein großes Holzkreuz. Ihnen folgten in einer ungeord neten Kolonne Tausende von Kriegern mit Lanzen und Schilden, Äx ten und Keulen, Langbogen und Pfeilen. Der ganze Zug war minde stens eine Legua lang. Von seinem Standort aus konnte Gil nicht er kennen, welchem Volk diese Krieger angehörten. Bei den meisten han delte es sich vermutlich um Mbembas Männer, aber sicherlich waren auch viele Soyo dabei – schließlich hatte sich der ManiSoyo gegen den ManiKongo erhoben. Und wenn man Nimis Bericht Glauben schen ken konnte, gehörten wohl auch Mbata dazu. Inmitten der Kolonne konnte Gil mehrere Sänften ausmachen, in denen wohl der Kapitän und Pater de Sousa reisten. Rodrigues hinge 417
gen marschierte bestimmt mit seinen schwer gerüsteten Männern ne ben den Geschützen. Und Gonçalves? War er als Befehlshaber auf der Beatriz zurückgeblieben, oder befand er sich ebenfalls auf dem Weg nach Mpangala? Gil wünschte es sich. Die Mbanda Lwa war zweifel los mit von der Partie – sie würde es sich nicht nehmen lassen, ihren Triumph auszukosten. Sie reiste vermutlich in einer der Sänften, eben so wie Mbemba, wenn er verwundet, aber noch am Leben war. Und was war mit Nimi und Kimpasi? Sicher hatte die Mbanda Lwa darauf bestanden, die beiden als Beweis ihrer Blutsverwandtschaft mit den Portugiesen mitzunehmen. Vielleicht marschierte der junge, fasziniert von den Kanonen, neben der Sänfte seiner Mutter. »Bist du jetzt nah genug bei den Porta Gies, damit ihr Gott dich hö ren kann?« fragte der NgangaKongo. »Nein«, antwortete Gil. »Dann lass uns näher zu ihnen gehen.« Sie begannen den Abstieg vom Hochplateau über den Steilhang hin unter ins Tal. Die Straße, der sie folgten, wand sich um die Klippen, und deswegen blieb das Grasland unter ihnen eine Zeitlang ihrem Blick verborgen. Als sie etwa zwei Stunden später die Ebene wieder vor sich liegen sahen, waren sie nur mehr etwa hundert Fuß über Mpan gala und konnten direkt auf die Stadt hinunterschauen. Sie war zwar kleiner als Mbanza Kongo, aber immer noch ein bedeutender Ort mit vielen solide gebauten, strohgedeckten Holzhäusern, die um mehre re miteinander verbundene Marktplätze angeordnet waren. Zweifellos lebten dort einige Tausend Menschen. Die Königsstraße verlief quer durch den Ort: vom Haupttor in der nördlichen Palisade bis zum süd lichen Tor, das zum Ufer des Lelunda führte. Beklommene Spannung hing über der Stadt; nirgendwo waren Anzei chen der üblichen Geschäftigkeit zu bemerken. Auch von Frauen und Kindern war keine Spur zu sehen; doch hinter den Palisaden und auf den Türmen neben den Toren drängten sich Krieger. Gil hatte zwar mit erlebt, wie diese Männer auf dem Fluss gekämpft hatten, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich innerhalb der Befestigungsanlagen ge gen eine mit Geschützen bewaffnete Armee verteidigen wollten. 418
Die Portugiesen waren jetzt nur noch eine halbe Legua von Mpanga la entfernt. Wenn sie ihr Tempo beibehielten, würden die Kanonen die Stadt in weniger als einer Stunde unter Beschuss nehmen können. Gil eilte den Steilhang weiter hinab und verlor dann die Ebenen wieder aus den Augen, weil die Straße erneut hinter den Klippen verschwand. Verkrüppelte Bäume, die sich an den Felswänden festklammerten, hingen über der Straße; auf den Ästen tollten Affen herum, Papagei en ließen aus den Baumkronen ihr Kreischen vernehmen. Im Sonnen licht, das zwischen den Blättern hindurchschien, flatterten Schwärme von Schmetterlingen. Als die Ebene wieder in Sicht kam, bemerkte Gil, dass die Portugiesen stehengeblieben und die Sänften abgesetzt wor den waren; gerade wurden die vier Bombarden nebeneinander auf der Straße aufgestellt, und von den Wagen wurden Fässer mit Schießpul ver abgeladen. Der Mann, der diese Aktion beaufsichtigte, war eindeu tig Rodrigues; er trug ein Kettenhemd und einen Schulterpanzer, un ter seinem Helm schaute ein rotes Tuch hervor, und er fuchtelte wild mit seinem Entermesser herum. Auf seinen Befehl hin zogen sich die Arkebusiere, Hellebardiere und Bogenschützen zurück – die Schuß weite ihrer Waffen war zu gering –, und Mbembas Krieger, die Soyo und die Mbata verteilten sich im Grasland rechts und links der Stra ße. Der Disziplin nach zu urteilen, mit der sie das taten, war ihnen die se Aktion bereits vertraut. Vermutlich waren sie jedem Widerstand bei ihrem Vormarsch auf diese Weise begegnet. Der Wind trug den Lärm der Trommeln und Hörner und das metallene Dröhnen der Gongs zu ihm herauf. »Ich muß noch näher heran, NgangaKongo.« »Nein, Gil Janesch, das ist nah genug. Dein Gott kann dich von hier aus hören. Er ist nicht taub.« Aber in genau dem Augenblick, als Gil von dem Zauberer das ›Buch‹ entgegennahm, wurden die Kanonen abgefeuert. Alle Köpfe wandten sich. Niemand in diesem Kreis – weder der NgangaKongo noch die Mbanda Vunda oder die Krieger des ManiKongo – hatte bislang das Geschützfeuer erlebt. Das Krachen war zwar fern, aber in der klaren Luft doch gut zu vernehmen; es klang tatsäch 419
lich wie ein fernes Donnergrollen, und die hellen Funken an den in schwarzen Rauch gehüllten Mündungsläufen der Geschütze konnten von Menschen, die dergleichen noch nie gesehen hatten, leicht für Blit ze gehalten werden. Dass wenige Augenblicke später Erdbrocken, Stei ne und Grasklumpen durch die Luft gewirbelt wurden, musste wie das Werk eines zornigen Gottes erscheinen. Und wie hätte es sonst donnern und blitzen können, wenn doch der Himmel strahlend blau war? Der Kugelhagel ging weit vor der nördlichen Palisade nieder. Rod rigues hatte die richtige Schußweite noch nicht gefunden. Trotzdem führte die Kanonade in der Stadt zu einer Panik; obwohl die Bewohner zweifellos schon Geschichten über diesen schrecklichen Zauber kann ten, hatten sie ihn noch nie mit eigenen Augen gesehen. Sie stürzten in wilder Flucht davon. »Sprich die Schrift!« befahl der NgangaKongo mit schriller Stim me. »Sprich sofort die Schrift und mach dem Donnern und Blitzen ein Ende!« Mpanzus tapfere Krieger standen immer noch kampfbereit hinter der nördlichen Palisade. Aber irgend jemand hatte das Tor zum Fluss in der südlichen Palisade geöffnet, und Hunderte von Menschen rann ten zum Lelunda hinab. Am Ufer lagen Kanus, und es kam zu Hand greiflichkeiten unter den panischen Menschen, die sie besteigen woll ten. Ein Einbaum schoß auf den Fluss hinaus, aber in ihm drängten sich so viele schreiende Frauen, zappelnde Kinder und alte Männer, dass er kenterte. Ein zweites Boot, um das allzu heftig gekämpft wor den war, trieb leer in der Strömung hinab. Zwei Kanus gelang es, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, zwei weitere wurden Flussauf wärts gepaddelt und verschwanden um die Klippen. Mehrere Men schen sprangen einfach in den Fluss und schwammen um ihr Leben. Und dann feuerten die Kanonen erneut. Eine hatte eine Fehlzündung, ein Geschoss flog nicht weit genug, aber drei fanden ihr Ziel. Eine Kugel traf die nördliche Palisade und riß ein riesiges Loch, während die anderen beiden Geschosse über die Palisade hinwegflogen und inmitten der Krieger niedergingen. 420
Gellende Schreie erfüllten die Luft. Gil glaubte zunächst, es seien nur die Schreie der beschossenen Stadtbewohner. Erst nach einiger Zeit be merkte er, dass der NgangaKongo seinen Arm umklammerte und ihm ins Ohr brüllte. Und auch die Krieger im Zug der Portugiesen, die Krieger Mbembas, die Soyo und Mbata, hatten ein wildes Geheul an gestimmt. Unter Kriegsgebrüll, mit erhobenen Lanzen und Schilden, Pfeilen und Bögen, Äxten und Keulen rückten sie auf Mpangala vor. Eine rie sige Menschenhorde wälzte sich über das Grasland, und als sie die Ge schütze passierten, schlossen die portugiesischen Soldaten sich ihnen an und stürmten ebenfalls brüllend auf die Stadt zu. Dann folgte eine dritte Salve, die einen großen Teil der nördlichen Palisade zerstörte. »Bringt ihn um!« Diesen wütenden Schrei stieß die Mbanda Vunda hervor. »Bringt ihn sofort um!« Sie stürzte zum NgangaKongo, der im mer noch Gils Arm umklammert hielt. »Siehst du es nicht, Lukeni a Wene? Er ist es, der das Donnern und Blitzen heraufbeschwört!« Plötzlich trat ein Krieger mit gesenkter Lanze auf Gil zu; die scharfe Schneide funkelte in der Sonne. »Er soll weggehen.« Gil befreite sich aus dem Griff des NgangaKon go, dessen Fingernägel ihm die Haut aufrissen. »Nicht ich bin es, der das Donnern und Blitzen heraufbeschwört, Mbanda Vunda, aber ich bin es, der es beenden kann.« »Dann tu es!« schrie sie ihn an. Gil fiel auf die Knie. »Pater noster, qui es in caelis …« Er spielte ein gewagtes Spiel und betete darum, dass die Kanonen nicht mehr abgefeuert würden, jetzt, da die portugiesischen Soldaten und ihre Verbündeten Mpangala stürmten. Denn bis die Geschütze nachgeladen waren, würden die Angreifer fast schon die Palisaden er reicht haben, und Rodrigues lief Gefahr, seine eigenen Leute zu treffen, wenn er erneut feuerte. Also würde er den Beschuss einstellen müs sen, ebenso wie damals, als die Soyo Mpanzus Flotte auf dem Zaire angegriffen hatten und Mbembas Krieger in Mpinda an Land gegan gen waren. »… santificetur nomen tuum …« 421
Gil sah von dem ›Buch‹ auf. Die vorrückende Armee war nur noch wenige hundert Fuß von der Stadt entfernt, und die Geschütze hatten nicht gefeuert. Und jetzt würden sie auch nicht mehr abgefeuert wer den, weil sonst die Soldaten und Krieger getroffen würden. »Sieh doch, Mbanda Vunda. Sieh, NgangaKongo. Ich habe dem Donnern und Blit zen Einhalt geboten. Mein Gott hat mich erhört und schickt kein Don nern und Blitzen mehr herab.« Die Mbanda Vunda und der NgangaKongo starrten auf Mpangala hinab. Gil wusste nicht, ob sie seiner Behauptung Glauben schenkten oder ob sie sie überhaupt zur Kenntnis genommen hatten. Denn ange sichts dessen, was in der Stadt unter ihnen geschah, war es gleichgültig. Unter dem Ansturm der von den Portugiesen geführten Armee und aus Angst vor weiterem Beschuß zogen sich Mpanzus Krieger zurück, flohen durch die Straßen und über die Marktplätze zum Flusstor und überquerten den Lelunda. Dann drang das angreifende Heer in Mpangala ein. Die Krieger und die Soldaten stürmten durch die Breschen, die die Geschütze in die Pa lisade geschlagen hatten; immer noch stießen sie ihr Kriegsgeheul aus und schwangen drohend ihre Waffen durch die Luft, aber sie stießen auf keinerlei Widerstand. Langsam folgten die Geschütze und die Wa gen der Portugiesen mit der Munition und den Vorräten; Rodrigues lief nebenher. Und dort, in voller Rüstung, stakste auch Dias auf seinen dürren Beinen heran. Hinter ihm, neben den Matrosen, die das große Holzkreuz trugen, kam Pater de Sousa. Die Bewohner, denen die Flucht nicht mehr gelungen war, wichen vor den Eroberern zurück. Aber als Pater de Sousa in seinem stren gen schwarzen Gewand und dem breitkrempigen schwarzen Hut auf sie zutrat, drängten sie sich mit einer bestürzenden Neugier um ihn, als ob sie ahnten, dass dies der Priester des schrecklichen Zaubers war, der sie bezwungen hatte. Mit einem triumphierenden Lächeln schlug der Geistliche das Zeichen des Kreuzes, und zu Gils Verblüffung und Entsetzen warfen sich die Menschen vor ihm auf den Boden, als er an ihnen vorbeischritt. 422
KAPITEL 12
S
eit der Rückkehr nach Mbanza Kongo versammelten sich der NgangaKongo, die Mbanda Vunda und einige Würdenträger je den Tag mit dem fettleibigen, blinden ManiKongo im Thronsaal seines Palastes zu einer Ratssitzung. Dabei besprachen sie mögliche Vorge hensweisen, erörterten Strategien, flehten ihre Götter an, beklagten ihr Schicksal und bereiteten sich auf den letzten Kampf gegen die weißen Männer vor. Gil durfte an diesen Sitzungen zwar nicht teilnehmen, aber er wurde auch nicht wieder in die feuchte, dunkle Hütte in der Gefängnisanla ge eingesperrt. Da sie glaubten, dass er die Kanonen in Mpangala zum Schweigen gebracht hatte, behandelten sie ihn mit einem gewissen Re spekt und sogar ein wenig Ehrfurcht. Er erhielt eigene Räume im Pa last, Nimi wurde ihm wieder als Dienerin zugewiesen, und obwohl er unter ständiger Bewachung stand – schließlich würde er irgendwann erneut seinen Zauber üben müssen und durfte deshalb keine Gelegen heit zur Flucht erhalten –, konnte er sich im königlichen Bezirk doch ziemlich frei bewegen. Dies nutzte er, um möglichst viele Neuigkeiten und Gerüchte über den Krieg in Erfahrung zu bringen. Acht Tage nachdem die Portugiesen Mpangala eingenommen hat ten, überquerten sie den Lelunda und begannen den Aufstieg über den Steilhang nach Mbanza Kongo. Das erwies sich als ein mühsames und gefährliches Unterfangen. Kanus und Flöße wurden gebaut, um die Soldaten und die Geschütze über den Fluss zu transportieren; Trage vorrichtungen und Hebezüge mussten angefertigt werden, damit die Munitionskästen und Wagen über die steile, kurvige Straße am Hang geschleppt werden konnten, und obendrein wurde die Kolonne stän dig von den verbliebenen Kriegern aus Mpanzus Armee angegriffen. 423
Sicher waren diese Überfälle lediglich ärgerliche Nadelstiche, die den Vormarsch des Trosses niemals wirklich aufhalten konnten – ein Hin terhalt in einer besonders schwer passierbaren Serpentine, ein über raschender Überfall im Urwald, ein plötzlicher Pfeilregen von einem Felsvorsprung herab –, aber dennoch kosteten sie viel Zeit und auch ei nige Menschenleben. In Mbanza Kongo war man davon ausgegangen, dass die Portugiesen unter diesen Umständen das Plateau erst beim nächsten Vollmond erreichen würden. Und jetzt war der Mond wieder voll. Für Gil klang die Kanonade wie fernes Donnergrollen, das man in einem Traum hört. Aber er wusste, dass es in dieser Jahreszeit nie don nerte; und er träumte auch nicht, sondern lag hellwach auf dem Strohl ager in seinem Zimmer im Palast des ManiKongo. Er sprang auf, wik kelte sich seine Kanga um die Hüften und lief auf die vordere Veranda des Palastes hinaus. Der Tag brach gerade an, und die Luft war noch kühl von der Kälte der Nacht. Im Hof vor dem Palast wimmelte es von Kriegern, die aufgeregt un ter den blühenden Bäumen des Gartens hin und her eilten; Trommeln dröhnten, Hörner gellten, Fetischträger schlugen wild auf ihre Eisen gongs. Der große, stämmige Mpanzu, angetan mit einem kriegeri schen Kopfschmuck aus Federn und Hörnern, bewaffnet mit einem großen ovalen Schild, das mit den gelben Sonnenstrahlen des königli chen Haushalts verziert war, und einer mannshohen Lanze, stand in mitten des Tumults, erteilte den Hauptleuten seiner Krieger schreiend Befehle und ließ seine Wachen Aufstellung nehmen. Gil hatte ihn seit Mpinda nicht mehr gesehen und war entsetzt über den Anblick, den er jetzt bot. Er hatte bei der Schlacht am Ufer des Za ire oder in einem der Rückzugsgefechte eine schreckliche Verletzung davongetragen. Sein rechtes Ohr fehlte, und das auf dieser Seite ver brannte Gesicht war eine einzige schwärende, eiternde Wunde. Mög licherweise ging die Verbrennung auf eine Kanonade zurück, oder die Wunde war später ausgebrannt worden, um die Entzündung einzu dämmen. Auf jeden Fall war sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze mit einem entblößten, weitgehend zahnlosen Kiefer entstellt. Außer 424
dem war Mpanzu völlig erschöpft; die Lider seiner hervorstehenden gelben Augen zuckten nervös und fielen immer wieder zu. Sobald er Gil auf die Veranda treten sah, kam er in Begleitung eines Kriegers sei ner Leibwache zu ihm herüber. »Ich habe gehört, dass du in Mpangala das Donnern und Blitzen be endet hast, Gil Janesch«, sagte er mit seiner heiseren, ruhigen Stimme, die aufgrund seiner Müdigkeit noch heiserer und leiser war. Auf einen Wink hin reichte der Krieger ihm einen kleinen Gegenstand. »Man hat mir gesagt, damit hättest du dem Zauber der weißen Männer Ein halt geboten.« Darauf erwiderte Gil nichts. Der Krieger hatte Mpanzu das ›Buch‹ des NgangaKongo gegeben. »Jetzt ist die Zeit gekommen, dass du ihm wieder Einhalt gebietest«, fuhr Mpanzu fort. Gil folgte dem Kronprinzen durch das Tor der inneren Palisade, die den königlichen Bezirk umgab, zum Wachturm am Tor der äußeren Palisade. Die Außenbezirke von Mbanza Kongo standen in Flammen. Von seinem Standpunkt hoch oben auf dem Turm sah Gil nach Osten über den Fluss Luezi, der in Windungen von Norden nach Süd westen verlief und den königlichen Bezirk vom Rest der Stadt trennte. Zuerst hielt er die flackernde, orangefarbene Linie am östlichen Hori zont für das Licht der aufgehenden Sonne, doch dann nahm er Rauch wahr, wallende schwarze Wolken, die das zarte Blau des Morgenhim mels verdüsterten. Unterkünfte, Einfriedungen, Geschäfte, Lagerhäu ser, Marktstände waren durch den Beschuß der portugiesischen Ka nonen in Brand gesetzt worden. Aber die Kanonade selbst, das fer ne Donnergrollen, war nicht mehr zu hören. Offenbar war jener Teil der Stadt bereits gefallen. Während Gil und Mpanzu in entsetztem Schweigen auf die Szene blickten, stürmte der Zug der Eroberer durch die Straßen und Alleen, Gärten und Plätze der ausgedehnten Wohnbe reiche auf das Ufer des Luezi zu. Die Zahl der Angreifer ging in die Zehntausende; fast hatte es den Anschein, als ob alle Krieger des Reiches sich gegen ihren König er 425
hoben hätten. Das hatte Gil nicht erwartet; er konnte es einfach nicht glauben. Natürlich hatte er gewusst, dass Tausende von Mbembas Männern sich den Portugiesen angeschlossen hatten, ebenso wie Tau sende von Soyo und Mbata. Aber nun musste er erkennen, dass beim Vormarsch der Portugiesen über die Grasebenen von Nsundi auch vie le Tausende von deren Kriegern, beeindruckt vom schrecklichen Zau ber der Kanonen, zu ihnen übergelaufen waren. Und sogar Männer, die Mbanza Kongo verteidigen sollten, hatten sich nach dem Beschuss den Eroberern ergeben. Nur jene im königlichen Bezirk selbst, jene, die den Zauber noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, widerstan den den weißen Männern noch. Aber wie lange noch? Eine Kanona de lang? Zwei? Drei? Die Geschütze wurden am jenseitigen Ufer des Luezi aufgestellt, da neben die Wagen mit dem Schießpulver und den Vorräten. Hinter ih nen standen die mit Arkebusen bewaffneten Soldaten, die Hellebar diere und Langbogenschützen und die mit Entermessern ausgestatte ten Matrosen; über ihnen flatterten ihre Wimpel, und in ihrer Mitte wurde das große Holzkreuz aufgepflanzt. Und allüberall, so weit das Auge reichte, drängten sich Abertausende von aufständischen Krie gern in den Straßen und Alleen. Gebäude brannten, Menschen flohen panisch in alle Richtungen. Gil blickte zu Mpanzu; die hässliche Frat ze seines verstümmelten Gesichts war zu einem bitteren, verzweifelten Grinsen verzogen. Im zunehmenden Licht des frühen Morgens konnte Gil Rodrigues erkennen, wie er vor den Geschützen entlangschritt und nachprüfte, ob sie richtig geladen waren. Immer wieder schwenkte er sein Enter messer und schrie den Kanonieren Befehle zu. Dias, noch immer in voller Rüstung, folgte ihm und schaute mit der für ihn typischen Un sicherheit in die Runde. Neben dem hoch aufragenden Kreuz stand Pater de Sousa mit der Mbanda Lwa. Die beiden schienen aufeinan der einzureden; zumindest gestikulierten sie heftig. Welche unheil vollen Missverständnisse mochten sie auf diese Weise wohl austau schen, da sie sich ja kaum durch Worte verständigen konnten? Dann wurde eine Sänfte herbeigetragen und neben der Mbanda Lwa abge 426
stellt. Die darinliegende Gestalt stützte sich auf die Ellbogen, ohne dass der Priester oder die Königin es bemerkten, und sah über den Luezi zu den Palisaden des königlichen Bezirks hinüber. Gil erkann te sie sofort: Es war Mbemba. Er war also noch am Leben, wenn auch verwundet. Gils Blick wanderte zu den Menschen, die um die Kanonen herum standen. Wo waren Nimi und Kimpasi? Er entdeckte Gonçalves – der Obermaat war also nicht als Befehlshaber der Beatriz an Bord geblie ben (vermutlich hatte Paiva diese Aufgabe übernommen). Er sprang gerade von einem der Vorratswagen herunter, für die er wohl verant wortlich war. Und dann sah Gil, wofür er noch die Verantwortung trug: Er drehte sich wieder zu dem Wagen um, breitete die Arme aus, und Kimpasi sprang ihm entgegen. Als nächstes half Gonçalves Nimi, herunterzusteigen. Der gute, liebe Freund hatte sein Versprechen ge halten und sich die ganze Zeit um Nimi und Kimpasi gekümmert. Gil verspürte den Wunsch, der kleinen Gruppe etwas zuzurufen, doch da packte ihn Mpanzu an der Schulter. »Nimm das, Gil Janesch«, knurrte er. »Nimm den Fetisch und been de damit das Donnern und Blitzen deines Gottes.« Gil griff nach dem ›Buch‹ des NgangaKongo und öffnete es langsam, um Zeit zu gewinnen. Hier konnte er den Trick, den er in Mpangala angewandt hatte, nicht wiederholen, denn in Mbanza Kongo brauch te Rodrigues seine Soldaten und Krieger nicht in die Stadt zu schicken, um Mpanzus Leuten einen Nahkampf zu liefern. Er konnte sie außer halb der Schußlinie am Ufer des Luezi stehen lassen und den königli chen Bezirk von dort unbarmherzig zusammenschießen, bis auch die ser Stadtteil nur mehr ein brennendes Trümmerfeld war. Eine Feuer pause würde es nicht geben. »Kannst du dem Donnern und Blitzen Einhalt gebieten, Gil Janesch, oder nicht?« herrschte Mpanzu ihn an, als Gil zögerte. »Würde es irgend etwas ändern, MtuKongo?« entgegnete er schließ lich. »Selbst wenn ich dem Donnern und Blitzen Einhalt gebieten wür de, könntest du ein so mächtiges Heer wie das, das dir jetzt gegenüber steht, nie bezwingen.« 427
»Doch, das könnte ich – wenn das Donnern und Blitzen auf sie nie dergehen würde.« Gil fuhr zusammen. Auf diesen Gedanken war er noch nicht gekom men. »Sprich zu deinem Gott, damit er Donnern und Blitzen auf sie nie dergehen läßt, Gil Janesch. Dann können sie mich nicht besiegen.« »Aber das ist nicht möglich, MtuKongo. Wie kannst du darauf hof fen? Wie kannst du erwarten, dass der Gott der weißen Männer sein Donnern und Blitzen auf sein eigenes Volk herniederfahren läßt?« Mpanzu musterte Gil einen langen Augenblick, bevor er schließlich sagte: »Dann ist dieser Fetisch also nutzlos. Völlig nutzlos.« »Er ist ein nutzloser Fetisch, MtuKongo. Das hast du doch sicher schon die ganze Zeit gewusst. Du wusstest doch bestimmt, dass der NgangaKongo keinen Fetisch eines Gottes machen kann, den er gar nicht anbetet.« Mpanzu nickte langsam und nachdenklich. »Ja, ich habe es ge wusst. Die ganze Zeit schon. Gib ihn mir. Gib mir diesen nutzlosen Fetisch.« Gil reichte ihm das ›Buch‹, und Mpanzu schleuderte es verächtlich vom Wachturm in den Luezi. Einige Sekunden trieb es in der Strö mung, dann kippte es um und ging unter. Gemeinsam sahen sie zu, wie es versank. Danach blickte Mpanzu auf und betrachtete sein Heer auf dem diesseitigen Ufer des Flusses. Dann schaute er zu den Trup pen der Portugiesen hinüber, die den seinen zahlenmäßig hundertmal überlegen waren. »Der Krieg ist vorüber, MtuKongo«, sagte Gil leise. »Es ist an der Zeit, mit den weißen Männern Frieden zu schließen.« »Was sind die Bedingungen für diesen Frieden?« Darauf gab Gil keine Antwort, denn er kannte sie nicht. »Geh zu ihnen, Gil Janesch. Geh zu diesen weißen Männern aus dem Himmel, geh zu diesen Porta Gies und frag sie nach den Bedingungen für einen Frieden.« »Allein, MtuKongo? Willst du wirklich, dass ich allein zu ihnen gehe? Befürchtest du nicht, dass ich weglaufen könnte?« 428
»Nein, Gil Janesch. Ich glaube nicht, dass du weglaufen wirst. Ich glaube, dass du Frieden schließen willst. Habe ich recht?« »Ja, MtuKongo, du hast recht. Ich will Frieden schließen und werde nicht weglaufen.« »Ich erwarte dich im Palast meines Vaters. Komm morgen um die se Zeit zu mir und berichte mir die Bedingungen für den Frieden mit den weißen Männern.« Eilig verließ Gil den Wachturm und lief zu der mittleren Brücke, die den Luezi überspannte. Auf der anderen Seite sorgte sein Erscheinen für Aufruhr. Die Solda ten, die Kanoniere und Matrosen zeigten schreiend mit dem Finger auf ihn. Dias und Pater de Sousa eilten herbei, um ihn zu empfangen. Aber Kimpasi stürmte ihnen allen voraus, rannte zur Brücke, und noch be vor Gil das Ufer erreicht hatte, warf er sich in die Arme seines Vaters. Gil hob ihn hoch. »Pai. Bist du tot, pai? Alle sagen, dass du tot bist.« »Natürlich bin ich nicht tot, Kimpasi. Schau mich doch an. Sehe ich wie ein Toter aus?« Mit seinem Sohn auf dem Arm ging Gil zu Nimi. Sie kam ihm nicht entgegen, sondern beobachtete nur überrascht, wie er auf sie zutrat; in ihren großen, braunen Augen standen Trä nen. »Glaubst du auch, dass ich tot bin, Nimi?« fragte er sie mit einem Lä cheln. »Ich sehe, dass du es nicht bist, Gil. Und ich freue mich darüber.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und sagte: »Du bist am Leben, wir haben den Krieg gewonnen, und ich bin wieder Prinzessin in meinem eigenen Land.« Gonçalves klopfte ihm kräftig auf die Schulter. »Jetzt bist du zum zweitenmal von den Toten zurückgekommen, Kleiner.« »Vielen Dank, Nuno. Vielen Dank für alles, was Ihr getan habt.« Gonçalves machte nur eine wegwerfende Geste und trat beiseite, denn Dias und Pater de Sousa drängten näher heran, um selbst mit Gil zu sprechen. Aber Gil blickte an ihnen vorbei zu Mbemba, der halb aufgerichtet in der Sänfte neben der Mbanda Lwa lag. Er setzte Kim 429
pasi auf dem Boden ab, ging zu seinem Freund hinüber und kniete sich neben ihn. »Mbemba«, sagte er leise. »Affonso.« Gil drehte den Kopf, um zu sehen, wer diesen Namen ausgesprochen hatte. Pater de Sousa war ihm zur Sänfte gefolgt. »Er heißt jetzt Affonso, Senhor Eanes«, erklärte er. Um seine scharlachroten Lippen spielte ein zufriedenes Lächeln. »Prinz Affonso der Kongo. Er hat das heilige Sa krament der Taufe empfangen.« »Ist das wahr, Mbemba?« Mbemba starrte Gil mit verständnislosen Augen an. Es bereitete ihm offensichtlich Schwierigkeiten, sich auf die Ellbogen gestützt zu halten. Gil legte ihm einen Arm um die Schultern, so dass er sich gegen sei ne Brust lehnen konnte. Er war leicht wie eine Feder, denn er hatte viel Gewicht verloren. Sein Gesicht war hager, die Wangen waren eingefal len, die Augen lagen tief in den Höhlen, und auf seinem nackten Ober körper war mindestens ein halbes Dutzend Wunden zu sehen – drei auf der Brust, eine auf jeder Schulter und eine am Halsansatz. Sie wa ren durch die Pfeile entstanden, die ihn auf dem Zaire getroffen hat ten, und zu hässlichen, aufgeworfenen Schorfnarben verheilt. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Gil berührte die Wunde an seiner Keh le und fuhr dann mit einer Hand vor den Augen seines Freundes auf und ab. »Mbemba, ich bin es, Gil. Erkennst du mich nicht?« »Ich erkenne dich, Gil«, antwortete Mbemba flüsternd und versuch te, seine Lippen zu einem Lächeln zu verziehen. »Wir haben diesen sinnlosen Krieg beide überlebt.« »Ja, wir haben diesen sinnlosen Krieg beide überlebt«, stimmte Gil zu. »Dafür haben wir unserem Gott zu danken«, mischte sich die Mban da Lwa ein. Gil sah zu Pater de Sousa und der Mbanda Lwa. Der Geistliche lä chelte zufrieden, ohne zu verstehen, worum es ging. 430
»Er war tot, Gil Janesch«, sagte die Mbanda Lwa. »Er wurde von Mpanzus Pfeilen getötet, aber dann hat der katholische Gott ihn wie der zum Leben erweckt.« »Wer hat dir das gesagt?« fragte Gil. »Pader de Susa«, erklärte sie. »Das kann ich mir vorstellen.« Gil wandte sich wieder an Mbemba. »Es ist also wahr, Mbemba. Du bist katholisch geworden.« »Ja, Gil, es ist wahr. Ich bin katholisch geworden.« Einen Moment zögerte Gil, weil eine plötzliche Wut ihm die Keh le zuschnürte. »Aber warum, Mbemba? Warum bist du katholisch ge worden?« Mbemba schien verwirrt über diese Frage. Seine Augen starrten wie der ins Leere. Dann sagte er: »Um meinem Volk die Schrift zu bringen, Gil. Um meinem Volk diesen Zauber und alle anderen Zauberkräfte der unbekannten Welt am anderen Ufer des Meeres zu bringen.« In seinem aufsteigenden Zorn wollte Gil ihm entgegenhalten, dass er dazu gar nicht hätte katholisch werden müssen. Aber dann wur de ihm klar, dass Mbemba eigentlich gar keine Antwort auf seine Fra ge gegeben, sondern nur etwas aus seiner Erinnerung geäußert hatte; seine Erwiderung war lediglich ein Reflex gewesen. Er war vermutlich nicht mehr Herr seiner Sinne, seitdem die Pfeile ihn getroffen hatten. In seinem geschwächten, verwirrten Zustand war er nur benutzt wor den, und er wurde auch jetzt noch benutzt, sowohl von Pater de Sousa als auch von der Mbanda Lwa. »Leg dich hin, Mbemba. Ruh dich aus.« Gil drückte seinen Freund vorsichtig auf die Sänfte und legte ihm eine Hand auf die Augen. »Die ser sinnlose Krieg ist jetzt vorüber. Bald gehen wir zu deinem Vater, um Frieden zu schließen.« »Was ist los, Herr Kapitän?« Diese Frage kam von Rodrigues, der sei ne Geschütze kurzzeitig verlassen hatte. »Soll ich jetzt mit dem Be schuß anfangen, oder haben diese Wilden beschlossen, sich zu erge ben?« »Senhor Eanes?« fragte Dias auf seine typisch unentschlossene Art. »Der Beschuß ist unnötig, Herr Kapitän. Die Kongo in der Stadt sind 431
bereit, Frieden zu schließen. Sie haben mich hergeschickt, um nach den Bedingungen für einen Frieden zu fragen.« »Bedingungen, senhor? Was meint Ihr mit Bedingungen?« schnauz te Rodrigues ihn an. »Es gibt keine Bedingungen, senhor. Entweder sie ergeben sich, oder wir schießen sie in Grund und Boden.« »Haltet den Mund, Rodrigues!« warf Gonçalves ein und stellte sich zwischen Gil und den Schiffsprofos. »Das geht Euch nichts an. In die ser Sache muß der Kapitän entscheiden.« »Dom Nuno hat recht, Dom Tomé«, stimmte Pater de Sousa zu. »In dieser Sache muß Dom Bartolomeu eine Entscheidung treffen. Geht zu den Kanonen und macht sie schußbereit. Aber lasst uns alle zu un serem guten Herrn Jesus Christus beten, dass wir sie nicht abzufeuern brauchen, dass wir dem Töten endlich ein Ende bereiten können.« »Dafür braucht Ihr gar nicht zu Eurem guten Herrn Jesus Christus zu beten, Padre«, gab Gil scharf zurück. »Ich sagte Euch doch, sie sind bereit, Frieden zu schließen. Bietet ihnen vernünftige Bedingungen an, dann braucht Ihr nicht mehr zu töten.« Pater de Sousas zufriedenes Lächeln gefror. »Und was haltet Ihr für vernünftige Bedingungen, Senhor Eanes?« erkundigte er sich. Gil sah zu Dias. »Herr Kapitän – König Johann hat Euch auf diese Fahrt geschickt, um die Möglichkeiten von Handelsbeziehungen mit diesem Königreich auszukundschaften und einen Handelsstützpunkt zu errichten.« »Ja, das war der Auftrag des Königs.« »Und ihr, Padre«, fuhr Gil fort und wandte sich an den Geistlichen, »Ihr wurdet hergeschickt, um das Wort Gottes zu verkünden und See len für die Kirche zu gewinnen.« Pater de Sousa nickte mit seinem dünnen, freudlosen Lächeln. »Dann bietet Ihnen diese Bedingungen an, Herr Kapitän. Ich bin davon überzeugt, dass sie unter diesen Bedingungen Frieden schlie ßen werden. Ich bin mir sicher, dass der Mani-Kongo, um sein Volk vor der Vernichtung zu bewahren, bereit ist, der Errichtung eines Handelspostens hier in Mbanza Kongo und auch unten an der Kü ste in Mpinda zuzustimmen, wenn Ihr das wollt. Und er wird auch 432
gestatten, dass hier wie dort unten eine Kirche und eine Mission ge baut werden.« »Ich verstehe«, sagte Dias. »Nun, das hört sich gut an. Was meint Ihr dazu, Pater de Sousa?« »Nein, Dom Bartolomeu, für mich hört sich das nicht gut an. Etwas fehlt noch dabei.« Der Geistliche wandte sich zu Gil. »Ich fürchte, et was fehlt noch, Senhor Eanes.« »Und das wäre, Padre?« »Da Königin Leonor getauft wurde, da Prinz Affonso die Taufe emp fangen hat und da Tausende von Kongo sich im Verlauf dieses ent setzlichen Kriegs zum Kreuz bekehrt und um das heilige Sakrament der Taufe gebeten haben, müssen wir als eine Bedingung für den Frie den auch verlangen, dass der ManiKongo sich taufen läßt. Von nun an muß ein katholischer König auf dem Kongo-Thron sitzen.« Gil schüttelte den Kopf; eine unbezähmbare Wut stieg in ihm auf. »Ich kann es nicht glauben, dass ein Priester meiner Kirche derart scheinheilige Worte spricht, Padre.« »Gebt acht, was Ihr sagt, Senhor Eanes«, warnte de Sousa. »Ihr wißt sehr wohl, warum die Mbanda Lwa das Sakrament der Taufe bekommen wollte. Ihr wißt auch genau, warum Mbemba es empfangen hat, und Ihr wißt ebenso, warum all diese Menschen, die von unseren Kanonen so sehr in Schrecken versetzt wurden, um die Taufe gebeten haben. Das hat nichts mit unserem Glauben zu tun, Pa dre. Sie wissen nämlich überhaupt nichts von unserem Glauben. Etwas anderes zu behaupten ist scheinheilig.« »Darüber zu urteilen steht Euch nicht zu, Senhor Eanes. Ich bin der Priester. Gott erhört mich. Und ich sage Euch, dass die Taufe des Ma niKongo zu den Bedingungen gehört, unter denen wir ihm den Frie den anbieten.« »Er wird niemals einwilligen.« »Das soll er uns selbst sagen, Senhor Eanes. Geht zu ihm, berichtet ihm diese Bedingungen, und dann soll er uns sagen, dass er lieber sein Volk weiter töten läßt, als sie anzunehmen.« 433
Der ManiKongo war tot. Die Mbanda Vunda hatte ihn getötet, und sein massiger Leichnam lag jetzt, bedeckt von einem karmesinroten Tuch mit einem einzigen gelben Sonnenstrahl, feierlich aufgebahrt auf der erhöhten Plattform am Fuß seines Throns. Auf dem Thron selbst, unter einem Baldachin von Palmwedeln, saß Mpanzu, sein ältester Sohn und Erbe. Indem die Mutter den Vater getötet hatte, hatte sie ihren Sohn zum König der Kongo gemacht. Sie hatte die schwere, schreckliche Entscheidung ge troffen, dass er in diesen schwierigen Zeiten besser geeignet sei, über das Reich zu herrschen als ihr blinder alter Gemahl. Nun trug sie ei nen prachtvollen Kopfschmuck aus Reiherfedern, war in die karme sinfarbene und gelbe Kanga des königlichen Haushalts gehüllt, über und über mit Geschmeiden aus Silber und Elfenbein, Perlen und Edel steinen behängt und stand zur Rechten Mpanzus, dessen Schulter sie umfasste, als wollte sie ihm Kraft geben. Der bucklige Zwerg Luke ni a Wene, der Hohepriester des Königreichs, stand links neben ihm; sein runzliger Körper war mit Asche bestrichen. Alle Würdenträger des Hofes, die noch zur Krone hielten, reihten sich in ihren samtenen Gewändern, mit Hörnern und Federn geschmückt, entlang den Wän den des langgezogenen Audienzsaales auf. Gil befand sich unter ihnen. In den flackernden Schatten, die die Kohlenfeuer in den großen tönernen Gefäßen zu beiden Seiten des Throns warfen, fiel er kaum auf und wurde im Augenblick auch nicht beachtet. Aller Blicke waren auf den Eingang des Raumes gerichtet, durch den bald die Portugiesen treten würden, um Frieden zu schlie ßen. Hornsignale von den Wachtürmen bei den jeweiligen Toren ver kündeten, welche der Palisaden rund um den königlichen Bezirk sie gerade durchschritten. Gil blickte wieder zu dem Leichnam. Obwohl der Mani-Kongo be reits vor einigen Tagen getötet worden sein musste, zeigten sich auf seinem Gesicht noch keine Spuren der Verwesung. Der dicke, häs sliche, blinde alte Mann schien in einem tiefen, sorgenvollen Schlaf zu liegen. Gil war froh, dass der ManiKongo tot war und nicht mehr mit der grausamen Bedingung der Portugiesen konfrontiert werden 434
konnte. Allerdings war er sich nicht so sicher wie die Mbanda Vun da – die ihre Überzeugung möglicherweise nur vortäuschte –, dass Mpanzu als König eher in der Lage sein würde, die Kongo vor der Heimsuchung durch die Portugiesen zu retten. Der neue Herrscher saß mit königlicher Würde auf dem Thron; sein Haupt zierte die klei ne runde Krone aus gewebtem Bast. Er trug einen kurzen karmesin roten Rock mit dem Sonnenstrahlen-Emblem, das Löwenfell war um seine Schultern drapiert, und auf seinem Schoß lag das elfenbeinerne königliche Zepter mit der silbernen Einlegearbeit und den smaragd farbenen Steinen. Der fratzenhafte Ausdruck auf seinem verstümmel ten Gesicht verbreitete im Dämmerlicht der glühenden Kohlen den Eindruck, dass hier ein jüngerer König mit mehr Autorität saß, ein König, der ein unerschrockener Gegner war. Aber wie konnte man von ihm erwarten, dass er angesichts der portugiesischen Kanonen, die auf den königlichen Bezirk gerichtet waren und dieses letzte Boll werk seines Reiches in Schutt und Asche legen konnten, eine andere Entscheidung treffen würde, als die Bedingungen der Weißen zu ak zeptieren? Von den Wachtürmen am innersten Tor erschallte ein schmettern des Signal der Hörner, und die Trommeln setzten mit einem bedächti gen, monotonen, klagenden Rhythmus ein. Gil sah zum Eingang, des sen Samtvorhang die Krieger auf der Veranda bereits beiseite gescho ben hatten. Noch war im Türrahmen nichts zu sehen, aber dann ka men zwei portugiesische Soldaten ins Blickfeld. Mit ihren Helmen, den Kettenhemden und den Schulterpanzern, mit den borstigen Bär ten und ihren Arkebusen sahen sie tatsächlich wie fremde Wesen aus, die vom Himmel oder sonstwoher gekommen waren. Ihnen folgten zwei weitere Soldaten, und dann trat der Kapitän ein, der mit seiner Rüstung und den Rüschen und Spitzen an Kragen und Ärmeln noch mehr wie ein Wesen aus fremden, fernen Welten wirkte. In der einen Hand hielt er den Visierhelm, der wie ein grotesker zweiter Kopf aus sah, und mit der anderen umklammerte er das edelsteinbesetzte Heft seines Schwerts. Hinter ihm schritten vier weitere mit Arkebusen bewaffnete Solda 435
ten einher, danach folgte Pater de Sousa. Bis auf das silbern glänzen de Kreuz auf seiner Brust war er ganz in Schwarz gekleidet und wirkte wie ein Gespenst. Seine Hände, in denen er das Brevier hielt, hatte er fromm gefaltet. Ihm folgten zwei Matrosen, die eine Seetruhe schlepp ten. Gil kannte diese Kiste: Darin befanden sich die Gegenstände, die der Priester zur Taufzeremonie benötigte. Den Abschluß bildeten vier Kongo-Krieger in blassgrünen, rot eingefassten Kangas, die Mbem ba in seiner Sänfte trugen. Daneben schritt die Mbanda Lwa; sie war nicht minder prächtig als die Mbanda Vunda gekleidet und trug eben soviel Geschmeide und Federschmuck. Gil hatte eine größere Abordnung erwartet. Vielleicht standen zur Verstärkung draußen noch weitere Soldaten, Matrosen und Krieger zusammen mit Rodrigues. Oder möglicherweise war der Schiffspro fos auch zu dem Schluß gekommen, dass – falls nicht alles nach Plan lief – acht mit Feuerwaffen ausgerüstete Soldaten genügend Panik und Tumult hervorrufen würden, und er in der Zwischenzeit seine Kano nen feuerbereit machen konnte. Vielleicht glaubten Dias und Pater de Sousa aber auch, dass gar nichts schiefgehen könne und dass der Ma niKongo – wie Gil versichert hatte – den Waffenstillstand einhalten würde, unter dem der Frieden ausgehandelt werden sollte. Langsam betraten sie den Audienzsaal, und dabei fielen ihre Schrit te, ob bewusst oder nicht, in den getragenen Rhythmus der Trommeln ein. Als sie den langgezogenen Raum zur Hälfte durchquert hatten, trat Gil aus dem Schatten hervor auf sie zu, und sie blieben stehen. »Senhor Eanes«, sagte Pater de Sousa und stellte sich neben Dias. Auch die Mbanda Lwa kam näher, und auf ein Zeichen von ihr wur de auch Mbemba nach vorne getragen und seine Sänfte neben ihr abge setzt. Die acht Soldaten gruppierten sich um sie, spielten mit den Lun tenschlössern ihrer Gewehre und musterten die königstreuen Kongo entlang den Wänden. »Würdet Ihr die Freundlichkeit besitzen, als unser Unterhändler zu fungieren und uns gemäß dem Protokoll dieses Hofes vorzustellen, Se nhor Eanes?« Gil wandte sich zum Thron um, doch bevor er mit der zeremoniellen 436
Vorstellung beginnen konnte, kam plötzlich Bewegung in den Raum. Er sah sich wieder um. Mbemba versuchte mühsam, sich von der Sänfte zu erheben. Er war jämmerlich schwach, und seine Mutter wollte ihn zurückhalten, doch er schob sie ungeduldig beiseite und ging stolpernd, gestützt von zwei Sänftenträgern, die seine Arme um ihre Schultern legten, zum Leich nam seines Vaters. Er wusste, dass er tot war. Alle wussten es. Gil hat te es ihnen berichtet und erklärt, warum die Mbanda Vunda so gehan delt hatte. Doch offenbar begriff Mbemba in seinem verwirrten Zu stand erst jetzt, da er die Leiche vor sich liegen sah, dass sein Vater tat sächlich nicht mehr lebte. Er ging zur Plattform, schüttelte die Träger ab und fiel neben dem Toten auf die Knie. Er blickte in das alte, im Tod von Kummer gezeich nete Gesicht, ließ langsam seinen Kopf auf das Gesicht des Alten sin ken, schmiegte seine Wange an dessen Wange, legte einen Arm auf den erkalteten Körper und ließ sich auf ihn sinken. Aller Blicke waren gebannt auf ihn gerichtet; niemand bewegte sich. In der Stille konn te Gil das leise Schluchzen seines Freundes hören. Schließlich ging die Mbanda Lwa zu ihm, packte ihn an den Schultern und zog ihn von der Leiche fort. Er kauerte sich auf den Boden und schaute zum Thron em por, in das fratzenhaft entstellte Gesicht seines Halbbruders. »Es tut mir leid, Mpanzu«, stieß er heiser flüsternd hervor. »Es tut mir leid.« »Du meinst, der Tod unseres Vaters tut dir leid?« fragte Mpanzu. »Ja, mir tut der Tod unseres Vaters leid.« »Das glaube ich, dass dir das leid tut, Mbemba. Dich hat er am mei sten geliebt.« Mpanzus Stimme wurde zu einem heiseren Grollen. »Du hast ihm das Herz gebrochen. Du bist entgegen seinem Wunsch zu den weißen Männern gegangen und hast ihnen deine Seele gegeben.« Mbemba blickte mit tränenverhangenen Augen um sich, offenbar ohne etwas wirklich wahrzunehmen. Es war nicht eindeutig auszuma chen, ob er in seinem benommenen Zustand fähig war, dieses fast bei läufig ausgesprochene Verdammungsurteil richtig zu verstehen. Jeden falls erhob er keinen Widerspruch. Wieder herrschte Stille im Raum. 437
Schließlich brach Pater de Sousa das Schweigen. »Können wir jetzt fortfahren, Senhor Eanes? Stellt uns im Namen des Königs von Portu gal dem Kongo-König vor.« »Es ist nicht nötig, Euch vorzustellen, Padre. Der Kongo-König weiß, wer Ihr seid. Er weiß nur allzu gut, wer Ihr seid.« Pater de Sousa setzte sein dünnes, strenges Lächeln auf. »Und ver mutlich weiß er auch, warum wir hier sind?« »Auch das weiß er.« »Dann können wir also auf das Protokoll verzichten, das an einem Königshof bei einem derartigen Anlass üblich ist? Nun gut. Dann soll er uns frei heraus sagen, wie er auf unsere Friedensbedingungen zu antworten gedenkt.« »Die Portugiesen erwarten deine Antwort auf die Bedingungen, die sie dir gestellt haben, um Frieden zu schließen, ManiKongo. Willst du ihnen deine Antwort jetzt geben?« Mpanzus entstelltes Gesicht verzog sich zu der Andeutung eines Lä chelns, als Gil seinen neuen Königstitel nannte. Dann sagte er: »Ja, ich werde ihnen meine Antwort jetzt geben.« »Nimm die Bedingungen an, Mpanzu«, warf Mbemba leise ein. Er kniete noch immer neben der Leiche seines Vaters und sah zu seinem Halbbruder auf dem Thron auf. Wie die Mbanda Vunda ihre Hand auf die Schulter ihres Sohns ge legt hatte, so fasste nun auch die Mbanda Lwa, die hinter Mbemba stand, ihren Sohn an der Schulter. »Nimm die Bedingungen an, Mpanzu«, bat Mbemba, »und bereite diesem sinnlosen Krieg ein Ende.« »Ich werde diesen sinnlosen Krieg beenden, Mbemba«, erwiderte Mpanzu. »Aber ich werde die Bedingungen nicht annehmen.« An Gil gewandt, fuhr er fort: »Sag ihnen das, Gil Janesch. Sag ihnen, dass ich nicht katholisch werden will. Sag ihnen, dass dieser ManiKongo ihnen nicht seine Seele geben wird.« »Aber dann wird der Krieg weitergehen, Mpanzu«, wandte Mbem ba ein. »Nein, Mbemba, der Krieg wird nicht weitergehen. Ich werde den 438
Krieg beenden, aber auch meine Seele behalten«, gab Mpanzu zu rück. »Das verstehe ich nicht.« »Nein? Aber deine Mutter versteht mich. Du verstehst mich doch, Mbanda Lwa, oder nicht?« fragte er. »Doch, ich verstehe dich«, erwiderte sie. »Du wirst der ManiKongo sein, Mbemba«, erklärte Mpanzu. In sei ner Stimme klang wieder ein heiseres Grollen. »Du hast deine Seele den weißen Männern überlassen, also kannst du auch ihr König wer den. Du wirst ihr katholischer König sein.« »Senhor Eanes, seid so freundlich und erklärt uns, was hier vor sich geht«, mischte sich Pater de Sousa gereizt ein. Gil erwiderte nichts, so überrascht war er von dieser Wendung. Mpanzu stand auf, und seine Mutter nahm ihre Hand von seiner Schulter und trat vom Thron zurück. Das war eindeutig vorher abge sprochen worden. Niemand zeigte sich überrascht; unter den Höflin gen war keine Spur von Aufregung zu bemerken. In ergebenem Schwei gen beobachteten sie, was vor sich ging. Nicht einmal der NgangaKon go erhob Einspruch. Vielleicht steckt ein Trick dahinter, dachte Gil, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen. »Komm, Mbemba«, sagte Mpanzu und streckte seinem immer noch knienden Bruder eine Hand entgegen. »Komm, besteig den Thron un seres Vaters und sei der König für die Porta Gies.« Verstört schüttelte Mbemba den Kopf. »Geh, Mbemba, setz dich auf den Thron, mein Sohn«, drängte die Mbanda Lwa aufgeregt und packte ihn unter den Achseln im Versuch, ihn aufzurichten. »Helft ihm. Helft ihm, sich auf den Thron zu set zen.« Die beiden Sänftenträger, die Mbemba zum Leichnam seines Vaters begleitet hatten, stützten ihn beim Aufstehen. Dann ergriff Mpanzu seine Hand und führte ihn zum Thron. Von einer plötzlich aufsteigen den Furcht getrieben, sah Gil sich im Raum um. Wollten sie Mbem ba töten? War das ein Trick? Würden sie ihn töten, sobald er der Ma niKongo war? 439
»Setz dich, Mbemba. Setz dich auf Vaters Platz.« Mbemba ließ sich kraftlos in den Thron sinken. In seiner Verwirrung bot er einen mitleiderregenden Anblick. Er blickte sich um, schien aber nichts wahrzunehmen. »Hier, Bruder.« Mpanzu reichte Mbemba das königliche Zepter. »Hier, ManiKongo«, sagte er mit seiner tiefen, heiseren Stimme. Da bei nahm er sich die kleine runde Bastkrone vom Kopf und setzte sie Mbemba auf. Pater de Sousa brauchte keine Fragen mehr zu stellen. Er konnte nun ebenso wie Dias und die portugiesischen Soldaten selbst erkennen, was vor sich ging, und beobachtete die Vorgänge nicht weniger verblüfft als Gil. Nachdem Mpanzu seinem Halbbruder das Zepter und die Krone gegeben hatte, streifte er das Löwenfell ab und legte es um Mbembas Schultern. Dieser sackte kraftlos zusammen und sah zu Mpanzu auf. Dann wurden seine Augen plötzlich klar; vielleicht wurde ihm erst jetzt wirklich bewusst, was mit ihm passierte. Die Mbanda Lwa stellte sich an die rechte Seite des Throns, wo noch vor kurzem die Mbanda Vunda gestanden hatte, und legte Mbemba die Hand auf die Schulter, ebenso wie es die Mbanda Vunda bei Mpanzu getan hatte. »Du bist der ManiKongo, Mbemba a Nzinga«, sagte Mpanzu. »Du bist der König der Kongo, der katholische König der Porta Gies, und dieser sinnlose Krieg ist vorbei.« »Ich will dies alles nicht, Mpanzu«, wandte Mbemba ein. »Das habe ich nie gewollt.« »Möglicherweise ist es nicht, was du wolltest, Mbemba. Aber es ist das, was die Porta Gies wollen.« »Und was deine Mutter will«, warf die Mbanda Vunda ein. »Danach hat sie ihr ganzes Leben lang getrachtet. Deswegen hat sie diesen sinn losen Krieg angefangen. Jetzt hat sich ihr Traum erfüllt.« »Geh fort, Mbanda Vunda«, sagte die Mbanda Lwa. »Dies ist nicht mehr dein Platz.« »Ja«, stimmte die Mbanda Vunda zu. »Mein Platz ist nicht mehr ne ben dem Thron dieses Königreiches.« Sie verließ die Plattform und ge sellte sich zu den Höflingen. 440
Dann stieg auch Mpanzu von der Plattform herab. Nur der NgangaKongo verweilte dort noch einen Augenblick. »Lukeni a Wene?« fragte Mbemba und wandte sich dem Priester zu. »Höre meine Worte, Mbemba a Nzinga«, sagte der bucklige Zwerg in seiner schrillen, hohen Stimme. »Höre, was ich dir prophezeie. Du wirst der letzte König der Kongo sein. Unter deiner Herrschaft wird das Königreich zerstört werden. Die weißen Männer, die dich durch den Zauber ihres Gottes, durch das Donnern und Blitzen zum König gemacht haben, werden das Reich zerstören. Zuerst stehlen sie unsere Seelen, und dann werden sie unsere Körper stehlen.« Damit verließ auch er die Plattform. Aber er stellte sich nicht zu den anderen Höflingen an die Wand, sondern ging durch den langen, schmalen Raum auf den Eingang zu. Als er an Dias und Pater de Sou sa vorbeikam, blieb er kurz stehen und funkelte sie an, doch er sagte nichts, sondern ging weiter, hinaus auf die vordere Veranda, wo er den Blicken entschwand. »Alleluja, alleluja. Te Deum laudamus«, rief Pater de Sousa aus. »Wir preisen Dich, o Herr, da du unsere Gebete erhört hast. Ein katholischer König sitzt auf dem Thron des Kongoreiches. Das Töten hat ein Ende gefunden, und unser Herr Jesus Christus herrscht nun in diesem einst verlorenen Land.« Mit raschen Schritten ging er nach vorne, bestieg die Plattform und trat vor Mbemba. »König Affonso«, rief er triumphierend, »erster katholischer König der Kongo. Deigratia. Deogratias. Durch die Gnade Gottes. Gott sei gedankt und gepriesen.« Er nahm das Kreuz, das ihm auf die Brust herabhing, und legte es Mbemba an; dann wandte er sich zu den Höflingen um. »In nomine patris, etfilii, et spiritus sancti«, stimmte er an und mach te nach rechts und links das Zeichen des Kreuzes, um alle Anwesen den in seinen Segen miteinzubeziehen. Daraufhin geriet der Raum in Bewegung. Gil, der immer noch glaub te, dass es sich bei alledem um einen Trick handelte, sah sich rasch um. Aber er bemerkte nichts, das auf eine Hinterlist schließen ließ. Das 441
einzige, was er sah, war, dass die Adeligen vom Hof des ManiKongo unter der Führung von Mpanzu und der Mbanda Vunda langsam den Saal verließen. Mbemba richtete sich kraftlos in dem Thron auf und versuchte auf zustehen. Im Glauben, er wolle in seiner Eigenschaft als neuer König eine Rede halten, halfen ihm Pater de Sousa und die Mbanda Lwa auf die Beine. Doch zu ihrer Bestürzung schüttelte er sie ab, ließ sich neben dem Leichnam seines Vaters auf die Knie sinken und brach schluch zend über dem alten Herrscher zusammen.
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1502
KAPITEL 1
J
a, du bist heilig, großer Gott, du bist der Quell aller Heiligkeit. Dar um bitten wir dich: Sende deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus.« Rui de Sousa, der acht Jahre zuvor von Papst Alexander VI. in An erkennung seiner Verdienste bei der Missionierung des Kongo-Rei ches zum Bischof geweiht worden war, feierte an diesem ersten Sonn tag nach Epiphanias im Jahre 1502 die Eucharistie selbst. Sein Diakon stand neben ihm, zwei ihm assistierende Priester hielten seine Mitra und seinen Stab, und so kniete er in seinem weiß-grünen Messgewand vor dem mit einem Leinentuch bedeckten steinernen Altar in der Ap sis. Um ihn herum wogte süß duftender Rauch, der aus den silbernen Weihrauchgefäßen aufstieg. Er nahm die Hostie von der silbernen Pa tene, streckte sie mit beiden Händen der lebensgroßen Figur des ge kreuzigten Christus entgegen, die im mittleren Gewölbe des Chorum gangs hing, und rezitierte die vertrauten Worte. »Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde und sich aus frei em Willen dem Leiden unterwarf, nahm er das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset alle davon: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.« Andächtige Stille herrschte in der Kathedrale, während die Gläubi gen angestrengt auf die kunstvoll geschnitzten Schranken des Altar 443
raums spähten, hinter denen sich das Geheimnis vollzog. König Af fonso und seine Königin Ines knieten auf gestickten Kissen vor ih ren Thronen im Altarraum selbst. Gil Eanes kniete in seinem Kirchen stuhl in der ersten Reihe auf der linken Seite des Chors, zusammen mit Prinzessin Beatriz, der Königinmutter Leonor und den anderen Mit gliedern des Hofes. Auf der anderen Seite waren die Angehörigen der portugiesischen Kolonie versammelt – Missionare, Kaufleute, Hand werker, Händler, Soldaten sowie der Schiffsprofos Tomé Rodrigues. Die Bänke im Kirchenschiff waren allesamt besetzt; dort knieten fast zweihundert Afrikaner und blickten in gebannter Verzückung empor. »Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch, dankte wiederum, reichte ihn seinen Jüngern und sprach: Nehmet und trinket alle dar aus: Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis.« Nun erhob Bischof de Sousa den aus Silber und Gold gefertigten Kelch und hielt ihn eine scheinbar unendlich lange Zeit über seinen Kopf; die Hände zitterten ihm ein wenig in der atemlosen Stille der ehrfürchtigen und andächtigen Gemeinde. »Lasst uns das Geheimnis des Glaubens verkünden«, fuhr er endlich fort. Und dann durchbrach der Gesang die Stille und erfüllte die ganze Kathedrale. »Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferste hung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.« Die Kathedrale war dem Heiligen Erlöser geweiht, nach dem mittler weile auch die Königsstadt des Reiches benannt worden war: São Salva dor. Das Gotteshaus war mit seinen aus Granitquadern gefügten Mau ern ein imposanter Bau, vor allem im Vergleich mit den Gebäuden in den alten Vierteln von Mbanza Kongo. Zu beiden Seiten des verzierten Portals ragten Glockentürme gen Himmel, gebrannte Lehmdachziegel bedeckten das von Säulen getragene Kirchenschiff, durch Buntglasfen ster fiel das Licht in die Querschiffe, und an den Wänden hingen blatt goldverzierte Gemälde der Stationen des Kreuzwegs. Die Erlöser-Ka thedrale war im dritten Jahr der Herrschaft Affonsos als Sitz des Prä laten im ersten – und dreihundert Jahre lang einzigen – Bistum Roms 444
auf dem afrikanischen Kontinent erbaut worden. Zu ihrer Errichtung hatte Johann II Steinmetze, Zimmerleute, Schmiede und Maurer ei gens aus Lissabon geschickt. Begeistert über die erstaunliche Nachricht von Mbembas Krönung und Bekehrung, die ein triumphierender Bartolomeu Dias ihm im Winter 1493 überbrachte, hatte der portugiesische Monarch sofort weitere Expeditionen ausgesandt, um mit dem ersten schwarzen ka tholischen Königreich Handelsbeziehungen aufzubauen und dort den Glauben zu verbreiten. In den folgenden Jahren waren seine Karavel len und Versorgungsschiffe immer wieder in der Trockenzeit in die Mündung des Zaire gesegelt, beladen mit europäischen Waren, die ge gen Elfenbein und Holz, Felle, Gewürze und Palmöl aus den Urwäl dern der Kongo eingetauscht wurden. Außerdem hatten die Schiffe stets neue Siedler zur Vergrößerung der kleinen portugiesischen Ko lonie mitgebracht, die Dias unter der Aufsicht von Rodrigues und de Sousa hinterlassen hatte. Rund um die Kathedrale von São Salvador war ein portugiesisches Viertel mit Geschäften, Tavernen, Kasernen und einem Kloster ent standen. Die Palisaden um den königlichen Bezirk waren abgerissen und durch eine mit Kanonen und Mörsern bestückte Brustwehr aus Eisenstein ersetzt worden. Die wachsende Schar von Franziskaner priestern und -mönchen hatte Tausende von Taufen vorgenommen und auch damit begonnen, die Kongo-Sprache in Schrift zu fassen. Für die Söhne der Würdenträger am Hof des ManiKongo wurden Schulen errichtet, und einige Absolventen – darunter auch Gils Sohn – setzten ihre Ausbildung in Lissabon am Colégio de Santo Eloi fort. Die Bevöl kerung von São Salvador hatte sich verdoppelt, da Menschen aus al len Teilen des Königreichs in dieses aufblühende Zentrum von Handel und Kultur strömten. Auch Mpinda entwickelte sich in diesen Jahren, in denen Johanns ganze Begeisterung Afrika galt, zu einer geschäf tigen Hafenstadt, die als Tor zu Europa und der weiten Welt diente. Piers wurden angelegt, an denen seetaugliche Schiffe vor Anker ge hen konnten, Lagerhäuser entstanden für die von ihnen mitgebrach ten Waren, und am Flussufer wurde eine steinerne Festung errichtet, 445
um den Schiffsverkehr vor Piraten und Freibeutern zu schützen. Au ßerdem hieß die Stadt mittlerweile Santo Antonio do Zaire – nach der Kirche, die dort zu Ehren dieses Heiligen erbaut worden war. Portu giesisch war mehr oder weniger zur Landessprache geworden. Doch plötzlich ließ Johanns Interesse am Kongo-Reich nach, und die einzigartige Beziehung zwischen einem europäischen und einem afri kanischen Königreich fand ein Ende. Der Grund dafür war die Entdek kung des lange gesuchten Seewegs nach Indien. Nach Dias' unglückli cher Fahrt zum Kap der Guten Hoffnung im Jahre 1487 war es Vasco da Gama schließlich 1497 gelungen, diese Route zu finden. Schon bald darauf entwickelte sich ein florierender Handel mit Gewürzen aus Ca licut an der Malabarküste und mit Seide aus Cathay, und dieses Ge schäft erwies sich für die portugiesische Krone als weitaus einträgli cher als der Handel mit Afrika. Deshalb wanderte immer mehr Geld in den Handel mit Indien, allerdings auf Kosten des Kongo-Reiches. Immer seltener legten Johanns Schiffe im Hafen von Santo Antonio an. Der abnehmende Handel hatte zur Folge, dass auch die portugiesi sche Gemeinde kleiner wurde; es trafen keine neuen Siedler, Handwer ker und Priester mehr ein, keine weiteren Kirchen wurden gebaut und immer weniger Afrikaner getauft. Die Schulen verfielen, die Missio nierungsversuche gingen kaum über São Salvador hinaus (und selbst dort nahmen es die Bekehrten mit der Frömmigkeit bald nicht mehr allzu genau), und die Arbeit an einer Schrift für die Kongo-Sprache kam zum Stillstand. Diese Entwicklung bedeutete für Affonso eine herbe Enttäuschung. Nachdem er den Frevel begangen hatte, sich gegen seinen Vater zu erheben und den Thron seines Bruders zu usurpieren, hatte er weit aus Größeres erwartet und auf wahre Wunder gehofft, die auch sei ne Schuldgefühle lindern würden. Dennoch hatte er keinen Grund zur Klage. Wohl waren keine Wunder eingetreten, aber andererseits hatte sich auch die düstere Prophezeiung des NgangaKongo nicht er füllt. Der alte Zauberer war einige Jahre zuvor unter ungeklärten Um ständen gestorben, und seine Weißsagung war mit ihm untergegan gen. Mpanzu und die Mbanda Vunda waren aus dem Reich verbannt 446
worden, und man hörte nur noch selten und gerüchteweise von ihnen. Und die Völker der beiden Königreiche, des schwarzen wie des wei ßen, lebten in Eintracht miteinander, zogen beide Gewinn aus dieser Harmonie und achteten sich gegenseitig. »Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.« Prinzessin Beatriz stieß Gil in die Rippen. Derart aus seinen Gedanken aufgeschreckt, stimmte er in die Ant wort ein: »Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« »Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind.« Bischof de Sousa brach die Hostie, legte ein Stück in den Kelch, aß den Rest und trank den Wein. Dann verließ er zusammen mit dem Diakon und den Priestern die Apsis und betrat den Altarraum. Af fonso und Ines standen auf, die Hände unter dem Kinn gefaltet, und schritten zu ihm, um Christus in der Eucharistie zu begegnen. Beide waren wie portugiesische Edelleute gekleidet. Affonso trug eine fünf zackige goldene Krone – ein Geschenk König Johanns –, einen kar mesinroten Umhang und einen Wappenrock, die mit dem Sonnenem blem des ManiKongo bestickt waren. Von seinem breiten Ledergür tel hing ein kurzer Degen aus edelstem Toledostahl (ein weiteres Ge schenk des portugiesischen Monarchen). Ines war in ein blassrosafar benes Seidengewand mit hoch angesetzter Taille gekleidet, dessen bau schiger Rock in einer Schleppe zu Boden fiel; auf ihrem Kopf saß eine silberne, mit Diamanten besetzte Tiara. Nachdem das Königspaar die Hostie empfangen und vom Wein getrunken hatte, knieten beide be tend vor ihren Thronen nieder, und die assistierenden Priester schrit ten in das Kirchenschiff hinab. Königin Leonor erhob sich, und Bea triz stieß Gil noch einmal an. Er schüttelte den Kopf. »Geh doch, Nimi. Ich habe nicht gebeich tet.« Sie verzog das Gesicht und folgte dann ihrer Mutter zu Bischof de Sousa. Auch Leonor und Beatriz trugen Seidenkleider und dazu hohe, spitz zulaufende Hüte, von denen ein Schleier auf die Schultern fiel. Die übrigen Mitglieder von Affonsos Hof schlossen sich ihnen an; alle 447
waren nach europäischer Art gekleidet, und sie trugen sogar europä ische Adelstitel wie Herzog und Herzogin, Graf und Gräfin. Anschlie ßend erhob sich Tomé Rodrigues auf der anderen Seite des Chors und führte die portugiesischen Siedler zum Diakon. Der Profos hatte Ket tenhemd und Schulterpanzer angelegt und hielt einen Visierhelm un ter dem Arm; über dem Auge hatte er eine schwarze Binde und am Gürtel ein Entermesser. Die meisten Menschen, die im Kirchenschiff standen, um von den assistierenden Priestern das Abendmahl zu emp fangen, trugen die traditionellen Gewänder der Kongo, doch hier und da sah man auch Zugeständnisse an die portugiesische Mode – einen Gehrock aus Leder, Beinkleider aus Serge, Leinenhemden, Kapuze numhänge, sogar Stiefel. Solche Kleider besaßen vorwiegend Kaufleu te, die durch den Handel mit den Portugiesen zu Wohlstand gekom men waren, Handwerker, die im portugiesischen Viertel Arbeit gefun den hatten, aber auch Untertanen, die Affonso sehr ergeben waren und ihre Treue zu ihm unter Beweis stellen wollten, indem sie seine Euro päisierung nachahmten. »Der Leib Christi.« »Amen.« »Der Leib Christi.« »Amen.« Noch immer kniend, legte Gil die Stirn auf die gefalteten Hände. Aber er betete nicht. Er betete überhaupt nur selten, ging kaum zur Beichte und empfing ebenso selten die Kommunion. Der Grund dafür war weniger, dass er seinen Glauben inzwischen völlig verloren hatte, sondern dass er Rui de Sousa verachtete. Damals, als Dias nach Por tugal zurückgesegelt war, war Gil nur höchst widerstrebend mit dem Pater und Rodrigues im Kongo-Reich geblieben. Er war entsetzt ge wesen über die Scheinheiligkeit und rohe Waffengewalt, mit der der Priester und der Schiffsprofos den Sieg des Christentums im KongoReich durchgesetzt hatten, und fest entschlossen, mit Dias nach Por tugal zurückzufahren. Durch Nuno Gonçalves' Fürsprache hatte Dias sogar eingewilligt, ihn in die Mannschaft der Beatriz aufzunehmen und seine Heuer als Ausgleich für die kostenlose Überfahrt von Nimi 448
und Kimpasi einzubehalten. Und weder der Geistliche noch der Pro fos, die ihn beide als lästigen Störenfried betrachteten, hatten dagegen Einspruch erhoben. Die Einwände gegen seine Abreise waren von Affonso gekommen. Noch immer geschwächt von den Verletzungen, die er in der Schlacht gegen Mpanzu davongetragen hatte, und nach wie vor völlig verstört von dem unerwarteten und ungewollten Ergebnis dieses Krieges, hat te er Gil förmlich angefleht zu bleiben. In den Wochen zwischen seiner Krönung und der Abfahrt der Beatriz hatte er seinem portugiesischen Freund einmal sogar die Abreise verboten. Dann hatte er sich wieder aufs Bitten verlegt und geklagt, nun, da eine unbekannte und unge wisse Zukunft vor ihm liege, brauche er ihn als Berater und Vertrau ten an seiner Seite. Doch sosehr diese Beschwörungen Gil auch rühr ten und soviel Mitgefühl er für den König wider Willen auch aufbrach te – denn Affonsos Zukunft hatte in der Tat äußerst ungewiß ausgese hen –, er hätte sich allen Bitten, Drohungen und Argumenten wider setzt und wäre nach Lissabon gesegelt. Aber da gab es noch Nimi, die Prinzessin Beatriz. Auch sie hatte ihn angefleht zu bleiben. Natürlich hatte er das kommen sehen, im Grunde schon seit dem Tag ihrer Taufe. Das Versprechen, das ihre Mutter ihr damals gegeben hatte, hatte sich erfüllt: Diejenigen, die sie aus dem Königshaus ver stoßen hatten, waren jetzt selbst Ausgestoßene, und als Schwester des neuen Herrschers und Tochter der Königinmutter stand sie bei ihrem Volk als Prinzessin wieder in höchstem Ansehen. Welchen Grund hät te es für sie unter diesen Umständen noch gegeben, nach Portugal zu fliehen? Hätte sie in dem Land am anderen Ufer des Meeres etwas Bes seres erwarten können als hier? Auf diese Fragen hatte Gil keine gute Antwort – was hätte sie in Portugal schon erwarten können, sie, eine Negerin mit einem mestigo als Sohn, dessen Vater ein einfacher Ma trose war? Und deswegen war er ihr eine Antwort schuldig geblieben, hatte ihren Bitten keine Beachtung geschenkt und weiterhin beharr lich Vorbereitungen für die Abreise getroffen. Aber dann hatte sie ge sagt, dass sie nicht fahren würde. Diese Erklärung hatte sie sich bis zum letztmöglichen Augenblick 449
aufgehoben, bis zu dem Morgen, an dem sie zur Küste aufbrechen soll ten. Vielleicht hatte sie die ganze Zeit über gehofft, dass Gil doch noch einlenken werde. Die Karawane, mit der sie nach Mpinda reisen soll ten – die Soldaten und Seeleute, die nicht im Kongo-Reich bleiben woll ten, Dias, Gonçalves, die Wagen und Kanonen der Beatriz sowie meh rere hundert Kongo-Krieger als Begleitschutz –, hatte sich bereits im Hof vor dem Palast des ManiKongo versammelt. Doch Nimi lag noch schlafend auf ihrem Lager. In seinen Matrosenkleidern ging Gil zu ihr, um sie wachzurütteln. Am Abend zuvor hatten sie sich geliebt, und Nimi war noch nackt. Sie setzte sich auf, rieb sich die Augen und ließ die Decken bis zur Tail le heruntergleiten. In jenen letzten Wochen hatte sie ihn mit besonders heftiger Hingabe geliebt – zweifellos, um ihren Argumenten Nach druck zu verleihen –, und jetzt legte sie ihre Hände in einer sinnlichen Geste zwischen die Knie. Er wandte vorsorglich den Blick von ihr ab, um sich von ihr nicht um den Finger wickeln zu lassen. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Ich hole Kimpasi.« »Nein.« Er sah sie an. »Wir kommen nicht mit dir, Gil. Wir wollen hierbleiben, selbst wenn du fortgehst. Hier ist unser Zuhause.« Er war nicht überrascht gewesen. Er hatte es ebenfalls kommen se hen. Auch wenn er sich gerne falschen Hoffnungen hingab, wusste er in seinem Innersten, dass ihre Gefühle für ihn nur aus der Not her aus geboren waren – sie hatte seine Hilfe gebraucht, um ihrem elenden Leben zu entfliehen. In den Monaten des Krieges hatten sie zu wenig Zeit miteinander verbracht und sich nicht gut genug kennengelernt, als dass sie tiefere und stärkere Gefühle für ihn hätte entwickeln können. Und nun, da sie ihn nicht mehr brauchte, konnte sie ihn gehen lassen, ohne dass es ihr besonderen Kummer oder Gram bereitete oder sie sein Fortgehen als größeren Verlust empfand. Aber er brauchte sie. Er brauchte sie und den Jungen. In ihrem Land war er zum Mann herangewachsen, und es gab für ihn keine andere Familie als diese beiden. 450
Damals hatte er sich von ihr abgewandt und zu den Männern hin ausgeblickt, die sich unter den blühenden Bäumen im Hof des Ma niKongo versammelten. In weniger als einem Monat würden sie in Mpinda sein und an Bord der Beatriz gehen. Und knapp weitere vier Monate später würden sie in den Tejo einfahren und in Lissabon vor Anker gehen. Und dann? Was würde dann aus ihm werden, dem ver schollenen Matrosen, der seit langem als tot galt, völlig vergessen war und nun plötzlich, nach all diesen Jahren, heimkehrte? Möglicherwei se würde man anfangs einiges Aufheben um ihn machen. Vielleicht würde er König Johann vorgestellt und wegen seiner Rolle bei der Mis sionierung des Heidenreichs gefeiert werden. Aber was dann? Dann konnte er bestenfalls hoffen, wieder zur See zu fahren; vielleicht wür den seine Erfahrungen bei den Kongo einen Kapitän überzeugen und ihm auf einem Handelsschiff die Stellung und Koje eines Lotsen ver schaffen. Und welche Familie hätte er dann? »In dem Land am anderen Ufer des Meeres wirst du kein Prinz sein, Gil. Aber hier wirst du einer sein. Hier wirst du der weiße Mann sein, der dem Thron am nächsten steht.« »Und was hat das mit dir zu tun?« hatte er gefragt. »Ich werde deine Ehefrau sein«, hatte sie erwidert. »Pader de Susa wird mich zu deiner Frau machen. Und dann werde ich die Frau des weißen Mannes sein, der dem Thron am nächsten steht.« Jetzt kam sie wieder in ihren Kirchenstuhl zurück und kniete sich, ins Gebet vertieft, neben ihn. Mit geschlossenen Augen ließ sie die Hostie im Mund zergehen. Mittlerweile waren ihre Taille zwar voller und die Brüste üppiger geworden, aber mit ihren hohen Wangenkno chen, den schrägstehenden, leuchtenden Augen und ihrer honigdunk len Haut war sie noch immer eine auffallend schöne Frau. Ihr Anse hen am neuen Königshof war ihr gut bekommen. Nachdem sie all die Jahre ausgestoßen und verachtet gewesen war, weil sie das halb-weiße Kind des bösen weißen Prinzen vom Himmel zur Welt gebracht hatte, war sie als Prinzessin am Hof ihres Bruders aufgeblüht, hatte ihre Vor rechte schamlos ausgekostet und zur Schau gestellt und begierig die europäischen Sitten übernommen. Den katholischen Glauben prakti 451
zierte sie mit ostentativer Inbrunst, bestand darauf, mit ihrem christ lichen Namen angesprochen zu werden, und war inzwischen ›portu giesischer‹ als die Portugiesen. Es war, als wollte sie sich für all die Jah re der Entbehrungen, der Demütigungen und Ungnade entschädigen. Falls das wirklich stimmte, so war es ihr gelungen – sie hatte sich ge rächt. Gil freute sich für sie darüber, und er musste einräumen, dass er sich auch für sich selbst freute. Denn auch er lebte als Höfling des Kongo-Königs in größerem Wohlstand und mit mehr Bequemlichkeit und Vorrechten, als er es sich als Matrose je hätte träumen lassen. Aber dennoch empfand er ein nagendes Gefühl von Unzufriedenheit und eine gewisse Ruhelosigkeit. Oft fragte er sich, was die Zukunft brin gen würde. »Es segne euch der allmächtige Gott. In nomine patris, etfilii, et Spi ritus sancti.« »Amen.« »Die Messe ist beendet. Gehet hin in Frieden.« »Dank sei Gott dem Herrn.« Bischof de Sousa machte das Zeichen des Kreuzes, wandte sich ab rupt um und ging auf Affonso zu. Der König erhob sich, und der Geist liche sprach im aufgeregten Flüsterton auf ihn ein. Gil beobachtete die beiden von seinem Kirchenstuhl aus. De Sousa waren die Jahre im afrikanischen Klima nicht gut bekom men. Der Großteil seiner Haare war ausgefallen, sein Schnurrbart und der kleine Kinnbart hatten sich weiß gefärbt, und seine ungesund blas se Gesichtshaut spannte sich wie vergilbtes Pergament über die schar fen, fuchsartigen Züge. Außerdem war er durch seine häufigen Fieber anfälle zu Haut und Knochen abgemagert, so dass ihm die Messge wänder nun lose an dem zuvor schon zierlichen Körper hingen. Af fonso thronte mit seinen breiten, muskulösen Schultern förmlich über ihm; auch in der europäischen Kleidung wirkte er wie ein Krieger. Doch an ihm war die Zeit ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen; auch seine Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, und sein Gesicht war abgespannt und ernst – ein Tribut der großen Verantwor tung, die er als Herrscher trug, und der zahlreichen Enttäuschungen, 452
die er erlebt hatte. Die Narbe auf seiner Wange war leicht gerötet. Die beiden sprachen entweder auf Lateinisch oder Portugiesisch mitein ander – de Sousa hatte nie richtig Kongo gelernt, während Affonso inzwischen beide fremden Sprachen gut beherrschte –, und Königin Ines, die nur Kongo verstand, wartete an der Seite ihres Mannes gedul dig auf das Ende der Unterredung. Aber dann legte der Bischof dem König eine Hand auf den Arm, und die beiden Männer schritten zu sammen durch die Apsis zu der Tür, die vom Chorumgang zum Pfarr haus führte. Ines raffte ihre Röcke zusammen und rauschte durch den Altarraum zu Beatriz, die noch in ihrem Kirchenstuhl saß. Beatriz war Ines' beste Freundin, auch wenn sie wesentlich älter war als diese. Ihr Ansehen bei Hofe war nicht zuletzt auch auf die enge Be ziehung zur Königin zurückzuführen. Die noch nicht einmal zwanzig jährige Ines war eine Ntinu-Soyo, eine Soyo-Prinzessin, und die Groß nichte des alten ManiSoyo. Affonso hatte sie sechs Jahre zuvor auf das Drängen seiner Mutter hin zu seiner Braut genommen. In den Augen von Königin Leonor war diese Heirat ein weiteres Mittel, um den An spruch der Soyo auf den Kongo-Thron zu untermauern. Ines war ein eher unscheinbares Mädchen mit kurzen Beinen und gedrungenem Körperbau, aber sie war auch gutmütig und arglos und bedeutete so mit keine Gefahr für den EinFluss, den Leonor auf Affonso ausübte. Die fremden, komplizierten Gepflogenheiten der europäisierten Mon archie und des christlichen Glaubens verwirrten und überforderten die junge Königin, und da sie ihre intrigante Schwiegermutter fürchte te, hatte sie ihre Schwägerin dazu auserkoren, sie durch den Dschun gel des höfischen Protokolls und der religiösen Vorschriften zu leiten. Jetzt machte sie vor der Königinmutter einen höflichen Knicks und er griff Beatriz' Hand. »Keba bota, Gil Janesch«, grüßte sie. »Dona Ines.« »Was sollen wir heute machen, Beatriz?« wandte sie sich dann an ihre Freundin. »Es ist ein wunderschöner Tag.« »Es ist der Tag des Herrn. Wir sollten etwas zu seinem Ruhm tun«, erwiderte die Prinzessin. »Kommst du, Gil?« 453
»Einen Moment noch.« Gil blickte zum Chorumgang, ebenso wie Leonor, die fragend die Stirn runzelte. Der Diakon war Affonso und Bischof de Sousa nachge eilt, und nun standen sie alle drei an der Tür zum Pfarrhaus und de battierten heftig miteinander. Schließlich trat Affonso achselzuckend durch die Tür, und der Bischof und der Diakon eilten ihm nach. Gil fragte sich, was wohl vor sich gehen mochte. Als er zu Leonor hinüber schaute, trafen sich ihre Blicke. Sie galt mittlerweile zwar als eine alte Frau, aber zweifellos besaß sie auch noch eine gewisse Attraktivität, ein Nachhall ihrer früheren Schönheit, und sie benahm sich mit königlicher Autorität und Anmut. Gil brachte sie wenig Wohlwollen entgegen, denn sie wusste sehr wohl, was er über ihren unnachgiebigen Ehrgeiz dachte und dass er ihr nicht verzeihen konnte, mit welchen Mitteln sie ihre hochfliegenden Pläne verwirklicht hatte. Andererseits war sie sich aber auch der Rolle be wusst, die er als engster Berater ihres Sohnes spielte, und begegnete ihm daher mit vorsichtigem Respekt. Jetzt hob sie die Augenbrauen, als wollte sie ihn auffordern zu erklären, worum es bei dem Gespräch zwischen Bischof de Sousa, dem Diakon und Affonso ging. Doch Gil wusste es nicht und hätte es ihr auch nicht gesagt, selbst wenn er es ge wusst hätte. Deswegen verneigte er sich lediglich und gab ihr mit ei ner höflichen Geste zu verstehen, dass er ihr beim Verlassen des Al tarraums natürlich den Vortritt geben wollte. Ines und Beatriz wa ren bereits vorausgegangen. Mit einem maliziösen Lächeln schloss sich Leonor ihnen an, und Gil folgte ihr mit einigem Abstand. Dann stellten sich die Höflinge und Kolonisten, die geduldig in den Bänken gewartet hatten, in Zweierreihen auf, um durch das Kirchenschiff zu schreiten und aus dem kühlen, von den bunten Bleiglasfenstern gefil terten Licht der Kathedrale in die Sonne des warmen Sonntagmorgens hinauszutreten. Das Gotteshaus stand außerhalb der mit Kanonen bestückten Brust wehr, die den königlichen Bezirk von São Salvador von der restlichen Stadt trennte, und vor ihr erstreckte sich ein weiträumiger, mit gro ßen Steinplatten gepflasterter Platz vom Portal bis zum Ufer des Luezi. 454
Die portugiesische Kolonie zählte zu dieser Zeit keine hundert Köpfe mehr, einschließlich aller Soldaten und Priester. Die meisten Kaufleu te, Ladenbesitzer, Handwerker und Soldaten – und auch eine nicht ge ringe Anzahl der Geistlichen – hatten Kongo-Frauen geheiratet oder als Mätressen genommen, und so spielten jetzt inmitten der Kinder, die auf dem Platz herumliefen, auch Dutzende von kleinen mestiçoJungen und -Mädchen. Dazu gehörte auch Gils und Beatriz' Tochter, die siebenjährige Teresa, die einen kurzgeschnittenen Lockenkopf, die schönen, weichen Züge ihrer Mutter und die hellblauen Augen ihres Vaters hatte. Sobald Gil einen Schritt hinter Leonor im Kirchenportal erschien, rannte sie zu ihm und umklammerte kurz sein Bein, gab an schließend ihrer Großmutter einen Kuß und sauste dann hinter zwei kleinen schwarzen jungen her, den Zwillingssöhnen von Affonso und Ines, die Diogo und João hießen. Ines und Beatriz plauderten gerade mit Tomé Rodrigues, doch als Gil näherkam, machte der Schiffsprofos eine steife Verbeugung und ging davon. Die Beziehung zwischen den beiden Männern hatte sich in den vergangenen zehn Jahren kaum verbessert, und das lag vorwie gend an Gil. Im großen und ganzen hielt er sich von den Portugiesen fern und hatte sich nach Nuno Gonçalves' Abreise nicht wieder be müht, einen Freund unter seinem eigenen Volk zu finden. Er betrach tete sich lieber als Vasall des ManiKongo. Seine Landsleute begegneten ihm mit der Achtung, die seiner Stellung zukam, doch hinter seinem Rücken beklagten sie sich und rissen bösartige Witze über ihn. »Wo sind die Kinder?« fragte Beatriz ihn. »Ich habe sie gerade gesehen.« Als Gil sich suchend nach seiner Toch ter und den Zwillingen umschaute, sah er, wie sich der Diakon durch die Menschenmenge aufgeregt zu ihm vordrängte. Mit Ende Fünfzig war der Diakon älter als der Bischof, doch lebte er erst seit relativ kurzer Zeit in São Salvador. Sein Vorgänger war vor mehr als fünf Jahren an einem Schlangenbiß gestorben, aber wegen des geringen Schiffsverkehrs von Portugal nach Afrika war er erst vor zwei Jahren hier eingetroffen. Trotz seines vorgerückten Alters war er von missionarischem Eifer erfüllt und betrachtete seine neue Stellung 455
als ausgezeichnete Gelegenheit, Gottes Werk zu tun. Als Franziskaner hatte er für die Inquisition gearbeitet, die in Portugal voll im Gange war – die Juden waren zur Zeit von Vasco da Gamas Reise aus dem Kö nigreich vertrieben worden, drei Jahre nach ihrer Ausweisung aus Spa nien. Er hatte gehofft, dieselben Methoden auch im Kongo-Reich an wenden zu können. Immer wieder wetterte er darüber, dass es den ka tholischen Kongo bei der Ausübung des Glaubens an Inbrunst mange le, und beklagte ihre ketzerische Gewohnheit, in Notlagen auf die Hil fe von Fetischen und Zauberern zurückzugreifen. Er hatte eine Tonsur, einen buschigen Bart und ausgeprägte Augenbrauen, trug eine weiße Soutane und an den Füßen Sandalen. »Pater Duarte«, begrüßte Gil den Geistlichen. »Seine Majestät sendet nach Euch, senhor. Er bittet Euch, ihn und Seine Gnaden unverzüglich im Pfarrhaus aufzusuchen.« »Nimi«, rief Beatriz. »Wo ist die Frau bloß? Ach, da bist du ja. Such die Kinder, mchento. Wir gehen mit ihnen im Luezi schwimmen.« »Sie spielen dort drüben, Herrin.« Das war die andere Nimi, Gils Ge fährtin in der Verbannung. Sie hieß noch immer Nimi, denn sie hat te sich nie taufen lassen, und gehörte nun zu Gils Haushalt. In seinem großen Stab von Bediensteten, Kriegern und Angestellten war sie die Person, der er am meisten vertraute. »Teresa, komm her!« rief sie. »Und sei ein gutes Mädchen und bring die Jungen mit!« »Senhor Eanes, bitte, Seine Majestät wartet«, drängte der Diakon. »Ich komme schon, Padre. Nimi, Mbemba hat nach mir geschickt. Geht ihr nur voraus, ich komme später nach.« »Und ich, Padre Duarte? Hat er mich nicht auch zu sich gebeten?« mischte sich Leonor ein. »Wieso sollte er das, Dona Leonor?« »Seid Ihr sicher?« beharrte sie. »Er hat mich nur gebeten, Senhor Eanes zu holen«, erklärte der Dia kon. »Warum? Was ist passiert?« Pater Duarte blickte hilfesuchend zu Gil. Es war offensichtlich, dass er den Grund weder ihr noch jemand anderem mitteilen durfte. Doch 456
diese Frau schüchterte ihn ebenso ein wie beinahe jeden Menschen, der mit ihr zu tun hatte. »Ich bin mir sicher, dass Mbemba Euch später davon berichten wird, Herrin«, besänftigte Gil sie. »Kommt, Padre, gehen wir.« »Dessen bin ich mir auch sicher«, rief Leonor ihnen nach, als sie auf das Pfarrhaus zueilten.
Das Wohnzimmer des Pfarrhauses war mit Möbeln und Kunstgegen ständen aus Europa ausgestattet, und an den Wänden hingen Gemäl de und Gobelins europäischer Künstler. In dem Raum befand sich kein einziger Gegenstand aus dem Kongo-Reich; Bischof de Sousa hat te keinerlei Sinn dafür. Als Gil und der Diakon den Raum betraten, hatte er sich gerade auf einen hochlehnigen Stuhl hinter dem großen Eichentisch gesetzt, der ihm als Schreibtisch diente. Der Bischof hat te sein Messgewand gegen eine schwarze Soutane, ein schwarzes Bi rett und ein silbernes Kruzifix eingetauscht; er stützte den Kopf in die Hände und wirkte ziemlich aufgebracht. Affonso, der ihm gegenüber auf einem anderen Stuhl mit hoher Rückenlehne saß, schien ebenfalls zornig. Hinter dem Bischof stand ein junger, kleiner, dicker Priester mit einer Tonsur. Gil erkannte ihn nicht, und erst, nachdem sich sei ne Augen an das Dämmerlicht im Zimmer gewöhnt hatten, bemerk te er, dass die Soutane des Geistlichen zerfetzt und mit Schlamm be schmutzt und sein Gesicht zerschunden, aufgeschwollen und mit ge ronnenem Blut verschmiert war. »Wer ist dieser Mann? Was ist mit ihm passiert?« fragte Gil. »Das ist Pater José«, erklärte Bischof de Sousa und erhob sich von sei nem Platz hinter dem Tisch. »Er ist unser Missionar in Mpangala.« »Aber was ist mit ihm passiert? Er sieht aus, als wäre er in eine Schlä gerei geraten.« »Ja, es war eine Schlägerei«, stieß Pater Duarte hervor. »Eine schreck liche Schlägerei. Mit den heidnischen Nsundi in Mpangala. Er wollte sie davon abhalten, an einer Teufelsanbetung teilzunehmen.« 457
»Bitte, Pater Duarte. Überlasst das Reden mir«, unterbrach de Sou sa. »Entschuldigung, Euer Gnaden.« Doch nachdem Bischof de Sousa sich wieder gesetzt und den Kopf erschöpft in die Hände gelegt hatte, schwieg er zunächst mehrere Mi nuten lang. Erst nach einer Welle sagte er sehr leise: »Er muß getötet werden, Eure Majestät. Wie oft habe ich Euch das schon geraten? Er ist eine Bedrohung für Euren Thron und muß getötet werden.« Gil warf Affonso einen fragenden Blick zu. »Er spricht von Mpanzu«, erklärte dieser. Gil war überrascht. »Mpanzu? Wer weiß denn überhaupt, wo er steckt?« »Wir wissen es, Senhor Eanes«, mischte sich der Diakon wieder ein. »Er ist aus der Verbannung zurückgekommen und will jetzt einen Auf stand gegen den Thron anzetteln. Er führt eine Erhebung der Nsundi gegen die Kirche an.« »Pater Duarte!« »Entschuldigung, Euer Gnaden.« »Pater José, berichtet, was vorgefallen ist.« Zögernd trat der dicke junge Priester hinter dem Stuhl des Bischofs hervor. »Also, Senhor Eanes, wie ich schon Seiner Gnaden sagte, ich habe nicht gewusst, dass er da war. Er muß nachts nach Mpangala ge kommen sein, während ich schlief.« »Mpanzu?« »Ja, Mpanzu. Wie gesagt, er muß im Schutz der Dunkelheit gekom men sein, während ich schlief. Mit seiner Mutter. Nun ja, nicht wirk lich mit seiner Mutter. Sie ist tot, wißt Ihr. Ich meine, mit ihrer Lei che.« »Die Mbanda Vunda ist tot? Hast du das gewusst, Mbemba?« wand te Gil sich an seinen Freund. »Natürlich habe ich das gewusst«, antwortete Affonso ärgerlich. »Ich brauche doch keinen Priester, um zu erfahren, was in meinem Reich vor sich geht. Sie ist vor ein paar Wochen gestorben, und Mpanzu hat sie nach Mpangala gebracht, um sie dort beizusetzen. Er hat ihre Ge 458
beine nach Hause gebracht, wie es sich für einen Sohn gehört, damit sie bei ihren Nsundi-Vorfahren ruhen kann.« Gil betrachtete de Sousa. Mittlerweile hatte er sich zurückgelehnt und die Ellbogen auf die Armlehne gestützt, hielt den Kopf aber noch immer zwischen den Händen. »Fahrt fort, Pater José«, forderte er den jungen Priester auf. »Also, ich habe auch nicht gewusst, dass sie da war. Ich meine, dass ihre Leiche da war. Er muß sie nachts nach Mpangala gebracht haben, während ich schlief.« »Ja, Padre, ich verstehe, was Ihr sagen wollt. Es ist völlig nachvoll ziehbar. Ihr konntet nicht wissen, dass Mpanzu und die Leiche seiner Mutter da waren, weil Ihr geschlafen habt. Aber dann seid Ihr aufge wacht. Was war dann?« »Draußen ging es wirklich hoch her. Deswegen bin ich überhaupt aufgewacht. Schrille Hörner, laute Trommeln. Es war noch vor Mor gengrauen, es war sogar noch ziemlich dunkel. Aber als ich nach drau ßen ging, habe ich gesehen, dass ganz Mpangala auf den Beinen war. Alle Nsundi hatten sich auf dem großen Marktplatz versammelt, um irgendeine Zeremonie zu feiern.« »Das Begräbnis«, erklärte Affonso gereizt. »Das Begräbnis der Mban da Vunda. Das Begräbnis einer Nsundi-Königin. Und dieser Priester dachte, er müßte dagegen einschreiten.« »Es war meine Pflicht, Eure Majestät«, verteidigte sich Pater José. »Es war eine heidnische Zeremonie, eine Beleidigung unseres Herrn, und ich bin ein Priester unseres Herrn. Oh, Senhor Eanes, das hättet Ihr sehen müssen! Es war verderbt, das Werk des Teufels. Die Frauen wa ren allesamt nackt, bis auf kleine Schürzen, und haben zum Rhythmus der Trommeln obszön getanzt. Und die Zauberer, Zauberer, Senhor Eanes, bemalt und genauso nackt, nur mit ein paar Federn bedeckt – die Handlanger des Satans! Sie haben Rasseln geschüttelt, abscheuli che Anrufungen gebrüllt und getanzt wie der Leibhaftige. Es war wi derwärtig, das sage ich Euch. Ich musste versuchen, diesem Treiben ein Ende zu setzen.« »Ihr habt ganz recht getan«, meldete sich erneut der erregte Pater 459
Duarte zu Wort. »Hättet Ihr untätig zusehen sollen, wie solch verwerf liche Dinge geschahen? Ich hätte dasselbe getan, das kann ich Euch versichern.« Gil überging die Bemerkung des Diakons. »Und dann wurdet Ihr ge schlagen?« »Ich konnte es nicht fassen, Senhor Eanes. Sie haben sich auf mich gestürzt. Ich bin friedlich zu ihnen gegangen, ich wollte vernünftig mit ihnen reden. Ich wollte ihnen sagen, dass sie in die Irre gehen. Aber sie haben sich auf mich gestürzt. Alle zusammen, Senhor Eanes. Sogar Leute, die zu mir in die Messe gekommen sind. Männer und Frauen, die ich selbst getauft habe, denen ich die Beichte abgenommen und die Kommunion gespendet habe. Ja, sogar Katholiken, Senhor Eanes. Sie haben sich mit Stöcken und Keulen auf mich gestürzt.« »Sie hätten ihn zu einem Märtyrer machen können«, fuhr Pater Duarte erregt auf. »Ich war darauf gefasst, den Märtyrertod zu sterben, Pater Duarte. Ich wäre bereitwillig den Märtyrertod gestorben, um den Glauben zu verteidigen. Aber sie haben mich wie Unrat in den Lelunda geworfen und weiter ihre heidnische Zeremonie gefeiert. Den ganzen Tag lang. Ich habe von der anderen Seite des Flusses zugeschaut. Satan hat dort sein Unwesen getrieben, und ich konnte nichts dagegen tun. Deswegen bin ich hierhergekommen. Ich glaube nicht, dass ich je wieder dorthin zurückgehen kann, Euer Gnaden.« Der junge Priester wandte sich an den Bischof. »Ich glaube nicht, dass die Nsundi …« Plötzlich verlor er die Fassung und begann zu schluchzen. »Macht Euch keine Sorgen, mein Sohn.« Bischof de Sousa ging um den Tisch und strich Pater José beruhigend über die gekrümmten Schultern. »Ihr werdet schon wieder nach Mpangala zurückgehen, da für werden wir Sorge tragen. Nicht wahr, Eure Majestät?« Affonso blieb sitzen. »Pater José hat einen sehr dummen Fehler be gangen, Bischof«, sagte er lakonisch. »Er hätte sich nie einmischen dürfen, wenn eine Nsundi-Königin von ihrem Sohn bestattet wird. Diese Leute gehören nicht zu seiner Gemeinde. Sie sind nicht katho lisch. Sie haben sich schon vor langer Zeit geweigert, sich taufen zu las 460
sen. Mpanzu hat ein Recht darauf, seine Mutter entsprechend den al ten Traditionen und Ritualen zu bestatten. Nein, ich glaube, es ist bes ser, wenn Ihr einen anderen Priester nach Mpangala schickt.« »Darum geht es jetzt nicht, Eure Majestät. Wir sprechen hier von et was anderem. Es ist gleichgültig, welchen Priester ich nach Mpangala schicke. Worum es geht, ist, dass ein Priester dort tätlich angegriffen worden ist. Warum sträubt Ihr Euch, das Ausmaß dieses Vergehens zu sehen? Warum weigert Ihr Euch anzuerkennen, dass dieser Angriff auf Pater José nicht nur ein Angriff auf die Autorität der Kirche Eures Rei ches war, sondern auch auf Eure Autorität als christlicher Herrscher dieses Reiches?« »Ihr macht aus einer Mücke einen Elefanten, Bischof.« »Das tue ich nicht. Hört mir zu. Bitte hört mir zu, was ich Euch zu sagen habe.« »Ich brauche nicht zu hören, was Ihr mir zu sagen habt. Ich weiß be reits, was Ihr sagen wollt.« Affonso ließ sich nicht beirren. »Und was wäre das?« fragte der Bischof. »Was Ihr immer sagt – dass Mpanzu mein Feind ist.« »Nehmt es nicht auf die leichte Schulter. Er ist Euer Feind. Er ist schon immer Euer Feind gewesen, und zwar Euer gefährlichster Feind. Ihr sitzt auf dem Thron, auf den er Anspruch zu haben meint. Ihr habt den Glauben eines Volkes angenommen, das seiner Ansicht nach Bö ses in dieses Land bringt. Und Ihr seid ein Soyo, während er ein Nsun di ist.« Bei diesen Worten ereiferte sich de Sousa regelrecht. »Und deswegen muß ich Eurer Meinung nach befürchten, dass er jetzt, nach all den Jahren, aus der Verbannung zurückgekommen ist, um den Thron wieder an sich zu reißen, um die weißen Männer zu vertreiben und die Herrschaft der Nsundi wiederherzustellen«, meinte Affonso mit einem spöttischen Lächeln. »Ja, genau, Eure Majestät. Dieser Angriff auf Pater José sollte Euch als Warnung dienen. Unter dem Vorwand, seine Mutter zu bestatten, hat er die Nsundi dazu aufgestachelt, sich gegen ihren Priester zu erhe ben. Was hindert ihn daran, einen anderen Vorwand zu erfinden, da mit sie sich gegen ihren König auflehnen?« 461
»Und deswegen muß er sterben?« »Ja, Eure Majestät. Deswegen muß er sterben.« Affonso schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, Bischof, ich werde meinen Bruder nicht töten. Wie könnt Ihr mir ein solches Ansinnen auch nur unterbreiten? Bin ich nicht meines Bruders Hüter?« Bei dieser ruhigen Zurechtweisung schoß dem Bischof das Blut ins Gesicht. »Wird uns nicht gelehrt, dass Kain vom Herrn wegen genau eines solchen Verbrechens mit einem Mal auf der Stirn gezeichnet und in die Wildnis geschickt wurde?« Auch auf diesen Einwand wusste Bischof de Sousa nichts zu erwi dern. Er ging zum Tisch zurück, setzte sich hin und stützte den Kopf wieder in die Hände. Affonsos Bibelfestigkeit überraschte weder den Prälaten noch Gil. Seine Fähigkeit, aus beiden Testamenten zu zitieren, seine genaue Kenntnis des Wortes Gottes und sein Verständnis der Glaubensvor schriften waren allgemein bekannt und erregten Bewunderung. In den Jahren seit seiner Krönung und Taufe hatte er es sich zur Aufga be gemacht, alles zu lernen, was das Christentum ausmachte – nicht nur die Rituale und die wundersamen Aspekte, sondern auch die fein sten metaphysischen Details. Ob dies jedoch auch bedeutete, dass er ein überzeugter Katholik war und glaubte, die Heilige Römische Kir che sei im Besitz der ewigen Wahrheit, das wusste Gil nicht mit Sicher heit zu sagen – und es gab auch Gründe, das zu bezweifeln. Aber an ei nem hatte Gil keinerlei Zweifel: Affonso hatte von Anfang an erkannt, dass alles, was er sich von jenem Land am anderen Ufer des Meeres für sein Reich erhoffte – all die Erfindungen und Leistungen der europä ischen Kultur, die er bestaunte und herbeisehnte, wie etwa Feuerwaf fen, Segelschiffe und vor allem die escrita, die Schrift –, dass all diese Dinge, deretwegen er sich gegen seinen Vater erhoben und den Thron seines Bruders usurpiert hatte, im Christentum verankert, ja sogar un trennbar damit verbunden waren. Wenn er also all dies für sein Volk erwerben und das Kongo-Reich zu einem Teil der größeren Welt ma chen wollte, dann musste er selbst Christ sein. 462
»Aber Ihr habt recht mit Euren Befürchtungen wegen der Nsundi, Bischof«, räumte er jetzt ein. Bischof de Sousa richtete sich auf. »Mir ist durchaus bewusst, dass sie dem Thron nicht so bedingungs los ergeben sind, wie ich es mir wünsche. Allerdings haben wir das nur König Johann zu verdanken.« »König Johann? Warum König Johann?« fragte der Prälat erstaunt. »Weil er uns im Stich gelassen hat, Bischof. Wie lange ist es her, seit eines seiner Schiffe in Santo Antonio angelegt hat? Mehr als zwei Jah re, beinahe drei.« »Aber ich habe Euch doch den Grund dafür erklärt, Eure Majestät«, verteidigte sich de Sousa. »Ja, Bischof, Ihr habt es mir erklärt. Er hat uns wegen des Handels mit Indien vernachlässigt, und deswegen können wir nicht mehr er warten, dass seine Schiffe in Santo Antonio anlegen und all die Wa ren und die Menschen bringen, die wir brauchen, um die Kirchen und Schulen zu gründen, welche notwendig sind, um den Glauben zu ver breiten und den Thron zu stärken.« De Sousa seufzte. »Ihr wißt, dass ich Euch in dieser Hinsicht immer beigepflichtet habe, Eure Majestät. Ihr wißt, wie oft ich nach Lissabon geschrieben und um mehr Priester und Lehrer, Händler und Solda ten gebeten habe. Ihr wißt auch, dass ich König Johann immer wieder gewarnt habe, dass all die Fortschritte, die wir hier im Kongo-Reich im Namen der Kirche und Portugals erzielt haben, zunichte werden, wenn er uns im Stich läßt.« »Und er hat uns im Stich gelassen«, erklärte Affonso ruhig. »Das räume ich ein, Eure Majestät, er hat uns im Stich gelassen. Des wegen müssen wir die Probleme auf unsere eigene Art lösen.« »Und genau so werde ich dieses Problem mit den Nsundi lösen, Bi schof. Auf unsere eigene Art. Auf die Art, wie die Kongo solche Pro bleme immer gelöst haben.« »Und die wäre?« fragte der Bischof. »Nicht, indem ich Mpanzu töten lasse«, erwiderte Affonso und stand auf. »Nein, nicht indem ich ihn töten lasse. Nicht nach all den Jahren.« 463
Er ging zu dem kleinen rosafarbenen Bleiglasfenster, das zum Platz vor der Kathedrale hinausging, und beobachtete die Menschen – die Män ner, die Frauen und die schwarzen, weißen und braunen Kinder, die sich dort fröhlich im hellen Sonnenlicht die Zeit vertrieben. Niemand sagte ein Wort. De Sousa blieb sitzen; er wartete dar auf, dass Affonso fortfuhr. Doch Gil dämmerte allmählich, was sein Freund im Sinn hatte. Er wusste, dass Affonso sich schon seit länge rer Zeit Gedanken über die zweifelhafte Loyalität der Nsundi mach te und dass auch Leonor ihn deswegen oft gewarnt und ihm Ratschlä ge erteilt hatte. »Nein, es würde die Lage keineswegs bessern, wenn ich Mpanzu tö ten ließe, Bischof.« Affonso wandte sich wieder um. »Das würde alles nur noch schlimmer machen. Mpanzu genießt bei den Nsundi immer noch großes Ansehen. Er ist nach wie vor der ManiNsundi, ihr Herr und Prinz. Sein Tod würde ihre Feindseligkeit nur verstärken und ihre Loyalität weiter verringern. Er könnte sogar genau den Aufstand her beiführen, den Ihr fürchtet. Wir müssen vielmehr genau das Gegen teil tun. Wir dürfen sie nicht abschrecken, sondern müssen sie enger an den Thron binden. Wir müssen ihnen eine größere Rolle in diesem Königreich geben.« »Und wie gedenkt Ihr das zu tun?« fragte de Sousa. »Indem ich eine Nsundi-Prinzessin zu meiner Königin mache.« »Perdão?« Der Bischof glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Mpanzus jüngste Tochter. Sie lebt zurückgezogen in Mpangala, und die Nsundi bringen ihr große Achtung entgegen. Ich werde sie heira ten, und als Königin der Kongo wird sie ihr Volk dazu bewegen, mich zu achten. Genau das hätte mein Vater getan. Das haben alle ManiKongo getan, um sich der Loyalität der ihnen untergebenen Völker zu versichern. Und deswegen werde ich es auch tun. Das ist die Art der Kongo.« »Aber Ihr könnt sie nicht heiraten!« wandte der Bischof bestürzt ein. »Ihr seid schon verheiratet. Ihr habt bereits eine Gemahlin und Köni gin.« »Dann habe ich eben zwei.« 464
»Das ist unmöglich!« »Und auch drei oder vier, wenn es notwendig sein sollte, meinen Thron und den Frieden im Reich zu sichern. Das hat mein Vater vor mir getan, genauso wie alle ManiKongo vor ihm.« »Aber Ihr seid kein ManiKongo, wie Euer Vater es war oder die Ma niKongo vor ihm«, widersprach der Bischof. »Ihr seid Katholik. Ihr seid der erste katholische ManiKongo, und als solcher ist es Euch ver boten, mehr als eine Ehefrau zu haben.« »Das wäre Häresie«, mischte sich Pater Duarte ein. »Bitte, Pater Duarte«, fuhr der Bischof gereizt auf. »Aber das muß doch einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden, Euer Gnaden. Was Seine Majestät vorschlägt, ist Häresie, die schlimm ste Blasphemie, eine Sünde, für die er in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren würde. Und außerdem – was für ein Beispiel gäbe er damit seinen Untertanen ab? Der eigene König, der eine solche Schandtat be geht! Als hätten wir nicht schon genügend Schwierigkeiten damit, sie zur Einhaltung ihrer christlichen Pflichten zu bewegen. Wir müssen uns doch ohnehin schon ständig mit ihrer Halbherzigkeit in allen Din gen des Glaubens herumschlagen und mit ihrer Neigung, Fetische an zubeten und Zaubermittel anzuwenden. Und wenn dann noch ihr ei gener König …« »Ja, Pater Duarte, das stimmt alles«, schnitt der Bischof ihm das Wort ab. »Der Diakon sagt die Wahrheit, Eure Majestät. Es wäre eine blanke Verhöhnung des Glaubens. Es würde die Kirche vernichten. Ich könnte es nicht gestatten. Ich würde es nicht gestatten. Ich würde Euch nie mit einer zweiten Frau vermählen.« »Dann wäre ich gezwungen, einen Priester zu suchen, der dazu be reit ist«, gab Affonso zurück. »Kein katholischer Priester würde eine derart sündhafte Zeremonie durchführen!« »Ich habe auch nicht an einen katholischen Priester gedacht, Bi schof«, sagte Affonso und ging zu seinem Stuhl zurück. »Ich habe an einen Priester der Nsundi gedacht.« »Einen Juju-Mann?« 465
»Unter den gegebenen Umständen wäre das wohl das beste. Wenn ich eine ihrer Prinzessinnen auf die traditionelle Art zur Frau nehme, hätten die Nsundi noch mehr Grund, mir Treue zu schwören«, ant wortete Affonso bedächtig. »Wenn Ihr das wagen solltet, würdet Ihr von der Kirche verdammt. Ich selbst würde Euch exkommunizieren.« Affonso ließ sich auf seinen Stuhl nieder. »Und wißt ihr, was das bedeuten würde, Eure Majestät?« fuhr der Bi schof fort. »Ihr wäret verdammt und würdet nie das Licht des Him mels erblicken. Ihr wäret kein Katholik mehr.« »Und Ihr, Bischof, hättet auf dem Kongo-Thron keinen katholischen König mehr.«
KAPITEL 2
I
ch vermute, das war Eure Idee, Herrin.« »Vielleicht habe ich als erste den Vorschlag gemacht, Senhor Eanes, aber jetzt ist es der Gedanke des Königs. Weshalb? Gefällt er Euch nicht?« »Ich bin kein so guter Katholik wie Ihr, Herrin. Aber falls Ihr darin keinen Verstoß gegen den Glauben seht, warum sollte ich es tun?« »Aber ich sehe darin einen Verstoß gegen den Glauben«, warf Beatriz ein. »Es ist eine Todsünde. Kein Mann darf mehr als eine Frau haben. Die Ehe ist eines der sieben Sakramente. Bischof de Sousa sagt …« »Bischof de Sousa spricht sich nicht mehr gegen diese Ehe aus, Bea triz«, unterbrach Königin Leonor ruhig, aber bestimmt. »Nein?« Gil zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das kann ich kaum glauben.« »Es ist aber so. Ich hatte ein langes Gespräch mit ihm. Besser gesagt, wir hatten im Verlauf der letzten Tage mehrere lange Gespräche, und nun ist ihm klar, wie wichtig diese Ehe für den Frieden im Reich und 466
die Sicherheit des Throns ist – und dass es weitaus besser für ihn ist, wenn sie kirchlich vollzogen wird, denn dass sie geschlossen wird, das steht außer Frage.« »Er ist ein praktisch denkender Mensch, unser Bischof.« »Das ist er, senhor. Und deshalb hat er nach einiger Erörterung auch eingeräumt, dass die kirchliche Doktrin für einen Sonderfall wie die sen auch besondere Regelungen kennt.« Sie befanden sich im Empfangszimmer von Gils Haus im königli chen Bezirk von São Salvador, einem weitläufigen, altmodischen Ge bäude in der Bauart der Kongo. Im Gegensatz zu vielen anderen Din gen war der architektonische Stil der Europäer nicht kopiert worden. Das Portugiesenviertel mit seinen schmalen Gassen und den dicht an einandergedrängten Steinhäusern war den Kongo viel zu eng, zu dun kel und stickig; deshalb hatte der europäische EinFluss an der Bauwei se im königlichen Bezirk kaum etwas verändert. Affonso war in den unveränderten Palast des alten ManiKongo gezogen, und Gils großes Haus, das sich genau gegenüber in den königlichen Gärten befand, war im selben Stil erbaut – hohe, gegiebelte Strohdächer, hölzerne Säulen gänge, die die Gebäudeflügel verbanden, viele ineinander übergehen de Zimmer und säulenbestandene Veranden, die das ganze Gebäude umgaben. Das einzig Europäische daran war die am rückwärtigen Teil angebaute Kapelle, auf der Beatriz bestanden hatte. »Hat er zufällig erwähnt, an welche Regel der kirchlichen Doktrin er dabei dachte, Herrin?« »Er sprach von einer Annullierung.« »Ah ja, natürlich. Eine Annullierung.« »Was ist das, eine Annullierung?« wollte Beatriz wissen. »Das ist ein komplizierter und geheimnisvoller Vorgang, Nimi, mit dessen Hilfe die Kirche erklären kann, dass zwei miteinander verhei ratete Menschen überhaupt nicht verheiratet sind und es auch niemals waren.« »Welche zwei Menschen?« »In diesem Fall, würde ich meinen, denkt Bischof de Sousa an Affon so und Ines.« 467
»Aber das ist doch nicht möglich! Sie sind seit Jahren verheiratet. Er selbst hat sie getraut. Und sie haben Söhne und Töchter.« »Wie ich schon sagte, es ist ein sehr geheimnisvoller Vorgang, eines der großen Mysterien des Glaubens.« »Aber was ist mit Ines? Was passiert mit ihr?« »Nichts«, antwortete Leonor. »Sie wird auch weiterhin Affonsos Gat tin und Königin bleiben, genau wie in den alten Zeiten, als der ManiKongo sich so viele Frauen und Königinnen nahm, wie notwendig er schien, um den Zusammenhalt des Reiches zu gewährleisten. Die An nullierung ist für Bischof de Sousa lediglich eine Geste, damit er Af fonso und die NtinuNsundi guten Gewissens kirchlich trauen kann.« »Hat Euch Bischof de Sousa das so gesagt, Herrin?« fragte Gil. »Nein, senhor, so habe ich es ihm gesagt. Ebenso, wie mein Gemahl die Mbanda Vunda und mich als Frauen nahm, muß auch Affonso so wohl eine Nsundi-Königin als auch eine Soyo-Königin haben, damit der Frieden im Reich erhalten bleibt.« »Und der Bischof hat dem zugestimmt?« »Wie ich Euch bereits sagte, senhor, hatten wir viele lange Gesprä che, in deren Verlauf er zu dem Schluß kam, dass er dieser Regelung zustimmen muß, weil er ansonsten den ersten katholischen König des Kongo-Reiches exkommunizieren müßte.« »Und er ist ein praktisch denkender Mensch«, stellte Gil noch ein mal fest. Leonor lächelte, zufrieden über diesen jüngsten Erfolg ihres politi schen Geschicks. »Aber wer ist diese NtinuNsundi, Mutter?« fragte Beatriz. »Sie heißt Mfidi. Mfidi a Mpanzu.« »Mfidi a Mpanzu? Hat sie keinen christlichen Namen? Ist sie nicht getauft?« »Wie könnte sie getauft sein? Sei doch vernünftig, Tochter. Sie ist schließlich Mpanzus Tochter.« »Ja, aber wenn sie nicht getauft ist, kann sie nicht kirchlich heiraten.« »Das ist richtig, aber darum wird sich Bischof de Sousa kümmern. Er hat bereits Pater Duarte und Pater José nach Mpangala geschickt, um 468
sie im Glauben unterweisen zu lassen. Und er hat auch schon mit den Nachforschungen begonnen, um die Gründe für die Annullierung von Affonsos Ehe festzustellen.« »Das heißt, es wird noch einige Zeit dauern, bis Affonsos Heirat mit Mfidi stattfindet, Herrin, ist das richtig?« fragte Gil. Er hatte sich an gewöhnt, zu Hause immer nur eine Kanga zu tragen und barfuß zu laufen, aber er war glattrasiert. Schon vor vielen Jahren hatte er sich den Bart abgenommen, um sich von den anderen weißen Männern zu unterscheiden, und sein langes, blondes Haar hatte er zu einem Zopf geflochten. »Sicherlich hat Bischof de Sousa auch bereits erklärt, dass eine Annullierung sehr lange dauern kann, manchmal Jahre.« »In diesem Fall wird es sich nicht um Jahre handeln. Bischof de Sou sa hat mir versichert, dass seine Nachforschungen abgeschlossen sein werden, sobald Mfidi getauft werden kann.« »Das heißt, in einigen Monaten?« »In zwei oder drei Monaten vielleicht. Affonso kann Mfidi heiraten, noch bevor die Regenzeit beginnt.« »Wie sieht sie denn aus? Ist sie groß oder klein, dick oder dünn?« Gil empfand Mitgefühl für Beatriz, als sie mit ängstlich besorgter Stimme diese Frage stellte. Zweifellos war sie aus religiösen Gründen dagegen, dass ihr Bruder diese zweite Ehe einging; sie war eine der we nigen wirklich gläubigen Katholikinnen unter den Kongo. In ihrem Glauben sah sie das Instrument, durch das ihre Macht wiederherge stellt worden war. Aber als die Schwester des Königs musste sie auch die praktische Seite dieser Angelegenheit in Betracht ziehen. Ihre Stel lung bei Hofe konnte durch die Inthronisation einer zweiten Königin beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen werden. »Ist sie hübsch oder hässlich, jung oder alt? Wer ist ihre Mutter?« bohrte sie weiter. »Sie ist jung. Sie ist die jüngste Tochter von Mpanzus jüngster Frau«, erklärte Leonor. »Sie ist fast so jung, wie Ines es war, als Affonso sie heiratete …« »Was gibt es, mchento?« unterbrach Gil. Die Dienerin Nimi war in das Zimmer gekommen. »Die beiden Jun 469
gen deiner Wache, auf die du gewartet hast, Gil Janesch«, sagte sie. »Sie sind zurück und sitzen im Garten.« »Entschuldigt mich, Herrin.« Die Königinmutter nickte geistesabwesend und erzählte ihrer Toch ter weiter von Mfidi, während Gil auf die Veranda hinausging. Es war wieder ein klarer, sonniger Tag. Dies war das übliche Wetter während der langen Trockenzeit hier auf dem Plateau über der Hoch ebene des Nsundi-Graslands: ein wolkenlos blauer Himmel, laue Win de, kristallklare Luft, warme Tage und kühle Nächte. Die Jakaranda bäume und Akazien, die Bougainvilleen und Flammenbäume im Gar ten vor dem Haus standen in voller Blüte, und fröhliches Vogelgezwit scher erklang aus ihren Kronen. Im roten Staub unter einem der Flam menbäume hockten zwei hochgewachsene, starke Männer – alles an dere als Jungen. Als Gil und Nimi von der Veranda herunterkamen, erhoben sich die beiden. Wie Gil trugen sie einfache Kangas und waren barfuß, aber sie hatten auch Papageienfedern im Haar wie früher die Kongo-Krie ger. Nichts an ihnen war europäisch bis auf die Arkebusen, die sie an stelle von Lanzen bei sich hatten; doch sie hielten die Gewehre in den Händen, als wären sie seit langem mit diesen Waffen vertraut. Die bei den waren Nimis Vettern, Söhne der Schwester von Nimis Mutter. Gil hatte sie kennengelernt, als sie tatsächlich noch kleine Jungen gewesen waren, und deshalb betrachtete er sie nach wie vor als solche. Es war an jenem Tag vor zwanzig Jahren gewesen, als Mbemba ihn zum ersten mal in ihr Elternhaus am Ufer des Luezi in Mbanza Kongo gebracht hatte. Und aus diesem Grund waren sie nicht nur seine zuverlässigsten Leibwächter, sondern zusammen mit der ›anderen‹ Nimi auch die Die ner, denen er am meisten Vertrauen entgegenbringen konnte. Als sie getauft wurden, war er ihr Pate gewesen und hatte ihnen die christli chen Namen eines anderen guten Freundes gegeben: der ältere hieß Nuno, der jüngere Gonçalo. »Habt ihr ihn gesehen, mbakala?« fragte Gil in der Sprache der Kon go, während er auf sie zuging. »Ja, Gil Janesch«, antwortete Nuno. 470
»Und wie war er?« Die Brüder sahen sich unsicher an. Gil hockte sich neben einem Ro ten Jasminbaum nieder und bedeutete ihnen, sich zu ihm zu setzen. Nimi blieb in einigen Schritten Entfernung stehen und passte auf, dass sie nicht gestört wurden. »Geht es ihm gut?« »Er ist dick und alt, Gil Janesch«, sagte Gonçalo, der jüngere. Er war der Flinkere von beiden, und obwohl er sich seinem älteren Bruder im mer fügte, ergriff er gern das Wort, wenn dieser nicht wusste, was er sagen sollte. »Und sein Gesicht ist sogar noch hässlicher, als ich es in Erinnerung hatte. Aber ansonsten scheint es ihm gutzugehen.« Gil nickte. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Mpanzu mittlerwei le wohl aussah mit seinem verunstalteten Gesicht und dem fehlenden Ohr. Außerdem war er wohl beträchtlich gealtert und offenbar so fett geworden wie sein Vater. Gil empfand gegenüber dem alten Prinzen und Herrn der Nsundi keine feindseligen Gefühle; er erinnerte sich sogar mit einer gewissen Wehmut an diesen nachdenklichen und auf richtigen Mann. Zum Feind war Mpanzu ja nur deshalb geworden, weil er versucht hatte, sein Königreich gegen den bösen Zauber der weißen Männer aus dem Himmel zu verteidigen, und seine Nieder lage hatte er klaglos und mit Würde hingenommen. »Habt ihr ihn in Mpangala gesehen?« fragte Gil weiter. »Nein, er ist nicht mehr in Mpangala.« Dies war wieder Nuno, der sich lieber an die Tatsachen hielt; wenn es um Meinungen und Urteile ging, schwieg er meist. »Er hat die Stadt verlassen, als die Soldaten des Hauptmanns Rodrigues kamen.« »In Mpangala sind portugiesische Soldaten?« »Drei Hellebardiere und drei mit Feuerwaffen, Gil Janesch. Der Hauptmann hat sie mitgebracht als Begleitschutz für den Diakon und den jungen Priester José.« »Es heißt, dass der junge Priester José Angst hatte, ohne sie nach Mpangala zurückzugehen«, warf Gonçalo ein. »Er hatte angeblich Angst davor, dass die Nsundi ihn wieder überfallen, sobald er mit der Unterweisung der NtinuNsundi beginnt.« 471
»Ich verstehe.« Gil verscheuchte eine Biene. Überall summten Bienen herum, angelockt vom süßen Duft der Blüten des Roten Jasminbaums. »Mpanzu hat also die Stadt verlassen, als die Soldaten kamen.« »Nicht sofort«, fuhr Gonçalo fort. »Wir hörten, dass er in Mpangala bleiben wollte, und viele Nsundi waren auch bereit, ihn zu verstecken. Er verließ die Stadt erst, als Hauptmann Rodrigues und die weißen Soldaten anfingen, die Häuser, in denen sie ihn vermuteten, zu durch suchen und niederzubrennen.« »Rodrigues hat Häuser durchsucht und niedergebrannt? Dieser Schurke! Wer hat ihm erlaubt, das zu tun?« Auf diese Frage gaben die Brüder keine Antwort. Sie kannten die Meinung ihres Herrn über den Schiffsprofos gut genug. »Und als Rodrigues und seine Soldaten merkten, dass Mpanzu weg war, haben sie wahrscheinlich versucht, ihn zu verfolgen«, fuhr Gil fort und dachte mitleidig an den fetten, alten ManiNsundi, der nun in sei nem eigenen Land gejagt wurde. »So ist es, Gil Janesch.« »Aber sie haben ihn nicht gefunden.« Nuno lachte spöttisch auf. »Wie hätten sie ihn auch finden können! Sie sind so unbeweglich mit ihren Rüstungen und Helmen. Und sie ha ben nie gelernt, sich auf unserem Grasland und in unseren Wäldern zu bewegen. Nein, sie haben ihn nicht gefunden.« »Aber ihr habt ihn ausfindig gemacht.« Nuno zuckte bescheiden mit den Achseln und sah seinen Bruder an. »Wo ist er denn? Ist er weit von Mpangala weg? Wird er das Reich jetzt wieder verlassen?« »Nein, Gil Janesch. Wir fanden ihn nur sieben Tagereisen von Mpan gala entfernt. Er war am Lelunda entlang nach Osten gezogen und hat te in einem kleinen Nsundi-Fischerdorf Unterschlupf gefunden.« »Es heißt, dass er nach Mpangala zurückkehren will, sobald die Sol daten und Hauptmann Rodrigues abgezogen sind«, fügte Gonçalo hinzu. »Ich verstehe.« Gil ließ die Arme zwischen den Knien hindurchhän 472
gen und spielte geistesabwesend mit den Fingern in der trockenen, ro ten Erde. »Er weiß also bereits, was sie mit seiner Tochter Mfidi vor haben. Er muß schon gehört haben, dass der ManiKongo sie zu seiner Frau machen will.« »Ja, Gil Janesch, das weiß er bereits«, bestätigte Nuno. »Jeder in Mpangala weiß das inzwischen. Es hat nicht lange gedauert, bis diese Nachricht aus São Salvador eintraf, und wenn es irgendwelche Zwei fel daran gab, so sind sie ausgeräumt worden, sobald Pater Duarte und Pater José anfingen, Mfidi im Glauben zu unterweisen.« »Und deshalb will Mpanzu nach Mpangala zurückkehren, wenn die Soldaten fort sind, Gil Janesch«, sagte Gonçalo. »Er will verhindern, dass Mfidi den ManiKongo heiratet.« Gil nickte und ließ langsam eine Handvoll rote Erde zwischen den Fingern hindurchrieseln. Das hatte er erwartet. Als er von Affonsos Absicht – die ihm sicher seine Mutter in den Kopf gesetzt hatte – er fuhr, war ihm sofort klar gewesen, dass Mpanzu nicht untätig zusehen würde, wie eine seiner Töchter dazu benutzt wurde, die Position seines katholischen Halbbruders auf dem Kongo-Thron zu festigen. »Und wie will er die Hochzeit verhindern, mbakala? Habt ihr das auch in Erfahrung gebracht?« fragte Gil weiter. Die Brüder sahen sich an. »Er plant, Mfidi zu entführen«, antworte te Nuno dann. »Er will sie entführen und verstecken oder töten, bevor sie getauft oder verheiratet werden kann.« »Es heißt, die Taufe und die Hochzeit sollen frühestens um den Be ginn der Regenzeit stattfinden, vielleicht sogar noch später«, erklärte Gonçalo. »Offenbar sind der Diakon und der Bischof sich einig, dass sie mindestens so lange im Glauben unterwiesen werden muß. Damit hat Mpanzu genügend Zeit, um seinen Plan auszuführen.« »Ja, das ist richtig«, stimmte Gil zu. »Der Bischof hat es sicherlich nicht eilig damit, sie mit dem ManiKongo zu verheiraten. Er wird es zwar nicht wagen, die Schließung dieser Ehe rundweg abzulehnen, aber er wird versuchen, sie so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber was ist mit den Nsundi? Werden sie sich nicht gegen Mpanzus Plan stellen? Werden sie nicht eingreifen, wenn er seine Tochter entführen 473
oder gar ermorden will? Sie freuen sich doch bestimmt, dass eine ihrer Prinzessinnen Königin der Kongo werden soll. Schließlich hat sich der ManiKongo doch zu dieser Ehe entschlossen, weil er den Nsundi da mit entgegenkommen will.« »Was du sagst, trifft für viele Nsundi zu, Gil Janesch«, erwiderte Gon çalo. »Viele Nsundi betrachten es als eine Ehre, dass der ManiKongo eine der ihren als Königin auserwählt hat – viele, aber nicht alle. Denn es gibt auch welche, die glauben, nicht nur die Königin, sondern auch der König sollte ein Nsundi sein. Und diejenigen, die das glauben, ha ben Gewehre.« »Was?« »Mpanzu hat eine Armee aufgestellt«, erklärte Nuno. »Eine Armee, die mit Gewehren ausgerüstet ist.« »Aber wie haben sie diese Waffen bekommen?« fragte Gil verblüfft. »Wie? Nun, sie haben sie gemacht.« Natürlich – weshalb sollten sie keine Gewehre machen können? Schließlich waren sie hervorragende Schmiede und geschickt in der Behandlung von Holz. Seit sich ihre Kultur in diesem an Erzen und Wäldern reichen Land entwickelt hatte, bearbeiteten sie Kupfer, Eisen und Holz. Und die Gewehre der Portugiesen waren ihnen mittlerweile lange genug bekannt; sie hatten längst herausgefunden, wie sie funk tionierten und wie sie selbst solche Waffen bauen konnten. Natürlich konnten sie Gewehre herstellen – aber eines konnten sie nicht, auch wenn sie noch so geschickte Handwerker waren. »Und das Pulver, mbakala? Wie sind sie an das Schießpulver für die Gewehre gekommen? Das können sie doch nicht selbst machen.« »Nein, das können sie nicht. Aber sie können es sich durch Handel besorgen. Und wenn das auch nicht geht, können sie es stehlen.« Versonnen ließ Gil die rote Erde zwischen den Fingern hindurchrie seln und hing seinen Gedanken nach. »Wie viele Männer mit Feuer waffen sind es, die Mpanzu um sich geschart hat?« fragte er schließ lich. Nuno blickte zu Gonçalo, damit dieser antwortete. »Das wissen wir nicht, Gil Janesch«, erklärte er. »In dem Fischerdorf, 474
in dem Mpanzu sich versteckt hält, haben wir zweihundert Mann gese hen. Aber man sagt, es gibt in den Bergen und Savannen und Wäldern von Nsundi noch viele Hunderte, vielleicht auch Tausende von Män nern, die ebenfalls ihn für den rechtmäßigen ManiKongo halten.« Gil blickte in den wolkenlosen blauen Himmel empor. Das Bild, das er sich von Mpanzu gemacht hatte, entsprach nicht der Wahrheit. Der ManiNsundi war nicht der bemitleidenswerte Alte, für den er ihn ge halten hatte. Seit zehn Jahren schon war Mpanzu dabei, in aller Stil le eine Armee mit Feuerwaffen um sich zu scharen. Zwar würde die se Streitmacht Affonso sicher nicht stürzen können, aber sie war gewiß in der Lage, Mfidi verschwinden zu lassen, bevor Affonso sie ehelichen konnte. Vielleicht hatte Bischof de Sousa bis zu einem gewissen Grad recht; vielleicht war Mpanzu tatsächlich eine größere Bedrohung, als Affonso oder sogar Gil gedacht hatten. Vielleicht hatte Mpanzu zehn Jahre lang nur auf den richtigen Augenblick gewartet. »Das habt ihr gut gemacht, mbakala«, sagte Gil. »Damit habt ihr eu rem König einen großen Dienst erwiesen.« Die Brüder strahlten. »Nimi, geh zu Mbemba und sag ihm, dass ich zu ihm komme. Ich muß mit ihm reden.« Sie nickte und lief zwischen den Blumen und den im Sonnenlicht flirrenden Büschen und Bäumen zum Palast des ManiKongo auf der anderen Seite des Gartens. Gil und die beiden Brüder standen auf. »Ihr dürft mit niemandem über diese Sache reden, mbakala«, sag te er. »Das brauchst du uns nicht zu sagen, Gil Janesch«, antwortete Nuno. »Ihr dürft auch in der Beichte nicht darüber sprechen.« »Von uns werden die Priester sicher nichts erfahren. Nicht einmal Bischof de Sousa selbst wird ein Wort von uns zu hören bekommen.« »Gut.« Gil klopfte den Brüdern auf die Schulter. »Bleibt in der Nähe. Wir müssen noch mehr für unseren König tun.« »Wir bleiben, Gil Janesch.« Auf beiden Seiten der Treppe, die zur vorderen Veranda des Königs 475
palastes hinaufführte, waren Kanonen in Stellung gebracht. An jedem der Geschütze standen drei portugiesische Soldaten mit Helmen, Ket tenhemden und Schulterpanzern. Doch abgesehen von ihrer Funkti on als Ehrenwache hatten die Männer nichts zu tun, und so saßen sie ohne ihre Helme auf der roten Erde und vertrieben sich die Zeit mit Würfeln. Als Gil näher kam, unterbrachen sie ihr Spiel. Er grüßte sie nicht, sondern ging geradewegs auf eines der Pulverfässer zu, die hin ter den Geschützen bei den zu Pyramiden aufgeschichteten schwar zen Kanonenkugeln standen. Wie lange war es wohl her, seit jemand sich diese Fässer näher angesehen hatte? Es herrschte seit Jahren Frie den im Reich; deshalb hatte es nie einen Grund gegeben, ein Geschütz abzufeuern, und wahrscheinlich hatte sich ebensolang niemand die Mühe gemacht, den Inhalt dieser Fässer zu überprüfen. Aber wenn es auch in São Salvador Männer gab, die Mpanzu für den rechtmäßi gen Kongo-König hielten, dann konnte das Pulver aus diesen Fässern längst gestohlen oder ausgetauscht worden sein, ohne dass jemand et was bemerkt hatte. »Faga favor, cabo. Aufmachen.« Der Korporal der Wache versuchte, den Deckel des Fasses mit blo ßen Händen zu öffnen. Doch er klemmte; Wind und Wetter hatten das Fass versiegelt. Der Soldat zog sein Entermesser und stemmte den Deckel mit der Klinge auf. Dann trat er zurück und blickte Gil fra gend an. Das Fass war randvoll. Diese Feststellung erleichterte Gil. Dennoch nahm er eine Handvoll des weißen Inhalts heraus – und sofort schlug seine Erleichterung um in Entsetzen: Was er in der Hand hielt, war nicht Schießpulver, sondern Sand. Er blickte sich um. Die Krieger auf der vorderen Veranda des Pala stes – jeder fünfte von ihnen trug einen Helm und war mit einer Ar kebuse bewaffnet, was ihn berechtigte, Rationen von Schießpulver zu verlangen – waren sorgfältig ausgesuchte Männer der königlichen Wa che, die mit größter Sicherheit vertrauenswürdig waren. Aber es kam jeden Tag allerlei Volk in den königlichen Bezirk: von Höflingen mit ihren Dienern und Kriegern über Händler mit Metallwaren und fei 476
nen Stoffen, Jäger mit Wild für die Kochhäuser bis zu Marktfrauen mit Körben voller Früchte auf dem Kopf. Wer von diesen vielen un terschiedlichen Menschen konnte ein Verräter sein? Und diese por tugiesischen Soldaten, die ihre ganze Zeit mit Würfelspielen vergeu deten, waren sicherlich nicht aufmerksam genug, um zu verhindern, dass das Pulver in falsche Hände gelangte. Für die entsprechende Be zahlung würde der eine oder andere es am Ende selbst noch bereitwil lig verhökern. »Stimmt irgend etwas nicht, senhor?« fragte der Korporal. Gil antwortete nicht; er schüttelte nur den Kopf und ging weiter zum rückwärtigen Teil des Anwesens. Der Hof hinter dem Palastgebäude, ein weiterer duftender Garten in voller Blüte, erstreckte sich bis zum Rand des Plateaus, von dem aus man eine atemberaubend schöne Sicht über die Klippen des Steilhangs und auf die welligen Hügel des Graslands von Nsundi hatte. Dort sa ßen Affonso und Ines auf Matten im Gras, während ihre Kinder – die beiden Zwillingsjungen (die Thronerben), zwei ältere Mädchen und ein kleiner Junge – in der Nähe spielten. Auch hier standen Krieger auf Wache, und in gebührender Entfernung warteten eine Anzahl Diener und Höflinge in europäischer Kleidung. Der König und die Königin jedoch trugen einfache Kangas und gingen barfuß. Ein Buch lag auf dem Schoß des Königs – Gil erkannte es sofort als das unermesslich kostbare Exemplar, in das Affonso mit größter Ge wissenhaftigkeit Kongo-Wörter eintrug. Dies war seine große Leiden schaft, seine nie versiegende Obsession, der er fast all seine freien Stun den widmete: Er wollte für die Sprache der Kongo eine Schrift schaffen. Seitdem es nicht mehr genügend Priester und Ordensmissionare gab, konnten sie sich nicht mehr dieser Aufgabe widmen, weil sie ständig gegen den Einfluss der Juju-Zauberer ankämpfen mussten. Daher hat te der König selbst dieses Werk übernommen. Er hatte inzwischen ein Alphabet und Zeichen erfunden, mit denen die Aussprache des Kongo wiedergegeben werden konnte, und das beträchtliche Vokabular dieser Sprache in sein Buch eingetragen. Eine Grammatik zu erstellen war er zwar noch nicht in der Lage, doch er benutzte das Wörterverzeichnis 477
dazu, seiner Frau und seinen Kindern Lesen und Schreiben beizubrin gen. Damit waren er und Ines auch jetzt beschäftigt, doch die Königin war nicht mit vollem Herzen bei der Sache. »Keba bota, Herrin«, grüßte Gil, als er näher trat. Ines sprang sofort auf; offensichtlich kam ihr diese Unterbrechung des Unterrichts sehr gelegen. »Oh, Gil Janesch, hast du schon das Neue ste gehört? Es wird eine zweite Königin geben.« »Ja, Herrin, ich habe davon gehört«, antwortete Gil. »Ist das nicht aufregend? Pater Duarte ist gerade in Mpangala, um sie im Glauben zu unterweisen. Sie wird das Sakrament noch vor dem Be ginn der Regenzeit empfangen, und dann wird Affonso sie heiraten.« Gil sah zu Affonso, der lächelte und ebenfalls aufstand. Ines würde sich seiner zweiten Verehelichung sicher nicht in den Weg stellen; das war auch gar nicht zu erwarten gewesen, denn schließlich war sie eine echte Kongo. Für sie, wie für so viele der Bekehrten im Reich, bedeute te das Christentum kaum mehr als eine unterhaltsame Neuigkeit, eine wunderbare Zauberei, eine farbenprächtige Zeremonie mit fremdarti gen Ritualen und aufregenden Geheimnissen – einfach ein herrliches neues Spiel. Wie so viele der neuen Katholiken betrachtete auch Ines die althergebrachte Religion nach wie vor als die wahre – den Glauben an Nzambi Mpungu mit seinen Göttern und Fetischen, Geistern und Wahrsagern. Noch immer war Nzambi Mpungu der wahre Gott; der Glaube an ihn ließ sich nicht einfach auslöschen; die Menschen hatten ihn in Fleisch und Blut aufgenommen, und auch ein volles Jahrzehnt christlicher Herrschaft hatte daran nichts zu ändern vermocht. Dass ihr Gatte beabsichtigte, sich eine zweite Frau zu nehmen, konnte Ines deshalb nicht im geringsten erschüttern; im Gegenteil, es entsprach dem alten Brauch und stand mit ihren Überzeugungen und Glaubens vorstellungen völlig im Einklang. Sie war immer davon ausgegangen, dass sie eine von vielen Ehefrauen sein würde, wie schon ihre Mutter und deren Mutter zuvor. Sie war die erste Frau und die erste Königin, und die Krönung einer zweiten stellte für sie ein aufregendes Ereignis dar. Es bedeutete für sie, eine Gefährtin zu bekommen, mit der sie so wohl über ihre königlichen Pflichten wie auch über die Vertraulichkei 478
ten des Ehelebens würde reden können. Die Annullierung ihrer Ehe mit Affonso war für sie bedeutungslos; sie bedeutete niemandem et was außer den Priestern. »Sie wird natürlich einen eigenen Palast bekommen«, sagte sie jetzt fröhlich, »und meiner Meinung nach sollte er genau hier sein, zwi schen diesem und deinem auf der anderen Seite des Gartens. Denn dann können wir drei immer zusammen sein wie Schwestern, Ines und Beatriz und Mfidi … nein, nicht Mfidi. Sie wird auch einen christ lichen Namen bekommen. Wie wird sie heißen, Affonso?« »Das wird Bischof de Sousa entscheiden«, antwortete Affonso, und an Gil gewandt fuhr er fort: »Deine Dienerin sagte mir, dass du mit mir sprechen willst, Gil.« »Ja.« Gil trat näher an den Rand des Plateaus und blickte auf den Lelun da hinunter, der sich am Fuß des Steilhangs dahinschlängelte. Zehn Leguas Flussaufwärts in nordöstlicher Richtung lag Mpangala. Etwa zwanzig Leguas weiter östlich befand sich das Nsundi-Fischerdorf, in dem Mpanzu sich versteckt hielt. »Was willst du mir sagen?« fragte Affonso; er war Gil gefolgt und schaute nun ebenfalls über die Klippen hinunter. »Mpanzu will deine Ehe mit Mfidi vereiteln.« »Das klingt, als käme es von Bischof de Sousa.« Gil drehte sich um. »Verwechsle mich nicht mit Bischof de Sousa, nur weil ich auch ein Weißer bin«, erwiderte er. »Zwei meiner besten Männer haben das ausgekundschaftet.« »Nuno und Gonçalo?« »Ja.« »Gil, du weißt, dass ich keinen Hass gegen Mpanzu hege. Du weißt, dass ich ihn nicht als meinen Feind betrachte. Er tut mir leid. Ich be daure, was ich ihm angetan habe, und ich werde es bedauern bis an das Ende meines Lebens. Oft glaube ich, dass ich falsch gehandelt habe, dass ich damit niemandem einen Dienst erwiesen habe, und bitte Gott dafür um Vergebung.« »Das weiß ich.« 479
»Ich habe ihm alle Macht genommen, obwohl sie ihm rechtmäßig zustand, und ihn aus seinem eigenen Land verstoßen. Meinetwegen ist er einsam und ohne Macht – wie könnte ich ihn da als meinen Feind betrachten? Er kann mir nichts tun.« »Das dachte ich auch, Mbemba. Aber wir haben uns beide getäuscht. Er ist nicht mehr allein und ohne Macht. Er hat eine Armee von Nsun di-Kriegern um sich versammelt. Und sie sind mit Gewehren bewaff net.« »Haben Nuno und Gonçalo dir das gesagt?« »Ja. Ich habe sie nach Mpangala geschickt, und dann sind sie seinen Spuren gefolgt, bis sie ihn in einem Fischerdorf fanden. Es liegt sieben Tagereisen von Mpangala entfernt, und dort haben sie diese Dinge er fahren.« »Sprich weiter.« »Es ist noch keine sehr große Armee. Ich glaube nicht, dass es mehr als ein paar hundert Männer sind – höchstens tausend vielleicht –, und deshalb wird Mpanzu bestimmt nicht versuchen, dich direkt anzugrei fen. Dazu ist er als Krieger zu erfahren. Aber seine Streitmacht scheint groß genug zu sein, um allerhand Unheil anzurichten.« »Wie zum Beispiel, meine Ehe mit Mfidi zu verhindern.« »Genau.« »Und was sonst noch?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht geht Mpanzu davon aus, dass sein Heer im Lauf der Zeit so stark wird, dass er einen Angriff gegen dich wagen kann. Vielleicht glaubt er, wenn er deine Heirat mit Mfidi ver hindert und damit beweist, wieviel Macht er besitzt, werden sich ihm noch mehr Nsundi anschließen. Vielleicht … aber was immer er auch plant, jedenfalls wissen wir von Nuno und Gonçalo, dass er vorhat, Mfidi zu entführen oder womöglich sogar zu töten, um eure Heirat zu verhindern.« »Was würdest du mir raten?« »Vertraust du mir?« »Zweifelst du daran?« »Nein.« 480
»Ich vertraue dir«, bekräftigte der König. »Dann gestatte, dass ich der einzige bin, der weiß, was geschieht.« »Keba. Unter einer Bedingung.« »Welche?« »Was auch geschieht, Mpanzu darf nichts zustoßen. Das verbiete ich. Ich habe ihm schon zuviel Leid zugefügt.«
Mpangala lag im Dunkel; nur die Feuer der Wachposten am Stadttor zum Fluss hin verbreiteten etwas Licht, flackernde gelbe Pünktchen, die sich im reißenden schwarzen Wasser des Lelunda spiegelten. Der Mond war bereits untergegangen, aber am Himmel standen noch un zählige Sterne. Es waren die letzten Stunden der Nacht, und alle Menschen in Mpan gala schliefen – bis auf die Wachen am Flusstor. Gil kauerte ihnen ge genüber am jenseitigen Ufer des Flusses und schaute über das Wasser auf die Nsundi-Stadt; um ihn herum quakten Baumfrösche, und Zika den verbreiteten ihr einschläferndes, metallisches Zirpen. Einige Hun dert Fuß zu seiner Rechten Flussaufwärts war eine kleine Herde Ga zellen zum Trinken an den Fluss gekommen. Ein Stück hinter ihm, in südlicher Richtung, ragten die roten Felsen des Steilhangs in den Him mel. Im Westen, zu seiner Linken, machte der Lelunda einen scharfen Bogen und verschwand hinter den Klippen. Die Stadt Mpangala hatte sich durch die Ankunft der weißen Män ner ebenso wenig verändert wie ihr Name. In ihrem anfänglichen En thusiasmus hatten die Portugiesen ihre Bemühungen, das riesige Kon go-Reich zu zivilisieren, aus naheliegenden Gründen auf den Seehafen Mpinda und die Hauptstadt Mbanza Kongo konzentriert; Mpangala und den anderen bedeutenden Städten und Dörfern des Reiches soll ten die Segnungen des europäischen Christentums erst in einer zwei ten Phase der Entwicklung zuteil werden. Doch wegen der Entdeckung des Seeweges nach Indien war diese zweite Phase nie eingetreten. Im Lauf der Jahre hatten sich zwar immer wieder einmal Missionare in 481
Mpangala angesiedelt, um die Bewohner zu bekehren – der junge Pater José war nur der bislang letzte einer ganzen Reihe –, doch die Stadt be saß nach wie vor keine Kirche, nach der sie umbenannt hätte werden können. Auch hatte keine Mauer aus Eisenstein die hölzernen Palisa den abgelöst, die sie umgaben, weder Kanonen noch Mörser bewach ten ihre Tore, keine portugiesischen Händler hatten sich in ihr nieder gelassen, und der Häuptling, der sie regierte, war bestenfalls dem Na men nach Katholik. »Gil Janesch.« Gil drehte sich auf den Fersen um und spähte Flussaufwärts. Die Ga zellen waren verschwunden. Ein Kanu kam den Fluss herunter; das leise Geräusch seines Paddels hatte die Tiere verscheucht. »Nuno?« »Ja. Gil Janesch.« Gil stand auf und watete knöcheltief ins Wasser. Im Bug des Kanus lehnte Nuno auf seiner Arkebuse. Gonçalo kniete im Heck und pad delte; seine Hakenbüchse hatte er sich quer über die Schenkel gelegt. Gil hatte nur sein Messer mit dem Elfenbeingriff dabei. Als das Kanu nahe genug war, packte er es am Bug und hielt es fest. »Ist Mpanzu noch in dem Fischerdorf, mbakala?« fragte er. »Ja, Gil Janesch.« »Und hat er mittlerweile mehr Krieger?« »Nein, Gil Janesch. Es sind noch immer genauso viele, wie wir das letztemal gezählt haben. Zweihundert. Zwanzig von ihnen haben Ge wehre. Aber es ist jetzt ein großer und bedeutender Fetisch im Dorf. Er muß hingebracht worden sein, nachdem wir dort waren.« »Was für ein Fetisch ist das?« »Das wissen wir nicht, Gil Janesch. Aber er ist so groß und bedeu tend, dass er sogar ein eigenes Haus hat.« »Ist es ein Kriegsfetisch?« »Wohl eher nicht, Gil Janesch. Mpanzu bereitet sich nicht auf einen Krieg vor. Er wartet nur in dem Fischerdorf darauf, dass Hauptmann Rodrigues und seine Soldaten aus Mpangala abziehen.« Sie hatten den Lelunda innerhalb weniger Minuten überquert. Die 482
Wachen am Flusstor verließen ihre Feuer und kamen ans Ufer her unter; es waren junge Nsundi-Krieger, die mit Lanzen und Schilden bewaffnet waren. Möglicherweise waren sie überrascht, Gil zu sehen, denn er kam nur selten nach Mpangala; doch sie erkannten ihn sofort und halfen, das Kanu an Land zu ziehen. »Ich will zu Hauptmann Rodrigues«, erklärte Gil ihnen. »Wo wohnt er?« »Im Haus des weißen Priesters José«, antwortete einer der Wachpo sten. »Am großen Marktplatz.« Zwei Hellebardiere waren auf dem Platz. Offenbar sollten sie Pater Joses Haus auf der Ostseite des Platzes bewachen, doch irgendwann im Verlauf der langen, ereignislosen Nacht waren sie zu dem Brunnen in der Mitte hinübergegangen, hatten die Helme abgenommen und die Hellebarden beiseite gelegt, und nun schliefen sie unter dem großen al ten Affenbrotbaum neben dem Brunnen. Sie rührten sich nicht, als Gil und die beiden Brüder zu ihnen gingen. Bevor Gil sie weckte, sah er sich um und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Von hier aus konnte man das Nordtor sehen; mit Sicherheit wa ren auch dort Wachen postiert. Auf den Veranden der Häuser an der Westseite des Platzes standen ebenfalls Krieger, denn diese von Pali saden umschlossenen Gebäude bildeten das Anwesen des Häuptlings von Mpangala mit seiner Familie und seinem Hofstaat. In einem dieser Häuser lebte Mfidi a Mpanzu mit ihrer Mutter, Mpanzus jüngster Frau. Und wahrscheinlich wohnte auch Pater Duar te, der Diakon, dort und nicht bei Pater José auf der anderen Seite des Platzes, denn so konnte er die religiöse Unterweisung des Mädchens besser überwachen. In welchem Haus genau die Prinzessin lebte, wus ste Gil allerdings nicht; er hatte die komplizierten Machtspiele nicht verfolgt, die sich zwischen den Angehörigen der Nsundi-Hierarchie nach Mpanzus Niederlage und Verbannung abgespielt hatten. Ihm war lediglich bekannt, dass der neue Häuptling von Mpangala der äl teste Bruder von Mpanzus jüngster Frau war – also ein Onkel Mfidis mütterlicherseits –, dass er zum Christentum übergetreten war, den Namen Bernardo angenommen und Affonso Treue geschworen hatte. 483
Mpanzus anderem Titel, dem des Mani-Nsundi, des Herrn aller Nsun di, hatte er jedoch entsagt und mit eigenartiger Bescheidenheit erklärt, dieser Titel stehe ihm nicht zu. Da er aber seine Schwester und deren Kinder, einschließlich Mfidi, davon abgehalten hatte, Mpanzu in die Verbannung zu folgen, hatte er jegliche Zweifel an seiner Loyalität, die dieser eigenartige Verzicht hätte wecken können, von vornherein zer streut. »Bom dia, soldados.« Die beiden Soldaten wachten gleichzeitig auf, sprangen auf die Füße und griffen nach ihren Helmen und Hellebarden. In dem blassen Ster nenlicht erkannten sie Gil nicht sofort; da er barfuß war und eine Kan ga trug, hielten sie ihn zunächst für einen Kongo und senkten drohend ihre Waffen. »Hauptmann Rodrigues ist wohl nicht mehr in Mpangala, soldados?« herrschte Gil die beiden an und schlug mit der flachen Hand eine der Hellebarden zur Seite. »Ist das der Grund dafür, dass ihr meint, ihr müßtet nicht mehr Wache stehen?« Jetzt erkannten sie ihn. »Santa Maria, desculpe-me, senhor«, stam melte der eine. »Wir haben nicht gesehen, dass Ihr es seid.« »Wie könntet ihr das auch sehen, wenn ihr schlaft, ihr faulen Hun de!« »Nein, senhor, es war nur …« »Geht auf eure Plätze, bevor der Hauptmann aufwacht und euch ver prügeln läßt!« schnauzte Gil die beiden an. »Sofort, senhor.« Sie hasteten über den Platz und nahmen ihren Posten auf der Veran da von Pater Joses Haus ein. Dort waren sie noch immer im Blickfeld, und womöglich konnten sie Gil auch hören, aber dass sie Kongo ver standen, war äußerst unwahrscheinlich. Gil beachtete sie nicht weiter. »Welches ist das Haus der NtinuNsundi, mbakala?« fragte er die bei den Brüder. »Das da drüben, Gil Janesch. Hinter dem des Häuptlings mit den drei Giebeln.« Nuno zeigte mit dem Kinn auf Mfidis Haus; er wusste, dass es besser 484
war, nicht allzu auffällig zu gestikulieren, wenn die portugiesischen Soldaten sie sehen konnten. Das Haus war klein; es hatte nur einen Dachgiebel und befand sich unweit der Palisadenmauer. Drei Krieger standen auf seiner Veranda und beobachteten Gil und die Brüder. »Keba. Wartet hier auf mein Zeichen, wie wir es vereinbart haben.« Nuno und Gonçalvo nickten; dann gingen sie zur Nordseite des Af fenbrotbaumes und setzten sich an den Brunnen. Gonçalo zog den Wasserbehälter aus Ziegenleder hoch, und beide tranken daraus. Gil sah zum Himmel hinauf. Bis zum ersten Tageslicht waren es noch gut zwei Stunden. Er ging zu Pater Joses Haus hinüber; die Hellebardiere auf der Ve randa nahmen daraufhin sofort Haltung an. Gil ignorierte sie und ging nach hinten zum Kochhaus. »Werdet Ihr das Dom Tomé melden, senhor?« rief einer der beiden besorgt hinter ihm her. »Was melden?« »Obrigado, senhor.« Das Kochhaus war leer, die Asche in der Feuerstelle vor dem Haus erkaltet. Die kleinen Hütten der Diener des Priesters waren verschlos sen und dunkel; das einzige Geräusch war das Scharren und Schnau ben der Tiere im Hof. Plötzlich zerriß ein heiserer Schrei die Stille und erstarb dann zu ei nem erstickten Wehklagen. Gil war überrascht; dieser Schrei konnte nichts mit seinem Plan zu tun haben. Er wirbelte herum, seine Hand fuhr wie von selbst an den Griff des Messers. Dann ertönte ein zweiter Schrei, der ebenso kläg lich verklang. Er kam vom Nordtor. Gil lief um das Haus des Priesters herum auf den Marktplatz zurück. Nuno und Gonçalo am Brunnen sprangen auf; die beiden Hellebardiere verließen eilig die Veranda. Ein dritter Schrei wurde laut, und im selben Moment öffneten die Krie ger am nördlichen Zugang zur Stadt das Tor. Die Hellebardiere rann ten darauf zu und schrien nach Verstärkung, worauf die vier anderen Soldaten von Rodrigues' Kontingent aus ihrem Quartier im Haus des 485
Priesters stürzten. Kurz danach erschien Rodrigues selbst auf der Ve randa; er war in Strümpfen, nur halb angezogen, und schnallte sich gerade das Entermesser um; gleichzeitig blickte er verwirrt um sich, ohne jedoch Gil zu entdecken. Als er sah, dass das Nordtor offenstand, eilte er hinter seinen Soldaten her dorthin. Im nächsten Augenblick kam Pater José aus dem Haus; er zog gerade noch seine Soutane über und lief dann hinter Rodrigues her. Gil schaute über den Platz auf das Anwesen des Häuptlings. Dort hatte sich inzwischen eine Gruppe von Leuten versammelt, die der Aufruhr geweckt hatte; unter ihnen befand sich auch Pater Duarte mit seiner weißen Soutane. Eines der Mädchen, die um den Diakon her umstanden, war so gut wie sicher Mfidi. Nuno und Gonçalo verhiel ten sich bewundernswert diszipliniert; sie waren unter dem Affenbrot baum stehengeblieben und warteten noch immer auf ein Zeichen von Gil. Er winkte ihnen, und während sie sich durch die Menge zum An wesen des Häuptlings drängten, lief er zum Nordtor hinüber, um selbst nachzusehen, was dort vor sich ging. »Was macht Ihr denn hier, senhor?« fragte Rodrigues erstaunt, als Gil näher kam. Gil gab keine Antwort, sondern blickte zum Tor hinaus. Ein ein zelner Läufer kam über die Königsstraße auf die Stadt zugerannt; er schwang einen Langbogen über dem Kopf und schrie etwas. Er kam von Norden, aus dem Urwald der Mbata, und war noch ein ganzes Stück entfernt, so dass man seine Rufe nicht verstehen konnte. Aber selbst im blassen Licht der Sterne erkannte man, dass er ein Soyo war; man sah es an dem langen Bogen, seinem Köcher und der dunkel blauen Kanga. Dann bemerkte Gil, dass der Krieger doch nicht al lein war: Ein Stück hinter ihm liefen noch einmal zwei Männer, aber sie kamen wesentlich langsamer voran. Es waren portugiesische Sol daten mit ihren schweren Rüstungen und Gewehren. Sicher gehörten sie der Garnison in Santo Antonio do Zaire an; einen Augenblick lang dachte Gil, der Soyo-Krieger sei vielleicht irgendein Verräter aus die sem Ort, den die Portugiesen verfolgten. Doch dann hörte er, was der Soyo schrie. 486
»Bwato!« rief er. »Bwato! Große, geflügelte bwato kommen auf dem nzere.« »Versteht Ihr, was er sagt, Senhor Eanes?« Gil drehte sich um. Es war Pater Duarte, der diese Frage stellte. Gil blickte zum Anwesen des Häuptlings, um festzustellen, ob Nuno und Gonçalo Mfidi ausfindig gemacht hatten. Aber er konnte nichts erken nen; die aufgeregte Menge, die inzwischen aus der ganzen Stadt vor dem Tor zusammengelaufen war, versperrte ihm die Sicht. »Er sagt bwato!« rief plötzlich Pater José. »Schiffe. Er sagt, Schiffe kommen zum Zaire.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Rodrigues. Gil trat durch das Tor und ging dem Läufer entgegen. Rodrigues und die beiden Priester eilten ihm nach. Daraufhin verlangsamte der schwer atmende Läufer sein Tempo. »Bwato«, wiederholte er leiser. »Viele große, geflügelte bwato der Por ta Gies kommen zum nzere, Gil Janesch.« »Wie viele bwato sind es?« fragte Gil und legte dem Krieger eine Hand auf die Schulter, damit er stehenblieb. »Fünf«, antwortete der Soyo, noch immer keuchend. »Vor sechs Ta gen wurden ihre großen weißen Flügel an der Küste des Meeres ge sehen. Es heißt, sie werden Santo Antonio in vier oder fünf Tagen er reichen, wenn das Wetter sich nicht ändert. Es sind seit mehr als zwei Jahren die ersten bwato, die den Hafen anlaufen.«
KAPITEL 3
D
as Flaggschiff dieser völlig überraschend eintreffenden Flotte war eine caravela de armada, ein viermastiges Schiff von zweihundert Tonnen, das vom Bug zum Heck über achtzig Fuß maß und mit zwan zig Bombarden auf dem Hauptdeck bestückt war. Drei waren kleinere, dreimastige caravelas redondas von ungefähr hundert Tonnen mit 487
Feldschlangen und Bombarden. Und das fünfte war eine unbewaffne te penaça, ein Schiff mit zwei Masten, beide mit Lateinersegeln, das als das Versorgungsschiff der Expedition diente. Gedrängt in der Bucht vor Santo Antonio do Zaire vor Anker liegend, boten sie einen beein druckenden Anblick. Nie zuvor hatten so viele Schiffe gleichzeitig hier angelegt. Gil marschierte neben der Vorhut der königlichen Karawane, die auf der am Fluss entlangführenden Straße von São Salvador herun terkam, als er die Schiffe zum erstenmal sichtete; sie ankerten vor Topp und Takel ungefähr siebenhundert Fuß vor der Küste, und ihre Flag gen flatterten in einer steifen Brise, die an diesem frühen Morgen von der See hereinwehte. Offenbar waren sie schon vor einiger Zeit in den Hafen eingelaufen. Seltsam war allerdings, dass – soweit Gil es beurtei len konnte – weder Offiziere noch Mannschaften von Bord gegangen waren, und auch die Ladung war noch nicht gelöscht worden. Gil ging zu Fuß. Den größten Teil der gut zweiwöchigen Reise von São Salvador hatte er zwar in einer Sänfte zurückgelegt, aber sobald Santo Antonio in Sicht gekommen war, hatte er diese verlassen und sich an die Spitze des Zuges begeben, um in Erfahrung zu bringen, weshalb der portugiesische König nach den vielen Jahren, in denen er die Kongo vernachlässigt hatte, plötzlich eine so große Flotte an den Zaire sandte. Affonso wurde dem Protokoll gemäß noch immer getra gen, ebenso wie Bischof de Sousa. Rodrigues jedoch hatte mittlerweile auch auf seine Sänfte verzichtet. Während die Karawane auf den gro ßen Marktplatz des Ortes einbog, folgte er Gil an das Wasser hinunter, um die sonderbar ruhig daliegenden Schiffe aus der Nähe zu betrach ten. Ein Soldat der Festung von Santo Antonio in Helm und Ketten hemd, mit einem Entermesser und einem Fernrohr ausgerüstet, eilte auf die beiden Ankömmlinge zu und grüßte. »Was ist hier los, cabo?« fragte Rodrigues ihn. »Warum ist niemand von diesen Schiffen an Land gekommen?« »Diese Frage kann ich Euch nicht beantworten, Marschall. Als sie die Anker auswarfen, fuhren wir zu ihnen hinaus, wie wir es immer getan haben, doch sie gaben einen Warnschuß ab, um uns fernzuhal ten.« 488
»Sie haben tatsächlich mit einer Kanone auf euch gefeuert? Gib mir mal das Glas.« Rodrigues nahm das Fernrohr und betrachtete die Flot te eingehend. Gil sah sich um. Die Edelleute vom Hof des ManiSoyo hatten sich in ihren feinsten portugiesischen Gewändern unter der riesigen Pal me in der Mitte des Marktplatzes versammelt, um die königliche Ka rawane zu empfangen. Als die Sänften abgestellt wurden und Affon so und Bischof de Sousa, ebenfalls vornehm gekleidet, ausstiegen, er schollen Kuduhörner, Tänzer begannen sich im pulsierenden Rhyth mus der Trommeln zu bewegen, und der ManiSoyo trat vor. Die neue Ordnung im Reich verlangte nicht mehr, dass er sich vor dem ManiKongo auf die Erde warf und den Nacken für die Berührung der kö niglichen Lanze entblößte. Statt dessen ließ er sich nach europäischer Art auf ein Knie fallen, ergriff die Hand des Königs und küßte sie; dann wiederholte er diese Geste beim Bischof. Es war nicht mehr der alte Soyo-Herrscher. Zufrieden, dass er dazu beigetragen hatte, den Zauber der weißen Männer in das Kongo-Reich zu bringen, war der alte, weißhaarige ManiSoyo vor vielen Jahren sanft entschlafen. Sein Nachfolger war einer seiner Großneffen (und ein Vet ter von Ines), ein kleiner, schwächlich wirkender Mann, der etwas jün ger war als Affonso und Gil; womöglich zählte er noch nicht einmal dreißig Jahre. Doch er galt als ebenso klug wie seine Blutsverwandte, die Königinwitwe Leonor. Wegen des Bündnisses, das sein Großon kel schon früh mit den Portugiesen geschlossen hatte, aber auch durch seine bedeutende Stellung als Herrscher von Santo Antonio, dem Um schlagplatz für den gesamten Handel mit Europa, war er unter der neu en Ordnung zu Wohlstand gekommen. Zumindest aus diesem Grund war Jorge – so sein christlicher Name – ein ergebener Katholik und da mit ein eingeschworener Feind von Mpanzu und allen anderen Geg nern der Portugiesen. »Heilige Muttergottes!« stieß Rodrigues plötzlich hervor. Gil drehte sich zu ihm um. »Was ist los?« fragte er. Der Hauptmann ließ das Fernrohr sinken. »Die Pest«, sagte er. »Was?« 489
»Diese Schiffe haben die Pest an Bord, senhor. Deshalb ist niemand an Land gekommen. Seht es Euch selbst an.« Er reichte Gil das Fernrohr. »Die Mannschaften müssen warten, bis sie vorüber ist, bevor sie an Land gehen können.« Gil spähte durch das Rohr auf das Flaggschiff und wusste sofort Be scheid. An der Spitze des Großmasts, über der königlichen Standar te, flatterte die schwarze Pestflagge im Morgenlicht. Er selbst war noch nie mit dem gefürchteten Schwarzen Tod in Berührung gekommen, der in jenen Jahren immer wieder Europa heimsuchte, doch er hatte zahlreiche Geschichten darüber gehört – wie die Krankheit durch ei nen Matrosen an Bord eines Schiffes gelangen konnte, der nicht wusste oder aber nicht verriet, dass er angesteckt war; wie sie plötzlich, meist weit draußen auf hoher See, auszubrechen pflegte, Mannschaften und Offiziere dahinraffte und jedes Schiff manövrierunfähig machte. Si cher war genau das auch bei diesen Schiffen geschehen. Die Pest mus ste aufgetreten sein, als die Flotte bereits zu weit von Lissabon entfernt war, um noch kehrtmachen zu können, oder sogar erst, nachdem sie São Jorge da Mina längst hinter sich gelassen hatte. Womöglich war das Ziel dieser Schiffe nicht einmal der Zaire gewesen; vielleicht waren es Indienfahrer, die zu den Gewürzinseln und nach Cathay unterwegs waren und erst südlich von São Jorge da Mina entdeckt hatten, dass die Pest an Bord war. Daraufhin hatten sie wohl den Kurs geändert, weil Santo Antonio der nächste Hafen war, den sie anlaufen konnten. Das hätte zumindest erklärt, weshalb eine Flotte hier angelegt hatte, deren Größe alle bisherigen in den Schatten stellte. »Wie lange dauert es, bis sie vorüber ist?« fragte Gil und ließ das Fernrohr sinken. »Das kann man nicht sagen, es ist jedesmal anders. Manchmal müs sen alle Mann an Bord sterben, dann wieder nur ein paar Leute.« Die Trommeln und Hörner auf dem Marktplatz verstummten. Die Begrüßungszeremonie war beendet, und Affonso, Bischof de Sousa und der ManiSoyo kamen zum Ufer. »Dom Jorge«, grüßte Gil und verbeugte sich höflich. »Ich habe Seiner Majestät soeben erklärt, dass diese Schiffe uns nicht 490
in ihre Nähe lassen, Senhor Eanes.« Der ManiSoyo war nicht nur kör perlich klein und etwas schwächlich; er hatte auch eine entsprechen de Stimme. »Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb. Es hat uns so sehr gefreut, dass so viele kamen, und wir sind sofort hinausgefahren, um sie zu begrüßen. Aber sie wollten uns nicht herankommen lassen. Was mag der Grund dafür sein? Wißt Ihr es vielleicht, senhor?« Gil sah zu Rodrigues. Der Schiffsprofos war einige Schritte zurück getreten und unterhielt sich im Flüsterton mit dem Bischof. »An Bord der Schiffe ist eine Krankheit, Dom Jorge«, antwortete Gil. »Sie haben euch wegen der Ansteckungsgefahr nicht in ihre Nähe ge lassen.« »Was für eine Krankheit ist das?« »Die Portugiesen nennen sie peste«, erklärte Gil, und da die Kongo dieses Wort nicht kannten, fügte er hinzu: »Der Schwarze Tod.« »Der Schwarze Tod?« wiederholte Jorge, und ein Zittern lief durch seinen Körper. »Woher weißt du das?« fragte Affonso. »Sie haben Flaggen aufgezogen, um uns zu warnen.« Gil reichte sei nem Freund das Fernrohr. »Siehst du die schwarzen Flaggen an den Großmasten? Sie sind das Zeichen dafür, dass der Schwarze Tod an Bord ist. Sobald die Krankheit vorüber ist, holen sie die Flaggen ein, und erst dann kommen die Männer an Land.« »Aber sie kommen jetzt«, erwiderte Affonso und gab Gil das Fern rohr zurück. Das große Beiboot des Flaggschiffs war querab an Steuerbord beige bracht worden, und vom Spardeck aus kletterten Männer hinein. Eini ge konnten wegen der langen Ruder, die sie mitführten, nur Matrosen sein; andere waren an ihren in der Sonne glänzenden Rüstungen als Soldaten zu erkennen. Auch ein Priester war dabei, dessen weiße Sou tane im Wind flatterte. Zwei der Männer waren Offiziere mit federge schmückten Helmen; der eine von ihnen schien sich beim Hinabklet tern der Strickleiter schwer zu tun, denn der Priester stützte ihn. »Hauptmann.« Gil reichte Rodrigues das Glas und zeigte auf das Was ser hinaus. »Kann es sein, dass die Pest bereits vorüber ist?« fragte er. 491
Rodrigues setzte das Fernrohr ans Auge, aber das war gar nicht nö tig. Man konnte bereits so ausmachen, dass das Beiboot auf das Ufer zuhielt. Einer der Offiziere stand im Bug; er trug einen Schulterpanzer und stützte sich auf sein Schwert. Sechs Ruderer trieben das Fahrzeug voran; zwischen ihnen hockten zwei Soldaten auf den Bänken, die Ge wehre griffbereit auf den Schenkeln. Der zweite Offizier saß auf der Bank im Heck, und der Priester kniete hinter ihm; es hatte den An schein, als würde der Geistliche ihn beinahe in den Armen halten. Er hatte zwar einen Helm auf, aber er trug keinen Brustpanzer und war in eine graue Decke gehüllt. Der Priester hielt den Kopf gesenkt, so dass die breite Krempe seines Hutes einen Schatten auf das Gesicht des Of fiziers warf. Als sich das Boot dem Ufer näherte, wateten einige Soyo-Krieger ins Wasser, um es an Land zu ziehen, doch der Offizier im Bug bedeute te ihnen mit dem Schwert, fernzubleiben. Verwirrt blickten die Män ner auf den ManiSoyo. »Geht weg«, rief Gil ihnen zu. »Kommt zurück an Land.« Er ergriff Affonso am Arm und trat mit ihm ebenfalls einige Schritte zurück. Die Matrosen holten die Ruder ein, die Soldaten sprangen aus dem Boot und hievten es ans Ufer. Dann stieg der Offizier im Bug aus, ein dürrer, zahnloser Mann mit ungepflegtem, schwarzem Bart, pocken narbiger Haut und blitzenden, dunklen Augen. Aber zumindest schien er gesund zu sein. Er schaute zurück zu dem anderen Offizier und mu sterte dann die Männer am Strand. Bischof de Sousa und Rodrigues erkannte er offenbar an ihrer Kleidung, aber dessenungeachtet ruhte sein Blick auf Affonso. Der König war größer und kräftiger gebaut als die anderen Männer und in seinem karmesinroten Wappenrock eine auffallende, imposante Erscheinung. »Dom Affonso? ManiKongo?« fragte er schließlich. »Ja«, erwiderte Affonso. »Und wer seid Ihr, senhor?« Der Mann nahm seinen Helm ab, machte eine schwungvolle Ver beugung und sank auf ein Knie. »Eure Majestät, ich bin Alvaro Lo pes, der stellvertretende Befehlshaber dieser Flotte, die Emanuel der Glückliche, König von Portugal, zu Euch gesandt hat.« 492
»Emanuel der Glückliche? Ist Johann der Zweite nicht mehr König der Portugiesen?« »Nein, Eure Majestät.« Lopes setzte den Helm wieder auf und erhob sich. »Es ist meine traurige Pflicht, Euch mitzuteilen, dass Johann vor zwei Jahren verschieden ist.« »Aber wer ist Emanuel der Glückliche?« »Ein Vetter Johanns.« »Ein Vetter von Johann? Weshalb ist ihm denn nicht sein Sohn, der Infant Affonso, nach dem ich benannt wurde, auf den Thron gefolgt?« Lopes sah zu Bischof de Sousa und erklärte dann: »Solche Dinge gesche hen nun einmal, Eure Majestät. Ich bin mir sicher, Seine Gnaden werden das verstehen. Aber ich bin nur ein einfacher Schiffskapitän; es obliegt mir nicht, die Dinge darzulegen, die sich am Hof in Sintra abspielen.« Der Bischof nickte wissend. Er verstand die Andeutung des Mannes. Und auch Gil wusste Bescheid: Am portugiesischen Königshof war eine Intrige gesponnen worden, was man selbst eine halbe Welt ent fernt nicht unbedingt gutheißen konnte. »Ist der Wechsel friedlich verlaufen, Dom Alvaro?« fragte Bischof de Sousa. »Es hat kein Blutvergießen gegeben, falls Ihr das meint, Euer Gna den. Nach meinem Wissen ist der Infant Affonso noch am Leben. Mehr kann ich dazu allerdings nicht sagen.« »Dann lassen wir es damit auf sich beruhen. Uns genügt es zu wis sen, dass ein neuer König auf dem portugiesischen Thron sitzt und dass es Emanuel der Glückliche ist – möge er lange regieren. Wir dan ken ihm dafür, dass er diese ungewöhnlich eindrucksvolle Expedition zu uns gesandt hat.« »Aber hat er sie denn zu uns gesandt, Dom Alvaro?« erkundigte sich Gil. »Seid Ihr Gil Eanes?« fragte Lopes. »Ja.« »Ah, Senhor Eanes, ich freue mich, Euch kennenzulernen. In Lissa bon wird viel von Euch gesprochen.« »Viel Gutes, hoffe ich doch.« 493
»Com certeza.« »Sind Eure Schiffe nicht nach Indien unterwegs, Dom Alvaro? Seid Ihr nicht mit diesem Ziel aufgebrochen und habt unseren Hafen nur wegen der Pest angesteuert, die Ihr an Bord habt?« »O nein, Senhor Eanes. Es stimmt zwar, dass wir die Pest an Bord haben, aber wir wollten von Anfang an ins Kongo-Reich. Diese Schif fe wurden unter großen Kosten von König Emanuel speziell für diese Reise ausgerüstet.« »Dann muß König Emanuels Interesse an diesem Reich wesentlich größer sein als das König Johanns. Denn der hat uns nie so viele Schif fe gesandt.« »So ist es, senhor. Sein Interesse am Kongo-Reich ist in der Tat sehr groß.« »Und weshalb? Ist der Handel mit Indien nicht mehr so einträglich wie früher?« »Doch, der Handel mit Indien ist für die Krone nach wie vor ein ge winnbringendes Geschäft. Aber König Emanuel geht davon aus, dass sich auch hier große Reichtümer erschließen lassen.« Gil blieb hartnäckig. »Welche Reichtümer denn? Welche Reichtü mer, die König Emanuel noch nicht besitzt, lassen sich seiner Meinung nach im Kongo-Reich erschließen?« »Warum fragst du das, Gil?« unterbrach Affonso. Er sprach Kongo, damit Lopes ihn nicht verstehen konnte. »Hegst du einen Argwohn ge gen diesen Mann und seine Schiffe?« Gil dachte einen Augenblick lang über den Verdacht nach, den er tatsächlich hegte, und entschied, dass es sehr wenig Grund dafür gab. Warum sollte ein neuer König schließlich nicht andere Interessen ver folgen als sein Vorgänger? Vielleicht schätzte Emanuel ja Palmöl und Holz, Elfenbein und Felle aus dem Kongo-Reich ebenso sehr, wie Jo hann eine Vorliebe für die Seiden und Gewürze Indiens gehabt hatte. Er schüttelte den Kopf. »Ihr sagt, dass Ihr der stellvertretende Befehlshaber dieser Flotte seid, Dom Alvaro«, sagte Affonso jetzt wieder auf Portugiesisch. »Wer ist denn ihr Kapitän?« 494
»Simão da Silva, Ritter des Christusordens. Er ist hier im Beiboot, Eure Majestät. Leider kann er sich Euch nicht angemessen vorstellen, denn er liegt im Sterben. Der Schwarze Tod läßt ihm nicht mehr viel Zeit.« Aller Augen wandten sich dem Offizier zu, der in den Armen des Priesters im Boot lag. Er hatte weiße Haare und einen weißen Bart, und man konnte ihm ansehen, dass er einmal ein kräftiger Mann ge wesen war, doch die Krankheit hatte ihn schwer gezeichnet. Sogar aus dieser Entfernung war erkennbar, wie die hässlichen Pestbeulen sein Gesicht grotesk entstellten und verfärbten. Der Priester fuhr immer wieder mit einem Tuch darüber, das er in den Fluss tauchte. »Er wollte bis jetzt nicht an Land kommen, Eure Majestät, in der Hoffnung, dass er sich wieder erholen würde und sich Euch vorstellen könnte, wie es sich geziemt. Aber heute morgen wurde ersichtlich, dass er den Tag wohl nicht überleben wird, und deshalb befahl er mir, ihn sofort zu Euch zu bringen. Er ersucht Euch dringend um eine Audienz, damit er als seine letzte Tat Euch persönlich die Grüße des neuen Kö nigs von Portugal und das Versprechen einer Erneuerung und Festi gung des Bündnisses übermitteln kann, wofür diese große Expedition ein Zeichen sein soll. Wollt Ihr zu ihm gehen?« »Ich glaube, das wäre sehr unvorsichtig, Eure Majestät«, wandte Bi schof de Sousa ein. »Der Mann ist todkrank. Ihr liefet Gefahr, Euch bei ihm anzustecken.« »Hat der Priester, der bei ihm ist, die Krankheit ebenfalls, Dom Al varo?« fragte Affonso. »Nein, Eure Majestät, er ist so gesund wie ich«, erwiderte Lopes. »Und er scheint keine Angst vor einer Ansteckung zu haben.« »Pater Henriqué ist ein tapferer junger Mann, Eure Majestät. Er hat den Kapitän und alle Männer der Flotte betreut, seit uns auf See die Pest befallen hat.« »Dann kann ich zumindest ebenso mutig sein wie er«, meinte Affon so und ging zu dem Boot. Lopes begleitete ihn, und nach einem Augenblick des Zögerns schloss auch Gil sich an. De Sousa und Rodrigues jedoch blieben am Ufer ste hen. 495
»Herr Kapitän, Seine Majestät ist hier«, sagte Lopes halblaut. »Wacht auf, Herr Kapitän, der König des Kongo ist gekommen, um Euch die Audienz zu gewähren, um die Ihr ersucht habt.« Mit sichtlicher Mühe öffnete Simão da Silva die Augen, aber er war wohl nicht mehr fähig, noch etwas deutlich wahrzunehmen. »Eure Majestät … Dom Affonso, ManiKongo …«, brachte er in einem kaum hörbaren Flüstern hervor. »Ich danke Gott dafür, dass Er mir erlaubt, lange genug zu leben, um Euch im Namen meines Königs zu grüßen … Versteht er mich, Dom Alvaro? Ist jemand hier, der für ihn übersetzen kann? Soll ich lateinisch sprechen? Wäre das nicht besser?« »Ihr könnt portugiesisch oder lateinisch sprechen, Dom Simão«, sag te Affonso. »Ich verstehe beide Sprachen.« »Ah ja, natürlich. Schon in Lissabon habe ich gehört, dass Ihr ein sehr gebildeter Mann seid und sowohl Portugiesisch als auch Latei nisch fließend beherrscht. Deo gratias.« Da Silva versuchte, sich in eine sitzende Position hochzustemmen, doch es kostete ihn so viel Kraft, dass fettige Schweißperlen auf seine Stirn traten. »Eure Maje stät … ich danke Gott dafür, dass Er mir erlaubt hat, lange genug zu leben, um Euch … um Euch mit eigener Hand dieses regimento von König Emanuel von Portugal zu überreichen. Dieses regimento … wo ist das regimento, Padre? Ich muß es dem ManiKongo eigenhändig übergeben.« »Erregt Euch nicht, Dom Simão«, sagte der Priester. »Das regimen to ist hier.« Eine Schriftrolle aus Pergament, die mit einem purpurnen Band ver schlossen war und auf deren rotem Siegel das königliche Wappen schild prangte, lag auf der Decke quer über da Silvas Schoß. Der Prie ster schob sie sanft in die Hand des Kapitäns. »Eure Majestät, dieses regimento, das ich Euch hiermit persönlich überreiche, wie mein König es mir befohlen hat …« Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und schloss dann die Augen; seine Finger umschlos sen fest das Dokument, als müsse er gegen eine Woge des Schmerzes ankämpfen. »Eure Majestät, dieses regimento leitet eine Erneuerung und Festigung des Bündnisses zwischen unseren Reichen ein …« Sei 496
ne Finger gaben nach, die Rolle glitt aus seiner Hand, und er fiel in die Arme des Priesters zurück. Affonso warf einen Blick auf Lopes. »Herr Kapitän.« Da Silva flüsterte etwas. »Was wollt Ihr sagen, Herr Kapitän?« »In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum.« »Er stirbt«, sagte der Priester leise. »Beichtet Eure Sünden, Dom Simão. Bereut um Eurer Seele willen, Ihr habt keine Zeit mehr zu ver lieren.« Als da Silva nicht reagierte, sprach der Geistliche das Gebet für ihn. »Mein Herr und Gott, ich bereue von Herzen, dass ich gegen dich gesündigt habe …« Affonso, Gil und Lopes sahen zu, wie der junge Priester mit hasti gen Worten die Sterbesakramente spendete, wobei er wiederholt das Kreuzzeichen machte. Sein langes, blondes Haar reichte ihm bis auf die Schultern, und als er sich schließlich niederbeugte, um da Silva auf die von der Krankheit entstellten Wangen zu küssen, fiel es auf das ge quälte Gesicht des Kapitäns. »Ist er tot, Padre?« fragte Lopes. »Ja, er ist tot, Dom Alvaro. Requiescat in pace.« Pater Henriqué rich tete sich auf, nahm seinen Hut ab und trocknete sich die Stirn mit dem Tuch, mit dem er zuvor das Gesicht des Sterbenden abgetupft hatte. Und nun sah Gil zum erstenmal sein Gesicht – es war das dunk le Gesicht eines mestigo mit hellblauen Augen. Gils Herz setzte einen Schlag aus. »Kimpasi? Bist du es, Kimpasi?« fragte er mit stockendem Atem. Pater Henriqué lächelte traurig. »Ja, pai, ich bin es. Ich bin von Por tugal nach Hause gekommen.« Was ist das für ein Omen? dachte Gil. Mein Sohn kommt an Bord eines Pestschiffes in das Land seiner Geburt zurück. Der junge Mann trug eine Kette aus Blutsteinen um den Hals.
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Kimpasi – oder Pater Henriqué – war noch sehr jung für sein Prie steramt; er zählte noch nicht einmal zwanzig Jahre. Vielleicht hatte er aufgrund seiner ungewöhnlichen Herkunft einen besonderen Dis pens erhalten. Er war groß, schlank und glattrasiert, und die wunder bare Mischung seiner Hautfarbe und seiner Gesichtszüge machte ihn zu einem ungewöhnlich gutaussehenden jungen Mann. Aber er hatte nichts von der Fröhlichkeit eines Jugendlichen an sich. Schon als Kind war er ernst gewesen, und in seinen Jahren in Lissabon – er war mit vierzehn Jahren ins Colégio de Santo Eloi gekommen – schien er noch ernster und melancholischer geworden zu sein. Gil war bestürzt, als er das bemerkte. Er hatte gar nicht gewusst, dass sein Sohn sich dort auf das Priesteramt vorbereitete, sondern vielmehr erwartet, Kimpasi würde als meisterlicher Navigator zurückkehren – wie der Prinz, nach dem er getauft worden war – oder auch als Lotse oder Kartenzeichner; jedenfalls aber mit einem Beruf, der ihn für die Seefahrt qualifizierte. Doch Gil hatte keine Gelegenheit, seinen Sohn zu diesem oder einem anderen Thema zu befragen. Denn in den folgenden Tagen war Hen riqué vollauf damit beschäftigt, da Silvas Leichnam für die Bestattung vorzubereiten, dem Bischof bei der Totenmesse zu assistieren und die Beerdigung im Friedhof der Kirche von Santo Antonio do Zaire zu leiten. Danach ging er sofort auf die Schiffe zurück, um dort wieder seinen Aufgaben nachzugehen – die Sterbenden zu trösten, ihnen die Beichte abzunehmen, die Sakramente zu spenden und sie auf See zu bestatten. Es würde unter Umständen Wochen, ja Monate dauern, bis die Pest vorüber war, die Überlebenden mit der Entladung der Schif fe beginnen konnten und Henriqué endlich Gelegenheit haben würde, an Land zu kommen. Alvaro Lopes jedoch war an Land geblieben. Nach Simão da Silvas Ableben hatte er nicht nur das Kommando über die Expedition über nommen, sondern auch einen Titel, von dem bis zum Tag nach da Sil vas Beerdigung niemand etwas gehört hatte: nämlich den eines por tugiesischen Botschafters im Königreich Kongo. Noch nie zuvor hatte es in Afrika etwas Vergleichbares gegeben, und als Lopes seinen Titel nannte, machte sich große Verwunderung breit. 498
»Botschafter, Dom Alvaro?« wiederholte Bischof de Sousa. »Ihr sollt als König Emanuels Botschafter am Hof des ManiKongo dienen?« »Ja, Euer Gnaden«, antwortete der dürre, ungepflegte und zahnlose Kapitän mit unverhohlener Befriedigung. »Und auch als Gouverneur seiner hiesigen portugiesischen Kolonie.« »Botschafter und Gouverneur gleichzeitig.« Der Prälat verzog den roten, dünnen Mund zu seinem freudlosen Lächeln; er schien sich schon jetzt Gedanken darüber zu machen, wie sich diese Veränderung auf seinen eigenen Status im Reich auswirken würde. »Ich muß sa gen, das ist eine große Ehre, die König Emanuel Euch zukommen läßt. Und nicht nur Euch, Dom Alvaro, sondern auch uns. Es zeigt, welchen Wert er unserer kleinen Kolonie beimisst.« »So ist es, Euer Gnaden. Wie ich bereits sagte, setzt er große Hoff nungen in seine Kongo-Kolonie.« Dieses Gespräch fand im Empfangssaal der Festung von Santo Antonio statt, einem Raum mit hohem Deckengewölbe, durch des sen schmale, schießschartenartige Fenster nur wenig Tageslicht ein fiel. Er war mit Stühlen ausgestattet, die sehr hohe Lehnen hatten und um einen langen Tisch angeordnet waren; Gemälde und Gobelins mit religiösen Motiven sowie komplette Rüstungen schmückten die stei nernen Wände. Mit Lopes und de Sousa saßen auch Affonso und der ManiSoyo Jorge am Tisch; Gil zog es vor, hinter dem König zu stehen. Rodrigues entfernte sich immer wieder aus der Runde, um die Gar nison von Santo Antonio zu inspizieren. Auch jetzt war er nicht an wesend. »Es ist nach wie vor ein Rätsel, warum König Emanuel so große Hoff nungen in seine Kongo-Kolonie setzt, Dom Alvaro«, sagte Gil. »Was ist der Grund dafür, dass er hier plötzlich nach so vielen Jahren einen Botschafter und Gouverneur einsetzt?« »Das ist alles in König Emanuels regimento erklärt, senhor.« Wie sich jetzt herausstellte, war Lopes im Besitz der Schriftrolle, die dem ster benden da Silva aus der Hand geglitten war; Lopes musste sie in der Verwirrung des Augenblicks an sich genommen haben. Nun zog er sie aus seinem Lederwams hervor und wollte mit seinem schmutzigen 499
Daumennagel das königliche Siegel erbrechen. »Vielleicht ist dies der geeignete Augenblick, um das alles nachzulesen«, meinte er. »Dorn Alvaro.« »Eure Majestät?« »Hat König Emanuel dieses regimento nicht für mich bestimmt, Dom Alvaro?« »Das ist richtig, Eure Majestät.« »Würdet Ihr dann so freundlich sein und es mir geben.« Affonso streckte die Hand über den Tisch aus. »Ja, natürlich, Eure Majestät. Ich wollte Euch nur die Mühe ersparen, es selbst lesen zu müssen.« »Ich kann lesen, Dom Alvaro.« »Ja, natürlich.« Widerwillig übergab Lopes die Rolle an den König. Affonso erbrach das Siegel, entrollte das Dokument und begann laut vorzulesen, als wolle er Lopes zeigen, dass er durchaus dazu fähig war: »Mächtiger und großer König des Kongo, mein Bruder Dom Affonso! Wir grüßen Euch und senden Euch Simão da Silva, einen Edelmann unseres Hauses, dem wir größtes Vertrauen entgegenbringen. Wir bit ten Euch, ihn anzuhören und ihm Treu und Glauben entgegenzubrin gen, denn er spricht in unserem Namen …« Doch dann verstummte er und las leise weiter. Als er nach einigen Minuten geendet hatte, reich te er das Schreiben an Gil. »Eure Majestät, sicher wißt ihr, dass an all den Stellen, wo König Emanuel von Simão da Silva spricht, nun leider mein Name einzuset zen ist«, erklärte Lopes. Affonso antwortete ihm mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken, rückte dann seinen Stuhl zurück und drehte sich zu Gil um. Gil hatte mit königlichen Schreiben und Dekreten kaum Erfahrung; auch bei diesem Dokument brauchte er eine Weile, um es zu verstehen. Nach einer langen Einleitung voller eleganter, schmeichelnder Schnör kel und Floskeln – »es ist uns bekannt, mächtiger und großer ManiKongo, dass Euer Christenleben von einer Art sei, die Euch nicht als Mensch, sondern vielmehr als einen Engel erscheinen läßt, welcher ge sandt wurde, Euer Volk zu bekehren …«, etc. etc. – folgten drei Ab 500
schnitte mit Ordern an Simão da Silva (die nun wohl seinem Nachfol ger Alvaro Lopes galten). Der erste Absatz führte im einzelnen die An zahl der Männer und den Umfang der Lieferung auf, die der portugie sische König mit den pestverseuchten Schiffen geschickt hatte, und be tonte seine Absicht, die lange brachliegende Missionierung des KongoReiches neu zu beleben und das Bündnis mit der portugiesischen Kro ne wieder zu stärken. Der zweite befasste sich mit dem Verhalten, das da Silva (und nun Lopes) von den Siedlern der beträchtlich zu vergrö ßernden portugiesischen Kolonie einfordern sollte – ihm als Gouver neur wurde die Vollmacht übertragen, jeden Einwohner, der sich nicht vorbildlich führte, zu verhaften, zu bestrafen und nötigenfalls aus der Kolonie zu verbannen. Der letzte Abschnitt war der kürzeste doch auf ihn verwendete Gil die größte Aufmerksamkeit. »Diese Expedition«, hatte Emanuel geschrieben, »war für uns ein sehr kostspieliges Unternehmen. Es wäre unvernünftig, ihre Schiffe ohne Ladung nach Hause zu senden. Obwohl es unser oberster Wunsch ist, Gott zu dienen und dem Mani-Kongo gefällig zu sein, sollt Ihr« – ge meint war da Silva beziehungsweise Lopes – »dem König in unserem Namen zu verstehen geben, mit welchen Gütern er die Laderäume un serer Schiffe füllen möge, um sich für unsere Güte und Menschen freundlichkeit erkenntlich zu erweisen.« Es wurde nicht ausgeführt, an welche Güter Emanuel hierbei dach te; ebenso wenig, wie viele Handelswaren er als angemessen erachtete, um die Kosten der Expedition zu decken. Diese Entscheidungen soll te ein weiterer Offizier der Flotte treffen, ein Mann namens Fernão de Mello. Er würde eine sorgfältige Prüfung der Reichtümer des Landes vornehmen und dann jene auswählen, die seinem Urteil zufolge ei nen entsprechenden Gegenwert für die Kosten der Expedition darstell ten. Aber weshalb war es überhaupt notwendig, Schätze des Reiches zu sichten? fragte sich Gil. Nach all diesen Jahren wussten die Portugie sen doch sicher bestens darüber Bescheid, welche Reichtümer es am Zaire gab. Ein unbestimmter, nicht in Worte zu fassender Argwohn stieg in Gil auf. »Seid Ihr nicht der Ansicht, dass dieses regimento Eure Fragen be 501
züglich der Hoffnungen König Emanuels beantwortet, Senhor Eanes?« fragte Lopes. »Nicht ganz.« »Was ist für Euch noch unklar?« »Zum Beispiel, wer Fernão de Mello ist.« »Der donatario von São Jorge da Mina. Er konnte bislang noch nicht an Land kommen, weil auch er an der Pest erkrankt ist. Aber in seinem Fall, Deo gradas, können wir auf Genesung hoffen.« »Im Kongo-Reich gibt es aber kein Gold.« »Gold? Wieso sprecht Ihr von Gold, senhor?« »Weil der aus den Flüssen der Ashanti gewonnene Goldstaub das wertvollste Handelsgut ist, das in São Jorge da Mina umgeschlagen wird. Und da König Emanuel seinen donatario von dort hierher sen det, nehme ich an, dass er hofft, auch in den Flüssen des Kongo-Rei ches sei Gold zu finden.« »Vielleicht ist es ja so, senhor.« »Aber ich sage Euch, dass es hier kein Gold gibt. Wenn es welches gäbe, wäre es längst gefunden worden.« »Fernão de Mello ist ein Fachmann darin, Gold aufzuspüren, se nhor.« »Und was ist, wenn er hier keines findet, was meiner Meinung nach sicher der Fall sein wird?« »Dann wird er darüber befinden, welche anderen Güter zur Erstat tung der Kosten die Laderäume der königlichen Flotte füllen sollen. Haltet Ihr das nicht für angemessen, Eure Majestät?« Damit wandte sich Lopes an den König, der den Wortwechsel ruhig verfolgt hatte. Affonso musterte Gil lange, als wollte er dessen Gedanken lesen. Dann sagte er zu Lopes: »Falls es in unserem Reich Gold geben sollte, Dom Alvaro, werden wir glücklich sein, wenn es gefunden wird. Inso fern steht es diesem Fernão de Mello frei, danach zu suchen, wo immer er will, und wir werden ihn dabei nach Kräften unterstützen. Doch das Kongo-Reich besitzt viele andere Schätze, und falls kein Gold gefun den wird, werden wir die Laderäume der königlichen Flotte so über reich mit diesen füllen, dass Emanuel zufrieden sein wird. Denn dies 502
ist unser oberster Wunsch, Dom Alvaro – unserem Bruder Emanuel zu Gefallen zu sein. Wir sind äußerst dankbar für diese Expedition, die er zu uns gesandt hat. Wir haben lange auf ein solches Unternehmen ge wartet, um mehr Kirchen und Schulen bauen zu können, unsere Söh ne wieder ausbilden und unser Volk weiter im Glauben unterweisen zu können, um die Arbeit an einer Schrift für unsere Sprache wieder aufnehmen zu können und das Kongo-Reich den Ländern am anderen Ufer des Meeres näherzubringen. Ihr könnt deshalb sicher sein, Dom Alvaro, dass wir Emanuels Großzügigkeit entsprechend vergüten und seine Schiffe mit Reichtümern füllen werden, sei es nun Gold oder ir gend etwas anderes, das ihm gefallen wird.« »Das ist ein äußerst großmütiges Angebot, Eure Majestät«, erwider te Lopes. Affonso wandte sich wieder zu Gil, als suche er dessen Billigung. Doch sein Freund enthielt sich jeglichen Kommentars. Er gab ledig lich Affonso das regimento zurück und sagte dann auf Kongo: »Du ver stehst sicher, dass ich jetzt gerne gehen möchte, Mbemba, um Kimpa si zu sehen. Es sind so viele Jahre vergangen.« »Natürlich, Gil. Umarme den Jungen in meinem Namen und sag ihm, dass ich sehr gespannt darauf bin, von seinen Abenteuern auf der anderen Seite des Meeres zu hören.« Gil borgte sich von einem Soyo-Fischer ein Kanu und paddelte zum Flaggschiff der Pestflotte hinaus. Er wusste natürlich nicht sicher, ob der junge Priester sich tatsächlich dort befand; vielleicht hatten ihn ja seine Pflichten auf eines der übrigen vier Schiffe gerufen. Aber zumin dest würde die Besatzung wissen, wo er sich gerade aufhielt. Als jedoch der Wachposten im Krähennest am Großmast Gil ent deckte, begann er zu schreien und zu gestikulieren. Seine Kollegen am Bugspriet und auf dem Spardeck folgten seinem Beispiel. »Kehrt um, senhor! Kommt nicht näher. Wir haben die Pest an Bord.« Der Mann, der ihm dies mittschiffs von der Steuerbordreling aus zu rief, war groß und schlaksig und fast völlig kahl. Einen Augenblick lang glaubte Gil, einen Bekannten wiederzuerkennen. 503
»Seid Ihr es, Nuno?« »Was sagt Ihr? Bitte, senhor, bleibt fern, kommt nicht an das Schiff. Wir haben die Pest an Bord.« Gil ruderte trotzdem noch ein Stück näher und stellte fest, dass der Mann nicht sein alter Freund war. »Ich weiß, dass ihr die Pest an Bord habt«, erklärte er. »Ich möchte zu Pater Henriqué. Ist er auf diesem Schiff?« »Ja. Was wollt Ihr von ihm?« »Holt ihn. Sagt ihm, Gil Eanes ist hier.« »Ihr seid Gil Eanes? Marinheiro! Hol den Padre. Sag ihm, Senhor Eanes ist hier für ihn.« Eine Leiter wurde heruntergelassen; Gil befestigte sein Kanu daran und stieg hinauf. »Aber Ihr solltet nicht an Bord kommen, Senhor Eanes. Wir haben noch immer viele Kranke hier.« Gil sprang über die Reling des Spardecks. »Ihr seht gesund genug aus«, meinte er. »Das bin ich auch, senhor. Bis jetzt bin ich Gott sei Dank verschont worden.« »Ihr seid nicht der Obermaat dieses Schiffes, habe ich recht?« »Das stimmt. Ich bin der Bootsmann. Wir alle haben von Euch ge hört, Senhor Eanes. Aber Ihr dürft Euch diese gottverdammte Krank heit nicht holen, sonst kostet es mich meinen Kopf, weil ich Euch an Bord gelassen habe.« »Ist zufällig Nuno Gonçalves der Obermaat dieses Schiffs?« »Woher wißt Ihr das? Ja, er war unser Obermaat, senhor. Aber er ist an der Pest gestorben, zehn Tage bevor wir diesen Hafen erreichten, und hat sein Grab auf See gefunden.« »Pai.« Gil drehte sich um. Henriqué kam die Kajütstreppe herauf auf ihn zugelaufen. Seine blonden Haare flatterten im Wind, die weiße Souta ne war mit Blut befleckt, seine Taille war mit einem schwarzen Rosen kranz umgürtet, und um seinen Hals hing die Kette aus Blutsteinen. »Kimpasi!« rief Gil und ging ihm entgegen. 504
Einen Schritt voneinander entfernt blieben Vater und Sohn verlegen stehen. Soldaten und Matrosen liefen zusammen – wussten sie, was die beiden miteinander verband? War ihnen bekannt, dass ihr mutiger junger mestiço-Priester Gils Sohn war? Gil ließ gerührt die Finger über Henriqués Blutsteinkette gleiten. »Du trägst sie noch immer, mbakala?« fragte er halblaut. »Ja, pai«, erwiderte Henriqué mit einem zaghaften, bedrückten Lä cheln. »Das freut mich«, sagte Gil. Er ergriff seinen Sohn bei den Schultern und begrüßte ihn auf die traditionelle Weise der Kongo, hielt ihn für einen Augenblick auf Armlänge von sich und drückte ihn schließlich fest an die Brust. Ein freudiges, überraschtes Murmeln lief durch die Reihen der Um stehenden. »Du hättest nicht herkommen sollen, pai. Die Pest wütet noch heftig auf den Schiffen. Jeden Tag stirbt einer unserer Leute.« »Das sagen mir alle, Kimpasi, du kannst dir deine Worte also sparen. Aber ich konnte es einfach nicht mehr erwarten, mit dir zu reden und zu hören, was du in Portugal erlebt hast. Ich wusste nichts von deinem Entschluß, Priester zu werden. Deine Mutter wird sich darüber wahr scheinlich freuen, aber ich hatte mir eher vorgestellt, dass du einmal zur See fährst.« Henriqué erwiderte nichts; er lächelte nur matt und senkte den Blick. Was ging in ihm vor? Woher kam diese Schwermut? »Können wir uns irgendwo allein unterhalten, mbakala? Hast du eine eigene Kabine an Bord?« »Ja, aber sie dient als Krankenzimmer. Es liegen viele Kranke und Ster bende darin. Gehen wir auf das Vorderdeck, da sind wir ungestört.« Das Vorderdeck war ein schöner Platz; man konnte auf die dicht be waldeten Inseln im mächtigen, breiten Fluss hinaussehen und gleich zeitig die erfrischend kühle Brise genießen, die von der See herein weh te. Hoch oben am Himmel zogen Möwen und Fischadler ihre Kreise. Gil setzt sich auf die Ankerwinde, Henriqué ließ sich auf das aufgewik kelte Tau nieder. 505
»Ich bin froh, dass du mich noch immer Kimpasi nennst, pai«, be gann der junge Priester mit bedrückter Stimme. »Niemand außer dir nennt mich so.« »Ich bin der einzige?« »Ja. Sogar meine Mutter hat mich seit dem Tag meiner Taufe nur mehr Henriqué genannt. Nennst du sie noch immer Nimi?« »Ja.« »Und den König? Nennst du ihn immer noch Mbemba?« »Ja.« »Du hast unsere Taufe nie wirklich ernst genommen, stimmt's, pai?« Gil zuckte die Achseln. »Das habe ich gewusst. Schon als kleiner Junge wusste ich, dass du deinen Glauben verloren hast.« »Warum sagst du das, Kimpasi? Ich habe meinen Glauben nicht ver loren.« »Du brauchst mir nicht zu widersprechen, pai. Ich rede nicht als Priester mit dir. Ich kann verstehen, warum du deinen Glauben verlo ren hast – wegen des Kriegs gegen Mpanzu. Wegen der Rolle, die Bi schof de Sousa in diesem Krieg spielte. Ist es nicht so?« Wieder zuckte Gil nur die Achseln; der feierliche Ernst und die Trau rigkeit seines Sohnes beunruhigten ihn. »Aus denselben Gründen habe ich ebenfalls nicht geglaubt, pai. Wäh rend ich aufwuchs, glaubte ich auch nicht an diesen Gott, den Bischof de Sousa vom anderen Ufer des Meeres zu uns gebracht hatte.« »Warum bist du dann Priester geworden?« »Anfangs war das gar nicht das, was ich wollte. Es war der Wunsch von Großmutter. Von Königin Leonor – oder heißt sie bei dir noch im mer Mbanda Lwa? Sie sagte mir, man würde dadurch große Zauber kräfte erlangen, und ich war eben sehr jung und mit so etwas leicht zu beeindrucken. Und Mutter hat mich ebenfalls dazu ermutigt. Ich wus ste, dass sie das hinter deinem Rücken sagte, pai, und das hat mir nicht gefallen. Deswegen entschloss ich mich zunächst, es nicht zu tun. Aber als ich in Lissabon eintraf …« 506
»Ja?« Henriqué zögerte. Dann sagte er, nicht trotzig, sondern leise und voller Ernst: »Ich habe meinen Glauben in Lissabon gefunden, pai. Ich habe unseren Herrn Jesus im Colégio gefunden. Dort hat er mich in seinen Dienst berufen.« Gil seufzte. Wie sollte er sich dazu äußern? Wie konnte er gegen ein solches Bekenntnis Einwände erheben? »Das ist sehr gut, Kimpasi«, sagte er nur. »Das ist es wirklich, pai. Es ist eine segensvolle und freudenreiche Berufung.« »Aber warum freust du dich dann nicht? Du wirkst so traurig und schwermütig. Liegt es daran, dass hier überall der Schwarze Tod herrscht? Warst du vor Antritt dieser Reise glücklicher?« Henriqué wich seinem Blick aus und sah auf den Fluss hinaus; er hielt das Gesicht in die Brise und murmelte etwas, aber der Wind trug seine Worte mit sich fort. »Ich habe nicht gehört, was du gesagt hast, Kimpasi.« Der junge Priester sah ihn an. »Weißt du, dass es eine neue Welt gibt, pai?« fragt er. Was war das für ein dummes Gerede – eine neue Welt? Ein neues Je rusalem vielleicht? War sein Sohn am Ende ein religiöser Eiferer ge worden? Hatten die geistlichen Lehrer im Colégio de Santo Eloi einen Fanatiker aus ihm gemacht? »Hast du noch nicht davon gehört, dass eine neue Welt entdeckt wurde, pai? Ist diese Nachricht noch nicht bis zum Kongo vorgedrun gen?« »Was für eine neue Welt, Kimpasi?« »Sie heißt Brasilien, pai. Pero Alvares Cabrai hat sie vor nahezu zwei Jahren entdeckt. Er befehligte eine Flotte von Indienfahrern. Aber ein Sturm trieb ihn mitten im Atlantik vom Kurs ab, tausend Leguas von Portugal entfernt, und dann sichtete er auf dem siebzehnten Breiten grad südlich des Äquators einen Berg. Zuerst dachte er, es sei nur eine Insel, die noch nicht in den Karten verzeichnet ist; aber als er näher kam, sah er, dass es gar keine Insel war, sondern eine riesige Landmas 507
se, ein Festland, ein unbekannter Kontinent – eine neue Welt. Einige behaupten, er sei nicht der erste, der diese neue Welt entdeckte. Chri stovão Colom, ein Genueser Kapitän im Dienst des spanischen Kö nigspaars, ist schon fünf Jahre vor da Gama auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien westwärts über den Atlantik gesegelt. Und er er reichte fast auf demselben Längengrad, auf dem Brasilien liegt, eine große Inselgruppe, aber viele hundert Leguas nördlich davon – un gefähr fünfundzwanzig Breitengrade weiter im Norden. Er behaupte te, es seien Inseln vor der Küste Indiens, und nannte sie deshalb West indien. Aber inzwischen sagen viele, dass diese Inseln nicht zu Indien gehören, sondern zu demselben Kontinent wie Brasilien.« Fasziniert und mit großer Bewunderung für die Kenntnisse seines Sohnes hörte Gil zu. »Das alles hat zu erheblichen Disputen geführt, pai. Offenbar ist die se neue Welt sehr reich. Es heißt, in ihren Gebirgen und Flüssen gibt es große Mengen Gold, viel mehr als im Land der Ashanti bei São Jorge da Mina oder irgendwo sonst in Afrika oder Indien. Aber wem gehört es? König Emanuel beansprucht es natürlich für Portugal, weil Cabrai es entdeckt hat. Aber Isabella und Ferdinand von Spanien beanspru chen es unter Berufung auf Colom für sich. Papst Alexander musste eingreifen, um diesen Streit zu schlichten.« »Und wie hat er das geregelt?« »Er erließ eine päpstliche Bulle. Sie wird Inter caetera genannt und zieht etwa vierhundert Leguas westlich der Azoren und der Kapverdi schen Inseln von Norden nach Süden eine Linie durch den Atlantik. Alles Land und Meer östlich dieser Linie wurde Portugal zugespro chen, alles westlich davon Spanien. Die Monarchen beider Länder ha ben in Tordesillas einen Vertrag unterzeichnet, in dem sie sich mit die ser Regelung einverstanden erklärten.« »Du bist mir ein bißchen zu schnell, Kimpasi. Ich kann mir das ohne eine Karte nicht vorstellen. Jedenfalls liegt das Kongo-Reich und ganz Afrika östlich dieser Linie und gehört somit zu Portugal. Aber was ist mit diesem Brasilien?« »König Emanuel behauptet natürlich, dass es ebenfalls östlich die 508
ser Linie liegt. Aber das ist nicht sicher. Niemand kann genau sagen, wo die Linie durch diese neue Welt verläuft, weil es keine guten Karten gibt. Die spanischen Kartographen zeichnen sie hier ein, die portugie sischen dort – jeder so, wie es seinen Interessen entspricht. Die einzi ge Möglichkeit, von dieser neuen Welt tatsächlich Besitz zu ergreifen, ist, sie zu besiedeln. Und darüber ist ein heftiger Wettkampf zwischen Spanien und Portugal entbrannt. Der Bedarf an Menschen für diese Aufgabe ist unvorstellbar groß, denn angeblich können die Bewohner dieser neuen Welt dafür nicht herangezogen werden.« »Warum nicht?« »Es sind wilde, Pai. Sie leben wie Wilde, und es heißt, dass sie ster ben, wenn man sie für solche Arbeit einsetzt. Und deshalb müssen Menschen dorthin geschafft werden, um die Arbeit zu tun.« »Ich verstehe.« Gil nickte gedankenvoll. »Das ist alles sehr erstaun lich, Kimpasi. Nein, wir haben hier nichts von alledem gehört. Aber sag mir, mbakala, warum macht die Entdeckung dieser neuen Welt dich so traurig?« »Weil so viele Menschen für sie gebraucht werden, pai. Diese schreck liche Notwendigkeit, Tausende und Abertausende von Menschen in die se neue Welt zu bringen, um die nötigen Siedlungen dort zu bauen.« »Ja?« »Was mich bedrückt, pai, ist, wer diese Menschen sind.« »Und wer sind sie?« Henriqué antwortete nicht. Er wandte sich plötzlich ab. Gil drehte sich um. Von mittschiffs kam ein Mann auf das Vorderdeck. Er war ungewöhnlich groß und trug eine graue Kutte, deren Kapuze er tief über den Kopf gezogen hatte, so dass sie sein Gesicht verdeckte. Wer immer dieser Mann war, Henriqué wollte offenbar nicht, dass er ihr Gespräch mithörte. »Senhor Eanes?« »Ja.« Gil stand auf. »Ich habe gehört, dass Ihr an Bord seid, und wollte Euch unbedingt kennenlernen. Ich bin Fernão de Mello, der donatario von São Jorge da Mina.« 509
»Ah ja, Dom Fernão. Auch ich habe gehört, dass Ihr an Bord seid, und wollte Euch kennenlernen.« »Ich stehe tief in Eurer Schuld, senhor.« »Weshalb denn?« »Wegen Eures Sohnes. Er hat sich während meiner ganzen Krank heit um mich gekümmert und mich mit seinem Mut, seiner Geduld und seinem Glauben aus den Klauen des Todes befreit.« »Ich habe gehört, dass Ihr an der Pest erkrankt seid.« »Dank Pater Henriqué habe ich mich fast vollständig erholt.« Er zog seine Kapuze zurück. Sein langes, ausgemergeltes Gesicht war aschfahl; sein schwarzer Bart und die Haare waren extrem kurz ge schnitten. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und seine Wangen wa ren eingefallen, aber er hatte keine Pestbeulen. »Es wird nur noch ein paar Wochen dauern, bis ich wieder ganz ge sund bin. Aber was noch viel wichtiger ist – es wird nicht viel länger dauern, bis die Pest endgültig vorüber ist und wir beginnen können, die Männer und unsere Ladung an Land zu bringen.«
KAPITEL 4
E
s stellte sich bald heraus, dass der eigentliche Befehlshaber von Kö nig Emanuels Flotte nicht Alvaro Lopes war, sondern Fernão de Mello. Simão da Silva hatte als Ritter des Christusordens einen höhe ren Rang innegehabt als de Mello, und wäre er am Leben geblieben, so hätte zweifellos er das letzte Wort gehabt. Aber sobald die Pest vorüber war, die schwarzen Flaggen eingeholt wurden und das Entladen der fünf Schiffe begann, zeigte sich, dass Lopes dem donatario aus São Jor ge da Mina trotz der Titel, die er von da Silva übernommen hatte, stän dig den Vorrang einräumte. Ganz offensichtlich stand ein donatario sogar über dem königlichen Botschafter und Gouverneur einer Kolo nie. 510
Drei Wochen nach der Ankunft der Flotte und zwei Tage vor dem Beginn der Fastenzeit verschwanden die schwarzen Flaggen an den Hauptmasten. Nur 408 der ursprünglich 633 Passagiere und Besat zungsmitglieder hatten den Schwarzen Tod überlebt; aber selbst das war noch eine sehr stattliche Zahl von Menschen, durch die sich die portugiesische Bevölkerung im Kongo-Reich mit einem Schlag beina he verdreifachte. Aber noch erstaunlicher waren die Tonnage und der Wert der Ladung, die die Flotte mitführte. Es dauerte zehn Tage, bis die Laderäume der Schiffe ganz geleert waren; die Speicher der Festung von Santo Antonio waren bis unter das Dach gefüllt; Kisten und Bal len, Fässer und Tonnen stapelten sich am Hafendamm. Sie enthielten Gewehre und Schießpulver, Rüstungen und alles erdenkliche Kriegsgerät; dazu Messbücher, Bibeln sowie Mobiliar für Kirchen und Mis sionsschulen. Fernrohre und Kompasse, Sextanten und Vermessungs instrumente, Wagen und Hebezeug, Flaschenzüge und Werkzeug und eine große Menge Baumaterial wurden an Land geschafft, sogar Nah rungspflanzen wie Zuckerrohr und Obstbäume – Guaven-, Zitronenund Orangenbäume –, die im Kongo unbekannt waren und nun hier angepflanzt werden sollten. Und die Aufsicht über die Entladung führ te der ungewöhnlich hochgewachsene, gespenstisch wirkende dona tario in seinem langen, grauen Umhang mit der Kapuze, neben dem ständig der dürre, zahnlose Lopes einherhastete und nervös auf den leisesten Wink de Mellos reagierte. Gil beobachtete das Treiben am Hafen mit großer Besorgnis und ei nem tiefen Unbehagen. Diese Invasion von Europäern, dieser enor me Zustrom europäischer Güter und Waren würde, so fürchtete er, den Kongo bis zur Unkenntlichkeit verändern. Es kamen genügend Siedler und Material, um die portugiesischen Siedlungen in São Salva dor und Santo Antonio erheblich anwachsen zu lassen, in allen ande ren bedeutenden Orten Kirchen zu errichten und Garnisonen zu bau en und überall im Reich Plantagen mit eingeführten Früchten anzule gen. Das Kongo-Reich würde sich in ein zweites, ein falsches Portugal verwandeln; alle seine Bewohner würden bekehrt werden, fremdarti ge Kleider tragen, in zunehmende Abhängigkeit geraten und ein Ver 511
langen nach ausländischen Waren entwickeln. Das behagte Gil über haupt nicht. Nach zwanzig Jahren in Afrika betrachtete er sich nicht mehr als einen Portugiesen; Portugal war für ihn nurmehr eine ferne Erinnerung. Nach all dieser Zeit war er unwiderruflich zu einem Be wohner des Kongo-Reiches geworden, und er war nicht darauf erpicht, dass sein lange verlorenes Portugal nun zu ihm zurückgebracht wer den sollte. Aber neben dieser persönlichen Unzufriedenheit über die sich anbahnenden Entwicklungen hegte er einen Argwohn, den die Erzählung seines Sohnes noch verstärkt hatte. Warum investierte Kö nig Emanuel plötzlich so viel in das Kongo-Reich, wenn Johann es so lange vernachlässigt hatte? Und wo lag der Zusammenhang zwischen dieser Tatsache und der Entdeckung jener neuen Welt namens Brasi lien? Es konnte nicht nur Zufall sein, dass diese beiden Dinge zeitlich zusammenfielen. »Ist es nicht das, wovon wir immer geträumt haben, Gil?« fragte ihn Affonso. Sie standen auf der Festungsmauer und schauten auf den Platz hin unter, den sie einschloss. Feldschlangen und Wagen, Hebezeug und Kisten wurden hereingeschafft, weil sie andernorts nicht mehr unter gebracht werden konnten. Während der Quarantäne hatte sich Affon so mit de Sousa und Rodrigues nach São Salvador zurückgezogen, aber sobald er erfahren hatte, dass mit der Entladung begonnen wurde, war er – ohne die beiden – sofort wieder nach Santo Antonio gekommen. »Schau dir diese Kanonen an – diese großartige Technik. Und schau, all diese Bücher! Sieh dir diese Schätze an! Davon haben wir immer geträumt. Jetzt werden wir wirklich ein Teil der großen Welt. Jetzt werden wir endlich eine eigene geschriebene Sprache haben.« Affon so strahlte vor unbekümmerter Freude. »Ich wusste, dass dieser Tag einmal kommen würde, Gil. Deshalb habe ich mich gegen meinen Va ter aufgelehnt und Mpanzu den Thron geraubt. Mpanzu hätte das al les niemals zugelassen. Er hätte niemals aufgehört zu kämpfen, um die große Welt von uns fernzuhalten.« Gil erwiderte nichts. Seit Affonso von dieser portugiesischen Expe dition erfahren hatte, schwelgte er zunehmend in einem Gefühl der 512
Hochstimmung und Erregung; und nun, da er die wertvolle Ladung der Schiffe sah, konnte er seine überschäumende Freude kaum mehr zügeln. Er wirkte wieder viel jünger; es schien, als seien die Jahre der Enttäuschungen von ihm abgefallen, und deshalb brachte Gil es nicht übers Herz, die Begeisterung seines Freundes mit seinem vagen, nicht zu begründenden Argwohn zu trüben. »Schau dir Jorge an, dort unten«, fuhr Affonso fort. »Er ist außer sich, er rechnet schon jetzt im Kopf nach, wieviel Gewinn er mit all diesen Waren einstreichen wird. Sieh nur, wie er um Dom Fernão her umschwänzelt. Er weicht ihm nicht von der Seite.« Gil schaute auf den Platz hinunter. Der ManiSoyo war mit de Mello dort erschienen, als gerade einige Feldschlangen hereingefahren wur den, und redete ohne Unterbrechung auf Portugiesisch, das er sehr gut beherrschte, auf ihn ein. Der hünenhafte de Mello musste sich zu dem kleinen Mann hinunterbeugen, um ihn zu verstehen, aber weil er auch bei schönstem Wetter nie seine Kapuze abnahm, war der Ausdruck auf seinem hageren Gesicht nicht zu erkennen. Doch er schien Jorge auf merksam und geduldig zuzuhören. »Was ist los mit dir, Gil?« Jetzt erst bemerkte Affonso Gils düsteres Schweigen. »Irgend etwas beunruhigt dich doch.« »Kannst du dich noch an Nuno Gonçalves erinnern, Mbemba?« fragte er. »Natürlich. Er war Obermaat unter Diogo Cão und Bartolomeu Dias.« »Und auch unter Simão da Silva an Bord des Flaggschiffs dieser Flot te. Aber er hat die Pest nicht überlebt. Er wurde auf See bestattet.« »Das tut mir leid. Er war dir ein guter Freund.« »Vielleicht der letzte aus Portugal.« »Das tut mir wirklich leid«, wiederholte Affonso. Aber er musterte Gil erwartungsvoll. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass Gonçalves' Tod, so traurig dieser Verlust für ihn auch sein mochte, nicht der einzige Grund für seine gedrückte Stimmung war. Und nach einer Welle fuhr Gil tatsächlich fort. »Du bist der ManiKongo, Mbemba«, sagte er. »Das darfst du nie vergessen.« 513
Affonso legte den Kopf zur Seite, befremdet über diese scheinbar überflüssige Feststellung. »Vieles wird sich jetzt ändern in deinem Reich. All dies« – Gil zeigte auf den Platz hinunter und dann hinaus auf den Hafen –, »all dies wird das Reich verändern, aber wir wissen nicht, auf welche Art und Weise. Deswegen darfst du nie vergessen, dass du der König bist. Wieviel sich auch ändern mag, du mußt immer daran denken, dass du es bist, der hier herrscht. Leute wie de Mello und Lopes werden an dich herantre ten, um dir Ratschläge zu erteilen, wie du regieren sollst. König Ema nuel verlangt in seinem regimento, dass du ihrem Rat Gehör schenkst. Aber du darfst nicht zulassen, dass sie mit ihren Ratschlägen das Reich regieren. Du darfst nicht zulassen, dass sie dir alles aus der Hand neh men und du nur mehr dem Titel nach König bist.« »Glaubst du, dass sie das vorhaben?« »Ich weiß es nicht. Das sage ich dir in aller Aufrichtigkeit, Mbem ba. Ich weiß nicht, welche Absichten sie hegen. Aber ich begreife ein fach nicht, warum sie nach so vielen Jahren plötzlich mit derartigen Schätzen und solchen Mengen an Waffen kommen. Ich verstehe nicht, was sie sich als Gegenleistung dafür erhoffen, und deshalb bin ich sehr misstrauisch. Vielleicht kann ich mein eigenes Volk nicht mehr rich tig einschätzen, weil ich schon so lange fern von ihm lebe. Vielleicht wollen sie wirklich nichts anderes, als was du dir stets am meisten ge wünscht hast – den Kongo zu einem Teil der großen Welt zu machen. Aber ich halte es für meine Pflicht, dir meinen Argwohn mitzuteilen und dich zu warnen.« »Ja, das ist deine Pflicht, Gil, und ich danke dir dafür, dass du sie so treu erfüllt hast.« Wieder schaute Affonso zu dem Platz hinunter, wo der ManiSoyo eifrig auf den donatario einredete; zu den Kanonen, den Hebevorrichtungen, den Wagen und Kisten, die jeden freien Fleck auf dem gepflasterten Areal in Anspruch nahmen. Und dann sagte er: »Aber nun vergiß deinen Argwohn für eine Welle, Gil, und freue dich mit mir über die Ankunft dieser mit Schätzen beladenen Flotte. Sie be deutet mir sehr viel. Sie hat die Zweifel zerstreut, die ich wegen meines Tuns hatte. Sie hat mich von den Schuldgefühlen befreit, die mich so 514
lange bedrückten, weil ich mich gegen meinen Vater erhoben und mei nem Bruder den Thron entrissen habe. Sie ist meine Rechtfertigung, Gil, und ich danke Gott dafür.«
»Bleibst du jetzt immer hier?« fragte Teresa, während sie auf den Schoß ihres Bruders kletterte. »Oder gehst du wieder weg, für immer?« »Nein, ich bleibe hier, mein Äffchen«, antwortete Henriqué mit seinem traurigen Lächeln und schloss das kleine Mädchen in die Arme. »Das ist genau das, was ich mir gewünscht habe«, sagte Leonor. »Ein Priester in der eigenen Familie.« »Hast du dich schon entschlossen, was du tun wirst?« erkundigte sich Gil. »Bischof de Sousa hat mir angeboten, mich als seinen Sekretär im Pfarrhaus anzustellen, pai.« »O Henriqué, das ist ja wunderbar«, erwiderte Beatriz. »Ich hat te schon befürchtet, Seine Gnaden würde dich auf seinen Kreuzzug schicken, und wir würden dich wieder jahrelang nicht zu Gesicht be kommen.« »Welchen Kreuzzug, Nimi?« »Seine Gnaden hat seit der Ankunft von König Emanuels Schiffen von nichts anderem gesprochen, Gil. Er sagt, jetzt, da er so viele Geist liche hat, kann er einen großen Kreuzzug unternehmen, um alle Men schen im Reich zu taufen. Und ich befürchtete, Henriqué würde einer der Priester sein, die auf irgendeine entlegene Missionsstation auf dem Land geschickt werden. Ich freue mich so, dass er hierbleibt und wir ihn jeden Tag sehen können.« »Willst du es tun, Kimpasi? Hast du das Angebot des Bischofs ange nommen?« »Ich würde lieber etwas anderes tun, pai.« Henriqué fuhr sich mit ei ner Hand durch die Haare und blickte mit seinen ernsten Augen ins Leere. »Ich würde viel lieber in einer Mission auf dem Land bei den 515
Heiden arbeiten. Ich habe ein paar eigene Gedanken, wie man ihnen den Glauben am besten nahebringen könnte.« Sie saßen im Hauptzimmer von Gils Haus und feierten Henriqués Heimkehr. Es hatte ein großes Essen gegeben, und nun wurden Scha len voller Obst und Kelche mit Palmwein herumgereicht. Vater und Sohn waren erst am Morgen in São Salvador eingetroffen; sie hatten sich der ersten Karawane angeschlossen, mit der die von der Pestflotte angelieferten Güter aus Santo Antonio in die Hauptstadt be fördert wurden. Die Nachricht von den Schiffen und ihrer erstaunli chen Fracht war dem Zug vorausgeeilt, so dass sich bei seiner Ankunft Tausende von Schaulustigen auf den Straßen, Plätzen und Gärten der Stadt drängten. Neben dem König reiste in einer zweiten Sänfte Lo pes; de Mello war mit seinem neuen Freund, dem ManiSoyo, in San to Antonio geblieben, um mit seiner Erfassung der Schätze des Reiches zu beginnen. Um die Neugier seines Volkes zu befriedigen, hatte Af fonso die Karawane durch sämtliche Stadtteile leiten lassen, bevor sie die Brücken in den königlichen Bezirk überquerte. Doch Gil und Hen riqué hatten sich schon vorher verabschiedet und waren geradewegs nach Hause geeilt, denn auch die Nachricht von Henriqués Heimkehr war schon lange vor dem Eintreffen der Karawane in der Stadt bekannt geworden, und seine Mutter, Großmutter und Schwester hatten ihn sehnsüchtig erwartet. »Du bist doch nicht krank, Henriqué, oder?« fragte seine Mutter jetzt. Seit er ins Haus gekommen war, hatte sie ihren Sohn genau be obachtet, und seine Bedrücktheit war ihr nicht entgangen. »Wir haben von der schrecklichen Krankheit an Bord der Schiffe gehört, der so viele weiße Männer zum Opfer gefallen sind. Du hast dich doch nicht etwa bei ihnen angesteckt?« »Nein, ich bin nur müde, Mutter. Es war eine lange, beschwerli che Reise. Und jetzt will Bischof de Sousa, dass ich ihm beim Dank gottesdienst assistiere, den er heute Abend hält. Vielleicht sollte ich mich davor noch ein bißchen ausruhen. Würde dir das etwas ausma chen?« »Natürlich nicht, mbakala. Schlaf noch ein wenig. Teresa, zeig dei 516
nem Bruder sein Zimmer. Er weiß wahrscheinlich längst nicht mehr, wo es ist.« Das kleine Mädchen sprang auf und ergriff Henriqués Hand. »Oh, ich weiß es schon noch, Mutter«, sagte Henriqué mit seinem traurigen Lächeln. »Aber ich kann dort nicht mehr bleiben. Ich bin ein Priester, und deshalb muß ich bei den anderen Priestern übernachten, im Kloster.« »Ich weiß auch, wo das Kloster ist«, warf Teresa ein. »Komm, ich zei ge es dir.« »Keba, mein Äffchen, zeig es mir.« Und damit folgte Henriqué sei ner kleinen Schwester. »Was hat er, Gil?« fragte Beatriz, nachdem die Geschwister das Haus verlassen hatten. »Er ist krank, nicht wahr? Er hat sich den Schwarzen Tod geholt, aber du willst es mir nicht sagen.« »Nein, Nimi, er ist gesund, ich versichere es dir«, entgegnete Gil. »Aber warum ist er dann so schwermütig?« »Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt. Vielleicht ist es ein Ge heimnis, etwas, das unter sein priesterliches Schweigegelübde fällt.« »Was könnte es denn sein?« Gil schüttelte den Kopf, und für einen Augenblick herrschte nach denkliches Schweigen im Raum. »Findet Ihr das alles gut, Senhor Eanes?« fragte Leonor schließlich. »Was denn, Herrin?« »All das. Dass alle diese weißen Männer ins Reich kommen. Meint Ihr, dass das gut ist?« »Eure Frage überrascht mich, Herrin. Schließlich habt Ihr eine ent scheidende Rolle dabei gespielt, die weißen Männer hierher zu brin gen.« »Ich bedaure diese Rolle nicht, senhor.« »Nein, denn durch sie ist Euer Sohn auf den Thron gekommen.« »Ja, durch sie ist mein Sohn auf den Thron gekommen. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Es ist das, was ich wollte, und wir alle ha ben unseren Nutzen daraus gezogen – Ihr nicht weniger als ich. Aber ich wollte nur dies, nichts weiter. Das, was jetzt geschieht, dieses Gere 517
de von Bischof de Sousas Kreuzzug … das ist zuviel. Weiße Soldaten in jedem Teil des Reiches, weiße Priester in jeder Stadt und jedem Dorf. Ich glaube nicht, dass das gut ist.« »Nein, Mutter, du hast unrecht«, warf Beatriz ein. »Es ist gut. Es ist Gottes Wille, dass der Glaube allen unseren Völkern gebracht wird und dass die Seelen dieser Menschen vor der ewigen Verdammnis er rettet werden. Aber das allerbeste ist, dass Affonso jetzt nicht mehr Mfidi heiraten muß.« »Wer sagt das, Nimi?« »Ich sage es, Gil. Und Bischof de Sousa auch. Es gibt jetzt keinen Grund mehr für diese sündhafte Heirat. Wenn die Nsundi bei dem Kreuzzug getauft werden wie alle anderen auch, dann finden die Schwierigkeiten mit ihnen ein Ende, ohne dass Affonso eine Königin aus ihrem Volk zur Frau nehmen muß.« »Sagt er das auch?« »Mit Affonso habe ich noch nicht darüber gesprochen.« »Vielleicht sollte ich das machen«, antwortete Gil und verließ sofort das Haus. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Senhor Eanes«, rief Leonor ihm nach. »Was war Eure Frage, Herrin?« »Ob Ihr es gut findet, dass so viele weiße Männer in unser Reich kommen.« »Nein, Herrin, ich finde es nicht gut. Aber es ist viel zu spät, sich dar über zu beklagen. Denn sobald die Weißen die Erlaubnis hatten, ins Reich zu kommen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis mehr und immer mehr von ihnen kommen würden. Mpanzu hat das verstanden; die Mbanda Vunda hat das verstanden, und der NgangaKongo ebenso. Es war Euer Fehler, Herrin, dass Ihr es nicht auch verstanden habt. Ihr habt nicht begriffen, dass dies der Preis dafür sein würde, dass Euer Sohn den Thron besteigt.«
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Nuno und Gonçalo warteten im Garten des Hauses auf Gil und beglei teten ihn nun zur Kathedrale von São Salvador. Auf dem Platz vor dem Gotteshaus war eine Schwadron von vierzig portugiesischen Soldaten zum Appell angetreten; sie trugen federge schmückte Helme, Kettenhemden und Schulterpanzer und waren mit Hellebarden, Armbrüsten und Arkebusen bewaffnet. Zwei Bombarden auf ihren Lafetten sowie zwei Wagen mit Proviant und Schießpulver standen unmittelbar hinter den Männern. In einer zweiten Schwadron waren hundert mit Federn geschmückte Kongo-Krieger in Kriegsbe malung versammelt; zwanzig von ihnen hatten Arkebusen, die übri gen Lanzen und Schilde. An der Spitze dieser Kolonne stand ein Do minikanermönch mit einem großen, hölzernen Kreuz; den Schluß bil dete eine Gruppe aus Trommlern und Hornbläsern. Vor ihr, ebenfalls mit Helm und Rüstung angetan, schritt Rodrigues auf und ab und schlug immer wieder ungeduldig sein Entermesser gegen den Ober schenkel. »Was ist hier los?« fragte Gil die Brüder, als sie auf den Platz kamen. Nuno sah zu Gonçalo, und als dieser den Kopf schüttelte, folgte er seinem Beispiel. Es war früher Nachmittag; die Karawane, mit der Gil und Henriqué in die Stadt gekommen waren, hatte sich vor einiger Zeit aufgelöst. Die von ihr mitgeführten Güter waren zu den Speichern und Zeughäusern im portugiesischen Viertel gebracht worden, und die neu eingetrof fenen Siedler machten sich gerade mit den alteingesessenen bekannt. Viele Schaulustige, die nichts versäumen wollten, schlenderten noch auf dem Platz umher. Der Anblick der portugiesischen Soldaten und der Kongo-Krieger war für sie offenbar nicht mehr als eine willkom mene Abwechslung, die ihnen die Ankunft der Pestflotte beschert hat te. Gil bahnte sich durch die Menge einen Weg zu Rodrigues. »Was geht hier vor, Marschall? Wozu habt Ihr diese Streitmacht hier versammelt?« fragte er. »Eine Jagdgesellschaft, senhor. Wir brechen auf, um Mpanzu einzu fangen.« »Was? Wer hat die Erlaubnis dazu erteilt?« 519
»Der König.« »Das glaube ich nicht. Wo ist er?« »Im Pfarrhaus, mit dem Bischof und Lopes.« Gil begann, die Stufen zur Kathedrale hinaufzusteigen. »Einen Augenblick, senhor. Wohin wollt Ihr?« »Was glaubt Ihr wohl? Zum König natürlich.« »Er hat nicht nach Euch geschickt.« »Seit wann muß ich darauf warten, dass er nach mir schickt?« »Seit wir einen neuen Gouverneur haben.« Rodrigues erwähnte Lo pes' Titel mit kaum verhohlener Bitterkeit; offenbar war er nicht weni ger verärgert darüber als de Sousa, dass dieser Neuankömmling nun die oberste Befehlsgewalt in der portugiesischen Kongo-Kolonie inne hatte. »Er hat angeordnet, dass niemand ohne ausdrückliche Auffor derung zum König darf.« »Es ist mir völlig gleichgültig, was er angeordnet hat«, erwiderte Gil. Rodrigues zuckte die Achseln. Er hegte nicht die Absicht, Gil am Betreten der Kathedrale zu hindern; ja, er sah es sogar gern, wenn je mand sich einer Anordnung des neuen Gouverneurs widersetzte. Aber Gil blieb stehen. Er zögerte, weil er sich fragte, ob Lopes wohl einen Keil zwischen ihn und seinen alten Freund treiben wollte. Aber weshalb? Er stieg die Kirchenstufen wieder hinab. »Da fällt mir gerade etwas ein, was ich Euch schon seit einer Weile fragen wollte, Marschall«, sagte er. »Und das wäre?« »Habt Ihr schon gehört, dass eine neue Welt entdeckt wurde?« »Eine neue Welt?« »Brasilien.« Rodrigues schüttelte den Kopf. »Niemand hat Euch davon berichtet? Bischof de Sousa nicht, und der neue Gouverneur ebensowenig?« »Ihr seid der erste, von dem ich etwas über eine neue Welt höre, se nhor. Ist sie ein Teil der indischen Länder? Ich habe gehört, dass der Seeweg nach Indien entdeckt wurde.« 520
»Ja – ich glaube, sie gehört zu den indischen Ländern.« Vielleicht war es ein Geheimnis. Womöglich hielten de Mello und Lopes diese Nachricht sogar vor Bischof de Sousa geheim. Denn wenn sie sie dem Bischof mitgeteilt hätten, dann hätte dieser sie sicher an Rodrigues weitergegeben. Vielleicht war es ein Geheimnis, das Hen riqué irgendwie in Erfahrung gebracht hatte, und er hatte daraufhin schwören müssen, es für sich zu behalten. »Seine Majestät!« bellte Rodrigues, und die Soldaten und Krieger nahmen sofort Haltung an. Affonso trat aus der Kathedrale; er wirkte aufgebracht. Lopes und de Sousa folgten ihm mit ernsten Gesichtern. »Wo warst du, Gil? Einen Augenblick bist du an meiner Seite, und wenn ich mich im nächsten Augenblick nach dir umdrehe, bist du ver schwunden.« »Ich habe Kimpasi zu seiner Mutter nach Hause gebracht. Und als ich dann hierher kam, ließ man mich aufgrund einer Order von Dom Alvaro nicht zu dir.« »Ihr müßt verstehen, Senhor Eanes, dass gemäß den Vorschriften des regimento …«, begann Lopes umständlich und schnalzte mit der Zunge gegen seinen zahnlosen Kiefer. Doch Gil unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Und was geht hier überhaupt vor sich, Mbemba?« fragte er. »Ich höre, du hast die Erlaubnis gegeben, Mpanzu festzusetzen. Ist das wahr?« Affonso wandte sich ab und schritt über den Platz zum Fluss hinun ter. Er trug noch immer seine höfische europäische Kleidung, aber als er am Ufer anlangte, zog er seinen Degen, kauerte sich im Schilf nieder und begann, mit der Waffe im Uferschlamm herumzustochern. Gil sah zu Lopes und de Sousa; sie waren mit Rodrigues auf den Stufen zur Kathedrale stehengeblieben. Würde Rodrigues den Bischof nun wegen Brasilien fragen? Und falls der Bischof nichts davon wus ste, würde der Marschall seine Frage dann an Lopes richten? Und was würde dieser sagen? Oder hatte auch er nichts davon erfahren? Viel leicht hatte de Mello es sogar vor ihm geheimgehalten. Gil trat zu Af fonso. 521
»Es ist also wahr, nicht? Du hast die Erlaubnis gegeben, Mpanzu ge fangenzunehmen.« Affonso stocherte noch immer im Schlamm. »Warum?« »Du weißt doch, warum.« Affonso drehte sich um und deutete mit dem Kopf auf die drei Portugiesen auf den Kirchenstufen. »Du hast zu mir gesagt, du willst nicht, dass Mpanzu etwas zustößt, Mbemba. Du hast gesagt, dass ihm schon genug zugestoßen ist. Aber diese Leute werden ihm sicher etwas antun.« »Nein, Gil, das werden sie nicht.« Affonso stand auf; den Degen ließ er im Schlamm stecken. »Ich habe ihnen nur erlaubt, ihn gefangenzu nehmen, um ihn zu taufen.« »Zu taufen? Was redest du da? Sie werden ihn niemals taufen. Dazu wird er sich nie bereit erklären. Sie haben es ihm schon einmal ange tragen, und wenn er damals eingewilligt hätte, wäre er sogar König ge blieben. Aber er hat sich geweigert. Und das wird er auch jetzt tun, das weißt du so gut wie ich.« Langsam und bedächtig zog Affonso seinen Degen aus dem Morast, wischte ihn ab und steckte ihn wieder in die Scheide. »Ich verstehe dich nicht, Mbemba. Warum hast du dem zugestimmt? Warum hast du deine Meinung geändert und wirfst Mpanzu jetzt die sen Hunden zum Fraß vor?« »Wegen König Emanuels Schiffen.« »Was haben die damit zu tun?« »Dom Alvaro sagt, König Emanuel hat diese Schiffe nur geschickt, weil der Kongo wie Portugal ein katholisches Königreich ist; nur weil ich, wie Emanuel, ein katholischer König bin. Er sagt, für einen heid nischen König hätte Emanuel sich nie in so große Kosten gestürzt; mit einem heidnischen Reich hätte er nie ein derartiges Bündnis ange strebt.« »Aber du bist doch kein heidnischer König. Du bist Katholik, und dies ist ein katholisches Reich.« »Nicht, wenn ich Mfidi heirate. Bischof de Sousa sagt, er wird mich exkommunizieren, wenn ich mir eine zweite Königin zur Frau nehme. 522
Und dann sind diese Schiffe die letzten, die ich vom Land am anderen Ufer des Meeres zu Gesicht bekommen werde.« »Und was ist mit der Annullierung?« »Bischof de Sousa will sie nicht mehr erteilen. Er sagt, sie ist nicht mehr notwendig. Er sagt, mit den vielen neu angekommenen Prie stern kann er im ganzen Reich, und insbesondere bei den Nsundi, ei nen Kreuzzug durchführen, um alle zu taufen, und auf diese Weise si cherstellen, dass sie mir ergeben bleiben.« »Ja, auch Nimi sagte, dass das seine Absicht ist.« »Aber er weiß, dass er die Nsundi nicht taufen kann, wenn er nicht auch Mpanzu tauft. Die Nsundi werden das Sakrament nur anneh men, wenn auch der ManiNsundi es empfängt.« »Und wenn er nicht will?« Affonso zuckte die Achseln. »Du bist also um der Freundschaft von König Emanuel und der Schätze willen, die diese Schiffe gebracht haben, bereit, deinen Bruder diesen Hunden vorzuwerfen?« »Warum nicht? Warum sollte ich ihn weiterhin schützen? Hast du nicht selbst zu mir gesagt, er ist mein Feind? Hast du nicht selbst ge sagt, dass er eine Armee gegen mich aufstellt? Warum sollte ich also dann zulassen, dass er meinem Traum im Wege steht – dem Traum, mein Reich zu einem Teil der großen Welt zu machen? Wenn zur Er füllung dieses Traums nicht mehr nötig ist, als dass ich die Erlaubnis gebe, meinen Bruder ergreifen und taufen zu lassen, ja, dann tue ich das gern.« Gil schüttelte den Kopf. »Stell dich jetzt nicht gegen mich, Gil. Ich brauche dich jetzt mehr als je zuvor an meiner Seite.« »Ich bin auf deiner Seite, Mbemba. Ich bin dein Freund und treu er Diener, und ich bleibe an deiner Seite. Obwohl ich glaube, dass das, was du tust, falsch ist.« »Ntondesi.« Gil sah zu, wie Affonso zu den drei weißen Männern auf der Trep pe vor der Kathedrale zurückging und kurz mit ihnen redete. Dann 523
stellten sich Lopes und Rodrigues neben den Mönch mit dem großen Holzkreuz und übernahmen die Führung der Kolonne. Die Hornblä ser stießen einige laute, schrille Signale aus, die Trommler fielen in ei nen Marschrhythmus, und damit begannen die Soldaten und Krie ger, Wagen und Kanonen sich auf die mittlere Brücke über den Lue zi zuzubewegen. Es war eine beeindruckende Kampftruppe, aber au ßerhalb der Stadt würde sie nur schwer vorankommen. Sobald die Soldaten mit ihren schweren Rüstungen und die Bombarden auf ih ren Lafetten mit den hölzernen Rädern die königlichen Straßen ver ließen und in das zerklüftete Bergland von Nsundi vordrangen, wo sie Mpanzu aufspüren wollten, würden sie sicher große Schwierigkei ten bekommen. Gil gab Nuno und Gonçalo ein Zeichen. »Folgt ihnen, mbakala, sag te er. »Folgt dem Hauptmann Rodrigues und Lopes, dem neuen Por tugiesen. Ich will wissen, wie und ob sie es schaffen, den ManiNsun di zu fangen.«
KAPITEL 5
W
ie schon während der ersten Jahre von Affonsos Regierungszeit begann auch in den Wochen nach der Ankunft der Pestflotte in São Salvador eine rege Bautätigkeit, um den vielen neuen Siedlern Un terkünfte zu errichten und die mitgebrachten Güter zu lagern. Neue Wohnhäuser und Speicher entstanden entlang der engen Gassen des portugiesischen Viertels; die bereits vorhandenen Kasernen sowie das Kloster wurden vergrößert; man verstärkte die Brücken über den Lue zi, damit sie schweren Gefährten, vor allem den Munitionswagen, standhielten, in den Feldern vor der Stadt wurden in Erwartung der nächsten Regenzeit Obstgärten und Plantagen mit den importierten Bäumen und Feldfrüchten angepflanzt, und auf der anderen Seite des Luezi legte man den Grundstein für eine zweite Kirche, die Unserer 524
Siegreichen Jungfrau geweiht werden sollte und in erster Linie für das einfache Volk gedacht war. Und auch der Bau einer vierten Kirche im Reich, jene in Santo Antonio mitgerechnet, wurde in Angriff genom men. Sie entstand in Mpangala und sollte dem Heiligen Kreuz geweiht werden, um dem Kreuzzug für die Seelen der Nsundi moralischen Auftrieb zu geben. Sobald das Gotteshaus vollendet war, würde auch die Stadt in Santa Cruz umbenannt werden. Den Dienst in dieser Kirche sollte Henriqué versehen. Bischof de Sousa hatte seinen Bitten nachgegeben, ihn nicht als Sekretär im Pfarr haus anzustellen – jeder weiße Priester konnte diesen Posten eben so ausüben – und ihn statt dessen missionieren zu lassen, denn da für hielt er sich aufgrund seiner Herkunft für besser geeignet. Und so brach Henriqué an diesem Morgen, am Ende der Woche nach Ostern, nach Mpangala auf. Gil, Beatriz und ihre alte Dienerin Nimi gingen zum Kloster, um ihm Lebewohl zu sagen. Er war bei der Morgenandacht, als sie am Kloster eintrafen, und da Frauen die Kapelle nicht betreten durften, warteten sie im Innenhof auf ihn. Es war ein schöner Ort, mit Kieselsteinen gepflastert, einem steinernen Brunnen in der Mitte und einem von blühenden Bäumen gesäumten Schrein der Heiligen Muttergottes. Buntgefiederte Finken begrüßten in den Baumkronen munter zwitschernd den neuen Tag; der Himmel erhellte sich; in seinem blassen Blau schwammen die er sten kleinen Wolken, die die nahende Regenzeit ankündigten. Gil setz te sich auf den Rand des Brunnens. Die Zellen der Priester und Mön che des Klosters waren um den Hof herum angeordnet. »Haben sie ihn schon gefunden?« wollte Beatriz wissen. Gil wusste, dass sie nach Mpanzu fragte. Seit sie von der Kampftrup pe gehört hatte, die ausgeschickt worden war, um ihn aufzuspüren, hatte sie sich immer wieder nach ihm erkundigt. Gil schüttelte den Kopf. Der Klang der aus der Kapelle dringenden Gesänge harmonier te mit dem Lied der Vögel in den Bäumen. »Ich hoffe nur, dass sie ihn bald finden. Und ihn töten.« »Wie grausam du bist, Nimi.« »Als die Dinge noch anders lagen, war er ebenso grausam zu mir 525
und zu dir auch. Und jetzt wäre er auch nicht anders – wenn er könn te, würde er uns sofort aus dem Land jagen.« »Da hast du vermutlich recht.« »Warum machst du dir also Sorgen um ihn?« »Das tue ich nicht.« »Du benimmst dich so, als würdest du hoffen, dass sie ihn nie finden. Bischof de Sousa sagt …« »Mein Gott, Nimi, warum mußt du andauernd nachplappern, was Bischof de Sousa sagt? Warum machst du dir nicht einmal deine eige nen Gedanken?« »Worüber denn?« Die andere Nimi, die alte Dienerin, zog sich diskret etwas zurück; es war ihr peinlich, einen Streit ihrer Herrschaften mit anzuhören. »Darüber, weshalb alle diese Schiffe gekommen sind. Darüber, was die vielen Portugiesen hier wollen.« »Was wollen sie denn hier?« Gil gab ihr keine Antwort. Beatriz trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sag es mir, Gil«, wiederholte sie ruhig. »Was wollen sie hier?« »Ich weiß es nicht, Nimi. Ich weiß es einfach nicht.« »Aber du meinst, es ist nicht gut, dass sie gekommen sind, genau wie meine Mutter.« »Ja.« »Und Affonso glaubt, dass es gut ist.« »Er irrt sich.« »Hast du ihm das gesagt?« »Ich habe es versucht, aber er hört nicht auf mich. Er will nichts Schlechtes über die Portugiesen hören. Er wagt es nicht, so etwas zu denken. Nach allem, was geschehen ist, muß er glauben, dass sie in gu ter Absicht gekommen sind.« »Ja«, sagte Beatriz und legte ihre Stirn an seine. »Und mir geht es ebenso.« Der Gesang aus der Kapelle verstummte; für eine Welle war nur das Singen der Vögel zu hören, während Gil und Beatriz ihren Gedanken 526
nachhingen und, Kopf an Kopf gelehnt, in dieser halben Umarmung verharrten. Dann erklang die Glocke, und nach und nach traten die Priester und Mönche aus dem Gotteshaus. »Euer Sohn kommt«, sagte die andere Nimi. Mit niedergeschlagenem Blick eilte Henriqué den anderen voraus. Er war reisefertig gekleidet und trug Sandalen und eine Soutane mit Ka puze; die langen blonden Haare hatte er wie sein Vater zu einem Zopf geflochten, und um seinen Hals hing die Blutsteinkette. »Wie traurig er aussieht«, bemerkte Beatriz, die noch immer an Gil lehnte. »Er wirkt immer so bedrückt.« Es stimmte. Sogar wenn er lächelte – so wie jetzt, als er sah, dass sei ne Eltern und Nimi ihn am Brunnen erwarteten –, schien in seinen hellblauen Augen alle Traurigkeit der Welt zu liegen. »Bist du fertig für die Reise, Kimpasi?« fragte Gil. »Ich muß nur noch ein paar Sachen packen, pai.« »Willst du es dir nicht noch einmal überlegen, mbakala?« fragte Bea triz. »Gibt es nichts, womit ich dich umstimmen könnte?« »Nein, Mutter.« »Ich verstehe einfach nicht, warum du unbedingt weggehen mußt«, sagte Beatriz gereizt. »Es sind doch schon zwei Priester in Mpangala, Pater Duarte und Pater José. Das sollten doch genug sein, selbst für ei nen Kreuzzug bei den Nsundi.« »Es gefällt mir nicht, wie sie ihren Kreuzzug durchführen. Sie sind ja geradezu fanatisch, vor allem Pater Duarte.« Diese Bemerkung klang in Beatriz' Ohren wie ein Frevel; schockiert sah sie auf Gil. »Wie meinst du das?« fragte dieser. »Er hat der Inquisition angehört, pai, und er glaubt, dieselben Me thoden auch hier anwenden zu können. Ich habe gehört, dass er sich in sämtliche Zeremonien und Bräuche einmischt und sie zu heidnischen Ritualen erklärt, die in den Augen Gottes Sünde sind. Heirats- und Begräbnisfeierlichkeiten zum Beispiel. Oder Geburtsfeste, Initiations riten und Werbungstänze. All diese Dinge betrachtet er als Werk Sa tans und läßt die nsaku, die sie durchführen, und jeden, der daran teil 527
nimmt, verprügeln und die Fetische zerstören. Ich habe gehört, dass er seine Soldaten sogar Wohnungen und heilige Orte durchsuchen läßt und alle Fetische, die sie finden, in Freudenfeuern auf den Marktplät zen verbrennt. Das ist Wahnsinn. Wenn er glaubt, dass er die Nsundi auf diese Art und Weise bekehren kann, ist er verrückt.« »So darfst du nicht über ihn sprechen, Henriqué«, wandte Beatriz er schrocken ein. »Er ist der höchste Geistliche im Reich nach dem Bi schof, und er hat Macht über dich. Er kann dir schaden.« »Es geht nicht darum, dass er mir schaden kann, Mutter. Es geht darum, dass er der Kirche schadet. Mit solchen Methoden wird er die Nsundi nie zum Glauben führen. Er wird nur erreichen, dass sie der Kirche noch feindseliger gegenüberstehen. Und genau deshalb muß ich nach Mpangala – um ihm zu zeigen, dass es bessere Methoden als Feuer und Prügel gibt, um die Nsundi zu bekehren.« »Aber wie willst du ihm das zeigen?« fragte Gil. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Ich muß es versuchen, pai. Und wenn es mir nicht gelingt, dann muß ich zumindest den Nsundi zeigen, dass nicht alle katholischen Priester so sind wie er.« Gil nickte. »Komm, Kimpasi, ich helfe dir, deine Sachen zu packen.« Beatriz und Nimi begleiteten die beiden Männer nicht zu Henriqués Zelle, denn natürlich hatten Frauen auch dort keinen Zutritt. Inzwi schen war es vollends Morgen geworden; es würde wieder ein warmer, sonniger Tag werden. Doch die fensterlose Zelle war kühl, dunkel und nur sehr spärlich ausgestattet: ein harter Rost auf dem Steinboden als Schlafstelle, ein Hocker und ein Tisch, der an die kalte Steinmauer ge rückt war, ein Krug und eine Waschschüssel darauf und ein Kruzifix darüber an der Wand. Auf dem Rost lag eine Decke aus grober Wolle. Henriqué hockte sich daneben und begann, seine Habseligkeiten dar in einzuwickeln. Gil setzte sich auf den Hocker. »Weshalb ist Nimi hier, pai?« fragte Henriqué. »Deine Mutter hat sie gebeten, dich nach Mpangala zu begleiten, und sie ist einverstanden.« »Soll sie sich um mich kümmern?« 528
»Ja«, antwortete Gil mit einem Lächeln. »Sie sieht in mir also noch immer einen Jungen, der allein nicht zu rechtkommt.« »Nein, Kimpasi, sie weiß, dass du ein Mann bist. Sie sieht durch aus, dass du ein starker Mann mit großen Gedanken bist. Aber jeder Mann, auch ein Priester, hat einen Anspruch darauf, von einer Frau umsorgt zu werden.« Henriqué hatte kaum etwas einzupacken: eine frisch gewaschene Soutane, Unterwäsche zum Wechseln, ein Rasiermesser und Rasier seife, sein Brevier und seine Messgewänder, sonst praktisch nichts. Gil schaute zu, wie er alles in seiner Decke verstaute und diese dann mit einem Seil zu einem Bündel verschnürte, das er über der Schulter tra gen konnte. »Es gibt noch etwas, worüber ich mit dir reden möchte, Kimpasi.« »Was denn, pai?« »Falls du gelobt hast, nicht darüber zu sprechen, falls es ein Geheim nis ist, das du für dich zu behalten geschworen hast, dann verstehe ich das.« Henriqué war mit dem Packen fertig und hockte sich vor seinem Va ter nieder. »Diese neue Welt namens Brasilien, Kimpasi. Als du mir das erste mal davon erzähltest, wolltest du mir auch sagen, wer dorthin gebracht wird, um Siedlungen zu bauen. Aber dann kam der donatario und un terbrach uns, und seither hast du dieses Thema mit keinem Wort mehr erwähnt. Ist dir nicht erlaubt, darüber zu reden?« Der junge Priester blickte auf den Hof hinaus, als wollte er prüfen, ob jemand mithören konnte. »Dir erzähle ich es, pai«, sagte er dann. »Ich werde es für mich behalten.« »Vielleicht solltest du das gar nicht. Vielleicht ist es besser, wenn es bekannt wird. Diese Entscheidung überlasse ich dir.« Gil lehnte sich auf dem Hocker nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Es besteht ein großer Bedarf an Arbeitskräften in der neuen Welt, pai; Tausende, wenn nicht Zehntausende werden gebraucht, um die 529
Siedlungen zu bauen, die diesen Kontinent gemäß dem Vertrag von Tordesillas entweder zu einer portugiesischen oder einer spanischen Kolonie machen werden. Aber die dort lebenden Menschen, die india nos – so werden sie genannt, weil viele noch immer glauben, dass die neue Welt ein Teil der indischen Länder ist –, diese indianos sind nicht kräftig genug dafür. Sie sterben, wenn sie zu harter Arbeit gezwungen werden. Deshalb muß man Männer dorthin schaffen, die an ihrer Stel le die Arbeit tun.« »Ja, das hast du mir schon gesagt.« »Aber die Männer, die dorthin geschafft werden, gehen nicht freiwil lig, pai. Sie werden gezwungen, dorthin zu gehen.« »Was sind das für Menschen?« »Anfangs waren es Verbrecher, Kerkerhäftlinge, Vogelfreie und ähn liche Leute. Sie wurden aus sämtlichen Gefängnissen Portugals heraus geholt, und wenn sie sich bereit erklärten, dorthin zu fahren, wurde ih nen die Freiheit geschenkt. Der nächste Schritt war, dass man sie auch dann aus den Kerkern herausholte, wenn sie sich nicht bereit erklärten zu fahren. Aber der Bedarf an Männern ist so groß, dass die Insassen sämtlicher Gefängnisse ihn nicht decken können. Also mussten an dere Männer gefunden werden. Leibeigene, Pachtarbeiter und Vasal len wurden von ihren Herren dafür verkauft. Die Armenhäuser wur den geleert, Bauern von ihren Höfen weggekauft. Vagabunden, Aben teurer und alle möglichen zwielichtigen Gestalten wurden einfach ver haftet und zur Strafe für ihre Vergehen nach Brasilien verschifft – wei ße Männer und Christen, sogar Frauen und Mädchen. Der Infant Af fonso, Johanns Sohn und der rechtmäßige Thronerbe, wandte sich ge gen diese Machenschaften, und deshalb wurde an seiner Stelle Emanu el auf den Thron gehoben, der wild entschlossen ist, sich bei dem Wett lauf um die neue Welt gegen die Spanier durchzusetzen. Aber auch er hat nicht genügend Männer gefunden, um diese Gebiete so zu besie deln, wie er möchte …« Gil wartete darauf, dass sein Sohn weitersprach, aber Henriqué schwieg gedankenverloren. Es war, als würde eine Erinnerung in ihm aufsteigen; eine Erinnerung an Menschen, die in Lissabon zusammen 530
getrieben und gegen ihren Willen tausend Leguas über den Ozean in die neue Welt verschickt wurden. Vielleicht war er selbst Zeuge einer solchen Szene geworden; vielleicht war das der Grund seiner Traurig keit. »Und?« fragte Gil nach einer Welle. »Was hat Emanuel getan, um genügend Männer zu finden, mit denen er die neue Welt besiedeln kann?« Henriqué sah seinen Vater bedrückt an. Doch er beantwortete die Frage nicht direkt. Er schien einem völlig anderen Gedanken nachzu hängen. »Auf unserer Reise von Lissabon hierher, pai«, sagte er leise, »liefen wir São Jorge da Mina an, um Proviant und frisches Wasser an Bord zu nehmen und auch den donatario Dom Fernão.« »Ja.« »Als wir dort anlegten, lag ein Schiff im Hafen. Ein portugiesisches Schiff mit Ziel Brasilien. Und es waren Neger an Bord.« »Neger? Ashanti?« »Nein, keine Ashanti, sondern Mandingo. Ungefähr hundert Män ner und ebenso viele Frauen und Kinder. Die Ashanti hatten sie bei ei nem Kriegszug gefangengenommen und nach São Jorge da Mina ge bracht. Der dortige Ashanti-Häuptling hatte sie dem donatario gegen Feuerwaffen verkauft, und der wiederum dem Kapitän dieses Schif fes – zum Transport nach Brasilien.« Wieder wartete Gil, dass Henriqué fortfuhr. Was sein Sohn bisher erzählt hatte, war nichts Neues für ihn. Diese Art von Handel gab es bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert, schon seit portugiesi sche Schiffe auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien die afrika nische Westküste hinunterfuhren. Neben dem Handel mit Goldstaub und Elfenbein, Palmöl und Gewürzen hatten Kapitäne, die São Jorge da Mina anliefen, schon immer auch eine Anzahl Sklaven gekauft – Gefangene, die Häuptlinge der Region bei Kriegszügen gemacht hat ten –, um sie als ›Trophäen‹ an adelige Häuser in Portugal weiterzu verkaufen. Sicher, in diesem Fall sollten die Gefangenen nach Brasili en verschifft werden und nicht nach Portugal, das war ein Unterschied. 531
Aber vielleicht gab es ja in Brasilien bereits adelige Familien, die sich solche ›Trophäen‹ wünschten. »Verstehst du, was das bedeuten könnte, pai?« fragte Henriqué end lich. Gil schüttelte den Kopf. »Das kann bedeuten, dass Emanuel die Männer, die er braucht, um in Brasilien neue Siedlungen zu bauen, jetzt aus Afrika holen will.« »Ja, das kann es bedeuten.« »Zuerst kauft er sie von den Ashanti in São Jorge da Mina. Aber wenn er mehr und immer mehr braucht, kann es sein, dass er sie als näch stes von den Kongo kauft. Möglicherweise ist Dom Fernão aus diesem Grund hier, pai. Um dem Mani-Kongo Menschen für Brasilien abzu kaufen.« »Aber welche Menschen, Kimpasi? Die einzigen Männer, die der Ma niKongo in die Sklaverei verkaufen kann, sind solche, die er in einem Krieg gefangennimmt.« »Dann wird es eben einen Krieg geben müssen.«
Die Regenfälle rückten immer näher; der Wind trug ihren metalli schen Geruch vor sich her. Bei Einbruch der Nacht trieb der Wind Wolken über den Himmel, die den Mond und die Sterne verhüllten und schweren Tau brachten. Bis zum Morgengrauen hatten sich die Wolken zerstreut, doch bald sammelten sie sich erneut zu immer mehr bleigrauen Galeonen. Und Mpanzu war nach wie vor nicht aufgespürt worden. Am Morgen des Himmelfahrtstages ging über dem königli chen Plateau ein leichter Nieselregen nieder, doch der Wind blies die Wolken fort, noch bevor die Sonne aufging. Beatriz machte sich fertig für die Messe am Himmelfahrtstag; zwi schendurch gab sie ihren Dienerinnen Anweisungen, überwachte die Vorbereitungen für ein Fest und kümmerte sich darum, dass Teresa passend gekleidet wurde. Gil saß derweil draußen auf der Veranda und wartete auf Nuno und Gonçalo. In den vergangenen Wochen hatte er 532
von den beiden regelmäßig Berichte über die Expedition unter Rod rigues und Lopes erhalten. Offenbar hatten die Portugiesen anfäng lich einige gute Informationen über Mpanzus Verbleib bekommen – Gil wollte sich lieber nicht vorstellen, mit welchen Methoden sie diese Auskünfte erhalten hatten – und waren auf der beschwerlichen Route am Ufer des Lelunda nach Osten marschiert, zu dem Nsundi-Fischer dorf, in dem Mpanzu zuletzt gesehen worden war. Doch als sie dort eintrafen, fanden sie Mpanzu nicht mehr vor und wussten nun nicht, wo sie ihn suchen sollten, ja nicht einmal, welche Richtung sie ein schlagen sollten. In ihrem letzten Bericht hatten die Brüder erklärt, die Expedition wolle zunächst noch weiter Flussaufwärts nach Osten in die endlose Weite des wilden, hügeligen Graslandes vordringen – und das war die falsche Richtung. Denn nach den Informationen, die Nuno und Gonçalo selbst eingeholt hatten, hatten Mpanzu und seine Leute den Lelunda überschritten und sich nach Süden gewandt. Aus diesem Grunde hatte Gil den beiden Brüdern befohlen, nach São Salvador zu rückzukehren. Mit etwas Glück würden sie an diesem Morgen noch vor Beginn der Messe zu Christi Himmelfahrt eintreffen. Und tatsächlich – während Gil auf Beatriz und Teresa wartete, ent stand unten in den Gärten Unruhe. Die Krieger, die sein Haus bewach ten, hielten eine Person auf, die das königliche Anwesen betreten woll te. Gil verließ die Veranda und ging hinunter; dabei fragte er sich, wes halb nur einer der Brüder zurückgekehrt war. Was war mit dem an deren geschehen? Er würde es sich nie verzeihen, wenn einer von ih nen verletzt, verschollen oder gar tot war. Aber dann stellte sich her aus, dass es gar nicht einer der Brüder war, sondern Nimi, die Diene rin. Gerade als er sie erkannte, kamen Beatriz und Teresa mit ihren Dienerinnen auf die Veranda, um zur Messe zu gehen. »Nimi«, rief Beatriz und eilte die Veranda hinunter. »Wieso bist du hier, mchento? Es ist wegen Henriqué, nicht wahr? Henriqué ist etwas zugestoßen!« »Nein, Herrin, Henriqué ist nichts passiert.« »Warum bist du dann hier?« »Ich bringe seinem Vater eine Botschaft von ihm.« 533
»Welche Botschaft?« Nimi sah zu Gil. »Geh mit Teresa zur Kathedrale«, sagte Gil zu Beatriz. »Du darfst Bi schof de Sousa nicht warten lassen.« »Ich bin kein Kind, Gil, schick mich also nicht fort, als wäre ich ei nes. Ich will hören, welche Botschaft mein Sohn seinem Vater schickt. Bischof de Sousa kann sehr wohl warten.« Gil wollte sich nicht mit ihr streiten. »Wie lautet Kimpasis Botschaft, mchento?« fragte er Nimi. »Ich soll dir sagen, dass der Priester Duarte ein Autodafé durchge führt hat.« Gil erbleichte, als er diese Nachricht hörte; ein Schauder lief ihm über den Rücken. »Ein Autodafé?« wiederholte er ungläubig. »Er sagte, du würdest wissen, was damit gemeint ist.« »Ja, ich weiß Bescheid«, erwiderte Gil. Mit einemmal war sein Mund völlig trocken. Beatriz sah ihn an. »Aber ich weiß nicht Bescheid«, sagte sie, beun ruhigt über Gils Reaktion. »Was bedeutet das, Autodafé?« fragte sie. Gil hatte keine Gelegenheit, ihr etwas zu erwidern. Die alte Diene rin kam ihm zuvor, und sie antwortete mit einer Heftigkeit, die erken nen ließ, dass sie wusste, wovon sie sprach; mit einer Kraft, die deut lich machte, dass sie selbst gesehen hatte, was sie nun beschrieb; und mit einer Überzeugung, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie keine Katholikin war. »Autodafé, Herrin, ist das Verbrennen von Menschen in einem Feuer.« »Was? Was sagst du da? Das ist doch Wahnsinn! Warum sollte je mand Menschen in einem Feuer verbrennen? Warum sollte Pater Duarte so etwas tun? Wer sagt so etwas Schreckliches?« »Ich habe es dir gesagt, Herrin. Und auch dein Sohn sagt so etwas Schreckliches.« Beatriz' Mund stand offen; ihre großen, leuchtenden braunen Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Sie zögerte einen Augenblick – und dann schlug sie der alten Dienerin unvermittelt ins Gesicht. Gil packte sie am Arm. Doch sie befreite sich und wollte gerade wü 534
tend ein zweites Mal zuschlagen, als sie bemerkte, dass ihre Tochter von der Veranda heruntergekommen war und alles beobachtete. »Geh weg, Teresa!« schrie sie. »Geh in die Kathedrale! Ihr Frauen, was steht ihr hier herum? Nehmt die Kleine und bringt sie zur Kathe drale!« »Ich will aber nicht in die Kathedrale!« kreischte Teresa und wich den von der Veranda heruntereilenden Dienerinnen geschickt aus. »Ich will dahin gehen, wo die Leute im Feuer verbrennen. Wo ist das, Nimi? Nimm mich dahin mit. Ich will es sehen.« »Komm her, du böses Mädchen! Komm sofort her!« Beatriz erwisch te das zappelnde Kind und schüttelte es zornig. »Es gibt keine Leu te, die im Feuer verbrennen, du dummes Ding! Wie kannst du nur so etwas Entsetzliches sagen! Du gehst jetzt sofort in die Kathedrale. Du bist schon viel zu spät dran!« Und als ob sie vor der entsetzlichen Nachricht fliehen wollte, als ob sie nichts mehr davon hören wollte, da mit sie es schließlich nicht doch noch glauben musste, schleifte sie Te resa mit sich fort. Die Dienerinnen eilten ihr nach. Aber plötzlich hielt sie inne, kehrte um und schickte die Frauen mit Teresa zur Kirche voraus. »Bitte verzeih mir, Nimi«, sagte sie. »Ich woll te dir nicht weh tun. Aber was du gesagt hast, hat mir einen furchtba ren Schrecken eingejagt. Es ist entsetzlich, so etwas zu hören.« »Es ist noch schrecklicher, so etwas zu sehen, Herrin.« »Du hast es selbst gesehen?« »Ja, das habe ich.« »Wer war es?« fragte Gil. »Ein alter nsaku der Nsundi. Der Priester Duarte hat ihn viele Male verprügeln lassen, weil er verbotene Zeremonien abhielt. Aber er ließ sich nicht einschüchtern. Kinder werden geboren – sie müssen in die Welt eintreten, wie es sich gehört. Junge Männer reifen heran, Mäd chen kommen ins heiratsfähige Alter, alte Leute sterben. Der nsaku wollte nicht zulassen, dass all diese Ereignisse ohne die dazugehöri gen Feste und Zeremonien vor sich gehen. Selbst als alle anderen nsa ku schon zuviel Angst hatten, hielt dieser alte Mann noch alle notwen digen Feierlichkeiten ab, obwohl der Priester Duarte ihn deshalb im 535
mer wieder verprügeln ließ. Er ist vom Teufel besessen, sagte der Prie ster Duarte, und die Prügel sollten den Teufel aus ihm vertreiben. Und als die Schläge nichts bewirkten sagte der Priester Duarte, Feuer wür de den Teufel austreiben. Ein Pfahl wurde auf dem großen Marktplatz in die Erde gerammt, der alte nsaku wurde darangebunden, und um ihn herum wurden Bündel aus Feuerholz aufgeschichtet …« »Ich will nichts mehr davon hören!« Beatriz preßte die Hände auf die Ohren. »Ich will nicht hören, wie es war. Bitte, mchento, hör auf!« Die alte Frau schwieg sofort und preßte die Lippen hart aufeinander; offenbar war sie froh, nicht fortfahren zu müssen. »Was war mit Kimpasi?« fragte Gil. »Was hat er gemacht? Hat er ver sucht, einzugreifen und es zu verhindern?« »Ja.« »Und?« »Er konnte es nicht verhindern.« »Ich weiß, dass er es nicht verhindern konnte. Aber was ist passiert, als er versucht hat, es zu verhindern? Das möchte ich wissen, mchento. Hat er sich mit Pater Duarte geprügelt?« »Ich habe keine Prügelei gesehen«, erwiderte Nimi kurz angebun den. Gils barscher Ton ärgerte sie. »Na ja, das ist ja wenigstens etwas.« »Er hat sich geweigert, dem Autodafé zuzusehen. Er ist zum Lelun da hinuntergegangen, und während der nsaku verbrannte, kniete er am Wasser und hörte sich die Schreie an. Er hat an diesem Tag nichts gegessen. Ich brachte ihm etwas, aber er hat nichts angerührt. Er sag te, ich soll dich aufsuchen und berichten, was geschehen ist. Und dich bitten, zu Bischof de Sousa zu gehen und ihm zu sagen, was vorgefal len ist. Es ist gut möglich, dass er nichts gegessen hat, seit ich von ihm weggegangen bin.« Gil blickte um sich, unfähig, sein Grauen in Worte zu fassen. »Ich habe dir seine Botschaft überbracht, und nun werde ich zu ihm zurückgehen und nachsehen, ob er etwas gegessen hat.« »O ja, tu das«, antwortete Beatriz sofort. »Geh wieder zu ihm und kümmere dich darum, dass er etwas ißt.« 536
»Und welche Antwort soll ich ihm von seinem Vater überbrin gen?« fragte die alte Dienerin, noch immer verärgert über Gils brüske Art. »Sag ihm, sein Vater wird tun, worum er bittet«, antwortete Beatriz. »Er wird zu Bischof de Sousa gehen und ihm berichten, was gesche hen ist.« »Wozu sollte das denn gut sein?« fuhr Gil sie an. »Das hat doch über haupt keinen Zweck!« »Aber Seine Gnaden muß es doch erfahren«, erwiderte Beatriz. »Nein, das muß er nicht«, widersprach Gil. »Er weiß nämlich be stens Bescheid. Du glaubst doch wohl nicht, dass Pater Duarte es wa gen würde, so etwas ohne die Erlaubnis des Bischofs zu tun!« Beatriz schwieg. »Nein, Bischof de Sousa brauchen wir nicht Bescheid zu geben. Son dern Affonso. Er ist der König.« Ines und die Kinder waren bereits zur Kathedrale gegangen, doch Affonso stand noch auf der vorderen Veranda seines Palastes, als Gil und Beatriz durch die königlichen Gärten auf ihn zueilten. Die Nar be in seinem Gesicht flammte rot, und sein Gesicht war wutverzerrt. Er schien bereits auf Gil zu warten, doch es ärgerte ihn sichtlich, dass Beatriz mitkam. »Hast du es schon gehört, Mbemba?« fragte Gil, noch atemlos vor ohnmächtigem Zorn. »Wie sollte ich es noch nicht gehört haben! Die Nachricht von einer solch grausamen Tat verbreitet sich schnell.« »Und sie muß ebenso schnell bestraft werden.« »Ja, und sie muß ebenso schnell bestraft werden … falls sie wahr ist.« »Du glaubst nicht, dass es wahr ist?« fragte Beatriz. »Nein. Es ist eine Lüge, die meine Feinde verbreiten, um den Hass gegen die Portugiesen zu schüren. Gegen den katholischen Glauben. Und gegen mich, weil ich die Portugiesen und ihren Glauben im Reich willkommen geheißen habe.« »Wer hat dir das gesagt? Bischof de Sousa etwa?« 537
»Das brauchte Bischof de Sousa mir nicht zu sagen. Ich bin Christ. Ich habe die Schrift studiert. Ich habe das Evangelium gelesen. Ich kenne den katholischen Glauben und seine Lehre. Darin ist von einem guten und liebenden Gott die Rede und von einem mitfühlenden und gnadenreichen Erlöser. Nirgendwo steht etwas geschrieben von einer so entsetzlichen Grausamkeit wie diesem Autodafé. Christus verab scheut solche Grausamkeiten. Kein Christ und schon gar kein christ licher Priester würde einen alten Mann ins Feuer werfen, weil er Chri stus nicht annimmt. Diese Nachricht über Pater Duartes angebliches Vorgehen ist eine Verleumdung, die meine Feinde verbreiten – allen voran Mpanzu, mein schlimmster Feind –, um mein Volk gegen mich aufzuhetzen.« »Damit sagst du, dass mein Sohn dein Feind ist«, stellte Beatriz fest. »Damit erklärst du den Sohn deiner Schwester zu einem Lügner und Verleumder, der mit Mpanzu gemeinsame Sache macht.« »Halte dich aus dieser Sache heraus, Frau.« »Es ist mein eigener Sohn, der die Nachricht von dieser schreckli chen Tat gesandt hat! Er hat sie mit eigenen Augen beobachtet!« »Mbemba, was sie sagt, ist wahr«, erklärte Gil. »Du mußt es glauben. Denn wenn du es nicht glaubst, wirst du dieses Verbrechen ungestraft lassen. Und wenn sogar der König selbst es nicht bestraft, dann wird es wieder geschehen.« Affonso verließ die Veranda. »Geh nach Mpangala, Gil«, sagte er. »Geh nach Mpangala und überzeuge dich selbst davon, dass die se Nachricht eine Lüge ist, dass sie das Werk meines Bruders, meines Feindes ist.« »Und was ist, wenn ich feststelle, dass sie keine Lüge ist, sondern dass die Portugiesen diese Tat wirklich begangen haben?« »Dann trifft mich alle Schuld.« »Wieso?« »Weil ich es war, und niemand sonst, der diese Portugiesen ins Reich gelassen hat.« »Aber du konntest nicht wissen, dass es dazu kommen würde.« »Doch, Gil, ich hätte es wissen können. Der NgangaKongo hat es vor 538
langer Zeit vorausgesagt. Er hat schon vor langer Zeit prophezeit, dass die Porta Gies dem Reich Böses bringen werden.«
KAPITEL 6
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ortugiesische Soldaten – und nicht etwa Nsundi-Krieger – hielten am Flusstor von Mpangala Wache. Sie wurden sehr argwöhnisch, als Gils großes Kanu durch das Schilf des Lelunda pflügte und am Nor dufer anlegte. Es war später Nachmittag; dicke, graue Wolken standen am Himmel, durch die vereinzelte Sonnenstrahlen brachen. Gil hatte seine Dienerin Nimi und zwanzig Mann seiner Leibwache mitgenom men, von denen fünf mit Arkebusen bewaffnet waren; er selbst trug ein Kettenhemd und hatte außer seinem Messer mit dem Elfenbein griff noch ein Entermesser bei sich. Die Soldaten beobachteten ihn misstrauisch, spielten an den Radschlössern ihrer Gewehre herum und machten keinerlei Anstalten, das Tor zu öffnen, als er aus dem Boot sprang. Es waren zumeist Neuankömmlinge, gemeine Soldaten, die die Pest überlebt hatten, und nun blockierten sie den südlichen Zu gang zu Mpangala mit einer Überheblichkeit und Anmaßung, als hät ten sie in der Nsundi-Stadt die Befehlsgewalt. War es am Ende gar so? Hatte das Autodafé dazu geführt? Gil zögerte nur einen Augenblick; er wollte zwar kein Scharmützel provozieren, war aber auch nicht gewillt, einer Auseinandersetzung auszuweichen, dazu war sein Zorn zu groß. Er befahl zweien seiner Männer, vorzutreten. »Ihr beiden da, stehenbleiben!« rief einer der Wachposten sofort. Gil zog sein Entermesser. »Tritt zur Seite, soldado«, herrschte er den Mann an. »Geh sofort zur Seite und lass diese Männer das Tor öffnen oder öffne es selbst – eines von beiden. Aber überleg es dir schnell.« »Tu, was er sagt.« Der Korporal der Wachleute, ein alt gedienter Un teroffizier, kam besorgt herbeigeeilt. »Er spricht im Namen des KongoKönigs. Mach ihm auf.« 539
Die Flügel des Tors öffneten sich. »Obrigado, cabo.« »De graça, senhor.« Gil sah sich prüfend um, dann steckte er das Entermesser wieder in den Gürtel und schritt durch das Stadttor. Auch auf dieser Seite hielten sich portugiesische Soldaten auf, und sie beobachteten ihn mit dem selben Argwohn wie die Torwächter, da es sich auch bei ihnen größ tenteils um Neulinge handelte. Fast die Hälfte der Männer von König Emanuels Schiffen war in Mpangala stationiert. Tatsächlich wurden außer der Kirche zum Heiligen Kreuz auf dem großen Marktplatz der Stadt Kasernen für hundert Soldaten gebaut. Und dort befand sich auch der Scheiterhaufen. Gil war nicht darauf gefasst gewesen und erschrak deshalb um so heftiger. Er hatte an etwas völlig anderes gedacht, als er auf den Platz zuging und die Baustelle sah – die Kirche und die Kasernen auf der Ostseite, wo Pater Joses Haus gestanden hatte, gegenüber dem von Pa lisaden umgebenen Anwesen des Häuptlings von Mpangala. Zu die ser Tageszeit waren die Arbeiten in vollem Gange: Männer standen auf Gerüsten und deckten das Dach der Kirche und des freistehen den Glockenturms, Frauen brachten Wasser vom Brunnen in der Mit te des Platzes, mit dem der Mörtel für die Mauern der Kasernen ge mischt wurde. Und was Gil auffiel, war, dass alle diese Männer und Frauen Nsundi waren – nur Nsundi verrichteten die schweren Arbei ten, während die Portugiesen sich in der Rolle der Aufseher gefielen; sie standen daneben und gaben Befehle. Diese Aufteilung der Arbeit war neu und ganz anders als beim Bau der Kathedrale von São Sal vador. Aber dann entdeckte er den Scheiterhaufen, und der Schock über diesen Anblick löschte alle anderen Gedanken aus. Ein kegelförmi ger Haufen kalter, grauer Asche vor dem Portal der halbfertigen Kir che. Um ihn herum waren ein Dutzend Bambusstöcke in die Erde ge rammt, darüber hing ein zwanzig Fuß hohes Holzkreuz. Als er darauf zuschritt – er musste blinzeln, als würden seine Augen sich weigern, diesen Anblick zu ertragen –, stellten die Menschen auf der Baustelle 540
die Arbeit ein, und eine Stille, so düster und bedrückend wie der wol kenschwere Himmel, breitete sich über dem Platz aus. »Wo ist Kimpasi, mchento?« fragte er Nimi, die ihn schon erwartet hatte. »Geh zu ihm und sag ihm, dass ich hier bin.« Sie lief über den Marktplatz zurück zu dem Anwesen des Häuptlings der Stadt. Gils Krieger formierten sich zu einer Phalanx quer über den Platz. Er holte tief Luft, dann stieg er in den kegelförmigen Aschenhau fen und trat mit dem Stiefel dagegen, so dass die regelmäßige Form sich auflöste. Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Nsundi auf der Baustel le. Er sah zu ihnen hinüber und trat noch einige Male gegen die Asche. Was suchte er? Was hoffte er zu finden? Was blieb übrig von einem Men schen, der vom Feuer verzehrt worden war? Doch dann traf sein Stie fel etwas, das keine Asche war, und er kniete nieder, um es näher zu be trachten. Es war der untere Teil eines Schädels, der in der Hitze zer sprungen war: der Kieferknochen mit einer unvollständigen Zahnreihe. Gil nahm ihn vorsichtig aus der Asche, doch er zerfiel in seiner Hand. »Senhor Eanes.« Gil blickte auf. Pater Duarte war aus dem halbfertigen Gotteshaus gekommen, begleitet von zwei Hellebardieren in voller Rüstung. Aus der Kirche spähte ängstlich Pater José herüber. »Wer hat Euch dazu ermächtigt, Padre?« fragte Gil ruhig und stand auf. »Wie bitte, senhor?« »Ich frage Euch im Namen des Königs, Padre«, sagte Gil bestimm ter. »Wer hat Euch ermächtigt, den nsaku auf diese grausame Weise tö ten zu lassen?« Er hielt dem Priester die Knochenreste und die Zähne entgegen. »Ein Höherer als der König des Kongo, senhor«, erwiderte der Dia kon trotzig. »Es war der Wille des Herrn, dass ich der Teufelsanbe tung dieses Zauberers und seinem Widerstand gegen den Kreuzzug zur Rettung der verlorenen Seelen Einhalt gebiete.« »Und habt Ihr damit Euer Ziel erreicht, Padre? Kommen diese verlo renen Seelen jetzt in Scharen zu Euch und flehen Euch an, das Sakra ment zu empfangen?« 541
»Wir machen Fortschritte, senhor.« »Fortschritte?« Gil schleuderte das Wort voller Verachtung heraus. »Wenn Ihr glaubt, dass diese Menschen nicht mehr zu ihrem Gott beten, weil Ihr einen ihrer Juju-Männer auf dem Scheiterhaufen ver brannt habt, dann seid Ihr schlichtweg ein Narr. Sie haben ihren Gott ganz sicher nicht aufgegeben. Warum sollten sie auch, wenn der Gott, den Ihr ihnen vorhaltet, Grausamkeiten wie diese zuläßt? Sie werden natürlich weiterhin ihren Gott anbeten, nur mit dem Unterschied, dass sie jetzt so klug sind, es im geheimen zu tun.« »Das mag sein, senhor. Aber wir sind wachsam und flink, wenn es darum geht, Ketzer aufzuspüren.« »Und wenn Ihr ausgekundschaftet habt, dass ein Mensch ein Ket zer ist, Padre, was tut Ihr dann mit ihm? Verbrennt Ihr ihn dann auch auf dem Scheiterhaufen? Was glaubt Ihr, wie viele Ihr noch verbrennen müßt, bis Ihr diese Leute dazu bekehrt habt, an einen gütigen und lie benden Christus zu glauben?« Der Geistliche mit der Tonsur, dem großen Bart und den buschi gen Augenbrauen blieb die Antwort schuldig. Statt dessen wanderte sein Blick von Gil zu dessen Kriegern, als versuche er, ihre Kampfkraft abzuschätzen. Auch die beiden Hellebardiere musterten sie, aber sie wirkten dabei weit weniger selbstbewusst. Gil schüttelte angewidert den Kopf. »Ihr habt den König erzürnt, Pa dre. Ihr habt mit Eurer Grausamkeit seinen Zorn erregt.« Er ließ den Knochen und die Zähne in die Asche fallen. »Warum sollte er zornig sein? Ich handle in seinem Sinn. Diese Hei den, die Nsundi, sind seine Feinde. Wenn ich sie dem Glauben zufüh re … welchen Unterschied macht es für ihn, wie ich dabei zu Werke gehe? Indem ich sie der Kirche zuführe, mache ich sie zu ergebenen Untertanen seiner Krone.« »Das werdet Ihr ihm selbst sagen, Padre. Eure Ausführungen werden ihn sicher sehr interessieren. Denn er hat kein Verständnis dafür, dass Ihr das Autodafé in seinem Namen durchgeführt habt. Er glaubt so gar, dass Ihr es überhaupt nicht durchgeführt habt. Genau deshalb bin ich nämlich gekommen. Ich nehme Euch mit nach São Salvador, dann 542
könnt Ihr selbst dem König den Grund für Eure grausame Tat, für die er keinerlei Verständnis hat, erklären. Er glaubt nämlich nicht einmal, dass ein katholischer Priester zu einer solchen Tat fähig wäre.« »Das werde ich mit dem größten Vergnügen tun, senhor. Habt Ihr etwa geglaubt, dass ich mich dagegen sträuben würde? Habt Ihr des halb diese Krieger mitgebracht – um mich mit Gewalt zum König zu bringen? Das war völlig unnötig, senhor. Ich gehe bereitwillig zu ihm; allerdings erst am Sonntag nach der Messe, wenn Ihr gestattet. Es han delt sich nämlich um eine besondere Messe, die ich nur äußerst ungern versäumen möchte.« »Was ist das Besondere daran?« »Ich habe soeben gesagt, dass wir mit den Nsundi Fortschritte ma chen, senhor, und dies ist ein gutes Beispiel dafür. Bei der Messe am Sonntag werden wir die Taufe einer Prinzessin der Nsundi feiern – Mfidi, der Tochter Mpanzus. Gloria in excelsis deo.« »Ist ihre Unterweisung im Glauben beendet?« »Wir sind dafür Eurem Sohn zu großem Dank verpflichtet, Senhor Eanes. Ich gebe zu, dass ich selbst endlose Schwierigkeiten mit ihr hat te. Bei mir war sie dumm, begriffsstutzig und widerspenstig. Aber so bald ich ihre Unterweisung Pater Henriqué überließ, wie er es wünsch te … offenbar lag es daran, dass er die Denkweise dieser Menschen versteht, weil er selbst einer von ihnen ist … jedenfalls hat sie mit ihm sehr rasche Fortschritte gemacht. Das ist ein großer Triumph. Es wird auf all diese Heiden hier einen starken Eindruck machen, wenn sie se hen, dass die Tochter ihres verbannten Prinzen das Sakrament emp fängt, glaubt Ihr nicht auch?« Gil besann sich einen Augenblick. Nur zu gern hätte er diesem ei fernden Priester die Freude über einen so bedeutsamen Erfolg wie Mfi dis Taufe verdorben und ihm erklärt, dass die Reise nach São Salvador unaufschiebbar sei. Aber er wusste, dass er Affonso damit keinen Ge fallen erweisen würde. Duarte hatte recht: Mfidis Taufe würde auf die Nsundi einen gewaltigen Eindruck machen, einen Eindruck, der in der Tat fast so stark sein konnte, wie wenn Mpanzu selbst das Taufsakra ment empfangen würde. 543
»Gut, Padre, wie Ihr wollt. Wir werden also am Sonntag nach der Messe nach São Salvador aufbrechen.« Der Diakon lächelte selbstgefällig und schritt in die Kirche zurück; dabei rief er den portugiesischen Aufsehern zu, sie sollten die Nsundi wieder zur Arbeit anhalten. Die beiden Hellebardiere blieben vor Gils Kriegern stehen. »Wo ist Seine Gnaden, pai?« Gil drehte sich um. Das Tor vor dem Anwesen des Häuptlings von Mpangala war geöffnet; Henriqué und Nimi standen jetzt vor ihm. Sie mussten den Platz mit dem Brunnen überquert haben, ohne dass er es gehört hatte. »Ist er nicht mit dir gekommen? Ich dachte, du würdest ihn mitbrin gen. Aber du hast mit ihm gesprochen, nicht wahr?« »Nein, ich habe nicht mit ihm gesprochen«, antwortete Gil. »Ich habe mit Mbemba gesprochen.« »Warum denn nicht mit Seiner Gnaden? Er muß doch erfahren, was hier vor sich geht.« »Das braucht ihm niemand zu sagen. Er weiß es. Oder glaubst du, Pater Duarte würde irgend etwas tun, worüber Bischof de Sousa nicht Bescheid weiß?« »Nein, ich denke nicht.« Gil blickte auf das Tor zum Anwesen des Häuptlings. Es stand noch immer offen, und eine verängstigte Menschenmenge starrte neugie rig heraus. Doch niemand kam auf den Platz; alle blieben hinter dem Schutz der Palisaden. Zumindest das also hatte Pater Duarte mit sei nem Autodafé erreicht: Alle Zeugen dieses unfassbaren Grauens wa ren von ungläubiger Furcht erfüllt. »Und was hat Mbemba gesagt?« »Er wollte nicht glauben, dass ein katholischer Priester eine solche Grausamkeit begehen kann.« »Das kann ich ihm nicht verübeln«, antwortete Henriqué leise. Er sah erschreckend aus; Verzweiflung und tiefes Leid lagen auf seinem eingefallenen Gesicht; offenbar hatte er seit Tagen nicht geschlafen. »Ich selbst wollte es auch nicht glauben.« 544
»Aber jetzt wird er es glauben müssen. Ich nehme Pater Duarte näm lich mit nach São Salvador, damit Mbemba es aus dem Munde dieses fanatischen Priesters selbst erfährt. Und es ist das letztemal, dass man von derartigen Greueln erzählen wird. Mbemba wird solche Grausam keiten in seinem Reich nicht dulden.« »Das hoffe ich.« »Ganz gewiß, Kimpasi. Ich kenne ihn.« »Wann bringst du Pater Duarte zu ihm?« »Am Sonntag nach der Messe.« »Warum wartest du so lange?« »Wegen Mfidis Taufe. Mbemba würde nicht wollen, dass ich mich da einmische.« Als Gil Mfidis Namen erwähnte, schaute Henriqué zurück zum An wesen des Häuptlings. Gil folgte seinem Blick; vielleicht stand Mfidi in der Menge hinter dem Tor. »Pater Duarte sagte, dass du sie im Glauben unterwiesen hast, mbaka la. Und dass du Erfolg hattest, während er gescheitert ist.« »Kennst du sie, pai?« »Nein.« »Komm, ich stelle sie dir vor«, sagte Henriqué. Er machte unvermit telt kehrt und lief auf die Palisaden zu. Gil sah zu Nimi. Die alte Dienerin verzog das Gesicht, aber er konn te den Ausdruck darin nicht deuten, und so folgte er Henriqué. Seine Krieger wollten ihn begleiten, doch er befahl ihnen, auf dem Platz zu bleiben, da er befürchtete, die Menschen hinter den Palisaden könnten die Männer mit ihren Feuerwaffen als Bedrohung empfinden. Er woll te diesen Leuten nicht noch mehr Angst einjagen. »Keba bota, Gil Janesch.« »Dom Bernardo, keba bota.« Als Gil durch das Tor des Anwesens schritt, wich die Menge zu rück; nur der Häuptling der Stadt trat vor. Er war einige Jahre älter als Gil, wahrscheinlich Ende Vierzig, und ein untersetzter, ungewöhn lich kräftig gebauter Mann mit sehr breiten Schultern und langen Ar men. Abgesehen davon, dass er der älteste Bruder von Mpanzus jüng 545
ster Frau und somit Mfidis Onkel war, stützte sich sein Anspruch auf die Häuptlingswürde von Mpangala auch darauf, dass er selbst müt terlicherseits ein MtuNsundi war. Zudem galt er als berühmter Krie ger und Jäger, jeden Zweifel über seine Treue zu Affonso hatte er zer streut, indem er Christ geworden war und seiner Schwester und deren Kindern verboten hatte, Mpanzu in die Verbannung zu folgen. Aber im Gegensatz zu Affonso, dem ManiSoyo und dem ganzen Adel in São Salvador und Santo Antonio do Zaire hatten Bernardo und seine Höf linge weder die portugiesischen Sitten noch die portugiesische Spra che (obgleich sie sie beherrschten) übernommen. Er trug eine Kanga in den traditionellen Farben und mit dem Emblem des Nsundi-Königs hauses – himmelblau und mit weißen Blitzen gebändert –, einen kur zen Umhang aus Papageienfedern und einen Kopfschmuck aus Anti lopenhörnern. Die Krieger seiner Leibwache waren mit Lanzen und Schilden bewaffnet; kein einziger von ihnen hatte ein Gewehr. »Sei willkommen in meinem Haus, Gil Janesch«, sagte der Häupt ling und umfasste zum traditionellen Gruß Gils Schultern. »Es tut mir leid, dass ich dich nicht feierlicher empfangen kann. Aber die Zeiten sind unsicher.« »Ich verstehe, Dom Bernardo. Du brauchst dir deshalb keine Gedan ken zu machen.« »Ich danke dir für dein Verständnis. Dennoch möchte ich dir ver sichern, dass ich dir trotz dieses schlichten Empfangs ebenso bereit willig zur Verfügung stehe wie dem, dem wir beide dienen – dem Ma niKongo. Komm in mein Haus und berichte mir, weshalb du gekom men bist.« Gil sah sich rasch nach Henriqué und Nimi um, die ihm in das An wesen vorausgeeilt waren; er konnte sie in der Menge jedoch nicht ent decken und folgte deshalb Bernardo auf die Veranda des großen Hau ses, in dem der Häuptling wohnte. Dort traf er die beiden wieder, und zwischen ihnen stand mit gesenktem Blick ein junges Mädchen: Mfi di a Mpanzu, die NtinuNsundi. Sie war nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre, ein kleines, hübsches Mädchen mit geflochtenen Haa ren. Eine Kanga des Nsundi-Haushalts brachte ihre schlanke Figur zur 546
Geltung, ihren Hals schmückte eine Kette aus Flussperlen. Und ob wohl sie Beatriz gar nicht ähnlich sah – so wie sie neben Henriqué mit seinen langen blonden Haaren und hellblauen Augen stand, erinner ten die beiden Gil für einen kurzen Augenblick an ihn selbst und Nimi, die Prinzessin, als sie beide noch jung gewesen waren. Auf der Veranda angekommen, blieb er stehen, und nun verzog die andere Nimi, seine Dienerin, noch einmal das Gesicht. Dieses Mal glaubte Gil zu verste hen, was sie ihm mitteilen wollte. Aber es konnte nicht sein: Henriqué war schließlich ein Priester. »Das ist mein Vater, Mfidi«, stellte Henriqué Gil vor und berührte das Mädchen kurz am Ellbogen. »Gil Janesch«, sagte sie und schaute auf. Der Ausdruck in ihren Augen überraschte Gil. Er hatte damit gerech net, dass ihr Blick Schüchternheit und Zurückhaltung verraten würde, oder vielleicht sogar ein bißchen die vielen Mädchen eigene Ängstlich keit. Aber er nahm nichts dergleichen wahr. Was ihm aus ihren Augen entgegenschlug, war blanker Hass. Er schaute noch einmal ratsuchend zu Nimi, doch diesmal schüttelte die alte Dienerin nur den Kopf. »Wie ich höre, sollst du am Sonntag getauft werden, ntinu«, begann er im Versuch, sie mit seiner Anteilnahme zu besänftigen. »Darf ich fragen, welcher christliche Name für dich gewählt wurde?« Doch die Miene des Mädchens blieb abweisend; sie sah ihn noch ei nen Augenblick lang an und senkte dann wieder den Blick, ohne zu antworten. »Es gibt noch keinen christlichen Namen für sie, pai«, erklärte Hen riqué hastig, um das ungehörige Benehmen des Mädchens zu über spielen. »Ich verstehe. Na ja, es ist ja noch Zeit. Es sind noch drei Tage bis zum Sonntag.« »Darf ich jetzt gehen, Pader Enrikee?« fragte das Mädchen, ohne auf zusehen. »Gehen? Ja, du kannst gehen, wenn du das willst.« Ärger schwang in Henriqués Ton mit. »Du kannst tun, was immer du möchtest«, füg te er hinzu. 547
Ohne die Verstimmung des Priesters zu beachten oder ihre Abnei gung gegen Gil zu verbergen, lief die junge Ntinu-Nsundi ins Haus des Häuptlings. Gil sah zu Henriqué in der Erwartung, von ihm eine Er klärung für das Verhalten des Mädchens zu bekommen – denn zwei fellos ging hier etwas Eigenartiges vor sich –, doch sein Sohn sah nur verlegen drein und schwieg. Inzwischen hatten sich auf der Veran da ziemlich viele Menschen eingefunden. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, und wiewohl keine Feierlichkeiten geplant waren, be gannen nun doch die Vorbereitungen für ein Abendessen, das zwar kein Bankett, aber doch zumindest eines Gastes vom Hof des ManiKongo würdig sein sollte. Bernardo war ins Haus getreten, um die ent sprechenden Anweisungen zu geben; als Mfidi hineinging, kam er ge rade wieder heraus. Auch er musterte seine Nichte etwas verärgert, sagte jedoch nichts. »Ich hoffe, du machst meinetwegen keine großen Umstände«, sag te Gil zu ihm. »Eine einfache Schale Poscho würde mir als Abendes sen reichen.« »Eine einfache Schale Poscho würde überhaupt keine Umstände be reiten, Gil Janesch. Aber du mußt mir schon erlauben, etwas mehr Aufwand für dich zu treiben. Und beim Essen werde ich dann Gele genheit haben zu erfahren, weshalb du nach Mpangala gekommen bist und auf welche Weise ich dir dienlich sein kann.« »Ich bin gekommen, um Pater Duarte nach São Salvador zu bringen. Der ManiKongo wünscht ihn zu sehen.« Überrascht neigte Bernardo den Kopf zur Seite. »Eigentlich wollte ich dich um gar nichts bitten, sondern noch heu te wieder mit ihm nach São Salvador zurückreisen. Aber als ich hörte, dass deine Nichte, die NtinuNsundi, am kommenden Sonntag in der Messe getauft werden soll, erklärte ich mich einverstanden, erst dann wieder aufzubrechen. Und deshalb muß ich dich nun doch um etwas bitten – erlaube mir, bis dahin als Gast in deinem Haus zu wohnen.« »Aber natürlich. Das ist eine Ehre für mein Haus.« »Ich würde dich in solch schwierigen Zeiten nicht darum bitten, aber wie ich sehe, wohnt mein Sohn bei dir, und da wir derzeit ohnehin 548
so wenig zusammen sind, wäre dies eine seltene Gelegenheit, ein paar Tage mit ihm zu verbringen.« »Das bereitet noch weniger Umstände als eine einfache Schale Po scho. Du kannst das Zimmer gleich neben dem seinen nehmen.« »Komm, pai. Ich zeige es dir.« Henriqué ging ins Haus; offenbar hat te er es nun ebenso eilig wegzukommen wie zuvor Mfidi. Aber Gil folgte ihm nicht. »Du hast mich überhaupt nicht gefragt, weshalb der ManiKongo Pater Duarte zu sich bestellt hat, Dom Bernar do«, sagte er. »Interessiert es dich gar nicht?« »Ich dachte eigentlich, dass ich das wüßte. Ist es nicht deshalb, weil er den nsaku verbrennen ließ?« »Doch.« Bernardo nickte mit offenkundiger Befriedigung und schwieg. »Sag mir, Dom Bernardo, hast du als Häuptling von Mpangala diese Tötung gutgeheißen? Hast du dafür deine Zustimmung gegeben?« »Ich habe sie weder gutgeheißen noch meine Zustimmung dazu ge geben. Ich bin nicht vorab darüber unterrichtet worden.« »Hast du dich danach dagegen ausgesprochen?« Diese Frage beantwortete Bernardo nicht sofort. Erst nach einigen Augenblicken sagte er trocken: »Es sind jetzt viele Soldaten der Porta Gies in der Stadt, Gil Janesch. Viele mit Feuerwaffen. Vielleicht hast du sie selbst schon gesehen.« Nun war es Gil, der nickte und schwieg. Eine lange Pause folgte; in ihr lag ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den beiden Männern. Dann ging Gil zu seinem Sohn ins Haus. Nimi war vorausgeeilt und hatte das Zimmer, in dem Gil die näch sten drei Tage wohnen würde, schon fertig hergerichtet; frische Tü cher, Schwämme, ein Seifenstein, eine Waschschüssel und ein Krug mit warmem Wasser standen bereit. Gil legte das Entermesser ab, zog das Kettenhemd, die Stiefel und seine Hose aus und kniete nieder, um sich zu waschen; Nimi goß das Wasser für ihn in eine Schüssel. Hen riqué trat ans Fenster und schaute hinaus. »Mfidi wird am Sonntag nicht getauft, pai«, sagte er nach einer Wel le, ohne den Blick von dem Garten hinter dem Haus abzuwenden. 549
Überrascht hielt Gil inne und sah ihn an. »Diesen Sonntag nicht, und auch nicht später, pai.« Jetzt wandte Hen riqué sich ihm zu. »Ihr Vater verbietet es ihr, und als folgsame Tochter gehorcht sie ihm.« »Gib mir das, mchento.« Gil nahm von Nimi ein trockenes Tuch ent gegen und rieb sich damit die Augen. Dann hockte er sich auf den Bo den. »Seit wann weißt du das, mbakala?« fragte er Henriqué. »Schon die ganze Zeit, pai. Schon seit ich begann, sie zu unterweisen. Sie hat mir gesagt, dass Mpanzu ihr verboten hat, katholisch zu wer den, Mbemba zu heiraten oder etwas anderes zu unternehmen, um die Nsundi für den falschen ManiKongo zu gewinnen.« »Das überrascht mich nicht.« »Ich habe Angst um sie, pai.« »Weshalb?« »Wegen Pater Duarte. Was wird er tun, wenn sie sich am Sonntag weigert, das Sakrament zu empfangen?« »Ich verstehe.« »Ja, pai? Verstehst du das wirklich? Verstehst du wirklich, wie wich tig Mfidis Taufe für Pater Duarte ist? Er betrachtet sie als entschei dend für seinen Kreuzzug hier; er glaubt, dass danach alle Nsundi Christen werden. Er wird toben, wenn Mfidi sich am Sonntag vor al len Leuten weigert, das Sakrament von ihm zu empfangen. Er wird sa gen, der Teufel hat von ihrer armen Seele Besitz ergriffen, wie er es bei dem armen alten nsaku getan hat. Und er wird sagen, dass sie von der Macht des Teufels befreit werden muß, wie es bei dem alten nsaku auch war. Und dass der Teufel nur durch Auspeitschung ausgetrieben wer den kann – und wenn das nicht hilft, dann durch Feuer. Er wird ihr mit dem Autodafé drohen, pai, und sie zwingen, sich taufen zu lassen. Aber sie wird sich aus Treue zu ihrem Vater standhaft weigern. Und deshalb wird sie zuerst ausgepeitscht und dann auf dem Scheiterhau fen verbrannt werden.« »Rede keinen Unsinn, Kimpasi. Pater Duarte wird nichts dergleichen tun. Er wird es nicht wagen. Schließlich steht Mfidi unter dem Schutz des ManiKongo. Sie ist die Verlobte des Königs.« 550
»Nicht mehr, pai. Und das weiß Pater Duarte auch. Jeder weiß, dass der König nicht mehr vorhat, sich eine Nsundi-Prinzessin als Gattin und Königin zu nehmen.« Gil sah auf das Tuch in seiner Hand, trocknete sich ganz ab, schlang es sich dann um die Hüften und stand auf. »Und deshalb möchte ich sie noch vor Sonntag von hier wegbringen. Wirst du mir dabei helfen, pai? Bitte, hilf mir. Hilf mir, sie zu Mpanzu zu bringen. Dort ist sie vor diesem fanatischen Priester in Sicherheit.« »Zu Mpanzu? Nein, Kimpasi. Ich werde dir helfen, sie vor Pater Duar te in Sicherheit zu bringen, aber nicht zu Mpanzu. Denn das würde be deuten, dass ich mich gegen Mbemba stelle. Das werde ich nicht tun, und auch dir werde ich es nicht erlauben. Er gehört zu deiner Familie, und er ist mein Freund.« Henriqué wandte sich wieder ab und schaute in den Garten hinaus. Allmählich verblasste das letzte Licht des Tages, und die Abenddäm merung warf ihre langen, blauen Schatten. »Also gut, wenn sie sich weigert, von Pater Duarte getauft zu werden, dann nehme ich sie eben mit nach São Salvador. Dort kann Bischof de Sousa sie taufen.« »Aber sie wird sich auch weigern, das Sakrament von ihm zu emp fangen.« Zornig drehte sich Henriqué um und sah seinen Vater an. »Verstehst du denn nicht, pai? Bischof de Sousa ist genauso der Feind ihres Vaters wie Pater Duarte.« »Und du, Kimpasi? Bist du auch der Feind ihres Vaters? Würde sie sich von dir ebensowenig taufen lassen?« Diese Frage überraschte den jungen Geistlichen. »Du bist doch ein Priester. Du hast sie im Glauben unterwiesen. Und dir liegt etwas an ihr, das sehe ich auf den ersten Blick. Liegt dir denn nicht genug an ihr, dass du ihre Seele erretten möchtest?« »Doch, pai, es liegt mir sehr viel an ihr.« »Dann taufe du sie. Überzeuge sie, dass sie das Sakrament von dir an nimmt. Das ist deine Pflicht. Nicht nur aus Loyalität zu Mbemba, son dern auch wegen deines priesterlichen Gelübdes, die Heiden aus der Finsternis ins Licht des Glaubens zu führen. Deine Pflicht zu scheuen 551
und sie zu Mpanzu zu bringen wäre Ketzerei in den Augen deiner Kir che und Rebellion gegen deinen König.« Henriqué nickte bedächtig. »Lass sie herbringen. Hole sie. Wir werden beide mit ihr sprechen. Ich helfe dir, sie zu überzeugen.« »Nein, pai, ich rede selbst mit ihr. Sie soll nicht wissen, dass ich dir gesagt habe, dass sie die Taufe am Sonntag verweigern wird und zu ih rem Vater fliehen will. Ich habe ihr versprochen, dir das nicht zu sa gen.« »Weshalb?« »Weil du ebenfalls der Feind ihres Vaters bist«, sagte Henriqué und verließ das Zimmer. Gil sah Nimi fragend an. »Vertraue ihm nicht«, murmelte sie. »Aber wie könnte ich ihm nicht vertrauen? Er ist mein Sohn.« »Trotzdem darfst du es nicht. Seit dem Autodafé ist er völlig verän dert. Er ist nicht mehr dein Sohn, so wie du ihn kennst.« »Was wird er tun?« »Ihr helfen, zu Mpanzu zu fliehen.« »Weiß er, wo sich Mpanzu aufhält?« »Sie weiß es. Sie wollten schon früher versuchen, zu ihm zu gehen, doch der Junge glaubte, ohne dich würden sie es nicht schaffen. Aber nun, da er weiß, dass er nicht auf deine Hilfe zählen kann, wird er sich ihrem Wunsch fügen und es auf eigene Faust probieren.« »Heute Nacht?« »Wenn nicht heute Nacht, dann auf jeden Fall noch vor Sonntag.« »Und Bernardo? Wie steht er dazu?« »Bernardo wird es weder erlauben noch verhindern. Auch ihn hat das Autodafé sehr erschüttert. Und deshalb wird er nicht eingreifen.« »Aber wir müssen eingreifen, Nimi. Sie tun mir beide leid, aber um Mbembas willen und auch um des Jungen willen können wir das nicht zulassen. Wir müssen sie im Auge behalten.«
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Gil schlief schlecht in dieser Nacht; er hatte immer wieder seltsame, von Gewalt erfüllte Träume, in denen Menschen in den Flammen des Scheiterhaufens verbrannten und entsetzliche Schreie ausstießen. Als Nimi ihm etwas ins Ohr flüsterte, wachte er schweißgebadet auf. »Was ist los, mchento?« »Die Brüder sind hier.« Gil hatte erwartet, sie würde ihm etwas über Henriqué und Mfidi mitteilen. »Die Brüder? Nuno und Gonçalo?« fragte er verblüfft. »Ja.« »Warum sind sie hier? Schick sie zu mir. Nein, gehe lieber zu ihnen. Wo sind sie?« »Sie warten beim Brunnen am Marktplatz.« »Gut, ich gehe zu ihnen. Es ist besser, wenn sie nicht ins Anwesen des Häuptlings kommen.« Er stand auf und zog seine lederne Hose an; sein Körper war noch schweißnass, und die grauenhaften Bilder seiner Träume vom Autodafé verfolgten ihn noch immer. »Bist du krank, Gil Janesch? Du siehst aus, als ob du Fieber hättest«, flüsterte Nimi. »Es ist nichts, mchento, ich habe nur schlecht geträumt. Was ist mit Kimpasi und Mfidi?« »Sie schlafen. Sicher träumen sie auch schlecht.« Barfuß und mit nacktem Oberkörper trat Gil aus seinem Zimmer und warf einen Blick in Henriqués Kammer. Es war noch einige Stun den vor Tagesanbruch, und die Wolken am Himmel verbargen das Licht des Mondes, so dass er nur einen schwachen Umriß vom ausge streckten Körper seines Sohnes wahrnehmen konnte. Falls Henriqué tatsächlich schlecht träumte, dann war ihm nichts davon anzumer ken; er lag reglos da. Vielleicht stellte er sich auch nur schlafend, damit er seinem Vater nicht die Frage beantworten musste, ob Mfidi inzwi schen einverstanden war, sich von ihm taufen zu lassen. Gil verließ das Haus und bat Nimi, auf die beiden aufzupassen. Trotz der frühen Stunde waren im Anwesen des Häuptlings unge wöhnlich viele Leute auf den Beinen. Ebenso ungewöhnlich war, wie sie ihn ansahen und sofort verstummten, als er durch das Tor schritt 553
und zum Marktplatz eilte, wo Nuno und Gonçalo unter dem Affen brotbaum am Brunnen saßen. »Was ist los, Nuno? Weshalb seid ihr hergekommen? Welche Nach richten habt ihr für mich?« Sie sprangen auf, und auch Gils Krieger, die auf dem Platz ihr Nacht lager aufgeschlagen hatten, traten näher. »Es hat eine Schlacht stattgefunden, Gil Janesch«, erklärte Nuno atemlos. »Ein heftiger Kampf – zwischen Mpanzu und Hauptmann Rodrigues. Es gab viele Verwundete und Tote.« »Zwischen Mpanzu und Hauptmann Rodrigues? Rodrigues hat Mpanzu gefunden? Aber ihr habt mir doch berichtet, dass er seinen Aufenthaltsort nicht kannte.« »So war es auch. Es war Mpanzu, der Hauptmann Rodrigues fand.« »Und er hat ihn angegriffen?« »Ja. Er hat ihn angegriffen und geschlagen.« »O mein Gott.« Gil blickte über den Platz auf die halbfertige Kirche und die Kaser nen. Die Arbeit auf der Baustelle hatte noch nicht begonnen. Keine Portugiesen waren zu sehen, weder Handwerker noch Soldaten, und ebensowenig Pater Duarte oder Pater José. Offenbar schliefen die Wei ßen noch alle; offenbar war diese erstaunliche Neuigkeit noch keinem von ihnen zu Ohren gekommen. Aber viele, wenn nicht die meisten Nsundi in Mpangala wussten bereits Bescheid. Immer mehr von ihnen kamen aus ihren Häusern und eilten über den Platz. »Erzählt mir, was geschehen ist, mbakala. Erzählt mir alles. Aber be eilt euch.« Durch Gils drängenden Ton entmutigt, blickte Nuno hilfesuchend auf seinen jüngeren Bruder. »Es war ein heftiger Kampf, wie Nuno sagt«, begann Gonçalo eifrig. »Aber es war eine kurze Schlacht; sie dauerte höchstens einen halben Tag – von Sonnenaufgang bis Mittag. Mpanzu stellte in der Nacht zu vor dem Hauptmann eine Falle. Die Porta Gies hatten im Tal des Le lunda ihr Lager aufgeschlagen, und Mpanzus Krieger hatten sich in den Bergen darum herum verborgen.« 554
»Wie viele waren es?« unterbrach Gil, da er wusste, dass Rodrigues' Streitmacht weniger als zweihundert Mann zählte. »Fünfmal so viele wie die Leute von Hauptmann Rodrigues.« »Zehnmal so viele«, warf Nuno ein. »Ja, vielleicht auch zehnmal so viele«, stimmte Gonçalo zu. »Mit Feuerwaffen?« »Ja, viele hatten Feuerwaffen«, antwortete Gonçalo. »Im ersten Tages licht kamen sie aus den Bergen zum Lager herunter. Es war ein völlig überraschender Angriff, und als die Sonne am höchsten stand, liefen die Krieger und Soldaten von Hauptmann Rodrigues davon. Mpanzu hat sie nicht verfolgt. Wenn er ihnen nachgesetzt wäre, hätte er sie alle töten können.« »Wart ihr dort? Habt ihr das mit eigenen Augen gesehen?« »Ja«, fuhr jetzt Nuno fort. »Wir waren dort«, erklärte er stolz. »Wir haben es selbst gesehen.« »Wann war das? Und wo?« »Vor vier Tagen. Der Ort liegt vier Tagesmärsche von hier entfernt, wenn man in nordöstlicher Richtung den Lelunda entlanggeht. Als Mpanzu den Kampf abbrach, kamen wir schnell hierher; dabei blieben wir immer vor Hauptmann Rodrigues.« »Hauptmann Rodrigues kommt nach Mpangala?« »Ja, Gil Janesch. Er wird noch vor Tagesanbruch hier eintreffen.« »Aber weshalb hat Mpanzu ihn angegriffen?« Diese Frage verblüffte Nuno; wieder wandte er sich hilfesuchend sei nem Bruder zu. »Hat er sich verteidigt?« drängte Gil. »Hat er befürchtet, dass Haupt mann Rodrigues ihn gefangennehmen würde?« »Nein, Gil Janesch«, antwortete Gonçalo. »Hauptmann Rodrigues wus ste nicht, dass Mpanzu in seiner Nähe war. Als wir dir unsere Nachricht schickten, wusste er noch nicht, wo Mpanzu sich aufhielt. Er hatte die Verfolgung sogar schon aufgegeben und wollte nur nach Mpangala, um eine Rast einzulegen und Vorräte zu holen, als Mpanzu ihn angriff.« »O mein Gott«, sagte Gil noch einmal. Seine Gedanken überschlu gen sich. 555
War dies der Beginn eines Aufstands? Hatte Mpanzu inzwischen ge nügend Nsundi um sich geschart – und genügend Feuerwaffen und Schießpulver –, dass er es wagen konnte, Affonso den Thron streitig zu machen? Oder wenigstens versuchen konnte, seine Tochter aus Mpan gala zu entführen? Oder hatte er Rodrigues als Rache für das Autoda fé angegriffen, um die Portugiesen für die Ermordung eines seiner ge treuen Juju-Männer zu bestrafen? Was auch immer sein Grund sein mochte, er hatte den Portugiesen geradewegs in die Hände gespielt. Denn dies war genau das geeignete Argument, um Affonso endgültig davon zu überzeugen, dass Mpanzu eine Bedrohung für seinen Thron darstellte. Was konnte Gil jetzt noch ausrichten, wenn er Pater Duarte nach São Salvador brachte und Affonso damit eindeutig bewies, dass die Portugiesen das Autodafé tatsächlich durchgeführt hatten? Ange sichts Mpanzus grundlosen Überfalls war das nun völlig gleichgültig. Im Vergleich dazu würde dieses Ereignis verblassen. Affonso dachte nur ungern Schlechtes über die Portugiesen; eher war er bereit, seinem Bruder das Schlimmste zuzutrauen. Und nun hatte er dazu auch noch allen Grund. »Verfolgt Mpanzu den Hauptmann? Kommt er auch hierher?« »Das wissen wir nicht, Gil Janesch. Nachdem er den Angriff abge brochen hatte, verschwand er wieder in den Bergen.« Gil sah sich um. Die Portugiesen in Mpangala, Priester wie Handwer ker und Soldaten, schliefen noch alle; sie hatten noch keine Ahnung, was geschehen war. Doch die Nsundi waren inzwischen alle auf den Beinen; sie versammelten sich aufgeregt auf sämtlichen Straßen, Plät zen und Veranden der Stadt. Und auch im Anwesen ihres Häuptlings: Umgeben von seinen Höflingen und Kriegern, war Bernardo aus sei nem Haus getreten und unterhielt sich nervös im Flüsterton mit ihnen. Was sagten sie wohl zueinander, und was dachten sie sich? Welche Ge fühle löste diese Nachricht bei ihnen aus? Stolz und Freude, mutmaß te Gil, aber bestimmt auch Furcht. Sie konnten wohl gar nicht anders, als Stolz und Freude zu empfinden über diesen wagemutigen Schlag ihres verbannten Prinzen gegen jene, die seinen Thron usurpiert und das Autodafé durchgeführt hatten. Und Furcht deshalb, weil sie sicher 556
wussten, dass dieser Angriff als ein Akt des Aufruhrs betrachtet wür de, und zwar nicht nur gegen die Portugiesen, sondern ebenso gegen den ManiKongo. Daher mussten sie mit einer raschen und schreckli chen Vergeltung rechnen …
Wie Nuno und Gonçalo gesagt hatten, erreichten Rodrigues und sei ne Expedition Mpangala, als der Morgen graute; die Wolken rissen auf und gaben den Blick auf die letzten Sterne und das erste blasse Blau des Tages frei. Die Kolonne kam durch das Nordtor in die Stadt, und der Anblick, den sie bot, bestätigte den Bericht der Brüder über die ebenso unerwartete wie verheerende Niederlage: Von ursprüng lich vierzig portugiesischen Soldaten waren nur mehr fünfundzwan zig fähig zu marschieren, und fast die Hälfte der hundert Kongo-Krie ger fehlte. Eine der Bombarden war auf dem Schlachtfeld zurückge blieben, und auf den beiden Wagen türmten sich Schwerverwundete und Leichen. Als sich der Zug, angeführt von dem Mönch (ohne sein Kreuz) und Rodrigues (ohne seinen Helm), durch das Tor schleppte – von Lopes war keine Spur zu sehen –, wichen die Nsundi zurück, und die weißen Bewohner der Stadt erwachten schließlich, nur um zu er fahren, was geschehen war. Pater Duarte und Pater José eilten aus der halbfertigen Kirche, gefolgt von Soldaten und Handwerkern aus den Baracken. »Bringt mir Wasser«, sagte Rodrigues mit heiserer Stimme. Zwei Soldaten aus der Garnison von Mpangala und Pater José rann ten gleichzeitig zum Brunnen. Doch Gil, der mit den Brüdern und sei nen Kriegern dort stand, zog das Schöpfgefäß aus Ziegenleder herauf und brachte es selbst dem Hauptmann. »Wo ist Dom Alvaro, Marschall?« fragte er. Rodrigues nahm das Ziegenleder entgegen. Er schien nicht über rascht über Gils Anwesenheit; tatsächlich war er viel zu erschöpft, um überhaupt eine Regung zu zeigen. Er hatte seinen Helm eingebüßt und war über und über mit angetrocknetem Schlamm bedeckt, aber offen 557
bar unverletzt. »Da hinten«, antwortete er schließlich und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen der beiden Wagen. »Ist er tot?« »Tot. Oder er liegt im Sterben«, erwiderte Rodrigues und nahm ei nen großen Schluck Wasser. »Er muß die Sterbesakramente empfangen«, erklärte Pater Duarte. »Geht zu ihm, Pater José; seht, ob Ihr ihn retten könnt. Wenn nicht, dann rettet wenigstens seine Seele.« Der dicke junge Priester lief davon. »Sie hatten Gewehre«, sagte Rodrigues, nachdem er das Ziegenle der abgesetzt hatte. »Wusstet Ihr das, Senhor Eanes? Die Wilden ha ben Gewehre.« Er sah Gil bei diesen Worten nicht an, sondern blickte in die Runde, auf die Nsundi, die auf dem Marktplatz, den Veranden ihrer Häuser und hinter den Palisaden des Häuptlingsanwesens stan den. Seine Frage an Gil war lediglich rhetorisch gemeint; er erwartete gar keine Antwort. »Wo haben sie die bloß her?« fuhr er geistesabwe send fort. »Wie haben sie sie bekommen? Das würde ich wirklich gern wissen.« »Was ist geschehen, Dom Tomé?« drang Pater Duarte in ihn. »Um der Liebe unserer Heiligen Jungfrau willen, berichtet uns, was sich zu getragen hat. Wir haben keine Ahnung.« »Fragt Senhor Eanes, Padre. Er weiß alles, was in diesem verfluch ten Königreich passiert. Habe ich recht, senhor?« Rodrigues fixierte Gil mit einem hasserfüllten Blick aus seinem einzigen Auge, und als Gil nicht antwortete, fuhr er fort: »Die Nsundi haben sich erhoben, Padre. Mpanzu führt einen Aufstand gegen den König an.« »Heilige Muttergottes!« stöhnte der Priester auf. »Seid nicht so voreilig, es gleich einen Aufstand zu nennen«, warf Gil in scharfem Ton ein. »Ihr könnt nicht sicher sein, dass es das ist.« »Das kann ich nicht? Warum denn nicht? Er hat mich ohne Grund angegriffen. Er hat mich mit tausend brüllenden, mit Gewehren be waffneten Wilden überfallen!« »O Heilige Muttergottes!« wiederholte der Priester. »Der König hat mich beauftragt, ihn zu suchen, und er hat mich 558
ohne jeden ersichtlichen Grund angegriffen. Aus dem Hinterhalt. Während meine Männer schliefen. Tausend Wilde haben sie überfal len und im Schlaf niedergemetzelt! Welchen Reim soll ich mir dar auf machen, senhor? Wie soll ich das nennen, wenn nicht einen Auf stand?« »Wenn es eine Rebellion ist«, erklärte Gil im Versuch, Rodrigues' Worte irgendwie zu widerlegen, »warum seid Ihr dann noch am Le ben? Warum hat man nicht alle Eure Männer aufgerieben? Mpanzu hätte euch alle im Schlaf töten können. Aber er hat es nicht getan. Er hat euch laufenlassen.« »Das war sein Fehler. Er hätte mich töten sollen. Denn jetzt werde ich ihn umbringen; das hätte ich sowieso schon längst tun sollen. Bi schof de Sousa hatte recht. Er hat immer gesagt, Mpanzu muß getötet werden, aber Seine Majestät hat es ja nicht erlaubt. Doch jetzt wird er es erlauben! O ja, da könnt Ihr sicher sein, jetzt wird er es erlauben.« »Wer weiß von dieser Katastrophe, Dom Tomé?« fragte Pater Duar te und faltete wie zum Gebet die Hände. »Wissen die Leute hier Be scheid?« »Natürlich. Das sind doch Nsundi, nicht wahr? Seht sie Euch an. Schaut Euch diese Gesichter an – wahrscheinlich stecken sie sogar in der Sache mit drin. Wahrscheinlich haben sie auch alle Gewehre. Wo ist ihr Häuptling? Wo ist Dom Bernardo?« »Er ist tot«, sagte Pater José, der von dem Wagen mit den Leichen zu rückkam. »Er wurde in den Kopf getroffen.« »Was?« Rodrigues wirbelte herum und starrte ihn an. »Dom Bernar do wurde in den Kopf getroffen?« »Aber nein, Dom Tomé. Nicht Dom Bernardo. Dom Alvaro.« »Ach so. Ja, das stimmt. Er hat einen Kopfschuß abbekommen.« »Habt Ihr ihm die Beichte noch abnehmen können, Pater José?« frag te Pater Duarte. Der fette Priester zuckte unglücklich die Achseln. »Die arme Seele.« Pater Duarte schlug ein Kreuzzeichen. »Dann be reitet das Begräbnis vor, Pater José.« »Es ist kein großer Verlust«, brummte Rodrigues heiser und mit 559
grimmiger Zufriedenheit. »Er hatte hier nichts zu suchen. Er war völ lig überflüssig. Er hätte auf seinem Schiff bleiben sollen.« »Wer wird nun Gouverneur werden?« fragte Pater Duarte. »Der donatario, nehme ich an. Fernão de Mello. Aber bis er aus San to Antonio eintrifft, werde ich ihn vertreten. Bringt den MpangalaHäuptling zu mir.« Doch Rodrigues wartete nicht erst, bis Bernardo geholt wurde, son dern machte sich selbst zum Anwesen des Häuptlings auf. Gil folgte ihm, und Pater Duarte schloss sich Gil an. »Das ist schrecklich, Senhor Eanes«, begann er und faltete wieder die Hände. »Das wird all meine gute Arbeit zunichte machen, die ich hier geleistet habe. Sie werden aufsässiger werden als je zuvor und sich dem Wort Gottes noch mehr widersetzen. Dagegen müssen wir etwas un ternehmen. Sie dürfen nicht glauben, dass ihr Heidenprinz die Ober hand über uns gewonnen hat.« Gil wandte ihm den Rücken zu und hielt Ausschau nach Henriqué und Mfidi. Der ganze Tumult musste auch sie geweckt haben, aber of fenbar waren sie noch nicht aus dem Haus gekommen. »Mpanzus Angriff auf mich und meine Männer, Dom Bernardo, war auch ein Angriff auf Seine Majestät«, sagte Rodrigues gerade. »Es war ein Akt der Rebellion – nicht nur gegen die Portugiesen, nicht nur gegen den katholischen Glauben, sondern auch gegen den Kongo-König, der ein getaufter Christ und der Schutzherr der Portugiesen im Reich ist.« Bernardo, ein ungewöhnlich starker, breitschultriger Mann und selbst ein berühmter Krieger, hörte dem Hauptmann mit unbeweg ter Miene zu. »Und da Ihr dem Kongo-König Treue geschworen und die Taufe empfangen habt, könnt Ihr diese Rebellion auch als einen Angriff auf Euch betrachten.« »Was erwartet Ihr von mir, senhor?« »Dass Ihr gegen Mpanzu kämpft. Zur Verteidigung Eures Königs, Eures Glaubens und Eurer eigenen Person und Stellung erwarte ich, dass Ihr mich in dem Krieg, den ich gegen Mpanzu führen werde, un terstützt.« 560
»Das zu fordern steht Euch nicht an, Marschall«, meldete sich Gil zu Wort. »Wenn ein Krieg gegen Mpanzu geführt werden soll, hat der ManiKongo ihn zu erklären, nicht Ihr. Wir müssen zuerst ihn verstän digen.« »Verständigt ihn, Senhor Eanes. Verständigt ihn unbedingt. Ich habe keinen Zweifel, wie er sich entscheiden wird. Wir werden in der Zwi schenzeit unsere Vorbereitungen treffen. Vertraut Ihr Euren Leuten, Dom Bernardo? Seid Ihr gewiß, dass sie gegen Mpanzu kämpfen wer den?« Bernardo gab keine Antwort. »Natürlich nicht. Und ich ebensowenig. Vielleicht können wir uns auf die Christen unter ihnen verlassen; aber ich bin sicher, dass vie le hier auf Mpanzus Seite stehen, dass sie ihm treu ergeben sind und nicht Euch. Viele haben all die Jahre nur darauf gewartet, unter sein Banner zu eilen und sich gegen den König zu erheben – und womög lich haben auch sie Gewehre. Aber das ist Eure Aufgabe, Dom Bernar do. Spürt all jene auf, die nicht vertrauenswürdig sind, entwaffnet sie und stellt sie unter Arrest.« »Da ist noch etwas, das wir tun sollten, Dom Tomé«, bemerkte Pa ter Duarte. »Was wäre das, Padre?« »Wir sollten Mfidi taufen. Bei all jenen, die mit dem Gedanken spie len, zu Mpanzu überzulaufen, wird die Begeisterung abkühlen, wenn seine Tochter den Glauben annimmt.« »Ist sie bereit, das Sakrament zu empfangen?« »Wir wollten sie am Sonntag in der Messe taufen. Aber es gibt keinen Grund, weshalb wir es nicht schon bei der Messe heute Morgen tun könnten. Ich hole sie. Wo ist sie, Dom Bernardo? Ist sie noch mit Pater Henriqué in Eurem Haus?« Während Pater Duarte in das Anwesen des Häuptlings ging, tauch te Nimi aus der Menge hinter den Palisaden auf. Ohne ihn anzusehen, ging sie an dem Priester vorbei zu Gil, und an ihrer ernsten Miene er kannte er sofort, was sie ihm sagen wollte. Er trat ein Stück zur Seite, um außer Hörweite von Rodrigues mit ihr sprechen zu können. 561
»Sind sie weg?« »Ja.« »Zu Mpanzu?« »Ja.« »Wie sind sie herausgekommen? Ich habe sie nicht gesehen.« »Bernardo hat ihnen einen Weg gezeigt.« »Aber du hast doch gesagt, er würde ihnen weder helfen noch sich ihnen in den Weg stellen. Du hast doch gesagt, er würde nicht eingrei fen.« »Die Nachricht von Mpanzus Sieg hat ihn noch stärker beeindruckt als das Autodafé.« Gil blickte zum Himmel. Die Sonne war aufgegangen, aber die Wol kendecke schloss sich allmählich wieder. Es würde erneut ein trüber Tag werden. »Ich sage Rodrigues, dass wir nach São Salvador zurück gehen, um Mbemba die Nachricht von Mpanzus Angriff zu überbrin gen. Aber nur du wirst gehen, mchento. Ich werde Kimpasi folgen. Ich kann nicht zulassen, dass er sein Leben zerstört.«
KAPITEL 7
G
egen Abend setzte ein leichter Niederschlag ein; der Wind trieb Dunst und Nieselregen über das hügelige, gelbe Nsundi-Gras land, durch das sich der Lelunda sein Tal gegraben hatte. Sie befanden sich zehn Tagesmärsche – ungefähr hundert Leguas – östlich von Mpangala. Gil kauerte im hohen, nassen Gras auf einer Anhöhe ober halb des Flusses und schaute auf ein kleines Fischerdorf am Nordufer hinunter. In diesem Dorf hielt sich Mpanzu auf. Gil hatte zwei Stun den zuvor Nuno und Gonçalo unbewaffnet zu ihm geschickt, um eine Audienz zu erbitten, und nun wartete er auf ihre Rückkehr. Seine zwanzig Krieger, fünf davon mit Gewehren bewaffnet, waren in einem weiten Kreis um den Gipfel des Berges postiert, um sicherzustellen, 562
dass Mpanzus Männer ihn nicht überraschen konnten, bevor die Brü der zurückkamen. Gil war sich ziemlich sicher, dass Mpanzu ihn empfangen würde. Er hatte die Brüder angewiesen zu sagen, dass er nur gekommen sei, um mit seinem Sohn zu sprechen; niemand wisse, dass er hier sei. Er habe ledig lich eine Handvoll Krieger mitgebracht, und er sei bereit, unbewaffnet in das Dorf zu kommen und auch seine Männer entwaffnen und unter Bewachung stellen zu lassen. Unter diesen Umständen würde Mpanzu wahrscheinlich einwilligen, und wenn er es nur aus Neugier tat. Weitaus fraglicher war, ob Gil Henriqué überzeugen konnte, das Dorf zu verlas sen. Aber selbst wenn ihm das nicht gelingen sollte – mit Mpanzu musste er auf jeden Fall reden. Denn er wollte sich zumindest ein eigenes Urteil darüber bilden, inwieweit der Prinz der Nsundi eine Gefahr für Affonso darstellte. Dann konnte er dem König mit wohlerwogenem Rat zur Sei te stehen. Er wusste ja nur allzu gut, wie Rodrigues und Bischof de Sousa die Lage einschätzen und welchen Rat sie Affonso geben würden. Die Sonne war bereits hinter den von Wolken umhüllten Bergen un tergegangen, der Regen war nach Westen weitergezogen, und unten im Dorf wurden Kochfeuer entzündet, als Gil endlich Nuno und Gonçalo die Anhöhe heraufkommen sah. Er stand auf. »Ist er einverstanden, mbakala?« »Ja, Gil Janesch.« »Sind Kimpasi und Mfidi bei ihm?« »Ja.« »Und welche Bedingungen stellt er?« »Keine. Er sagte, er kann verstehen, dass du als Vater mit deinem un gehorsamen Sohn sprechen willst, weil er selbst auch Vater ist. Und er bietet dir dafür freies Geleit.« Gil musste lächeln. Mpanzus schlichte Anständigkeit und sein arg loses Wesen weckten in ihm wieder das Gefühl von Sympathie, das er schon vor langer Zeit für den unerschütterlichen, redlichen NsundiPrinzen empfunden hatte. »Trotzdem«, sagte er, wobei er sein Enter messer ablegte und das Kettenhemd auszog, »werde ich allein und un bewaffnet zu ihm gehen.« 563
Das Fischerdorf war für einen aufständischen Häuptling ein gu ter Unterschlupf. Es bestand aus nicht einmal zwanzig Hütten, die aus Erde und Gras gebaut waren und sich an einer Stelle zusammen drängten, wo der Lelunda eine enge Kehre machte; dahinter wurde er schmaler und floß schneller, und weiß schäumende Stromschnellen begleiteten auf diesem Abschnitt seinen Lauf. Am Ufer lagen Einbäu me; zwischen ihnen waren runde Fischernetze aufgespannt, und Fal len und Körbe standen bereit, die die Fischer in den Stromschnellen aussetzten. Aber niemand war beim Fischen, als Gil dort ankam. An die zweihundert Menschen – wohl die gesamte Bevölkerung des Dor fes – hatten sich um ein großes Feuer versammelt, das auf dem einzi gen Marktplatz brannte. Und vor dem Feuer saß Mpanzu auf einem Hocker, der die Form eines Stundenglases hatte. Gil erkannte ihn sofort, sogar aus der Ferne und nach den zehn Jah ren, die er ihn nicht gesehen hatte. Der Nsundi-Prinz war ebenso un glaublich dick geworden, wie sein Vater in diesem Alter gewesen war; aber im Gegensatz zum alten ManiKongo wirkte er gesund und stark. Er saß wachsam und aufrecht auf seinem Hocker; die riesigen Hände ruhten auf den Knien. Die breiten Schultern bedeckte ein Löwenfell, ein aus Ruten geflochtenes Hütchen saß schräg auf seinen grauen Lok ken, und um den voluminösen Leib war ein kurzer, karmesinfarbener und mit gelben Sonnenstrahlen bestickter Rock gewickelt – die tradi tionelle Kleidung der Kongo-Könige. Seine entstellte linke Gesichts hälfte mit der fehlenden Ohrmuschel war noch immer erschreckend hässlich, aber die Jahre und die vielen fleischigen Falten hatten die ab stoßende Wirkung ein wenig gemildert. Mpanzus hervortretende Au gen leuchteten im Schein des Feuers, als Gil sich ihm näherte. Ein paar Schritte vor dem ManiNsundi blieb er stehen. Mit den Augen suchte er die Umgebung nach Mpanzus Armee ab, konnte aber nichts entdek ken. Wo sollten sich die vielen mit Gewehren bewaffneten Krieger in einem kleinen Dorf wie diesem verstecken? »Hier bist du in Sicherheit, Gil Janesch«, sagte Mpanzu mit seiner heiseren Stimme, an die Gil sich gut erinnern konnte. »Du stehst hier unter meinem Schutz.« 564
»Das weiß ich, MtuKongo, und ich danke dir dafür«, antwortete Gil. Insgeheim fragte er sich noch immer, wo sich die aufständische Nsun di-Armee verborgen halten mochte. »Nicht MtuKongo, Gil Janesch. Sprich mich nicht als MtuKongo an. Ich bin kein Prinz der Kongo mehr.« »Dann als ManiNsundi?« »Ja, als ManiNsundi. Ich bin noch immer der Herrscher der Nsun di.« »Das ist allgemein bekannt. Seit deinem Angriff auf die portugiesi schen Soldaten und die Krieger des Kongo-Königs, seit der Niederlage, die du ihnen beigebracht hast, wissen das alle.« Als Antwort auf Gils anerkennende Worte hob Mpanzu stolz den Kopf. Dann gab er ein Zeichen, und aus der um das Feuer versammel ten Menge traten zwei Frauen vor; die eine brachte einen zweiten Hok ker, die andere Kelche mit malafu. Gil nahm einen Kelch entgegen, setzte sich auf den Hocker und warf noch einmal einen kurzen Blick in die Runde. Die Dorfbewohner befanden sich hinter ihm, wo die Schat ten langsam immer dunkler wurden. Er saß neben Mpanzu mit dem Blick auf das Feuer und den Fluss dahinter, der im Dämmerlicht kaum mehr zu sehen war; doch man konnte das angenehme Rauschen des Wassers von den Stromschnellen hören. »Ich habe mich gefragt, ManiNsundi, wo die Männer sind, die die Soldaten von Hauptmann Rodrigues und die Krieger deines Bruders geschlagen haben. Da sie einen solchen Sieg davongetragen haben, müssen es sehr viele gewesen sein.« »Es sind sehr viele. Aber da du mir vertraut hast und ohne deine Leibwache gekommen bist, habe ich sie weggeschickt, um dein Ver trauen zu erwidern.« »Ntondesi.« Mpanzu nahm einen Schluck Palmwein. Gil folgte seinem Beispiel; er war sich nicht sicher, ob die Abwesenheit der Nsundi-Krieger eine noble Geste war oder eine kluge List, die verhindern sollte, dass er zu viel in Erfahrung bringen konnte. Natürlich hatte er gehofft, nicht nur einen Eindruck von der Größe dieser Streitmacht zu bekommen, son 565
dern hätte auch gerne gewusst, wie gut sie mit Feuerwaffen ausgerü stet war. »Ich habe mich auch gefragt, weshalb du diesen Angriff unternom men hast, ManiNsundi. War es Rache für den Mord an dem alten nsa ku? Oder sollte es ein Zeichen sein, dass du bereit bist, gegen deinen Bruder in den Krieg zu ziehen?« Auf diese Frage hin verdüsterte sich Mpanzus freundliche Miene. »Mir wurde gesagt, du willst mit deinem Sohn sprechen, Gil Janesch, und weiter nichts. Habe ich mich geirrt? Verfolgst du mit deinem Kom men noch eine andere Absicht? Bist du etwa als Späher meines Bruders gekommen?« »Nein, ManiNsundi, ich bin nur gekommen, um mit meinem Sohn zu sprechen. Ich will ihn überreden, dass er mit mir nach Hause kommt, anstatt an einer unbesonnenen Erhebung teilzunehmen und sein Le ben zu zerstören.« Mpanzu nickte auf die ihm eigene, bedächtige Art. »Als sein Vater ist es dein gutes Recht, das zu versuchen. Ich bin ihm dankbar für die Hil fe, die er meiner Tochter gewährt hat, aber wenn er will, kann er mit dir gehen. Kimpasi.« Gil drehte sich verblüfft um. Er hatte nicht bemerkt, dass Henriqué nur ein paar Schritte hinter ihm in der ersten Reihe der Dorfbewoh ner stand. Gewiß lag das auch an der zunehmenden Dunkelheit; der eigentliche Grund aber war Henriqués Kleidung. Er trug nicht seine Priestergewänder, die Soutane und seine Sanda len, sondern war wie die Dorfbewohner barfuß und hatte eine Kan ga angezogen. Sein Rosenkranz mit dem Kruzifix hing ihm unterhalb der Kette aus Blutsteinen auf die nackte Brust wie ein Fetisch – wie das Amulett oder der Talisman eines Zauberers. Und seine langen blonden Haare waren eng geflochten. Hinter ihm stand Mfidi und starrte mit hasserfülltem Blick auf Gil. »Vergib mir, pai«, sagte Henriqué, während er in den Schein des Feu ers trat. »Vergib mir, was ich getan habe, aber ich hätte nicht anders handeln können. Ihr Leben war bedroht.« »Nein, Kimpasi, du hättest durchaus anders handeln können.« Gils 566
Ton war hart; es war der Ton eines Vaters, der seinen Sohn schalt. »Du hättest sie taufen und mir die Möglichkeit geben können, sie nach São Salvador mitzunehmen. Damit hättest du ihr Leben ebenso sicher ge rettet.« »Aber nachdem Pater Duarte von Dom Tomés Niederlage gehört hatte, blieb dazu keine Zeit mehr, pai. Er wollte sie unbedingt noch am selben Tag taufen, weil er darin die einzige Möglichkeit sah, dem Ein druck entgegenzuwirken, den Dom Tomés Niederlage bei den Nsundi hervorgerufen hatte. Nicht auszudenken, was er getan hätte, wenn sie das Sakrament dann verweigert hätte. Ich musste ihr helfen zu fliehen, pai. Und du weißt, dass ich damit recht habe.« »Ich will mich nicht mit dir streiten, Kimpasi. Ich bin auch nicht hierhergekommen, um darüber zu debattieren, ob du recht hast oder nicht. Was geschehen ist, ist geschehen; es läßt sich nicht rückgängig machen. Du hast das Mädchen Mbembas Einfluss entzogen, und das wird er dir sicher nicht danken. Mir geht es jetzt einzig darum, dass du deine Lage nicht noch verschlimmerst. Du mußt sofort nach São Sal vador zurück, mußt vor Mbemba treten und ihn um Verständnis und Vergebung bitten. Und, falls dein Priesteramt dir etwas wert ist, wirst du auch zu Bischof de Sousa gehen und ihn um Verständnis und Ver gebung bitten.« »Nein, pai.« Henriqué schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Der einzige, von dem ich Verständnis und Vergebung erbitte, bist du.« Gil sah zu Mpanzu, der Henriqué nachdenklich betrachtete. In sei ner Miene lag keine Genugtuung; offenbar empfand er über das trotzi ge Verhalten des Sohnes gegenüber dem Vater keine Freude. »Wirst du mir dein Verständnis und deine Vergebung gewähren, pai?« »Was soll ich verstehen und vergeben? Willst du mir sagen, dass du hier bei den Nsundi bleiben wirst?« »Ja.« »Hast du den letzten Funken Verstand verloren? Willst du wegen des Mädchens hierbleiben? Hast du ihretwegen so sehr den Kopf verloren, 567
dass du bereit bist, dein Leben wegzuwerfen, dich gegen deine Familie und deinen Glauben zu stellen und dich selbst im Königreich deiner Geburt zum Ausgestoßenen zu machen?« »Nein, pai, es ist nicht ihretwegen.« »Weswegen dann?« »Weil ich mittlerweile weiß, dass die Portugiesen den Kongo Böses bringen und deshalb bekämpft werden müssen, wie es der ManiNsun di tut.« »Welches Böse? Das Autodafé?« »Etwas, das noch schlimmer ist als das Autodafé.« »Welches Böse ist das?« »Das weißt du doch selbst, pai. Du hast es schon immer gewusst. Du hast es von Anfang an gewusst; aus diesem Grund hast du dich im mer von den Portugiesen ferngehalten, und deshalb hast du auch dei nen Glauben verloren.« »Maße dir nicht an, mir zu sagen, ob oder weshalb ich meinen Glau ben verloren habe! Beantworte meine Frage! Was ist das Böse, das die Portugiesen deiner Meinung nach dem Kongo bringen? Für welchen Kampf mußt du dein Leben zerstören?« »Zuerst werden sie unsere Seelen stehlen, pai. Und dann unsere Kör per.« Es war lange her, sehr lange, dass Gil diese düstere Prophezeiung ge hört hatte. Es war vor zwanzig Jahren gewesen, und als er sie jetzt aus dem Munde seines eigenen Sohnes wieder vernahm, lief ihm ein eisi ger Schauer den Rücken hinab. »Wo hast du das gehört? Wer hat dir das gesagt? Hast du es ihm gesagt, ManiNsundi?« »Nein, Gil Janesch, ich habe es ihm nicht gesagt«, erwiderte Mpanzu leise mit seiner heiseren Stimme. »Der Nganga-Kongo hat es ihm ge sagt.« »Der NgangaKongo? Welcher NgangaKongo? Das ist die Prophezei ung von Lukeni a Wene, und der ist tot. Er ist schon vor vielen Jahren gestorben.« »Trotzdem war er es selbst, der deinem Sohn von dem Bösen künde te, das die Porta Gies in unser Reich bringen.« 568
»Welch ein Zauber ist das?« »Der Zauber von Lukeni a Wene«, antwortete Mpanzu. Er hob sei ne fleischige Hand und wies über das Feuer hinweg auf den Fluss. »Der Zauber des Priesters meines Vaters.« Die Dorfbewohner, die sich um diese Seite des Feuers scharten, tra ten beiseite, damit Gil sehen konnte, worauf Mpanzu deutete: eine klei ne Hütte am Ufer des Lelunda. In diesem Augenblick fiel Gil ein, was Nuno und Gonçalo ihm berichtet hatten – dass Mpanzu einen großen, bedeutsamen Fetisch bei sich hatte, einen Fetisch, der sogar ein eigenes Haus besaß. War diese kleine Hütte das Haus des Fetischs? »Lukeni a Wene ist dort, Gil Janesch. Geh zu ihm. Er wird zu dir sprechen, wie er zu deinem Sohn gesprochen hat.« »Komm, pai.« Gil sah unschlüssig um sich und folgte dann Henriqué. Niemand be gleitete sie; Mpanzu blieb auf seinem Hocker sitzen, Mfidi trat neben ihn. Keiner der Dorfbewohner rührte sich von der Stelle. An der Hütte angekommen, kniete Henriqué vor dem Eingang nieder und zog den aus Gras geflochtenen Vorhang zur Seite. Gil kauerte sich neben ihn und schaute hinein. Und so war es. Lukeni a Wene befand sich tatsächlich in der Hüt te. Im orangefarben flackernden Schein einer kleinen Öllampe sah Gil den schrumpligen, buckligen Zwerg an die Rückwand der Hüt te gelehnt sitzen. Er war nackt, hatte die Knie angezogen, und sein Kinn ruhte auf ihnen; die dünnen Arme waren vor seiner Brust ver schränkt. Um den Hals trug er ein schwarzes Lederamulett, das ihm auf die Brust hing wie Henriqué das Kruzifix. Sein weiß bemalter Kör per blieb reglos; nur die tanzenden Schatten, die das flackernde Licht der Lampe auf ihn warf, vermittelten den Eindruck, als würde er sich bewegen. Und seine Augen waren geschlossen. Gil wartete darauf, dass er sie aufschlug, damit er seine Besucher wahrnehmen konnte, aber natürlich öffnete er sie nicht. Denn es war sein Leichnam – ein Fetisch, eine Statue, eine Reliquie, die Mpanzu aufbewahrte, ganz so, wie auch ein portugiesischer Prinz die Reliquie eines Heiligen aufbewahren und mit in die Schlacht nehmen konnte. 569
»Geh hinein, pai.« »Er ist tot, Kimpasi.« »Ich weiß, aber bitte geh hinein.« Gil schaute zurück zu dem Feuer, zu Mpanzu und Mfidi und den Dorfbewohnern, die ihn beobachteten, und sah dann Henriqué an. Die hellen, blauen Augen seines Sohnes waren weit geöffnet; eine drängen de Unruhe lag in seinem Blick. Er wollte unbedingt mit seinem Vater unter vier Augen sprechen. Gil kroch in die kleine Hütte; ihm war, als kröche er in ein Grab. Henriqué folgte ihm und ließ dann den Gras vorhang über den Eingang fallen. »Was ist passiert, mbakala? Jetzt kannst du es mir sagen. Hier sind wir allein.« »Ich habe die Prophezeiung des NgangaKongo gehört, pai. Die Pro phezeiung, die er aussprach, als die Portugiesen zum erstenmal in das Reich kamen; die Prophezeiung, die du gehört hast, als du zu den Kon go kamst und ich noch nicht geboren war. Sie ist unter Mpanzus An hängern gut bekannt; häufig führen sie sie als Grund ihrer Rebellion an. Aber ich hatte sie noch nie gehört, bevor ich hierher kam. Und ich weiß, was sie bedeutet.« Sie knieten unter dem niedrigen Dach der Hütte; der Leichnam des buckligen Zwerges war weniger als eine Armlänge von ihnen entfernt. Die Luft war schwül und stickig, aber es roch nicht nach Verwesung; die Leiche war gut mumifiziert. »Horch, pai«, flüsterte Henriqué. Gil lauschte, aber er vernahm nichts außer dem Knistern der flak kernden Lampe, dem Rauschen des Wassers, das durch die Strom schnellen schoß, und dem Zirpen der Zikaden in dem feuchten Gras vor der Hütte. Er betrachtete den toten NgangaKongo und erwartete fast, dass der Leichnam zu sprechen anfing. »Zuerst kommen sie, um unsere Seelen zu stehlen.« Natürlich war es nicht der Leichnam, sondern Henriqué, der die se Worte sprach. Er hatte die Augen geschlossen wie der NgangaKon go, und an seiner gerunzelten Stirn war zu erkennen, wie sehr er sich konzentrierte. 570
»Das ist der einfache Teil der Prophezeiung, pai, der am leichtesten zu verstehen ist. Ganz am Anfang sind die Portugiesen zu den Kon go gekommen, um ihre Seelen zu gewinnen. Mit jedem Schiff kamen Priester, so wie auch ich gekommen bin. Wir behaupten, dass wir die se Seelen vor dem Dunkel der ewigen Verdammnis retten und sie ins Licht immerwährenden Heils führen wollten. Aber für den NgangaKongo ist das Diebstahl. Denn diese Seelen gehören dem NgangaKon go. Seit es das Kongo-Reich gibt, haben die Seelen seiner Bewohner dem NgangaKongo gehört. Wenn wir also versuchen, sie für uns zu ge winnen, stehlen wir sie ihm.« Gil beobachtete Henriqué genau. Schweißperlen hatten sich auf der gerunzelten Stirn des jungen Mannes gebildet; er hatte sein Kruzifix in die Hand genommen und hielt es fest umklammert. »Aber der Diebstahl unserer Körper – was meinte der NgangaKon go damit? Das war das Rätselhafte an seiner Prophezeiung. Das war es, was niemand verstehen konnte, weil kein Portugiese in all diesen Jah ren versucht hat, unsere Körper zu stehlen.« »Und du verstehst es?« Henriqué öffnete die Augen. »Ja, pai, ich verstehe es«, flüsterte er. »Was verstehst du?« »Dass der NgangaKongo die Entdeckung Brasiliens voraussagte.« »Kimpasi …« »Pai, hör mir zu. Bis jetzt hatten die Portugiesen keinen Bedarf an Kör pern, und deshalb kamen sie auch nicht in der Absicht, sie zu stehlen. Aber mit der Entdeckung Brasiliens ist ein großer Bedarf entstanden. Wir ha ben davon gesprochen, dass König Emanuel Menschen braucht, um die Siedlungen dort zu bauen, damit er seinen Anspruch auf die neue Welt si chern kann, bevor das spanische Königspaar sie ihm streitig macht. Wir haben davon gesprochen, dass dies womöglich der Grund ist, weshalb er seine Schiffe jetzt hierhergeschickt hat – nicht, um die Laderäume mit Gold oder anderen Schätzen zu füllen, sondern mit Menschen aus dem Kongo-Reich, die in Brasilien Siedlungen bauen sollen.« »Ja, davon haben wir gesprochen, mbakala. Aber wir können nicht sicher sein, dass es sich wirklich so verhält.« 571
»Ich war mir nicht sicher, pai, bis ich die Prophezeiung des NgangaKongo hörte. Genauso wie auch du nicht sicher sein konntest, was sie bedeutet, bis du von der Entdeckung Brasiliens erfahren hast. Aber jetzt, da ich die Prophezeiung kenne und du von der Entdeckung der neuen Welt weißt, können wir beide sicher sein.« Gil überlegte einen Augenblick. »Hast du darüber mit Mpanzu ge sprochen?« fragte er dann. »Nein. Er weiß nichts von Brasilien.« »Dann ist das also nicht der Grund dafür, dass er diesen Krieg be gonnen hat?« »Den Krieg hat er schon angefangen, bevor ich hierherkam und mit ihm sprechen konnte.« »Warum hat er ihn dann gerade jetzt angefangen?« »Die Frage war jetzt oder nie. Mpanzu erkannte, dass er die Portu giesen, wenn er sie vertreiben will, jetzt vertreiben muß, bevor noch mehr kommen. Er hat immer auf die Prophezeiung des NgangaKon go vertraut, obwohl er sie nicht ganz verstand. Er hat immer geglaubt, dass die Portugiesen Böses in das Reich bringen, auch wenn er nicht wusste, was dieses Böse sein würde. Und deshalb hat er all diese Jah re abgewartet und alles genau beobachtet. Und als er die fünf Schif fe von König Emanuels Flotte sah – mehr als je zuvor gekommen wa ren –, wusste er, dass er den Krieg jetzt oder nie beginnen musste, be vor zu viele Portugiesen hier sein würden und er sie nicht mehr ver treiben könnte.« »Ich verstehe.« »Und er hat recht, pai. Bald werden zu viele Portugiesen im KongoReich sein, als dass man sie je wieder vertreiben könnte. Und sie wer den unser Volk versklaven und die Menschen in diese neue Welt, nach Brasilien, verschiffen. Das wissen wir jetzt, wir beide.« »Nein, mbakala, ich weiß das nicht. Bevor ich so etwas Schreckliches behaupte, muß ich noch viel mehr wissen. Die Prophezeiung dieses to ten Zauberers genügt nicht.« »Nun, ich jedenfalls weiß es. Der Krieg, den Mpanzu begonnen hat, soll unser Volk vor der Versklavung durch die Portugiesen retten. Und 572
damit ist er zum wahren Kongo-König geworden. Mbemba dagegen hat sich zum Handlanger der Portugiesen gemacht.« Gil schüttelte den Kopf über die Härte von Henriqués Urteil. »Du wirst also an diesem Krieg gegen den Bruder deiner Mutter teilneh men«, sagte er. »Ja.« Mit einem Seufzer ließ sich Gil auf die Fersen zurücksinken. Eini ge Minuten lang sprachen weder Vater noch Sohn ein Wort; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Flamme der Öllampe zischte leise, das Rauschen des Flusses und das unentwegte, metallische Sirren der Zikaden waren zu hören. Um so beklemmender wirkte die Stille in der Grabstätte des NgangaKongo. Schließlich brach Gil das Schweigen. »Willst du Mfidi zu deiner Frau nehmen, Kimpasi?« fragte er. »Hast du das vor?« »Ich kann keine Frau haben, pai. Ich bin ein Priester.« »Nach dem, was vorgefallen ist, wird dich dein Bischof nicht mehr als Priester betrachten, mbakala. Er wird dich nicht einmal mehr für einen Katholiken halten.« »Ich bin ein besserer Priester und ein besserer Katholik als er. Ich glaube an die Gnade Gottes und die Barmherzigkeit unseres Herrn Je sus Christus. Aber mein Glaube befiehlt mir nicht, Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, um ihre Seelen zu stehlen und sie zu versklaven.«
»Wo ist er? Er ist nicht mit dir gekommen? Er ist bei Mpanzu geblie ben?« »Ja.« Beatriz wollte es nicht glauben. Eilends verließ sie die Veranda, um unter Gils zwanzig Kriegern, die mit Nuno und Gonçalo unter den blühenden Bäumen im königlichen Garten standen, nach ihrem Sohn zu suchen. Sechzehn Tage lang waren Gil und seine Männer fast ohne Unterbrechung von Mpanzus Lager bis nach São Salvador marschiert. 573
Unterwegs hatte es immer wieder heftig geregnet. Jetzt war es schon weit nach Mitternacht, und es regnete wieder. Die Männer fuhren überrascht zurück, als Beatriz gramerfüllt zwischen ihnen herumirr te. Es schmerzte Gil, seine Frau in diesem Zustand zu sehen. Sie wusste alles. Die Dienerin Nimi, die schon drei Wochen früher in São Salva dor eingetroffen war, hatte ihr – wie auch Affonso – alles berichtet, was sich in Mpangala zugetragen hatte. Und nun war Beatriz' letzte Hoff nung, ihren Sohn jemals wiederzusehen, endgültig zerstört. Nach ei ner Welle ging Gil zu ihr und nahm sie bei der Hand. Doch sie zog zornig ihren Arm zurück. »Wie konntest du ihn bei Mpanzu lassen!« fuhr sie Gil an. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, Nimi. Glaub mir doch.« »Aber das ist sein Ende!« schrie sie voller Verzweiflung und begann zu schluchzen. »O Gil, er wird umkommen!« Gil legte ihr die Arme um die Schultern und ließ sie an seiner Brust weinen; seine Krieger verfolgten die Szene beklommen. Nimi, die an dere Nimi, trat mit Teresa auf die Veranda heraus und blickte durch den leichten, aber stetig fallenden Regen auf die beiden. »Nuno«, rief Gil über Beatriz' Kopf hinweg, ohne sie loszulassen. »Schick die Männer nach Hause. Sie haben mir gut gedient, ich dan ke ihnen.« Während sich die Krieger erschöpft zurückzogen, kamen Nimi und Teresa von der Veranda herunter. »Warum weinst du denn, Mutter?« fragte das kleine Mädchen und zupfte an Beatriz' Kanga. »Warum weint sie, pai?« »Du solltest schon längst nicht mehr auf sein, Teresa. Es ist sehr spät, du solltest schlafen. Deiner Mutter wird es bald wieder bessergehen. Bring sie hinein, mchento.« Beatriz hob den Kopf von Gils Schulter und sah zu, wie ihre Toch ter und die Dienerin ins Haus zurückgingen. »Das ist sein Ende, Gil«, wiederholte sie dann. »Er ist noch so jung, und sein Leben ist schon vorbei.« »Nein, Nimi, das ist es nicht. Bestimmt nicht.« 574
»Doch. Bischof de Sousa sagt, das Priesteramt wird ihm entzogen, er wird exkommuniziert, und seine Seele muß in alle Ewigkeit in den Flammen der Hölle schmoren.« Ärgerlich schüttelte Gil den Kopf. Sein Widerwille gegen de Sousa wurde wieder lebendig; am liebsten hätte er eine Verwünschung ausge stoßen, aber er wollte Beatriz nicht noch mehr aus der Fassung bringen. »Und Affonso hat ihn geächtet. Ich habe ihn angefleht. Ich habe ihn gebeten zu warten, bis der arme Junge Gelegenheit hat, sein Tun selbst zu erklären. Aber er wollte nicht, sein Zorn ist zu groß. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen, Gil. Er sagt, es gibt keine Entschuldigung für das, was Henriqué getan hat. Er sagt, er ist ein Verräter, ein Judas, und er wird für seinen Verrat bestraft werden. Und dich verdächtigt er auch.« »Mich? Weshalb denn?« »Bischof de Sousa behauptet, Pater Duarte hätte gesagt, dass du Hen riqué geholfen hast, mit dem Mädchen zu fliehen. Aber das ist doch nicht wahr, oder?« »Natürlich nicht. Glaubt Mbemba das auch?« »Vielleicht. Sein Zorn kennt keine Grenzen.« »Glaubst du es denn?« Beatriz schwieg. »Sieh mich an, Nimi. Er ist auch mein Sohn. Du kannst nicht glau ben, dass ich ihm dabei geholfen habe.« »Ich glaube es auch nicht. Aber warum hat er das getan? Wie konnte er zu unserem schlimmsten Feind überlaufen?« »Er hat seine Gründe«, erwiderte Gil ausweichend. »Zum einen be trachtet er Mpanzu nicht als unseren schlimmsten Feind.« »Aber das ist er! Er ist der Anti-Christ. So nennt ihn Bischof de Sou sa. Er verleugnet den Herrn und will, dass unser Volk in der Finster nis des Heidentums verharrt. Und wenn er mit seinem Aufstand Er folg hat, wird er uns alle aus dem Land vertreiben.« Wieder schmiegte sich Beatriz an Gils Brust und begann zu weinen. »Aber er wird nicht siegen!« sagte sie plötzlich mit verhaltener Wut. »Unsere Krieger wer den ihn mit Gottes Hilfe bezwingen.« 575
»Es ist also beschlossene Sache – Mbemba wird Krieg gegen Mpanzu führen.« Im Grunde hatte Gil nichts anderes erwartet, und so sprach er diese Worte mehr zu sich selbst als zu ihr. Doch sie schob ihn von sich weg. »Natürlich wird er das tun! Oder hast du etwa geglaubt, dass er sich von Mpanzu den Thron wegneh men läßt? Und dass er zusieht, wie wir alle aus dem Land gejagt wer den? Er hat den Befehl bereits gegeben. Bald werden die Soldaten der Garnison in São Salvador mit Tausenden von Kongo-Kriegern nach Mpangala marschieren, als Verstärkung für Dom Tomé. Und sie werden Mpanzu finden und ihn töten und alle seine Anhänger mit ihm.« »Und Kimpasi?« »O Gil, wir müssen einen Weg finden, ihn von Mpanzu wegzubrin gen. Wir müssen ihn irgendwie wieder nach Hause holen.« »Das werden wir auch, Nimi. Mach dir keine Sorgen, wir finden schon einen Weg. Aber jetzt komm, lass uns ins Haus gehen, heraus aus diesem ewigen Regen. Ich bin durchnässt und müde, ich möch te schlafen.« »Ist sie schön?« fragte Beatriz, als sie die Stufen zur Veranda hinauf stiegen. »Wer?« »Mfidi. Nimi sagt, sie hat Henriqué betört.« »Sie ist nur ein Mädchen, ein hübsches Mädchen.« Gil legte das En termesser ab, zog sein Kettenhemd aus und ging ins Schlafzimmer. »Sie hat ihn nicht betört. Es ist seine eigene Entscheidung.« »Aber warum nur? Ich verstehe das einfach nicht. Henriqué hat Mpanzu nie gemocht. Er hat nie vergessen, dass es Mpanzu war, der ihm als kleinem Jungen das Leben so schwer gemacht hat.« Gil setzte sich auf seine Schlafstelle und zog die Stiefel aus. »War es das Autodafé? War es das?« bohrte Beatriz weiter. »Ja, zum Teil war es das Autodafé.« Gil stellte die Stiefel beiseite, leg te sich hin und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Es muß schrecklich für ihn gewesen sein. Vielleicht hätte ich mich auch vom Glauben abgewendet, wenn ich es mit angesehen hätte.« 576
»Komm her, Nimi. Leg dich zu mir.« »Willst du dich nicht noch waschen? Ich lasse eine Dienerin heißes Wasser für dich bringen.« »Nein, leg dich einfach neben mich. Ich wasche mich später. Und später werden wir auch über all das reden.« Sie öffnete ihre Kanga, ließ sie zu Boden sinken und ging zu ihm. Wie er selbst war auch sie noch nass vom Regen. Er ließ seine Hän de über die vollen und so vertrauten Rundungen ihres Körpers gleiten, rieb sie mit sanften Bewegungen trocken. Sie erschauerte unter seiner Berührung, preßte das Gesicht unter sein Kinn und brach wieder in ein verzweifeltes Schluchzen aus. »O Gil …«, seufzte sie schwer. »Still, Nimi, beruhige dich. Ich hole ihn zurück, das verspreche ich dir. Ich werde ihn wieder nach Hause bringen.« »Soldaten der Porta Gies kommen, Gil Janesch.« Es war die ande re Nimi. Sie steckte den Kopf in das Zimmer, zog sich aber rasch wie der zurück, als sie sah, was auf der Schlafstelle vor sich ging. »Sie wol len mit dir sprechen.« »Sag ihnen, ich bin nicht hier.« »Sie wissen, dass du hier bist. Sie haben gesehen, wie du zurückge kommen bist. Sie haben das Haus genau beobachtet, um dich abzupas sen, wenn du zurückkommst.« Gil setzte sich auf. Beatriz folgte seinem Beispiel; ihre Augen wa ren vor Entsetzen geweitet. Mit beiden Händen hielt sie seinen Nak ken umklammert. »Bischof de Sousa läßt dich rufen. Sie sagen, er hat das Haus beob achten lassen, damit die Soldaten dich zu ihm bringen können, sobald du zurück bist.« Gil hüllte sich in eine Kanga und trat auf die vordere Veranda hin aus. Auch Beatriz kleidete sich eilig an und folgte ihm. Draußen im Garten standen vier Hellebardiere. »Seine Gnaden fordert Euch auf, zu ihm zu kommen, Senhor Eanes«, begann einer von ihnen. Doch Gil fiel ihm scharf ins Wort. »Es ist spät, cabo, und ich bin 577
gerade von einer langen Reise zurückgekehrt. Sag Seiner Gnaden, ich komme zu ihm, wenn ich etwas geschlafen habe.« »Der König erwartet Euch ebenfalls, senhor.« »Wer erwartet mich, cabo? Zuerst sagst du, es ist der Bischof. Jetzt ist es der König. Wer also? Sprich!« »Der Bischof fordert Euch auf, zu ihm zu kommen, senhor«, antworte te der Soldat. »Aber vielleicht interessiert es Euch, dass der König Euch ebenfalls im Pfarrhaus erwartet. Und die Königinmutter Leonor auch.« Diese Auskunft beunruhigte Gil. »Du mußt hingehen, Gil«, flüsterte Beatriz ihm ins Ohr. »Wenn du nicht gehst, wird ihr Argwohn nur noch größer. Ich komme mit dir.« Die Kerzen in den silbernen Kandelabern auf dem großen Eichen tisch und die Messingleuchter an den steinernen Wänden tauchten das Wohnzimmer des Pfarrhauses in ein unheimliches Licht. Bischof de Sousa saß in seinem hochlehnigen Stuhl hinter dem Tisch. Er trug eine schwarze Soutane und ein Käppchen in der gleichen Farbe; im Schein der Kerzen sah er kreidebleich und kränklich aus, doch seine Miene verriet grimmige Entschlossenheit. Einige Schritte vom Tisch entfernt saßen auf zwei weiteren Stühlen Affonso und Leonor, beide in der Tracht des portugiesischen Adels. Dem Bischof gegenüber stand ein vierter Stuhl; er war leer. Die Hellebardiere folgten Gil in den Raum. Zwei bezogen beiderseits des leeren Stuhls Posten, die anderen stellten sich an der Tür auf; ihre schweren, axtbewehrten Piken hielten sie in einem spitzen Winkel von sich und versperrten damit den Ausgang. Beatriz schob sich zwischen ihnen hindurch und sah halb besorgt, halb trotzig um sich. Ihr Kom men überraschte Bischof de Sousa. »Eure Anwesenheit ist nicht erforderlich, Dona Beatriz«, sagte er und erhob sich. »Mein Sohn ist in Gefahr, und mein Gatte steht unter Verdacht, Euer Gnaden. Wo also sollte mein Platz sein, wenn nicht hier?« Mit einem Seufzer ließ sich Bischof de Sousa wieder auf seinen Stuhl sinken und legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Nun gut, aber ich bitte Euch, diese Verhandlung nicht zu stören.« 578
»Komm hierher, Beatriz«, sagte Leonor und winkte ihre Tochter an ihre Seite. »Was ist das für eine Verhandlung, Bischof?« fragte Gil. »Habt Ihr die Inquisition von Mpangala hierhergeholt? Muß ich befürchten, dass einer von Pater Duartes Scheiterhaufen mich erwartet?« »Es besteht kein Grund für Euch, die Dinge so düster zu sehen, Se nhor Eanes«, erwiderte Bischof de Sousa mit einem kaum wahrnehm baren Lächeln. »Solange Ihr unsere Fragen zu unserer Befriedigung be antworten könnt, habt Ihr nichts zu befürchten. Wollt Ihr Euch nicht setzen?« Er wies auf den leeren Stuhl vor sich. Gil überhörte die Aufforderung und wandte sich Affonso zu. »Ent spricht dieses Vorgehen deinem Wunsch, Mbemba« fragte er. »Hast du diesem Prozess zugestimmt?« »Es ist kein Prozess, Gil«, antwortete Affonso sehr leise. Sein Ellbo gen ruhte auf der Stuhllehne, das Kinn hatte er in die Hand gestützt. Er sah Gil nicht an. »Seine Gnaden hat einige Fragen an dich. Ich möchte deine Antworten darauf hören.« »Fragen oder Anschuldigungen?« Affonso antwortete nicht und blickte auch nicht auf. »Zweifelst du an meiner Treue, Mbemba? Muß ich mich nach all die sen Jahren den Anschuldigungen dieses Priesters stellen, damit du die Gewißheit hast, mir vertrauen zu können?« Jetzt blickte Affonso auf. Maßloser Zorn lag auf seinem Gesicht; die Narbe flammte leuchtend rot. »Du bist zu Mpanzu gegangen, Gil, und während du bei ihm warst, hat er Mpangala angegriffen!« »Was?« »Mitten in der Nacht überfielen seine Krieger die Stadt und steck ten sie in Brand. Sie zerstörten die Kirche und die Kasernen, töteten fast alle portugiesischen Soldaten und nahmen viele der dort lebenden Nsundi gefangen, unter anderem Häuptling Bernardo.« »O mein Gott«, murmelte Gil; nun wusste er, weshalb er in Mpanzus Lager keine Krieger gesehen hatte. »Wann war das?« »Ich habe dir gesagt, wann es war. Als du bei ihm warst.« »Aber ich habe mich nicht einmal einen Tag lang bei ihm aufgehalten.« 579
»Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr von dem Angriff nichts wusstet, Se nhor Eanes?« fragte Bischof de Sousa. Gil wandte sich zu ihm. »Natürlich wusste ich nichts davon. Wollt Ihr mir vielleicht unterstellen, dass ich daran teilgenommen habe?« »Welchen Verdacht ich auch immer hegen mag, senhor, eines müßt Ihr doch zugeben – es ist ein seltsamer Zufall, dass Ihr genau zu die sem Zeitpunkt bei Mpanzu wart.« »Aber Ihr wißt doch, warum ich genau zu diesem Zeitpunkt bei ihm war. Ich habe ihn aufgesucht, um meinen Sohn zu überreden, mit mir nach Hause zurückzukehren.« »Ihr wusstet also, dass Euer Sohn bei ihm war. Ihr wusstet, dass er nach seiner Flucht aus Mpangala mit Mfidi dorthin gegangen war. Zu Mpanzu.« »Ja.« »Und woher wusstet Ihr das, Senhor Eanes?« »Es interessiert mich nicht, wie er das erfahren hat«, fuhr Affonso barsch dazwischen, stand auf und stieß seinen Stuhl fort. »Aber Eure Majestät …« »Ich will lediglich wissen, ob er auf meiner oder Mpanzus Seite steht.« »Das brauchst du mich nicht zu fragen, Mbemba. Ich habe es dir be reits gesagt.« »Dann wirst du mir zeigen, wo Mpanzu ist.« »Aber du weißt doch, wo er ist. Ist er denn nicht in Mpangala? Du hast gesagt, er hat die Stadt eingenommen.« »Ich habe gesagt, er hat Mpangala angegriffen. Aber er ist viel zu schlau, um dort zu bleiben und darauf zu warten, dass ich mit meiner Armee gegen ihn ziehe. Er hat sich nach dem Angriff wieder in sein Lager in den Bergen zurückgezogen. Und wo das ist, weiß ich nicht. Aber du weißt es, denn du warst dort.« »Ich weiß, wo es war, Mbemba. Aber ich bezweifle, dass Mpanzu sein Lager noch immer in diesem Dorf hat. Wie du selbst sagst, er ist ein er fahrener Krieger und hat inzwischen sicher ein neues Lager.« »Aber Ihr könnt es finden, senhor«, warf Bischof de Sousa ein. »Ihr 580
braucht nur Euren Sohn zu suchen, den abtrünnigen Priester, dann findet Ihr auch Mpanzus Lager.« Gil sah zuerst ihn und dann Affonso prüfend an. Es wurde sehr still im Wohnzimmer des Pfarrhauses. Schließlich setzte er sich auf den leeren Stuhl. »Habt Ihr Seiner Majestät von Brasilien erzählt, Bischof?« fragte er. »Brasilien?« »Ihr habt noch nichts davon gehört?« De Sousa schüttelte den Kopf. »Was ist Brasilien?« fragte Affonso. »Eine neue Welt, die die Portugiesen entdeckt haben, Mbemba. Eine neue Welt, für die sie viele Sklaven brauchen.«
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Kleine Anmerkung
Der allgemeine Wissensstand schreibt die Erfindung des Fernrohrs Galileo Galilei zu. Doch der berühmte italienische Naturwissenschaft ler nutzte im Jahre 1609 lediglich die Entdeckung des Niederländers Hans Lippershey (auch Jan Lippersheim, ca. 1570-1619), der im Oktober 1608 seinen ›kijker‹ konstruierte; Galilei war es, der durch besonde ren Schliff der Linsen die Vergrößerungskapazität verbesserte und das Fernrohr für die Astronomie nutzbar machte. Brillen gab es schon im 13. Jahrhundert, und zwar sowohl in Europa (zuerst in Italien) als auch in China, wobei bis heute nicht klar zu sein scheint, ob der Westen vom Osten gelernt hat oder umgekehrt. Und schon vor Christus wurden in China und Griechenland Spiegel und Linsen verwendet. Die Entwick lung von Pythagoras über Epikur bis zu dem arabischen Mathemati ker und Physiker Alhazen aufzuzeigen würde hier zu weit führen, aber dem englischen Philosophen Roger Bacon (auch Doktor Mirabilis, ca. 1220-1292) waren auf jeden Fall die Gesetze von Reflexion und Refrak tion bekannt; in seinen Traktaten beschreibt er als erster den Einsatz von Linsen für optische Zwecke (1268). Wer sind wir also, bestreiten zu wollen, dass es in den Zeiten von Kolumbus und Gil Eanes nicht so et was wie ein optisches Gerät gab, mit dem man im Auge das Bild eines entfernten Objekts erzeugen konnte – kurz, ein Fernrohr?
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