Kurzbeschreibung Was würden Sie als Geschäftsmann im Nahen Osten tun, wenn Ihre Batteriefabrik vom Chef einer Terrorist...
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Kurzbeschreibung Was würden Sie als Geschäftsmann im Nahen Osten tun, wenn Ihre Batteriefabrik vom Chef einer Terroristengruppe als Basis zur Vorbereitung eines Überfalls auf Tel Aviv auserkoren wor den ist? Michael Howell und seine Vertraute Teresa werden Kol laborateure wider Willen, in der Hoffnung, noch rechtzeitig aus steigen zu können... Klappentext Detailgenaue Beschreibung des israelisch-arabischen Konflikts, in den der Kaufmann Michael Howell verwickelt wird. Da eine sei ner Fabriken unter die Kontrolle eines radikalen Palästinenser führers gerät, sitzt er bald zwischen allen Fronten. Howell, Sym bol für den Westen, beschwört eine Katastrophe herauf.
»Mit dokumentarischer Präzision entwirft Ambler in den ersten Kapiteln ein Panorama der palästinensischen Misere von der Bal four-Deklaration bis heute, schildert eingehend die Entwicklung und die Richtungskämpfe der Guerillaorganisationen, geht auf ihre Schwierigkeiten in den arabischen Ländern ein. Erst vor die sem Hintergrund, der bei Ambler eben mehr ist als ein exotisches Dekor, entfaltet sich die groteske Tragikomödie des Michael Howell.« Hans C. Blumenberg / Die Zeit, Hamburg »Welche literarische Form wäre der politischen Räuberpistole des arabisch-israelischen Konflikts auch angemessener gewesen als ein Thriller mit Ambler-Touch? « Gunar Ortlepp / Der Spiegel, Hamburg »Dieses Buch ist Amblers bestes und anspruchsvollstes. « Hanns Lothar Schütz / Welt am Sonntag, Hamburg
Eric Ambler
Der Levantiner
Roman
Aus dem Englischen
von Tom Knoth
Diogenes
Die englische Ausgabe erschien
unter dem Titel ›The Levanter‹
bei Weidenfeld & Nicolson, London
© 1972 by Eric Ambler
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 1973 by
Diogenes Verlag AG Zürich
100/73/w/1
isbn 3 257 01513 5
1
Levanter s 1. Levantiner(in). – 2. mar. selten Levan tefahrer m. – 3. meist l~ starker Südostwind (im Mittelmeer). 2 levanter s Br. flüchtiger Schuldner (j-d der durch brennt, ohne seine Schulden, bes. Wettschulden, zu bezahlen). Aus ›Langenscheidts Enzyklopädisches Wörterbuch‹, begründet von E. Muret und D. Sanders
Erstes Kapitel Lewis Prescott 14. Mai
Dies ist Michael Howells Geschichte, und er erzählt sie größtenteils selber. Ich finde, er hätte sie von Anfang bis Ende selber erzählen sollen. Mag sein, daß er nicht den überzeugendsten Anwalt in eigener Sache abgibt; und als Hauptfigur jener Affäre, die als ›Der Cercle-Vert-Zwischenfall‹ bekanntgeworden ist, verhält er sich eher wie ein Angeklagter. Aber die An schuldigungen entkräften und die notwendigen Auf schlüsse geben kann nur er selber. Von seinen eigenen Worten hängt es ab, wie das Urteil über ihn ausfallen wird. In der mißlichen Lage, in der er steckt, wirken Sympathiekundgebungen und Verständnis von Außen stehenden wie Bitten um Gewährung mildernder Um stände. Statt seine Position zu stärken, könnte meine Par teinahme sie womöglich schwächen. Ich sagte ihm das. Er stimmte mir jedoch nicht zu. »Bestätigende Aussagen, Mr. Prescott«, erklärte er eindringlich, »das ist es, was ich von Ihnen brauche. Sa gen Sie ihnen, was Sie von Ghaled wissen. Machen Sie ihnen nachträglich die Hölle heiß. Ich kann ihnen er zählen, wie es mir ergangen ist, aber sie müssen begrei fen, mit wem ich es zu tun gehabt habe. Ihnen werden sie glauben.« 7
»Meine Meinung über einen Mann wie Ghaled, die ich mir im Verlauf eines einzigen Interviews gebildet habe, ist nicht beweiskräftig.« »Sie wird das Gewicht eines Beweises haben. Ich erwarte nicht, daß Sie offen für mich Partei ergreifen, Mr. Prescott – das wäre zuviel verlangt –, aber ich bit te Sie, meinen Gegnern nicht in die Hände zu spie len.« Herzerweichend und unzutreffend; hier sprach der Levantiner aus ihm. Ungerührt blickte ich ihn an. »Ich spiele niemandem in die Hände, Mr. Howell, und Ihren Gegnern schon gar nicht. Ich hatte ange nommen, das hinreichend deutlich gemacht zu ha ben.« »Für mich schon.« Er hob den Zeigefinger. »Aber wie steht es mit der Öffentlichkeit und den Nachrich tenmedien? Wie soll ich mich und die Agence Howell verteidigen, wenn es wichtige unabhängige Zeugen – diejenigen, denen die Wahrheit bekannt ist – vorzie hen, Schweigen zu bewahren?« »Ich habe immerhin ein Feature von dreitausend Wörtern zu diesem Thema geschrieben, Mr. Howell«, rief ich ihm ins Gedächtnis. »Ich nenne das nicht ›Schweigen bewahren‹.« »Mit Verlaub, Mr. Prescott, Ihr Cercle-Vert-Artikel hat nur einen Bruchteil des wahren Sachverhalts wie dergegeben.« Er hob den Finger. »Wenn ich glaub würdig sein will, muß ich alles erzählen. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich bitte Sie, zu mir zu stehen und keinen Rückzieher zu machen.« 8
Ich zögerte einen Augenblick lang, bevor ich ant wortete: »Vielleicht werden Sie es noch bereuen, mich nicht aus dem Spiel gelassen zu haben.« »Das Risiko nehme ich in Kauf. Die ganze Wahr heit sagen, das ist es, Mr. Prescott, was wir beide tun müssen. Mehr nicht – die ganze Wahrheit.« Die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit – aus sei nem Mund klang es, als sei nichts einfacher als das. Und möglicherweise glaubte er wirklich, in seinem Fall verhalte es sich so. Zur Klarstellung: Zu der Zeit, von der ich jetzt berich te, war ich Mr. Howell noch nicht begegnet und wuß te auch nichts von seiner Existenz. Als langjähriger Auslandskorrespondent der verei nigten Post-Tribune-Pressedienste bin ich in Paris ak kreditiert. Zwei Monate vor dem Cercle-VertZwischenfall war ich vorübergehend in den Mittleren Osten entsandt worden, um von dort über den Besuch des amerikanischen Außenministers, der sich wieder einmal um die Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts bemühte, Bericht zu erstatten. Die Rundrei se hatte in Beirut geendet, und dort war es gewesen, daß ich Melanie Hammad traf. Kennengelernt hatten meine Frau und ich sie bei gemeinsamen Freunden in Paris. Ich wußte, daß sie freie Mitarbeiterin französischer und amerikanischer Modezeitschriften war, und es überraschte mich, sie auf einer Pressekonferenz im libanesischen Außenmi nisterium anzutreffen. 9
»Bißchen außerhalb Ihres angestammten Ressorts, wie?« fragte ich sie, nachdem wir einander begrüßt hatten. »Ich bin hier zu Hause. Wußten Sie denn nicht, daß ich Araberin bin?« »Ich wußte, daß Sie aus dem Libanon sind.« In Paris war sie eine attraktive junge Frau mit glut vollen Augen gewesen, die sich sehr gut anzog, meh rere Sprachen beherrschte und die Leute von der Hau te Couture kannte. Ich erinnerte mich, daß sie meiner Frau behilflich gewesen war, Parfum mit Rabatt ein zukaufen. »Hier bin ich zuerst Araberin«, erklärte sie in sehr entschiedenem Tonfall, »und dann erst Libanesin.« »Moslemitin oder Christin?« »Meine Eltern sind maronitische Christen, und so werde ich es wohl auch sein.« Sie dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. »Gegenwärtig observiere ich für das Palästinensische Aktionskommando.« »Verstehe.« Ich hielt ihre Bemerkung für einen Scherz und fügte lächelnd hinzu: »Inoffiziell, nehme ich an.« »Offiziell ginge das wohl schwerlich.« Sie erwiderte mein Lächeln nicht. »Wenn Sie wollen, könnten wir uns darüber noch unterhalten.« Ihr schmachtender Blick wurde durchdringend. »Ich glaube, das wäre nicht ganz uninteressant für Sie, Mr. Prescott.« Ich war unschlüssig. Es schien ihr voller Ernst zu sein; aber das einzige Palästinensische Aktionskom mando, von dem ich wußte, war eine Guerilla 10
Splittergruppe, die ein Mann namens Salah Ghaled be fehligte, der den Ruf eines Gangsters hatte. Die Vor stellung, daß die elegante Miss Hammad irgend etwas mit ihm zu tun haben sollte, kostete mich einige Mü he. Nichtsdestoweniger war ich neugierig geworden. »Einverstanden«, sagte ich. »Ich wohne im St. Georges. Wenn Sie Zeit haben, könnten wir zusam men zu Mittag essen.« Die Mittelost-Redaktion der vereinigten Pressedienste unterhält ein Büro in Beirut. Es wird von einem Eng länder namens Edwards geleitet, der außerdem als freier Korrespondent für ein oder zwei britische Blät ter tätig ist. Bevor ich Miss Hammad zum Lunch traf, holte ich dort ein paar Auskünfte ein. Edwards lachte. »So, so, da hat unsere Melanie scheint’s ein Auge auf Sie geworfen, was? Und ich dachte, sie sei hinter dem Burschen von der New York Times her.« »Wovon reden Sie?« »Sie ist Presseagentin für das Palästinensische Akti onskommando.« »Aber meine Frau und ich kennen sie von Paris her. Sie ist dort Modejournalistin.« »In Paris mag sie ja eine Modelady sein, aber in die sen Breiten ist sie eine palästinensische Aktivistin. Ghaled hat sie vereinnahmt, als sie noch Studentin an der Sorbonne und er in der Al Fatah war. Ihr Vater ist natürlich schwer reich, sonst hätte sich die Polizei schon längst mit ihr befaßt. Ihm gehört das neue Bü 11
rogebäude, das Sie vom St. Georges aus sehen können, und er besitzt noch eine Reihe weiterer Kästen glei cher Art und Größe. Sie braucht nicht für ihren Le bensunterhalt zu arbeiten. Und was immer sie für Ghaled tut, geschieht ohnedies aus purer Liebe. Wir haben massenhaft Material über die beiden. Soll ich es Ihnen heraussuchen?« »Ich glaube, ich möchte mir zunächst einmal anhö ren, was sie überhaupt von mir will.« »Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Extremis mus im Dienst des Freiheitskampfes ist kein Verbre chen. Mäßigung nichts anderes als Schwäche. Ich habe mir erzählen lassen, daß sie sehr überzeugend sein kann. Sie werden eine gereinigte Fassung des pakManifestes sowie zu Ihrer ganz besonderen Erbauung ein hektographiertes Exemplar der ›Gedanken Salah Ghaleds‹ in die Hand gedrückt bekommen.« »Das hätte sie mir auch in Paris überreichen kön nen.« »Da schrieben Sie aber nicht über den Mittleren Osten.« In einem Punkt jedoch sollte sich Edwards getäuscht haben. Melanie hatte mehr zu bieten als nur Pamphle te. »Man sagt Ihnen nach«, eröffnete sie mir, »daß Sie wahrhaft objektiv und unabhängig berichten und vor gefaßte Meinungen auch dann nicht unkritisch über nehmen, wenn es angezeigt erscheint, genau das zu tun.« 12
»Das ist sehr schmeichelhaft für mich, Miss Ham mad. Aber ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, daß ich so etwas wie eine rühmliche Ausnahme dar stelle.« »So töricht bin ich nicht. Natürlich gibt es noch mehr Amerikaner von Ihrer Sorte. Aber sie kommen nur selten hierher, und wenn, dann nehmen sie sich nicht die Zeit zuzuhören. Ich weiß, was über das Palä stinensische Aktionskommando behauptet wird. Es wird behauptet, daß es aus Verbrechern bestehe, die die palästinensische Sache für ihre eigenen Zwecke mißbrauchen, daß Ghaled aus der Al Fatah desertier te, als der Feind angriff, daß er kein Freiheitskämpfer sei, sondern ein Gangster. Möglicherweise sind Sie geneigt, diesen Dingen Glauben zu schenken. Zumin dest werden Sie sie zur Kenntnis genommen haben. Aber vielleicht fragen Sie sich auch, ob dieser empfan gene Eindruck, dieser Konsens, der Wahrheit ent spricht. Ich glaube, Sie würden es vorziehen, sich eine eigene Meinung zu bilden, sofern sich Ihnen dazu Ge legenheit bietet.« »Da mich aber niemand gebeten hat, mir über Mr. Ghaled und sein Palästinensisches Aktionskommando eine eigene Meinung zu bilden –« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich bitte Sie.« »Leider Gottes sind Sie nicht mein New Yorker Redakteur.« »Sie haben sehr weitgehende Befugnisse. Ihre Frau hat es mir erzählt. Ich denke an ein wichtiges persön 13
liches Interview, das einem Lewis Prescott gewährt werden würde. Exklusiv, versteht sich.« Ich überlegte rasch. »Wo fände dieses exklusive Interview statt?« »Hier im Libanon. An einem geheimgehaltenen Ort selbstverständlich. Absolute Diskretion müßte ge währleistet sein.« »Wann fände es statt?« »Wenn Sie zusagen, glaube ich, es innerhalb von vierundzwanzig Stunden arrangieren zu können.« »Spricht Mr. Ghaled englisch oder französisch?« »Nicht gut. Ich würde dolmetschen. Sie brauchen nur Bescheid zu geben, wann es Ihnen paßt, Mr. Prescott.« »Ich verstehe. Nun gut, dann lasse ich noch im Lauf des heutigen Tages von mir hören.« Edwards pfiff leise durch die Zähne, als ich ihm von dem Angebot berichtete. »Ghaled will also tatsächlich aus seiner Höhle hervorkriechen!« »Ist er schon oft interviewt worden? Miss Hammad erwähnte, daß sie verschiedentlich über ihn berichtet hat.« »Das war, als er noch der Al Fatah angehörte. Seit er diesen pak-Unfug treibt, lebt er zumeist im Unter grund. Die Jordanier haben einen Kopfpreis auf ihn ausgesetzt, und die Leute von der Palästinensischen Befreiungsorganisation in Kairo haben die Syrer zu überreden versucht, ihn unschädlich zu machen. In diesem Punkt gehen die Syrer mit ihnen zwar nicht ganz einig, aber er darf sich hier nichts zuschulden 14
kommen lassen und muß vorsichtig sein. Obwohl er seine Basis in Syrien hat, setzt er seine Kommando gruppen nie zu bewaffneten Aktionen auf syrischem Territorium ein. Er ist hier natürlich überall unten durch. Sein Image hätte es dringend nötig, ein wenig aufpoliert zu werden. Etwas mehr Respektabilität könnte er schon brauchen.« »Frank, Sie glauben doch wohl hoffentlich nicht, daß ich der hübschen Miss Melanie Hammad zuliebe bereit wäre, ihn auch nur im geringsten aufzuwerten?« Edwards hob abwehrend die Hände. »Nein, Lew. Aber ich darf Sie darauf hinweisen, daß persönliche Interviews von der Art, wie Sie sie handhaben, dazu tendieren, den Institutionen, mit denen die jeweiligen Interviewpartner identifiziert werden, Seriosität zu verleihen. Wenn Sie es auch in diesem Fall so halten wollen, geben Sie Ghaled Auftrieb und verhelfen ihm zu der internationalen Identität, an der es ihm gegen wärtig fehlt.« »Wenn es mir darum ginge, einen Bericht über die palästinensische Untergrundbewegung zu schreiben – was, wie Sie wissen, nicht meine Absicht ist –, würde ich Ghaled als ihren typischen Repräsentanten aussu chen?« »Als ihren typischen Repräsentanten?« Er blickte einen Moment lang unschlüssig drein und zuckte dann die Achseln. »Es gibt zehn verschiedene palästi nensische Untergrundbewegungen, und noch weit mehr, wenn Sie Splittergruppen wie das pak dazuzäh len. Sie könnten durchaus auch eine schlechtere Wahl 15
treffen. Schließlich hat Ghaled der einen oder anderen dieser Bewegungen angehört, seit er ein Junge war.« »Ist er denn kein Desperado, kein verbohrter Fana tiker?« »Verbohrte Fanatiker sind sie alle. Sie nähren ihren Haß mit Illusionen, jedenfalls tun das die meisten von ihnen. Das müssen sie. Sonst hätten sie gar nicht über leben können.« »Gibt es überhaupt keine Gemäßigten? Was halten Sie von Jassir Arafat?« »Arafat ist kein Partisan, er ist ein Politiker. Er ist dagegen, daß Palästinenser Palästinenser umbringen statt Israelis. Wenn er jemals auch nur andeuten sollte, daß eine friedliche Regelung mit Israel eines fernen Tages in den Bereich der Möglichkeiten rücken könn te, würde ihm innerhalb einer Stunde die Kehle durchgeschnitten werden. Und es wäre jemand wie Ghaled, auf dessen Betreiben es geschähe. Möglicher weise würde Ghaled das sogar selber besorgen.« »Nun, ich sehe, daß Sie ihn für interessant halten.« »Ja, Lew, das tue ich allerdings.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Wissen Sie, seit dem Zweiten Ver rat –« »Wie bitte?« »So nennt Ghaled den vernichtenden Schlag, den die jordanische Regierung den Palästinensern 1971 versetzt hat. Der erste Schlag, als Husseins Armee die Partisanen im Jahr 1970 aus Amman vertrieb, war Der Große Verrat. Der Zweite Verrat war die Säuberungs aktion, die im Jahr darauf erfolgte. Seither hat die 16
Guerillabewegung erheblich an Schlagkraft verloren, zumindest soweit es Al Fatah und die pflp, die Volks front für die Befreiung Palästinas, betrifft. Man könn te sagen, daß die Ereignisse Ghaleds ursprüngliche These bestätigt haben. Das allein macht ihn schon in teressant. Ich persönlich bin zudem der Meinung, daß er noch mehr zu bieten hat.« »Haben Sie das nur so im Gefühl, oder gibt es dafür konkrete Anhaltspunkte?« »Eigentlich nur so im Gefühl. Aber wenn Melanie mich gefragt hätte, würde ich die Chance, ihn zu in terviewen, auf der Stelle wahrgenommen haben.« »Also gut. Ich nehme sie wahr. Am besten, wir drahten New York. Können wir Ghaleds Namen in einem Telegramm erwähnen?« »Nicht, wenn Sie keinen Wert darauf legen, von der Polizei beschattet zu werden.« »Ist es wirklich so arg?« »Sie würde vermutlich auch das hiesige Al-FatahBüro informieren. Ich sagte Ihnen doch, er ist bei al len untendurch.« Nachdem ich das einschlägige Pressematerial des Büros etwa zwei Stunden lang studiert hatte, wußte ich auch, warum. Salah Ghaled wurde 1930, als Palästina noch briti sches Mandat war, in Haifa als ältester Sohn eines an gesehenen arabischen Arztes geboren. Seine Mutter stammte aus Nazareth. Er besuchte diverse Privat schulen und soll ein ungewöhnlich begabter Schüler gewesen sein. 1948 wurde er zum Studium an der Al 17
Aschar-Universität in Kairo zugelassen. Er hatte vor, Medizin zu studieren wie sein Vater; aber der erste Arabisch-Israelische Krieg durchkreuzte seine Pläne. Die Arabisch-Jordanische Legion sowie eine irregu läre arabische Befreiungsarmee waren die Angreifer. Anfänglich in die Defensive gedrängt, dann aber zum Gegenangriff übergehend, kämpfte die Haganah, die jüdische Armee, um den Bestand des soeben prokla mierten Staates Israel. Beide Seiten beschuldigten ein ander wiederholt, Grausamkeiten an der Zivilbevölke rung verübt zu haben. Ein arabischer Exodus begann. Mehr als hunderttausend Araber setzten sich ab; ei nige in panischer Flucht, andere, weil sie einer ver meintlich anrückenden arabischen Befreiungsarmee freie Hand lassen wollten. Alle glaubten, bald wieder in ihr Land und zu ihren Wohnsitzen zurückkehren zu können. Nur wenigen sollte dies je beschieden sein. Das palästinensische Flüchtlingsproblem war entstan den. Unter den ersten Flüchtlingen befand sich die Familie Ghaled aus Haifa. Sie traf es besser als die Mehrzahl ihrer geflüchteten Landsleute; Ghaled senior war Arzt und hatte Geld. Nach ein paar Wochen, die sie in einem Durchgangs lager verbrachte, zog die Familie nach Jericho. Zu je nem Zeitpunkt hätte Salah nach Kairo gehen und wie vorgesehen an der Universität studieren können. Statt dessen trat er – offenbar mit Zustimmung seines Va ters – den irregulären arabischen Befreiungsstreitkräf ten bei. Das war die Armee, die lauthals angekündigt hatte, sie werde »die Juden ins Meer jagen«. 18
Als der Krieg im Jahr darauf mit dem Ergebnis zu Ende ging, daß die Israelis fester als je zuvor auf dem ausgedörrten Boden Fuß gefaßt hatten und die arabi schen Streitkräfte sich in voller Auflösung befanden, war Salah Ghaled gerade achtzehn geworden. Er hatte in einer Armee gekämpft, die nicht nur besiegt, son dern auch gedemütigt worden war. Beides, Niederlage wie Demütigung, verlangte, gerächt zu werden. In Kairo, wohin er jetzt ging, um endlich sein Medizin studium zu beginnen, wurde er rasch in politisch akti ve Studentenkreise gezogen. Seinem – einige Jahre später geäußerten – eigenen Bekunden zufolge ist er dort zum Marxisten geworden. Zum Arzt hat er es nie gebracht. 1952 ging er nach Jordanien, um dort in ei nem unwra-Lager für palästinensische Flüchtlinge als Arztgehilfe zu arbeiten. Die Guerillabewegung steckte damals noch in den Kinderschuhen; aber er scheint ein geborener Anfüh rer gewesen zu sein: sehr bald befehligte er seine eige ne Gruppe von ›Infiltratoren‹, wie die Israelis sie nannten, und unternahm von Jordanien aus Überfälle auf israelisches Gebiet. Da er noch immer als Arztge hilfe auf den unwra-Gehaltslisten geführt wurde, mußte er sich einen Decknamen zulegen. Er entschied sich für El Matwa – das Klappmesser –, und es gelang ihm, die Sinnfälligkeit dieser Bezeichnung innerhalb kürzester Frist evident werden zu lassen. Es galt als so gut wie erwiesen, daß eines der auf ›Klappmessers‹ Konto gehenden Kommandounternehmen, bei dem ein israelischer Bus zusammengeschossen wurde, die 19
Israelis zu einem massiven Vergeltungsschlag provo ziert hatte. Die palästinensischen Militärs pflegten Er folge vorwiegend nach Ausmaß und Härte der gegne rischen Reaktion zu bemessen. Klappmessers Re nommee als örtlicher Anführer war jetzt gefestigt. Als ägyptische Abwehroffiziere angereist kamen, um nach Palästinensern Ausschau zu halten, die sich im Grenzgebiet auskannten und bereit waren, sich den Fedaijin anzuschließen, befand sich Ghaled unter den wenigen Auserwählten, an die man herantrat. Die ägyptischen Fedaijin waren schwerbewaffnete Kommandogruppen. Von ihren Stützpunkten auf ägyptischem und jordanischem Territorium aus dran gen sie tief in israelisches Gebiet ein, ermordeten Zivi listen, verminten Straßen und sprengten technische Einrichtungen und Anlagen aller Art. Der SinaiFeldzug von 1956 setzte ihrer Tätigkeit ein Ende, aber die Idee der Fedaijin blieb unter den Ägyptern leben dig. Die Guerillagruppen, die sich jetzt zu bilden be gannen, wurden von Männern wie Ghaled, die den ägyptischen Fedaijin angehört hatten, organisiert und ausgebildet. Eine der größeren Gruppen machte unter dem Namen Al Fatah von sich reden, und Ghaled zählte zu ihren ersten Anführern. 1963 erlitt er bei einem israelischen Vergeltungsan griff eine Verwundung am Bein. Die Verwundung war sehr schwer und ihre ärztliche Versorgung nur unzu reichend gewesen. Gegen Ende des Jahres riet ihm sein Vater, zwecks chirurgischer Nachbehandlung nach Kairo zu gehen. 20
Sein dortiger Aufenthalt zu ebenjenem Zeitpunkt sollte sich auf seine Zukunft bestimmend auswirken. Die Palästinensische Befreiungsorganisation war da mals gerade im Entstehen begriffen, und Ghaled, der von einer Nachoperation seiner Beinverletzung genas, wurde in die Diskussion verwickelt. Als bewährten Al-Fatah-Führer zog man ihn beim Aufbau der Palä stinensischen Befreiungsarmee, die die offizielle Streitmacht der plo bilden und mit sowjetischen Waf fen ausgerüstet werden sollte, wiederholt zu Rate. Obwohl er es ausschlug, ein ihm angetragenes Batail lonskommando zu übernehmen, wurde er zum Mit glied des soeben gegründeten ›Erweckungs‹-Komitees der plo ernannt. Gemäß der plo-Satzung sollte sich dieses Komitee der »geistig-seelischen und insbesondere der ideologi schen Erziehung der heranwachsenden Generationen« widmen, »damit sie ihrem Vaterland dienen und für die Befreiung ihrer Heimat kämpfen«. Während seiner Genesung erhielt Ghaled den Auftrag, vor Gruppen arabischer Studenten, die Universitäten im westlichen Ausland besuchten oder sich auf deren Besuch vorbe reiteten, Vorträge zu halten und öffentliche Diskus sionen zu leiten. Bei Gelegenheit einer dieser studenti schen Veranstaltungen lernte er Melanie Hammad kennen. Im Ghaled-Ordner des Archivs der Nachrichten agentur befanden sich zwei Artikel aus ihrer Feder. Bei dem ersten handelte es sich um eine erneute Dar stellung der palästinensischen Sache, eine ungemein 21
ermüdende Angelegenheit, die lediglich durch wortge treu zitierte Äußerungen Ghaleds belebt wurde und von einer Vierteljahresschrift der französischen Lin ken veröffentlicht worden war. Einer dieser Aussprü che, eine Stellungnahme zur Balfour-Deklaration, gab mir einen Vorgeschmack dessen, was ich mir mögli cherweise würde anhören müssen. »Die Engländer sind unglaublich«, hatte Ghaled er klärt. »Sie versprachen, den Zionisten eine nationale Heimstatt in Palästina zu verschaffen, und versicher ten im gleichen Atemzug, dies ohne Schmälerung der Rechte der einheimischen Bevölkerung tun zu wollen. Wie sollten sie das wohl bewerkstelligen? Meinten sie vielleicht, weil es um das Heilige Land ging, könnten sie mit einer weiteren wunderbaren Brot-und-FischVermehrung rechnen?« Der andere Hammad-Beitrag war ebenfalls in fran zösischer Sprache verfaßt und 1966 von einem seiner Sensationsmeldungen wegen bekannten Massenblatt publiziert worden. Hier hatte Melanie Hammad ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Ghaled, damals Kom mandant eines Al-Fatah-Ausbildungslagers im GhazaStreifen, wurde als Ritter ohne Furcht und Tadel, als Herold der palästinensischen Sache besungen, zum kompromißlosen, aber ehrenhaften Freiheitskämpfer, zum politischen und militärischen Führer von NasserFormat hinaufstilisiert und als Leitbild schlechthin dargestellt, an dem sich die palästinensischen Bestre bungen ausrichten und so zu wahrhaft einheitlicher Zielsetzung zusammenschließen sollten. 22
Quer über diesen Zeitungsausschnitt hatte Edwards mit roter Tinte geschrieben: plo-Sprecher in Kairo gab sich alle Mühe, diese Einschätzung G.s als »grobe Verzeichnung« hinzustellen, und erklärte, sie sei »un vereinbar mit seiner Loyalität der palästinensischen Sache gegenüber«. Hammad wurde als »verantwor tungslos, ungenau und naiv« bezeichnet, Photo als Fälschung hingestellt. Das besagte Bild war zusammen mit dem Artikel erschienen und zeigte einen hochgewachsenen schlan ken Mann in Tropenuniform beim Studium einer Kar te, die auf der Ladeklappe eines Lastwagens ausgebrei tet war. Er trug einen baumwollenen Kopfschutz, der seine Gesichtszüge größtenteils verschattete. Alles, was man sehen konnte, war eine überdimensionale, ziemlich krumme Nase sowie ein dünnes Bärtchen auf der Oberlippe. Da im Archiv kein beglaubigtes Photo von Ghaled existierte, mit dem ich es hätte vergleichen können, vermochte ich mir kein Urteil darüber zu bilden, ob es gefälscht war oder nicht. Was mich weit mehr interessierte, war die den tadelnden Worten des Sprechers zu entnehmende Andeutung, daß Ghaleds Loyalität gegenüber der Palästinensischen Befreiungs organisation bereits 1966 bezweifelt wurde. Ich hielt nach Hinweisen auf disziplinarische Maßregelungen irgendwelcher Art Ausschau. Alles, was ich fand, war eine Meldung, die der ploSender ein paar Wochen später (im November 66) verbreitet hatte. Sie besagte, daß Ghaled von seinen Pflichten als Mitglied des ›Erweckungs‹-Komitees 23
entbunden worden sei, damit er sich »uneingeschränkt den operativen Aufgaben im Rahmen des von der Al Fatah an vorderster Front geführten Freiheitskampfes widmen« könne. Mit anderen Worten, ihm war be deutet worden, sich aus der Politik herauszuhalten und fortan wieder auf Mord an Israelis zu verlegen, statt sich dauernd selber in Szene zu setzen. Vermutlich glaubte die plo, diese öffentliche Rüge habe Ghaled zur Vernunft gebracht; und vermutlich bestärkte sie sein ganzes Verhalten in diesem Glauben. Wenn in der Folgezeit sein Name in den Verlautba rungen der plo auftauchte, geschah es durchweg in Form lobender Erwähnungen. Auf seine plötzliche Kehrtwendung nach dem vernichtenden Schlag in Jordanien war die plo offenbar nicht gefaßt gewesen. Infolge des Sechstagekriegs gegen Israel und des er neuten Zustroms von Flüchtlingen aus den Gebieten westlich des Jordans hatten die Spannungen zwischen dem Haschemitenkönig Hussein und den Palästinen sern stetig zugenommen. Die Bevölkerung dieses kleinen Landes bestand jetzt zur Hälfte aus palästi nensischen Flüchtlingen. Die Al Fatah und andere aus Flüchtlingen gebildete Guerilla-Organisationen be gannen für die Autorität des Königs und seiner Regie rung eine gefährliche Herausforderung darzustellen. Im Jahre 1970 wurden die Palästinenser von Ghaled darüber aufgeklärt, daß Jordanien mit Israel ein einsei tiges Friedensabkommen zu schließen gedenke. Für die Palästinenser, erklärte er, sei nunmehr der Zeit punkt gekommen, die Regierung in Amman zu stür 24
zen und die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Ur plötzlich war er zum lautstärksten und militantesten aller antihaschemitischen Palästinenser geworden. In einer Ansprache an seine Fedaijin, die vom Guerilla sender Damaskus übertragen wurde, hatte er den Fehdehandschuh hingeworfen. »Bei Allah«, brüllte er, »wir werden durch Ströme von Blut waten, wenn es sein muß. Ich sage euch, Genossen, um unserer Ehre willen müssen wir jetzt alles wagen.« Aus dem Mund Salah Ghaleds, der sich so gern als Marxist ausgab, hatte man derart hysterische Töne nie zuvor vernommen. Frank Edwards meinte, die Tatsa che, daß Ghaleds Eltern, als das Westufer des Jordans besetzt wurde, abermals fliehen mußten und Ghaled senior wenig später in einem unwra-Flüchtlingslager verstarb, müsse diesen Geisteswandel herbeigeführt haben. Was das betraf, war ich mir nicht so sicher. Ich persönlich glaubte eher, daß Ghaled beschlossen hatte, den vermeintlich günstigen Augenblick für den Griff nach der Macht um jeden Preis für sich zu nutzen, und daß seine Hysterie nichts als gespielt war. Die Ströme von Blut, durch die er hatte waten wol len, flossen denn auch reichlich. Als er und die ande ren Al-Fatah-Führer sich anschickten, die Hauptstadt Amman in ihre Gewalt zu bringen, gab König Hus sein der jordanischen Armee den Befehl zum Eingrei fen, und die Armee gehorchte ihm. Damit begann jene Reihe von Geschehnissen, die Ghaled später pauschal als den ›Großen Verrat‹ brandmarken sollte. Bestürzt über das blutige Drama, 25
das einem arabischen Bürgerkrieg gleichkam, schalte te sich das Zentralkomitee der plo schleunigst ein. In direkten Verhandlungen mit dem König und seiner Regierung erreichte es zunächst, daß ein Waffenstill stand geschlossen, und später, daß er verlängert wur de, und stimmte schließlich einer Vereinbarung zu, derzufolge alle palästinensischen Kampfgruppen ab gezogen werden sollten; zuerst aus Amman und in der Folge aus allen anderen städtischen Gebieten Jor daniens. Dieser tragische Konflikt, so wurde offiziell erklärt, sei das Ergebnis israelischer Provokationen, die einzig das Ziel verfolgten, die Araber zu einem selbstmörderischen Bruderkrieg aufzuwiegeln, damit sie von ihrem gemeinsamen zionistischen Todfeind abließen. Ghaled war nicht der einzige Guerillaführer, der sich dem Beschluß des Zentralkomitees widersetzte und weder an die Waffenstillstandsbedingungen noch an die Abmachungen über den Truppenabzug hielt; noch nach Wochen flackerten in und um Amman im mer wieder Kämpfe auf. Da das Gros der Al-FatahStreitkräfte sich jedoch dem Waffenstillstandsab kommen fügte, konnte sich die jordanische Armee mit nunmehr frei gewordenen Kräften auf die Verfolgung und Isolierung der verbliebenen Splittergruppen kon zentrieren. Als ihre Lage unhaltbar wurde, traten Ghaled und die restlichen Unentwegten einer nach dem anderen mitsamt ihren Leuten unter Mitnahme von Waffen und Geräten den Rückzug an. Ghaled und seine Fedaijin setzten sich nach Norden 26
ab, um bei Ramtha nahe der syrischen Grenze einen Stützpunkt zu beziehen. Als dann aber die jordanische Armee nachrückte und Anstalten traf, auch dieses Gebiet zu säubern, wichen sie nach Syrien aus. Die Mehrzahl der dissidenten Partisanenführer, die sich in das jordanische Hochland zurückgezogen hatte, um dort die weitere Entwicklung abzuwarten, hielt es jetzt für angezeigt, ihre Differenzen mit dem Zentral komitee beizulegen. Nicht so Ghaled; er blieb osten tativ unbotmäßig. Von einem Behelfslager im Libanon aus verkündete er seine Unabhängigkeit von den »feigen plo-Hun den« in der Al Fatah und erklärte sich solidarisch mit der maoistisch-marxistischen Volksfront für die Be freiung Palästinas. Bei dieser Gelegenheit gab er au ßerdem die Gründung des supermilitanten Palästinen sischen Aktionskommandos bekannt. Ich fand ein Originalexemplar des pak-Manifests im Archiv vor. Es war mit der Frage überschrieben: Wer sind unsere Feinde? Wenn man von allem ideolo gischen Beiwerk absah, ließ sich die Antwort darauf in einem einzigen Satz zusammenfassen. Er lautete: »Diejenigen, die jetzt fälschlich behaupten, unsere Freunde zu sein.« Wie unterschied man zwischen trügerischen und aufrichtigen Treuebekundungen? Ganz einfach. Alle hatten so lange als suspekt zu gelten, bis ihre Unbe denklichkeit in einem geheimen Überprüfungsverfah ren zweifelsfrei erwiesen worden war. Wie wurde überprüft? Das pak hatte seinen eigenen Geheim 27
dienst und eigene Informationsquellen. Es würde ge heime Gerichtsverfahren anberaumen und Listen mit den Namen verurteilter Verräter veröffentlichen; die Vollstreckung der Urteile blieb den eigens hierzu ge bildeten pak-Säuberungskommandos vorbehalten. Nur so konnte die palästinensische Befreiungsbewegung von dem Gift des Großen Verrats gesäubert und ge läutert werden. Was Ghaled unter ›gesäubert‹ und ›geläutert‹ verstand, war sehr rasch deutlich geworden. Dazu hatte es nur einer weitverbreiteten Veröffentlichung der ersten fünf oder sechs von dem ›Kriegsgericht‹ ge fällten und den Säuberungskommandos vollstreckten Todesurteile bedurft. Nach diesem Anschauungsun terricht gab es unter dem Zeichen des Halbmonds nur wenige Männer von Verstand und Vermögen, die nicht begriffen hatten, daß es klüger war, die Kriegs kasse des pak aufzubessern, als das Risiko zu laufen, auf Ghaleds schwarze Liste gesetzt zu werden. Die plo brandmarkte ihn als verbrecherischen Er presser. Die Volksfront für die Befreiung Palästinas distanzierte sich von dem pak und seinem »revisioni stischen« Führer Salah Ghaled, den sie als »politischen Abenteurer« abqualifizierte. Die jordanische Regie rung ächtete ihn. Im Libanon wurde er diverser kri mineller Delikte beschuldigt und steckbrieflich ge sucht. Wie Frank Edwards gesagt hatte, war er überall untendurch. »Soviel ich sehe«, sagte ich, »ist dieser Typ in keiner Weise repräsentativ für die palästinensische Partisa 28
nenbewegung. Ich rede nicht von dem, was er war, so lange er noch der Al Fatah angehörte, Jim. Ich rede von dem, was in jüngster Zeit aus ihm geworden ist.« Er nickte. »Ich vermute, es ist die Erpressertour, die Ihnen nicht zusagt. Würden Sie ihn für repräsentativ halten, wenn er Bomben in ausländische Flugzeuge oder israelische Supermärkte schmuggelte?« »Ja, das würde ich.« »Eines kann ich Ihnen sagen. Auf diese erpresseri schen Praktiken ist er bestimmt nicht verfallen, um seine eigenen Taschen zu füllen. Die plo hat ihm den Nachschub und jedwede finanzielle Unterstützung gesperrt. Irgend etwas mußte er sich einfallen lassen. Möglich, daß die Russen ihm helfen oder die Chine sen, aber einiges Bargeld wird er dennoch benötigen, um überhaupt etwas in Gang zu setzen.« »Was in Gang setzen? Glaubt er im Ernst, der palä stinensischen Sache mit dieser einträglichen Säube rungsmasche einen Dienst zu erweisen?« »Nein, die ist nur Mittel zum Zweck.« »Zu welchem Zweck?« »Warum fragen Sie ihn das nicht selber? Sie reden, als sei es für Sie bereits erwiesen, wozu er sich in letz ter Zeit entwickelt hat – zu einem gemeinen Erpresser. Das ist der plo-Tenor, und dem traue ich nicht. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Genau das ist es, was mich interessiert und worauf ich neugierig bin. Ich möchte wissen, was er vorhat.« »Okay«, sagte ich. »Ich will versuchen, es heraus zubekommen.« 29
Ich rief also Melanie Hammad an und bat sie, die Vereinbarungen für das Interview zu treffen. »Umgehend«, sagte sie. »Ich freue mich, Ihnen be hilflich sein zu können, Mr. Prescott. Natürlich sind ein paar Bedingungen daran geknüpft.« Es hätte mich überrascht, wenn keine gestellt wor den wären. »Und wie lauten die, Miss Hammad?« »Das Interview darf frühestens zwei Tage, nachdem es stattgefunden hat, veröffentlicht werden. Und es dürfen keine Fotos aufgenommen werden.« »Okay. Einverstanden. Sonst noch etwas?« »Das Interview muß auf Band gesprochen werden.« »Ich benutze nie Tonbänder für Interviews. Ich mache mir Notizen.« »Salah wird darauf bestehen. Dafür brauchen Sie ihm den Text dann auch nicht mehr zur Genehmigung vorzulegen, bevor Sie ihn veröffentlichen. Aber er wird verlangen, daß alles, was er gesagt hat, im vollen Wortlaut wiedergegeben wird.« »Gut, gut.« »Ich werde für die beiden Tonbandgeräte sorgen.« »Die beiden?« »Sie müssen eine gleichlautende Aufnahme besit zen.« »Die brauche ich nicht.« »Salah wird es aber wünschen.« »Okay. Ist das alles?« »Ich rufe Sie morgen an und gebe Ihnen für über morgen alle Einzelheiten durch.«
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Wir trafen uns am frühen Nachmittag im Museum von Beirut – »Im St. Georges kennen mich zu viele Leute, Mr. Prescott« –, und zwei Tonbandgeräte, die auf dem Beifahrersitz des Wagens lagen, wurden mei ner Obhut anvertraut. Miss Hammad fuhr, als werde sie verfolgt. Die Bergstraße, die wir bald hinaufjagten, war schmal und in schlechtem Zustand, der Buick weich gefe dert. Haltsuchend packte ich die Armlehne, wenn sie eine Haarnadelkurve nahm, und zum erstenmal in meinem Leben fragte ich mich, ob ich womöglich autokrank werden würde. Ich war im Begriff zu protestieren und sie darauf hinzuweisen, daß wir seit Beirut eine hervorragende Zeit herausgeholt hatten und daher keinerlei Notwendigkeit bestehe, dieses Tempo beizubehalten, als sie ganz unvermittelt scharf bremste. Ich mußte rasch die beiden Ton bandgeräte festhalten, weil sie sonst vom Sitz ge rutscht wären. Wir hatten soeben eine sehr enge Kurve durchfah ren, an die sich eine kurze Gerade anschloß, die hori zontal verlief. Ich sah jetzt, daß vor uns eine Straßen sperre errichtet war. Sie bestand aus einem gestreiften Schlagbaum, der sich heben und senken ließ, sowie ei ner Anzahl beiderseits des Schlagbaums gestaffelt in den Boden gerammter Betonpfosten, die jeden Ver such, die Sperre zu durchbrechen, aussichtslos er scheinen ließ. Neben der Barriere befand sich ein be toniertes Wachhaus mit Schießscharten, vor dem drei libanesische Soldaten mit Maschinenpistolen standen. 31
Als der Wagen ausrollte und schließlich hielt, kam ei ner der drei herbeigeschlendert. Noch ehe er ganz an das Fenster herangetreten war, hatte Miss Hammad die Scheibe heruntergekurbelt und sehr schnell auf ihn einzureden begonnen. Der Soldat erwiderte etwas und sah mich dabei an. Ich war deswegen nicht über Gebühr beunruhigt. Ich sprach kein Arabisch und verstand es auch nicht, aber ich hatte es oft genug gehört, um zu wissen, daß es sich bei Miss Hammads Unterhaltung mit dem Soldaten, wenngleich sie eher wie ein Austausch von Drohun gen oder Beleidigungen klang, sehr wohl um einen solchen von Höflichkeiten handeln konnte. Daß diese Vermutung zutraf, erwies sich, als sie über irgend et was, was er gesagt hatte, fröhlich lachte, die Scheibe hochkurbelte und mit einem Wink zur Weiterfahrt aufgefordert wurde. »Was sollte dieser ganze Zirkus eigentlich bezwek ken?« »Wir sind jetzt in der Militärzone«, sagte sie. »Weil die syrisch-israelische Grenze nicht weit von hier ist, wird diese Gegend von der Armee überwacht. Sehen Sie jetzt, was gespielt wird? Diese Feiglinge in Beirut benutzen die Armee, um die Fedaijin zu unterdrük ken.« »Diese Burschen kamen mir aber nicht wie richtige Unterdrücker vor. Sie haben nicht einmal nach unse ren Papieren gefragt.« »Oh, die kennen mich, und sie kennen den Wagen. Er gehört meinem Vater. Er hat hier in der Nähe ein 32
Sommerhaus in den Bergen. Ich habe gesagt, Sie seien ein Freund von ihm.« »Fahren wir dorthin – zum Sommerhaus Ihres Va ters?« »Ja. Aber wir bleiben dort nur, bis es Zeit ist, zu unserem Treffen aufzubrechen. Das findet woanders statt.« Wir hatten gerade ein arabisches Dorf durchfahren, als die Straße erneut steil anstieg. Droben in den Berg schluchten war der Schnee auch jetzt – es war Mai – noch nicht geschmolzen. Bald nachdem wir die Stra ßensperre hinter uns gebracht hatten, schaltete sie die Heizung ein. »Sie haben mir nicht gesagt, daß ich einen Mantel brauchen könnte«, sagte ich. »Womöglich hätte es irgend jemand vom Hotelper sonal in Beirut sonderbar finden können, wenn Sie im Mantel weggegangen wären, um das Museum zu be suchen. Aber das ist kein Problem. Im Sommerhaus hängen genug Mäntel zur Auswahl, die wir anziehen können.« Dieses Sommerhaus erwies sich als stattliche Villa mit Dienstboten, die uns bewillkommneten und be reits Sandwiches hergerichtet hatten. Es gab einen großen Kamin, in dem ein Feuer flackerte, und eine wohlassortierte Hausbar. »Es ist zwar noch reichlich früh für das Dinner«, sagte sie, »aber dort, wo wir hinfahren, bekommen wir nichts zu essen.« »Und wo wird das sein?« 33
»Zwei Kilometer von hier entfernt ist ein arabisches Dorf, und weiter oberhalb davon steht ein altes Fort. Das ist der Treffpunkt. Was trinken Sie?« »Kann ich schreiben, daß das Interview in einem alten Fort nahe der syrisch-israelischen Grenze statt fand?« »Natürlich. Es gibt Dutzende solcher Forts hier in den Bergen.« Sie lächelte. »Sie können es eine verfallene Kreuzritterburg nennen, wenn Sie wollen.« »Warum?« »Das klingt romantischer.« »Ist es denn eine verfallene Kreuzritterburg?« »Nein. Es ist von Moslems erbaut worden.« »Dann ist es ein altes Fort. Danke, ich hätte gern einen Scotch.« Während wir unsere Drinks nahmen, versuchte sie mich darüber auszuhorchen, welche Fragen ich stellen würde. Ich antwortete so vage, als hätte ich daran noch nicht sonderlich viele Gedanken verschwendet. Sie wurde nervös, gab sich jedoch Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Die Unterhaltung stockte. Ich aß fast alle Sandwiches auf. Als die Sonne zu sinken begann, erklärte sie, es sei Zeit zum Aufbruch. Sie zog sich ein ponchoähnliches bauschiges Kleidungsstück an, das aussah, als sei es aus einer alten Pferdedecke gefertigt, und trug dazu schwarze kurze Filzstiefel. Mir wurde ein pelzgefüt terter Anorak zugewiesen, der ihrem Vater gehörte und mir um die Schultern herum reichlich eng war. Der Buick war irgendwo außer Sichtweite abgestellt 34
worden, und wir setzten die Fahrt in einem Volkswa gen fort, der mit Winterreifen ausgerüstet war. Sie führte einen Rucksack mit sich. Ich hatte die beiden Tonbandgeräte auf den Knien. Die zwei Kilometer lange Fahrt auf unwegsamen Pfaden dauerte zwanzig Minuten. Wir hielten unmittelbar vor dem Dorfausgang ne ben einem verfallenen steinernen Stallgebäude, das in tensiv nach Vieh roch. »Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen«, sagte sie und holte eine Taschenlampe aus dem Rucksack. Es war noch immer ziemlich hell, und man konnte die Umrisse des Forts erkennen, das sich, eine häßli che, gedrungene Ruine, auf einem Felsen befand, der über uns aus einem Hang herausragte. Es war nicht weit bis dorthin, aber der Aufstieg beschwerlich, und wir brauchten die Taschenlampe. An einigen Stellen waren steinerne Stufen vorhanden, die man am besten umging, da sie sich zumeist als geborsten oder gelok kert erwiesen. Miss Hammad jedoch, die keine Ton bandgeräte zu tragen hatte, eilte behende voraus und war offenkundig ungehalten, daß ich ihr nicht auf den Fersen blieb. Als der Pfad dann schließlich ebener wurde und wir uns dem von Unterholz überwucher ten Plateau des Forts näherten, bedeutete sie mir, ste henzubleiben, und ging allein weiter. Am Fuß des Glacis angekommen, gab sie mit der Taschenlampe ir gendwelche Signale. Sobald sie von oben her erwidert wurden, rief sie mir zu, daß alles in Ordnung sei. Ich kraxelte weiter. Mir war es inzwischen schon ziemlich 35
gleichgültig geworden, ob alles in Ordnung war oder nicht. Meine Hauptsorge galt dem Bemühen, mir eine Knöchelverstauchung zu ersparen. Der steinerne Rundbogen, der einst den Eingang des Forts gebildet hatte, war vor langer Zeit eingestürzt, und aus den Trümmern wuchs verkümmertes Buschwerk. Es gab jedoch eine Art Pfad, der zwischen den Steinbrocken und Büschen hindurchführte, und dorthin geleitete sie mich mit dem Strahl ihrer Taschenlampe. Ein Araber in einem schwarzen Umhang erwartete uns. Mit einer Schwenkung der Laterne, die er trug, forderte er mich auf, ihm zu folgen. Drinnen lagen weitere Trümmer umher, die eine Lichtung umschlossen. Eines der alten Gemäuer war erhalten geblieben und daran – vermutlich von einem Schafhirten aus der Gegend, der die Steine dazu aus den Trümmern geklaubt hatte – eine Hütte angebaut worden. Sie hatte ein Dach, das aus verrosteten und mit Teerpappe abgedichteten Eisenblechen bestand, und eine Tür, durch deren Ritzen ein Lichtschein nach außen drang. Auf dem freigeräumten Platz neben der Hütte standen drei angepflockte Esel. »Ich gehe zuerst hinein«, erklärte Miss Hammad. »Bitte geben Sie mir die Tonbandgeräte und warten Sie hier.« Sie sagte irgend etwas auf Arabisch zu dem Mann im Umhang, der mit einem grunzenden Laut sein Einverständnis bekundete und sich dicht neben mich stellte, als sie in der Hütte verschwand. In dem Licht schein, der durch die geöffnete Tür fiel, beäugte er 36
mich neugierig und leckte sich die Lippen. Er hatte graue Bartstoppeln auf Kinn und Wangen und sehr schlechte Zähne. Zudem roch er auch sehr schlecht. In stockendem gutturalem Französisch fragte er mich, ob ich arabisch spräche. Ich verneinte, und er stellte keine weiteren Fragen. Zwei Minuten vergingen, dann er schien Miss Hammad und winkte mir. Das Licht in der Hütte stammte von einer Kerosin lampe, die auf eine verbeulte Öltonne gestellt war. Das sonstige Mobiliar bestand einzig aus einem primi tiven Holztisch, der eher wie eine Bank aussah, und zwei Stühlen; aber zu Ehren des Besuchs waren Tep piche ausgelegt worden, um den nackten Erdboden zuzudecken, und der Geruch von Zigarrenrauch hatte den von Kerosin und Ziegenbock nahezu überlagert. Als ich eintrat, erhob sich der Zigarrenraucher, der einen Schaffellmantel und eine gestrickte Wollmütze trug, von seinem Stuhl und neigte den Kopf. »Mr. Prescott«, verkündete Miss Hammad feierlich, »ich habe die Ehre, Sie mit dem Befehlshaber des Palä stinensischen Aktionskommandos, dem GenossenFührer Salah Ghaled, bekannt zu machen.« Hübsch war er nicht gerade; er hatte einen Zinken von einer Nase, der viel zu groß war für seinen Kopf, und auf der Oberlippe ein schmales Bärtchen, das die ses Mißverhältnis noch betonte; aber auf seine Weise war sein Raubvogelgesicht eindrucksvoll. Von schwe ren Lidern halb verhängt, war sein Blick scharf und wachsam. Obschon ich wußte, daß er unlängst Vierzig geworden war, wirkte er auf mich wie ein weit älterer 37
Mann. Ein durchtrainierter allerdings; jede Bewegung, die er machte, war sicher und zweckentsprechend und die seiner Hände von ganz eigenartiger Grazie. Er neigte kaum merklich den Kopf und richtete sich dann straff auf. »Guten Abend, Mr. Prescott«, sagte er in stockendem Englisch mit starkem Akzent. »Es ist sehr freund lich von Ihnen, daß Sie diese Reise unternommen ha ben. Bitte, setzen Sie sich.« Seine Hand, in der er die Zigarre hielt, wies auf den zweiten Stuhl. »Danke, Mr. Ghaled«, entgegnete ich. »Ich bin er freut über diese Gelegenheit, Sie kennenzulernen.« Wir setzten uns. »Ich bedaure«, sagte er, »Ihnen hier keinen Kaffee anbieten zu können. Aber vielleicht nehmen Sie mit einem Arrak und einer Zigarette vorlieb.« Er brachte den Satz nur mit Mühe heraus, und es blieb der letzte, den er auf englisch sagte. Miss Ham mad übernahm jetzt ihren Part als Dolmetscherin. Außer den beiden Tonbandgeräten standen eine Flasche Arrak und zwei Gläser auf dem Tisch, und ei ne Packung der Zigaretten, die ich für gewöhnlich rauche, lag ebenfalls dort. Miss Hammad hatte den Arrak, die Gläser und die Zigaretten offensichtlich in ihrem Rucksack mitgebracht. »Normalerweise trinkt Mr. Ghaled natürlich keinen Alkohol«, sagte sie. »Aber er ist nicht orthodox in diesen Dingen, und da es sich hier um eine private Be gegnung handelt, wird er mit Ihnen ein Gläschen Ar rak trinken, der in Syrien hergestellt ist.« 38
Ich verabscheue Arrak, wo immer er auch herge stellt sein mag; aber es schien mir nicht der rechte Au genblick zu sein, das zu sagen. »Man hat mir erzählt, der syrische Arrak sei der be ste.« Sie übersetzte dies, während sie einschenkte. Ghaled nickte und wies auf die gefüllten Gläser. Wir ergriffen jeder eines und nahmen einen zeremoni ellen Schluck. »Ich werde jetzt die Tonbandgeräte richten«, sagte Miss Hammad. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und fuhr fort, abwechselnd arabisch und englisch zu sprechen, während sie die Mikropho ne aufstellte und die Kassetten einlegte. »Jedes Band läuft bei niedriger Geschwindigkeit dreißig Minuten lang, und ich kündige vorher an, wenn ich es auswechseln muß. Vielleicht sollte ich die Bedingungen, unter denen das Interview gewährt wird, kurz wiederholen.« Das tat sie. Ghaled sagte etwas. »Mr. Ghaled erhebt keine Einwände, wenn Mr. Prescott zur Ergänzung der Tonbandaufzeichnung schriftliche Notizen zu machen wünscht.« »Danke.« Ich stellte das Glas ab und zog den No tizblock hervor, auf dem ich die einleitenden Fragen, die ich stellen wollte – die leichten also –, schon ver merkt hatte. Ich spürte, wie Ghaled mich beobachtete, während ich in den Seiten blätterte; er versuchte mich einzuschätzen. Ich ließ mir Zeit bei der Durchsicht meiner Notizen und steckte mir eine Zigarette an, um 39
das Schweigen zu verlängern. Es sollte mir nur recht sein, wenn er ungeduldig wurde. Es war Miss Hammad, die die Geduld verlor. »Wenn Sie vielleicht probeweise irgend etwas ins Mikrophon sprechen wollen, damit wir anfangen können, Mr. Prescott?« »Es ist eine Ehre, von Mr. Ghaled empfangen zu werden.« Sie übersetzte seine Antwort. »Es ist liebenswürdig von Mr. Prescott, das zu sagen.« Sie schaltete die Geräte auf Playback. Sie funktio nierten beide einwandfrei. Sie drückte wieder auf die »Aufnahme«-Taste und sagte auf englisch und ara bisch: »Interview mit dem Befehlshaber und Führer des Palästinensischen Aktionskommandos, Salah Ghaled, von Lewis Prescott, Korrespondent der syndikalisier ten amerikanischen Post-Tribune-Nachrichtendienste, aufgenommen in der Republik Libanon am –« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, um das Datum zu überprüfen, bevor sie es hinzusetzte. Es war der vierzehnte Mai.
Zweites Kapitel Michael Howell 15. und 16. Mai
Am vierzehnten Mai war ich in Italien, und ich wünschte nur, ich wäre dortgeblieben. Schon ein Streik des Flughafenpersonals – wenn ich dadurch nur etwa vierundzwanzig Stunden lang auf gehalten worden wäre – hätte sich für mich segens reich auswirken können. Zumindest wäre mir meine Ahnungslosigkeit ein wenig länger erhalten geblieben. Mit einigem Glück hätte ich möglicherweise sogar um die direkte Verstrickung herumkommen können. Aber nein. Ich kehrte am Fünfzehnten zurück und lief schnurstracks in mein Unglück. Die Tatsache, daß sich das Gift zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als fünfzehn Monaten – genauer ge sagt seit jenem Tag, an dem der Mann, der sich Yassin nannte, bei mir um Arbeit nachgesucht hatte – im Kör per befand, war etwas, was ich nicht wußte. Ich bin angeschuldigt worden, mich blindgestellt zu haben, bis die Umstände dies nicht länger zuließen. Nichts könn te weiter von der Wahrheit entfernt sein. Bedauerlicherweise fiel es denen, die mich am be sten kennen – Geschäftsfreunden zum Beispiel –, be sonders schwer, der Tatsache, daß ich sowohl unwis send als auch unschuldig war, Glauben zu schenken. 41
Mein Eingeständnis, daß ich in jenen Monaten hin sichtlich dessen, was gespielt wurde, zu keinem Zeit punkt auch nur den leisesten Verdacht schöpfte, hiel ten sie lediglich für eine unter den gegebenen Um ständen zwar gebotene, aber doch höchst unglaub würdige Schutzbehauptung. Nun, ich kann ihnen das schwerlich übelnehmen, aber es tut mir leid: dieses Eingeständnis, das mir gewiß nicht leichtfiel und auf das ich alles andere als stolz bin, entspricht nun einmal der Wahrheit. Eines möchte ich klargestellt wissen. Ich habe nicht die Absicht, mich selbst oder mein Verhalten zu rechtfertigen; ich bemühe mich lediglich, den Schaden, der angerichtet worden ist, wenigstens teilweise zu beheben. Es geht mir dabei nicht um meinen persönli chen Ruf, sondern um den unserer Firma.
Die Woche vor dem Fünfzehnten hatte ich in Mailand in geschäftlichen Angelegenheiten unserer Firma ver bracht. Nachdem diese Angelegenheiten geregelt wa ren, flog ich nach Rom, um dort bei meinem Schnei der zwei neue Anzüge abzuholen. Am darauffolgen den Tag, am Fünfzehnten also, nahm ich eine Maschi ne der Middle East Airlines nach Damaskus. Wie gewöhnlich hatte ich Flugnummer, fahrplan mäßige Ankunftszeit etcetera telegraphisch avisiert, und wie gewöhnlich wurde ich als vip behandelt. In Damaskus bedeutete dies, daß mich ein Korporal der syrischen Armee im Fallschirmjäger-Sprunganzug 42
und bewaffnet mit einem entsicherten, an langem Riemen quer über dem Bauch getragenen tschechi schen Schnellfeuergewehr, am Fuß der Treppe, über die ich das Flugzeug verließ, in Empfang nahm. Von ihm eskortiert, begab ich mich ungehindert durch Zoll- und Paßkontrollen zum vollklimatisierten Wa gen des Ministeriums, der vor dem Flughafengebäude auf mich wartete. Wie immer waren meine Gefühle, soweit sie diese Art des Empfangs betrafen, gemischt. Natürlich emp fand ich es als angenehm, daß mir die Verhöre und Durchsuchungen erspart blieben, denen sich die Mehrzahl der anderen Fluggäste in der Regel unter ziehen mußte. Zudem war es beruhigend, gleich nach der Landung die Gewißheit zu haben, daß man von Staats wegen nach wie vor als wichtig und wertvoll er achtet wurde und daß während der eigenen Abwesen heit keine langen Messer gezückt worden waren: muß doch das moderne Syrien noch immer zu den Ländern mit hoher »Kopf ab«-Rate gezählt werden. Andererseits wurde ich nie ganz das Gefühl los, daß ich, sollte eine der potentiellen Gefahren – eine Bom bendrohung zum Beispiel oder eine Schießerei mit Terroristen – plötzlich akut werden, als Ausländer, Zivilist und Ungläubiger unter den ersten sein würde, die im Kreuzfeuer zusammengeschossen wurden. Der Korporal, den ich von früheren Gelegenheiten her kannte, war ein gutmütiger und freundlicher Tölpel, der nach Schweiß und Waffenöl roch und ungemein stolz darauf war, daß sein Erstgeborener inzwischen 43
eine dörfliche Elementarschule besuchte; mir jedoch wollten sein martialischer Aufzug und sein durchgela denes Schnellfeuergewehr ebensosehr als Drohung wie als Schutz vor einer solchen erscheinen. Da meine Audienz beim Minister erst für sechzehn Uhr dreißig vorgesehen war, ließ ich mich zunächst zu der Villa fahren, die unserer Firma in der Stadt ge hörte – und zu Teresa. Die Villa, noch ganz im alten Stil mit Innenhof, war teils Büro, teils pied-à-terre. Teresa stand beiden Bereichen vor. Assistiert von ei nem syrischen Kontorgehilfen, leitete sie das Büro für mich; und unterstützt von zwei Bediensteten, versah sie unseren privaten Haushalt. Teresas Vater war italienischer Konsul in Aleppo und außerdem ein begeisterter Amateur-Archäologe gewesen. Gemeinsam mit Teresas Mutter und Mitar beitern des Museums von Aleppo hatte er sich auf ei ner archäologischen Expedition in den Norden des Landes befunden, als die Reisegesellschaft von Bandi ten – Kurden vermutlich – überfallen wurde. Mögli cherweise glaubten die Kurden, es mit einer syrischen Grenzpatrouille zu tun zu haben. Unter denen, die von ihnen umgebracht wurden, waren auch Teresas Eltern gewesen. Ihre damals neunzehnjährige Tochter war in einem libanesischen Konvent erzogen worden und verfügte über ausgezeichnete Sprachkenntnisse. Eine Zeitlang hatte sie als Sekretärin und Dolmetscherin in der örtli chen Niederlassung einer amerikanischen Ölgesell schaft gearbeitet. Dann war sie zu mir gekommen. Da 44
sie ihr Leben größtenteils im Mittleren Osten ver bracht hat, kennt sie sich dort in allem aus. Sie war und ist für mich in jeder Hinsicht unersetzlich. Ich habe für unsere Firma immer viel herumreisen müssen, und jedesmal, wenn ich nach Damaskus zu rückkehrte, spielte sich im Büro das gleiche Ritual ab. Teresa legte mir einen kurzen Bericht über den Zu stand unserer örtlichen Unternehmungen vor, den sie in meiner Abwesenheit verfaßt hatte. Für gewöhnlich bestand dieser Bericht in der Hauptsache aus Zahlen. Sie pflegte ihn jeweils mündlich zu kommentieren und mit zusätzlichen Informationen zu ergänzen, die ihr wichtig oder interessant genug erschienen, um mir zur Kenntnis gebracht zu werden. Diesmal berichtete sie mir von den Machenschaften eines Konkurrenten, der unseren Kostenvoranschlag für einen Auftrag in Teheran zu unterbieten versuch te. Diese Geschichte amüsierte mich. Daß dies auch beim nächsten Punkt der Fall gewe sen wäre, kann ich nicht behaupten. »Mir ist aufgefallen, daß die Laborkosten laufend steigen«, sagte sie. »Während du weg warst, habe ich sie mir daraufhin einmal näher angesehen. Die Rech nungen werden uns zur Begleichung zugeschickt, aber die Warenbegleitscheine, auf denen die Posten einzeln aufgeführt sind, gehen mit der bestellten Lieferung di rekt an die Fabrik. Dort scheinen sie dann meistens zu verschwinden. Deswegen habe ich dem Lieferanten in Beirut geschrieben und ihn um eine Kopie der Wa renbegleitscheine gebeten.« 45
»Und?« »Ich fand einen Posten darunter, der in der Tat sehr kostspielig war. Zudem mußten wir eine Menge Zoll dafür zahlen. Es handelte sich um eine Bestellung über zehn rottols reinen Alkohol.« Ein rottol, das sollte ich hier nicht unerwähnt las sen, ist eines jener vorsintflutlichen Gewichts- und Mengenmaße, die in bestimmten Gegenden des Mitt leren Ostens noch immer gebräuchlich sind. Ein rottol entspricht zwei okes, ein oke ist etwas mehr als einein viertel Kilo. Zehn rottols sind also etwa fünfundzwan zig Kilo. »Hat Issa die aufgegeben?« »Offenbar. Ich wußte nicht, daß wir im Laborato rium dermaßen viel Alkohol verbrauchen.« »Wir dürften überhaupt keinen Alkohol verbrau chen. Hast du ihn deswegen zur Rede gestellt?« Sie lächelte. »Ich dachte mir, das sollte ich lieber dir überlassen, Michael.« »Ganz recht. Es wird mir ein Vergnügen sein. Die ser kleine Gauner.« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr; der Minister hielt auf Pünktlichkeit. »Wir reden noch darüber«, sagte ich. »Hast du in Mailand erreicht, was du wolltest?« »Ich denke schon.« Ich nahm meinen Aktenkoffer zur Hand. »Hoffen wir, daß der hohe Herr ebenfalls der Meinung ist.« »Viel Glück«, sagte sie. Ich ging hinunter und stieg in den Wagen des Mi nisteriums. Das erste Alarmzeichen, das mein inneres 46
Warnsystem mir signalisiert hatte, begann bereits ab zuklingen. Ich bildete mir – nicht ganz zu Unrecht – ein, mich an diesem Nachmittag um wichtigere Dinge kümmern zu müssen.
Angesichts der verleumderischen und in hohem Maße geschäftsschädigenden Behauptungen, die insbesonde re von gewissen französischen und westdeutschen ›Nachrichten‹-Magazinen über unsere Firma und ihre unternehmerischen Aktivitäten verbreitet worden sind, halte ich es jetzt und hier für erforderlich, die Meldungen zurechtzurücken. Schmähungen, soweit sie lediglich Gradmesser der verbalisierten Wut neidi scher Konkurrenten und anderer kommerzieller Ge genspieler sind, können mit Verachtung gestraft und übergangen werden; die gedruckte Verleumdung je doch sollte nicht ungesühnt bleiben dürfen. Zwar sind veröffentlichte Schmähungen dieser Art strafbar, und selbstverständlich wurden die erforderlichen Schritte bereits eingeleitet, um die Verantwortlichen vor die Gerichte zu bringen. Da aber die Gesetze gegen den Straftatbestand der Verleumdung in den einzelnen Ländern unterschiedlich lauten und ein Vergehen, das in dem einen Land ganz eindeutig strafbar ist, dies in einem anderen nur sehr bedingt sein mag, mahlen die Mühlen der Gerechtigkeit so langsam, daß es biswei len eher den Anschein hat, als ständen sie vollends still. Die Zeit vergeht, die Lügen gedeihen wie wu cherndes Unkraut, und die Wahrheit wird erstickt. 47
Das werde ich nicht zulassen. Jetzt muß der Unkraut vertilger her. Einer der Nachrichtenmagazin-Reporter, denen ich ein Interview gewährte, bezeichnete meine Darlegung des Standpunkts unserer Firma als »wortreiche Ne belwand aus Falschinformationen«. Verrutschte Me taphern scheinen ein Kennzeichen voreingenommener Berichterstattung zu sein; da Anschuldigungen dieser Art aber recht typisch waren, will ich dazu Stellung nehmen. Wortreich? Mag sein. In dem Bestreben, seine Vor urteile und festgelegten Meinungen zu widerlegen, habe ich vermutlich zuviel geredet. Falschinformatio nen? Als er kam, war sein Verstand bereits vorpro grammiert, und an dieser seiner Geistesverfassung hatte sich nicht das geringste geändert, als er ging. Der bloße Informationswert der Wahrheit interessierte ihn nicht. Was er – und/oder sein Redakteur – taugte, wurde an anderer Stelle des Berichts vollends deutlich, wo er erwähnte, daß ich »teure goldene Manschetten knöpfe« trug. Was, in aller Welt, sollte wohl damit bewiesen werden? Wäre es meiner Glaubwürdigkeit dienlicher gewesen, wenn ich billige goldene Man schettenknöpfe – gesetzt, es gäbe sie – oder vielleicht Kunststoffknöpfe getragen hätte? Nein. Ich behaupte nicht, daß alle Zeitungsleute korrupt seien – Mr. Lewis Prescott und Mr. Frank Edwards zum Beispiel haben sich immerhin bemüht, die Wahrheit zu berichten –, sondern sage lediglich, daß man sich gegen diejenigen, die korrumpiert sind, 48
nur dann mit Erfolg zur Wehr setzen kann, wenn man sie auf ihrem eigenen Feld und mit ihren eigenen Waf fen schlägt, das heißt: sie durch einen Gegenbericht öffentlich diskreditiert. Genau das tue ich jetzt, und falls einer dieser alerten Herren von der Boulevardpresse der Meinung sein sollte, irgend etwas von dem, was ich über ihn gesagt habe, sei verleumderisch und folglich strafbar, werden ihm seine Rechtsberater sagen können, welches Ge richt er bemühen soll. Unsere Firma hat sich in allen Hauptstädten, in denen sie Niederlassungen unterhält, den Beistand hervorragender Anwälte gesichert. Gemeinsam mit den ihr assoziierten Handelsgesell schaften ist die Agence Commerciale et Maritime Howell immer ein ausgesprochenes Familienunter nehmen gewesen. Die ursprüngliche société à respon sabilité limitée wurde in den frühen zwanziger Jahren von meinem Großvater Robert Howell gegründet. Davor hatte er – praktisch schon seit der Jahrhun dertwende – in der Region, die ehedem als ›die Levan te‹ bezeichnet wurde, auf ausgedehnten Ländereien, unter dem Ferman des türkischen Sultans Abdul, Süßholz und Tabak angebaut. Als Lohn für politische Dienste, die er dem osmani schen Hof erwiesen hatte, wurden ihm die im lataki schen vilayet gelegenen Ländereien übereignet. Wel cherart besagte Dienste im einzelnen gewesen sind, habe ich nie genau erfahren können. Mein Vater äu ßerte mir gegenüber einmal nur ganz vage, daß sie »ir gend etwas mit der Ausstellung einer Schuldver 49
schreibung der Regierung zu tun gehabt« hatten, aber er konnte oder wollte diese Auskunft nicht näher er läutern. Die Landschenkungsurkunde beschreibt die Tätigkeit meines Großvaters als die eines ›entrepre neur-negotiator‹, worunter in der imperialen Türkei sehr vieles und gänzlich verschiedenes verstanden werden konnte. Ich weiß, daß er in Konstantinopel hohes Ansehen genoß und daß seine Internierung, als die Türken ihn, der im Ersten Weltkrieg als Engländer feindlicher Ausländer war, verhaftet hatten, praktisch auf einen Hausarrest hinauslief. Überdies verblieben die Ländereien wie auch die darauf befindlichen Be triebe – eine Gerberei und eine Getreidemühle –, die er vor dem Krieg erworben hatte, in seinem Besitz. »Johnny Türk ist ein Gentleman«, pflegte er zu sagen. Mit dem Zusammenbruch des osmanischen Imperi ums und der Unterstellung der heute als Syrien und Libanon bekannten Gebiete unter das französische Mandat wurden gewisse Änderungen unabweislich. Obwohl ihm das neue Regime den Besitzanspruch auf die Ländereien, die ihm gehört hatten, schließlich wieder zuerkannte, zog er aus seinen Erfahrungen mit den – in jeder Hinsicht weniger gentlemanlike als die Türken verfahrenden – französischen Kolonialbeam ten eine entscheidende Lehre. Alleininhaber eines Ge schäftsunternehmens zu sein, machte verwundbar. Er verwandelte die Firma in eine Gesellschaft, ließ sie als solche in das syrische Handelsregister eintragen und ging daran, nach und nach den Sitz der meisten Toch tergesellschaften – vor allem derjenigen, die nicht un 50
mittelbar von Grundbesitz abhingen – nach Zypern zu verlegen. Großvater starb 1933, und mein Vater, John Ho well, übernahm die Gesamtleitung. Er hatte zuvor die Geschäfte des zypriotischen Büros in Famagusta ge führt, das ursprünglich zu dem Zweck gegründet worden war, die Bereitstellung von Fracht für die Kü stenfahrerflotte zu gewährleisten, die die Mutterge sellschaft von Latakia aus betrieb. In dem gleichen Maß, in dem sein Büro auf Zypern an Bedeutung gewann, ließ meines Vaters Interesse am kleinasiatischen Festland nach. Er hatte auf Zypern geheiratet. Meine Schwestern und ich sind in Famagu sta geboren und nach griechisch-orthodoxem Glauben getauft worden. Mein Name, Michael Howell, mag angelsächsisch aussehen und klingen, aber mit einer libanesischen Großmutter und einer zypriotischen Mutter bin ich nur zu einem Bruchteil Engländer. Familien wie unsere – arme und reiche – gibt es un zählige im Mittleren Osten. Meine Schwestern und ich könnten ethnisch meines Erachtens durchaus zutref fend als ›ostmediterran‹ eingestuft werden. Ich per sönlich ziehe dem die simplere, wenngleich meist im abfälligen Sinn benutzte Bezeichnung ›levantinischer Mischung‹ vor. Mischlinge sind nicht selten intelligen ter als ihre achtbaren Vettern; es fällt ihnen leichter, sich fremdartigen Umweltsverhältnissen anzupassen; und unter extrem harten und widrigen Lebensbedin gungen zählen sie zu denen, die mit größter Wahr scheinlichkeit überleben. 51
Die Jahre des Zweiten Weltkriegs waren für unsere syrischen Interessen außerordentlich schwierige. Un sere Leute auf Zypern bereiteten uns wenig Kopf schmerzen. Die – vor dem Krieg vorsorglich in Fama gusta registrierten – Küstenfahrer waren ausnahmslos alle an die Engländer verchartert. Drei davon büßten sie vor der kretischen Küste ein, aber die von ihrer Regierung übernommene Kriegsrisiko-Versicherung entschädigte uns reichlich für diese Verluste; ich glau be, wir machten einen guten Schnitt bei dem Handel. In Syrien dagegen sah die Sache entschieden anders aus. Die Kämpfe zwischen den Alliierten und den Vi chy-Franzosen brachten die Geschäfte nahezu vol lends zum Erliegen. Zu jener Zeit war die Nachfrage nach Süßholzwurzeln und Latakiatabak, gelinde ge sagt, schwach. Als die Alliierten 1942 darangingen, die Deutschen aus Afrika hinauszutreiben, verlegte Vater unsere Hauptgeschäftsstelle nach Alexandria und gründete dort eine neue Holdinggesellschaft, die Ho well General Trading Ltd. Die syrischen und zyprioti schen Unternehmen waren damit zu Tochtergesell schaften geworden. Im gleichen Jahr wurde ich um das Kap der Guten Hoffnung herum ins Fegefeuer nach England geschickt. Wäre ich gefragt worden, hätte ich mich dafür entschieden, in der englischen Schule in Alexandria zu bleiben oder, falls das abge lehnt worden wäre, zu Freunden unserer Familie nach Istanbul zu gehen, um dort irgendeine Schule zu be suchen. Aber meine Mutter war gegen Istanbul – im Gegensatz zu Großvater Howell ist sie ausgesprochen 52
antitürkisch eingestellt –, und der Beschluß meines Vaters stand ohnedies bereits fest. Krieg hin, Krieg her, ich mußte in die gleiche Tretmühle von Grundund höherer Schule gesteckt werden, die auch ihm und Großvater nicht erspart geblieben war. Derart starr fixiert waren jedoch keineswegs alle Ideen meines Vaters. Bald nach unserer Übersiedlung nach Alexandria begannen sich Art und Richtung un serer Geschäfte zu ändern. Das ging auf Vaters Inten tionen zurück, die er zielstrebig verfolgte. Er hatte die zukünftige Entwicklung vorausgespürt. Manches würde bleiben – die Küstenfahrer und die größeren Schiffe, die sie später ablösten, hatten nahezu immer Profite abgeworfen –, aber ab 1945, als in Europa der Krieg zu Ende ging, verlagerte sich das Schwergewicht unserer Handelsgeschäfte mehr und mehr von Schütt gut auf Fertigwaren. In jenen ersten Nachkriegsjahren übernahmen wir die Generalvertretung einer Anzahl europäischer und später auch amerikanischer Fertig warenproduzenten im Mittleren Osten (seit 1948 mit Ausnahme Israels). Die geschäftliche Veränderung wirkte sich auf mein Leben ganz unmittelbar aus. Als erste dieser Generalvertretungen hatten wir die einer Firma in Glasgow übernommen, die Kreiselpumpen in verschiedenen Ausführungen herstellte. Mein Vater erkannte rasch, wie schwer es ist, technische Geräte zu verkaufen, wenn der Käufer von diesen Dingen mehr versteht als man selber. Diese Einsicht war es, die ihn bestimmte, mich Technik studieren zu lassen. So fand ich mich denn, statt wie erhofft nach Abschluß der 53
Schule in England nach Kairo gehen und an der dorti gen Universität studieren zu können, in dem Ziegel steinbau einer Ingenieurschule in einer der trostlose sten Gegenden Londons wieder. Ich muß gestehen, daß ich mich seinerzeit eher wi derwillig als pflichtbewußt mit dieser Programmände rung abfand. Auf Zypern zu einer Zeit geboren, als die Insel noch zum britischen Kolonialreich gehörte, besaß ich einen britischen Kolonialpaß. Um seinem Willen Nachdruck zu verleihen, führte mir mein Vater die – wie ich später herausfand, ganz unbegründete – Aussicht, zum britischen Militärdienst eingezogen zu werden, falls ich nicht in London studierte, eindring lich vor Augen. Gewiß nicht sonderlich fein von ei nem liebenden Vater, dem eigenen Sohn gegenüber solche Tricks anzuwenden, ich weiß; aber ich muß heute einräumen, daß ich als Geschäftsmann nie An laß hatte, zu bedauern, daß ich damals auf ihn herein gefallen bin. Auf jeden Fall habe ich eine Menge von meinem Vater gelernt. Er starb 1962 an einem Herzleiden, achtzehn Monate nachdem wir unsere Hauptge schäftsstelle von Alexandria nach Beirut im Libanon verlegt hatten und unsere zweite Holdinggesellschaft in Vaduz registriert worden war. Die Bewährungsprobe für mich als neuen Leiter unserer Firma kam im darauffolgenden Jahr, als ich meine erste größere unternehmerische Entscheidung zu treffen hatte. Diese Entscheidung – sie liegt heute fast neun Jahre 54
zurück – war es, die mich auf einen Weg führte, der sich schließlich als so ungemein gefährlich erwiesen hat. Unsere Schwierigkeiten in Syrien hatten in den frühen fünfziger Jahren begonnen, als die sowjetische Einfluß nahme im Mittleren Osten immer deutlichere Auswir kungen zeitigte. In Syrien war sie besonders erfolg reich. Die freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjet union intensivierten sich seit der Machtergreifung der sozialistischen syrisch-arabischen ›Wiedergeburts‹ Bewegung, die in der Folgezeit als die Ba’ath-Partei bekannt wurde. Ihre Mitglieder waren keine Kommu nisten; als Sunniten-Moslems konnten sie es nicht sein; sie waren jedoch arabische Nationalisten und als solche auf den Sozialismus eingeschworen und strikt antiwest lich orientiert. Das Ba’ath-Parteiprogramm forderte die Vereinigung Syriens mit Ägypten und den anderen arabischen Staaten sowie die umgehende ›Vergesell schaftung‹ der syrischen Wirtschaft. 1958 setzte die Ba’ath-Partei beides durch, sowohl die Union mit Ägypten als auch die erste ihrer Verge sellschaftungsmaßnahmen, die ›Agrarreform‹. Im glei chen Jahr wurde ein Enteignungsgesetz verabschiedet, das die Agence Howell bis auf achtzig Hektar aller ihr gehörenden bewässerten Ländereien beraubte. Als in ausländischem Besitz befindliche Firma wurden wir ›entschädigt‹; da die Entschädigungssumme jedoch auf ein Sperrkonto der staatseigenen Zentralbank einge zahlt wurde, hatten wir nichts davon. Man erlaubte 55
uns nicht, das Geld außer Landes zu transferieren, wir durften keine Devisen oder Valuta kaufen, und es war uns sogar untersagt, das Geld ohne Genehmigung der Zentralbank im Lande zu reinvestieren oder sonstwie auszugeben. Es war so gut wie verloren für uns. Die Gerberei und die Getreidemühle ließen sie uns vorläufig; die Vergesellschaftung der Industrie sollte später erfolgen. 1959 beantragte mein Vater formgerecht die Freiga be der blockierten Gelder zu Reinvestitionszwecken. Er wollte einen 2000-Tonnen-Frachter erwerben, der in Latakia zum Verkauf angeboten wurde, und das Schiff im Ägäischen Meer einsetzen. Es war ein Ver such, einen Teil des Kapitals zu exportieren, und er dachte, möglicherweise käme er damit durch. Aber es war ein schlechtes Jahr für Syrien. Es herrschte eine anhaltende Dürre, und die Ernte war so kümmerlich, daß Syrien Getreide einführen mußte, statt es wie üb lich auszuführen. Die Zentralbank, die die Schiffs kaufidee zweifellos durchschaut hatte, bedauerte, dem Antrag auf Freigabe – der infolge der kritischen Wirt schaftslage eingetretenen Devisenverknappung wegen – nicht stattgeben zu können. Als er im Jahr darauf nochmals einen Antrag stellte, beantwortete die Bank nicht einmal mehr seine Briefe. 1961 unternahmen die Militärs einen Staatsstreich, der auf die Auflösung der Union mit Ägypten, die Wiederherstellung von Syriens Status als souveräner Staat und die Einsetzung eines neuen verfassungsge mäßen Regimes abzielte. Er war erfolgreich, und eine 56
Zeitlang sahen die Dinge wieder günstiger für uns aus. Eigentumsrechte sollten garantiert, die freie Wirt schaft gefördert werden. Die Zentralbank befaßte sich wohlwollend mit unserem jüngsten Antrag. Wenn die verzankten Politiker sich hätten entschließen können, ihre Differenzen – und sei es auch nur zeitweilig – beizulegen und damit eine Stabilisierung der Lage zu ermöglichen, wäre vielleicht noch alles gut ausgegan gen; aber dazu waren sie nicht imstande. Innerhalb von sechs Monaten putschte die Armee, der ›selbst süchtigen‹ Zivilisten überdrüssig, erneut. 1963 brach dann eine Revolution aus. Ich habe die Bezeichnung ›Revolution‹ mit Bedacht gebraucht, weil der Ba’ath-Staatsstreich jenes Jahres, wiederum vorwiegend das Werk von Armeeoffizieren, mehr war als ein bloßer Machtwechsel verschiedener nationalistischer Gruppen; er hatte grundlegende Ver änderungen zur Folge. Syrien wurde zu einem Ein heitsstaat und trat – diesmal freilich unter Wahrung seiner souveränen Unabhängigkeit – der var wieder bei. Das Vergesellschaftungsprogramm wurde wieder aufgenommen. Im Mai 1963 erfolgte die Verstaatli chung aller Privatbanken. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich meinen Entschluß faßte. Ich wußte recht gut über die Ba’ath-Anhänger Be scheid. Vielfach handelte es sich bei ihnen um naive Reformer, die früher oder später ihre Illusionen ver lieren mußten; andere waren großmäulige Hohlköpfe, die sich lediglich darauf verstanden, bei jeder sich bie tenden Gelegenheit lautstark die rituelle Forderung 57
nach sozialer Gerechtigkeit zu erheben; aber unter den Parteiführern gab es fähige und entschlossene Männer. Als sie erklärten, daß sie die gesamte Indu strie verstaatlichen wollten, glaubte ich ihnen. Später würden sich zweifellos pragmatische Kompromißlö sungen und ›graue‹ Zwischenbereiche abzeichnen, in denen plan- und privatwirtschaftliche Interessen zu sammengehen konnten; daß sie es im großen ganzen jedoch ernst meinten mit dem, was sie sagten, bezwei felte ich nicht. Mehr noch, ich war mir sicher, daß sie an der Macht blieben. Wie also ließen sich die Interessen der Agence Ho well unter diesem Gesichtspunkt am wirksamsten wahren? Alles in allem, so rechnete ich mir aus, blieben mir drei Möglichkeiten. Ich konnte mich den Gegnern des Regimes anschließen. Ich konnte durch hinhaltendes Taktieren Zeit zu gewinnen versuchen. Oder ich konn te die grauen Zwischenbereiche zukünftiger Kompro misse erkunden und herausfinden, welche Absprachen sich treffen ließen. Sich den Gegnern des Regimes anzuschließen, hieß praktisch in den politischen Untergrund gehen und mit denen konspirieren, die auf den Sturz der neuen Regie rung hinarbeiteten. Einem Ausländer, der sich mit Selbstmordgedanken trug, mochte diese Möglichkeit reizvoll erscheinen; für mich kam sie nicht in Frage. Diejenigen, die auf Zeitgewinn taktierten – und zu ihnen zählten nicht wenige meiner Geschäftsfreunde – , schienen mir die neue Situation falsch einzuschätzen. 58
Nachdem sie dem politischen Jahrmarktstreiben des letzten Jahrzehnts mit wachsendem Unmut zuge schaut hatten, waren sie geneigt, die angedrohte Ent eignung der Industrie achselzuckend als bloße Rheto rik etablierter Putschisten abzutun. Die Banken? Nun, waren nicht sowohl die englischen als auch die franzö sischen Banken schon seit Jahren sequestriert? Die Verstaatlichung der restlichen privatwirtschaftlichen Geldinstitute war dann nur noch eine bloße Formsa che gewesen. Nein, Michael, jetzt gibt es nur eines: die Nerven bewahren und den nächsten Gegenputsch abwarten. Inzwischen gilt es selbstverständlich, die Augen offenzuhalten. Sobald dieser ganze Wind, der hier gemacht wird, erst einmal etwas abgeflaut ist, werden einige deiner ›neuen Männer‹ von sich aus an uns herantreten und mehr oder weniger unauffällig die Hand aufhalten. Das sind diejenigen, mit denen man über die Verstaatlichung der Industrie zu reden haben wird. Wie sollten wir wohl zahlen können, wenn die uns verstaatlichen, was? Warte es nur ab, mein Junge, warte es nur ab. Das ist der einzige Weg. Die Taktierer, dachte ich, konnten sich auf einige Überraschungen gefaßt machen. Ich zog es vor, eigene Wege zu gehen, zu erkunden und zu sondieren. Daß auch ein nochmaliger Antrag auf Freigabe un serer blockierten Gelder von der Zentralbank abge lehnt werden würde, wenn ich nicht irgendwelche Hebel in Bewegung setzen konnte, lag auf der Hand. Und daß der einzige Hebel, der bei der Zentralbank Wirkungen zeitigte, derjenige war, an dem ihre Her 59
ren und Meister in der Regierung saßen, lag ebenfalls auf der Hand. Was ich daher benötigte, war eine Be fürwortung meines Antrags durch eine Regierungs stelle. Es mußte zudem eine auf möglichst hoher – vorzugsweise ministerieller – Ebene erfolgte Befür wortung sein. Was hatte ich als Gegenleistung für ein derartiges Ansinnen zu offerieren? Hier kam mir ein altes Sprichwort in den Sinn: »Wer seine Feinde nicht bezwingen kann, schließt besser ihnen als ein Freund sich an.« Nachdem ich mich einmal mit der Tatsache abgefunden hatte, daß ich besser fuhr, wenn ich mit den Leuten von der Re gierung zusammenarbeitete, anstatt sie listenreich überspielen zu wollen, kam ich voran. Das Problem war nunmehr auf die Frage reduziert: Auf welche Weise kann ich mit ihnen so kooperieren, daß beide Seiten ihren Vorteil daraus ziehen? Ich dachte viel und gründlich nach, betrieb intensiv Marktforschung und entwarf meinen Plan. Dreiundsechzig war ich es noch nicht so gewohnt wie heute, mit Regierungsbeauftragten zu verhandeln. Wäre ich es gewesen, hätte ich dem Vorschlag, den ich ihnen mundgerecht zu machen versuchte, nicht einmal eine Erfolgschance von fünfzig zu fünfzig eingeräumt. Vielleicht kam mir der Umstand zugute, daß ich da mals erst zweiunddreißig war und ganz versessen dar auf, meine Tüchtigkeit unter Beweis zu stellen. Au ßerdem war ich sehr aggressiv und schon beim leise sten Widerstand geneigt, mit mahnend fuchtelndem Zeigefinger ernste Verwarnungen zu erteilen. 60
Mein erster Kontakt mit dem Exekutivapparat in Damaskus war ein Zusammentreffen mit zwei Büro kraten – einem aus dem Finanzministerium, wo die Begegnung stattfand, und einem aus dem Ministerium für Handel und Soziales. Sie hörten mir schweigend zu, nahmen Kopien des aide-mémoire entgegen, das meine Vorschläge in verschleierten, aber – wie ich glaubte – beredten Wendungen zusammenfaßte, und gaben mir höflich zu verstehen, daß sie auch noch an dere Termine hatten. Ein Monat verging, bevor ich brieflich zu einer Un terredung in das Ministerium für Handel und Soziales gebeten wurde. Diese Besprechung fand im Büro eines leitenden Ministerialbeamten statt, mit dem ich vor Jahren einmal bei Gelegenheit eines von der griechi schen Botschaft veranstalteten Picknicks bekannt ge macht worden war. Gleichfalls anwesend waren die beiden Bürokraten, die mich acht Tage zuvor empfan gen hatten, sowie ein jüngerer Mann, der als Beauf tragter des kürzlich eingerichteten Referats für indus trielle Entwicklung vorgestellt wurde. Nachdem die üblichen einleitenden Höflichkeitsfloskeln ausge tauscht waren, forderten die dienstälteren Beamten diesen jüngeren Mann auf, mir zu meinen Vorschlägen Fragen zu stellen. Sein Name war Hawa – Dr. Hawa.
Meine in der Folge sich entwickelnde Zusammenar beit mit Dr. Hawa ist vielfach Gegenstand falscher 61
Darstellungen gewesen. Er selbst hat es in jüngster Zeit für angezeigt gehalten, sich in der Rolle des un schuldigen Betrogenen zu gefallen und mich öffentlich – von unsittlichen Verfehlungen bis zum Mord auf hoher See – jedes nur denkbaren Verbrechens zu be zichtigen. Unter diesen Umständen mag vielleicht an genommen werden, ein Bericht, der das Verhältnis zwischen uns aus meiner Sicht schildert, könne un möglich ganz objektiv sein. Ich bin da anderer Meinung. Ich habe mir vorge nommen, unter allen Umständen objektiv zu bleiben. Was mich betrifft, so haben seine Ausfälle einzig die Wirkung gehabt, mich von jedweder etwa noch beste henden Neigung, ihm eins auszuwischen, zu kurieren. Dr. Hawa ist ein hagerer Mann mit harten Ge sichtszügen, verkniffenem Mund und zornigen dunk len Augen; ganz offenkundig ein hartgesottener Bur sche und besonders beeindruckend, wenn man ihm zum erstenmal begegnet. Ich erinnere mich, irgendwie erleichtert gewesen zu sein, als ich feststellte, daß er Kettenraucher war; da wußte ich, daß er nicht so gänzlich ohne Fehl sein konnte, wie es zunächst den Anschein hatte. Obschon wir uns später näher ken nenlernten, habe ich nie herausgefunden, in welcher Disziplin er seinen Doktor gemacht hat. Ich weiß nur, daß er an der Universität Damaskus einen akademi schen Grad der Rechtswissenschaften erwarb und spä ter aufgrund irgendwelcher StudentenaustauschRegelungen für Graduierte ein oder zwei Jahre in den Vereinigten Staaten verbrachte. Dort, nehme ich an, 62
wird er sich an irgendeiner verschlafenen akademi schen Institution im Mittleren Westen den Doktortitel verschafft haben. Sein Englisch ist fließend; er spricht es mit amerikanischem Akzent. Jene erste Unterhal tung wurde jedoch zur Hauptsache auf arabisch und nur unter gelegentlicher Zuhilfenahme von Englisch und Französisch geführt. »Dr. Howell, erzählen Sie mir von Ihrer Firma«, begann er. Sein Tonfall war gönnerhaft. Ich hatte be merkt, daß eine Kopie meines aide-mémoire vor ihm auf dem Tisch lag, und deutete mit einem Kopfnicken darauf. »Es steht alles darin, Dr. Hawa.« »Nein, Mr. Howell, es steht nicht alles darin.« Er tippte mit einer geringschätzigen Handbewegung auf die Papiere. »Was Sie hier beschreiben, ist ein Gambit, ein Eröffnungszug, bei dem eine unwichtige Spielfigur zugunsten eines späteren Vorteils geopfert wird. Wir wüßten gern, was für ein Spiel das ist, zu dem Sie uns da auffordern.« Ich wußte jetzt, daß ich mich vor ihm in acht neh men mußte. Er mochte Kettenraucher sein, aber ein Narr war er gewiß nicht. Wäre er Engländer gewesen, hätte er mein aide-mémoire sicher als Sprotte charak terisiert, mit der die Makrele gefangen werden soll; aber auch ›Gambit‹ war als Vergleich treffend – allzu treffend für meinen Geschmack. Ich sah den leitenden Beamten an. »Was ich mir von dieser Unterhaltung erhofft hatte, Sir«, sagte ich mit unbewegter Miene, »war eine ernst 63
hafte Diskussion über ernsthafte Vorschläge. Ich habe nicht die Absicht, hier irgendeine Art von Spiel anzu regen.« »Dr. Hawa hat selbstverständlich bildlich gespro chen.« Hawa lächelte verkniffen. »Da Mr. Howell so empfindlich zu sein scheint, werde ich versuchen, mich weniger mißverständlich auszudrücken.« Er sah mich wieder an. »Sie bitten um ministerielle Befür wortung eines Antrags auf Freigabe blockierter Gelder, damit sie hier im Lande reinvestiert werden kön nen. Sie erklären sich bereit, dem Staat als Gegenlei stung dafür eine Reihe wirtschaftlicher Wohltaten zu erweisen, deren Natur Sie andeuten, deren Wert Sie jedoch der Phantasie überlassen. Sie wollen genauer gesagt die Kontrolle über die Ihnen hier noch verblie benen Unternehmen, zu denen auch eine Gerberei und eine Getreidemühle gehören, abtreten, damit sie zu Kooperativen umgewandelt werden können, die unter staatlicher Aufsicht arbeiten. Natürlich sind wir neugierig auf Geist und Temperament dieses seltsa men geschenkten Gauls und auf die generöse Ge schäftsphilosophie des Spenders, des Mannes, der Ka pital auftreiben will, um es zu reinvestieren. Ich darf Sie daher bitten, unsere Neugier zu stillen.« Ich zuckte die Achseln. »Wie Ihnen vermutlich be kannt sein wird, war unsere hiesige Firma bislang ein Familienunternehmen. Vor mir haben schon mein Va ter und mein Großvater in diesem Land viele Jahre hindurch Geschäfte getätigt. Nützliche Geschäfte, so darf man, glaube ich, wohl ohne Übertreibung sagen.« 64
»Nützliche? Meinen Sie nicht einträgliche?« »Ich sehe da keinen Unterschied, Dr. Hawa. Nütz liche und einträgliche Geschäfte, selbstverständlich. Gibt es denn Geschäfte irgendeiner anderen Art, die diesen Namen verdienen?« Ich glaubte jetzt, ziemlich genau über ihn im Bilde zu sein. Gleich würde er an fangen, von Produktionsmitteln und Eigentumsver hältnissen zu reden. Ich sollte mich getäuscht haben. »Aber nützlich für wen, einträglich für wen?« »Nützlich für alle diejenigen Ihrer Landsleute, denen unsere Firma gute Löhne und Gehälter zahlt – viel leicht darf ich Sie daran erinnern, daß wir hier nur syri sche Staatsbürger beschäftigen. Einträglich gewiß für die Anteilseigner unserer Gesellschaft, aber einträglich auch für alle bisherigen Regierungen, von der türki schen bis zur heutigen syrischen, an die wir Steuern abgeführt haben. Die Ausschüttung von Dividenden ist nicht immer gewährleistet gewesen, aber Gehälter und Steuern sind immer pünktlich gezahlt worden.« Und, so hätte ich hinzufügen können, Bestechungsgelder – unbeträchtliche und nicht so unbeträchtliche –, die in der Levante zu den laufenden allgemeinen Unkosten rechnen, ebenfalls; aber ich war noch immer bestrebt, ihn taktvoll zu behandeln. »Aber, Mr. Howell, warum ist Ihnen dann soviel daran gelegen, auf die Kontrolle über diese nützlichen und einträglichen Unternehmen zu verzichten?« »Daran gelegen?« Ich starrte ihn verständnislos an. »Ich kann Ihnen versichern, Dr. Hawa, daß mir nicht im mindesten daran gelegen ist. Ich habe lediglich den 65
Eindruck, daß mir in dieser Sache letztlich keine Wahl bleibt.« »Letztlich vielleicht, aber warum diese voreilige Großzügigkeit? Uns ist das – wie ich meine, begreifli cherweise – einigermaßen rätselhaft und, ehrlich ge sagt, auch ein wenig suspekt.« »Nur, weil Sie meine Vorschläge nicht als ein Gan zes betrachten. Ich glaube, ich sehe das ganz reali stisch.« »Realistisch? Wie das?« Ich hätte entgegnen können, daß wir, hätte ich sie nicht mit dem Angebot in Verlegenheit gebracht, ih nen die syrischen Vermögenswerte der Agence Ho well zu überschreiben, wohl schwerlich hier beisam mensitzen und darüber diskutieren würden, was mit den blockierten Geldern geschehen sollte. Statt dessen gab ich ihm eine Antwort, die ich mir zurechtgelegt hatte. »Gegenwärtig verfügt die Regierung noch nicht über den erforderlichen Verwaltungsapparat, um die vorgesehene Verstaatlichung der Industrie zu ver wirklichen. Aber nur gegenwärtig nicht. Ich sehe in die Zukunft. Ein Jahr lang oder auch etwas länger mag mir die Kontrolle über unsere hiesigen Unternehmen noch überlassen bleiben, aber früher oder später wird sie mir mit Sicherheit genommen werden. Ich ziehe es vor, sie früher abzutreten und meine Zeit und meine Energie darauf zu verwenden, die Situation zu retten. Erscheint Ihnen das töricht oder gar großzügig, Dr. Hawa?« 66
»Wenn wir etwas genauer wüßten, was Sie unter ›die Situation retten‹ verstehen, könnten wir uns viel leicht ein Urteil darüber bilden.« »Ausgezeichnet. Dann lassen Sie uns von zwei An nahmen ausgehen. Erstens, daß die Regierung die Ge schäfte der uns in Syrien verbliebenen Unternehmen in eigene Regie nimmt. Zweitens, daß die Regierung uns in der üblichen Weise entschädigt – mit Papier.« Er zündete sich die nächste Zigarette an. »Mit einer rein hypothetischen Erörterung dieser Dinge richten wir keinerlei Schaden an. Akzeptieren wir also im In teresse Ihrer Darlegung sowohl Erwerbung als auch Entschädigung als Prämissen. Was weiter?« »Die hier zu geschäftlicher Untätigkeit verurteilte Agence Howell verfügt über beträchtliche Aktiva. Ei nige dieser Aktiva – Erfahrung im Management, Kenntnis der Weltmärkte und des Zugangs zu ihnen, kaufmännisches Geschick – schlagen nicht als Zahlen zu Buch, sind aber ungeachtet dessen real genug. Oh ne das Kapital, um sie auszubeuten, bleiben sie jedoch ungenutzt. Das Kapital ist vorhanden, aber blockiert. Da das Kapital nicht arbeiten darf, kann auch sonst nichts und niemand arbeiten. Der Verlust geht nur zum Teil zu unseren Lasten. Ihre Wirtschaft erleidet ebenfalls Einbußen. Die Lösung, die ich vorschlage, würde sich zu unserem beiderseitigen Vorteil auswir ken und zugleich den von der Regierung angekündig ten Richtlinien für die Industrie entsprechen.« »Könnten Sie sich nicht vielleicht etwas konkreter ausdrücken?« 67
»Gewiß. Ich schlage Ihnen eine Reihe kooperativer Unternehmungen auf dem Sektor der Leichtindustrie unter der Schirmherrschaft und Kontrolle der Regie rung vor. Ihr Hauptzweck wäre die Erzeugung von Produkten, die für die Exportmärkte geeignet sind.« »Produkte welcher Art, Mr. Howell?« Er hatte jetzt den gespannten Ausdruck eines Katers, der soeben ei ne fette und offenbar ziemlich schläfrige Feldmaus ge sichtet hat. »Keramikartikel, für den Anfang«, sagte ich. »Dann würde ich zu Möbel- und Metallwaren übergehen.« Der Kater zuckte mit dem Schweif. »Falls Sie es nicht wissen sollten, Mr. Howell, darf ich Sie auf die Tatsache hinweisen, daß wir bereits eine hochentwik kelte Keramikindustrie besitzen.« »Das ist mir durchaus bekannt, Dr. Hawa, aber wenn Sie mich fragen – sie produziert nicht die richti gen Artikel.« »Und wenn Sie mich fragen, Mr. Howell, so be fürchte ich fast, daß Sie mit Ihren Vorschlägen leider gänzlich falsch liegen.« Ich begann mich über ihn zu ärgern. »Aber ich bitte Sie, Dr. Hawa – wenn es Ihnen unzumutbar erscheint, sich neue Ideen zu den altbekannten Themen vortra gen zu lassen, erübrigt sich jedes weitere Wort.« Er entschied, daß der Augenblick, den großen Satz zu machen, jetzt gekommen war. »Neue Ideen, Mr. Howell? Dekorierte Ramschware in Massenproduk tion – Töpfe, Teller und Vasen – für den Export in die Touristenläden der westlichen Welt? Ist das der Trick, 68
mit dem Sie Ihr Geld außer Landes schmuggeln wol len?« Er lachte kurz auf und sah die anderen, die ih rerseits pflichtschuldig lächelten, der Reihe nach tri umphierend an. Es fehlte nicht viel, und ich hätte die Beherrschung verloren; aber ich bezwang mich. »Ich sehe ein, daß Sie ein vielbeschäftigter Mann sein müssen, Dr. Hawa, und ich begreife durchaus, daß Sie schwerlich die Zeit gefunden haben werden, Ihren Referenten vor dieser Zusammenkunft mit der üblichen Einholung von Auskünften über meine Per son, meine Tätigkeit und meinen Ruf zu beauftragen.« Er zuckte gleichmütig die Achseln. »Sie haben eine Ingenieursausbildung genossen. Das kann alles mögli che bedeuten.« »Es wird Ihnen daher wohl auch unbekannt geblie ben sein, daß es nicht zu meinen Geschäftspraktiken gehört, Nonsens daherzureden. Bei dem Stichwort ›Keramik‹ denken Sie an Töpfe und Teller und Vasen. Und warum auch nicht? Das ist schließlich alles, was Ihnen in diesem Zusammenhang einfällt. Wenn ich von ›Keramik‹ spreche, meine ich nicht die von Ihnen genannten Artikel, weil ich ein wenig Marktforschung betrieben habe. Ich denke zum Beispiel an eine Mas senproduktion von Kacheln.« Er runzelte die Stirn. »Kacheln? Sie meinen die Ka cheln, die wir für unsere Fußböden verwenden?« »Nicht die, an die Sie denken. Ich meine Keramikka cheln, die nach Quadratmeter verkauft werden und aus zwei Quadratzentimeter großen, auf der Oberseite ein farbig glasierten Mosaiksteinen bestehen und nicht in 69
irgendwelchen Ramschläden oder Luxusgeschäften für Touristen zu haben sind. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Gegenwärtig wird in Benghasi gerade ein Zweihundert-Betten-Hotel gebaut. Zu jedem der zwei hundert Zimmer gehört ein Badezimmer, das mit die sem Material ausgekachelt ist – Boden und Wände, ein farbig rosa, blau, grün, schwarz und weiß. Fast fünfzig Quadratmeter gekachelter Fläche für jeden Raum. Kü chen und Veranden werden ebenfalls gekachelt. Bei dem Auftrag ging es um insgesamt rund zwölftausend Quadratmeter. Er wurde einem italienischen Fabrikan ten zugeschlagen. Wert fünfundvierzigtausend.« »Dollar?« »Dollar. Nach diesem Material herrscht starke Nachfrage. Hotels und große Apartmenthäuser wer den an allen Mittelmeerküsten gebaut – und nicht nur dort, sondern in ganz Europa. Marmor ist teuer, Ka chelung vergleichsweise billig. Kacheln sind jetzt das bevorzugte Material. Hätte Syrien diesen Auftrag in Benghasi bekommen können? Wenn es in der Lage gewesen wäre, den gewünschten Artikel in der benö tigten Menge und zum vorgeschriebenen Termin her zustellen, kann die Frage nur mit Ja beantwortet wer den. Zugegeben, Libyen hat noch immer kommerziel le Bindungen an Italien, aber wie steht es mit seinen religiösen, ethnischen und politischen Bindungen an die var? Zudem hätte Syrien zu einem wesentlich niedrigeren Preis liefern können.« »Wo wird diese besondere Art von Kacheln sonst noch hergestellt?« 70
»Sie meinen, ob es sich um ein italienisches Mono pol handelt? Keineswegs. Die Franzosen und die Schweizer sind ebenfalls bereits im Geschäft. In der Nähe von Zürich gibt es ein Keramikwerk, das mehr als zweihundert Mitarbeiter beschäftigt.« Er zog ein Gesicht. »Also ein Keramikwerk, und wenn das Baugeschäft zurückgeht –« »– werden wir gewiß nicht mehr die Jüngsten sein. Im übrigen sind Kacheln nur ein Beispiel für das, was mir vorschwebt. Ägypten baut jetzt sein Strom versorgungsnetz aus. Es wird zwei Jahre dauern, bis es fertiggestellt ist, und für die Hochspannungslei tungen werden glasierte keramische Isolatoren benö tigt, massive Dinger, sechs bis acht Stück davon pro Mast. Zehntausende wird man brauchen. Selbstver ständlich könnten sie alle aus der Sowjetunion oder aus Polen kommen, aber ich glaube kaum, daß es den Russen etwas ausmachen würde, wenn diese Isolatoren in Syrien hergestellt werden könnten. Möglicherweise wären sie sogar ganz froh darüber, den Auftrag einem befreundeten Staat weitergeben zu können. Es wäre interessant, das herauszufinden. Ich bin überzeugt, daß ein über ihren Handelsatta ché eingereichter Antrag auf Einsichtnahme in Blau pausen und Spezifikationen wohlwollend geprüft werden würde.« »Ja, ja, selbstverständlich.« Auf diesen Köder sprach er, wie ich gehofft hatte, schon ganz prächtig an. Der dienstältere Beamte beugte sich vor. »Darf man 71
vermuten, daß Ihre Vorstellungen hinsichtlich der Möbelfabrikation ebenso unkonventionell sind, Mr. Howell?« »Ich möchte es glauben, Sir. Keine KamelsattelHocker, keine ornamentierten Kaffeetischchen, son dern moderne Büro- und Hotelmöbel nach westli chem Design und ebenfalls in Massenproduktion. Ei nige relativ billige Maschinenwerkzeuge würden im portiert werden müssen, desgleichen das Kunststoff material, das wir für die Außenflächen benötigen, aber die Metallteile könnten hier gefertigt werden.« Dr. Hawa ging erneut zum Angriff über. »Was den metallverarbeitenden Sektor betrifft, denken Sie doch gewiß an die Herstellung von Eßbestecken im westli chen Stil und dergleichen?« »Nein, Dr. Hawa.« Ein schlaues Lächeln. »Weil Ihre libanesischen und ägyptischen Unternehmen bereits teure Bestecke ver kaufen, die sie aus Großbritannien kommen lassen?« Er war offenbar doch besser präpariert, als es zu nächst den Anschein gehabt hatte. »Nein«, entgegnete ich. »Weil die Japaner den Markt für massenproduzierte Eßbestecke schon beherrschen. Mit denen könnten wir niemals konkurrieren. Ich denke vielmehr an Türklinken, Türriegel, Türangeln – Eisenwaren für den Baubedarf, die mit Hilfe von Schraubstöcken und Schablonen und einigen wenigen billigen Maschinenwerkzeugen wie Bohr- und Loch maschinen in Massenproduktion gefertigt werden können. Ohne moderne Feinausführungsverfahren ist 72
das freilich nicht denkbar. Maßstäbe, wie sie für hand gefertigte Arbeiten gelten, sind unzureichend.« Der dienstältere Beamte schaltete sich erneut ein. »Sie haben wiederum die Verwendung billiger Ma schinen mit Nachdruck hervorgehoben, Mr. Howell. Aber sind es nicht gerade die kostspieligen Maschinen, die billige und zu wettbewerbsgerechten Preisen ab setzbare Artikel produzieren?« Ich antwortete mit Bedacht. »In Ländern, in denen hohe Löhne gezahlt werden, trifft das zweifellos zu. Wir sollten versuchen, einen Mittelweg einzuschlagen. Arbeitsintensive Projekte, da stimme ich Ihnen zu, sind für Syrien wertlos. Aber in den Flüchtlingslagern steht uns ein noch weitgehend ungenutztes Potential an ungelernten und nicht voll ausgebildeten Arbeits kräften zur Verfügung. Unter Anleitung durch syri sche Vorarbeiter könnte es geschult und nutzbringend eingesetzt werden. Ich bezweifle nicht, daß wir in dem gleichen Maß, in dem wir Fortschritte erzielen, zu nehmend Maschinenwerkzeuge benötigen und auch zu handhaben verstehen werden, die komplizierter und kostspieliger sind. Ob und in welchem Ausmaß wir in der Lage sein werden, sie anzuschaffen, wird fraglos weitgehend vom Erfolg unseres Unternehmens abhängen. Daß wir außerstande sind, dies gleich zu Beginn zu tun, sollte uns jedoch nicht entmutigen oder gar zum Scheitern verurteilen. In den richtigen Händen kann selbst primitives Werkzeug eine Menge ausrichten.« »Ich bin doch sehr erleichtert, zu hören«, sagte Dr. 73
Hawa anzüglich, »daß Mr. Howell die Möglichkeit des Scheiterns immerhin nicht gänzlich außer Betracht gelassen hat.« »Ich war bemüht, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, Dr. Hawa. Ich habe der Regierung vorge schlagen, sich unserer Firma und ihrer Aktiva zu be dienen, um das öffentliche Wohl zu fördern. Ob Sie uns benutzen wollen oder nicht, und wenn, wie Sie uns benutzen wollen – das sind Fragen, die schwerlich schon hier und heute beantwortet werden dürften. Für den Fall jedoch, daß wir benutzt werden sollen, und mit Erfolg benutzt werden sollen, möchte ich zu bedenken geben, daß wir Ihnen am besten in der Wei se werden dienen können, die ich vorgeschlagen habe, das heißt, wenn wir unter Nutzung unserer begrenz ten Ressourcen begrenzte, aber realistische Ziele an steuern, die in absehbarer Zeit zu realisieren sind.« Der dienstältere Beamte nickte ermutigend, und so fuhr ich rasch fort, bevor Dr. Hawa mich unterbrechen konnte. »Die von mir bevorzugten Projekte, die ich hier zur Diskussion gestellt habe, sind zugleich diejeni gen, die am einfachsten und besten vermittels produk tionstechnisch und regional begrenzter Pilotoperatio nen getestet werden können. Ich halte ein solches Vor gehen für unerläßlich. Wenn uns Fehler unterlaufen, was zweifellos der Fall sein wird, werden sie auf diese Weise überschaubar bleiben und in jedem Fall leichter zu korrigieren sein. Andererseits müssen alle derartigen Pilotoperationen, wenn sie wirklich Sinn haben sollen, groß genug angelegt sein, um uns exakte Voraussagen, 74
Projektionen unseres bei voller Ausnutzung der Pro duktionskapazität anfallenden Bedarfs – beispielsweise an Rohmaterial – zu ermöglichen. Simple Arithmetik kann da zuweilen irreführend sein.« »Das kann sie allerdings.« Dr. Hawa blies Zigaret tenrauch quer über den Tisch hinweg; mit Entschie denheit machte er seine Rechte als Diskussionsleiter jetzt wieder geltend. »Nachdem wir das Vergnügen hatten, uns Ihre ebenso unterhaltsamen wie phanta sievollen Ausführungen anzuhören, können wir nun vielleicht auf prosaischere Aspekte zu sprechen kom men. Mr. Howell, schlagen Sie tatsächlich vor, die blockierten Gelder der Agence Howell restlos in die Finanzierung dieser Ihrer so hochfliegenden Pläne zu stecken?« »Nein«, sagte ich unumwunden. »Das schlage ich keineswegs vor.« »Dann sehe ich nicht –« »Erlauben Sie mir bitte, meine Darlegung zu Ende zu führen. Erstens wäre das verfügbare Kapital der Firma, sofern es verfügbar gemacht werden könnte, zur Finanzierung der Projekte, über die wir hier ge sprochen haben, gänzlich unzureichend. Was ich vor schlage, ist vielmehr, die Pilotoperationen mit Fir mengeldern zu finanzieren. Hat ein Pilotprojekt sich bewährt, dann – und nur dann! – kommt es in die Massenfertigung. Das ist der Zeitpunkt, zu dem die weitere Finanzierung von der Regierung übernommen und die Firma ihrerseits Eigner eines Minoritätsanteils an einer regierungseigenen Kooperativen wird.« 75
Dr. Hawa rollte die Augen in theatralischem Staunen. »Erwarten Sie im Ernst, daß ich Ihnen glaube, Sie und Ihre Firma seien bereit, unentgeltlich zu arbei ten?« »Nein, keineswegs. Wir würden so etwas wie Ma nagementgebühren für die mit dem jeweiligen Projekt verbundene Planungs- und Entwicklungsarbeit erhe ben. Diese Gebühren brauchten nur nominell zu sein, ausreichend zur Deckung der üblichen laufenden Unkosten. Selbstverständlich müßten alle derartigen Absprachen in den offiziellen Vereinbarungen zwi schen der zuständigen Regierungsstelle und der Firma verbindlich festgelegt werden.« Ich zögerte einen Au genblick lang, bevor ich hinzufügte: »Eine der Bedin gungen, von denen wir die Beteiligung unserer Firma an diesen Vereinbarungen abhängig machen müßten, wäre selbstredend das Exklusivrecht, Generalvertre tungen für den Verkauf der Produkte dieser vereinten Unternehmen im Ausland einzurichten. Ich hielte es für fair und durchaus angemessen, wenn uns dieses Exklusivrecht auf Alleinvertretung für einen Zeitraum von, sagen wir, fünfundzwanzig Jahren eingeräumt werden würde.« Es herrschte allgemeines Schweigen; und dann ließ der dienstältere Beamte einen kehligen Räusperton hören, der nach wenigen Augenblicken in artikulierte re Protestbekundungen überging. »Aber … aber …« Er schien außerstande weiterzureden. Schließlich streckte er die Hände in die Höhe. »Sie könnten ja ein Vermögen machen!« rief er aus. 76
Ich schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, Sir, ich glaube, wir – die Firma und ich – könnten es eher ver lieren. Da wir derzeit jedoch ohnedies Gefahr laufen, unser hiesiges Vermögen zu verlieren, möchte ich das Risiko, sofern ich das kann, verringern.« »Die Regierung wird dem niemals zustimmen.« »Aber warum denn nicht, Sir? Sie läuft doch keiner lei Risiko. Bis die Finanzierung eines Projekts für die Regierung akut wird, sind ihr alle Risiken längst ab genommen worden. Der Wirtschaft und dem Volk kann es dann nur noch zum Vorteil gereichen. Warum also sollte die Regierung dem nicht zustimmen?« Dr. Hawa sagte nichts. Er steckte sich eine weitere Zigarette an; aber er schien amüsiert zu sein. Einen Monat später wurde der erste Entwurf unse rer Vereinbarungen abgezeichnet; von mir namens der Firma und von Dr. Hawa im Namen der soeben ge gründeten Volkseigenen Kooperative für Industrielle Entwicklung.
In Beirut fand diese Neuigkeit gemischte Aufnahme, und ich mußte einer ungewöhnlich erweiterten Ge sellschafterversammlung Vorsitzen. Meine Schwestern Euridice und Amalia hatten beide Ehemänner, die an diesen Zusammenkünften kraft eines einzigen Anteil scheins als stimmberechtigt teilnahmen. Diese beklagenswerte Regelung war von meinem Vater keine vier Wochen vor seinem Tod eingeführt worden; hauptsächlich, möchte ich glauben, weil es 77
ihm Unbehagen bereitete, mehr Frauen als Männer um einen Vorstandstisch versammelt zu sehen – selbst wenn es sich bei den betreffenden Damen um seine Frau und seine Töchter handelte. Nachdem er Jahr zehnte hindurch soviel mit Moslems zu tun gehabt hatte, begann er selber in mancher Hinsicht ganz ähn lich wie sie zu denken. Als er sah, welchen Fehler er mit dem getroffenen Arrangement begangen hatte, war er jedoch bereits zu krank und geschwächt, um es noch rückgängig zu machen oder auch nur abzuän dern. Diese Aufgabe hatte er mir hinterlassen; und da ich wenig Neigung verspürte, gleich im ersten Jahr meiner Alleinherrschaft einen größeren Familienzwist heraufzubeschwören, hatte ich es vorerst aufgescho ben, die nötigen Schritte in dieser Richtung zu unter nehmen. Ich habe nichts gegen meine Schwäger; beide sind sie ehrenwerte Männer; aber der eine ist Zahnarzt und der andere außerordentlicher Professor der Physik. Keiner von beiden hat vom Geschäft auch nur die blasseste Ahnung. Aber obgleich beide begreiflicher weise empört gewesen wären, wenn ich ihnen auf ih rem ureigensten Fachgebiet meinen Rat aufzudrängen versucht hätte, zögerten sie niemals auch nur einen Augenblick lang, die Führung unserer Firma einge hend zu kritisieren und zu beraten. Sie betrachteten das Geschäft nicht ohne Nachsicht als eine Art Spiel, an dem jeder, der auch nur über eine Spur von gesun dem Menschenverstand verfügt, jederzeit teilnehmen und dessen Spielregeln man nicht erlernen, sondern 78
recht eigentlich nur intuitiv erfassen kann. Mit der gräßlichen Beharrlichkeit derer, die es gewohnt sind, vom Standpunkt totaler Ignoranz aus im Brustton der Überzeugung zu argumentieren, verkündeten sie ihre abwegigen Meinungen und gaben die unsinnigsten Sprüche von sich, während meine Schwestern in eheli cher Zustimmung bekräftigend mit ihren idiotischen Köpfen nickten. Sich diese unbefangenen Plumpheiten anhören zu müssen, kostete kaum weniger Nerven als der Aufwand, der jedesmal erforderlich war, um als bald über sie hinweg zur Tagesordnung überzugehen, ohne allzu verletzend zu sein. Nein, ich habe nichts gegen meine Schwäger; aber es hat Augenblicke gege ben, in denen ich ihnen sehnlichst den Tod wünschte. Ihre ebenso spontane wie enthusiastische Billigung meiner Vereinbarungen mit der syrischen Regierung war daher sowohl verwirrend als auch beunruhigend. Guilio, der Zahnarzt – er ist Italiener –, wurde vor Begeisterung geradezu eloquent. »Es ist meine feste Überzeugung«, erklärte er, »daß Michael staatsmännischen Weitblick bewiesen hat. Mit Idealisten zu verhandeln – in diesem Fall vielleicht eher Ideologen –, ist nicht leicht. In ihren Augen gel ten Kompromisse allemal als Zeichen von Schwäche und Verhandlungen als Schleichwege zum Verrat. Der radikale Extremist, gleich welcher politischen Rich tung, ist eindeutig paranoid. Aber selbst der schwarze Panzer ihres Mißtrauens weist Ritzen auf, und Micha el hat die gefährlichsten entdeckt – Eigeninteresse und Habgier. Wir brauchen keine Kanonenboote, um un 79
sere Geschäfte betreiben zu können. Diese Vereinba rung, das ist die moderne Art, die Dinge zu regeln.« »Unsinn!« sagte meine Mutter laut. »Es ist die schwächliche und kurzsichtige Art.« Sie brachte Guilio mit einem gestrengen Blick zum Schweigen, bevor sie sich mir zuwandte. »Warum«, fuhr sie dann schmerz lich bewegt fort, »war diese Zusammenkunft nötig? Warum, um des Himmels willen, haben wir sie selber angeregt? Und warum sind wir, nachdem wir über eine derartige Vereinbarung lediglich diskutiert haben, in die Falle gegangen und haben unterschrieben? Oh, wenn doch dein Vater noch lebte!« »Die Vereinbarung ist nicht unterschrieben, Mama. Ich habe lediglich einen Entwurf abgezeichnet.« »Entwurf? Ha!« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn – ihre eindrucksvolle Methode, hochgradige Erregung zu demonstrieren, ohne die sorgfältig gepflegte Frisur zu gefährden. »Und kannst du dein Zeichen unter dem Entwurf widerrufen?« fragte sie herausfordernd. »Kannst du unseren Namen zu einem auf öffentlichen Märkten benutzten Schmähwort werden lassen, das gleichbedeutend ist mit Wankelmut und Unzuverlässigkeit?« »Ja, Mama, und nein.« »Was sagst du da?« »Ja, soweit es die erste Frage betrifft, nein hinsicht lich der zweiten. Der abgezeichnete Entwurf zu einer Vereinbarung ist eine Absichtserklärung. Er ist nicht absolut bindend. Es gibt Möglichkeiten und Wege, davon abzurücken, wenn wir das wollen. Ich bin nicht 80
der Meinung, daß wir das tun sollten, aber aus ande ren Gründen als denen, die du angeführt hast. Von Unzuverlässigkeit wäre gewiß keine Rede, aber es könnte durchaus sein, daß man glauben würde, wir hätten bluffen wollen. In diesem Fall könnten wir nicht mehr damit rechnen, von ihnen in Zukunft noch großzügig behandelt zu werden.« »Aber du warst es doch, Michael, der die Initiative ergriffen hat. Warum? Warum hast du nicht gewartet, bis die Zeit reif ist, um die Taktiken anzuwenden, auf die sich dein Vater so hervorragend verstand?« Sie hatte sich über den Tisch vorgeneigt und rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander. Ihr Diamantring glitzerte anklagend. »Das habe ich doch schon erklärt, Mama. Wir ha ben es mit einer neuen Situation und mit Männern von einem ganz anderen Schlag zu tun.« »Anders? Das sind Syrer, oder etwa nicht? Was sollte an denen denn neu sein?« »Ein Mißtrauen gegenüber der Vergangenheit, ein echtes Bestreben nach Reformen und die Entschlos senheit, Veränderungen herbeizuführen. Ich räume ein, daß ihre Ideen vielfach unausgegoren sind. Aber sie werden hinzulernen, und der Wille dazu ist vor handen. Ich sollte vielleicht erwähnen, daß ich inner halb einer Stunde ins Gefängnis gesperrt worden wä re, hätte ich Dr. Hawa zu bestechen versucht oder ei ne derartige Absicht auch nur durchblicken lassen. Das zumindest ist neu.« »Sie bleiben trotzdem Syrer, und neue Männer 81
pflegen rasch zu altern. Woher willst du übrigens wis sen, ob die Partner deines Abkommens in einem hal ben Jahr noch im Amt sein werden? Du siehst eine veränderte Situation, ja. Aber vergiß nicht, daß sich solche Situationen mehr als einmal ändern können, und das in mehr als einer Hinsicht.« Ich nahm meine Brille ab und putzte die Gläser mit meinem Taschentuch. Meine Frau Anastasia hat mir gesagt, diese Angewohnheit von mir, meine Brille zu putzen, wenn ich nachdenken will, sei ausgesprochen schlecht. Anastasia zufolge erzeugt sie den Eindruck von Schwäche und Verwirrung. Sie mag recht haben; ich kann immer auf Anastasia zählen, wenn es darum geht, mir meine Fehler und Mängel vorzuhalten und die Liste meiner Schwächen auf den neuesten Stand zu bringen. »Über diesen Punkt sollten wir keine Unklarheiten bestehen lassen, Mama.« Ich setzte meine Brille wie der auf und steckte das Taschentuch weg. »Es gibt in Damaskus eine Menge Leute von Erfahrung, die deine Ansicht teilen. Ich glaube, wenn Vater noch lebte, würde er zu ihnen gehören. Ich glaube aber auch, daß er sich täuschen würde. Ich will die Vorzüge der Ge duld keineswegs bestreiten. Aber nur abzuwarten und zuzusehen, wie der Hase läuft, und vielleicht gerade noch Überlegungen darüber anzustellen, welche Hän de gegebenenfalls geschmiert werden müßten, kann unter Umständen auch bloß als Entschuldigung dafür dienen, gar nichts zu tun, weil man sich nicht auf das eigene Urteil verlassen mag. Indem wir auf diese Leu 82
te zugehen, statt darauf zu warten, daß sie hinter ver schlossenen Türen über unser Schicksal entscheiden, sichern wir uns konkrete Vorteile. Mit einigem Glück werden wir unser hiesiges Kapital weiterhin für uns arbeiten lassen können.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Du hast soviel englisches Blut in dir, Michael. Mehr, denke ich manchmal, als dein Vater, obschon ich nicht zu sagen wüßte, wie das möglich sein sollte.« Aus dem Mund meiner Mutter waren das in der Tat harte Worte. Ich erwartete den Rest des Urteilsspruchs. »Ich erinnere mich noch sehr gut an etwas, was dein Vater 1929 ge sagt hat. Das war, bevor du geboren wurdest, als ich« – sie klopfte sich auf den Bauch – »dich hier trug. Ein britischer Armeeoffizier war bei uns Hausgast gewe sen. Er war ein Amateursegler, und die Werft hatte ir gendwelche Reparaturen an seinem Boot ausgeführt. Als er absegelte, vergaß er ein kleines rotes Buch mit zunehmen, in dem er gelesen hatte. Es war ein Hand buch für die infanteristische Ausbildung oder irgend etwas dergleichen, herausgegeben vom britischen Kriegsministerium. Dein Vater las das Buch, und über einen Satz, auf den er darin gestoßen war, amüsierte er sich so sehr, daß er ihn mir laut vorlas. ›Gar nichts tun‹, sagte das Kriegsministerium, ›heißt sicher das Falsche tun.‹ Wie dein Vater darüber lachen mußte! ›Kein Wunder‹, meinte er, ›daß die britische Armee sich so schwer tut, ihre Kriege zu gewinnen.‹« Nur meine Schwäger, die diese Geschichte nicht gar so oft gehört hatten, lachten darüber; aber meine Mut 83
ter hatte noch nicht geendet. »Du, Michael«, sagte sie, »hast Dinge ins Rollen gebracht, von denen du be hauptest, sie brächten ein, was du ›konkrete Vorteile‹ nennst. Erster Vorteil, eine Entschädigung für unsere Verluste in Syrien, die wir nie bekommen werden und die man uns daher gestohlen hat. Zweiter Vorteil, eine Lizenz, mit dem uns gestohlenen Geld und viel zuviel von deiner kostbaren Zeit irgendeine nichtexistierende Industrie zu subventionieren, die nichtexistierende Güter produziert. Ja, wir haben die Alleinvertretung für diese Güter, wenn diese Bauern und Flüchtlinge jemals dazu gebracht werden können, sie zu produzie ren. Aber wann wird das der Fall sein? Wie ich diese Leute kenne, zu meinen Lebzeiten nicht mehr.« Sie hatte natürlich den schwachen Punkt des ganzen Arrangements erkannt und den Finger unbeirrbar in die Wunde gelegt. Nur allzuoft sollte ich in den fol genden Monaten noch an ihren Ausspruch von der ›nichtexistierenden Industrie, die nichtexistierende Güter produziert‹ denken müssen. Im Augenblick je doch blieb mir nichts anderes übrig, als scheinbar ge lassen dazusitzen und eine unerschütterliche Ruhe vorzutäuschen. »Gibt es noch irgendwelche Fragen?« »Ja.« Meine Schwester Euridice meldete sich. »Was wäre die Alternative zu dieser Abmachung?« »Die Alternative, die Mama vorschlägt. Wir tun nichts. Meiner Meinung nach würde das bedeuten, daß wir uns eines Tages mit unseren Verlusten in Sy rien abfinden, daß wir sie abschreiben müssen. Be 84
stenfalls könnten wir auf eine Konterrevolution hof fen, die den Status quo wiederherstellt. Ich sehe zwar nicht, wie das geschehen sollte, aber –« Ich zuckte die Achseln. »Aber du könntest dich irren?« Guilio, der Zahn arzt, trat wieder in Aktion, mit hervorquellenden Au gen und einem Zeigefinger, mit dem er sich an die Schläfe tippte – vermutlich, um mich darauf aufmerk sam zu machen, daß die Frage seinem Gehirn ent stammte und nicht seinem Bauch. »Ja, ich könnte mich irren, Guilio. Was ich meinte, ist, daß die Art von Konterrevolution, bei der die ra dikale Rechte die radikale Linke stürzt, den Status quo nur in den seltensten Fällen wiederherstellt.« »Aber actio und reactio sind doch wohl stets gleich wertig und konträr.« Das war René, der Physiker. Er hatte die entnervende Angewohnheit, wissenschaftli che Gesetze fortwährend in nichtwissenschaftlichen Zusammenhängen zu zitieren. In eine Diskussion über eine seiner falschen Analogien verwickelt zu werden, war etwas, was um jeden Preis vermieden werden mußte. »Im Laboratorium, ja.« »Und auch im Leben, Michael, auch im Leben.« »Ich bin sicher, daß du recht hast, René. Aber die politische Zukunft Syriens gehört schwerlich zu den Dingen, die sich von uns hier in diesem Konferenz zimmer exakt voraussagen lassen. Ich finde, daß wir lange genug diskutiert haben und jetzt zur Abstim mung kommen sollten. Du zuerst, Guilio.« 85
Ich glaube, in jenem Augenblick war ich selber schon so gut wie entschlossen, die Abmachung zu sa botieren. Guilios und Renés spontane Begeisterung hatte Zweifel in mir wachgerufen, die durch den ät zenden Kommentar meiner Mutter noch beträchtlich verstärkt worden waren. Unter Berufung auf die Tat sache, daß ich als Urheber des Abkommens parti pris sei, hätte ich durch Stimmenthaltung ohne allzu gro ßen Gesichtsverlust von der Sache abrücken können. Und genau das würde ich wohl getan haben, wenn es Guilio gefallen hätte, nochmals seine idiotische Lo beshymne auf meine weitblickende Kühnheit anzu stimmen. Bedauerlicherweise entschied er sich für das Gegenteil. »Meine wohlerwogene Meinung«, erklärte er gewichtig, »geht dahin, daß die Zeit für uns arbei tet. Kein Abkommen, wie geschickt ausgehandelt es auch immer sein mag, kann unseren Interessen letzt endlich dienlich sein, wenn das Regime, mit dem es getroffen werden soll, seinem ganzen Wesen nach un stabil ist. Falls die Zeit für uns arbeitet, und wir dür fen hoffen, daß sie das tut, dann sage ich, laßt die Zeit für uns arbeiten.« »Du bist gegen den Antrag, Guilio?« »So leid es mir auch tut, Michael – ja.« René drängte es, über die Mathematik der Spiel theorie und die Möglichkeit, sie zur Lösung metapoli tischer Probleme anzuwenden, ein paar Worte zu sa gen. Anschließend stimmte auch er gegen die Verein barung. Ich sah meine Mutter an. Von ihr hing jetzt die Ent 86
scheidung ab. Was immer ich meinerseits auch wün schen mochte: meine Schwestern würden ihrem Bei spiel folgen. Ich sagte: »Mama, ich bin der Überzeugung, daß auch für die absurdeste Verallgemeinerung, selbst für eine, die sich in einem kleinen roten Buch findet, das vom britischen Kriegsministerium herausgegeben worden ist, immer wieder einmal ein Augenblick der Wahrheit eintritt. Ich glaube, daß ein solcher Augen blick jetzt gekommen ist und daß das, was du tun willst und was Guilio und was René tun wollen – nämlich nichts –, daß das definitiv das Falsche tun heißt.« Einen Moment lang zuckte es um ihren Mund, und es hatte den Anschein, als werde sie gleich lächeln; aber der Anschein trog. Statt dessen warf sie die Hän de hoch. »Nun gut«, sagte sie. »Triff du deine Verein barung. Aber ich warne dich. Du schaffst dir viel Är ger – Ärger jeglicher Art.« Damit sollte sie natürlich ganz und gar recht behal ten. Der Ärger war von jeder nur denkbaren Art; und ich hatte ihn niemand anderem zuzuschreiben als mir selber. Nahezu zwei Jahre lang war Dr. Hawa der einzige Partner des syrischen Abkommens, der in irgendeiner nennenswerten Weise davon profitierte. Unsere Firma verlor; und was sie zusetzte, beschränkte sich nicht auf unsere blockierten Gelder. Wie meine Mutter vor ausgesagt hatte, kosteten mich die syrischen Koopera 87
tiv-Projekte viel zuviel Zeit. Es war unausbleiblich, daß ein Teil der verantwortungsvollen Management aufgaben in den profitableren Unternehmensberei chen unserer Firma an leitende Angestellte delegiert werden mußte. Selbstverständlich nahmen sie die Ge legenheit wahr und forderten Gehaltserhöhungen. Zunächst, das muß ich zugeben, ließ sich die Arbeit recht zufriedenstellend an. Kaninchen aus dem Zylin der hervorzuziehen, kann lustig sein, wenn der Zau ber funktioniert. Das Keramik-Pilotunternehmen zum Beispiel, das ich in einer stillgelegten Seifenfabrik aufzog, lief von Anfang an sehr gut. Das war zum Teil reines Glück. Ich fand einen Mann, den ich als Vorar beiter und später als Manager einsetzen konnte. Er hatte drei Jahre lang in einer französischen Töpferei gearbeitet und verstand etwas von farbigen Glasuren. Er wußte auch, wo die nicht voll ausgebildeten Ar beitskräfte, die wir brauchten, angeworben werden konnten und wie sie zu behandeln waren. Innerhalb von vier Monaten hatten wir eine Anzahl von Mu stern, realistische Kostenvoranschläge und einen auf die volle Auslastung der Produktionskapazität zuge schnittenen und bis ins einzelne ausgearbeiteten Plan vorzuweisen, den ich Dr. Hawa zu den Bedingungen unserer Übereinkunft unterbreiten konnte. Innerhalb von wenigen Wochen und nach einer ungewöhnlich kurzen Phase des Feilschens war die staatliche Finan zierung bewilligt worden und das Projekt angelaufen. Bei Jahresende hatten wir unsere ersten Exportaufträ ge unter Dach und Fach gebracht. 88
Bei den Möbel- und Metallwarenprojekten liefen die Dinge nicht so glatt. Im Fall der Möbel ergaben sich einige Schwierigkeiten aus der Tatsache, daß eine Menge Arbeiten, die unter den Testbedingungen ma schinell hätten ausgeführt werden sollen, mit der Hand verrichtet werden mußten. Das verlieh unserer Kostenrechnung einen Nutzwert, der den einer ›über den Daumen gepeilten‹ Schätzung nur unwesentlich überstieg. Die meisten Kopfschmerzen verursachte uns diese Pilotproduktion jedoch wegen ihrer Abhän gigkeit von der Schlosserei. Das Problem war hier der chronische Mangel an gelernten Arbeitskräften. Das war durchaus nicht verwunderlich. Warum sollte ein Schlosser, der seit Jahren auf eigenen Füßen stand und genügend verdiente, um so leben zu kön nen, wie es vor ihm schon sein Vater und sein Groß vater als annehmbar empfunden hatten, in einer regie rungseigenen Fabrik arbeiten wollen? Wie sollte die ser Handwerker dazu überredet werden, Werkzeuge zu benutzen, die ihm nicht gehörten, um damit unge wohnte Gegenstände von – für ihn – fraglichem Wert herzustellen? Man konnte damit argumentieren, und das tat ich, bis mir vor Heiserkeit die Stimme versagte, daß er in der regierungseigenen Fabrik wöchentlich nur fünfzig Stunden zu arbeiten brauche statt der sechzig Stunden, die er als selbständiger Handwerker arbeiten mußte, und dabei dennoch mehr Geld ver diene. Man konnte von der Sicherheit des Arbeitsplat zes sprechen. Man konnte ihm Überstunden und Son derprämien für die Anlernung von Lehrlingen ver 89
sprechen. Man konnte bitten, mit Engelszungen alle Überredungskünste spielen lassen. In den meisten Fäl len war die Antwort ein nachdenklich versonnenes Kopfschütteln, das einen verrückt machen konnte. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit diesem Problem hilfesuchend an Dr. Hawa zu wenden. Er löste es, indem er eine Bestimmung erließ, die den Verkauf von Buntmetallen und -legierungen wie Kupfer und Messing kontingentierte. Jeder Käufer erhielt eine Quote zugeteilt, der die im Vorjahr getä tigten Käufe zugrunde lagen. Hatte er jedoch keine schriftlichen Unterlagen aufbewahrt – Empfangsbe stätigungen zum Beispiel oder quittierte Rechnungen –, mit denen er seinen Bedarf nachweisen konnte, sah er sich in Schwierigkeiten. Natürlich stand es ihm frei, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Aber selbst wenn er kein Analphabet war, würde es ihm schwer fallen, den betreffenden Passus der einschlägigen Vor schriften auch nur zu begreifen. Er würde sich einen Anwalt nehmen müssen. Als die Risiken, Ungewiß heiten und Hindernisse selbständiger Arbeit auf diese Weise immer offenkundiger wurden, beschloß man cher von denen, die früher den Kopf geschüttelt hat ten, sich die Sache nochmals zu überlegen. Daß Dr. Hawa sich in einer Position befand, die es ihm erlaubte, diese byzantinische Methode der Rekru tierung von Arbeitskräften durch Druck zu legalisie ren, ist nicht so bemerkenswert, wie es scheinen mag. Ich habe bereits gesagt, daß unsere Abmachung für ihn von Anfang an einträglich war. Vielleicht wäre 90
›vorteilhaft‹ das richtigere Wort gewesen. Seit dem Tag, an dem wir die endgültige Fassung der vertragli chen Vereinbarungen unterschrieben, verging kaum eine Woche ohne irgendeine Manifestation dessen, was er ›unser Public-Relations- und Informationspro gramm‹ nannte. Praktisch hieß das Publicity für Dr. Hawa persönlich. Ich weiß heute noch nicht, wie er seine imagefördernden Tricks anzuwenden lernte; oh ne Frage hatte er sie in den besagten Jahren gesam melt, die er als graduierter Student in Amerika ver brachte; aber er beherrschte sie allesamt mit bemer kenswerter Geschicklichkeit. Teresa glaubt, daß er ein angeborenes Talent zur Eigenwerbung besitzt, dessen er sich nur undeutlich bewußt ist, und daß er sich na hezu ausschließlich vom Instinkt leiten läßt. Sie mag recht haben. Es war durchaus fesselnd, ihn in voller Aktion zu erleben. An dem Tag, an dem wir die stillgelegte Sei fenfabrik – einen verfallenen, von Ratten verseuchten Bau damals – in Besitz nahmen, kreuzte, eine große, aufgerollte Blaupause – wovon, habe ich nie herausge funden – schwingend und von Fotografen und Archi tekten begleitet, überraschend Dr. Hawa auf, um die Örtlichkeit zu inspizieren. Die Fotos von Dr. Hawa, die später in den Zeitungen erschienen und ihn zeig ten, wie er mit expressiver Gebärde auf die Blaupause deutete, aber auch die Bildunterschriften, die die dy namische und doch bescheidene Persönlichkeit des Leiters des Referats für industrielle Entwicklung rühmten, waren ungemein beeindruckend. Er verstand 91
es, aus dem trivialsten Vorgang ein Ereignis zu ma chen. Das Eintreffen eines neuen Maschinenteils, das Verlegen einer neuen Hochspannungsleitung, das Gießen der Betonmasse für den neuen Fußboden ei ner Werkstatt – wo immer irgend etwas vonstatten ging, was sich fotografieren ließ, war Dr. Hawa zur Stelle; und er wußte es stets so einzurichten, daß er bei Ankunft der Fotografen nicht nur im Vordergrund stand, sondern dabei auch rein optisch deutlich zum Ausdruck kam, daß er derjenige war, bei dem die Ge samtleitung des betreffenden Geschehens lag. Er hatte eine Art, auf irgend etwas zu zeigen, wenn er eine Frage stellte, und dabei den Kopf genau so weit in den Nacken zu werfen, daß es aussehen mußte, als erteile er Anweisungen. Und natürlich sollten wir schon bald nicht mehr die einzigen sein, die ihm zu solcher Selbstdarstellung Gelegenheit gaben. Die exzessive Publicity, die unseren Pilotprojekten zuteil geworden war, hatte einige der vormaligen Stillhalte-Taktiker zu dem Trugschluß verleitet, ich müsse, während sie schliefen, das Geld nur so gescheffelt haben, und sie bewogen, eiligst auf den abfahrenden KooperationsBus aufzuspringen. Eine Reihe dieser Unternehmen, insbesondere eine Glashütte, eine Fabrik, die verzink te Eisendrähte herstellte, und eine Getränkefabrik, die eine örtliche Pepsi-Cola-Imitation von etwas befremd lich anmutendem Geschmack auf Flaschen zog, waren erfolgreich; und natürlich heimste Dr. Hawa den Ruhm ein. Als 1966 die gesamte Industrie Syriens verstaatlicht 92
wurde, mehrten sich für ihn die Gelegenheiten zu wirkungsvoller Eigenwerbung in noch weit größerem Ausmaß. Seine offizielle Position als Entwicklungsex perte erlaubte es ihm, seine Nase in nahezu alles und jedes hineinzustecken und sich dabei fotografieren zu lassen. Der einzige Widerstand, auf den seine Metho den stießen, kam von den Russen, die hinsichtlich der Art und Weise, wie die Publicity für die sowjetische Entwicklungshilfe gehandhabt werden sollte, ihre ei genen Vorstellungen hatten. Was sie von Dr. Hawa erwarteten, war geschmeidige Unterordnung, nicht fotogene Solodarbietung. Sie schwenkten ihre eigenen Blaupausen. Er nahm diese Niederlagen mit Anstand hin; er war ebenso anpassungsfähig wie einfallsreich. Im Rundfunk und später auch im Fernsehen kam er hervorragend an; er gab sich sehr einfach, sehr direkt, war ganz der apolitische Staatsbeamte, durchdrungen vom Neuen und doch nicht ohne Achtung vor dem Alten, bedacht einzig auf das Wohl des Volkes. So war denn niemand überrascht, als, zugleich mit der Bekanntmachung, daß das Referat für industrielle Entwicklung aufgewertet und zum Ministerium aus gebaut werden sollte, die Nachricht kam, daß das neugeschaffene Portefeuille Dr. Hawa angetragen und von diesem bereits angenommen worden sei. Daß er es fertigbrachte, so lange im Amt zu bleiben und selbst die Stürme der späten sechziger Jahre zu über dauern, war auf das Zusammentreffen verschiedener Umstände zurückzuführen. Als Anhängsel der mächtigeren Ministerien für Fi 93
nanzen und für Handel und Soziales selber politisch und finanziell minderbemittelt, kam Dr. Hawas Mini sterium als Operationsbasis von der Art, wie sie er grauten Dissidenten und Möchtegern-Umstürzlern vorschwebt, nicht in Frage. Es kontrollierte keine – bewaffneten oder unbewaffneten – Kräfte, die zu mo bilisieren waren, und verfügte über keinerlei Zugang zum inneren Kreis der Macht. Die Funktion seines Ministeriums hatte Dr. Hawa selber als die eines Ka talysators bezeichnet – eine Definition, für die er im Lauf der Zeit eine immer ausgeprägtere Vorliebe ent wickelte –, und das Image, das er sich selbst gab, war das des supertüchtigen Spezialisten, der seine Arbeit, auf die nur er sich versteht, unauffällig und gewissen haft verrichtet und für die Arbeit anderer keinen Blick übrig hat. Nicht ein einziges Mal unterfing er sich, als potentieller Führer gelten zu wollen. Dabei muß er sich zeitweilig dazu versucht gefühlt haben; eitle, ehr geizige und fähige Männer wie er bringen es in den seltensten Fällen über sich, ihren Aspirationen Gren zen zu setzen; aber er zählte zu den Ausnahmen. Da er für keinen, der ihn hätte vernichten können, eine Gefahr darstellte, hat er überlebt. Obwohl ich es lieber mit jemandem zu tun gehabt hätte, der bequemer und weniger alert war, hätte ich durchaus auch schlimmeren Zuchtmeistern als Dr. Hawa begegnen können. Vom ersten Augenblick sei ner Beförderung an war offenkundig, daß ihm das Ministeramt gut bekam. Er schien weniger zu rauchen und zeigte sich jetzt häufig gelöst und umgänglich. 94
Wenn wir Backgammon spielten und er ein, zwei Glä ser von meinem besten Brandy intus hatte, machte er gelegentlich schon einmal einen Scherz, der nicht ge hässig war. Natürlich konnte er noch immer sehr un angenehm werden. Als erstmals offenbar wurde, daß die Howell-Firmen in Übersee aus den uns vertraglich zugebilligten Alleinvertretungen nennenswerte Profite zu ziehen begannen, bekam ich sarkastische Bemer kungen und kaum verschleierte Drohungen zu hören. Selbstverständlich konnte ich anhand eindeutiger Zah len mühelos nachweisen, daß wir per saldo noch im mer tief im Minus steckten; aber sobald es um Zahlen ging, pflegte er schwierig zu werden. Seine waren stets unanfechtbar, akkurat und vollständig; die Zahlen, mit denen andere ihm kamen, entweder irrelevant oder manipuliert. Er hatte noch weitere Eigenheiten, die den Umgang mit ihm erschwerten. So mußte man beispielsweise mit der gesprächsweisen Erwähnung von Ideen für neue Projekte vorsichtig sein. Es war sehr gefährlich, mit ihm über ein mögliches Entwicklungsprojekt zu disku tieren, wenn man selber noch keine endgültige Klarheit darüber gewonnen hatte, ob man sich auf das betref fende Vorhaben einlassen sollte oder nicht. Wenn ihm eine neue Idee zusagte, griff er sie auf, und dann gab es kein Entrinnen mehr. Noch bevor man in das eigene Büro zurückgekehrt war, hatte das Ministerium schon eine Presseverlautbarung herausgegeben, die das neue Wunder ankündigte. Von da ab war man in die Pflicht genommen, ob es einem nun paßte oder nicht. 95
Genauso hatte übrigens die ganze elende Geschich te mit den Trockenbatterien angefangen. Sie ist mir von Dr. Hawa aufgezwungen worden. Mit dem elektronischen Projekt war es das gleiche gewesen. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen Dr. Hawas Ministerium und einer Handelsmission der ddr hatten wir eine Fabrik einzurichten, in der in Ostdeutschland gefertigte elektronische Schaltungen zusammengesetzt werden sollten. Wir produzierten verschiedenartige Telekommunikations-Ausrüstungen, darunter hochspezialisierte Geräte für die Armee so wie kleine Transistorradio- und Fernsehapparate. Zu meiner Entlastung wurde ein irakischer Manager ver pflichtet, der eine Spezialausbildung in der ddr erhal ten hatte und die Fabrik leiten sollte; aber von unse rem Standpunkt aus stimmte die Gesamtkonzeption nicht. Arbeitsintensiv, wie es war, konnte das Projekt ohnehin nicht rentabel sein; und die Heeresaufträge, von denen ich angenommen hatte, daß sie uns mögli cherweise etwas einbringen könnten, wurden auf einer Kostenbasis erteilt, die ruinös für uns war. Mit der Elektronik konnten wir bestenfalls auf plus minus Null kommen. Aber das Trockenbatterien-Projekt war viel schlim mer. Das kostete mich mehr als nur mein Geld; das wuchs sich zu einem Alptraum aus. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich behaupte nicht, an allem, was geschehen ist, sei Dr. Hawa schuld; ich hätte rascher und entschiedener reagieren sollen. Ich sage lediglich, daß ich, weit entfernt, das 96
Batterienprojekt schlau eingefädelt zu haben, wie das einige dieser Straßenkehrer, die sich Journalisten nen nen, durchblicken ließen, im Gegenteil alles versucht habe, um seinen Fortgang zu hintertreiben, und das nicht nur, bevor es anlief, sondern auch später noch. In Gang gesetzt wurde die Sache durch einen puren Zufall. Es war das Jahr nach dem Sechstagekrieg mit Israel. In allen Ländern müssen Regierungsstellen aller Ressorts Berge von bedrucktem Papier versenden; das liegt nun einmal in ihrem Wesen. Eine der Verlautba rungen, die das Ministerium für industrielle Entwick lung regelmäßig verschickte, war eine Liste von diver sem Schüttgut, das in regierungseigenen Speichern verwahrt und zum Verkauf freigegeben wurde. Für mich waren diese Listen normalerweise von geringem geschäftlichem Interesse, aber in Erinnerung an die alten Zeiten warf ich zuweilen einen Blick darauf, um zu sehen, was sie für Latakiatabak verlangten. So kam es, daß ich auf diesen ziemlich ausgefallenen Waren posten stieß. In einem latakischen Speicher lagerten sechzig Tonnen Mangandioxyd. Das brachte mich auf eine Idee. Obwohl das Kera mikwerk ausgezeichnet ging und beachtliche Produk tions- und Absatzsteigerungen erzielte, füllten sich unsere Lagerbestände, insbesondere die an Kacheln, um eine Spur rascher, als wir sie abzubauen vermoch ten. Ich hatte mich nach Möglichkeiten umgesehen, weitere Fertigungszweige auszubauen, um unsere Produktion ein wenig zu diversifizieren. Dieses be schlagnahmte Zeug im Lagerschuppen schien eine sol 97
che Möglichkeit zu eröffnen. Ich holte Auskünfte über seine Herkunft und Beschaffenheit ein. Ursprünglich, so war zu erfahren, hatte es zur ge mischten Ladung eines panamesischen Frachters ge hört, von dem es im türkischen Hafen Iskenderun übernommen worden war. Südlich von Banyas war Maschinenschaden aufgetreten, und ein Südweststurm hatte das Schiff unweit der Arab-el-Meulk-Leuchtboje auf eine Sandbank gesetzt. Schlepper aus Latakia hat ten es schließlich flottgemacht, aber das erst, nachdem zwecks Gewichtsverminderung ein Teil der Fracht, darunter auch das Mangandioxyd, umgeladen worden war. Später hatte es wegen der Bergungsansprüche der Schlepperkapitäne einen Disput gegeben, und der Frachter war unter Zurücklassung der beschlagnahm ten umgeladenen Fracht abgedampft. Das Mangandi oxyd war ohnedies nicht derart kostbar, es sei denn vielleicht für uns. Ich forderte Proben an. Hawas Spione waren überall. Wenige Stunden nachdem ich diesen Antrag gestellt hatte, rief mich sein Kanzleichef an und wollte wissen, warum ich mich für dieses Ma terial interessiere. Ich sagte, daß ich ihm das am Tele fon schwerlich erklären könne und es ohnehin keinen Sinn habe, auch nur den Versuch dazu zu machen, be vor ich nicht die Materialproben und die Ergebnisse der Run-Tests erhalten hatte. Er sagte, daß er die Re sultate dieser Tests abwarten werde. Eine Woche dar auf wurde ich zum Minister gerufen. Das überraschte mich nicht. Ich hatte längst herausgefunden, daß Dr. Hawa, war seine Neugier erst einmal geweckt, es nicht 98
über sich brachte, ihre Stillung einem Untergebenen zu überlassen. Die Aufforderung kam jedoch, als ich gerade in Alexandria war, um dort einige unserer ägyptischen Schwierigkeiten auszubügeln. Teresa sag te dem Kanzleichef natürlich, wo ich mich zur Zeit aufhielt, und sie vereinbarten einen neuen Termin für meine Zusammenkunft mit Dr. Hawa, die noch am Tag meiner Rückkehr stattfinden sollte. Auf die von Dr. Hawa verfügte Sonderbehandlung jedoch, die mir auf dem Flugplatz zuteil wurde, war ich in keiner Weise gefaßt gewesen. Es geschah zum erstenmal, daß ich in den Genuß dieser Ehre gelangte, und es jagte mir einen gehörigen Schrecken ein. Niemand konnte oder wollte mir sagen, was das Ganze zu bedeuten hatte, und so nahm ich schließlich an, daß ich unter Arrest stand. Erst als ich in der vollklimatisierten Li mousine saß, die mich ins Ministerium brachte, be gann ich ärgerlich zu werden. Ich glaubte, daß dies Dr. Hawas spezielle Art sei, sich dafür, daß ich nicht sofort greifbar gewesen war, zu revanchieren und mir für den Fall, daß ich es vergessen haben sollte, ins Gedächtnis zu rufen, daß er mein Kommen und Ge hen überwachen lassen konnte, wann immer es ihm paßte. Er war ungemein liebenswürdig, als ich sein Ar beitszimmer betrat. »Ah, Michael, da sind Sie ja. Und wohlbehalten, ge sund und munter, wie ich sehe.« Er bedeutete mir, in einem Sessel Platz zu nehmen. »Danke, Herr Minister.« Ich setzte mich. »Ich bin 99
Ihnen für den Empfang am Flughafen sehr dankbar. Er war unerwartet, aber willkommen.« »Wir bemühen uns, unsere Freunde zu beschüt zen.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Sicher werden Sie in Alexandria schon von unseren neuesten Schwie rigkeiten gehört haben. Nein? Nun ja, es ist erst ge stern nacht passiert. Eine Verkehrsmaschine, eine eu ropäische, wurde auf dem Flughafen durch Bomben zerstört. Von israelischen Saboteuren natürlich.« »Natürlich.« Das war die rituelle Formel, mit der Bombenan schläge und andere terroristische Akte, die damals von örtlichen palästinensischen Guerillas verübt wurden, kommentiert zu werden pflegten. Zumeist handelte es sich um Splittergruppen mit marxistischem und maoi stischem Einschlag, die sich, sofern sie nicht gerade die jordanischen und libanesischen Behörden jenseits der Grenze, deren Kooperationsbereitschaft zu wün schen übrig ließ, durch entsprechende Aktionen unter Druck zu setzen versuchten, auf Provokationen spe zialisierten, die den Israelis in die Schuhe geschoben werden konnten. Darüber hinaus dienten Aktionen dieser Art dazu, diejenigen ihrer syrischen »Brüder«, die es insgeheim nach Frieden gelüstete, nicht im un klaren darüber zu lassen, daß sie sich einen so schmählichen Gedanken besser aus dem Kopf schlu gen. »Hat man sie gefaßt?« fragte ich. »Leider nicht. Es wurden Zeitbomben verwendet. Unsere Sicherheitsbehörden scheinen aus diesen Vor 100
fällen noch immer nicht die richtigen Lehren gezogen zu haben.« Und natürlich würden sie das niemals tun. Mao zu folge soll sich der Einzelkämpfer im freundlichen Meer des Volkes wie ein Fisch im Wasser bewegen. Und wenn sich dieses Meer in Syrien auch als nicht gar so freundlich erwies, so waren ausgesprochen feindliche Strömungen doch selten. Soweit die Sicher heitsbehörden die Guerillas nicht aktiv unterstützten, praktizierten sie eine Taktik des Nicht-zur-KenntnisNehmens. Die magischen Aufkleber ›Palästina‹ und ›Palästinenser‹ konnten aus dem brutalsten Killer ei nen heroischen jungen Freiheitskämpfer machen, und solange er nicht allzu offensichtlich über die Stränge schlug, hatte er nichts zu befürchten. Das wußte Dr. Hawa so gut wie ich selber. Im übrigen dachte kein Guerilla daran, eine Maschine der Middle East Airli nes – auch nicht zum Zweck der Provokation – in die Luft zu sprengen. Ich glaubte noch immer, er operiere mit der Angst vor Bombenanschlägen, um mir eins auszuwischen. Der Kaffee wurde gebracht. »Aber wenn man nicht die Verantwortung hat, ist es leicht, kritisch zu sein. Wir müssen Geduld haben. Inzwischen, das sagte ich Ihnen bereits, treffen wir Sicherheitsvorkehrungen, um unsere Freunde zu schützen – besonders diejeni gen Freunde, die uns dabei helfen, Syrien eine Zu kunft aufzubauen.« Er lächelte mir spöttisch zu. »Hätten Sie Lust, die Leitung eines Reifenerneue rungswerks zu übernehmen, Michael?« 101
»Danke, nein, Herr Minister.« Ich lächelte gleich falls. Er hatte versucht, mir eins auszuwischen. Diese Reifengeschichte war ein ziemlich mieser Standardwitz. Die Reifenerneuerungs-Produktionsko operative war die Idee eines Armeniers gewesen, der sein Geld mit kandierten Früchten gemacht hatte, und ein völliges Desaster geworden. Mindestens fünfzig Prozent der erneuerten Reifen hatten sich als defekt erwiesen, und das in einigen Fällen in fataler Weise. Ein Unfall, bei dem drei Fahrgäste eines Überlandbus ses ums Leben kamen, war durch das Platzen eines dieser erneuerten Reifen verursacht worden. Hawa hatte Schwierigkeiten gehabt, die Geschichte zu vertu schen, und suchte noch immer nach einem rettenden Ausweg aus dem Chaos. Obwohl er längst genau wußte, daß ich nicht die Absicht hatte, ihm einen sol chen Ausweg zu eröffnen, richtete er in regelmäßigen Abständen immer wieder diese Frage an mich. Das war seine Art, zu erkennen zu geben, daß er mir mei ne Weigerung, ihm diesen Gefallen zu erweisen, zwar nicht notwendigerweise nachtragen, sie andererseits aber auch keineswegs gänzlich vergessen würde. »Dann lassen Sie uns jetzt von diesem Mangandi oxyd reden.« Er schmunzelte. »Ich muß gestehen, daß mich Ihr Interesse für dieses Zeug einigermaßen ver blüfft hat. Ich weiß, daß Sie die absonderlichsten Chemikalien bestellen, um Ihre farbigen Glasuren zu erzeugen, aber dies war offenkundig ganz ungewöhn lich. Sechzig Tonnen?« »Ich brauche es nicht für eine Glasur, Herr Mi 102
nister. Ich hatte vor, es zur Herstellung von Salmiak elementen zu verwenden.« »Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden.« »Das Salmiakelement, auch Leclanché-Element ge nannt, ist ein Primärelement, eine ziemlich primitive Quelle elektrischer Energie. Es ist weitgehend von der Trockenbatterie verdrängt worden, obschon beide nach demselben Prinzip funktionieren. Das Salmiak element ist keine Trockenbatterie und daher etwas unhandlich, aber durchaus brauchbar.« »Wofür beispielsweise?« »Für vieles, was die Trockenbatterie leistet – es kann Hausglocken und Klingelleitungen, mittels Knopfdruck funktionierende Türöffner und Hauste lephonanlagen etc. mit Strom versorgen. Es hat den Vorzug langer Lebensdauer und geringer Anschaf fungskosten.« Er nickte nachdenklich; in seinem Blick lag etwas Entrücktes. »Eine primäre Quelle elektrischer Ener gie«, sagte er genießerisch. Aus seinem Mund klang das, als handele es sich um den Assuan-Staudamm. Seine Gabe, eine nüchterne Erklärung auf der Stelle zu einem irreführenden Public-Relations-Brei zu verrüh ren, war bemerkenswert. »Ausschlaggebend daran ist«, sagte ich, »daß es da bei um eine ganz einfache Sache geht. Die Kathoden bestehen aus einem porösen Keramiktopf, den wir leicht herstellen können. Er wird um eine Kohleelek trode herum mit Mangandioxyd gefüllt. Die Anode ist ein Zinkstab. Beides wird in einem Behälter unterge 103
bracht, der gewöhnlich aus Glas besteht, aber wir könnten ihn auch aus glasiertem Steingut herstellen. Das Elektrolyt ist eine Lösung aus Ammoniakchlorid, das ganz wenig kostet, und einfachem Leitungswasser. Das Zink müßten wir von auswärts beziehen, aber al les andere könnten wir selber beschaffen – vorausge setzt, dieses Mangandioxyd ist einwandfrei.« »Was sollte daran nicht in Ordnung sein?« »Es könnte zum Beispiel mit Salzwasser kontami niert sein. Deswegen habe ich Proben angefordert.« Er öffnete eine Schublade seines Arbeitstisches und holte ein kleines Gefäß heraus. »In Ihrer Abwesen heit«, sagte er, »habe ich ebenfalls Proben verlangt und Tests machen lassen. Man hat mir gesagt, daß es sich um das gebräuchliche pulverisierte Braunsteinerz – vermutlich aus dem Kaukasus – handelt und nur die üblichen minimalen Verunreinigungen aufweist. Wie viele Batterien könnten Sie aus sechzig Tonnen von diesem Braunstein herstellen?« »Wahrscheinlich weit mehr, als wir jemals davon absetzen werden. Zehntausende.« »Aber hier im Land könnten wir die Nachfrage wecken?« »Wenn wir die Einfuhr von Trockenbatterien be stimmter Größen drosseln, ja.« »Sie sagten, das Prinzip dieser Batterie sei das glei che wie bei der Trockenbatterie. Warum können wir nicht selber Trockenbatterien herstellen?« »Diese Frage läßt sich nicht aus dem Stegreif be antworten, Herr Minister«, entgegnete ich. »Trocken 104
batterien werden heute zu Millionen in Japan, Ameri ka und Europa hergestellt. Ich kann mich selbstver ständlich über die Marktlage informieren. Aber die Batterie, von der ich rede, läßt sich im Keramikwerk herstellen. Wir würden einen zusätzlichen Schuppen oder auch zwei und ein paar Männer brauchen, die unter entsprechender Anleitung die anfallenden Ar beiten verrichten können, aber das ist auch alles. Kein nennenswerter Kapitalaufwand, und wir produzieren einen nützlichen Artikel mit Hilfe unserer eigenen Ressourcen.« »Trockenbatterien sind etikettiert. Könnten wir diese Batterien mit Aufklebern versehen?« »Ja, das könnten wir.« Daß Etiketts, die auf glasier te Töpfe geklebt werden, sich rasch lösen, erwähnte ich nicht, weil ich wußte, daß ihm das die Laune ver derben würde. Von den Produkten, die wir herstell ten, trugen nur die wenigsten Werbung irgendwelcher Art. Für einen Mann mit einer so ausgeprägten Vor liebe für Publicity mußte das ungemein frustrierend gewesen sein. »Den Aufkleber stelle ich mir in leuch tenden Farben vor«, sagte er. »Und wir sollten uns ei nen Markennamen einfallen lassen. Ich werde darüber nachdenken.« Der Markenname, für den er sich schließlich ent schied, lautete: ›Cercle Vert‹. Im Lauf der nächsten zwei Jahre produzierten wir
mehr als zwanzigtausend Primärelemente, die das
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›Cercle Vert‹-Etikett trugen, und schafften es, sie zum Großteil mit anständigem Gewinn zu verkaufen. Im Jemen und in Somaliland fanden sie besonders regen Absatz. Als Nebenproduktionszweig des Keramik werks hatten sie sich hervorragend bewährt. Wenn ich mich damit hätte zufriedengeben können, wäre alles gut gewesen. Leider war Dr. Hawa zu je nem Zeitpunkt an Nebenproduktionszweigen, wie nützlich sie auch immer sein mochten, nicht länger in teressiert. Für ihn kamen jetzt nur noch Projekte ehr geizigerer Art in Frage, mit denen sich die monatli chen Berichte garnieren ließen, die sein Ministerium herausgab – Berichte, die darauf abzielten, eine stetige Beschleunigung des Entwicklungstempos nachzuwei sen und kritische Stimmen, die laut zu werden began nen, mundtot zu machen. Die Wahrheit war, daß er allzu vielen Leuten allzuviel versprochen hatte und dafür jetzt die Rechnung präsentiert bekam. Dr. Ha wa war ins Schleudern geraten. Was die Realisierbarkeit des Trockenbatterienpro jekts betraf, so hat er mich in dieser Frage nie auch nur zu Rate gezogen. Er beauftragte einen seiner Günstlinge, eiligst ein paar Untersuchungen über die einschlägigen Herstellungsverfahren anzustellen. Der Günstling, der schwerlich viel mehr getan haben kann, als ein veraltetes Textbuch flüchtig durchzusehen, meldete seinem Minister, die Sache sei zu machen. Das genügte Dr. Hawa. Am nächsten Morgen ver kündete er die ›Inangriffnahme‹ des Projekts, und am Nachmittag des gleichen Tages übertrug er es mir. Er 106
fragte mich nicht, ob ich es übernehmen wolle; die Zeiten waren vorbei. Ich wurde auf das Projekt ange setzt, und wenn es mir nicht paßte – nun, eine private Firma, die bei der Regierung unter Kontrakt stand, war immer verwundbar, es sei denn, sie genoß den Schutz einflußreicher Freunde. So hatte zum Beispiel das Finanzministerium wiederholt auf Widerruf jener Exklusivrechte gedrungen, die unserer Firma vor so langer Zeit eingeräumt worden waren. Bislang hatte Dr. Hawa diesem Druck widerstanden und die Inter essen der Firma geschützt; aber ein solcher Schutz will verdient sein. Ich konnte mich nicht einmal darauf berufen, daß die Informationen, auf denen seine Entscheidung ba sierte, falsch seien. Die Fertigung von Trockenbatteri en kann eine ganz einfache Angelegenheit sein; aber nur, wenn man bereit ist, sich mit Herstellungsverfah ren, wie sie vor einem halben Jahrhundert verwendet wurden, zufriedenzugeben – und natürlich auch mit der Art Batterie, die auf diese Weise produziert wird, sowie den Kosten, die damit verbunden sind. Ich ver suchte, ihm das klarzumachen, aber er wollte davon nichts hören. »Mit den Schwierigkeiten fertig zu werden«, erklär te er gänzlich idiotisch, »ist Ihre Aufgabe. Ich kenne Sie gut genug, Michael, um sicher zu sein, daß Sie sie meistern werden.« Es ist leicht, jetzt im nachhinein zu sagen, ich hätte besser daran getan, mich auf der Stelle zu weigern und die finanziellen Konsequenzen in Kauf zu nehmen. 107
Wie meine Mutter betonte, belief sich unser Reinge winn aus dem syrischen Exportgeschäft inzwischen auf mehr als siebzig Prozent der ursprünglich blok kierten Gelder. Das war ihrer Meinung nach ein bes seres Ergebnis, als es irgend jemand für möglich gehalten hatte. Keiner der Anteilseigner hätte es mir verargen können, wenn ich zu diesem Zeitpunkt zu dem Entschluß gekommen wäre, unsere verbleiben den Verluste abzuschreiben und auszusteigen; sie wa ren nur allzu dankbar für das, was bis dahin hatte er reicht werden können. Natürlich gab es auch weniger erfreuliche Dinge, die sie mir sagen zu müssen glaubte. Sie ging sogar so weit, anzudeuten, der wahre Grund, weshalb ich mich auf das Trockenbatterien-Projekt eingelassen habe, sei nicht in meinem Zögern zu suchen, ein paar einträgli che Nebenzweige aufzugeben, sondern in meiner Weigerung, das zu beenden, was sie »diese cinq-à sept-Affäre mit Teresa« nannte. Das war schlechthin absurd, und nur die scharfzün gige Mutter meiner Kinder konnte meiner Mutter eine so unsinnige Idee eingeredet haben. Die Wahrheit ist – und Teresa kann das bezeugen, denn ich habe das ganze Problem an ebenjenem Abend mit ihr durchge sprochen (übrigens nicht zwischen cinq und sept, da das bei mir Bürostunden sind) –, die Wahrheit ist, daß ich zu jenem Zeitpunkt ernsthaft erwog, auszusteigen. Ich habe es nicht getan, einmal, weil es das Nahelie gendste und Leichteste gewesen wäre, und zum ande ren, weil ich einen Weg zu sehen glaubte, auf dem ich 108
die kritische Situation umgehen konnte. Dieser Weg – der einzig mögliche, wie mir schien – bestand darin, alle Anstalten zum Aufziehen einer TrockenbatterienPilotoperation zu treffen, die dann Dr. Hawa das Un sinnige des von ihm forcierten Projekts eindringlich vor Augen führen würde. Bis für ihn dann der Au genblick käme, sich geschlagen zu geben, wäre bereits ein Alternativprojekt von mir vorbereitet worden, das ihn in den Stand versetzte, das Gesicht zu wahren. Ich bin nach wie vor überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Woher hätte ich von der Existenz Issas und seiner Freunde wissen sollen? Wenn ich sagte, daß wir alle Anstalten zum Aufzie hen des Pilotprojekts getroffen hätten, so meinte ich damit keineswegs, es habe etwa nicht die Absicht be standen, unser Bestes zu tun. Schließlich war das Geld, das für Pilotprojekte aufgewendet wurde, alle mal Firmengeld. Ich erwartete einen Fehlschlag, das allerdings; aber einen Fehlschlag kommerzieller Na tur, wie er normalerweise nicht ausbleiben kann, wenn man ein technisch längst überholtes Produkt auf ei nem wettbewerbsintensiven Markt zu einem alles an dere als wettbewerbsgerechten Preis anbietet. Worauf ich nicht gefaßt war und womit ich mich nicht abzu finden vermochte, das war die Demütigung, für die Herstellung eines Produkts verantwortlich zu zeich nen, das nicht nur veraltet war, sondern auch von hoffnungslos minderwertiger Qualität, und das nach jedem Maßstab, den man anlegen mochte, sei es der heutige oder der von vorgestern. Selbst auf dem abso 109
luten Tiefstand ihrer Leistungen hatten die Reifener neuerungspfuscher es immerhin noch geschafft, fünf zig Prozent ihrer Produktion fehlerfrei zu fertigen. Bei der ersten Partie Batterien, die wir produzierten, lag die Erfolgsquote bei zwanzig Prozent. Wenn wir mit unserem Erzeugnis auch niemanden umbrachten, wie es die Reifenerneuerungsleute mit ihrem Fabrikat geschafft hatten, so richteten wir doch beträchtlichen Schaden an. Das Vertrackte an Trockenbatterien ist der Um stand, daß sie, mit Ausnahme ihrer Außenseite, ei gentlich gar nicht trocken sind. Innen sind sie feucht, und diese Feuchtigkeit, das Elektrolyt, ist stark ät zend. Aus einer Vielzahl von Gründen, zu denen vor allem meine Sorglosigkeit und mangelnde Erfahrung gehörten, neigten unsere Batterien dazu, undicht zu werden, sobald sie benutzt wurden, und waren sehr rasch verbraucht. Das Leck war das gravierendste Übel. Schon eine einzige undichte Batterie kann ein Transistor-Radiogerät ruinieren. Von den einheimi schen Radiohändlern wurde das Etikett mit dem grü nen Kreis und das Produkt, auf das es geklebt war, bald mit einem Bannfluch belegt. Es war häufig Ge genstand erbosten Hohngelächters und lautstark vor gebrachter Beschwerden. Es mußte etwas unternommen werden, und zwar schnell. Der Ruf des Namens Howell stand auf dem Spiel, und mein Selbstvertrauen hatte gelitten. Nach einer überaus unerfreulichen Unterredung mit Dr. Hawa erhielt ich seine Zustimmung zur Rücknahme 110
aller unverkauften Lagerbestände der Händler. Ich stoppte auch die Fertigung und holte die Materialgü tekontrollen nach, die ich vor dem Anlaufen der Pro duktion vernachlässigt hatte. Diese Überprüfung be traf vor allem die Zinkbehälter. Sie wurden auf Scha blonen geformt und waren nahtgeschweißt. Selbstver ständlich verursachte fehlerhaftes Schweißen Lecks, aber das eigentliche Problem bildeten chemische Ver unreinigungen. So waren beispielsweise Zinküberzü ge, deren Qualität zu Dachdeckereizwecken ausrei chen mochte, deswegen noch nicht ohne weiteres zur Verwendung in der Batterieherstellung geeignet. Schon in sehr kleinen Mengen erzeugten bestimmte Verunreinigungen chemische Reaktionen, sobald sie mit dem Elektrolyt in Berührung kamen. Die Folge war, daß das Zink durchlässig wurde. Ebenso verhielt es sich mit dem Lötmetall, das auf den Nähten ver wendet wurde. In Zukunft würden alle Materialien chemisch überprüft werden müssen, bevor wir sie dem Lieferanten abnahmen. Ich arbeitete eine Reihe von Standardtestverfahren für jedes Material aus. Als nächstes mußte ich jeman den finden, der die Tests durchführte. Wie nicht an ders zu erwarten, waren gelernte Fachkräfte kaum aufzutreiben. Ich wußte, daß ich keinen qualifizierten Chemiker bekommen würde; tatsächlich brauchte ich auch gar keinen. Die für die Vorarbeiten erforderli chen chemischen Elementarkenntnisse hatte ich mir bereits angeeignet, und das Testen selbst war reine Routinearbeit; aber ich brauchte jemanden, der über 111
eine ausreichende Laborpraxis verfügte, um die Rou tineverfahren unter strikter Befolgung meiner Vor schriften gewissenhaft ausführen zu können. So kam ich dazu, Issa einzustellen. Er war Jordanier, Flüchtling aus dem Gebiet westlich des Jordans, und nach dem Krieg mit seiner Familie nach dem Norden gegangen, zunächst in das unwraLager in Der’a und später zu Verwandten in Qatana. Er war Mitte Zwanzig und hatte das moslemitische College in Amman, wo ihm eine gewisse Schulung auf dem Gebiet der anorganischen Chemie zuteil gewor den war, vorzeitig verlassen. Ausschlaggebend war für mich, daß er in seinem zweiten College-Jahr halbtags als Laborassistent gearbeitet hatte. Ich fand ihn durch die Vermittlung einer Unterab teilung des Ministeriums, die ein technisches Ausbil dungsprogramm aufstellte oder aufzustellen versuch te. Issa hatte sich dort als graduierten Chemiker aus gegeben und um eine Anstellung als Instrukteur be worben. Da er keinerlei Unterlagen beibringen konnte, um seine angebliche wissenschaftliche Quali fikation nachzuweisen – er behauptete, sie seien verlo rengegangen, als er mit seiner Familie vor den Israelis floh –, setzte sich das Ministerium zwecks Rückfrage vorsichtshalber mit Amman in Verbindung. Als die Wahrheit herauskam, verwies es ihn an mich. Der erste Eindruck, den man von ihm erhielt, war der eines ziemlich leidenschaftlichen jungen Mannes, der sich selber überaus ernst nahm und viel persönli 112
che Würde hatte. Später stellte ich fest, daß er über ei ne rasche Auffassungsgabe verfügte, intelligent war und hart arbeitete. Die Tatsache, daß er, was seine an geblichen Wissenschaftlichen Qualifikationen betraf, gelogen hatte, hätte mich eigentlich gegen ihn ein nehmen oder doch zumindest skeptisch machen sol len. Aber sie bewirkte weder das eine noch das andere. Er war schließlich ein Flüchtling; das mußte man in Rechnung stellen. Wenn er in seinem Eifer, voranzu kommen und seine Intelligenz möglichst teuer zu ver kaufen, zu weit gegangen war, nun, so konnte man ihm das nachsehen. Die Lüge hatte niemandem ir gendeinen Schaden zugefügt. Als wir die Produktion wieder anlaufen ließen, gab ich ihm eine kleine Gehaltserhöhung und machte ihn verantwortlich sowohl für die Bestellungen als auch für die laufende Überprüfung der für das Batterien projekt bestimmten Rohmateriallieferungen. Damals schien mir das eine vernünftige Entscheidung zu sein. Bis zu jenem Nachmittag war mir die Möglichkeit, daß der gewissenhafte, fleißige Issa noch andere, we niger erfreuliche Charaktereigenschaften besitzen könnte, nie in den Sinn gekommen. Und wie schon erwähnt, hatte ich selbst besagtes erstes Warnzeichen – Teresas Bericht über die Alkohollieferungen – nicht wirklich registriert. Natürlich war mir der Schluß, den ich sogleich dar aus zog – daß nämlich Issa auf meine Kosten privatim eine offenbar umsatzstarke illegale Schnapsbrennerei betrieb –, alles andere als willkommen; aber bevor ich 113
ihn nicht zur Rede gestellt hatte, konnte ich nichts un ternehmen. Möglicherweise hatte er für alles eine durchaus glaubwürdige und harmlose Erklärung vor zubringen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie sie lauten sollte, aber so lange konnte und würde die Sache Aufschub dulden müssen. Als ich an jenem Nachmittag ins Ministerium fuhr, hatte ich über erfreulichere Dinge nachzudenken; denn dies war ein Augenblick, auf den ich seit Mona ten gewartet hatte. Es war der Augenblick, wo Dr. Hawa seine Karten würde auf den Tisch legen müs sen. Und wenn ich meine richtig ausspielte, würde das Batterienprojekt bald nur noch eine unerfreuliche Er innerung sein. Bevor ich nach Italien gereist war, hatte ich mit einer Darlegung der Finanzlage des Trocken batterien-Projekts vorsorglich den Boden bereitet. Diesem zutiefst deprimierenden Dokument hatte ich jedoch ein aufmunterndes kurzes Begleitschreiben des Inhalts beigefügt, daß ich hoffte, ihm bei meiner Rückkehr konkrete Vorschläge unterbreiten zu kön nen, wie die verfahrene Situation gerettet werden könne. Da die Lage offensichtlich katastrophal war, glaubte ich, daß ihn diese Ankündigung guter Neuigkeiten etwas milder stimmen würde. Dem Ertrinkenden ist es ziemlich gleichgültig, ob es sich bei der Rettungs leine, die man ihm zuwirft, um das erwartete Tau aus Hanf handelt oder um eines aus Nylon. Wenn es auch eine krasse Übertreibung wäre, Dr. Hawas seinerzei tige politische Schwierigkeiten mit denen eines Er 114
trinkenden zu vergleichen, so war ihm der Atem doch zweifellos kürzer geworden, und zusätzliche Trag kraft mußte ihm hochwillkommen sein. Die ersten Worte, die er an mich richtete, nachdem der Kaffee gebracht worden war, ließen nur den Schluß zu, daß ich den Aufweichungsprozeß überzo gen hatte. »Michael, Sie haben mich im Stich gelassen«, sagte er mit Trauermiene. So ging es nicht. In dieser mitleidheischenden Stimmung, die ich von einer oder zwei früheren Gele genheiten her kannte, würde er ibm-Aktien nicht ein mal zum Nennwert gekauft haben. Ich hätte ihn mir in der kampferprobten Haltung des gestandenen prKriegers gewünscht, blitzenden Auges nach Blößen des Gegners ausspähend. Ich unternahm die erforder lichen Schritte. »Herr Minister, wir haben ein paar Fehler gemacht, die wir berichtigen können, das ist alles.« »Aber diese Zahlen, die Sie mir da zugeschickt ha ben!« Er hatte sie, von Zigarettenasche bestäubt, vor sich auf dem Tisch liegen. »Die Todesanzeige eines gescheiterten Experiments, das jetzt begraben und vergessen werden kann.« »Vergessen?« Das hatte seine Wirkung nicht ver fehlt. »Vergessen von wem, wenn ich fragen darf? Von der Öffentlichkeit? Von der Presse?« »Nur von Ihnen und mir, Herr Minister. Für die Öffentlichkeit und die Presse gibt es da gar nichts zu vergessen. Das Batterienprojekt läuft weiter.« 115
»Auf der Basis dieser Zahlen? Glauben Sie im Ernst, das Finanzministerium bewilligt Gelder für das Pro jekt, wenn diese miserable Bilanz alles ist, was wir vorweisen können?« »Natürlich nicht. Aber wenn Sie sich noch an unse re allererste Unterhaltung über das Thema Trocken batterien erinnern können, werden Sie mir zugeben, Herr Minister, daß die Durchführbarkeit des Projekts immer zweifelhaft war. Was ich vorhabe, ist nichts weiter als die Berichtigung eines anfänglichen Feh lers.« »Welches Fehlers? Es sind so viele gemacht wor den.« »Des Fehlers, Primärelemente fertigen zu wollen. Wir hätten Sekundärelemente fertigen sollen.« »Wovon reden Sie? Kommen Sie bitte zur Sache, Michael. Batterien sind Batterien.« »Mit Verlaub, Herr Minister, aber genau das ist es ja, worum es sich bei der ganzen Sache dreht. Sekun därelemente sind wiederaufladbare Sammelbatterien von der Art, wie sie in Autos und Bussen Verwen dung finden.« »Aber –« »Bitte erlauben Sie mir, es Ihnen zu erklären, Herr Minister. Ich schlage vor, daß wir das Batterienprojekt weiterhin vorantreiben, aber die Produktion von Trockenbatterien auslaufen lassen und zur Fertigung von Sammelbatterien übergehen.« »Aber das sind doch zwei gänzlich verschiedene Dinge!« 116
»Das sind sie allerdings, aber Batterien werden bei de genannt. Das ist der springende Punkt, auf den es ankommt. Wir sollten das angekündigte BatterienProjekt keinesfalls aufgeben, sondern es lediglich in eine Richtung lenken, die einträglicher zu sein ver spricht. Was nun diese Umstellung betrifft, so habe ich in Mailand Vorverhandlungen mit einer dortigen Firma geführt, die Automobilzubehör herstellt. Die Italiener sind bereit, uns erfahrene Techniker zu schicken, die unsere eigenen Leute ausbilden und uns dabei helfen wollen, eine effiziente Fabrik hier in un serem Land einzurichten, in der Sammelbatterien ge fertigt werden können.« »Aber das erfordert ein neues Pilotprojekt.« »Nein, Herr Minister, diesmal nicht. Man kann die se Artikel nicht auf Basis einer limitierten Pilotpro duktion fertigen. Das ist einer der Gründe für unseren derzeitigen Mißerfolg. Hier würde es sich von Anfang an um eine Produktion in vollem Umfang handeln. Das setzt eine Vereinbarung auf der Grundlage des geteilten Risikos zwischen der italienischen Firma und Ihrer Dienststelle voraus.« »Aber warum sollten die Italiener sich darauf ein lassen? Warum sollten sie uns helfen wollen? Was springt denn für sie dabei heraus?« Ich wußte, jetzt hatte ich ihn. »Sie haben gegenwärtig im Mittleren Osten keine Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte. Die West deutschen und die Engländer beherrschen den Markt weitgehend. Die Italiener suchten nach einem Ausweg 117
und kamen zu mir.« Das stimmte nicht ganz; ich mei nerseits hatte mich an sie gewandt; aber andersherum klang es besser. »Ich riet ihnen, hier zu produzieren und den Vorteil der niedrigeren Arbeitslöhne und günstigen var-Tarife wahrzunehmen.« »Aber dann wäre es ihr eigenes Produkt, das sie selber herstellen und verkaufen würden.« »Sie sind bereit, es hier unter unserem Cercle VertWarenzeichen herauszubringen.« Das gab den Ausschlag; aber natürlich strich er nicht sogleich die Flagge. Es galt erst noch, Zweifel am Wert der Fabrik für die syrische Wirtschaft auszuräumen. Die übliche Klage wurde angestimmt, daß alle Rohma terialien würden eingeführt werden müssen und daß Geld und die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte wie eh und je alles sei, was dem armen Syrien abverlangt werde. Ich antwortete mit einer Gegenfrage. »Herr Minister, wann wird die neue Kunststoffa brik, die uns versprochen wurde, ihre Produktion aufnehmen?« Die geplante Fabrik sollte ein Geschenk Rußlands an Syrien darstellen und von der ddr errichtet wer den; von Rechts wegen durfte ich gar nichts davon wissen. Meine Indiskretion brachte ihn vorüberge hend aus dem Konzept. »Warum fragen Sie?« »Die Batteriegehäuse könnten dort hergestellt wer den.« »Haben Sie für dieses Projekt schon einen Plan zu Papier gebracht? Zahlen, Kostenvoranschläge?« 118
Ich öffnete meinen Aktenkoffer und überreichte ihm die gebundene Präsentation, die ich mit den Leu ten in Mailand ausgearbeitet hatte. Es war ein ganz beachtlicher Wälzer, und ich konnte Dr. Hawa anse hen, daß ihn dessen Umfang und Gewicht nicht unbe eindruckt ließen. Er blätterte flüchtig darin herum, bevor er zu mir aufsah. »Was das Auslaufen unserer gegenwärtigen Pro duktion betrifft« sagte er nachdenklich, »falls das de finitiv beschlossen werden sollte, muß die Kontinuität unter allen Umständen gewahrt bleiben, Michael. Wenn wir diesen revidierten Cercle-Vert-Plan befol gen, darf es keine abrupten Änderungen und keine Entlassungen geben. Die beiden Projekte müßten sich zeitlich überlagern.« »Ich verstehe, Herr Minister.« Er wollte damit sa gen, daß der Presse oder dem Rundfunk keine Gele genheit gegeben werden dürfe, die Story aufzugreifen, bevor wir die Risse nicht vergipst hatten. »Dann will ich mir diese Vorschläge zunächst ein mal näher ansehen, und danach werden wir beide uns noch einmal ausführlich darüber zu unterhalten ha ben. Inzwischen muß die ganze Angelegenheit ver traulich behandelt werden. Es darf keine vorzeitigen Verlautbarungen geben.« »Nein, selbstverständlich nicht.« Es war zwar völ lig in Ordnung, die Agence Howell durch Druckmit tel dazu zu zwingen, ihr Geld auf ein unausgegorenes Projekt zu verschwenden, mit dem man sich bereits vor der Presse gebrüstet hatte; aber den Abschluß ei 119
nes beachtenswerten Abkommens auf der Basis ge teilter Risiken zwischen einer italienischen Firma und seiner Dienststelle bekanntzugeben, ohne es zuvor mit dem Handels- und dem Finanzministerium im einzelnen abzuklären, hieße Ärger und Unannehm lichkeiten aller Art vorsätzlich heraufbeschwören. Ich war mir jedoch ziemlich sicher, daß er grünes Licht für das Projekt erhalten würde, und konnte nur noch hoffen, daß er es möglichst bald erhielt. Je eher ich das Trockenbatterien-Fiasko beenden konnte, desto besser. Dennoch war ich mit dem Verlauf, den die Dinge genommen hatte, vollauf zufrieden. In die Villa zu rückgekehrt, berichtete ich Teresa eingehend über das Meeting, und zur Feier des Tages tranken wir eine Flasche Champagner. Erst nach dem Abendessen, als wir schon im Bett lagen, fiel mir Issa wieder ein. Wir hatten uns eine Fla sche Brandy ins Schlafzimmer mitgenommen, und als ich Teresa ein Glas einschenkte, brachte mir die Tat sache, daß es Alkohol war, Issas Order in Erinnerung. »Ich habe es schon einmal auszurechnen versucht«, sagte ich. »Zehn rottols Alkohol ergeben wieviel Li ter?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was Alko hol wiegt. Über fünfzig Liter, nehme ich an. Kann man das Zeug trinken?« »Reinen Alkohol? Um Himmels willen, nein, das würdest du nicht überleben. Was sich jedoch machen ließe, wenn man fünfzig Liter davon hat, das wäre, ihn 120
mit hundertfünfundzwanzig Liter Wasser zu verdün nen und mit etwas gebranntem Zucker zu versetzen, um dem Zeug Aroma zu geben. Dann hätte man mehr als zweihundert Flaschen vierzigprozentigen Whisky. Oder doch so etwas wie eine Art Whisky.« Ich brauchte ihr nicht erst zu erzählen, welcher Preis damit im Schwarzhandel zu erzielen wäre; eben dort deckten wir selber unseren Eigenbedarf an Alko holika. Sie überlegte einen Augenblick lang. »Weißt du, Michael«, sagte sie dann, »Alkohol ist nicht das einzi ge teure Zeug, das Issa bestellt hat. Ich habe es dir nur gesagt, weil wir Zoll dafür zahlen mußten.« »Was sonst noch? Goldstaub?« »Quecksilber. Er hat mehrfach Quecksilber be stellt.« »Quecksilber?« »Vier Bestellungen, jede auf ein oke. Ich habe ihn gefragt, was es damit auf sich hat, weil zwei davon als dringend bezeichnet waren und wir höhere Zustellge bühren zu zahlen hatten.« »Was hat er gesagt?« »Daß er mit galvanischen Quecksilberelementen experimentiert. Er sagte, die Amerikaner stellten da von schon eine Menge solcher Batterien her. Sie haben eine extra lange Lebensdauer.« Sie sah mich von der Seite her an. »Ich dachte, du wüßtest davon.« »Hat er gesagt, daß ich davon wüßte?« »Nicht wörtlich. Aber er erweckte bei mir den Ein druck, als tätest du es.« 121
»Nun, ich wußte es nicht.« Die Idiotie der ganzen Geschichte empörte mich. »Quecksilberelemente, mein Gott! Wir können froh sein, wenn wir es fertigbe kommen, die gebräuchliche Sorte herzustellen. Welche Art von Quecksilber hat er geordert, Quecksilber oxyd oder das Chlorid?« »Nur einfach Quecksilber, von der Sorte, wie es in Thermometern verwendet wird. Er sagte, daß es ein sehr schweres Metall und ein oke daher nicht viel sei.« Ich trank meinen Brandy aus und setzte mir die Brille auf. »Teresa, hast du diese Warenbegleitscheine noch hier?« »Ja, sie liegen im Büro.« Ich stieg aus dem Bett. Sie ging mit mir in das Büro hinüber und suchte aus der Ablage die Begleitscheine heraus. Ich brauchte etwa zwanzig Minuten, um sie alle durchzugehen und die Posten anzukreuzen, die nicht dort hätten stehen dürfen. Gegen Ende dieser zwanzig Minuten war ich nicht länger wegen des ver muteten Alkoholschmuggels besorgt. Aber ich war wütend und auch beunruhigt. Ich sah zu Teresa hinüber. Selbst nackt verstand sie es, als sie dort vor den Schiffsmodellen in den Glasvi trinen an ihrem Schreibtisch saß, businesslike auszu sehen. »Haben wir einen zweiten Schlüssel zum Lager raum der Batteriefabrik?« »Ja, Michael.« »Würdest du ihn mir bitte holen?« »Jetzt?« 122
»Ja.« »Ist es etwas sehr Schlimmes?« »Ja. Ich glaube schon, daß es etwas wirklich sehr Schlimmes sein könnte«, sagte ich. »Aber ich denke nicht daran, eine schlaflose Nacht zu verbringen und bis morgen abzuwarten, um es herauszufinden. Ich fahre jetzt in die Batteriefabrik und werde dort ein bißchen Inventur machen.« »Ich komme mit.« »Das ist nicht nötig.« »Ich fahre dich, wenn du willst.« Sie weiß, daß ich ungern nachts fahre. »Also gut.« Wir zogen uns schweigend an. Es war nach zehn, und das Hauspersonal dienstfrei und in seinen Unter künften. Ich öffnete das Tor im Hof und schloß es wieder, nachdem Teresa den Wagen hinausgefahren hatte. Dann setzte ich mich neben sie, und wir fuhren los. Teresa hat die Angewohnheit, sich nach Art der Ka tholiken zu bekreuzigen, bevor sie den Wagen startet. Die Geste wird sehr rasch, fast beiläufig, ausgeführt – sie läßt einen spirituellen Sicherheitsgurt einrasten – und scheint ausgezeichnet zu funktionieren. Teresa hat nie einen Unfall gehabt oder auch nur einen Krat zer auf dem Kotflügel davongetragen. Auf syrischen Straßen und mit syrischen Fahrern überall um einen herum ist das eine bemerkenswerte Leistung. An diesem Abend jedoch – vielleicht, weil ich, und nicht der Hausdiener, das Tor öffnete und schloß – 123
muß sie es wohl versäumt haben, ihre übliche Sicher heitsvorkehrung zu treffen. Ich weiß nicht, um wel chen Heiligen es sich handelt, dessen Beistand ihr die ses Sicherheitsabkommen garantiert, aber ich bin ge wiß, daß er – oder sie – nicht angerufen wurde. Wir legten die Strecke nicht nur unfallfrei, sondern auch in Rekordzeit zurück. Eine göttliche Instanz, der an unserem ferneren Wohlergehen auch nur das geringste gelegen gewesen wäre, hätte uns sanft, aber unbeirrbar zu einer wei chen Landung im nächsten Straßengraben verholfen. Die Batteriefabrik lag an der Straße nach Der’a, etwa zehn Kilometer südlich der Stadtgrenze. Während der französischen Mandatsherrschaft war in dem Bau eine Distriktsgendarmerie stationiert gewesen. Als ich ihn übernahm, hatte er jahrelang leergestanden, und innen und außen war alles, was abgeschraubt, losgerissen und herausgebrochen werden konnte, entfernt und davongeschleppt worden. Übriggeblieben waren nur die betonierten Teile des Mauerwerks – die Latrine, die Außenwände des alten Wachgebäudes und die ho he Mauer, die den gesamten Komplex umgab. In einem Land, wo Stehlen eine traditionelle Form des Broterwerbs darstellt, sind Mauern, über die man nicht so leicht hinwegklettern kann, ungemein nütz lich. Ich entschied mich für das Objekt, teils weil die Regierung bereit war, es mir billig zu vermieten, teils aber auch wegen der Mauer. Auf dem von ihr um schlossenen Gelände hatte ich drei Werkstattschuppen 124
errichten lassen. Das wiederhergerichtete alte Haupt gebäude beherbergte die Büroräume und das Labora torium. Zwei Räume waren abgetrennt worden, die zur Lagerung der wertvolleren Rohmaterialien wie zum Beispiel der Zinkbleche dienten. Die Einfahrt zum Fabrikgelände versperrte eine große, mit Eisenstäben vergitterte Pforte; links davon befand sich ein mit einer Kette versehener Nebenein gang. Beide waren durch Vorhängeschlösser gesichert. Gleich hinter der Tür stand eine Bude, in der sich tagsüber der Aufseher und nachts ein Wachmann auf hielt. Jenseits der Bude erstreckte sich die Laderampe des Werkstattschuppens Nummer drei, auf der die fertiggestellten Batterien zum Abtransport gestapelt wurden. In jener Nacht schien der Mond, und daher konnte ich alles das in Umrissen schon von der Einfahrt aus erkennen. Was ich nicht zu entdecken vermochte, war dagegen irgendeine Spur von dem Wachmann, und in der Bude brannte kein Licht. Ich nahm an, daß er sei ne Runde machte. Da er angewiesen war, einen schweren Knüppel zu tragen, und ich keinerlei Wunsch verspürte, irrtümlich für einen Eindringling gehalten zu werden, knipste ich meine Taschenlampe nicht aus, nachdem ich die Nebenpforte aufgeschlos sen hatte. »Was ist mit dem Wagen?« fragte Teresa. »Laß ihn stehen. Wir bleiben nicht lange.« Ein weiterer Beweis göttlicher Indifferenz! Das Motorgeräusch des Wagens hätte unsere Anwesenheit 125
auf dem Fabrikgelände frühzeitiger angekündigt und es denen, die sich bereits dort aufhielten, ermöglicht, eine folgenreiche Konfrontation zu vermeiden. Es war mein Fehler. Das Haupttor war sehr schwer und so eingehängt, daß es selbsttätig zufiel, sobald man es ge öffnet hatte und losließ. Ich hätte es in weitem Halb kreis aufstemmen und dann offenhalten müssen, wäh rend Teresa hindurchfuhr. Dabei würde ich mir die Hände beschmutzt und mein Schuhwerk womöglich Kratzer davongetragen haben. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Wir betraten das Fabrikgelände. Ich schloß die Ne benpforte wieder ab, und wir gingen an der Laderam pe vorbei auf den Weg zu, der zum Verwaltungsge bäude führte. Die Batteriefabrik war nicht gerade ein Hort pein lichster Ordnung; und in diesem Teil des Geländes stellten herumliegende leere Behälter und Schlingen von abgestreiften Ballendrähten Gefahren dar, auf die man achtgeben mußte. Ich hielt meinen Blick und den Strahl meiner Taschenlampe daher vor mich auf den Boden gerichtet. Es war Teresa, die mich darauf auf merksam machte, daß irgend etwas nicht stimmte. »Michael!« Ich sah mich um. Sie war stehengeblieben und blickte zum Verwaltungsgebäude hinüber. Ich schaute in dieselbe Richtung. Im Laboratorium brannte Licht. Im ersten Augenblick glaubte ich, es müsse sich um die Taschenlampe des Wachmannes handeln, obgleich er den Verwaltungsbau nicht betreten sollte, es sei 126
denn im Notfall, wie zum Beispiel bei Ausbruch eines Feuers. Als ich meinen Weg fortsetzte und meine Sicht unbehinderter wurde, sah ich dann, daß im La boratorium alle Lichter eingeschaltet waren. Und ich konnte Stimmen hören. Ich war stehengeblieben und starrte auf die erleuch teten Fenster. Als ich weitergehen wollte, legte mir Teresa die Hand auf den Arm. »Michael«, sagte sie leise, »meinst du nicht, wir soll ten jetzt lieber umkehren und morgen wiederkom men?« »Und die Gelegenheit ungenutzt lassen, ihn auf fri scher Tat zu ertappen?« Ich war zu erzürnt, um mir klarzumachen, daß Te resa, da ich ihr nicht gesagt hatte, was ich inzwischen argwöhnte, nicht wissen konnte, wovon ich redete. Sie dachte noch immer an illegale Schnapsbrenner, vier zigprozentigen Whisky und Schwarzhandel. Sie muß te glauben, wir seien zufällig Zeugen eines Saufgelages oder einer heimlichen Flaschenabfüllungs-Aktion ge worden – beides Veranstaltungen, die zu stören in keinem Falle ratsam war. »Michael, es ist doch sinnlos –«, begann sie; aber ich ging schon weiter, und sie folgte mir, ohne ihren Ein spruch geltend machen zu können. Das Gebäude war auf hohen Betonsockeln errich tet, die zwischen Fußboden und nackter Erde Raum ließen. Betonierte Stufen führten zu der überdachten Veranda hinauf, die sich über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Die Geschäftsräume befanden 127
sich rechter Hand des Eingangs, das Labor und die Lagerräume links davon. Die Fenster waren weder mit Glasscheiben noch mit Läden, sondern lediglich mit Drahtnetzen von der Art versehen, wie Fleischschränke älterer Bauart sie aufzuweisen pflegten, um größere Insekten fernzuhal ten. Man konnte recht gut durch die Fenster hin durchsehen und weitgehend auch mitbekommen, was drinnen gesprochen wurde. Issas Stimme war deutlich zu hören, als wir leise die Stufen hinaufstiegen. »Zum Nitrieren«, sagte er, »muß die Salpetersäure rein sein und ein spezifisches Gewicht von eins komma-vier-zwei aufweisen. Ich habe euch gezeigt, wie wir das Hydrometer benutzen. Benutzt es stets gewissenhaft. Es darf nicht nachlässig gearbeitet wer den. Alles muß ganz genau stimmen. Für den reakti ven Prozeß, den ihr hier ablaufen seht, kommt nur fünfundneunzigprozentiger reiner Alkohol in Frage. Wieder benutzen wir das Hydrometer. Wie lautet das spezifische Gewicht von fünfundneunzigprozentigem Äthylalkohol?« Die Stimme eines jungen Mannes antwortete ihm. Ich war inzwischen auf der Veranda ein paar Schritte vorgetreten und konnte in den Raum hineinsehen. Issa stand in seinem Laborkittel aus Drillich hinter einem der Labortische, jeder Zoll der junge Professor der Chemie. Seine Klasse, die mit gekreuzten Beinen vor ihm auf dem Boden saß oder hockte, bestand aus fünf jungen Burschen, Arabern mit gezückten Kugel schreibern und abgegriffenen Kladden mit Eselsohren. 128
Ungemein gepflegt und adrett in Khaki-Buschhemd und frisch gebügelter Hose, räkelte sich auf Issas Schreibtischstuhl der Wachmann. Er hatte ein aufge schlagenes Buch auf dem Schoß, aber sein Blick war auf die Klasse gerichtet. »Sehr gut«, sagte Issa. Er sprach das jordanische Arabisch, benutzte aber technische Ausdrücke aus dem Englischen. »Paßt jetzt gut auf.« Er deutete auf einen Steinguttopf vor ihm auf dem Tisch, aus dem Dämpfe aufstiegen. »Die Reaktion ist nahezu abgeschlossen, und die Fällung hat eingesetzt.« Von dort, wo ich stand, konnte ich die Dämpfe rie chen. Es war nicht schwer zu erraten, was dort gleich ausgefällt sein würde. »Welcher Vorgang kommt als nächstes?« fragte Issa. Einer der jungen Männer sagte: »Die Filtration, Sir?« »Ganz recht, die Filtration.« Issa war ein geborener Pädagoge, und er genoß seine Lehrerrolle ganz offen sichtlich. Während er weitertönte, mußte ich daran denken, daß er sich beim Ministerium um eine Stelle als Instrukteur beworben hatte, und wünschte mir, die Bürokraten hätten es mit der Überprüfung seines Qualifikationsnachweises nicht gar so genau genom men. Warum mußte ausgerechnet ich derjenige sein, dem es zufiel, mit diesem kleinen Monster fertig zu werden? Ich überlegte mir gerade, wie ich vorgehen sollte – ob es besser sei, wenn ich mich räusperte, bevor ich 129
eintrat, oder ob ich die Tür ganz aufstoßen und die ›Klasse‹ vor Schreck hochfahren lassen sollte –, als mir die beiden Männer dazwischenkamen. Ich roch sie, bevor ich sie hörte, und Teresa ging es genauso. Wir fuhren beide im gleichen Augenblick herum, und sie umklammerte meinen Arm. Dann sa hen wir die Karabiner in ihren Händen und erstarrten. Die Karabiner waren überaus sorgfältig gereinigt; aber die Männer, die sie in ihren Händen hielten, sa hen in ihren verblichenen blauen kaffijehs aus wie Ar beiter einer Straßenbaukolonne. Sie waren mittleren Alters, lederhäutig und grobschlächtig; nervös waren sie auch und überdies offenbar schießwütig. Die Karabiner in Bauchhöhe auf uns gerichtet, blie ben sie in einigem Abstand vor uns stehen. Der ältere der beiden Männer deutete mit dem Karabinerlauf auf die Taschenlampe in meiner Hand. »Fallen lassen«, sagte er. »Wird’s bald.« Er hatte ei ne laute, rauhe Stimme und schadhafte Zähne. Ich gehorchte. Das Glas der Taschenlampe zersplit terte auf dem betonierten Boden. »Zurück! Zurück!« Wir wichen an die Wand zurück. Inzwischen war Issa, gefolgt von seiner Klasse, her ausgekommen, um zu sehen, was es gab. Sein Gesicht verriet beträchtliche Verwirrung, als er mich erkannte; aber bevor er noch irgend etwas sagen konnte, begann der Mann mit den schadhaften Zäh nen seinen Bericht zu erstatten. »Wir haben gesehen, wie sie sich heimlich anschlichen. Wir haben sie genau 130
beobachtet. Sie haben gelauscht, spioniert. Der Mann hatte eine Taschenlampe. Sehen Sie, da ist sie.« Aus seinem Mund klang das Wort ›Taschenlampe‹ im höchsten Grad bedenklich. Ich sagte: »Guten Abend, Issa.« Er versuchte zu lächeln. »Guten Abend, Sir. Guten Abend, Miss Malandra.« »Sie haben gelauscht, spioniert«, wiederholte Schwarzzahn beharrlich. »Stimmt. Das haben wir«, sagte ich. »Und jetzt ge hen wir hinein.« Ich hatte mich bereits in Richtung Eingang ge wandt, als der Mann mir mit dem Gewehrkolben ei nen wuchtigen Schlag in die Nierengegend versetzte. Ich verlor für Augenblicke das Bewußtsein und sackte in die Knie. Als ich aufstand, protestierte Teresa wütend, und Issa redete flüsternd auf die beiden Männer ein. Ich lehnte mich gegen die Wand und wartete darauf, daß der Schmerz nachließ. Schließlich befahl Issa der Klas se, auf der Veranda zurückzubleiben, und wir übrigen gingen in das Laboratorium. Issa führte uns an, Teresa und ich folgten, und die bewaffneten Männer bildeten die Nachhut. Der Wachmann hatte sich nicht von Issas Schreib tischstuhl gerührt. Als wir eintraten, nickte er mir flüchtig zu, als habe er mich erwartet, wisse aber nicht mehr genau, wozu und weshalb. Es fiel mir auf, daß er sich sehr merkwürdig benahm; ich fragte mich, ob er vielleicht betrunken sei. Dann beschloß ich, den 131
Wachmann vorerst zu ignorieren; mit ihm würde ich mich später befassen. »Alsdann, Issa«, sagte ich forsch, »lassen Sie mich Ihre Erklärung hören. Ich nehme doch an, Sie haben eine?« Aber er hatte genügend Zeit gehabt, sich so weit zu fangen, daß er jetzt den Versuch machen konnte, sich durch dreistes Bluffen aus der Affäre zu ziehen. »Eine Erklärung wofür, Sir?« Er war ganz beleidigte Un schuld. »Wenn Sie, wie Sie selber sagen, gelauscht haben, werden Sie wissen, daß ich eine Klasse von Studenten in der Lehre der Chemie unterweise. Ich habe das Glück, den Vorteil einer höheren Schulbildung zu genießen, und bin der Auffassung, daß es meine Pflicht ist, meine Kenntnisse, wann immer sich mir dazu Gelegenheit bie tet, denen weiterzugeben, die nicht soviel Glück hatten. Daß ich das nur in meiner Freizeit tue, versteht sich. Wenn Sie meinen, ich hätte Sie um Erlaubnis bitten sol len, bevor ich das Labor nach Arbeitsschluß als Klassen zimmer benutze, dann bitte ich um Entschuldigung. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, daß ein Mann wie Sie etwas dagegen einzuwenden haben könnte.« Das klang wirklich ganz überzeugend. Hätte ich nicht jene Warenbegleitscheine überprüft und von dem Stoß mit dem Karabinerkolben nicht solche Schmerzen im Rücken gehabt, ich würde ihm womög lich geglaubt haben. »Und diese beiden Männer hinter mir?« fragte ich. »Haben Sie die ebenfalls in der Lehre der Chemie un terwiesen?« 132
Er versuchte es zur Abwechslung mit einem be schwörenden Lächeln. »Es sind ungebildete Männer, Sir, ältere Männer aus dem Dorf, in dem meine Studen ten wohnen. Sie sind mitgekommen, um dafür zu sor gen, daß die jungen Männer sich anständig aufführen.« »Und dazu brauchen sie Gewehre? Nein, Issa, er zählen Sie mir keine Märchen. Sie haben Ihre Erklä rung vorgebracht. Ich nehme sie Ihnen nicht ab.« Jähe Wut brach aus ihm hervor. »Nur weil ich leh ren möchte –« Ich schnitt ihm das Wort ab. »Nein. Sondern weil Sie lügen. Sie unterweisen niemanden in der Lehre der Chemie, wie Sie es so gewählt auszudrücken belieben. Was Sie hier veranstalten, das ist ein Bastelkurs zur Herstellung von Sprengstoffen. Mehr noch, Sie veran stalten ihn auf meine Kosten.« »Sie können versichert sein, Sir –« Er mochte sich noch immer nicht geschlagen geben. »Sparen Sie sich Ihre Beteuerungen, Issa. Ich weiß, wovon ich rede.« Ich deutete auf den Steinguttopf, der auf dem Tisch stand. »Diese Fällung, die Sie so liebe voll ankündigten, ist Knallquecksilber. Für wie viele Sprengkapseln hätte das gereicht? Hundert? Hundert fünfzig? Nein, Issa, es kann keine Rede davon sein, daß Sie anderen irgendwelche Vorteile zukommen las sen, die mit einer höheren Schulbildung verbunden sind. Was Sie ihnen weitergeben, das sind Amateurre zepte zur Herstellung von Sprengkörpern.« »Meine Arbeit ist fachmännisch«, protestierte er wütend. »Ich bin kein Amateur!« 133
Ich hatte plötzlich das Gefühl, die Situation nicht sonderlich gut zu meistern. Jetzt, wo die Wahrheit heraus war, hätte er sich in der Defensive fühlen und versuchen müssen, Entschuldigungen vorzubringen, statt zu argumentieren. Ich schloß daraus, daß es die Anwesenheit der bewaffneten Männer war, die ihm Selbstvertrauen gab. »Die Qualität Ihrer Arbeit interessiert mich nicht«, bemerkte ich schneidend. »Entscheidend ist, daß Sie sie hier nicht mehr verrichten – überhaupt keine Ar beit, welcher Art auch immer. Sie sind mit sofortiger Wirkung entlassen. Sie und Ihre Bomben produzie renden Freunde können von Glück sagen, wenn ich die Polizei nicht verständige.« Zum erstenmal meldete sich der Wachmann zu Wort. »Aber warum wollen Sie die Polizei denn nicht verständigen, Mr. Howell? Wenn dieser Mann Sie be stohlen hat und zudem illegal Explosivkörper her stellt, ist es dann nicht Ihre Pflicht, sie zu verständi gen?« Er hatte eine hohe, ziemlich dünne Stimme, aber es war die Stimme eines gebildeten Mannes. Mir wurde plötzlich klar, wie wenig ich von ihm wußte, und daß ich, von einer einzigen Unterhaltung abgesehen, bei der ich ihm seine Anweisungen für den Wachdienst gegeben hatte, nie mit ihm gesprochen hatte. Es hatte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Ich sah ihn kalt an. »Ich habe ›wenn ich die Polizei nicht verständige‹ gesagt. Falls ich beschließen sollte, das zu tun, werden 134
Sie in der Anzeige selbstverständlich als Komplice namentlich mit aufgeführt werden. Bringen Sie mich dazu also nicht in Versuchung, indem Sie mir erzäh len, was meine Pflicht ist.« Er stand ganz langsam auf. Er war ein schlanker Mann etwa meines Alters, hatte eine ziemlich lange Nase, ein Bärtchen und faltige Wangen. »Dann sollte ich mich vielleicht doch vor stellen«, sagte er. Seine Selbstsicherheit irritierte mich. »Sie heißen Sa lah Yassin«, sagte ich, »und ich habe Sie vor einem halben Jahr als Nachtwächter eingestellt. Man sagte mir, Sie seien als Soldat infolge einer Kriegsverletzung dienstuntauglich geworden und hätten einen einwand freien Leumund. Offenkundig bin ich falsch infor miert worden. Sie sind ebenfalls entlassen. Ich wün sche, daß Sie allesamt innerhalb von fünf Minuten das Fabrikgelände verlassen. Wer danach hier noch ange troffen wird, hält sich unbefugt auf regierungseigenem Gelände auf, und ich werde dann umgehend die Poli zei rufen. Und jetzt legen Sie die Schlüssel auf den Tisch dort und machen Sie, daß Sie hinauskommen!« Der Wachmann blickte gequält drein. »Es ist unge hörig, Mr. Howell, sich zu weigern, einen Mann an zuhören, der höflich angeboten hat, sich vorzustellen. Ungehörig und töricht.« Sein Blick wurde stechend, als er mir in die Augen starrte. »Mein Name ist Salah, das stimmt, aber Ghaled, nicht Yassin. Salah Ghaled. Ich bin sicher, Sie haben ihn schon gehört.« Teresa zuckte zusammen. In mir lieferten sich Schock und Unglauben einen 135
kurzen Kampf. Der Schock siegte. Ich muß ihn stumpfsinnig angeglotzt haben. Auf alle Fälle war un sere Konsternation offenkundig genug, um ihn mit Behagen zu erfüllen. Er nickte uns befriedigt zu.
Drittes Kapitel Lewis Prescott 14. Mai
Michael Howell hat uns über seine Abneigung ge gen Journalisten nicht im Zweifel gelassen. Ich kann es ihm eigentlich nicht verdenken. Einige meiner euro päischen Kollegen haben ihm hart zugesetzt. Da er es jedoch für angezeigt hielt, Frank Edwards und mich von seinem kollektiven Verdammungsurteil auszu nehmen, wird er es mir hoffentlich nicht allzusehr verargen, wenn ich darauf hinweise, daß er die Feind seligkeit, mit der die Presse und das Fernsehen seine Rolle in der Ghaled-Affäre kommentiert haben, weit gehend selber heraufbeschworen hat. In seinem ängstlichen Bestreben, den Ruf seiner Firma – ganz zu schweigen von dem seines Vaters, seiner Mutter, seines Großvaters, seiner Schwestern, Miss Malandras und seiner Schwäger – zu wahren, hat er seinen eigenen Ruf geschädigt. Sich selber ließ er in den Interviews nicht genügend Gerechtigkeit wider fahren. Er sagte entweder zu wenig oder, und das weit häufiger, viel zuviel; und immer klang es, als mache er Ausflüchte. Wenn ihm ein Reporter eine direkte Frage stellte – »Mr. Howell, wußten Sie, wozu diese Waffen eingesetzt werden sollten?« – und als Antwort darauf einen längeren Vortrag über, sagen wir, die Schwie 137
rigkeiten bei der Fertigung von Trockenbatterien, die Gründe, weshalb die Agence Howell einen palästinen sischen Flüchtling als Chemiker eingestellt hatte, oder die Probleme zu hören bekam, die sich aus der Tatsa che ergaben, daß die Gelder der Agence Howell blok kiert waren, so lag für ihn der Schluß nahe, daß Mr. Howell etwas zu verbergen suche. Auch Mr. Howells allzu häufige Beteuerungen, er bemühe sich lediglich, ein möglichst vollständiges Bild zu vermitteln, das nicht nur die vordergründigen Zusammenhänge, son dern auch die Hintergründe aufzeige, halfen da nicht viel. Journalisten neigen nun einmal zu der Überzeu gung, sie seien, sofern ihnen nur die wesentlichen Fak ten einer Story offen und unverblümt genannt wer den, selber imstande, sich ein Bild zu machen. ›Wort reiche Nebelwand‹ mag eine gemixte Metapher sein, aber was in dem Mann vorging, der sie zusammen mixt, kann ich gut verstehen. Ungeachtet dessen aber bin ich bereit, hier zu Pro tokoll zu geben, daß ich der Schilderung, die Michael Howell von seiner Rolle in der Ghaled-Affäre gibt, weitgehend Glauben schenke. Die Situation, in der er sich befand, war entsetzlich. Es ist leicht zu sagen – wie das einige seiner Kritiker getan haben –, in seiner Reaktion auf sie hätte er sich weniger von der Sorge um die eigene Sicherheit und die Wahrung seiner ge schäftlichen Interessen und stärker von den Geboten höherer moralischer Verpflichtungen leiten lassen sol len; aber das zu behaupten, heißt das Wesentliche au ßer acht lassen. In noch geringerer Kenntnis von Gha 138
leds Plänen und Absichten, als ich sie zu jenem Zeit punkt hatte, tat er, was er tun zu müssen glaubte. Ihm Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, ist unfair; er ahnte damals noch nichts von seiner Verantwortung. Als sie ihm schließlich klar wurde, handelte er ent sprechend. Töricht verhielt er sich in keinem Augen blick, und am Ende bewies er persönlichen Mut. Diejenigen, die über Mr. Howell den Stab brechen und seine Integrität bezweifeln, haben nie in seiner Haut gesteckt und können nicht beurteilen, mit wem er es zu tun gehabt hat. Sie sind Salah Ghaled nie begegnet. Ich bin ihm begegnet, und es war keine angenehme Erfahrung. Normalerweise empfinde ich den von mir interviewten Personen gegenüber keine sonderliche Zu- oder Abneigung. Es ist nicht meine Sache, zu ver teidigen oder zu richten; meine Aufgabe besteht darin, Informationen und – das hoffe ich wenigstens – auch Einblicke zu erhalten, die ich anderen vermitteln kann. Aber Ghaled war mir in der Tat ausgesprochen unsympathisch. Ich will hier nicht das ganze Interview mit ihm im Wortlaut wiedergeben; vieles von dem, was gesagt wurde, war die übliche Partisanensender-Haßleier; aber die geraffte Fassung, die ich hier folgen lasse, enthält das Wesentliche. Ich gebe außerdem anhand der Notizen, die ich mir seinerzeit machte, die Unter haltungen wieder, die ich anschließend mit Miss Hammad und Frank Edwards führte. Sie werfen ein bezeichnendes Licht sowohl auf Ghaleds Denkweise als auch auf meine Beurteilung seiner Absichten. 139
Das Interview begann harmlos genug mit ein paar Fragen, die sich auf Ghaleds Jugendjahre und seine er ste Zeit als Guerillaführer bezogen. Sie waren unwich tig, und ich kannte die Antworten bereits; aber ich habe es nicht gern, wenn Mikrophone eingeschaltet sind und Tonbänder laufen, während ich jemanden in terviewe; das übt häufig eine hemmende Wirkung auf die interviewte Person aus. Bin ich jedoch verpflichtet, diese Hilfsmittel zu benutzen, dann ist eine Reihe leicht beantwortbarer Fragen, die gleich zu Beginn des Interviews gestellt wird, meiner Erfahrung nach am ehesten geeignet, den Gesprächspartner Mikrophon und Tonband vergessen zu lassen. Nach dieser vorbe reitenden Arbeit fuhr ich fort: »Mr. Ghaled, Sie haben offenbar Ihr ganzes bisheri ges Leben, seit Sie erwachsen sind, dem Kampf auf der palästinensischen Seite des arabisch-israelischen Kon flikts gewidmet.« »Des arabisch-zionistischen Konflikts, ja.« »Was Sie betrifft, wurde dieser Kampf größtenteils mit Guerillamethoden geführt.« »Nicht ausschließlich, aber größtenteils, ja.« »Und Sie haben auch dann noch weitergekämpft, als die Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens die Feindseligkeiten einstellten?« »Ja.« »Auch nachdem Frieden geschlossen war?« »Zwischen den arabischen Staaten und den Zio nisten hat es niemals Frieden gegeben.« »Ohne Zweifel aber doch Perioden anhaltender 140
Waffenruhe, die friedlich waren – so friedlich immer hin, daß beispielsweise die jordanischen Bauern die Grenze überschreiten und ihre Produkte in Israel ver kaufen konnten?« Meine Ahnungslosigkeit nötigte ihm ein schwaches Lächeln ab. »Gewiß hat es solche Perioden gegeben. Sie sprechen von den jordanischen Bauern, die ihre Erzeugnisse im sogenannten Israel verkaufen. Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß es eine Zeit gegeben hat, in der auch ich diese Grenze häufig überschritten habe. Aber in jeder fünften von den Grapefruits, die meine Esel zum Markt trugen, war eine Bombe versteckt. Für uns Palästinenser, Mr. Prescott, ist ein Friede um jeden Preis niemals annehmbar gewesen. Mit oder oh ne Unterstützung unserer Bundesgenossen in den ara bischen Staaten haben wir, die Fedaijin-Bewegung, immer weitergekämpft.« »Und was glauben Sie damit erreicht zu haben, Mr. Ghaled? Oder, anders gefragt: Was halten Sie für die wesentlichste Errungenschaft der Fedaijin-Bewegung?« »Sie hat dafür gesorgt, daß die palästinensische Sache weder verloren noch aus Bequemlichkeit vergessen wurde.« »Sie sprechen von der palästinensischen Sache. Ich möchte da jedes Mißverständnis vermeiden. Was ge nau ist die palästinensische Sache aus Ihrer speziellen Sicht?« »Ich habe keine spezielle Sicht, Mr. Prescott. Meine Sicht deckt sich, was das betrifft, mit der Sicht Jassir Arafats oder Dr. George Habashs oder Kemal Adwans 141
– und Kemal, ein Al-Fatah-Mann, ist Mitglied des Zentralkomitees der plo. Wir mögen hinsichtlich der Mittel unterschiedlicher Auffassung sein, aber über den Zweck, über unser Endziel, herrscht Einigkeit.« Er erwähnte die Namen weiterer vormaliger Kampfgenossen aus den Reihen von Al Fatah und der Volksfront für die Befreiung Palästinas, mit denen er sich über das Endziel einig wußte. Hätte ich nicht ge rade kürzlich das Archivmaterial unseres Büros durchgesehen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, daß dies die gleichen Männer waren, die er als »feige Hunde« bezeichnet hatte. »Wir fordern nur unser Recht«, schloß er stolz. »Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken, Mr. Ghaled? Was für ein Recht?« »Erstens die Beseitigung des zionistischen Staates. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich nicht die Be seitigung der Juden fordere, sondern nur die Beseiti gung oder Zerstückelung des künstlich geschaffenen zionistischen Staates. Zweitens die Rückkehr aller un serer palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimatge biete, auf ihre verlorenen Ländereien und Besitzun gen. Drittens die Gründung eines palästinensisch arabischen Staates. Nicht mehr als das, aber auch nicht weniger.« »Alles oder nichts, Mr. Ghaled?« »Weniger würde auf nichts hinauslaufen.« »Aber hat nicht die Geschichte der letzten dreiund zwanzig Jahre bewiesen, daß diese kompromißlose Alles-oder-nichts-Haltung sich selbst aufhebt?« 142
Die Übersetzung der Wendung »sich selbst auf hebt« war offenbar mit Schwierigkeiten verbunden. Ich wurde gebeten, die Frage anders zu stellen. »Hat die Alles-oder-nichts-Politik«, sagte ich, »so weit sie die palästinensische Sache betrifft, nicht ver sagt? Das ›alles‹, was mit ihr erreicht wurde, ist die Einheit Israels. Der israelische Staat, der sich früher einmal womöglich im Rahmen seiner bestehenden Grenzen hätte eindämmen lassen, ist im Gegenteil größer geworden. Die palästinensische Sache mag nicht vergessen sein, aber meinen Sie nicht, Mr. Gha led, daß sie, so wie sie von Ihnen dargestellt und defi niert wird, nach menschlichem Ermessen als verloren betrachtet werden muß?« »Von wem als verloren betrachtet werden muß, Mr. Prescott?« Und, scherzend: »Von der Regierung der Vereinigten Staaten?« »Ich spreche nicht für die Regierung der Vereinig ten Staaten, Mr. Ghaled. Ich versuche lediglich her auszubekommen, wie Sie sich zu den Realitäten der gegebenen Situation stellen. Halten Sie die Beseitigung oder Zerstückelung des Staates Israel tatsächlich für ein Ziel, das – einmal unterstellt, es sei erstrebenswert – ohne einen dritten und letzten Weltkrieg erreichbar wäre?« »Warum sollte es nicht erreichbar sein, Mr. Pres cott?« Ich konnte es seinem Gesicht ansehen, daß er in Kürze mit noch weiteren Scherzen aufwarten würde. »Der Westen und insbesondere die Vereinigten Staa ten geben ständig dem Wunsch Ausdruck, bei der Lö 143
sung dessen, was sie den Nahost-Konflikt zu nennen belieben, behilflich zu sein. Ausgezeichnet. Wir sind durchaus einverstanden. Laßt die Vereinigten Staaten alle Schiffe ihrer mächtigen Sechsten Flotte in die Hä fen von Haifa, Akra, Tel Aviv, Jaffa und Ashdor ent senden. Laßt sie alle ihre zionistischen Verwandten an Bord nehmen, die ganzen drei Millionen, und für im mer mit ihnen abdampfen. Wohin, fragen Sie? Wie ich höre, gibt es in Texas und Neumexiko noch weite, dünn besiedelte Gebiete, in denen man diese Leute unterbringen könnte. Es wäre allerdings denkbar, daß die derzeitigen Bewohner dieser Gegenden mit der Inbesitznahme ihrer Länder durch drei Millionen Zionisten nicht unbedingt einverstanden sind. Men schen, die derart uneinsichtig sind, müssen selbstver ständlich vertrieben und andernorts angesiedelt wer den. Aber diese Schwierigkeit läßt sich meistern. Ich bin überzeugt, daß die unwra gern bereit ist, für die Entrechteten in der Wüste von Arizona Flüchtlingsla ger einzurichten.« Miss Hammad übersetzte diese Ausführungen un ter wiederholtem Kichern. »Ich bin überzeugt«, entgegnete ich, »daß Mr. Gha leds Vorschläge etwa im Debattierclub eines JuniorCollege als eindrucksvoll und anregend empfunden werden würden. Mir ist es jedoch um Informationen zu tun. Ich hatte gefragt, ob Mr. Ghaled als einer jener Araber, die 1948 gegen die Israelis gekämpft und ver loren haben und seither ununterbrochen auf der Ver liererseite stehen, nicht schon irgendwann einmal der 144
Verdacht gekommen ist, daß man sich mit der Exi stenz des Staates Israel möglicherweise abfinden müs se?« Seine Antwort verriet mir, daß sie schwerlich alles übersetzt haben konnte, was ich gesagt hatte. »Achtundvierzig herrschte keine wirkliche Ein tracht zwischen den arabischen Staaten. Wäre das der Fall gewesen, wir hätten die Juden damals ins Meer gejagt.« Ich überlegte, ob ich ihm die Frage stellen sollte, was die Araber denn Sechsundfünfzig oder Sieben undsechzig daran gehindert habe, das nachzuholen, beschloß aber, darauf zu verzichten. Er hatte mir das Stichwort geliefert, das mir gelegen kam. »Wenn Sie erlauben, darf ich noch einmal auf das Thema der palästinensischen Guerillabewegung und deren erfolgreiche Bestrebungen zurückkommen, die palästinensische Sache vor der Preisgabe oder dem Vergessen zu bewahren. War Einigkeit unter den di versen Gruppen der Bewegung ein entscheidender Faktor bei diesem Erfolg?« Er erkannte natürlich sofort, worauf ich abzielte, und wich aus. »Die Operationen konventioneller Streitkräfte un terscheiden sich in der Konzeption, in der Quantität und daher auch in der Qualität von denen der Kom mandogruppen. Unter verbündeten Staaten, die in ei nen gemeinsamen Krieg verwickelt sind, ist die Ein heit des strategischen Oberkommandos unerläßlich. In einem von Kommandogruppen geführten Kampf 145
muß zwar die Zielsetzung eine einheitliche sein, aber der ganz auf sich selbst gestellte einzelne Partisanen führer kann und soll selber entscheiden, wie er zur Er reichung jener Ziele am wirksamsten beiträgt.« »Die Guerillakämpfe in Jordanien und im Libanon haben ebensoviele Opfer unter den Arabern gefordert, wie es in dem regulären Sechstagekrieg israelische To te und Verwundete gegeben hat, möglicherweise sogar mehr. Sie haben diese arabischen Verluste auf Verrat an der palästinensischen Sache zurückgeführt. Sie sprechen vom Großen Verrat und vom Zweiten Ver rat. Aber ist ›Verrat‹ in diesem Zusammenhang nicht nur ein anderes Wort für Uneinigkeit?« »Wozu mit Wörtern spielen, Mr. Prescott? Soeben noch forderten Sie mich auf, von Realitäten zu reden. Ich bin bereit, das zu tun.« »Ausgezeichnet. Hat das Palästinensische Aktions kommando bisher eine einigende oder eine spalteri sche Wirkung erzielt?« »Wie ich schon sagte, haben wir militanten palästi nensischen Freiheitskämpfer ein gemeinsames Ziel. Unsere Methoden, es zu erreichen, mögen verschieden sein. Das ist alles.« »Sie stimmen hinsichtlich des Zwecks überein, sind aber in bezug auf die Mittel nicht einig. Ich verstehe. Dann sollten wir uns vielleicht über die Vorzüge die ser Mittel unterhalten?« »Wir können über alles diskutieren.« »In europäischen Verkehrsmaschinen sind Bomben versteckt und zahlreiche Menschen getötet worden, 146
die in ihrem Leben nie in Israel gewesen waren. Es haben Überfälle auf Flugzeuge und Entführungen stattgefunden, die ebenfalls Todesopfer forderten.« »Aktionen der Volksfront für die Befreiung Palä stinas.« »Das ist mir bekannt. Aber billigen Sie diese Mit tel?« »Ich würde sie nicht benutzen. Aber ich mißbillige sie nicht.« »Sie billigen diese Morde an Fluggästen, an ah nungslosen Unbeteiligten?« »Solange wir in Palästina für unser Recht kämpfen, gibt es keine Unbeteiligten.« An dem Gusto, mit dem Miss Hammad das über setzte, merkte ich, daß dieser Ausspruch ihre uneinge schränkte Zustimmung fand und von ihr für eine be deutsame Feststellung gehalten wurde. »Wie würden Sie Ihre bevorzugten Mittel beschreiben, Mr. Gha led?« »Meine Politik ist es, den Feind möglichst nahe an seiner eigenen Wohnstatt zu schlagen.« »Bezieht sich das auf die pak-Säuberungskam pagne?« »Das war eine Übergangsphase, eine Art Großrei nemachen im Interesse aller, die der Befreiungsbewe gung angehören.« »Man hat Sie einen Exorzisten genannt, Mr. Gha led. Wie reagieren Sie auf eine derartige Beschuldi gung?« »Mit Schweigen und Verachtung. Die Leute, die 147
solche Anschuldigungen erheben, wissen nichts von meinen Plänen.« »Pläne, den Feind möglichst nahe an seiner Wohn statt zu schlagen?« »Das sagte ich bereits.« »Aber welchen Feind, Mr. Ghaled? Die jordanische Regierung, das plo-Zentralkomitee?« »Das pak hat nur einen Feind, den zionistischen Staat. Das habe ich wiederholt erklärt.« »Und Sie werden ihn vernichten?« »Schlagen. Vernichtend schlagen.« »Man hat einen Ausspruch von Ihnen zitiert, der besagte, daß die Briten sich auf ein Wunder verlassen hätten, als sie darangingen, den Grundsätzen der Bal four-Deklaration in Palästina Geltung zu verschaffen. Meinen Sie nicht, daß Ihnen heute ein ganz ähnlicher Vorwurf gemacht werden könnte?« »Ich verlasse mich auf Männer und auf die Wirkung von Sprengstoff, nicht auf Wunder.« »Aber es ist Israel, gegen das das pak vorzugehen beabsichtigt.« »Allerdings. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir das Palästinensische Aktionskommando sind. Aktion, das ist es, was wir wollen, Mr. Prescott.« »Wann werden wir damit zu rechnen haben?« »Sie erwarten doch gewiß nicht von mir, daß ich Sie in unsere Pläne einweihe, damit sie dann veröffentlicht werden.« »Natürlich nicht. Aber wenn Sie auch erklärten, daß die von der Volksfront praktizierten Methoden 148
nicht Ihre seien, so werden Sie doch nicht bestreiten, daß es sich dabei um Unternehmen spektakulärer Art handelt. Von Ihrem Standpunkt aus gesehen, müssen sie insofern als wichtig und zweckdienlich gelten, als sie die Welt an die palästinensische Sache gemahnen. Darf man vermuten, daß Ihre Aktionspläne geeignet sein werden, in ähnlicher Weise als Mahnung zu die nen?« »Ich sagte, daß wir die Zionisten schlagen werden, Mr. Prescott. Ist Ihre Frage damit nicht beantwortet?« In diesem Augenblick kündigte Miss Hammad an, daß sie das Band auswechseln müsse. Ich hätte ihr fast gesagt, sie könne sich die Mühe sparen, ich hätte oh nehin genug. Ich unterließ es, weil ich mir ziemlich si cher war, daß wir noch keine halbe Stunde lang ge sprochen hatten und sie das Band nur auswechselte, um mich von einer bestimmten Richtung, in die meine Fragen zielten, abzubringen. Als das Band ausgewech selt war, fuhr ich fort: »Mr. Ghaled, als Sie sagten, das pak beabsichtige, den zionistischen Staat zu besiegen, nahm ich – wie ich glaubte, mit gutem Grund – an, das sei bildlich gemeint gewesen. War diese Annahme irrig?« »Gänzlich irrig.« »Sie hätten nichts dagegen, wenn ich das zitierte?« »Nicht das geringste.« »Ich will Sie selbstverständlich nicht ersuchen, mir genaue Zahlen zu nennen, aber darf man ein paar An gaben über die annähernde Stärke des pak erwarten?« »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.« 149
»Nicht einmal eine ungefähre Zahl, Mr. Ghaled? Mehr als tausend Mann? Weniger als tausend?« Frank Edwards zufolge waren es weniger als dreihundert. »Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.« »Wie steht es mit den Aussichten, Bundesgenossen zu gewinnen?« »Die stellen sich mit den Erfolgen ein.« »Sobald die Niederlage Israels sich deutlich ab zeichnet?« »Sobald die Art und Weise, wie es vernichtet wer den kann, erkannt und begriffen wird.« »Ich verstehe.« »Zeigen Sie mir einen festen Punkt, und ich bewege Ihnen die Welt. Haben Sie diesen Ausdruck nie ge hört, Mr. Prescott?« Er starrte mich durchdringend an. »Ich glaube, dazu ist auch ein Hebel erforderlich, nicht nur ein fester Punkt.« »Seien Sie versichert, wir haben unseren Hebel.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Haben Sie jemals er lebt, wie das Haus eines Mannes mitsamt allem Hab und Gut darin vor seinen eigenen Augen in die Luft gesprengt wurde?« »Ich bin in Kriegsgebieten unzählige Male Zeuge von üblen Ausschreitungen gegen das Hab und Gut von Menschen geworden, und von noch weit schlim meren gegen die Menschen selber.« »Ich spreche nicht von Kriegsgebieten, Mr. Pres cott, sondern von Gebieten, in denen sogenannter Friede herrscht. Eines Nachts, das ist jetzt etwa zwei 150
Monate her, wurde in einem arabischen Dorf unweit von Haifa ein Mann aus dem Schlaf geweckt. Es hatte an seiner Tür geklopft. Er ging und machte auf. Drau ßen stand sein Bruder, den er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Der Bruder war einer meiner Leute und heimlich über die Grenze gekommen. Er bat um Unterkunft für eine Nacht. Das ist alles, wor um er bat – um einen Platz zum Schlafen, sonst nichts. Die Bitte wurde ihm abgeschlagen. Der Bruder, dem das Haus gehörte, lebte in ständiger Furcht vor der zionistischen Polizei. Zitternd vor Angst bat er seinen Bruder fortzugehen, und der Bruder, der seine Angst verstand, ging, ohne die Türschwelle überschritten zu haben. Traurig ist das, nicht wahr?« »Sehr.« »Aber was geschieht daraufhin? Der Bruder, dem das Haus gehört, hat nach dem zionistischen Gesetz die Pflicht, zur Polizei zu gehen und den Vorfall zu melden, zu melden, daß sein Bruder, der Fedaijin ist, da war und sich vermutlich noch in dem betreffenden Gebiet aufhält, damit nach ihm gefahndet und er er griffen werden kann. Das tun, seinem Bruder antun, das kann er nicht, und so begeht er das Verbrechen, den Vorfall zu verschweigen. Aber ein Nachbar hat gehört und gesehen, was geschehen ist, und geht zur Polizei. Der Bruder, der geschwiegen hat, wird ver haftet und der Beherbergung und Unterstützung eines derer, die für die Freiheit kämpfen, für schuldig er klärt. Der Urteilsspruch lautet, daß sein Haus dem Erdboden gleichgemacht werden soll, und er wird mit 151
seiner Frau und seinen Kindern hinausgeführt, um der Vollstreckung des Urteils zwangsweise beizuwohnen. Dann erscheinen die zionistischen Soldaten und brin gen die Sprengladungen an. Und dann wird vor seinen Augen und vor denen seiner Familie alles, was er be sitzt, in die Luft gejagt. Was halten Sie von diesem Vorgehen, Mr. Prescott?« »In einigen Ländern, die ich kenne, wäre der Mann erschossen worden, Mr. Ghaled.« »Besser, ihn zu erschießen, als zu vernichten, was sein Leben ausmacht.« »Ich könnte mir vorstellen, daß seine Frau und sei ne Kinder da möglicherweise anderer Meinung sind. Im übrigen herrscht zwischen Israel und seinen Nachbarn, worauf Sie vorhin selber hingewiesen ha ben, Kriegszustand. Ich nehme an, der Mann ist nicht über die Grenze gegangen, bloß um seiner Familie ei nen kleinen Besuch abzustatten.« »Er war Kurier, das ist alles.« »Wann ist dieses Urteil vollstreckt worden?« »Vor drei Wochen.« »Wie heißt das Dorf?« »Majd el-Krum. Aber ich erwähne dieses Vor kommnis nicht, weil es etwa ein Einzel- oder Sonder fall wäre, Mr. Prescott, sondern um Ihnen klarzuma chen, wie Araber unter der zionistischen Polizeidikta tur leben müssen.« Er griff in die Innentasche seines Schaffellmantels. »Ich werde Ihnen etwas zeigen.« Er zog eine dicke Lederbrieftasche hervor, der er ein Bündel Photos entnahm. 152
Am Format der Abzüge und an der Art, wie ihre Ränder beschnitten waren, konnte ich sehen, daß sie mit einer alten Schwarzweiß-Polaroidkamera gemacht worden waren. Es handelte sich um zehn bis zwölf Abzüge, die in Plastikhüllen steckten. Ghaled sah sie durch und drückte mir dann das ganze Bündel in die Hand. »Nehmen Sie sie, Mr. Prescott. Sehen Sie sich die genau an!« Im ersten Augenblick ließ mich sein Eifer unsinnigerweise an den einsamen Mann auf dem lan gen Flug denken, der sein Heimweh mit einem teilen will. »Sehen Sie, und das hier ist ein Schnappschuß aus dem letzten Sommer, als wir alle zusammen an den See hinaufgefahren waren.« Nur daß dies keine Familienphotos waren. Auf dem obersten war eine junge Frau zu sehen. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten; sie war tot. Sie lag auf einem blutgetränkten Streifen Erde am Fuß einer Betonmauer. Der Schnitt am Hals war tief und klaffend; man konnte die durchtrennten Enden der Venen und Arterien sehen. Ihr Rock war über die Hüften hinaufgestreift, und ihre Schenkel und ihr Bauch waren voller Stichwunden. Ghaled sagte etwas, und Miss Hammad übersetzte es. »Sehen Sie genau hin, Mr. Prescott, sehen Sie genau hin.« Ich schob das oberste Bild zur Seite und betrachtete das nächste. Es war das Photo eines toten Mannes. Er war bis auf ein zerrissenes Hemd unbekleidet, man 153
hatte ihm die Genitalien abgeschnitten. Das nächste Bild zeigte ein Kind von etwa zehn Jahren. Ich sah mir die restlichen Bilder an. Die bei einem Tod durch Gewalt eingenommenen Haltungen variieren nur wenig. Wenn die Ursache plötzlich war, ist der Eindruck in der Regel der von einer zerrissenen Puppe, wenngleich die spastischen Muskelzuckungen die Beine in zuweilen befremdli cher Weise erstarren lassen können; tritt der Tod we niger plötzlich ein, sind die Knie häufig zu embryona ler Stellung angezogen und die Arme verschränkt; ein von Napalm verbrannter Mensch wird zu einem in Ton gebrannten Bildnis eines zwergenhaften Boxers mit kampfbereit erhobenen Fäusten. Unter den abge bildeten Leichen befanden sich jedoch keine Fälle, die durch Verbrennungen zu Tode gekommen waren; alle Opfer waren erstochen, aufgeschlitzt oder zerstückelt worden. Zwei oder drei Leichen – solche von Kindern – waren offensichtlich – sei es für den Photographen, sei es von ihm – umarrangiert und zu Stellungen ver renkt worden, die geeignet waren, die Dramatik des Todeskampfes noch eindringlicher zu illustrieren. Im Krieg ist es nicht nur möglich, sondern auch nö tig und ratsam, sich an Greuel zu gewöhnen. Woran ich mich nie wirklich habe gewöhnen können, das ist der Mann, der Abbildungen davon sammelt und auf bewahrt. Ghaleds Sammlung diente natürlich propa gandistischen Zwecken, aber die Abzüge waren schon vielfach befingert gewesen, bevor sie in PlastikSchutzhüllen gesteckt worden waren. Zuletzt hatte ich 154
eine Kollektion dieser Art bei einem Leutnant der Special Forces in Vietnam gesehen. Er führte sie stän dig mit sich herum, weil sie ihn, wie er behauptete, an alles das gemahnte, wogegen er kämpfte. Ich glaubte es ihm nicht. Er behielt die Sammlung, weil er seine Freude daran hatte. Der britische Polizeibeamte in Malaya, der so besonders stolz auf ein Photo von sich war, das ihn, die Flinte in der Hand und einen Fuß weidmännisch auf den aufgeschlitzten und ausgewei deten Leichnam eines chinesischen Freiheitskämpfers gestellt, im Dschungel zeigte, mutete demgegenüber ehrlicher an. Auf dem Bild grinste er stolz, und er hat te stolz gegrinst, als er es mir zeigte. Ich reichte Gha led die Photos zurück. »Nun, Mr. Prescott?« »Nun was, Mr. Ghaled? Es ist nicht das erstemal, daß ich solche Photos zu sehen bekomme. Was sollen diese Leichen beweisen?« »Das waren arabische Dorfbewohner, die von zio nistischen Soldaten ermordet und verstümmelt wor den sind.« »Das sagen Sie, Mr. Ghaled. Ich sage, daß es eben sogut arabische Dorfbewohner sein können, die von anderen Arabern oder auch israelische Dorfbewohner, die von den Fedaijin umgebracht worden sind. Wo wurden die Bilder aufgenommen? Von wem wurden sie aufgenommen? Wurden sie alle am gleichen Ort zum gleichen Zeitpunkt aufgenommen oder an ver schiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten? Wer war der Photograph, oder waren es mehrere Photo 155
graphen? Welchen Wert haben diese Bilder als Be weismaterial?« »Diese Bilder wurden aufgenommen auf meinen Befehl und unter meiner persönlichen Aufsicht nach einem Überfall, einem typischen Überfall drusischer Kommandoverräter der zionistischen Armee auf ein Flüchtlingsdorf in Jordanien.« »Bei diesem typischen Kommandoüberfall wurden keine Schußwaffen verwendet?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Keine der Verwundungen, die auf diesen Photos ge zeigt werden, rührt von einer Kugel her. Das erscheint mir merkwürdig bei einem Kommandoüberfall.« »Die verschwenden keine Kugeln an wehrlose Frauen und Kinder, Krüppel und Greise.« »Ich muß Ihnen selbstverständlich abnehmen, was Sie sagen.« Tatsächlich war das einzige, was ich ihm danach abnahm, seine Behauptung, die Aufnahmen persön lich überwacht zu haben; aber es erschien mir sinnlos, die Diskussion darüber fortzusetzen. Ich hatte genug von ihm, und es schien der richtige Augenblick zu sein, das Interview zu beenden. »Eine oder zwei abschließende Fragen noch, Mr. Ghaled. Nehmen Sie die Tatsache, daß so viele Ihrer palästinensischen Genossen, Ihrer Mitstreiter in der Partisanenbewegung, Ihren Auffassungen und Ihrem Vorgehen ganz entschieden ablehnend gegenüberste hen, jemals zum Anlaß, sie Ihrerseits in Frage zu stel len und zu überprüfen?« 156
»Natürlich. Selbsterforschung und Selbstkritik sind immer unerläßlich. Was den Dissens betrifft, darf ich daran erinnern, daß viele der engsten Mitarbeiter Le nins entschieden anderer Meinung waren als er. Aber wer hat am Ende recht behalten?« »Sehen Sie sich selber als den Lenin der revolutio nären palästinensischen Guerillabewegung?« »Ich sehe mich selbst als den Ghaled des Palästinen sischen Aktionskommandos.« »Und zweifellos wird Ihnen die Zeit schließlich recht geben. Ich verstehe. Danke, Mr. Ghaled. Sie wa ren sehr geduldig und sehr entgegenkommend.« Als Miss Hammad das übersetzt hatte, sah sie mich fragend an. »Das wäre alles«, sagte ich. »Interview zwischen Salah Ghaled und Lewis Pres cott beendet«, sagte sie und schaltete die Tonbandge räte aus. Während sie sie wieder abbaute, nahm Gha led die Arrakflasche und füllte nochmals die Gläser. Er schien von dem Verlauf des Interviews sehr an getan zu sein, und steckte sich mit dem Air eines Mannes, der soeben einen günstigen Handel abge schlossen hat, eine neue Zigarre an. Hätte er besser Englisch gesprochen, würde er vermutlich versucht haben, mir meinerseits eine Äußerung der Befriedi gung zu entlocken. Er nahm ein Tonbandgerät und die beiden Kasset ten an sich, die Miss Hammad ihm aushändigte. Wäh rend sie ihm zeigte, wie das Gerät funktionierte, schlürfte ich den Arrak und fragte mich, wie ich wie 157
der nach Beirut zurückkäme. Die Aussicht, von Miss Hammad in der Dunkelheit über diese Bergstraße hinuntergefahren zu werden, war alles andere als an genehm. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Nach der förmlichen Verabschiedung und dem stol pernden Abstieg zum Volkswagen unterrichtete sie mich über die Situation. Eine sofortige Rückfahrt nach Beirut kam nicht in Frage. Während der Dun kelheit war es niemandem gestattet, die militärische Zone zu passieren. Wir mußten im Chalet abwarten, bis es hell wurde. Dort trank ich einen Scotch, um den Arrakgeschmack wegzuspülen, und Miss Hammad begann mich nach den ›Eindrücken‹ zu befragen, die ich von Ghaled bekommen hatte. Ich hatte das erwartet und war darauf vorbereitet. »Ehrlich gesagt«, erklärte ich, »ich bin enttäuscht.« »Enttäuscht!« »Sie sind Journalistin, Melanie, Sie sollten wissen, daß aus dem, was er von sich gegeben hat, unmöglich eine Story zu machen ist.« »Keine Story!« Sie war fassungslos. »Melanie, lassen Sie Ihr persönliches Interesse an dem Mann und Ihre Sympathie für die Sache doch einmal beiseite. Sehen Sie es vom professionellen Stand punkt aus. Ghaled ist aus der Generallinie der Palästi nensischen Befreiungsbewegung ausgeschert, als er das pak gründete und die plo und Al Fatah öffentlich brandmarkte. Die Leute von der Volksfront haben ihn abgeschrieben. Er ist jetzt bloß noch ein besserer 158
Gangster und immerhin noch so weit bei Verstand, daß er das weiß. Deswegen versucht er sich mit sei nem unsinnigen Gefasel, Israel im Alleingang vernich ten zu wollen, den Rückweg in den Kreis seiner ehe maligen Mitstreiter freizureden.« »Das hat er nicht gesagt.« Sie war jetzt ehrlich ent rüstet. »Er hat von ›vernichtend schlagen‹ gesprochen, nicht von ›vernichten‹ Und von einem Alleingang war auch nicht die Rede. Da unterschätzen Sie ihn aber ganz beträchtlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Ein heruntergekommener Preisboxer, der sich noch immer vormacht, für einen Titelkampf ausersehen zu sein. Das ist alles, was ich sehe.« »Ihr Vergleich ist ja grotesk!« »Das finde ich nicht. Den zionistischen Staat ver nichten, vernichtend schlagen? Erzählen Sie mir nicht, daß Sie das ernst nehmen können.« »Das kann ich, und das tue ich.« »Den ganzen Unsinn über festen Punkt und He bel?« »Das ist kein Unsinn!« »Tut mir leid, Melanie, das meine ich aber doch.« »Nur weil Sie nicht wissen, was geplant ist.« »Und Sie wissen es?« »Ja. Ein bißchen weiß ich schon.« Das war es, was ich als allererstes hatte herausfin den wollen. Ich stichelte weiter. »Pläne zur Unterwerfung Israels sind leicht aufge stellt. Die Araber haben eine ganze Anzahl davon 159
ausgearbeitet. Sie auszuführen scheint jedoch weniger leicht zu sein. Die vereinigten Streitkräfte Ägyptens, Syriens und Jordaniens reichten dafür nicht aus. War um Ihrem Mr. Ghaled in dieser Hinsicht mehr Erfolg beschieden sein sollte, sehe ich nicht.« »Er wird Erfolg haben.« »Womit? Mit Bomben in Grapefruits?« »Sie haben nicht so höhnisch geredet, als die Volks front zur Befreiung Palästinas sie noch in Flugzeugen versteckte.« »Nein. Aber was hat diese kleine Kampagne gegen Israel ausgerichtet? Hat sie die Touristen daran gehin dert, weiterhin mit ihren Traveller-Schecks nach Israel zu fliegen? Sie hat es nicht. Mehr Touristen als je zu vor sind gekommen. Als die Freunde Ihres Mr. Gha led israelische Busse zusammenschossen, die mit Tou risten in die besetzten Gebiete fuhren, haben sie da den Busverkehr zum Erliegen gebracht? Nicht einen Tag lang.« »Es wird alles ganz anders aussehen, sobald Ghaled zum Zug gekommen ist.« Das war das zweitemal, daß ich eine Information von ihr erhielt. Ich zuckte die Achseln. »Na und? Ein paar bedau ernswerte Touristen kommen ums Leben. Zugegeben, der Fremdenverkehr ist wichtig für die israelische Wirtschaft, aber so wichtig nun auch wieder nicht. Ein leichter Rückgang des Dollarzustroms wird Israel nicht vernichten.« »Wer kann voraussagen, was die Folge sein wird?« 160
Sie wurde jetzt wirklich ärgerlich. Ich glaubte nicht, daß ich noch irgend etwas aus ihr herausbekommen würde; aber nach einem Augenblick fuhr sie fort: »Sie haben wieder ›vernichten‹ gesagt. Das Wort, das Gha led benutzt hat, war ›vernichtend schlagen‹. Sie be greifen jetzt vielleicht, warum er auf Tonbandauf nahmen bestanden hat.« »Vernichten oder vernichtend schlagen – wo ist da der Unterschied? Er hat beide Ausdrücke gebraucht.« »Aber in unterschiedlichem Zusammenhang. So weit es Israel betrifft, ist die Unterscheidung wichtig. Wenn es nicht von außen her vernichtet werden kann, muß es von innen heraus besiegt werden.« »Tut mir leid, das verstehe ich nicht.« »Sie haben selber gesagt, die israelische Einigkeit ist das Werk der Araber.« »Diese Bemerkung war in eine Frage gekleidet, die ich an Mr. Ghaled richtete. Die israelische Einigkeit ist das Produkt vieler Dinge – der jüdischen Religion, des Glaubens, der Geschichte, des Dramas der Sammlung und Landnahme, der Härte und Zähigkeit der Sabras, der Hingabe der Aliyah-Einwanderer, des gemeinsa men Interesses aller, der Selbstbehauptung und Selbst achtung – alle Ingredienzien einer hochstehenden na tionalen Moral sind da zusammengekommen. Goliaths Nähe und Davids fortgesetzter erfolgreicher Kampf gegen ihn stellen nur einen Teil der Geschichte dar.« »Aber eben den, der am meisten zählt. Ohne den Druck von außen wäre der israelische Staat längst au seinandergefallen. Selbst jetzt, wo – wie Sie es aus 161
drücken – Goliath noch immer vor den Toren steht, ist das Volk von Haß und Uneinigkeit zerrissen.« »Uneinigkeit gehört zur demokratischen Regie rungsform.« »Aber nicht ein Haß aller gegen alle. Die Aschkenas hassen die Sephardim, und beide werden gehaßt von den orientalischen Juden, den unterprivilegierten Pro letariern. Die Aduk hassen die Ostjuden, und die Taymanim hassen die Mea Shearim und ihresgleichen, die jüdische Antizionisten sind. Die Sabras hassen je dermann, sogar sich selber.« »Wollen Sie damit sagen, Ghaled baue darauf, daß Israel politisch labil werden und auseinanderbrechen wird? Denn wenn er das tut –« »Wer kann denn sagen, was geschieht«, erklärte sie herausfordernd, »wenn sich Davids Prahlereien als in haltsleer erweisen, wenn es Goliath ist, der die Schleu der besitzt und die Hirtentasche mit den Steinen, wenn die Israelis die Niederlage zu kosten bekom men?« »Ich vermute, sie würden die Reihen enger schlie ßen und höllisch aufpassen, daß sich dergleichen nicht wiederholt.« »Kann sein, kann auch nicht sein. Niederlagen kön nen bei denen, die sie noch nie erfahren haben, die er staunlichsten Wirkungen zeitigen.« »Israel wird nicht durch Nadelstiche besiegt.« »Ein einziger Stich mit der Stecknadel bringt einen aufgeblasenen Luftballon zum Platzen, besonders wenn der Innendruck stark ist.« 162
»Und wenn Ghaled nur den richtigen ›festen Punkt‹ fände, könnte er die Welt bewegen. Lassen wir das, Melanie.« Ich gähnte. Ich wollte nicht, daß ihr bewußt wurde, wie weit sie die Katze bereits aus dem Sack ge lassen hatte, und sorgte deswegen dafür, daß die Un terhaltung nicht an diesem Punkt endete. »Eines habe ich nicht behalten«, fuhr ich, ein Gäh nen unterdrückend, fort. »Wie buchstabiert man den Namen des Dorfs, das Ghaled erwähnte, dasjenige, das in der Nähe von Haifa liegt? Majd el – irgendwas oder so ähnlich?« »Majd el-Krum.« Sie buchstabierte es mir vor. »Aber ich dachte, Sie meinten, das gäbe keine Story her?« »Das glaube ich auch nicht, jedenfalls keine für mich. Aber die Bänder werden ohnedies abgeschrie ben. Da können wir den Namen ebensogut gleich richtig buchstabieren.« Ich nahm noch einen Drink und legte mich für ein paar Stunden in einem Gästezimmer schlafen. Miss Hammad fuhr mich rechtzeitig zu einem späten Früh stück nach Beirut zurück. Nachdem ich geduscht und mich umgekleidet hatte, ging ich in das Nachrichten büro. Frank Edwards war da und sah mich erwartungs voll an. »Wie ist es gelaufen, Lew?« Ich schilderte ihm, wie sich die Zusammenkunft abgespielt hatte, und übergab ihm meine beiden Kas setten. »Das meiste ist drauf«, sagte ich. »Ich hätte da eine Sache, die ich nachprüfen möchte, wenn das von 163
hier aus möglich ist. Vor etwa drei Wochen hat es in Israel in einem Dorf namens Majd el-Krum in der Nähe von Haifa einen Zwischenfall gegeben. Ein Ara ber wurde verurteilt, weil er die Polizei nicht über ei nen Besuch seines Bruders informiert hatte, der Mit glied des pak ist. Wird in der israelischen Presse über dergleichen berichtet?« »Zuweilen schon. Wir bekommen die israelischen Blätter per Luftpost über Zypern. Vor drei Wochen, sagten Sie?« »So ungefähr.« Er fand eine Meldung in der englischsprachigen Je rusalem Post. »Da ist es ja. Der Fall wurde vor dem Distriktsge richt in Haifa verhandelt. Der Angeklagte Ali gab sei nem Bruder ein Glas Wasser und schickte ihn dann fort.« »Und dafür sprengten die Israelis sein Haus in die Luft?« »Wie kommen Sie denn auf so etwas? Er wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und die Strafe an schließend vom Richter ausgesetzt. Ali verließ das Ge richtsgebäude unter den Hochrufen der Leute aus sei nem Dorf als freier Mann.« »Und was ist mit dem pak-Kämpfer passiert?« »Man hat ihn gefaßt. Er war es übrigens gewesen, der die Polizei von seinem Besuch bei seinem Bruder Ali verständigt hatte. Reizendes Bürschchen, das. Er wird dem Gericht in Kürze vorgeführt. Seine Strafe dürfte der Richter schwerlich suspendieren.« 164
»Was wird er bekommen?« »Acht bis zehn Jahre. Er war bewaffnet, als er ge faßt wurde, deshalb.« Er nahm die Kassetten zur Hand. »Ich werde veranlassen, daß die Bänder gleich abgeschrieben werden.« »Damit hat es keine Eile, Frank«, sagte ich. »Ich schreibe jetzt ohnehin noch keine Story über Ghaled.« »Keine Story?« »Noch nicht. Sie wollten doch wissen, was er vorhat. In dieser Aufzeichnung werden Sie einiges darüber zu hören bekommen, aber ich kann es Ihnen in drei Wor ten sagen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, den Staat Is rael zu schlagen. Nichts Geringeres als das.« »Das wollen sie alle.« »Er meint das ganz konkret. Ich zitiere: ›Zeigen Sie mir einen festen Punkt, und ich bewege Ihnen die Welt.‹ Nun, er behauptet, den festen Punkt entdeckt zu haben. Übrigens war er es, der mir erzählte, daß die Polizei das Haus von diesem Ali gesprengt habe. Wahrscheinlich dachte er, ich würde mir die Mühe sparen, das nachzuprüfen, oder keine Möglichkeit da zu haben. Dumm von ihm, und auch ein bißchen merkwürdig, denn wie ein Dummkopf kam er mir nicht vor, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht dumm. Sehr verschwiegen. Eine Menge vieldeutiges Gerede über seine Pläne, aber nichts Konkretes. Aus La Hammad habe ich dann anschließend schon etwas mehr herausbekommen.« »Und was war das?« Ich sagte es ihm. 165
»Was schließen Sie daraus?« »Ich habe das Gefühl, sie weiß weniger, als sie zu wissen glaubt«, sagte ich. »All das Zeugs über den in neren Druck, unter dem der Staat Israel steht, über zerplatzte Luftballons und die Aushöhlung des Zu sammenhalts durch von gegenseitigem Haß erfüllte Minderheiten ist nichts weiter als ihr privates Phanta sieprodukt. Ich möchte annehmen, daß Ghaled tat sächlich einen Aktionsplan hat, der einen Überfall auf irgendein Touristenzentrum auf israelischem Territo rium vorsieht. Mit ›Israel schlagen‹ meint er, glaube ich, lediglich, daß Art und Ort des angegriffenen Ziels sofortige israelische Vergeltungsmaßnahmen erschwe ren oder unmöglich machen würden. Ich vermute, daß der feste Punkt, von dem er faselt, nichts anderes als die Wehrlosigkeit ahnungsloser Passanten – Besucher und Touristen – ist, denen gegenüber er eine totale Gleichgültigkeit an den Tag legt. ›Solange wir in Palä stina für unser Recht kämpfen, gibt es keine Unbetei ligten.‹ Er genoß es richtiggehend, das anbringen zu können. Worauf es ihm ankommt, das ist, scheint mir, eine politische Aufwertung. Wenn – ein sehr großes Wenn – ihm der Beweis gelingt, daß das pak auf israe lischem Boden ungestraft zuschlagen kann, muß Kai ro ihn doch wieder ernst nehmen, nicht wahr?« Er nickte. »Irgend etwas Effektvolles, und das mög lichst weit innerhalb Israels, ja. Das würde ihm sicher lich Auftrieb geben. Wenn er heil davonkommt – was, wie Sie schon sagten, außerordentlich fraglich ist – und nicht wie eine Wanze zerquetscht wird.« Er grin 166
ste. »Mir ist gerade klargeworden, warum er Ihnen diese Lügengeschichte über den Majd-el-Krum-Fall aufgetischt hat.« »Warum?« »Weil er Ihnen damit imponieren wollte, daß pakMänner in der Gegend von Haifa operieren.« »Aber warum diese Lügengeschichte?« »Wenn er Ihnen über den israelischen Richter, der die Strafe ausgesetzt hat, die Wahrheit erzählt hätte – würden Sie sich dann die Mühe genommen und die Story überprüft haben? Hätten Sie die Geschichte nicht einfach vergessen?« »Wahrscheinlich. Aber warum will er meine Auf merksamkeit auf die Gegend um Haifa lenken?« »Ich vermute, weil das Unternehmen, das er plant, dort nicht stattfindet. Er wollte Sie von der Fährte ab lenken.« »Für mein Gefühl ist das aber sehr weit hergeholt.« »Mag sein, aber so arbeiten die Gehirne dieser Bur schen nun einmal. Lew, ich glaube, Sie gehen an die Sache falsch heran. Ich meine, Sie sollten doch schon so etwas wie einen Bericht darüber schreiben. pakFührer Salah Ghaled kündigt in persönlichem Inter view neue Aktionen gegen Israel an. Irgend etwas in der Art. Porträt eines Terroristen. Was ist es, was sol che Männer antreibt?« »Das liefe praktisch auf genau das hinaus, was Hammad will: dem Helden Auftrieb verschaffen.« »Ich glaube kaum, daß sie Ihren Bericht als Auf trieb ansehen würde.« 167
»Ich habe ihn ihr gegenüber mit einem herunterge kommenen Preisboxer verglichen, der sich noch im mer einbildet, es gäbe ein Comeback für ihn. Ich glaube, daß ich das richtig sehe. Wenn er – wiederum das große Wenn – wahrmacht, was er ankündigt, wird das eine Story geben. Bis dahin wäre es, jedenfalls was mich betrifft, reine Zeitverschwendung, auch nur eine Zeile über ihn zu Papier zu bringen. Bloßes Maulhel dentum, weiter nichts.« Darin sollte ich mich natürlich getäuscht haben; und das in ganz unentschuldbarer Weise, denn ich hatte mich in meinem Urteil von meiner persönlichen Abneigung gegen Ghaled leiten lassen.
Viertes Kapitel Michael Howell 16. und 17. Mai
Ich begreife nicht recht, warum Lewis Prescott eine derart spontane Abneigung gegen Ghaled gefaßt ha ben sollte. Mir scheint, der Mann hat sich bei dem In terview von seiner besten Seite gezeigt. Prescott zu folge hat er sogar gelächelt. Gänzlich anders spielte sich die Geschichte vier undzwanzig Stunden später mit Teresa und mir ab. Kein wärmender Arrak für uns; keine Aufforderung, Platz zu nehmen, keine Höflichkeit. Statt dessen saß er in meinem Bürosessel, eine Flasche von meinem be sten Brandy vor sich auf dem Schreibtisch, und stierte uns, die wir vor ihm standen, finster an. Er wußte, daß wir Angst vor ihm hatten. Die Bürotür stand offen, und die beiden bewaffne ten Männer hielten Wache davor. Aus dem Labor drang Issas Stimme herüber, als er seine unterbroche ne Vorlesung fortsetzte. Er war jetzt bei der Filtrie rung angelangt und erklärte seiner Klasse, wie man das Knallquecksilber auf einer Glasplatte austrocknen läßt. Fortbildungskurse für die Jugend dürften nicht abgebrochen werden, hatte Ghaled gesagt. Er nahm einen Schluck von meinem Brandy, schmetterte die Flasche auf meinen Tisch und deutete 169
mit dem Finger auf mich. »Sie werden jetzt Fragen be antworten. Erstens, warum sind Sie heute abend hier? Wer oder was hat Sie hergeschickt?« »Ich bin hergekommen, um mir hinsichtlich eines Verdachts Gewißheit zu verschaffen.« »Was für ein Verdacht war das?« »Daß Issa tun könnte, was er in der Tat tut – Sprengstoff herstellen.« »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Das hat mir niemand gesagt. Ich habe es vermu tet.« Er beugte sich über meinen Tisch hinweg vor. »Ich kann mir denken, daß Sie im Augenblick ein bißchen durcheinander sind. Der dumme Nachtwächter er weist sich als nicht gar so dumm, als jemand, der An weisungen gibt, statt sie entgegenzunehmen. Ich bin durchaus bereit, dem Rechnung zu tragen, aber stellen Sie meine Geduld nicht auf eine allzu harte Probe. Sie werden mir wahrheitsgemäß antworten, und das um gehend, wenn ich bitten darf. Keine Tricks, keine Ausflüchte, Mr. Howell. Ich frage nochmals. Wer hat es Ihnen gesagt?« »Ich habe Ihnen bereits geantwortet. Ich bin selber daraufgekommen.« »Sie erwarten von mir, daß ich das glaube?« »Ich kenne mich in meinem Geschäft aus, Mr. Gha led. Ich weiß, welche Chemikalien im Labor benötigt werden, und ich weiß, welche nicht benötigt werden. Außerdem bin ich noch imstande, einen Warenbe gleitschein zu lesen.« 170
»Die Warenbegleitscheine für die Chemikalien sind jedesmal vernichtet worden.« Teresa meldete sich zu Wort. »Ich habe Beirut um Kopien gebeten«, sagte sie. »Warum?« fuhr er sie an. »Wer hat Sie angewiesen, das zu tun?« Sie war jetzt ganz ruhig, viel ruhiger als ich. »Wa renbegleitscheine kann man vernichten, aber Rech nungen müssen beglichen werden. Diese Rechnungen waren zu hoch. Ich wollte wissen, warum. Dann habe ich die Duplikate der Warenbegleitscheine Mr. Ho well gezeigt.« Ghaled trug einen rosa gemusterten baumwollenen Kaffijeh. Er strich ihn sich aus dem Gesicht und lehn te sich im Sessel zurück. Sein Blick wanderte von ihr zu mir. »Ist das wahr?« »Das ist es«, sagte ich. »Wann haben Sie das mit den Chemikalien ent deckt?« »Heute abend.« »Haben Sie sonst noch jemandem davon erzählt?« »Es war niemand da, dem ich es hätte erzählen können.« »Und jetzt?« Er zündete sich mit einem gravierten silbernen Feuerzeug eine Zigarre an. »Was – und jetzt?« »Wen gibt es, dem Sie es jetzt erzählen könnten?« Ich zuckte die Achseln. »Nach wie vor niemanden, nehme ich an.« 171
Er nickte. »Ich bin ja froh, daß Sie meine Intelligenz nicht erneut mit dem törichten Gerede beleidigen, Sie wollten die Polizei verständigen. Weshalb es töricht war, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, oder?« »Vermutlich wissen Sie, daß die Polizei nichts un ternehmen würde.« »Gegen mich wenig oder gar nichts, das stimmt. Aber das war es nicht, mein Freund, woran Sie dach ten, als Sie davon redeten, daß Sie die Polizei benach richtigen wollten.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Sie dachten an die Auswirkung, welche die von der Polizei zur ei genen Absicherung höheren Orts erstattete Meldung, daß eine seiner fortschrittlichen industriellen Koope rativen eifrigst mit der Herstellung von Sprengstoff für das pak befaßt ist, auf Dr. Hawa haben mußte. Habe ich recht?« Bis zu einem gewissen Grad hatte er das. Ich zuckte hilflos die Achseln, und er lehnte sich befriedigt zu rück. »Es müßte doch amüsant sein zu hören, wie Dr. Hawa sich gegenüber seinen Vorgesetzten in der Re gierung zu diesem Sachverhalt äußern würde. Was meinen Sie, würde er es auf seine Kappe nehmen? Würde er vielleicht die Gegenfrage stellen, was gegen einen überzeugten Ba’athisten einzuwenden sei, der den Kommandokämpfern der Palästinensischen Be freiungsbewegung ein klein wenig diskrete kamerad schaftliche Unterstützung zuteil werden läßt? Oder würde er in widerwärtig feiger Manier beteuern, mit 172
dieser schrecklichen Affäre nichts zu tun zu haben, und alle Schuld auf Sie schieben? Sie kennen ihn bes ser als ich, Mr. Howell. Was glauben Sie, wie er sich verhalten würde?« Ich ging auf sein Spiel ein und seufzte kleinlaut. »Wahrscheinlich würde er es der Presse als neue Pilot operation zur Herstellung von Munition ankündigen.« Er verzog den Mund. »Wenn er glaubt, der Vertei digungsminister würde ihm das durchgehen lassen, könnte er das versuchen, da mögen Sie recht haben. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß er die Schuld auf Sie schieben würde, dürfte doch wohl größer sein. Da die Polizei jedoch nichts davon erfahren wird, wird er auch nichts erfahren. Sie haben also wirklich keinen Anlaß, besorgt zu sein, nicht wahr?« »Vermutlich wohl nicht.« Von einem Atheisten, der mit der Schlinge um den Hals unter dem Galgen steht und gefragt wird, ob er irgendeinen Anlaß habe, be sorgt zu sein, würde man die gleiche Antwort erhalten haben. »Dann sollten wir zur Sache kommen.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung, als stelle die Tatsache, daß wir noch immer standen, eine mutwillige Verzö gerung unsererseits dar, bedeutete er uns, Platz zu nehmen. »Ich habe mich schon seit einigen Wochen mit dem Gedanken getragen, die Zusammenarbeit mit der Agence Howell auszuweiten. Daß Sie heute abend hier eingedrungen sind, zwingt mich jedoch, meine Pläne leicht abzuändern. Zweifellos wird Ihnen bewußt ge 173
worden sein, daß Sie jetzt mehr wissen, als Sie norma lerweise hätten erfahren sollen.« »Ja.« »Nun, dem können wir abhelfen. Aber damit es keine Mißverständnisse gibt, will ich in aller Deut lichkeit aussprechen, was Ihnen, wie ich hoffe, ohne dies klar sein dürfte. Es wird hier keinerlei personelle oder sonstige Änderungen geben, es sei denn, ich ord ne sie an. Vor allem wird Issa nicht entlassen. Nie mand wird entlassen. Ich werde diesen Bau auch wei terhin als eines meiner Hauptquartiere benutzen. Ist das klar?« Ich nickte. »Ich habe eine Frage an Sie gerichtet. Ich verlange eine Antwort darauf.« »Ja, Mr. Ghaled.« »Miss Malandra?« »Ja, Mr. Ghaled.« »Gut. Dann werde ich Sie jetzt in gewissem Um fang ins Vertrauen ziehen. Sie, Mr. Howell, bezeich neten Issas Arbeit als Bastelkurs zur Herstellung von Bomben. Es ist mir klar, daß Sie das im Zorn gesagt haben und ihn beleidigen wollten. Sie hatten damit je doch zugleich recht und auch unrecht. Recht insofern, als die Herstellungsverfahren, auf die wir zur Zeit zu rückgreifen müssen, primitiv sind. Unrecht insofern, als Sie glaubten, wir seien hier mit der Fertigung von Bomben befaßt. Tatsächlich geht es uns gegenwärtig darum, Sprengkapseln von bestimmter Art herzustel len, und das in großer Anzahl. In Ermangelung der 174
dazu erforderlichen technischen Anlagen wie zum Beispiel der Geräte zur Temperaturkontrolle und der zur Kontrolle der Fertigung benötigten Produktions tabellen müssen wir unter Beachtung ausreichender Sicherheitsvorkehrungen zusehen, wie wir ohne sie zurechtkommen. Können Sie mir folgen?« »Soweit ja.« »Aber wozu, werden Sie sich fragen müssen, brau chen wir so dringend Sprengkapseln? Was nützen ih nen Sprengkapseln ohne den Sprengstoff, den sie zün den sollen? Die Antwort darauf lautet, daß wir den Sprengstoff haben, daß uns der Nachschub an den zu seiner Anwendung benötigten Mitteln jedoch von un seren Gegnern in Kairo und andernorts abgeschnitten wurde. Selbst einige unserer sogenannten Freunde ha ben unter der Hand versucht, unsere Operationen auf diese Weise zu behindern und zu kontrollieren. Waf fen wurden geliefert, aber die nötigen Zünder gehen, obwohl zugesagt, unterwegs verloren oder werden zurückgehalten. Und wenn sie, was selten genug der Fall ist, endlich irgendwann eintreffen, sind es die fal schen oder sie sind nicht gefüllt oder aus irgendeinem anderen Grund unbrauchbar. Es ist ganz eindeutig vorsätzliche Sabotage.« Eine inspirierte und höchst bewundernswerte Form von Sabotage, wie mir schien; aber ich nickte mitfüh lend. »Daher«, fuhr er fort, »müssen wir uns eigene Nachschubquellen erschließen. Und das, Mr. Howell, ist der Punkt, an dem ich Sie ins Spiel bringe.« 175
»Mich, Mr. Ghaled?« »Sie verfügen über Kenntnisse, Fähigkeiten und Mittel, die für uns von großem Wert sein können. Würden Sie mir, was das betrifft, nicht recht geben?« Mein Lächeln muß ziemlich gequält gewirkt haben. »Ich habe den Eindruck, Mr. Ghaled, daß Sie sich meine Mittel – und Issas Kenntnisse – bereits zunutze machen, und zwar mit ausgezeichneten Ergebnissen. Sie haben sich eine Nachschubquelle für das Material eröffnet, das Ihnen fehlte. Mein Wissen und meine Fähigkeiten, wie immer es um sie bestellt sein mag, scheinen gar nicht benötigt zu werden.« »Da sind Sie ganz entschieden im Irrtum«, sagte er sehr bestimmt. »Aber das werde ich Ihnen jetzt nicht erklären. Natürlich war ich auf dieses Zusammentref fen mit Ihnen heute abend hier nicht vorbereitet. Wie die Dinge nun einmal liegen, müssen wir die Diskus sion über Ihren Beitrag auf morgen verschieben. Ich werde Ihnen dann im einzelnen genau sagen, was von Ihnen erwartet wird.« Er stand auf, und wir erhoben uns ebenfalls. »Sagen wir um neun Uhr abends. Miss Malandra kommt am besten mit. Sie werden sich möglicherweise Notizen machen wollen.« »Ausgezeichnet.« »Da wäre noch eine Kleinigkeit.« Er schnippte laut mit zwei Fingern, und die bewaffneten Männer auf dem Gang stürzten herein. »Dieser Mann und diese Frau werden morgen abend wiederkommen«, sagte er ihnen. »Sie sind als Genossen zu behandeln.« Er blick te mich an. »Haben Sie das gehört, Mr. Howell?« 176
»Ja.« »Aber haben Sie es auch begriffen? Ich habe den Ausdruck ›Genossen‹ gebraucht.« »Ich habe es verstanden. Ich hoffe nur, sie erinnern sich daran.« »Ich sehe, Sie begreifen noch immer nicht. Sie wer den doch gewiß nicht annehmen, daß ich Sie nach der Entdeckung, die Sie hier heute abend gemacht haben, und nach unserer freimütigen Unterhaltung gehen las se, ohne Sie, nun, sagen wir, verpflichtet zu haben?« Ich zuckte die Achseln. »Sie haben mir bereits un mißverständlich klargemacht, daß ich verschwiegen sein muß und warum ich es zu sein habe.« »Ich spreche jetzt nicht von Verschwiegenheit, son dern von Loyalität und Treu und Glauben.« »Ich fürchte, ich begreife noch immer nicht.« »Das liegt doch auf der Hand. Sie sind Ausländer hier, genießen aber besondere Vorrechte. Sie können aus- und einreisen, wann immer es Ihnen paßt. Das ist eine Situation, deren Vorteile bei gegebener Gelegen heit auszunutzen ich mir vorbehalte, die es Ihnen je doch in der Zwischenzeit erlaubt, sich die Sache wo möglich anders zu überlegen. Falls Sie zum Beispiel beschließen sollten, lieber nach Beirut oder Alexan dria oder Kairo zu fliegen und mir Ihre Kooperation zu verweigern, statt mich morgen hier zu treffen, würde ich mich zu Schritten gezwungen sehen, die ich bedauern müßte.« Er schwieg einen Augenblick lang, um ganz sicher zugehen, daß ich die Drohung auch begriff. »Wie ich 177
eben sagte«, fuhr er dann fort, »würde ich die Not wendigkeit, derartige Schritte zu unternehmen, au ßerordentlich bedauern. Es wäre zudem kostspielig für uns, weil wir möglicherweise weite Wege zurück legen müßten, um Sie zu finden. Ganz abgesehen da von, daß wir es vorzögen, wenn Sie am Leben und uns somit als Mitarbeiter erhalten blieben. Sie müssen ein sehen, daß es für dieses Problem nur eine einzige Lö sung gibt. Sie und diese Frau hier müssen loyale und einsatzfreudige Mitglieder des Palästinensischen Akti onskommandos werden und sich seiner Disziplin un terwerfen.« »Aber wir sind doch Ausländer«, protestierte ich idiotischerweise. »Wir können nicht … Wir –« Ich ge riet ins Stammeln. Er brachte mich mit einer ungehal tenen Geste zum Schweigen. »Es gibt bereits andere Ausländer, Ausländer beiderlei Geschlechts, denen die Mitgliedschaft zuerkannt wurde.« Er machte eine Pause und fügte dann schneidend hinzu: »Sie betrach teten es als Ehre, dienen zu dürfen – als Ehre.« Ich murmelte irgendeinen Unsinn wie: das alles käme so überraschend, aber er überhörte es. »Sie sind kein Jude. Und ich nehme an, auch Miss Malandra ist keine Jüdin. Es gibt daher keinen Hinde rungsgrund. Sie werden den Treueid selbstverständ lich nach christlicher Art schwören. Haben Sie Ihre Pässe da?« Mein Paß steckte in meiner Jackentasche. Teresa hatte nur ihre Identitätskarte bei sich. Er nahm so wohl den Paß als auch die Identitätskarte an sich. 178
»Diese Ausweise werden für unser Archiv photo kopiert und Ihnen morgen wieder ausgehändigt«, sag te er. »Bei der Gelegenheit werden Sie noch ein paar schriftliche Formalitäten erledigen. Den Treueid kön nen Sie aber jetzt gleich ablegen. Eine Bibel haben Sie wohl nicht hier in Ihrem Büro?« »Nein.« »Nun, die ist dazu auch nicht unbedingt erforder lich. Ich schlage vor, Sie legen den Eid zuerst ab. He ben Sie die rechte Hand und sprechen Sie mir nach: Ich, Michael Howell, schwöre als Christ bei der Heili gen Dreifaltigkeit und beim Heiligen Buch des Antio chus, daß ich aus freiem Willen, mit ganzem Herzen und ohne inneren Vorbehalt mein Leben und alles, was ich besitze, dem Palästinensischen Aktionskom mando verpfände, und verspreche …« Er sprach arabisch, und in dieser Sprache klangen die Wörter seltsam. Die Berufung auf Antioch machte den Schwur zu einem maronitischen Eid, und da ich nominell griechisch-orthodox bin, nehme ich an, daß er mich nicht wirklich band; aber meine Mutter, die praktizierende Christin ist, würde Zustände bekom men haben. Auf den genauen Wortlaut des restlichen Sermons kann ich mich nicht mehr besinnen; er besag te im wesentlichen, daß ich lebenslangen bedingungs losen Gehorsam gelobte und mich damit einverstan den erklärte, daß schon der geringfügigste Verstoß ge gen das Gelübde mit dem Tod geahndet werden wür de. Der Vollzug der Strafe, die auf Verrat an der Sache stand, war komplizierter; er wurde mit ekelerregender 179
Freude am Detail beschrieben, lief aber auf das Glei che heraus. »Sind Sie bereit«, wollte Ghaled wissen, »das in Gegenwart dieser brüderlichen Zeugen zu beschwö ren?« Die beiden brüderlichen Flintenhelden sahen mich erwartungsvoll an. »Ich schwöre es.« »Sie sind aufgenommen.« Er wiederholte das ganze Ritual von A bis Z mit Teresa. Ich dachte, als Katholikin würde sie sich gegen einige Wendungen sperren, aber sie brachte es so zü gig und unpersönlich hinter sich, als läse sie aus ihrem Stenoblock einen Brieftext vor, den ich ihr diktiert hatte. »Ich schwöre es.« Das klang bereits etwas gelang weilt. »Sie sind aufgenommen.« Ghaled schickte die bei den bewaffneten Männer mit einem Fingerschnippen wieder vor die Tür und sah uns lange an. »Meinen Glückwunsch, Genossen«, sagte er schließ lich. »Es gehört sich, daß Sie mich von jetzt ab – bei allem schuldigen Respekt – mit Genosse Salah anre den. Wollen Sie sich das merken?« »Ja, Genosse Salah.« Er nickte gnädig. »Dann also bis morgen abend.« Wir waren entlassen. Erst als wir wieder im Wagen saßen, merkte ich, wie müde ich war. Mein Rücken schmerzte noch immer. Es 180
war ein langer Tag gewesen. Ich konnte den hoffnungs losen Versuch machen, mir Möglichkeiten auszuden ken, wie wir aus der Klemme, in der wir steckten, her auskamen, aber ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Unglückseligerweise hatte Teresa Lust dazu. »Was tun wir jetzt?« fragte sie. Ihre Stimme verriet mehr Erregung als Angst. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Nach Hause fahren und schlafen, das ist alles, was ich im Augen blick will.« Sie fuhr eine halbe Minute lang schweigend weiter. »Willst du mit Oberst Shikla sprechen?« »Nein.« Ich begründete das nicht näher. Oberst Shikla war Leiter des Inneren Sicherheitsdienstes und ein höchst unangenehmer Mann von abschreckendem Ruf. Ich war ihm auf Gesellschaften begegnet und in dem Be mühen, meine Furcht vor ihm zu kaschieren, allzu leutselig gewesen. Er mußte an Reaktionen dieser Art gewöhnt sein, denn mein Verhalten hatte ihn offen kundig amüsiert. Ihn in seiner offiziellen Funktion aufzusuchen war das letzte, was für mich in Frage kam, selbst wenn es Sinn gehabt hätte. Aber Teresa ließ nicht locker. »Du könntest privat mit ihm sprechen, ganz inoffiziell.« »Inoffiziell über Ghaled? Sei nicht albern. Derartige Dinge fallen in seinen Geschäftsbereich.« »Dann eben offiziell. Falls irgend jemand dahinter kommen sollte, wären wir gedeckt, wenn du Oberst Shikla unterrichtet hättest.« 181
»Mit weit größerer Wahrscheinlichkeit würden wir in einer seiner Vernehmungszellen landen.« »Aber warum denn, wenn wir ihm die Wahrheit ge sagt und alles erzählt hätten?« Sie war enervierend. »Weil Männer seines Schlags niemals glauben, daß man ihnen alles erzählt hat, selbst wenn das der Fall ist«, sagte ich gereizt. »Aber nehmen wir einmal an, er hätte es ausnahmsweise geglaubt. Was dann? Der Innere Sicherheitsdienst müßte etwas gegen Ghaled unternehmen. Möglicherweise will er das aber gar nicht. Möglicherweise habe ich denen etwas zur Kenntnis gebracht, wovon sie offiziell lieber nichts ge wußt hätten. Aber gehen wir ruhig einmal davon aus, sie kommen, widerstrebend oder nicht, zu dem Schluß, daß sie auf unsere Information hin handeln müssen. In welche Lage hätten wir uns damit gebracht?« »Wir hätten uns abgesichert.« »Womit? Mit Klarsichtfolie? Du glaubst doch nicht im Ernst, daß sie gegen Ghaled vorgehen würden, oh ne ihn rechtzeitig zu warnen, oder? Ihm würde genü gend Zeit und Gelegenheit bleiben, unsere Namen ganz obenan auf die nächste Säuberungsliste zu set zen. Das nennst du absichern? Rede keinen Unsinn, Genossin.« Sie kicherte doch tatsächlich. »Es ist ein komisches Gefühl, Mitglied des pak zu sein, findest du nicht?« »Komisch?« »Also meinetwegen auch gruselig. Ich frage mich, wer wohl diese anderen ausländischen Mitglieder sein mögen. Er sagte, sie seien beiderlei Geschlechts.« 182
»Eine der Frauen ist sicherlich Melanie Hammad.« »Sie hat in einem der französischen Modemagazine dieses Monats einen Artikel veröffentlicht – über Kaf tane. Ihr scheint aber nichts Schreckliches zugestoßen zu sein.« »Sie ist nicht in Syrien und fabriziert keinen Sprengstoff.« »Es ist Issa, der ihn fabriziert, nicht wir.« »Aber in unserem Werk.« Ich verlor plötzlich die Geduld. »Mein Gott, Mädchen! Begreifst du denn gar nicht, wie ernst diese Geschichte ist, wie gefährlich?« »Natürlich tue ich das, Michael. Aber es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Du bist jetzt müde, aber mor gen wird dir schon noch einfallen, wie du mit der Si tuation fertig werden kannst. Das ist bisher immer der Fall gewesen.« Ich empfand ihre Zuversicht nicht als schmeichel haft; ich wußte, sie war fehl am Platz. Weil ich im all gemeinen in der Lage bin, geschäftliche Schwierigkei ten zu meistern, Konkurrenten zu überlisten und er folgreich mit Leuten wie Dr. Hawa zu verhandeln, glaubte sie, ich sei Ghaled und der Lage, in die er uns gebracht hatte, ebenfalls gewachsen. Was sie nicht be griff, war die Tatsache, daß geschäftliche Befähigung nicht immer anwendbar ist, daß sie versagen muß, wenn die Ware Gewalt und der Partner, mit dem man es zu tun hat, eine Bestie ist. Ich habe nicht sehr oft in meinem Leben Angst ge habt. Als Kind hatte ich nachts Alpträume und wachte 183
schreiend auf; aber mit Alpträumen, denen man nicht dadurch entfliehen kann, daß man erwacht, habe ich wenig Erfahrung. Gewiß, während der Zypernkrise in den fünfziger Jahren hatte es ein paar unangenehme Augenblicke gegeben; aber man hatte sie zumeist ge meinsam mit seinen Nachbarn durchgestanden, und, obschon durchaus realer Natur, war die akute Gefahr noch jedesmal ebenso plötzlich und unvorhergesehen, wie sie einzutreten pflegte, auch wieder gewichen. Ghaled jedoch würde nicht weichen. Seit mehr als zwanzig Jahren gehörten Gewalttätigkeit und Tod zu seinem Metier, und daran würde sich vermutlich nichts ändern, bis er selber eines gewaltsamen Todes starb. Inzwischen machte er mir Angst. Ich gebe das zu. Er würde mir immer Angst machen. Ich wußte schon damals, daß die einzige Möglichkeit, mit ihm fertig zu werden, für mich darin bestand, ihn umzubringen. Ich rechnete jedoch nicht damit, jemals die Chance zu be kommen, das zu tun; und für ebenso ausgeschlossen hielt ich es, daß der Geschäftsmann Howell ernsthaft erwägen könnte, eine solche Chance, gesetzt, sie böte sich ihm, auch zu nutzen. Ich bin nun einmal kein Freund von Gewalttätigkeit. Ein paar Stunden Schlaf halfen. Als ich aufwachte, war mein Rücken noch wund, aber er tat mir nicht mehr weh. Ich konnte die Lage mehr oder weniger ruhig überdenken. Ghaled hatte gesagt, daß er, was mich be treffe, bestimmte Pläne habe, und davon gesprochen, 184
daß er beabsichtige, sich meine Freiheit, aus- und ein reisen zu können, wann es mir beliebe, zunutze zu machen – was darauf hindeutete, daß er mich als Ku rier oder Unterhändler zu verwenden gedachte. Aber er hatte auch davon gesprochen, sich meiner »Kennt nisse, Fähigkeiten und Mittel« bedienen zu wollen. Bevor ich nicht wußte, was er damit gemeint hatte, war es zwecklos, sich irgendwelche eigene Pläne zu rechtlegen zu wollen. Ich konnte jedoch meine Verteidigungsmöglichkei ten, soweit von solchen überhaupt die Rede sein konnte, inspizieren und ein paar naheliegende Sicher heitsvorkehrungen treffen. Ich mußte mir darüber im klaren sein, daß der Zeit punkt kommen mochte, wo ich mir, wie es Ghaled euphemistisch ausgedrückt hatte, »die Sache anders überlegte«. Mit anderen Worten, eines Tages konnte eine Situation eintreten, die es mir, Mordkommando hin, Mordkommando her, ratsam erscheinen ließ, mich aus dem Staube zu machen. Dazu würde ich ei nen Paß, reichlich Bargeld, einen gepackten Koffer und eine Anlaufstelle zum Untertauchen benötigen. Das Bargeld stellte kein Problem dar, und die An laufstelle ebensowenig, wenngleich ich in der Tat ver zweifelt sein mußte, um auf sie zurückzugreifen. Die unbekannte Größe war der Paß. Wenn Ghaled ihn mir einmal hatte abnehmen können, um sich, was mich betraf, rückzuversichern, war er durchaus fähig, dies erneut zu tun. Ohne Zweifel mußten sowohl Te resa als auch ich uns Zweitpässe besorgen, die wir in 185
unsere fertiggepackten Koffer legen konnten. Im Mittleren Osten sind die Konsulatsbeamten westlicher Staaten, was die Ausstellung von Zweitpässen für Ge schäftsleute betrifft, die einen solchen benötigen, im allgemeinen sehr entgegenkommend; so beispielsweise gegenüber denen, die nach Israel reisen. Pässe, die ei nen israelischen Visumstempel tragen, gelten in arabi schen Ländern als ungültig; und wenngleich die Israe lis in Anbetracht dieser Tatsache bereit sind, auf Wunsch von der Vornahme ihres Sichtvermerks abzu sehen, vergessen Reisende doch zuweilen, eine ent sprechende Bitte zu äußern, ehe es zu spät ist. Ich sagte Teresa, sie solle beim italienischen Konsu lat einen zweiten Paß für sich beantragen. Einen Zweitpaß für mich zu beschaffen, würde schwieriger sein. Obwohl Zypern diplomatische Beziehungen mit Syrien unterhält, gab es zu jener Zeit keinen zyprioti schen Konsul in Damaskus; ich rief daher unser Büro in Famagusta an und gab Order, die nötigen Schritte zu unternehmen. Nachdem das getan war, ging ich systematisch die Liste aller überprüfbaren Sicherheitsrisiken durch. Was Ghaled in der Batteriefabrik trieb, konnte er auch im Keramikwerk, in der Eisenwaren- und der Möbel fabrik oder im Elektronik-Montagewerk treiben. Möglicherweise spielte ich unwissentlich den Wirt für weitere pak-Zellen. Sollte das der Fall sein, wollte ich über das Schlimmste Bescheid wissen. Ich gab Teresa Auftrag, die Einkaufsunterlagen auf ungewöhnliche Artikel zu überprüfen. Die Personalakten nahm ich 186
mir selber vor. Als erstes suchte ich Ghaleds Einstel lungsunterlagen heraus, um zu sehen, wer ihn uns un ter dem Namen Yassin empfohlen hatte. Die Empfeh lung, stellte ich fest, war an den üblichen Aktenver merk vom Ministerium für Arbeit und Soziales gehef tet und von einem Hauptmann im Büro des Inneren Sicherheitsdienstes unterzeichnet. Soviel zu Teresas brillanter Idee, Oberst Shikla ins Vertrauen zu ziehen, damit wir »gedeckt« seien. Der Innere Sicherheitsdienst wußte nicht nur von Ghaleds Aktivitäten, er unterstützte ihn sogar und gewährte ihm Schutz. Als nächstes sah ich mir die Personalunterlagen von ein paar anderen bei uns beschäftigten Männern an, um herauszubekommen, ob derselbe isd-Hauptmann sonst noch jemanden empfohlen hatte. Ich verzichtete darauf, mich mit den Akten der unmittelbar im Pro duktionsprozeß Beschäftigten wie zum Beispiel denen von Drehern und Handwerkern zu befassen; es waren zu viele, als daß eine gründliche Überprüfung durch führbar gewesen wäre. Statt dessen beschränkte ich mich auf das Nachtschicht-Personal und die Ange stellten, denen Schlüssel anvertraut waren. Ich fand zwei; der eine war Gerätewart, der andere ein Lagerverwalter. Beide waren von dem isdHauptmann empfohlen worden. Beide arbeiteten in der Eisenwarenfabrik. Sie waren etwa um die gleiche Zeit eingestellt worden wie Ghaled. Mein erster Impuls war, den Fabrikmanager zu mir zu bestellen und ihm Anweisung zu geben, sie zu ent 187
lassen, aber Teresa machte berechtigte Einwände gel tend. Sie mußte besser geschlafen haben als ich. »Welchen Grund willst du angeben?« »Ich finde schon einen Grund.« »Wenn es tatsächlich Ghaleds Leute sind, wird er dich zwingen, sie wieder einzustellen, und dann bist du der Dumme.« »Und so fühle ich mich nur als der Dumme. Na gut. Aber ich will wissen, was sie im Schilde führen. Hat es irgendwelche Materialdiebstähle gegeben?« »Nein, aber es ist ein ganz ungebräuchlicher Artikel bestellt worden. An Eisenwaren wurde eine Order auf einen Satz Gewindebohrer und Prägestöcke eines Typs aufgegeben, den es gar nicht gibt.« »Woher weißt du das?« »Der Werkzeuglieferant hat mit Kopie an uns einen Brief des Inhalts geschrieben, daß er die gewünschten Gewindebohrer und Prägestöcke nicht auf Lager habe und sie, soviel er wisse, auch gar nicht hergestellt würden. Er deutete höflich an, daß es sich möglicher weise um einen Schreibfehler in der Bestellung han deln könne.« »Zeig mir doch mal die Order.« Sie legte sie mir vor. Ich sah sofort, warum der Lie ferant geglaubt haben mußte, es sei ein Fehler unter laufen. Ein Mechanikerlehrling im ersten Jahr würde gewußt haben, was an dieser Bestellung nicht stimmte. Ich überschlug im Kopf alle Eisenwarenartikel, die wir herstellten, und überlegte, ob es irgendein Ferti gungsverfahren gab, mit dem der versuchte Einkauf 188
von Gewindebohrern und Prägestöcken in Verbin dung gebracht werden konnte. Mir fiel keines ein. Da die Order von dem Kontoristen des Werkstatt büros unterzeichnet worden war, rief ich ihn an. Er konnte sich an die betreffende Bestellung nicht auf Anhieb erinnern, versprach aber, seine Bücher zu kon sultieren und mich dann zurückzurufen. Es wurde später Nachmittag, ehe er sich wieder meldete, und er wußte mir nichts zu sagen, was mir weiterhelfen konn te. Die Order für die Werkzeuge war ihm zusammen mit einem Konvolut anderer Bestellungen von seinem Gehilfen zur Unterschrift vorgelegt worden. Nein, der Gehilfe erinnerte sich nicht daran, wer die Anforde rung eingereicht hatte; er sah in seinen Unterlagen nach. Inzwischen wußte mir der Kontorist in feierlich ernstem Tonfall mitzuteilen, auf der Bestellung befinde sich ein Vermerk, der besage, daß die betreffenden Ar tikel vorübergehend nicht lieferbar seien. Ich klärte ihn darüber auf, daß sie noch nie lieferbar gewesen seien und es auch in Zukunft nicht sein würden, und hängte ein. Es war hoffnungslos. Ich mußte mich mit dem Gedanken trösten, daß der Versuch, irgendwelche krummen Dinge zu drehen, falls er auf dem Eisenwa rensektor unternommen worden war, wenig Aussicht auf Erfolg versprach. Issa hatte sich wenigstens genü gend ausgekannt, um die Materialien, die er brauchte, korrekt ordern zu können. Sein Pendant in der Eisen warenfabrik war offenkundig unfähig. Die zweite Defensivmaßnahme leitete ich mit einem Anruf bei Dr. Hawas Kanzleichef ein. 189
Nach ein paar einleitenden Höflichkeitsfloskeln kam ich auf den Bericht über das italienische Autobat terienprojekt zu sprechen, den ich Hawa am Vortag übermittelt hatte, und fragte, ob der Minister schon Zeit gefunden habe, ihn zu lesen. »Er liegt auf seinem Arbeitstisch, Mr. Howell. Aber ich glaube, er hat ihn noch nicht ganz durchgelesen. Er ist abgelenkt worden, weil der Finanzausschuß tag te.« »Ich habe auch keineswegs erwartet, daß der Mi nister bereits darüber entschieden haben könnte«, sag te ich. »Ich frage nur deshalb nach, weil ich soeben bemerke, daß ich ein ergänzendes Memorandum, das die mögliche Lokalisierung der neuen Fabrik betrifft, dem Bericht versehentlich nicht beigefügt habe. Es würde die Schlüsse, die aus dem Bericht zu ziehen sind, in keiner Weise verändern, enthält aber zusätzli che Informationen und Vorschläge, die der Minister möglicherweise für brauchbar und nützlich halten könnte. Wenn ich Ihnen noch heute Exemplare des Memorandums zugehen ließe, könnten sie dem Be richt, den der Minister liest, noch beigefügt werden?« Er machte zunächst Einwendungen, um seinem wi derstrebend gewährten Einverständnis den Anschein großen Entgegenkommens zu geben; aber das war ganz normal. Ich versprach, daß ihm das Memoran dum innerhalb einer Stunde vorliegen würde. Ich diktierte es Teresa in zehn Minuten. Sie sah mich besorgt an, als sie es aufgenommen hatte. »Ist das klug, Michael?« 190
»Es verschafft uns eine Karte, die wir ausspielen können.« »Ghaled wird es nicht passen.« »Wohl kaum – wenn ich es ihm zeige. Vielleicht tue ich es nicht, aber ich will es in der Hinterhand haben, für den Fall, daß es uns nützlich sein könnte. Datiere es drei Tage zurück und laß es so aussehen, als sei es in Mailand geschrieben. Und vergiß auch nicht, eine zusätzliche Ausfertigung mit der arabischen Überset zung beizugeben.« Als das Memorandum abgegangen war, hatte ich Zeit, mich auf meine eigentliche Arbeit zu konzentrie ren. Unser Vertreter in Athen stand vor dem Ab schluß eines wichtigen Kontrakts über beträchtliche Kachellieferungen und bat uns dringend um feste Zu sicherungen hinsichtlich des Lieferungstermins, da der Partner auf einer Klausel bestand, die für den Fall ei ner Verzögerung empfindliche Strafen vorsah. Ich konnte es mir nicht leisten, meine Antwort nachlässig oder gleichgültig ausfallen zu lassen; und doch mußte ich mir eingestehen, daß ich beides war. Es war Tere sa, die schließlich zu meiner Erleichterung vorschlug, die Antwort um vierundzwanzig Stunden aufzuschie ben, sie dann aber telegrafisch statt brieflich auf zugeben, um den entstandenen Zeitverlust wettzuma chen. Daß ich mich zu jenem Zeitpunkt intensiver mit meiner Verstrickung in die pak-Geschichte befaßte als mit meinen Verpflichtungen gegenüber der Agence Howell, ihren Anteilseignern und treuen Mitarbei 191
tern, ist zweifellos höchst bedauerlich. Ein verantwor tungsbewußter gestandener Geschäftsmann sollte in der Lage sein, die vorrangigen Dinge stets zuerst zu erledigen und unter allen Umständen einen kühlen Kopf zu bewahren. Offenkundig muß ich demnach also verantwortungslos und innerlich unzureichend gefestigt sein. Sei’s drum. Der Teufel, den ich kenne, interessiert mich wenig; aber der, den ich nicht kenne, läßt mir keine Ruhe. Meine Verpflichtungen dem Ge schäft gegenüber kannte ich; was das pak von mir wollte, mußte ich erst noch herausfinden. Wir nahmen unsere gewohnten Martinis, aber kei nen Wein oder Kognak zu uns. Zum einen wollte ich nicht, daß wir etwaigen Vermutungen, wir hätten uns, bevor wir zu dem Treffen aufbrachen, Mut antrinken müssen, mit unserem eigenen Atem Vorschub leiste ten; und zum anderen wollte ich mir keine Entschul digung dafür liefern, während ich mich dort aufhielt, die Toilette aufzusuchen. Ich weiß nicht, warum ich so viele Umstände bedachte. Wahrscheinlich war ich in meinem Denken als Geschäftsmann in jener Phase des Spiels noch immer auf langwierige Verhandlungen fixiert, bei denen geringfügige psychologische Boden gewinne und -verluste zählten. An die Vorstellung, daß ich als Mitglied des pak verpflichtet war, zu tun, was mir aufgetragen wurde, mußte ich mich erst noch gewöhnen. Es war ein wunderschöner Abend, warm und fried lich. Im Hof war die Luft schwer vom Duft blühender Pflanzen, und Fledermäuse schwirrten umher. Suli 192
man, der Gärtner, öffnete uns das Tor. Ich sagte ihm, daß er nicht aufzubleiben brauche, da wir möglicher weise erst spät heimkämen. Er dachte, wir führen zu einer Party, und wünschte uns einen vergnügten Abend. Kurz vor neun hielten wir vor dem Eingang zur Batteriefabrik und ließen den Wagen stehen, wie wir es schon am vorangegangenen Abend getan hatten. Diesmal war der Nebeneingang unverschlossen, aber wir hatten das Gelände kaum betreten, als die beiden Flintenhelden noch vor der Laderampe aus der Dun kelheit auftauchten und uns mit einer Taschenlampe anleuchteten. »Seid gegrüßt, Genossen.« Es war der Mann mit den Zahnstummeln, derjenige, der mir den Gewehr kolben in den Rücken gestoßen hatte. »Seid gegrüßt«, sagte ich. Er trat langsam näher und ließ dann unvermittelt seine Rechte, in der er die Taschenlampe hielt, vor schnellen. Ich dachte, er versuche sie mir ins Gesicht zu stoßen, und wich zurück. Er klärte mich vorwurfs voll auf. »Diese Lampe gehört Ihnen, Genosse. Sie haben Sie gestern hier zurückgelassen. Das Glas ist zerbrochen, aber sie funktioniert noch.« »Danke, aber ich habe noch eine zweite.« Ich knip ste die Taschenlampe in meiner Hand an. »Sehen Sie?« »Sie wollen diese hier nicht wiederhaben?« fragte er hoffnungsvoll. »Nicht, wenn Sie sie brauchen können, Genosse.« Ich fand es an der Zeit, Freunde zu gewinnen. »Aber 193
wie Sie sagen, ist das Glas zerbrochen. Warum neh men Sie nicht einfach diese Lampe, die heil ist, und geben mir die andere? Ich kann mir morgen ein neues Glas besorgen.« »Danke, Genosse. Vielen Dank.« Wir tauschten un sere Taschenlampen. »Ich heiße Ahmad«, sagte er. Sein Atem stank. »Und ich Michael.« »Das hier ist Genosse Musa.« Er deutete auf seinen Gefährten. »Er kann nicht reden, denn er hat keinen Kehlkopf.« Genosse Musa grinste und zeigte auf eine große Narbe an seinem Hals. »Eine Kriegsverletzung?« »Ja«, sagte Ahmad. »Aber er hört das leiseste Ge räusch. Er hat Sie gestern nacht lange vor mir gehört. Auf wieviel Uhr sind Sie bestellt, Genosse?« »Neun Uhr.« »Genosse Salah mag es nicht, wenn man ihn warten läßt.« »Das kann ich mir denken.« »Nun, dann gehen Sie jetzt besser«, sagte er leutse lig. »Sie kennen ja den Weg.« Im ersten Augenblick glaubte ich, wir könnten un seren Weg allein und unbeaufsichtigt fortsetzen; aber als ich mich umdrehen wollte, kicherte Ahmad und stieß mich mit dem Gewehrkolben voran. »Marsch, Genossen«, sagte er. Er hatte nicht sehr hart zugestoßen, aber doch fest genug, um mich wis sen zu lassen, daß seine Nachsicht nicht mit einer Ta 194
schenlampe zu erkaufen und er nach wie vor derjenige war, der hier zu bestimmen hatte. Als wir die Stufen zum Bürogebäude erreichten, befahl er uns zu warten, und ging hinein, um unsere Ankunft zu melden. Musa grinste uns an, während wir warteten, behielt jedoch den Finger am Abzug. Im Laboratorium brannte Licht, aber ich konnte keine Stimmen hören. Mein Büro lag im Dunkel. Ahmad war zum Hintereingang des Baus gegangen. Nach etwa einer halben Minute trat er wieder auf die Terrasse hinaus und bedeutete uns, hinaufzu kommen. Als wir vor ihm standen, befahl er mir, die Arme über den Kopf zu heben, und tastete mich ab. Dann nahm er Teresas Handtasche an sich und warf einen Blick hinein. Als er sich Gewißheit verschafft hatte, daß wir beide unbewaffnet waren, gab er Teresa die Tasche zurück. »Folgen Sie mir, Genossen.« Wir gingen die überdachte Veranda entlang, die um das Gebäude herumlief, und betraten den Teil des Baus, der die Lagerräume beherbergte. Ohne mein Wissen waren hier Veränderungen vorgenommen worden, von denen ich nichts geahnt hatte. Der grö ßere der beiden Räume diente Ghaled jetzt als Be fehlsstand. Die aufgerollten Zinkbleche – meine Zink bleche –, die ihrer unterschiedlichen Dicke wegen sorgsam in Reihen geordnet hätten gelagert werden sollen, waren alle gegen eine Wand gelehnt worden, um für einen aus einer Holzplatte und zwei Bockge stellen bestehenden Tisch, ein paar Stühle sowie ein 195
Feldbett Platz zu schaffen. Der Raum machte den Eindruck, als sei er bewohnt, was unter den gegebe nen Umständen nicht weiter verwunderlich war. Ich hatte seit Monaten keine Zeit gefunden, mich um die Lagerräume der Batteriefabrik zu kümmern, und sie Issas Obhut überlassen. Vielleicht war es sein Anblick, wie er jetzt dort an dem Tisch saß und bei meinem Eintritt ein überlegenes kleines Lächeln auf setzte, was mich so wütend machte. Für mich war diese Wut gefährlich. Da eine unmit telbare Möglichkeit, ihr Ausdruck zu geben, nicht be stand, mußte ich sie hinunterschlucken. Das Ergebnis war, daß ich eine Zeitlang vor Ghaled weniger Angst verspürte und mich mit dem, was ich sagte, auch prompt weniger in acht nahm. Ich machte Fehler. Zunächst spielte sich alles ungemein förmlich ab, etwa wie der erste Zusammentritt des Vorstandes ei nes soeben gegründeten Unternehmens. Ghaled sagte: »Guten Abend, Genossen.« Teresa und ich sagten: »Guten Abend, Genosse Salah« und wurden aufgefordert, Platz zu nehmen. Außer Ghaled und Issa saßen noch zwei weitere Männer an dem Tisch. Ghaled stellte sie vor. »Dies ist Genosse Tewfiq. Und das Genosse Wasfi. Sie sind Mitglieder des Zentralkomitees.« Tewfiq war ein bleicher, pockennarbiger Mann mit buschigem Schnurrbart und Wanst, Wasfi ein drahti ger junger Mann mit kurzer Oberlippe und einem ge quält wirkenden schiefen Lächeln, das habituell zu sein schien. Ich wußte, daß ich beide Männer schon 196
gesehen hatte, und konnte jetzt erraten, wo ich sie ge sehen hatte. Tewfiq und Wasfi sind in jenen Breiten ziemlich gebräuchliche Namen, aber es waren zufällig auch die Namen des Gerätewarts und des Lagerver walters der Eisenwarenfabrik, die ich mir an diesem Tag notiert hatte, weil sie meinen Verdacht erregten. Es lag nahe anzunehmen, daß dies die zwei besagten Männer waren. Sie nickten mir beide kurz zu. Ich brauchte ihnen nicht erst vorgestellt zu werden. »Vor uns«, begann Ghaled lebhaft, »liegt viel Ar beit. Gestern abend habe ich den neuen Genossen un sere Nachschubprobleme und Engpässe in großen Zügen geschildert. Heute abend werden wir unseren Bedarf im einzelnen zur Sprache bringen und Pläne zu seiner Deckung aufstellen. Ich muß euch auf die Notwendigkeit, die erteilten Aufträge mit äußerster Entschlossenheit zu erfüllen, dringlichst hinweisen. Jeder Auftrag, ich wiederhole, jeder Auftrag, muß in nerhalb der nächsten dreißig Tage ausgeführt werden. Ist das allseits verstanden worden, Genossen?« Ein mehrstimmig gemurmeltes »Ja, Genosse Salah« antwortete ihm, in das ich nicht einstimmte. Ghaled sah mich scharf an. »Ich habe Ihre Antwort nicht ge hört, Genosse.« »Weil ich nicht verstanden habe. Ich habe keine Kenntnis von den Aufgaben, die Sie da erwähnen.« »Die bekommen Sie schon noch. Aber ich habe von der Dringlichkeit gesprochen. Das können Sie verste hen und werden Sie akzeptieren.« 197
»Sehr gut.« Er starrte mich einen Augenblick lang an. Ich ließ es an der gebotenen Ehrerbietung fehlen, aber er wuß te nicht recht, ob ich mir darüber im klaren war. Ich erwiderte seinen Blick mit einem meiner eigenen Blik ke von der unschuldigen, aber erwartungsvollen Sorte. Er gestand mir den Vorteil des Grundsatzes ›in dubio pro reo‹ zu und vertiefte sich in ein Papier, das vor ihm lag. »Erster Punkt«, sagte er, »die Sache mit den Zünd kapseln, denjenigen für die elektrische Auslösung. Zunächst will ich eure Berichte hören. Genosse Issa?« »Wir haben das Pulver für fünfhundert, Genosse Salah. Die im Laboratorium getesteten Proben sind zufriedenstellend ausgefallen.« »Genosse Tewfiq?« »Die Kupferröhren sind bestellt, Genosse Salah, aber noch nicht geliefert worden.« »Warum nicht?« Tewfiq streckte die Hände aus. »Sie waren mir schon für letzte Woche versprochen worden und für die vorletzte Woche auch schon. Ich bin vom Liefe ranten abhängig, Genosse Salah.« Ghaled sah mich an. »Vielleicht kann Genosse Mi chael uns helfen. Wir brauchen fünfzig Meter Kupfer röhren von ein Zentimeter Durchmesser. Es muß ge härtetes Kupfer sein.« »Wer ist der Lieferant?« Ich genoß es, diese Frage zu stellen, denn ich war mir sicher, daß die wahrheits gemäße Antwort darauf hätte heißen müssen, die Ei 198
senwaren-Kooperative und ich seien die Lieferanten. Schließlich waren wir es, die für das Zeug würden zahlen dürfen. Natürlich nannte er mir den Namen eines Metall händlers. Es war derjenige, mit dem wir seit eh und je zusammenarbeiteten. »Die Beschaffung von Buntme tallen unterliegt einer besonderen staatlichen Kontrol le«, sagte ich. »Ist der Order eine Quota-Nummer beigegeben worden?« Tewfiq schwitzte jetzt. »Das weiß ich nicht, Genos se Salah.« »Warum nicht?« fuhr Ghaled ihn an. »Weil, Genosse Salah –«, er stockte einen Augen blick lang. »Du weißt doch, Genosse, daß ich die Be stellungen nicht selber aufgebe«, fuhr er dann, mit fle hentlichem Blick um Verständnis bittend, fort. »Ich bin nur der –« »Ja, ja.« Ghaled schnitt ihm das Wort ab und verfiel in stummes Brüten. Ich wußte, was ihm durch den Kopf ging. Wenn Tewfiq erklärte, daß die Bestellun gen nicht von ihm, der ja nur Lagerverwalter war, sondern vom Kontoristen des Werkstattbüros aufge geben wurden, konnte ich mir den Rest zusammen reimen, und Tewfiqs Tarnung war, was mich betraf, hinfällig geworden. Ghaled versuchte sich darüber schlüssig zu werden, ob er mich ins Vertrauen ziehen sollte. Er beschloß, es nicht zu tun. »Du mußt auf rasche Lieferung drängen«, ermahnte er ihn streng. »Ja, Genosse Salah.« 199
»Fahr jetzt in deinem Bericht fort.« »Wir haben die isolierten Verbindungskabel, die Zinnkappen und das Verpackungsmaterial. Aber –«, er zögerte und fuhr dann überstürzt fort, »es tut mir leid, Genosse Salah, wirklich sehr leid, daß wir noch immer Schwierigkeiten mit der Beschaffung des Chromnickeldrahts haben. Das ist kein Material, das ich anfordern kann. Ich habe es versucht. Genosse Wasfi kann das bezeugen.« »Das stimmt, Genosse Salah.« Wasfis gequältes Lä cheln dehnte sich, daß er wie ein Clown aussah. »Wir haben gesagt, daß es Leitungsdraht für elektrische Re paraturen sei, aber sie bestellten Draht für Sicherun gen. Ich glaube, das ist nicht dasselbe.« Ghaled sah Issa an. »Ist es dasselbe?« Issa suchte Zuflucht bei den Papieren, die vor ihm lagen. »Die Vorschriften lauten auf Chromnickeldraht von Stärke dreißig«, sagte er. »Das ist keine Antwort auf meine Frage. Ist es das selbe?« »Ich weiß es nicht, Genosse Salah.« Ghaled sah mich an. »Nein«, sagte ich. »Das ist nicht dasselbe. Aus Chromnickellegierungen oder Nichrom, so nennt sich das, wird ein resistenter Draht gezogen. Er kann für elektrische Heizöfen benutzt werden, weil er nicht schmilzt oder oxydiert, wenn er heiß wird. Der für Si cherungen verwendete Draht schmilzt, wenn er heiß wird. Wozu wird der Chromnickeldraht gebraucht?« »Zeig es ihm«, sagte Ghaled. 200
Issa schob ein Blatt Papier über den Tisch zu mir herüber. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr es ihm wi derstrebte, das zu tun. In dieser Runde war er die technische Autorität, nicht ich. Eine Zeichnung auf dem Papier zeigte, wie die Sprengkapseln anzufertigen waren. In eine sechs Zentimeter lange und ein Zenti meter dicke Kupferröhre sollten fünf Gramm Knall quecksilber, eingebettet in Wattebäuschen, eingeführt werden. Ein Ende der Kupferröhre wurde mit einer Zinnkappe versehen, das andere mit einem Wachssie gel verschlossen, das die beiden isolierten Zünddrähte hielt. Die Enden dieser beiden Leitungen befanden sich in der Mitte des Zündsatzes, wo sie durch eine kleine Schlinge aus feinem Chromnickeldraht verbun den waren. Das war der Zündstromkreis. Jetzt brauch te man nur noch eine Sechs-Volt-Batterie und einen Schalter. Sobald der Stromkreis geschlossen war, wür de der Chromnickeldraht, der nicht dicker als ein Haar war, nahezu augenblicklich weißglühend werden, das Knallquecksilber würde explodieren, die Zinnkappe abreißen und jeden Sprengstoff, mit dem es in Verbin dung kam, seinerseits zur Explosion bringen. Es war ein primitiver, aber praktischer Mechanis mus. Wenn man die Vorschriften befolgte, funktio nierte er todsicher. Um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, studierte ich weiterhin die Zeichnung. Ich war versucht, das ganze Zünderprojekt zu sabotieren und ihnen die Verwen dung des Sicherungsdrahts zu empfehlen, sagte mir dann aber, daß es zu riskant war; Issa hatte erklärt, 201
Proben des Pulvers seien getestet worden. Bestimmt würden sie die fertiggestellten Zünder erproben. Wenn das Testmuster nicht funktionierte, würde das auf jedwede Abänderung, die ich vorgeschlagen hatte, zurückgeführt werden. Ich blickte auf. »Nun?« fragte Ghaled. »Ein sehr dünner Sicherungsdraht könnte, bevor er schmilzt, heiß genug werden, um die Pulverladung zu zünden. Aber ich glaube nicht, daß man sich darauf verlassen sollte. Ich glaube, Sie müssen diesen feinen Chromnickeldraht nehmen.« »Wir müssen ihn nehmen, Genosse«, korrigierte er mich. »Die Frage ist nur, wie bekommen wir ihn?« Issa sah eine Chance, seinen Prestigeverlust wett zumachen. »Wenn er in elektrischen Heizöfen ver wendet wird«, sagte er, »können wir ihn leicht be schaffen. Benötigt werden nur vier oder fünf Meter davon. Wir besorgen uns ein paar von diesen Heiz öfen und schlachten sie aus.« Ghaled sah mich wieder an. »Wir könnten es versuchen«, sagte ich, »aber ich glaube kaum, daß Heizöfen mit so dünnem Draht hergestellt werden. Ich bin mir eigentlich sogar ganz sicher, daß das nicht der Fall ist. Er muß von einem Radiohändler kommen, der auch Reparaturen aus führt und Widerstandsspulen vorrätig hat.« »Genosse Salah!« platzte Wasfi aufgeregt heraus. »Ich kenne einen solchen Mann. Er hat einen Laden im souk.« 202
Aber Ghaled gebot ihm Schweigen. Seine Augen blieben auf mich gerichtet. »Verwenden Sie diese Widerstände nicht in Ihrem eigenen Elektronik-Montagewerk, Genosse Michael?« fragte er. »Keiner der Widerstände, die wir verwenden, be steht aus Drahtwicklungen, Genosse Salah.« »Auch nicht die im Magisch-KommunikationsSender-Empfänger, den Sie für die Armee zusammen bauen?« Das ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Der Magisch-Sender-Empfänger galt als Geheimsache. »Besonders in den Magisch-Sender-Empfängern nicht«, entgegnete ich. »Sie verwenden winzige Schaltkreiseinheiten, die wir aus Ostdeutschland be kommen. Wir setzen bloß die Einheiten zusammen. Einzelteile im herkömmlichen Sinn gibt es nicht.« Er applaudierte mir mit einem lautlosen Händeklat schen. »Gut. Sehr gut.« In seinen Augen blitzte Spott. »Ein kleiner Test, Genosse Michael, nichts weiter. Zum Glück haben Sie ihn mit Auszeichnung bestan den. Mein eigener Elektronikexperte gab mir den glei chen Rat.« Ich machte eine große Schau daraus, verwirrt zu sein, was ihm augenscheinlich gefiel. Den ›Elektronik experten‹ zu identifizieren, würde nicht schwer sein. Die Erwähnung des Magisch-Sender-Empfängers hat te mich auf die richtige Fährte gebracht. Ich hatte be reits eine kurze Liste mit den Namen zweier Verdäch tiger im Kopf, und ein nochmaliger Blick in die Per 203
sonalakten würde mir Gewißheit darüber verschaffen, wer von diesen beiden der Schuldige war. »Ausgezeichnet. Genosse Wasfi wird die Spulen kaufen. Inzwischen haben wir ein weiteres dringendes Problem zu lösen, bei dem Sie uns vielleicht behilflich sein könnten, Genosse Michael.« »Selbstverständlich bin ich gern bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht, Genosse Salah.« Er schien mich nicht zu hören. Er war aufgestanden und zum Feldbett hinübergegangen, auf dem zwei große Gegenstände aus Metall lagen. Er kehrte mit ih nen zurück und legte sie auf den Tisch. »Verstehen Sie etwas von Munition, Genosse Mi chael? Ich meine von schwerer Munition wie Mörser granaten und Artilleriegeschossen?« »Nein, gar nichts.« »Dann erkläre ich es Ihnen. Schwere Geschosse be stehen aus drei Teilen. Über die eigentliche Sprengla dung und die Zündung brauche ich Ihnen nichts zu sagen, das wird Ihnen, wenigstens im Prinzip, alles bekannt sein.« »Ja.« »Zwischen diesen beiden Teilen befindet sich der dritte. Wir nennen ihn Treibsatz oder Anheizer. Hochexplosive Sprengstoffe von der Sorte, wie sie in schweren Geschossen verwendet werden, sind ziem lich unempfindlich, und eine kleine Geschoßzündung reicht nicht aus. Deswegen bringen wir diesen großen Zünder, den Treibsatz, zwischen den beiden anderen Teilen unter und lassen ihn seinerseits von der Ge 204
schoßzündung zur Explosion bringen. Das hier« – er nahm den größeren der beiden Metallgegenstände zur Hand – »ist der Treibsatz.« Es war ein etwa dreißig Zentimeter langer und fünf Zentimeter breiter bronzefarbiger Zylinder, dessen ei nes Ende in einen schweren Metallkragen auslief. Der Metallkragen war an seiner Außenseite – zum Einset zen in das ›Geschoß‹, nahm ich an – mit einem Ge winde versehen, und am anderen Ende befand sich ei ne Bohrung, die ebenfalls ein Gewinde aufwies. Ghaled deutete auf die Bohrung. »Hier soll der Aufschlagzünder hindurchgeführt werden.« Er ergriff den kleineren Gegenstand, der grau angestrichen war und in der Form an eine übergroße Zündkerze denken ließ. Genau wie sie trug auch er an einem Ende ein sechseckiges Verblendgewinde. »Und das ist der Zün der«, sagte Ghaled. »Jetzt, Genosse Michael, nehmen Sie den Treibsatz in die linke Hand. Er ist mit Tetryl gefüllt, aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Es besteht keine Gefahr. Nehmen Sie jetzt den Zünder in die rechte Hand. Etwas mehr Vorsicht ist dabei aller dings angebracht. Er hat zwar eine ZeitzünderSicherheitsvorrichtung, sollte aber nicht fallengelassen oder hart angestoßen werden. Und jetzt sehen Sie mal zu, ob Sie den Zünder in die Treibsatzkapsel einpas sen können.« Worauf er hinauswollte, lag auf der Hand. Das mit einem Gewinde versehene Bohrloch im Treibsatz mantel war ein wenig größer als das gerillte Ende der Zündkapsel. Zudem waren die Schraubengänge der 205
beiden Gewinde von unterschiedlicher Höhe. Ich sah sie mir näher an, und mir kam eine Erleuchtung. Ich blickte zu Tewfiq hinüber. »Also dafür haben Sie diese Gewindebohrer und Prägestöcke haben wollen«, sagte ich. Ein kurzes Schweigen trat ein. Tewfiq und Wasfi schienen ganz entgeistert zu sein. Ghaled beugte sich vor. »Das müssen Sie uns erklären, Genosse Michael.« »Damit diese beiden Dinger ineinander passen, ist ein auswechselbares Einsatzstück mit einem äußeren Gewinde erforderlich, das in den Treibsatzmantel, und einem inneren Gewinde, das in den Zünder paßt. Die Gewinde sehen mir beide so aus, als müßten Sie sie maschinell zurechtschneiden, weil es metrische Standardgrößen sind. Gewindebohrer und Prägestök ke von diesem Durchmesser werden nur für Röhren gewinde hergestellt, die aber ein gänzlich anderes Pro fil haben. Genosse Tewfiq hat das nicht gewußt. Er dachte, daß die Verbindungsringe mit Gewindebohrer und Prägestöcken handgefertigt werden könnten, und deswegen hat er sie bestellt. Die Lieferanten schrieben zurück, die Order sei unerfüllbar.« Der Ausdruck auf Ghaleds Gesicht war höchst un angenehm. »Wie lange wissen Sie schon, daß Tewfiq und Wasfi unsere Genossen sind?« fragte er leise. »Mit Sicherheit weiß ich es erst seit heute abend, aber vermutet habe ich es schon im Lauf des Tages.« »Warum haben Sie es vermutet?« Ich sagte es ihm. 206
Er seufzte und warf Issa einen Blick zu. »Da siehst du, wie nötig es war, ihn gleich gestern abend zu ver einnahmen.« Und dann, an mich gewandt: »Was ha ben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?« »Ich finde, meine Neugier war ganz natürlich, Ge nosse Salah. Sie haben mir nichts davon gesagt, daß ich sie bezähmen soll.« »Dann sage ich es Ihnen jetzt.« »Schaden ist dadurch sicherlich keiner entstanden.« »Das zu beurteilen lassen Sie gefälligst meine Sorge sein. Die Genossen draußen an der Front, die Kom mandokämpfer, müssen einander kennen, aber dieje nigen, die im Untergrund in den Zellen arbeiten, dür fen nur die Genossen kennen, mit denen sie unmittel bar zusammenarbeiten. Personalakten werden ab so fort nicht mehr eingesehen, Genosse Michael. Das ist ein Befehl, verstehen Sie?« »Ich verstehe.« Ich sah nicht, woher er wissen woll te, ob ich seinem Befehl gehorchte oder nicht; und da er jetzt eindeutig hatte erkennen lassen, daß noch wei tere Mitglieder des pak zu den Gehaltsempfängern der Agence Howell gehörten, war ich mehr denn je zum Ungehorsam entschlossen. Noch immer schwelte Wut in mir. Ich glaube, er muß das gespürt haben, denn er starrte mich lange durchdringend an, bevor er hinzufügte: »Ich hoffe, Sie haben mich verstanden, Genosse Michael. Die Straf maßnahmen, die ich gegen Sie verhängen müßte, wä ren bestimmt nicht nach Ihrem Geschmack.« »Ich habe verstanden.« 207
»Dann wollen wir jetzt mit unserer Arbeit fortfah ren. Wie läßt sich dieses Verbindungsstück herstel len?« »Das ist nur mit Hilfe einer gewindeschneidenden Drehbank möglich.« Er sah Tewfiq an. »Hast du eine solche Drehbank in der Fabrik?« »Nein, Genosse Salah.« »Dann mußt du eine beschaffen.« »Das ist unmöglich«, sagte ich. »Warum?« »Für alle Ankäufe von Maschinenwerkzeugen ist die Genehmigung der Regierung erforderlich, und da zu muß nachgewiesen werden, daß der Bedarf ge rechtfertigt ist. Wir haben keine stichhaltige Begrün dung vorzubringen, um den Ankauf zu motivieren.« »Dann müssen Sie sich eben eine ausdenken.« »Selbst dann würde es bis zur Anlieferung noch Wochen dauern. Wir müßten außerdem einen qualifi zierten Facharbeiter einstellen, der damit umgehen kann. Aber das brauchen wir gar nicht.« »Sie haben doch gerade erklärt, wir müßten es.« »Ohne maschinelles Werkzeug und ohne Fachkraft geht es nicht, das stimmt, aber wenn ich dieses Zwi schenstück oder etwas Ähnliches für irgend etwas be nötigte, was wir fertigen, würde ich es in einer Ma schinenwerkstatt in Beirut herstellen lassen.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Begreifen Sie denn nicht, daß unter allen Umständen die Ge heimhaltung gewahrt bleiben muß?« 208
»Sie würde in gar keiner Weise gefährdet werden. Ich selber habe dieser Maschinenwerkstatt schon mehrfach ganz ähnliche Aufträge erteilt. Ein techni scher Zeichner macht genaue Reinzeichnungen von dem Teil, der maschinell gefertigt werden soll. Das Material, das verwendet werden muß, und die erlaub ten Toleranzen werden angegeben, desgleichen die jeweils benötigte Stückzahl. Wir sagen nicht, wofür das betreffende Teil vorgesehen ist. Das ist unsere Sa che, und den Subkontraktpartner interessiert es ohne hin nicht. Er tut genau das, was die Zeichnungen und Spezifikationen vorschreiben. Er fertigt ein Probemu ster an; wenn wir es für gut befinden, erfüllt er seinen Auftrag und liefert.« Er überlegte kurz. »Der Zeichner würde wissen, wozu das Zwischenstück gebraucht wird.« »In diesem Fall müßte ich selber die Zeichnungen machen.« »Hier?« »Nein. Hier ist keine Zeichenbüro-Ausstattung vorhanden. Eine flüchtige Skizze genügt nicht. Es müssen saubere, präzise technische Zeichnungen sein.« »Diese Einzelteile dürfen nicht mitgenommen wer den.« »Es ist gar nicht nötig, sie mitzunehmen. Ich muß nur die erforderlichen Abmessungen vornehmen und ein paar Einzelheiten notieren. Das kann ich hier tun. Im Labor gibt es Zirkel und ein Mikrometer. Issa weiß, wo die Sachen sind.« 209
Ghaled nickte Issa zu, der losflitzte. Ich machte mich erneut an die Inspektion von Zünder und Treibsatz mantel, die diesmal allerdings eingehender ausfiel. Auf der Zündkapsel befanden sich chinesische Schriftzei chen, wie ich jetzt entdeckte. »Vermute ich richtig, daß dies einer der Zünder von der falschen Größe ist, die Sie gestern abend erwähnt haben?« »Ja.« »Haben Sie einen von der richtigen Größe da?« »Ja. Warum?« »Wenn der Zünder eingepaßt ist, wird er mit einem Schraubenschlüssel festgedreht werden müssen, neh me ich an.« »Ja. Das geschieht unmittelbar vor dem Abfeuern.« »Sie sind sich darüber im klaren, daß der Zünder falscher Größe nur festsitzt, wenn er mit dem Schrau benschlüssel bis ganz oben gegen diese Metallscheibe innen im Kragen des Treibsatzmantels hinaufgedreht wird? Dabei könnte die Scheibe zerbrechen. Würde das etwas ausmachen?« »Das würde sehr viel ausmachen. Gewalt darf kei nesfalls dabei angewendet werden.« »Dann muß an dem Ring ein Flansch angebracht werden, der gewährleistet, daß der Zünder falscher Größe nicht tiefer eindringt als ein passender Zün der.« »Das verstehe ich nicht.« Ich nahm Teresas Stenoblock zur Hand und machte rasch eine Skizze für ihn. 210
Er nickte. »Ja, jetzt ist mir alles klar. Aber wir brau chen hundert Stück von diesen Ringen. Die sind schwieriger anzufertigen.« »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Die Flansche zu dre hen, ist leicht. Schwierig wird es nur sein, die Gewin de zu schneiden. Aber ich muß den passenden Zünder haben, um genau abmessen zu können, wie weit er hineinragt. Es hat keinen Zweck, sich auf bloße Schät zungen zu verlassen.« »Also gut.« Er ging zu einer grau angestrichenen Holzkiste, die unter seinem Feldbett stand. Er mußte sie hervorzie hen, um den Deckel zu öffnen, und ich sah, daß er ei ne russische Aufschrift trug. Er versuchte zu spät, sie vor mir zu verbergen. Ich tat, als hätte ich nichts gese hen, und beschäftigte mich angelegentlich mit den Ge räten, die Issa aus dem Laboratorium herbeigeholt hatte. Inzwischen konnte ich meine Schlüsse ziehen. Ob wohl ich nichts von Munition verstand, war mir eini ges klargeworden. Nach Umfang und Länge des Treibsatzmantels mußte es sich um ein ziemlich schweres Geschoß handeln. Eine Artilleriegranate würde es nicht sein, weil Guerillas wie die pakKämpfer über keine schweren Geschütze verfügten. Es sprach daher einiges dafür, daß Ghaled Raketenab schußvorrichtungen russischer Herkunft besaß. Die befreundeten Russen jedoch hatten es – vorsätzlich oder versehentlich – unterlassen, eine ausreichende Anzahl entsprechender Zünder mitzuliefern. Die 211
Chinesen oder irgendwelche Leute, die Zugang zu chinesischen Waffen- und Munitionsbeständen hatten, versuchten ihm auszuhelfen. »Das ist der richtige Zünder«, sagte er. Es war praktisch der gleiche wie der falsche. Sie un terschieden sich lediglich im Durchmesser des mit Gewindegängen versehenen Abschnitts. Ich nahm sämtliche Abmessungen vor, die ich benötigte, und Teresa schrieb die Zahlen auf, die ich ihr zurief. Dann wandte ich mein Augenmerk dem falschen Zünder zu. Ghaled beobachtete gespannt, wie ich das Meßgerät handhabte. »Sie messen alles zweimal.« »Es kann nichts schaden, auf Nummer Sicher zu gehen.« »Das nenne ich gründlich.« Tatsächlich ging ich keineswegs besonders gründ lich zu Werke; ich konnte es gar nicht, weil ich nicht alle Meßinstrumente zur Hand hatte, die dazu erfor derlich gewesen wären; aber das spielte keine Rolle. Ich wußte, es handelte sich um Gewinde mit den übli chen metrischen Abmessungen, und solange ich die Maße der Durchmesser und Gewindehöhen nur kor rekt aufnahm, würde ich die anderen Details von einer metrischen Tabelle im Zeichenbüro ablesen können. Ich hatte aber nicht die Absicht, Ghaled alles das lang und breit auseinanderzusetzen. »Wenn ich nicht gründlich vorgehe«, sagte ich, »wird der Einsatzring nicht richtig passen, und ich werde derjenige sein, der dafür geradestehen darf.« 212
Tewfiq kicherte in sich hinein – er war offensicht lich froh, diese Verantwortung losgeworden zu sein –, aber Ghaled antwortete nicht gleich. Er sah mir fast eine Minute lang schweigend zu, be vor er sagte: »Das glaube ich nicht, Genosse Michael.« »Man würde mir nicht die Schuld geben?« »Ich glaube, was Sie in diesem Augenblick antreibt, ist nicht die Angst, schuld zu bekommen. Und ich glaube, Loyalität unserer Sache gegenüber ist es eben sowenig.« Mir sagte diese letzte Bemerkung wenig zu, und so tat ich, als sei ich mit dem nochmaligen Zählen der Gewindeführungen und dem in Zusammenarbeit mit Teresa vorgenommenen Überprüfen der gemessenen Werte vollauf in Anspruch genommen. Eine weitere halbe Minute verstrich. »Ich glaube, daß es Stolz ist«, fuhr Ghaled nach denklich fort. »Der Stolz, der es einem Mann nicht erlaubt zuzu lassen, daß irgendeine Arbeit stümperhaft verrichtet wird, von der er weiß, wie sie einwandfrei sachgerecht ausgeführt werden sollte.« Das klang besser. Ich legte den russischen Zünder auf die Tischplatte. Ghaled ergriff ihn und wog ihn in der Hand, während er weitersprach. »Und es gibt eine ganze Menge Dinge, auf die Sie sich verstehen, nicht wahr, Genosse Michael? Sie sind ein geschäftstüchtiger Kaufmann, ein fähiger Ingeni eur, ein geschickter Manager und ein erfolgreicher ka pitalistischer Ausbeuter in Personalunion. Sie haben 213
so viele Quellen, die Ihren Ehrgeiz stillen und Ihre Ei telkeit befriedigen, daß es weiter kein Wunder ist, wenn Sie so leicht arrogant werden.« Er sprach die letzten Worte sehr bedachtsam aus, und einen Augen blick lang blieb seine Hand, die den schweren Zünder wog, reglos. Er wartete darauf, daß ich auf diese An schuldigung mit einer Entgegnung reagierte. »Es tut mir leid«, sagte ich artig, »daß Sie mich für arrogant halten, Genosse Ghaled. Sie sagten, Sie woll ten sich meine Kenntnisse und Hilfsmittel zunutze machen. Ich habe mich nach Kräften bemüht, Ihrem Wunsch zu entsprechen.« »Aber nicht ohne Vorbehalte. Sehen Sie, Genosse Michael, Ihre Arroganz verführt Sie dazu, sich zu ver raten. So haben Sie zum Beispiel die Tatsache, daß Sie von Tewfiqs und Wasfis geheimer Tätigkeit wußten, zunächst verschwiegen. Als dann aber der Moment gekommen war, sie merken zu lassen, daß sie in Ihren Augen Tölpel sind, haben Sie genau das getan. Sie konnten der Versuchung nicht widerstehen.« Er stand auf und legte den Zünder in die Kiste un ter dem Bett zurück, bevor er sich wieder mir zu wandte. »Ich habe Ihnen gestern abend erklärt, ich hätte an dere Pläne gehabt, mich Ihrer vorbehaltlosen Mitar beit zu versichern. Sie wären eher mit einer Beein trächtigung der Bankkonten Ihrer Firma als mit einer Ihrer persönlichen Eitelkeit verbunden gewesen. Viel leicht hätte sich letzteres als wirksamer erwiesen.« Ich sagte nichts. 214
»Nun, das können wir noch immer früh genug her ausfinden, falls es nötig werden sollte. Die Schiffe der Agence Howell laufen Beirut, Latakia und Alexan dria an. Wir haben Zellen in allen diesen Städten. Die Befehle, in den Laderäumen Brände zu legen und in den Maschinenräumen Explosionen hervorzurufen – Aktionen, die bereits vorbereitet waren –, können je derzeit erneut in Kraft gesetzt werden. Sie sind also gewarnt, vergessen Sie das nicht.« Er nahm am obe ren Ende des Tisches an dessen Schmalseite Platz. »Bis wann sind die Zeichnungen für den Einsatzring fertig?« »Ich werde einige Zeit dazu benötigen, Genosse Ghaled. Als technischer Zeichner bin ich etwas aus der Übung. Übermorgen könnte ich sie fertiggestellt haben.« »Und wieviel Zeit wird zur Anfertigung der Ringe benötigt?« »Zehn Tage bis zwei Wochen für das Muster. Wenn das genehmigt ist, müßte eine weitere Woche zur Fer tigung von hundert Stück genügen.« »Gut.« Er sah in die Runde der um den Tisch Ver sammelten. »Die Genossen Tewfiq und Wasfi haben ihre Aufträge bereits erteilt bekommen. Sie können gehen. Genosse Issa wird jetzt das Abdruckgerät bringen.« Er wartete, bis sie den Raum verlassen hat ten, und öffnete dann den Aktenordner – einen Ak tenordner aus meinem Büro –, der vor ihm auf dem Tisch lag. Zuoberst auf den darin abgehefteten Papie ren lagen Teresas Identitätskarte und mein Paß. Er 215
blickte uns an. »Bevor Ihnen weitere Aufträge erteilt werden, haben Sie beide noch einige Formalitäten we gen Ihrer Mitgliedschaft zu erledigen.« Er suchte zwei Papiere aus dem Ordner heraus und überflog sie rasch, bevor er sie über den Tisch hinweg zu uns her überschob. »Lesen Sie sich das beide sorgfältig durch, bevor Sie unterschreiben.« Was ich las, lautete wie folgt: Ich, Michael Howell, Bürger des Britischen Com monwealth, wohnhaft in der Demokratischen Repu blik Syrien und in jeder Hinsicht deren Gesetzen un terworfen, gestehe hiermit freiwillig und aus eigenem Entschluß, diese Gesetze durch den illegalen Transport von Waffen und Explosionsgeschossen zugunsten und auf Weisung des zionistischen Geheimdienstes gebro chen zu haben. Dann wurde es detaillierter. Gemeinsam mit ande ren, die ich namentlich nennen konnte, hatte ich in geheimer Verschwörung geplant, das Haus eines Hus sein Mahenoud Sa’agir in dem libanesischen Dorf Bleideh in der Nacht zum fünfzehnten Tag des Mu harram jenes Jahres in die Luft zu sprengen. Ich hatte die Plastikbombe, die das Haus dieses palästinensi schen Patrioten zerstört und ihn selbst mit seiner gan zen Familie getötet hatte, eigenhändig hergestellt. Der Name des zionistischen Agenten, der mich für diese schmutzige Arbeit angeworben hatte, war Ze’ev Bar lev, und er hatte mich während einer meiner häufigen Reisen nach Zypern kontaktiert. In den Händen der syrischen Polizei wäre ein sol 216
ches Geständnis einem Todesurteil gleichgekommen – nach ausgiebigen Folterungen, mit denen sie die Preis gabe der Namen meiner Mitverschwörer zu erzwin gen versuchen würde. Die libanesische Polizei würde mir die Folterungen möglicherweise ersparen und das Todesurteil in lebenslängliche Haft umwandeln, aber das war die mildeste Strafe, die ich in irgendeinem der Länder, die der Arabischen Liga angehörten, zu ge wärtigen hatte. Ich sah Teresa an. Ihr Gesicht war blaß und gefaßt. Ich griff nach ihrem Geständnis und las es. Sie war bei der Ermordung der Familie Sa’agir meine Komplizin und zudem als Kurier für den israelischen Geheim dienst tätig gewesen. Ihr Vater war Jude. Im übrigen lauteten die beiden Geständnisse mehr oder weniger gleich. Als ich alles durchgelesen hatte, sah ich, daß Ghaled mich gespannt beobachtete. Ich zwang mich, unge rührt zu erscheinen. »Rein interessehalber«, fragte ich, »wer ist – wer war – denn dieser Mann Sa’agir?« »Ein Verräter, der hingerichtet wurde.« »Und warum soll ich an seiner Hinrichtung betei ligt gewesen sein?« »Alle Genossen unterschreiben Geständnisse. Auf diese Weise können sich alle sicher fühlen.« »Ich muß sagen, daß mir dieses Geständnis kein Gefühl der Sicherheit verschafft.« »Ihr Geständnis dient der Sicherheit der anderen Genossen. Deren Geständnisse dienen Ihrer Sicher heit. Ein Genosse, der mit dem Gedanken spielt, uns 217
zu verraten, wird sich das zweimal überlegen, wenn er sich klarmacht, was ihn das kostet. Tun Sie also, was ich Ihnen sage, unterschreiben Sie. Sie kommen hier nicht lebend heraus, wenn Sie nicht unterschreiben.« Teresa und ich unterschrieben. Wir hatten die Feder noch nicht aus der Hand gelegt, als Issa mit einer klei nen Holzkiste unter dem Arm zurückkehrte, die er auf den Tisch stellte. Ghaled warf einen Blick auf un sere Unterschriften und reichte Issa die Geständnisse. »Die Genossen, die ihren Namen nicht schreiben können, leisten ihre Unterschrift lediglich mit einem Fingerabdruck«, sagte er. »Von denen jedoch, die schreiben können, werden zusätzlich auch noch Fin gerabdrücke abgenommen. Es ist besser so. Unter schriften können bestritten werden, Fingerabdrücke nicht. Issa kennt die Prozedur. Befolgen Sie seine Anweisungen.« Die Kiste enthielt eine tragbare Ausrüstung zur Abnahme von Fingerabdrücken von der gleichen Art, wie sie die Polizei benutzt. Issa walzte Tinte auf der Metallplatte aus und machte sich an die Arbeit. Er ge noß es offensichtlich, mir Anweisungen geben zu können. Er erklärte meinen ersten Abdruck für un scharf und daher unbrauchbar. Er schmierte mir nochmals Tinte auf den Daumen, packte mich am Un terarm und preßte mit der anderen Hand meinen Daumen auf das Papier. Mit Teresa verfuhr er in glei cher Weise. Ghaled nahm die beiden Blätter von Issa entgegen, überzeugte sich, daß die Abdrucke klar waren, und 218
händigte mir dann meinen Paß wieder aus. Teresa be kam ihre Identitätskarte zurück. So und nicht anders wurden unsere vielveröffent lichten ›Terroristen-Geständnisse‹ erlangt. Wir haben sie weder geschrieben noch diktiert, und an den Selbstbezichtigungen, die sie enthalten, ist kein wahres Wort. Ich bin wiederholt gefragt worden, ob wir denn nicht gewußt hätten, was wir taten, als wir unter schrieben, und ich erkläre nochmals: Natürlich wuß ten wir das, verdammt noch mal! Was wir dagegen nicht wußten, das war, wie wir drumherumkommen sollten, das Geständnis zu unterschreiben. Wir haben unter Druck unterschrieben; wir hatten keine andere Wahl. In Anbetracht dieser Umstände kann ich es Te resa nicht verdenken, daß sie mein Verhalten zu jenem Zeitpunkt mißverstand. Ihr schien, als versuche ich lediglich, in der einzigen Weise, die mir in dieser Si tuation zu Gebote stand, auf unvernünftige, ja kindi sche Weise gegen Ghaled zurückzuschlagen. Tatsächlich war mein Vorgehen nichts weniger als impulsiv. Ich versuchte nicht, gegen Ghaled zurück zuschlagen, sondern ihn seinerseits zu einem Schlag gegen mich zu provozieren. Ein Mann, der Geheim nisse von der Art derjenigen Ghaleds hat, steht immer unter Druck. Versetzen Sie ihn unvermittelt mit einer schlechten Nachricht in Wut, und in neun von zehn Fällen wird er unverhältnismäßig heftig reagieren. In seinem Verlangen, Sie zu vernichten und damit die schlechte Nachricht auszulöschen, neigt er dazu, seine 219
Besonnenheit zu verlieren und sich selbst preis zugeben. Selbstverständlich war es gefährlich, mit ei nem gewalttätigen Menschen wie Ghaled dieses Spiel spielen zu wollen; aber ich brauchte um jeden Preis Informationen, und dafür lohnte es sich, das Risiko in Kauf zu nehmen. Als ich meinen Paß in die Jackentasche steckte, sag te ich beiläufig: »Übrigens, Genosse Salah, es gibt da noch etwas, was Sie wissen sollten.« »Was?« »Sie sagten gestern abend, daß es hier keine perso nellen und sonstigen Veränderungen geben dürfe, daß keine Entlassungen vorgenommen werden sollten und daß Sie diese Örtlichkeit weiterhin als Hauptquartier benutzen wollen.« »Ja und?« »Ich fürchte, mir wird die Sache in Kürze aus den Händen genommen werden.« »Warum? Von wem? Was wollen Sie damit sagen?« Ich erzählte ihm von dem beabsichtigten Wechsel zur Produktion von Autobatterien und fuhr fort: »Diese Fabrik arbeitet seit Monaten mit Verlust. Ur sprünglich war geplant gewesen, sie ganz abzureißen und in Homs eine neue Fabrik für das italienische Projekt zu errichten. Später kam man überein, daß ein solches Vorgehen unwirtschaftlich wäre, und beschloß statt dessen, daß dieses Werk umgestaltet und ausge baut werden soll. Dieses Gebäude zum Beispiel wird zu einem Verwaltungszentrum umgebaut werden und nur noch Büros beherbergen. Das Laboratorium und 220
die Lagerräume sollen in den neuen Fabriktrakten un tergebracht werden, die geplant sind.« »Er lügt!« rief Issa aufgeregt. »Ich arbeite hier und weiß nichts von diesen Dingen.« »Genosse Issa weiß von sehr vielen Dingen nichts«, entgegnete ich. »Ich gebe nur die Fakten wieder.« »Warum haben Sie mir gestern abend nichts davon berichtet?« fragte Ghaled ganz ruhig. »Weil es mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, das zu tun. Ich habe mich Ihren Anordnungen gefügt, widerspruchslos und ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Begreiflicherweise, finde ich. Erst heute abend ist mir klargeworden, daß ich Sie hätte darauf auf merksam machen sollen, daß meine Möglichkeiten, diese Anweisungen zu befolgen, zeitlich begrenzt sind.« »Wie zeitlich begrenzt? Auf wie viele Wochen?« »Ich fürchte, darüber hat Dr. Hawa, der Minister, zu befinden.« »Aber seine Entscheidung wird auf Ihren Empfeh lungen basieren.« »Bedauerlicherweise habe ich ihm meine Empfeh lungen bereits unterbreitet.« Ich zog die Kopie des Memorandums, das ich diktiert hatte, aus der Tasche und überreichte sie ihm. Als er sie las, preßte er wü tend die Lippen zusammen. Das überraschte mich nicht. In dem Augenblick, wo das, was ich in dem Memorandum vorschlug, beschlossen wurde, würde sein gemütliches kleines Hauptquartier, das taktisch so überaus günstig sowohl in unmittelbarer Nähe des 221
Der’a-Flüchtlingslagers, wo seine Blödmann-Pelotons sich versteckten, als auch unweit der jordanisch libanesischen Grenze gelegen war, zum Mittelpunkt eines Baugeländes werden, das von Außenstehenden nur so wimmelte und von ihm aus gesehen ungefähr so sicher war wie ein flutlichtausgeleuchteter vorge schobener Gefechtsstand. Er starrte mich so lange un verwandt finster an, daß ich zu glauben begann, er ha be meinen Trick durchschaut. »Ich dachte, Sie sollten sich dieser Situation bewußt sein«, sagte ich schließ lich, um das Schweigen zu brechen. »Ganz recht, Genosse Michael. Und Sie werden sich jetzt überlegen, wie sie zu ändern ist.« »Unglückseligerweise –« Er hob die Hand. »Keine Ausflüchte. Sie werden tun, was immer erforderlich ist. Merken Sie sich, daß dieses Hauptquartier innerhalb der nächsten sechs Wochen unter gar keinen Umständen in irgendeiner Weise gefährdet oder auch nur gestört werden darf.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Selbstverständlich werden Sie das. Und sehen Sie ja zu, daß Ihr Bestes auch ausreicht.« Er schwieg einen Augenblick lang und sagte dann: »Haben Sie noch weitere Überraschungen für mich, Genosse Michael?« »Überraschungen?« Er runzelte die Brauen. »Kommen Sie. Ich habe Sie schon einmal davor gewarnt, Ihre aalglatten Geschäf temachertricks gegen mich auszuspielen. Was haben Sie sonst noch auf Lager?« »Nichts, Genosse Salah. Ich versuche lediglich, Ih 222
nen gegenüber offen zu sein – und ganz und gar nicht, irgendwelche Tricks zu spielen.« »Das hoffe ich, und zwar in Ihrem ureigenen Inter esse. Aber um ganz sicherzugehen, will ich Ihnen jetzt schon sagen, was im Rahmen unserer bevorstehenden Aktion von Ihnen verlangt werden wird. Auf diese Weise haben Sie reichlich Zeit, etwaige Schwierigkei ten, die Sie in bezug auf die Ausführbarkeit Ihres Auf trags vorauszusehen vorgeben, zu beseitigen. Wenn Sie versagen, gibt es keinen Pardon.« »Ich habe bereits erklärt, daß ich mein Bestes für Sie tun will, Genosse Salah.« »Und ich habe gehört, daß Sie das erklärt haben. Ich hoffe, man kann es Ihnen glauben. Wir werden ja sehen.« Er machte eine Pause. »Ihre Firma besitzt ein Motorschiff, die Euridice Howell«, sagte er dann. Es war eine Feststellung, keine Frage, aber ich nick te. »Ja, Genosse Salah.« »Es befördert regelmäßig gemischte Fracht von und nach fünf Anlaufhäfen – Famagusta, Iskenderun, La takia, Beirut und Alexandria. Habe ich recht?« »Das sind die häufigsten Anlaufhäfen, aber es fährt überall dorthin, wohin es im Interesse des Geschäfts dirigiert wird – Izmir, Brindisi, Tripolis –, und manchmal auch nach Genua und Neapel.« »Dennoch handelt der Kapitän auf Ihre Weisungen.« »Er handelt auf Weisungen unserer Agenten. Ich gebe die Weisungen nicht persönlich.« »Aber Sie könnten es.« 223
»Ich könnte unsere Agenten instruieren, das zu tun, aber es wäre ein unüblicher Eingriff von meiner Seite. Es müßte schon irgendwelche einleuchtenden ge schäftlichen Gründe dafür geben. Wenn Sie mir sagen würden, an welcherart Anweisungen Sie denken, Ge nosse Salah, könnte ich die Möglichkeiten besser be urteilen.« »Die geschäftlichen Gründe, von denen Sie reden, sind Ihre Angelegenheit. Ich will, daß das Schiff am oder um den zweiten Juli herum von Latakia zu einer Reise nach Alexandria ausläuft und sich am Abend des dritten vor Mitternacht in der Nähe des zweiunddrei ßigsten Breitengrades befindet. Das ist alles.« »Mit was für einer Fracht?« »Mit ganz normaler Fracht. Von welcher Art, spielt keine Rolle. In Latakia allerdings müssen vier Passa giere an Bord genommen werden. In der Nacht vom dritten auf den vierten Juli werden Kurs und Ge schwindigkeit des Schiffs vorübergehend von diesen Passagieren bestimmt werden.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie müssen wissen, Ge nosse Salah, daß kein Kapitän sich Kurs und Fahrt seines Schiffs von Passagieren vorschreiben läßt.« »Auch dann nicht, wenn ihm diese Weisungen vor dem Auslaufen vom Schiffseigner persönlich übermit telt werden?« Ich zögerte. »Das hängt von den Weisungen ab. Kein Kapitän würde sein Schiff oder die Sicherheit seiner Besatzung aufs Spiel setzen, und auf dieser Route ent lang der Küste läßt sich kein Kapitän der Agence 224
Howell auch nur auf das geringste Risiko ein. Ganz besonders sorgfältig wird er darauf achten«, fügte ich bedeutungsvoll hinzu, »daß er nicht in die Sechsmei lenzone gerät.« »Er würde nicht gezwungen werden, Hoheitsge wässer zu befahren oder sein Schiff in irgendeiner Weise zu gefährden. Der Kurs würde ihn geringfügig von der üblichen Route abkommen lassen, und das auch nur für die Dauer von zwei Stunden und bei verminderter Fahrt. Das ist alles.« Einen Augenblick lang dachte ich an den Kapitän der Euridice Howell. Er war ein Grieche mittleren Al ters, ein würdevoller, ungemein geachteter Mann, der eine mollige Frau und sieben Kinder hatte. An Land nicht minder als auf See hielt er strikt auf Ordnung und Disziplin. Die Aussicht, diesem hochverdienten Angestellten klarmachen zu müssen, daß er Ghaleds Anordnungen hinsichtlich Kurs und Fahrt, wie unbe denklich sie auch erscheinen mochten, unbedingt Fol ge zu leisten habe, reizte mich nicht, sie mir näher auszumalen. »Haben Sie bestimmte Gründe, die Euridice zu be nutzen?« fragte ich. »Nur den, daß es für sie eine ganz normale Reise wäre, von der allgemein bekannt ist, daß sie sie regel mäßig macht.« »Wir haben andere Schiffe, die ständig diese Route befahren. Genosse Salah, Sie sagten, daß es meine Sa che sei, für diese Fahrt zu diesem Zeitpunkt und mit Passagieren eine glaubwürdige kommerzielle Recht 225
fertigung zu erfinden. Ich muß Ihnen sagen, daß es im Falle der Euridice schwierig sein wird, überzeugende kommerzielle Gründe vorzuschützen. Es hängt vor allem davon ab, wie geheim wir zu verfahren haben. Wenn Geheimhaltung keine Rolle spielt –« »Selbstverständlich spielt sie eine Rolle. Absolute Geheimhaltung muß gewährleistet sein.« »Dann sollten wir nicht die Euridice nehmen.« »Welches Schiff sonst?« »Lassen Sie mir etwas Zeit, darüber nachzudenken, Genosse Salah.« Tatsächlich hatte ich bereits darüber nachgedacht, al lerdings weniger im Hinblick auf geeignete Schiffe als auf willfährige Kapitäne. Der Kapitän, an den ich dach te, war ein prahlerischer Tunesier, der als HaschischSchmuggler erfolgreich gewesen war, bis ihn rivalisie rende Kollegen aus der eigenen Branche unweit der Spitze des italienischen Stiefels auf seinem schnellen Motorboot zusammenschossen. Nachdem er eine Zeit lang arbeitslos gewesen war, hatte er bei uns angeheu ert. Touzani war ein tüchtiger Kapitän, aber obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, seit er für uns fuhr, argwöhnte ich, daß er nach wie vor mit seinen ehemaligen Geschäftspartnern in Verbindung stand. Er würde befremdliche Anweisungen nicht in Frage stel len, dachte ich, was immer er von ihnen auch halten mochte; und er würde schweigen. »Nun gut«, sagte Ghaled, »aber kommen Sie mir nicht damit, man hätte Ihnen nicht genug Zeit gelas sen, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. 226
Geben Sie mir sofort Bescheid, sobald Sie den Namen des Schiffs wissen.« »Sofort.« »Es muß ein Schiff aus Eisen sein, verstehen Sie, und es darf nicht kleiner sein als die Euridice Howell.« »Es wird etwa die gleiche Tonnage haben.« »Zwischenberichte über Stand und Fortgang der Ihnen erteilten Aufträge erstatten Sie jeweils dem Ge nossen Issa, der Ihnen seinerseits weitere Befehle übermitteln wird.« »Ja, Genosse Salah.« »Dann können Sie jetzt gehen.« Wir gingen. Teresa, die offenkundig Mühe hatte, diverse unterdrückte Regungen noch länger zu zü geln, war schweigsam. Ich nahm an, daß die vorherr schenden unter ihnen gegen Ghaled gerichtete Gefüh le der Wut und Empörung seien. Erst nachdem Ah mad und Musa uns am Fabriktor verlassen hatten, stellte ich fest, daß ich mich im Irrtum befand. Ihr Zorn galt mir. »Du hältst ihn für geisteskrank, nicht wahr?« sagte sie unvermittelt. Ihre Stimme hatte einen anklägeri schen Tonfall. Die Frage bestürzte mich. Bisher hatte ich in Ghaled eine unberechenbare reißende Bestie ge sehen. Mich zu fragen, ob sein Geist krank sei oder gesund, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekom men. Ich bin kein Psychiater. Ich sagte ihr das. »Aber du hast ihn behandelt, als sei er geisteskrank, meinst du nicht? Geisteskrank oder dumm?« 227
»Ich halte ihn ganz und gar nicht für dumm.« »Aber jeder, der dir heute abend zugehört hätte, würde das vermutet haben.« »Du meinst, ich hätte ihn allzu offenkundig bei Laune zu halten versucht?« »Ich meine, daß du ihm in einem Augenblick ge schmeichelt und ihn im nächsten provoziert hast. Schlimmer noch, du hast so getan, als hättest du Angst vor ihm, und dann gezeigt, daß du keine hast.« »Aber ich habe Angst vor ihm, verdammt noch mal.« »Diesen Umstand hast du nur allzu gut verborgen. Jetzt weiß er nicht, woran er mit dir ist. Bist du ver trauenswürdig oder bist du es nicht? Das fragt er sich natürlich. Deine Haltung war voller Widersprüche.« Ich seufzte. »Ich bin nicht darauf trainiert, mit Leu ten wie Ghaled zu tun zu haben. Wie hättest du dich an meiner Stelle verhalten?« »Ich hätte ihm in allen Punkten nachgegeben. Keine Einwände erhoben, sondern allem zugestimmt.« »Und dann?« »Hätte ich Reißaus genommen. Das zumindest können wir noch tun. Das Land verlassen, so schnell es geht.« »Und uns vor seinen Killer-Rotten verstecken?« »Er hat nur geblufft. Was kann er uns in Rom denn tun?« »Unsere Niederlassungen befinden sich ausnahms los in arabischen Ländern, und das weiß er. Zudem sind wir Ausländer, und das macht uns angreifbar. In diesem Punkt hat er nicht geblufft.« 228
»Dann liquidiere die Geschäftsunternehmen, Micha el. Veräußere die Schiffe. Deine Familie würde keine Schwierigkeiten machen. Reich wäret ihr alle deswegen immer noch.« Ich starrte sie ungläubig an. Sie hantierte angele gentlich mit dem Zündschlüssel, ehe sie ihn ins Schloß steckte, vermied es aber, mich anzusehen. »Liquidieren – wegen Ghaled?« fragte ich. »Ist das dein Ernst?« Sie antwortete nicht gleich. »Du hast selber schon daran gedacht«, sagte sie schließlich. »Du weißt, daß du es getan hast. Und das nicht nur wegen Ghaled und wegen des pak. Du glaubst selber nicht, daß die Agence Howell im Mittleren Osten noch eine Zu kunft hat. Du glaubst, daß ihre Zeit abgelaufen ist. Das weiß ich, Michael. Das weiß ich ganz genau.« »Großartig! Darf man erfahren, woher?« »Rede nicht in diesem Ton mit mir, Michael. Du müßtest eigentlich wissen, daß ich zumindest nicht dumm bin. Was ist deine ganze hiesige Geschäftstätig keit denn anderes als ein einziger Liquidierungspro zeß? Du gibst es nicht zu, aber aussteigen aus allem, das ist es doch, was du wirklich willst. Zu deinen eige nen Bedingungen natürlich, aber bald. Die Howells haben es immer verstanden, ihr Schäfchen ins trockene zu bringen, aber jetzt sind die Besitzverhältnisse in diesem Teil der Welt für sie nicht mehr sicher. Deine Mutter weiß das, da habe ich gar keinen Zweifel.« »Mama?« Ich lachte. »Gewiß. Bevor ich persona ingrata wurde, hat sie 229
mir das sinngemäß selber einmal gesagt. Sie muß dir gegenüber auch davon gesprochen haben. Die besten Suiten in französischen Fünf-Sterne-Hotels, viel Bridge mit gut spielenden Partnern und ferngelenkte Kontrolle über die Erziehung ihrer Enkelkinder – so stellt sie sich ihre Zukunft vor. Im Winter Monaco, im Sommer Evian, ein Rolls-Royce und ihre libane sische Kammerzofe. Du weißt, daß das stimmt, Mi chael.« »Und du glaubst, ich teile die Vorlieben meiner Mutter?« »Nein«, sagte sie. »Du wirst immer arbeiten. Aber nicht hier. Du läßt dir nicht oft in die Karten gucken, aber heute morgen hast du es getan.« »Habe ich das?« »Diese Anlaufstelle – der einzige Ort, wo wir rasch untertauchen könnten und vor dem pak absolut sicher wären.« »Was ist damit?« »Es war Israel, an das du gedacht hast, nicht wahr?« »Ja. Aber das wäre natürlich nur der allerletzte Ausweg.« »Natürlich. Die Tatsache, daß Michael Howell sich in Israel aufhält, würde, sobald sie bekannt geworden wäre, die Verhandlungsposition der Agence Howell außerordentlich belasten. Ihre Liquidation wäre nicht länger eine Sache deines Ermessens. Sie würde zwangs weise erfolgen.« »Dessen bin ich mir vollauf bewußt. Wie ich schon sagte, es ist der letzte Ausweg.« 230
»Aber du hast ihn erwogen. Schlecht fürs Geschäft, das allerdings, aber deswegen doch nicht ganz und gar auszuschließen. Siehst du, Michael?« Viel länger konnte und wollte ich mir das nicht mehr anhören. »Willst du weg?« fragte ich. »Meinst du allein?« Ich sagte nichts. Sie ließ nicht locker. »Ich soll allein gehen und es dir überlassen, Ghaled meinen Treubruch plausibel zu machen?« »Wenn du willst, kannst du.« »Was du da redest, Michael, ist entweder herzlos oder töricht.« »Ich bin müde. Laß uns heimfahren.« »Wie du willst.« Sie sprach erst wieder, als wir die Stadtgrenze er reicht hatten. »Was meinte Ghaled mit dem zweiunddreißigsten Breitengrad?« fragte sie. Ich war mit meinen Gedanken bei metrischen Tabellen für Gewindegänge und antwortete nicht gleich. »Michael.« Sie war im Begriff, die Frage zu wieder holen, als ich ihr antwortete. »Zweiunddreißig Grad nördlicher Breite, das ist annähernd der Breitengrad, auf dem Tel Aviv liegt«, sagte ich.
Fünftes Kapitel Teresa Malandra 18. Mai bis 10. Juni
Wenn es – besonders Journalisten – schwerfällt, Mi chael zu begreifen, so liegt das daran, daß er keine Einzelperson, sondern ein ganzes Komitee, eine Ver sammlung verschiedenartigster Personen ist. Da gibt es zum Beispiel den griechischen Geldwechsler, des sen flinke magere Finger die Kugeln des Abakus, mit dem er seine Blitzkalkulationen anstellt, unablässig hin- und herschieben; des weiteren den dumpf vor sich hin brütenden armenischen Basarhändler mit dem todtraurigen Blick, der immer so tut, als sei er schwer von Begriff, in Wirklichkeit aber unaufrichtig und ab gefeimt bis dorthinaus ist; es gibt den nüchternen, langweiligen Engländer, einen gelernten Ingenieur; ferner den umgänglichen jungen Geschäftsmann, der rohseidene Anzüge trägt und um die treublickenden, großen hellen Betrügeraugen herum Lachfältchen hat, den Generaldirektor der Agence Howell mit seiner Mutterbindung, seiner fixierten Abwehrhaltung, sei ner Neigung zu Sentenz und wortreicher Rede; und es gibt den Michael, den ich besonders gern habe, der – aber wozu die Aufzählung fortsetzen? Das MichaelHowell-Komitee tagt in Permanenz, und wenngleich die Aufgabe, seine Beschlüsse in die Tat umzusetzen, 232
für gewöhnlich jeweils nur einem einzigen Mitglied übertragen wird, so kann man doch die Stimmen der anderen zumeist weiterhin im Hintergrund flüstern hören. Ghaled hat das Wispern dieser soufflierenden Stimmen mit Sicherheit vernommen, aber zweifelsfrei zu identifizieren vermochte er nur den Ingenieur. Immerhin war sein Urteil über dieses Komiteemit glied zutreffend; der fachliche Ehrgeiz des Engländers grenzt an Besessenheit. In den ersten Tagen nach jener zweiten Zusammen kunft mit Ghaled schien es keinen eifrigeren und er gebeneren Anhänger der Sache des Palästinensischen Aktionskommandos zu geben als den Genossen Mi chael. Innerhalb von achtundvierzig Stunden waren die Zeichnungen und Anleitungen für die Fertigung des Zünder-Verbindungsrings fertiggestellt und an die Maschinenwerkstatt nach Beirut abgeschickt. Am nächsten Tag schon hatte man sich telefonisch über den Preis geeinigt, und mit der Arbeit an dem Muster stück konnte begonnen werden. Unterdessen waren die für die Monate Juni und Juli vorgesehenen Schiff fahrtsbewegungen der Reederei Howell analysiert und diverse Vorausberechnungen aufgestellt worden. Als dann wurden mögliche Umdispositionen und Mani pulationen erkundet. Es war wie eine vertrackte Schachaufgabe. Am 2. Juli muß das Motorschiff Amalia Howell (Verdrängung: 4000 Bruttoregistertonnen, Kapitän: Touzani), möglicher-, aber nicht notwendigerweise mit Frachtladung an Bord, aus Latakia auslaufen und 233
Kurs auf Alexandria nehmen. Aufgabe: Erreiche die ses Ziel in nicht mehr als drei Zügen, von denen kei ner deinem Gegner (in diesem Fall deinem eigenen Schiffahrtsagenten) zur Kenntnis gelangen oder, falls dies geschehen sollte, von ihm als Schachzug erkannt werden darf. Tagelang dachte Michael immer wieder darüber nach. Schließlich kam er auf eine Lösung, die nur zwei Züge erforderte. Erstens den vorgetäuschten zeitweiligen Entzug der (nach Artikel 17 der Interna tionalen Gesundheitsbestimmungen vorgeschriebe nen) Unbedenklichkeitsbescheinigung für die Amalia, demzufolge das Schiff drei Tage lang – gegebenenfalls auch länger – im Hafen festgehalten werden würde; und zweitens eine daraus sich notwendigerweise erge bende Umdisposition in der Planung von HowellFrachterfahrten, aufgrund deren die Amalia nach An cona umdirigiert wurde, um dort Fracht für Latakia zu laden. Seine Augen leuchteten vor Vergnügen, als er die technischen Einzelheiten mit mir durchging. »Sag Issa, er soll die Nachricht weitergeben«, sagte er schließlich. »Keine Einzelheiten, gib ihm nur den Namen des Schiffs an. Du kannst ihm außerdem sa gen, daß uns der Musterring am kommenden Montag geliefert wird. Ghaled wird ihn sich ansehen wollen. Bitte um weitere Anweisungen. Es muß so aussehen, als ob wir bereit seien, hundertprozentig mitzuma chen.« »Warum sagst du, ›so aussehen als ob‹?« »Was meinst du?« »Na, wir machen doch mit, oder vielleicht nicht?« 234
Er runzelte ungeduldig die Brauen. »Was schlägst du vor, was wir sonst tun könnten?« »Wird dieser Verbindungsring funktionieren?« »Selbstverständlich wird er funktionieren.« Er war einen Augenblick lang indigniert. Dann zuckte er die Achseln. »Ach so, ich verstehe. Du meinst, es wäre besser, wenn der Ring nicht paßte.« »Meinst du das nicht?« »Du fragst dich, ob wir Ghaleds verbrecherische Aktion am Ende gar nicht sabotieren wollen? Natür lich wollen wir. Aber wie können wir sie sabotieren, wenn wir nicht genau wissen, was er vorhat?« »Einiges wissen wir.« »Nur Bruchteile. Nicht genug. An dem Verbin dungsring irgend etwas zu verpatzen, würde uns je denfalls nichts einbringen. Ich hatte daran gedacht, die Maße der Flansche leicht zu verändern. Viel leicht würde das etwas ausmachen, aber wie soll ich das mit Bestimmtheit wissen? Ich kenne mich mit Munition nicht genügend aus, um das beurteilen zu können. Außerdem wird er den Ring sowieso nicht auf Treu und Glauben abnehmen. Er muß ihn aus probieren.« Wir saßen im Büro in der Villa, und er versuchte das Thema zu wechseln, indem er die mit dem Ver merk »Dringend« versehene Mappe öffnete, die vor ihm auf seinem Schreibtisch lag, und sie durchzusehen begann. Ich hatte alle wirklich dringenden Dinge be reits erledigt und war nicht gewillt, mich so einfach abspeisen zu lassen. 235
»Michael, ich habe nachgedacht«, sagte ich. »Ja?« Sein Tonfall verriet eindeutig, wie wenig ihn das interessierte. »Über dieses Geständnis, das wir unterschrieben haben.« Das ließ ihn aufhorchen. »Was ist damit?« »Wir sollen beide mit dem israelischen Geheim dienst in Verbindung gestanden haben.« »Das übliche belastende Zeug. Darauf steht allemal die Todesstrafe.« »Sie haben den Namen eines israelischen Agenten auf Zypern erwähnt.« »Ich weiß. Ze’ev Barlev.« »Und warum nehmen wir nicht Verbindung mit ihm auf? Es muß ihn geben, sonst hätten sie ihn nicht namentlich genannt.« Michael lehnte sich im Sessel zurück. Er war jetzt ganz bei der Sache. »O ja, Barlev existiert. Er saß in Nikosia.« »Na bitte.« »Ich sagte saß. Er ist schon seit einem halben Jahr nicht mehr in Nikosia. Es hat da Schwierigkeiten ge geben. Er ist aufgeflogen.« »Inzwischen werden sie ihn bestimmt durch einen anderen Mann ersetzt haben.« »Das ist anzunehmen.« »Famagusta könnte herausfinden, wer sein Nach folger ist.« »Du scheinst zu glauben, das sei ganz leicht. Aber nehmen wir ruhig einmal an, sie könnten es. Einer von 236
uns setzt sich mit ihm in Verbindung. Ist es das, wor an du denkst?« »Wir haben bereits ein Geständnis abgelegt, daß wir mit Barlev in Verbindung stehen. Warum sollten wir mit seinem Nachfolger nicht tatsächlich Verbindung aufnehmen?« »Und aufgrund eines nachweislichen Tatbestands gehenkt werden statt wegen eines Hirngespinstes?« Es war der Schwindler, der mich mit einem komplizen haften Blick aus leicht zusammengekniffenen Augen musterte, schelmisch und ungemein nervtötend. »Ich hatte gehofft, um das Gehenktwerden herum zukommen«, sagte ich nicht ohne Schärfe. »Und ich nehme doch an, du auch. Zu den sonstigen Dingen, um die ich ebenfalls herumzukommen hoffe, gehört auch jegliche unmittelbare Verantwortung für jedwe den Greuel, den dieser Ghaled ausheckt. Du sagst, wir können uns nicht an die hiesigen Behörden wenden. Soweit es Oberst Shikla und den Inneren Sicherheits dienst betrifft, sehe ich das ein. Wir wissen jetzt, daß Ghaled Sympathisanten im isd hat. Aber es gibt ande re, bei denen wir Gehör fänden. Oberst Shikla hat Feinde, die froh wären, wenn sie eine Chance hätten, ihm Schwierigkeiten zu bereiten.« »Und du glaubst, Shikla würde nicht erfahren, daß wir dahinterstecken? Selbstverständlich würde er das. Und jeder andere auch.« »Ja, ja, es wäre schlecht fürs Geschäft. Arme Agen ce Howell.« »Das ist unfair!« Der Generaldirektor war plötzlich 237
aus dem Sitzungszimmer des Komitees herausge kommen. »Wir haben alles das schon ein dutzendmal durchgekaut. Es geht hier nicht ums Geschäft, son dern um unsere persönliche Sicherheit. Jede Aktion, sei sie nun offiziell oder nicht, die wir gegen Ghaled auslösen, wird ihrerseits Aktionen – direkte Aktionen – gegen uns zur Folge haben. Und ich rede jetzt nicht von Brandstiftungen in Laderäumen und Explosionen in Maschinenräumen von Schiffen der Gesellschaft, sondern von gegen uns persönlich gerichteten Aktio nen.« »Wir könnten Schutz verlangen.« »Gegen Oberst Shikla, nachdem Ghaled ihm unsere Geständnisse zugespielt hat? Das ist doch sinnlos, Te resa.« »Nun gut. Dann haben wir also die Wahl. Entwe der wir sehen zu, daß wir von hier wegkommen, oder wir sabotieren Ghaled, ohne daß er es merkt. Und da wir, wie du sagst, nicht davonlaufen dürfen –« »Ich habe mich bereits für die Politik der Sabotage entschieden, vorausgesetzt, sie läßt sich ohne persönli ches Risiko betreiben. Was willst du noch mehr?« »Eine gewisse Gewähr dafür, daß die Sabotage auch wirksam ist.« »Und die bekommen wir, wenn wir uns mit israeli schen Geheimagenten zusammensetzen? Ist das dein Ernst?« »Exponiert sind wir ohnedies schon.« »Wie ich dir bereits klarzumachen versucht habe«, sagte er kalt, »besteht zwischen den Worten eines ge 238
fälschten Geständnisses und den Taten, die du vor schlägst, ein gewisser Unterschied. Glaubst du viel leicht, ich hätte die Möglichkeit, mit den Israelis Kon takt aufzunehmen, nicht schon erwogen? Natürlich habe ich das.« »Und?« »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dazu.« Er sah mich einen Augenblick lang verdrossen an, und plötz lich schnellte sein Zeigefinger vor, der auf meine Na senspitze deutete. »Na schön, mein liebes Kind, sagen wir, du triffst dich heute abend mit einem israelischen Agenten. Es ist alles vorbereitet – unbeobachtete An reise, geheimer Treff, alles. Was willst du ihm erzäh len?« »Was wir wissen.« »Und was wissen wir? Daß Ghaled irgend etwas gegen sie vorhat? Das wird ihm nicht neu sein. Daß er irgendwelche Waffen hat, vielleicht Raketen? Auch keine Neuigkeit.« »Und was ist mit dem Abend des dritten Juli?« »Ja, was ist damit? Ein israelischer Gedenktag. Glaubst du vielleicht, ich hätte das Datum nicht nach geschlagen? Zwanzigster Tammuz im hebräischen Ka lender. Todestag Theodor Herzls, des Begründers des Zionismus. Von Ghaleds Standpunkt aus gesehen ein symbolträchtiges Datum, um zuzuschlagen. Ja, tat sächlich!« »An diesem Abend wird ein Schiff, die Amalia, mit einer Anzahl von Ghaleds Leuten an Bord vor Tel Aviv kreuzen. Soviel wissen wir.« 239
»Ein neutrales Schiff außerhalb israelischer Ho heitsgewässer? Was werden Ghaleds Leute tun? In die See spucken? Aber berichte nur weiter. Du weißt fer ner, daß in unserer Batteriefabrik derzeit fünfhundert elektrisch auszulösende Zünder hergestellt werden. In welcher Weise sollen sie verwendet werden? Weißt du das? Du weißt es nicht. Wie, glaubst du, wird dieser israelische Agent auf deine Neuigkeiten reagieren? Ich will es dir sagen. Er wird sagen: ›Vielen Dank, Miss Malandra, das ist alles sehr interessant und vielsagend. Tun Sie mir den Gefallen, jetzt gleich zurückzuflie gen, und stellen Sie erst einmal fest, was es mit diesem angeblichen Plan Ghaleds denn nun eigentlich auf sich hat – vorausgesetzt natürlich, daß Ihnen wirklich so sehr daran gelegen ist, uns zu helfen, wie Sie gesagt haben.‹« Er hob die Hände. »Du siehst, du weißt noch nicht genug, um ihnen wirklich von Nutzen zu sein. Wozu dann also das Risiko laufen und diesen gefährli chen Kontakt aufnehmen? Warum nicht damit war ten, bis die Informationen, die du zu bieten hast – wenn du sie zu bieten hast –, das Risiko auch wert sind? Wozu sich unnütz in Gefahr begeben?« Ich hätte ein weiteres Mitglied des Komitees er wähnen sollen – den tyrannischen Großinquisitor. Es gab natürlich nichts, was ich darauf hätte erwi dern können; er hatte recht. Aber es bedurfte auch gar keiner Erwiderung, denn das Dampfablassen hatte bewirkt, daß er erneut nachzudenken begann. Er schob die »Dringend«-Mappe von sich weg und beobachtete eine Fliege, die in dem Büro umherkreiste. Nach einer 240
Weile zog er die untere Schreibtischlade auf und holte die Spraydose mit dem Insektenvertilgungsmittel her aus, die er stets dort aufbewahrte. Er schüttelte sie gei stesabwesend. »Druck«, murmelte er. »Wir müssen Druck an wenden.« Er nahm den Deckel von der Spraydose, wartete, bis die Fliege erneut im Anflug war, und richtete dann kurz einen wohlgezielten Strahl auf sie. Als er sich vergewissert hatte, daß sie verendet war, legte er die Spraydose wieder in die Schublade zurück. »Ich will Elie Abouti sprechen«, sagte er. Das hatte ich am allerwenigsten zu hören erwartet. Abouti war der Bauunternehmer, der das ElektronikMontagewerk errichtet hatte. Er kannte keinerlei Skrupel und war schlau genug gewesen, seine abgrund tiefe Infamie erst offenbar werden zu lassen, als es für uns schon zu spät war, um noch Gegenmaßnahmen zu treffen. Er hatte einen ungeheuren Profit aus dem Fa brikbau herausgeschlagen, dessen Instandhaltung und laufende Ausbesserung dank seiner geradezu inspirier ten Verwendung minderwertiger Materialien praktisch schon vor seiner Fertigstellung zu einem ernsten fi nanziellen Problem geworden war. Michael hatte ge schworen, furchtbare Rache zu nehmen. Wenn er Abouti jetzt sprechen wollte, konnte das nur bedeu ten, daß der Tag der Vergeltung gekommen war. Ich war gespannt, welche Form sie annehmen würde, und fragte mich, wie sie mit der Ghaled-Affäre in Zusam menhang gebracht werden konnte. 241
Als die Verbindung mit Abouti hergestellt war, hät te man denken können, daß Michael und er die besten Freunde seien. Ich konnte Aboutis hohe Stimme mun ter daherschwatzen hören, während die beiden Kom plimente austauschten und Michael sich vor Liebens würdigkeit schier überschlug. Ungeduldig wartete ich darauf, daß er zur Sache kam, aber als er es dann schließlich tat, traute ich meinen Ohren nicht. »Mein lieber Freund«, sagte Michael ölig, »ich bin sehr glücklich, Ihnen sagen zu können, daß ich eine Möglichkeit sehe, unsere Zusammenarbeit zu erneu ern.« Die Suada am anderen Ende der Leitung wurde im Tonfall etwas reservierter. Das war kaum verwunder lich. Obschon Michael sein Rachegelöbnis nicht öf fentlich abgelegt hatte, konnten seine Empfindungen, was die Bauten für das Elektronikwerk betraf, Abouti schwerlich verborgen geblieben sein. »Ich bin erfreut, das zu hören, mein lieber Freund, sehr erfreut«, sagte Michael und schmunzelte dann. »Aber diesmal, mein lieber Abouti, werden Sie es mir, hoffe ich, nicht übelnehmen, wenn ich Sie darum bit te, mir einen kleinen persönlichen Anteil an Ihrem Profit zuzugestehen.« Sogleich wurde die Suada animierter. Ein Mann, der einem anbietet, sich mit ihm in einen illegalen Profit zu teilen, der aus einem Regierungsauftrag herauszu schlagen ist, kann schwerlich Rachegelüste gegen ei nen hegen. »Arbeitet Rashti noch bei Ihnen?« fragte Michael. 242
Rashti war Aboutis Aufseher und – sofern das überhaupt menschenmöglich war – ein ebenso großer Schurke wie Abouti selber. Auch ihn hatte Michael als Opfer seiner Rache vorgemerkt. »Gut. Ist er auf kurzfristige Benachrichtigung hin mit einem Vermessungstrupp abkömmlich? Nächste Woche, wenn es geht. Ich frage deswegen, weil wir möglicherweise sehr rasch werden handeln müssen, um uns den Auftrag zu sichern. Am besten, Sie rücken ganz einfach mit Ihren Leuten an und besetzen das Baugelände. An dem Projekt ist auch eine italienische Firma beteiligt. Ja, es wird sich um einen Auftrag des Ministeriums für industrielle Entwicklung handeln. Unweit von Der’a. Aber die ausländischen Partner werden versuchen, maßgeblichen Einfluß zu nehmen, wenn die Tür nicht fest verschlossen bleibt.« Ich war nicht mehr imstande, ihm zu folgen. Natür lich würde Abouti die Mühen und Kosten scheuen, die mit der Installierung seiner Bautrupps auf regie rungseigenem Gelände verbunden waren, solange die in solchen Fällen übliche schriftliche Anweisung des Ministeriums nicht vorlag. Ich konnte mir nicht vor stellen, wie Michael sie für das Autobatterienprojekt in diesem Stadium bekommen sollte. Die Kooperation mit den Italienern mußte erst noch genehmigt werden. Die Unterhaltung endete mit wechselseitigen Be kundungen ungeschmälerter Hochachtung und Be reitschaft zu erneuter Zusammenarbeit sowie mit der Beteuerung von seiten Michaels, die behördliche Ver fügung innerhalb von ein, zwei Tagen zu erwirken. 243
Als er endlich aufgelegt hatte, lächelte er den Appa rat grimmig an. »Der hat den Köder geschluckt und sich vor Wonne den Bauch gerieben.« »Wie willst du die Verfügung erwirken?« »Irgendwie.« »Durch Hawa?« »Durch wen sonst?« Er sah mich schuldbewußt an. »Tut mir leid, Teresa, ich fürchte, es bleibt uns nicht erspart, ihn zum Abendessen einzuladen.« Er wußte, daß ich diese Abende nicht mochte; er mochte sie selber nicht. Dr. Hawas Einstellung zur Emanzipation der Frauen war ambivalent wie bei vie len gebildeten Syrern. In der Theorie billigte er sie; tatsächlich aber bereitete sie ihm Unbehagen. Obwohl Michael Hawas Frau kurz vorgestellt worden war, hatte er immer gewußt, daß eine Einladung in die Vil la, die sie einschloß, ausgeschlagen werden würde; da her war auch nie eine solche ergangen. Natürlich hatte ich angenommen, daß meine Gegenwart und Rolle im Haushalt den Stein des Anstoßes bildeten; aber Mi chael hatte das stets verneint. Hawa sei nicht prüde, sagte er; es verhalte sich vielmehr so, daß er sich als typischer Araber bei gesellschaftlichen Anlässen unter Männern grundsätzlich wohler fühle. Zudem trank er gern Alkohol, und das konnte er bei Zusammenkünf ten dieser Art ungeniert tun. Bezeichnenderweise wußte er es natürlich auch besonders zu schätzen, wenn die anderen Gäste von geringerem Status waren und er als Minister die Hauptrolle spielen konnte. Am gelöstesten gab er sich jedoch im einsamen Tête-à-tête 244
mit Michael, der auf seine unermüdlichen Einschüch terungsversuche stets mit jener Art subtiler Unver schämtheit reagierte, die Dr. Hawa unterhaltsam zu finden schien. Er war der König, Michael der lizen zierte Hofnarr. Bei diesen Gelegenheiten tat ich manchmal, was die Moslemfrauen in ihren Häusern zu tun pflegten: ich lauschte von einem angrenzenden Raum aus durch ei nes der reichverzierten schmiedeeisernen Gitter, die ursprünglich eigens zu diesem Zweck dort angebracht worden waren; aber die Unterhaltung war zumeist so langweilig oder, wenn viel Brandy getrunken wurde, so empörend, daß ich bald schlafen ging und die bei den sich selbst überließ. Diesmal war ich jedoch entschlossen, mir kein ein ziges Wort entgehen zu lassen. Es war der Abend jenes Tages, an dem Ghaled uns wissen ließ, daß das Muster des Zünder-Verbindungs stücks seine Billigung gefunden hatte, und der Auftrag auf weitere einhundert Stück an die Maschinenwerk statt in Beirut ergangen war. Mir kam es vor, als hät ten wir soeben hundert Explosionen in die Wege ge leitet, und der Gedanke war deprimierend. Ich wünschte verzweifelt, daß Michael bei Hawa Erfolg haben würde. Alles, was wir bislang unternommen hat ten, war dazu bestimmt gewesen, Ghaleds Vorhaben, eine Menge Menschen umzubringen, Vorschub zu lei sten; und wenn unser Plan, einen Vermessungstrupp auf dem Gelände der Batteriefabrik aufkreuzen zu las sen, die Ausführung seines Vorhabens auch kaum ver 245
hindern würde, so konnte er sie doch wenigstens ver zögern und erschweren. Das wäre immerhin etwas. Überdies vermag, wie Michael sagt, mitunter schon leichter Druck viel auszumachen – vielleicht nicht unmittelbar, sondern durch eine minimale Wertverän derung irgendeiner Unbekannten in der Gleichung. Der erklärte Zweck dieser Abende à deux war Backgammon, gespielt von zwei erfahrenen und auf einander abgestimmten Partnern; aber der wahre Grund für Dr. Hawas Besuche in der Villa war die Möglichkeit, sich von Michael Ideen und Anregungen zu holen und ihn nach Informationen auszuhorchen. Irgend jemand hat einmal gesagt, wer wissen will, was sich in Damaskus tut, informiert sich darüber am be sten in Beirut. Komischerweise stimmt das, und nicht nur in bezug auf Damaskus. Im Mittleren Osten sind Informationen hochwertige Handelsgüter, und Mi chaels Quellen beschränkten sich nicht auf Beirut. Die Agence Howell hatte ihre Finger in sehr vielen Ge schäftsunternehmen und unterhielt Vertretungen an zahllosen Orten. Zusammen mit den Absatzprogno sen, den Trendanalysen und den Berichten über die Aktivitäten der Konkurrenz wurden natürlich auch stets Neuigkeiten – mit viel Klatsch und Gerüchten vermischt – übermittelt, die nicht nur von kommer zieller, sondern auch von politischer Relevanz waren. Zuweilen stellte Dr. Hawa gezielte Fragen, aber ge wöhnlich pflegte er, während die Würfel klapperten und die Steine klickten, auf den jeweiligen Sachkom plex, der ihn gerade interessierte, lediglich vage anzu 246
spielen und das Reden weitgehend Michael zu über lassen. So begann es auch an diesem Abend. Dr. Hawa war begierig, über die neuesten Angebote einer in den Iran entsandten sowjetischen Handelsdelegation Näheres zu erfahren. Er sprach kaum ein Wort und ließ nur ab und zu ein Brummen hören, um Michael zu verstehen zu geben, daß er ihm aufmerksam zuhörte. Von Teheran kam Michael auf Ankara und von dort auf den kürzlich unabhängig gewordenen Staat Bahrein zu sprechen. Und dann verstummte er plötz lich. Das nächste, was ich hörte, war ein kurzes Aufla chen Dr. Hawas und ein Ausruf des Unmuts von sei ten Michaels. Ein weiteres Lachen von Dr. Hawa folgte. »Ich ha be Sie nie einen derartigen Fehler machen sehen«, tri umphierte er. »Haben Sie denn Ihre Chance gar nicht erkannt?« »Nein, Herr Minister, das habe ich nicht.« Selbst in seinem eigenen Haus redete Michael Dr. Hawa noch immer mit ›Herr Minister‹ an; das war etwas, was mich immer irritiert hatte. Er klang jetzt bußfertig wie ein Schuljunge, der von einem gefürch teten Lehrer bei einer Missetat erwischt wird. »Sie waren unkonzentriert.« »Ja, das stimmt. Tut mir leid.« »Entschuldigen Sie sich nicht. Die Würfel meinten es gut mit Ihnen, aber Sie haben es nicht bemerkt. Solche Unhöflichkeit mögen die Würfel nicht. Geben 247
Sie acht, Michael, oder ich gehe als reicher Mann nach Hause.« »Ja, ja. Noch einen Brandy, Herr Minister?« »Ah, Sie wollen mir die Sinne benebeln. Ausge zeichnet. Aber Sie sollten nichts mehr trinken.« »Die Wahrheit ist, daß ich heute abend nicht in Form bin.« »Das sind Sie in der Tat ganz offenkundig nicht. Schwierigkeiten mit der Verdauung vielleicht? Oder haben Sie es womöglich an der Leber?« »Ich muß gestehen, daß mich etwas bedrückt.« »Sie, Michael?« Ein höhnischer Laut. »Das müßte ich erst noch erleben. Es sei denn natürlich, es gäbe da eine neue Frau. Das wird es sein. Ihr Christen macht solche Narren aus euch.« »Keine Frau, Herr Minister. Aber ich denke nicht daran, Sie mit meinen Schwierigkeiten zu behelligen.« Und, tapfer: »Sie sind hier, um sich zu zerstreuen, und nicht, um über Geschäfte zu sprechen.« »Stimmt. Dann spielen wir jetzt weiter. Geben Sie nur acht, Michael. Ich bin in Angriffsstimmung.« Zwei, drei Minuten lang spielten sie schweigend. Dann sagte Dr. Hawa beiläufig: »Diese Geschichte, die Sie bedrückt – betrifft die irgendeines unserer ko operativen Unternehmen?« »Oh, nein.« Michael sprach rasch und schien dann zu zögern. »Das heißt, ganz sicher bin ich mir nicht.« Ich hörte, wie ein Würfelbecher geschüttelt und mit wuchtigem Schwung auf den Tisch geschmettert wur de, von Dr. Hawa vermutlich, und im Ärger. 248
»Es geschieht nicht oft, Michael, daß ich Sie Non sens reden höre.« »Was ich sagen wollte, war, daß sie keines der be stehenden kooperativen Unternehmen betrifft, Herr Minister. Was mir Sorge bereitet, das ist der geplante Produktionswechsel in der Batteriefabrik.« »Das sind doch Wortklaubereien. Was ist los mit Ihnen?« »Der Produktionsänderungsplan ist noch immer nur ein Plan, Herr Minister.« Michaels Stimme klang zutiefst verzweifelt; der armenische Basarhändler rang die Hände in peinvoller Seelenqual. »Papier, nichts weiter. Es bestehen keine bindenden Abmachungen – das Ganze hat noch kein Leben. Das Kind ist womög lich tot geboren.« »Was reden Sie da für einen Unsinn. Dem Finanz minister liegen die Pläne bereits vor.« »Ach, wenn’s damit doch nur getan wäre, Herr Mi nister.« Er sagte tatsächlich ›wenn’s damit doch nur getan wäre‹. »Wovon reden Sie?« »Ich wollte es Ihnen nicht sagen.« »Mir was nicht sagen?« Das Spiel war vergessen. Dr. Hawas Stimme klang jetzt rauher. »Die Nachricht, die ich aus Beirut erhalten habe, Herr Minister. Wir werden hintergangen.« »Hintergangen? Von wem?« »Es ist dieser Italiener.« »Welcher Italiener? Einer von denen in Mailand, die Sie als Ihre Freunde bezeichnen?« 249
»Nein, nein. Ich meine den in Beirut. Wissen Sie noch, Herr Minister, ich hatte es Ihnen ja gesagt. Die se Leute in Mailand haben lange versucht, in unsere hiesigen Märkte vorzudringen. Ohne Erfolg, aber sie haben es probiert. Sie haben einen Verkaufsagenten in Beirut, einen Mann namens Spadolini. Also dieser Spadolini – seine Mutter ist Rumänin –, dieser Bur sche hat von unserem Autobatterienprojekt Wind be kommen. Wie? Wer weiß, vielleicht durch einen Spion in der Mailänder Zentrale. Möglicherweise hat er als zuständiger italienischer Vertreter einen Fingerzeig erhalten. Wir sind da auf Vermutungen angewiesen. Aber fest steht, daß er entschlossen ist, zuzuschlagen.« »Zuzuschlagen? Reden Sie doch so, daß man Sie versteht, Michael, Herrgott noch mal!« »Aus lauter Angst, seine kleine Agentur zu verlie ren, aus Angst, überrundet zu werden, und in Kennt nis des wirtschaftlichen und geschäftlichen Potentials dieses unseres gemeinsamen Vorhabens hat er den Vorschlag gemacht, die neue Fabrik solle nicht hier in Der’a, nicht hier in Syrien eingerichtet werden, son dern im Libanon.« »Aber wie kann er damit durchkommen? Mailand hat mir das Angebot gemacht.« Der Armenier, der seine Schuldigkeit getan hatte, schlurfte mit einem schweren Seufzer davon; mit ra schem Schritt betrat jetzt der griechische Geldwechs ler die Szene, um ihn abzulösen. »Das sind eiskalte Geschäftsleute, Herr Minister. Ein Vorschlag bindet sie in keiner Weise. Was sie in 250
teressiert, ist einzig und allein die Produktion, weil Produktion gleich Geld ist. Dieser kleine Intrigant in Beirut hat ihnen etwas anzubieten, was wir derzeit noch nicht offerieren können – Fabrikgebäude.« »Wir würden bauen.« »Diese sind schon gebaut. In der Nähe von Tripoli. Sechstausendzweihundert Quadratmeter Neubauraum. Vorgesehen waren die Bauten für die Produktion von Schreib- und Rechenmaschinen, aber dann hat es wegen der Lizenzbedingungen mit der amerikanischen Mut tergesellschaft Schwierigkeiten gegeben, und die Sache fiel ins Wasser. Die Gebäude sind nie benutzt worden und für ein Butterbrot zu haben. Sie sind für die Blei batterienproduktion zwar nicht gerade optimal geeig net, und Umbauten wären unumgänglich, aber Raum genug ist vorhanden und verfügbar. In Mailand erwägt man die Sache bereits, ist schon versucht zuzugreifen.« »Wissen Sie das sicher?« »Sie schicken noch in dieser Woche einen Direktor und einen Ingenieur aus Mailand, um die Baulichkei ten zu besichtigen. Ich weiß es, weil ich in Mailand gute Freunde habe. Aber Freundschaft annulliert nicht das Eigeninteresse. Wir müssen ihnen zeigen, daß wir mehr anzubieten haben als dieser Spadolini und daß wir rascher zu handeln vermögen.« »Aber wie?« »Das ist es ja, was mir Kopfschmerzen macht. Wir haben die besseren Argumente auf unserer Seite, aber nichts, um ihnen Nachdruck zu verleihen. Wenn ihre Vertreter hierherkommen, und wir setzen uns mit ih 251
nen an einen Tisch, werden sie uns ein paar Fragen stel len. Zwei Dinge werden sie vor allem wissen wollen – wann beginnen unsere Investitionen Gewinne abzu werfen, und wann kann die Produktion aufgenommen werden? Und während wir nach Antworten suchen, wird uns bewußt sein, daß jeder von ihnen eine Vision hat – die Vision von sechstausendzweihundert Qua dratmeter umbauten Fabrikraums, der, unbenutzt und sofort verfügbar, im Libanon auf sie wartet.« »Sie haben gesagt, es seien Umbauten erforderlich.« »Geringfügige Abänderungen, Herr Minister. Nichts von Belang. Wenn wir wenigstens irgend etwas vorzuzeigen hätten, das im Entstehen ist, sähe es mög licherweise anders aus. Aber so –« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Was sollte das denn sein?« »Etwas, das sie beeindruckt. Ein Grundstück, das zugeteilt und vermessen worden ist. Planierraupen, die das Gelände urbar machen und einebnen. Pläne auf dem Reißbrett, sichtbare Beweise dafür, daß wir es ernst meinen.« »Sie wissen, daß das unmöglich ist, Michael.« »Mit Verlaub, Herr Minister, schwierig gewiß, aber nicht unmöglich.« »Sie wissen, daß ich zu spekulativen Zwecken keine Gelder anweisen kann. Das Finanzministerium würde diese Ausgabe niemals billigen. Sobald das gemein schaftliche Unternehmen erst einmal genehmigt ist, sieht es natürlich anders aus.« »Natürlich. Aber dann könnte es zu spät sein.« 252
Ein Schweigen trat ein. Einer von ihnen schüttelte die Würfel im Becher, und dann herrschte wiederum Stille. Dr. Hawa unterbrach sie schließlich. »Mir scheint, Sie haben etwas vorzuschlagen. Was ist es?« »Die Agence Howell könnte diese Vorarbeit finan zieren.« »Und wie würden Sie Ihr Geld zurückbekommen? Dies kann nicht als Pilotunternehmen gehandhabt werden. Darüber haben Sie mich von Anfang an nicht im Zweifel gelassen. Erzählen Sie mir nicht, daß Sie Altruist geworden sind, Michael, denn das nähme ich Ihnen nicht ab.« »Ich will, daß dieses Unternehmen zustande kommt, und zwar hier zustande kommt, Herr Minister, weil ich die Alleinvertretung für seine Produkte haben will. Ich bin bereit zu zahlen, um mir diese Alleinvertre tung zu sichern. Sehen Sie es als eine Versicherungs prämie an, wenn Sie wollen. Mit Altruismus hat das nichts zu tun.« Ein kurzes Auflachen. »Da bin ich aber sehr er leichtert. Ich hätte mich nach so langer Zeit nur un gern gezwungen gesehen, mein Urteil über Sie zu re vidieren, Michael.« »Keine Sorge, Herr Minister. Dazu besteht kein Anlaß.« »Was Sie von mir wollen, wäre demnach wohl eine Verfügung, wie?« »Ja, bitte. Sie sollten drei Hektar Grund und Boden einbeziehen, die an unsere derzeitige Batteriefabrik 253
angrenzen. Genaue Einzelheiten über diese Parzellen enthält das ergänzende Memorandum, das ich bereits eingereicht habe. Die Verfügung sollte darüber hinaus die Firma Abouti mit der Vermessung des Geländes und der Durchführung aller zur Bebauung erforderli chen Vorarbeiten einschließlich des Baus einer neuen Zufahrtsstraße beauftragen. Entsprechend den Anwei sungen der Agence Howell selbstredend.« »Und auf Kosten der Agence Howell.« »Selbstverständlich. Herr Minister, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre Unterstützung in dieser Angelegenheit begrüßen würde.« »Unterstützung bei der Ausgabe Ihrer Gelder?« »Bei der Beseitigung der Ursache meiner Besorg nis.« Der Armenier war kurzfristig zurückgekehrt, um sich zu verneigen. »Herr Minister, wenn ich ge schlafen und mir von diesem libanesischen Hai das Geschäft wegschnappen lassen hätte, wäre ich außer stande gewesen, je wieder schlafen zu können.« Dr. Hawa brach in Lachen aus. »Herr Minister?« »Sie und Ihre Geschäftsmoral, Michael! Sie können es ganz einfach nicht ertragen zu verlieren, stimmt’s? Gewinnen – und nicht nur Geld –, das ist alles, was für Sie zählt. Nach all diesen Jahren kann ich in Ihnen lesen wie in einem offenen Buch.« »So leicht, Herr Minister? Ich muß mich bessern.« Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er so tat, als ver suche er, ein nicht existentes Unbehagen mit einem Lächeln wegzuleugnen. 254
»Das werden Sie nie, Michael. Das können Sie gar nicht.« Er schmunzelte. »Nun gut, ich werde mir die Sache nochmals ansehen. Kommen Sie morgen zu mir ins Ministerium. Und bringen Sie gleich einen Ent wurf für die Verfügung mit, wenn Sie das besser schla fen läßt.« »Ich danke Ihnen, Herr Minister. Noch einen Brandy?« Wenig später war wieder das Klappern der Würfel und das Klicken der Steine zu hören. Als Dr. Hawa sich verabschiedet hatte, schenkte Michael mir einen Brandy ein und sah auf sein Glas hinunter, das er in der Hand hielt. »Nun, so weit, so gut«, sagte er. »Diese leerstehende Fabrik bei Tripoli«, sagte ich, »gibt es die?« »Oh, ja. Ein unrentables Objekt, das uns vor einem halben Jahr angeboten wurde. Wenn der Preis weit genug herabgesetzt wird, übernehmen wir es vielleicht als Warenlager.« »Und dieser Spadolini. Gibt es den auch?« »Selbstverständlich. Er hat derzeit die Vertretung. Ausgesprochenes Arbeitstier. Guter Verkäufer. Wenn es mit unserer Beteiligung an diesem Autobatterienge schäft vorangegangen wäre, hätte ich ihn in unser Bü ro nach Beirut geholt.« »Wenn es vorangegangen wäre? Ist es das denn nicht?« Er überhörte die Frage. »Abouti wird Kopien vom Grundriß der Fabrik und von den Spezifikationen 255
brauchen, die ich aus Mailand mitgebracht habe. Und von den Angaben über die Beschaffenheit des Gelän des ebenfalls. Nach Möglichkeit sollte er morgen früh alles bekommen.« »Wollen wir ihn wirklich für diese Arbeit bezah len?« »Abouti bezahlen?« Er leerte sein Glas. »Nicht einen Pfennig. Soll der feiste Dieb doch sehen, wie er zu seinem Geld kommt.« Daß Michael sich weigerte, eine Schuld zu begleichen, war bislang so gut wie undenkbar gewesen, selbst wenn er vermutete, daß der Gläubiger ihn betrogen hatte. Und da war dieses »Wenn« gewesen. Ich wußte nun, daß er sich endlich entschlossen hatte, seine Verluste abzuschreiben, und daß die Tage der Agence Howell in Syrien ge zählt waren. Noch in der gleichen Woche rückte der Vermessungstrupp an und begann in der Batteriefa brik und auf dem angrenzenden Gelände mit der Arbeit. »Was, glaubst du, wird Ghaled tun?« hatte ich ge fragt. »Zunächst einmal gar nichts. Ein paar Männer mit Theodoliten, Meßruten und -ketten werden ihn nicht sonderlich stören. Aber warte nur ab, bis die Planie rungsarbeiten beginnen. Raupenschlepper und schwe res technisches Gerät überall auf dem ganzen Gelände, und Männer, die nachts Wache halten! Das wird ihn sehr bald aus der Fassung bringen.« Aber Michael hatte sich getäuscht. Der Druck be gann sich sofort auszuwirken, und wenn er auch kei 256
nen Faktor in der Gleichung veränderte, so erwies er sich doch als das geeignete Mittel, eine der Unbekann ten in eine Bekannte zu verwandeln. Michael verbrachte den Tag größtenteils im Kera mikwerk und in der Möbelfabrik. Womit, sagte er mir nicht, aber ich konnte es mir denken. Für die Agence Howell stand das Ende ihrer Geschäftstätigkeit in Sy rien vor der Tür, und je mehr Waren verschickt wer den konnten, bevor es eintrat, desto geringer würde der definitive Totalverlust sein. Der Anruf von Issa kam nachmittags um halb fünf. Issa schien jetzt sowohl Fabrikmanager als auch Gha leds örtlicher Stabschef geworden zu sein, und sein Ton war herrisch. »Wo ist Howell?« »Das weiß ich nicht, aber ich erwarte ihn bald zu rück. Ich kann ihn bitten, Sie anzurufen.« »Nein. Bestellen Sie ihm folgendes: Sie beide wer den sich hier heute abend um acht Uhr melden.« »Mr. Howell hat möglicherweise schon andere Ver einbarungen getroffen.« »Dann wird er sie absagen. Sie beide melden sich hier um acht Uhr. Das ist ein Befehl.« Michael wurde nachdenklich, als ich es ihm erzählte. »Du hast die Verfügung genau durchgelesen, Tere sa. Davon, daß die Agence Howell Abouti bezahlt, stand doch nichts drin, oder?« »Nicht direkt. Seine Kosten sind Cercle Vert in Rechnung zu stellen. Daß es nicht die Regierung ist, kann Issa unmöglich daraus ersehen. Abouti übrigens 257
auch nicht. Wegen der ministeriellen Verfügung wer den sie es für eine Regierungsausgabe halten. Und Ghaled wird es auch tun.« »Nun, dann ist das vielleicht gar nicht der Grund, weswegen er uns sehen will.« Aber das war der Grund. Wir wurden in Michaels Büro von Ghaled empfangen, der eine Kopie der Ver fügung des Ministeriums vor sich liegen hatte. Wir wurden nicht aufgefordert, uns zu setzen. Ghaled hielt Michael die Papiere unter die Nase. »Was wissen Sie hiervon?« fragte er wütend. »Wovon, Genosse Salah? Darf ich einmal sehen?« Ghaled warf ihm die Papiere hin. Michael klaubte sie vom Boden auf und studierte sie mit unbewegter Miene. Dann ließ er einen schnalzenden Laut hören. »Nun?« »Ich habe Sie auf diese Möglichkeit hingewiesen, Genosse Salah.« »Und Sie wurden Ihrerseits darauf hingewiesen, daß Sie diese Möglichkeit verhindern sollten. Warum haben Sie nicht gehorcht?« »Selbst wenn ich gewußt hätte, daß diese Verfügung erlassen werden sollte – was nicht der Fall war –, wä ren meiner Einflußnahme Grenzen gesetzt gewesen, Genosse Salah.« »Grenzen, die Sie bestimmen.« »Ich kann dem Ministerium keine Anweisungen er teilen.« »Das brauchen Sie gar nicht. Der Minister hört auf 258
Ihren Rat, er folgt Ihren Vorschlägen; oder etwa nicht? Antworten Sie mir. Tut er das nicht?« »Ja, wenn er mich um Rat fragt, hört er mir auch zu. Wegen dieser Verfügung hat er mich nicht konsul tiert.« Michael schaute wieder auf die Papiere, wobei er die Lippen bewegte, als bereite es ihm Mühe, den Sinn der Wörter zu verstehen. »Die Verfügung besagt, daß eine Vermessung dieses Geländes und des angrenzenden Grundstücks gemäß einer bereits zu einem früheren Zeitpunkt getroffenen Entscheidung vorgenommen werden soll. Ihre Befeh le, Genosse Ghaled, bestimmten, daß Ihr Hauptquar tier hier nicht gestört werden dürfe. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein paar Leute mehr, die bei Tag hier arbeiten, Sie stören werden.« Während er sprach, blätterte er um und gab dann einen theatralischen Laut der Überraschung von sich. »Ah, ja. Ich sehe jetzt die Schwierigkeit.« »Ach, wirklich?« »Eine Zugangsstraße soll gebaut werden.« »Das ist nur ein Teil der vorgesehenen Arbeiten. Wenn Sie mit dem Lesen Schwierigkeiten haben sollten, kann ich Ihnen sagen, was da steht. Der Bauunternehmer ist berechtigt, provisorische Bauten zur Lagerung von Baustoffen und zu anderen Zwek ken zu errichten, und Nachtschichten sind erlaubt. Der Bauunternehmer ist angewiesen, mit der örtli chen Polizei in Der’a zusammenzuarbeiten, die ih rerseits Streifen zu Patrouillengängen abkomman diert.« 259
»Das ist sehr schlecht, Genosse Salah.« Michael sah ehrlich schockiert aus. »Es wäre schlecht«, sagte Ghaled, »wenn diese Ar beiten hier durchgeführt werden würden. Ihre Aufga be ist es, dafür zu sorgen, daß dies nicht geschieht oder, wenn es geschehen muß, den Beginn der Arbei ten bis Ende Juni hinausgeschoben wird. Es darf kei nerlei Unannehmlichkeiten geben. Haben Sie gehört?« »Ja, Genosse Ghaled, ich habe gehört.« Wenn er es dabei belassen hätte, wäre die nächste halbe Stunde möglicherweise weniger beängstigend verlaufen; aber Michael konnte es nicht dabei belas sen. Nachdem er beträchtliche Mühen aufgewendet und zumindest auch einige Kosten nicht gescheut hatte, um einen Fall von höherer Gewalt als gegeben erscheinen zu lassen, der jeden zurechnungsfähigen Führer in Ghaleds Lage in die Defensive gedrängt haben würde, war er empört, daß Ghaled die Dro hung ungerührt als vermeidbare Unannehmlichkeit abtat. Erstmals verlor ein Sprecher des Komitees die Beherrschung, und keines der anderen Mitglieder war rasch genug zur Stelle, um das Schlimmste zu verhüten. »Aber wenn ich auch gehört habe«, fuhr er aufsäs sig fort, »so bin ich deswegen doch keineswegs all mächtig. Ich bin es ebensowenig wie Sie, Genosse Sa lah. Die Fähigkeit, einen gänzlich unrealistischen Be fehl hören zu können, bietet noch keine Gewähr für die Fähigkeit, ihn auch ausführen zu können. Ich werde alles tun, was ich billigerweise tun kann, ohne 260
Verdacht zu erregen. Nicht weniger, aber bestimmt auch nicht mehr.« Es war ein Jammer, daß Issa den Raum betrat, als Michael sprach, und so Zeuge dieses Akts der Un botmäßigkeit wurde. Darüber hinwegzugehen, wäre Ghaled, selbst wenn er es gewollt hätte, in Issas Ge genwart nicht möglich gewesen. Wie die Dinge lagen, riß Issa Mund und Augen auf, schickte sich an, etwas zu sagen, besann sich dann eines Besseren und wartete darauf, das Wort erteilt zu bekommen. Er bekam es nicht erteilt. Ghaled starrte Michael unverwandt forschend an; offenbar fühlte er sich veranlaßt, sein Urteil über ihn zu revidieren. Nach vollzogener Neubewertung sah er mich an. »Wissen Sie noch, daß Sie einen Eid geschworen haben?« fragte er. »Selbstverständlich, Genosse Ghaled.« »Glauben Sie, daß Ihr Arbeitgeber es noch weiß? Überlegen Sie sich Ihre Antwort gut. Ihre Loyalität schulden Sie mir, nicht ihm.« »Genosse Michael hat seinen Eid bestimmt nicht vergessen«, sagte ich. »Er hat alles getan, was er nur konnte, um die ihm erteilten Aufgaben zu erfüllen. Tatsächlich hat er seine eigenen Geschäfte weitgehend vernachlässigt, um das tun zu können.« Ich wußte, daß Michael mich böse ansah, aber ich wandte den Blick nicht von Ghaled. »Wann hat Ihr Arbeitgeber Dr. Hawa zuletzt gese hen?« 261
Ich hatte Angst zu lügen. Es war durchaus möglich, daß Ghaled die Antwort bereits wußte. »Vor ein paar Tagen, abends.« Ghaled sah Michael wieder an. »Und er hat Ihnen nichts von dieser Verfügung gesagt, über die Sie jetzt angeblich so überrascht sind?« »Unsere Zusammenkunft war rein privater Natur.« Michael zuckte die Achseln. »Wir haben Backgam mon gespielt. Geschäftliches ist nicht erörtert worden. Wie ich schon sagte, als ich Sie auf die Frage erstmals hinwies, war die Entscheidung über den Umbau be reits gefallen.« »Die Entscheidung, deren Auswirkungen Sie be fehlsgemäß zu verhindern oder doch wenigstens hin auszuzögern hatten?« »Die Entscheidung, die ich abändern zu können ge hofft hatte. Diese Dinge lassen sich nicht durch eine Verordnung regeln, jedenfalls nicht durch eine Verord nung von mir. Es ist leichter, geschäftspolitische Ent scheidungen zu treffen, als sie rückgängig zu machen oder abzuändern. Ich dachte, ich hätte Zeit. Offensicht lich hat sie nicht gereicht.« Das Komitee hatte seine Hal tung wiedergewonnen und stellte sich nun geschlossen hinter seinen Generaldirektor. »Und was meine Überra schung betrifft, so habe ich keinen Anlaß, sie vorzutäu schen. Ich bin überrascht. Die Erklärung dafür wird wahrscheinlich in der Tatsache zu suchen sein, daß die Agence Howell in dieser Angelegenheit kein Auftragge ber ist und man es deswegen nicht für nötig erachtete, uns zu konsultieren, bevor man die Verfügung erließ.« 262
Ghaled überlegte einen Augenblick lang und nickte dann. »Nun gut. Vorbehaltlich meiner eigenen Nach forschungen will ich Ihre Erklärung – Ihre Entschul digung für Ihr Versagen – akzeptieren. Aber« – er beugte sich vor – »für Ihre Respektlosigkeit gibt es keine Entschuldigung.« »Es lag nicht in meiner Absicht, respektlos zu sein, Genosse Ghaled. Ich habe lediglich die Lage so wie dergegeben, wie ich sie sehe.« »Das sagen Sie jetzt. Ich habe Sie schon einmal we gen Ihrer Arroganz verwarnt. Ich habe Sie außerdem gewarnt, daß Sie in Zukunft dafür bestraft werden würden. Habe ich das, oder habe ich das nicht?« »Sie haben mich gewarnt.« »Dann müssen Sie jetzt bestraft werden, weil Sie meine Warnungen in den Wind geschlagen haben. Wer sind Sie, daß Sie glauben, meine Befehle in Frage stellen und darüber entscheiden zu können, ob sie rea listisch sind oder nicht? Wir müssen Sie lehren, be scheiden zu sein, Genosse Michael, und Ihnen bei bringen, was es heißt, Disziplin zu wahren. Die Strafe muß daher von solcher Art sein, daß Sie sie nie verges sen. Halten Sie das für vernünftig und realistisch?« Michael blickte freundlich und unbeteiligt drein. Ich versuchte es ihm nachzutun, aber es gelang mir nicht annähernd so gut. »Halten Sie es dafür oder nicht?« beharrte Ghaled. »Das hängt von der Art der Bestrafung ab, Genosse Ghaled.« »Ja. Da Sie noch weitere Aufträge auszuführen ha 263
ben, die Ihnen bereits erteilt wurden, würde eine Ak tionskommando-Strafe von der Art, wie sie die Ge nossen Ahmad und Musa zur Ahndung von Diszi plinlosigkeiten zu vollstrecken gewohnt sind, in die sem Fall – wie sagt man doch gleich?« »Das Kind mit dem Bad ausschütten, Genosse Sa lah?« »Ja.« Ghaled lächelte böse. »Sie dürfen daher nicht zu sehr verletzt werden, Genosse Michael. Vielleicht haben Sie ja Glück, und es passiert Ihnen überhaupt nichts. Wir werden sehen.« Er blickte Issa an, der be gierig zugehört hatte. »Hast du alles vorbereitet für die Demonstration?« »Ja, Genosse Salah. Es ist alles klar.« »Dann gehen wir jetzt.« Ghaled stand auf und führte uns aus Michaels Ar beitszimmer den Gang hinunter zu dem Lagerraum, in dem die Zinkplatten verwahrt wurden. Dort erwartete uns ein Mann, den ich noch nie ge sehen hatte. Obwohl er und Michael kein Wort der Begrüßung miteinander wechselten, sah ich an dem Blick, den sie tauschten, daß sie sich kannten. Ghaled redete ihn mit »Genosse Taleb« an. Er war in den Dreißigern, hochgewachsen und mager, hatte ein Nasser-Bärtchen und trug eine Krawatte zum auf fallend sauberen bügelfreien Hemd. Wenn er lächelte, zeigte er sehr viele Zähne, wobei zwei Goldfüllungen sichtbar wurden. Er stand hinter Ghaleds Tisch, der in die Mitte des Raums geschoben worden war. Ich hatte verzweifelt versucht, mich auf den Anblick von Fol 264
terwerkzeugen einzustellen, und so kam es, daß mich die beiden Gegenstände, die ich vor Taleb auf dem Tisch stehen sah, zwar überraschten, aber auch beru higten. Der auffälligere von den beiden war eine große auf ziehbare musikalische Spieldose von der Art, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, als ich ein kleines Kind war. Im Haus meiner Großmutter in Rom hatte eine solche Dose auf einem Tischchen gestanden. Sie konnte vier oder fünf Melodien aus bekannten Opern spielen – Arien zumeist. Diese hier war etwas kleiner als die Spieldose, an die ich mich erinnerte, und paßte in eine abgewetzte Tragetasche aus schwarzem Leder, die mit purpurfarbenem Samt ausgeschlagen war; aber die Spieldose selber war im wesentlichen die gleiche, ein rechteckiges Kästchen aus glänzend poliertem Maha goni mit einem schmalen Glasfenster auf der Obersei te. Durch das Fenster konnte man die große Metall walze mit den unzähligen winzigen Nadeln sehen, von denen sie strotzte, sowie den langen Stahlkamm, der die Noten anschlug. Auf der Vorderseite des Käst chens befanden sich Hebel, und in seiner Rückseite steckte ein Messingschlüssel zum Aufziehen des Werks. Eine abgeblätterte, aber noch immer lesbare Blattgold-Inschrift auf der Vorderseite der Spieldose besagte, daß es sich bei ihr um La Serinette handelte, daß sie von Gérard frères in Paris angefertigt worden und daß ihre tontechnische Konstruktion patentamt lich geschützt sei. Neben La Serinette – und scheinbar beziehungslos 265
– stand eine Flugreisetasche aus Kunststoff mit der Aufschrift ›Pakistan International Airlines‹. Ghaled blickte mit belustigtem Interesse auf die Spieldose. »Spielt sie noch?« fragte er. »Natürlich spielt sie noch, Genosse Salah.« Taleb war offensichtlich stolz auf seine Arbeit, worin auch immer sie bestanden haben mochte. Er drückte auf ei ne der Tasten, und die Dose begann Mozarts Menuett in G-Dur zu spielen. Nach ein paar Takten stellte er sie ab. »Wir müssen die Feder schonen«, sagte er. »Selbstverständlich. Dann beginnen wir jetzt mit der Demonstration.« »Ja, Genosse Salah.« Taleb griff in die hintere Klappe der Tragetasche und zog aus dem Plüschfutter einen schmalen Metall streifen hervor, der wie ein Stahlmaßband aussah, aber nur etwa zwanzig Zentimeter lang war. Er ließ ihn über den oberen Rand der Spieldose hinaus in die Luft ragen. Offenkundig war der Stab kein ursprünglicher Bestandteil der Serinette. »Ist das alles?« »Das ist alles, bis auf die Auslösung. Sie erfolgt durch Druck auf diesen Hebel hier, der früher zum Auswechseln der Musik diente. Auf den ersten Tasten druck setzt jetzt der Geschwindigkeitsregler aus. Auf den zweiten kann sich die Walze ungehindert drehen. Der dritte Tastendruck betätigt die Schaltung, die –« »Ja, Genosse«, unterbrach ihn Ghaled, »wir wissen, 266
was der dritte Tastendruck bewirken soll. Das ist es, was wir jetzt testen werden. Ich bin der Meinung, Genosse Taleb, daß diese Testdemonstration noch überzeugender ausfallen würde, wenn das Ziel beweg lich wäre. Finden Sie nicht auch?« »Beweglich oder fest, das macht keinen Unter schied, Genosse Ghaled.« »Für mich«, sagte Ghaled sehr bestimmt, »würde ein bewegliches Ziel den Test viel befriedigender ge stalten. Und da sich Genosse Michael freiwillig bereit erklärt hat, uns behilflich zu sein – das stimmt doch, Genosse Michael? Sie haben sich freiwillig dazu bereit erklärt, nicht wahr?« »Wenn Sie das meinen, Genosse Salah.« »Ja, das meine ich.« »Dann freue ich mich, Ihnen helfen zu können.« Michael sprach ganz ungezwungen, und seine of fenkundige Gelassenheit irritierte Ghaled eindeutig. »Hoffen wir, daß die Freude auch anhält«, versetzte er und deutete auf die Flugreisetasche auf dem Tisch. »Nehmen Sie die auf.« Michael langte nach der Tasche und schickte sich bereits an, sie beim Griff zu packen, als Ghaled ihm eine Warnung zurief. »Vorsicht, Genosse. Die Tasche ist nicht schwer, aber tragen Sie sie so, als sei sie es.« Taleb wollte Einwände erheben. »Genosse Salah, wir wissen nicht genau –« »Nein, wir wissen es nicht genau«, sagte Ghaled rasch. »Deswegen machen wir ja den Test.« 267
»Es ist nicht wirklich erforderlich, daß das Ziel be weglich ist.« »Darüber entscheide nur ich.« Er wandte sich an Michael, der die Tasche nunmehr in der Hand trug. »Genosse, Sie gehen jetzt ganz langsam aus dem Raum hier hinaus. Wenn Sie draußen sind, gehen Sie in Richtung auf den Werkschuppen Nummer eins weiter und daran vorbei zur äußeren Mauer. Wir fol gen Ihnen bis zum Eingang. Wenn Sie die Mauer er reicht haben, drehen Sie sich um und kommen wieder auf uns zu, aber langsam, damit wir Sie die ganze Zeit über im Auge behalten können. Haben Sie verstan den?« »Ja.« »Dann gehen Sie. Issa, du folgst ihm mit deiner Ta schenlampe, damit wir ihn nicht aus der Sicht verlie ren. Geh nicht zu nah an ihn heran. Taleb, ich gebe dir Bescheid, wenn es soweit ist.« »Ja, Genosse Salah.« Mein Herz schlug heftig, und der Schweiß auf mei nem Gesicht war eiskalt. Ich folgte ihnen bis zur Tür. Die Wachposten Ahmad und Musa waren herbei gekommen, um zu sehen, was es gab. Ghaled wies sie an, zur Seite zu treten. Vom Gang aus, in dem ich unmittelbar hinter Ghaled stand, konnte ich Michael, gefolgt von Issa, der seine Taschenlampe auf ihn ge richtet hielt, mit der Kunststofftasche in der Hand über den Hof davongehen sehen. Das Ganze wirkte eher wie irgendein harmloses Kinderspiel. Als Michael die Ecke des Werkstattschuppens Num 268
mer eins erreicht hatte, stolperte er über eine Bodenu nebenheit, und Ghaled rief ihm zu, er solle besser achtgeben. Michael war jetzt etwa hundert Meter von uns entfernt und näherte sich der Mauer, die das Fa brikgelände umschloß. Als er sich anschickte umzu kehren, wandte sich Ghaled an Taleb, der hinter uns im Lagerraum verblieben war. »Alles klar?« »Alles klar. Genosse.« »Gut. Jetzt!« Aus dem Lagerraum erklangen drei Noten des GDur-Menuetts, dann wurde die Musik abgeschaltet und statt dessen ein schwirrendes Geräusch hörbar, ein Geräusch, das sich plötzlich zu einem immer hö her werdenden Heulton steigerte. Fast gleichzeitig schoß ein Lichtblitz, der von Mi chaels rechter Hand zu kommen schien, quer über den Hof, und ein gedämpfter Knall ertönte. Unmit telbar darauf schlugen Flammen aus der Flugreiseta sche hervor, und Michael schleuderte sie von sich weg. Er mußte verletzt sein, denn er machte sich mit der Linken an seinem rechten Handgelenk zu schaffen – wie sich herausstellte, riß er sich die verbrannten Fet zen seines Hemdärmels von der Haut –, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Neugier zu stillen. Die noch immer brennende Reisetasche lag am Fuß der Mauer, und Michael ging sofort dorthin, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Er und Issa erreichten die Tasche nahezu gleichzei tig. Ghaled erteilte Taleb mit einem Zuruf den Befehl 269
zum Abschalten und ging zu den beiden. Der ganze Vorfall hatte nur wenige Sekunden gedauert; aber es war mir nicht entgangen, daß die Tonhöhe des schwirrenden Geräuschs sich bereits zu vermindern begonnen hatte, noch bevor Ghaled den Befehl zum Abstellen gab. Taleb trat aus dem Lagerraum. »Haben Sie gesehen, wie es funktionierte?« fragte er. »Ich habe es gesehen. Die Tasche hat Feuer gefan gen.« Er blickte über den Hof. Issa trat die letzten Flam men aus. Ghaled untersuchte sorgsam Michaels Hand gelenk. »Es war töricht von Mr. Howell, die Tasche zu tra gen«, bemerkte Taleb. »Das sagen Sie besser dem Genossen Salah. Es ist ausschließlich seine Idee gewesen.« »Oh.« Er wartete nicht länger, sondern ging hinaus, um die Glückwünsche und Lobpreisungen entgegen zunehmen, die er zweifellos verdient hatte. Issas aner kennende Worte waren überschwenglich; aber Ghaleds eher nichtssagend. Er war jetzt vor allem mit Michael beschäftigt. Ghaled hatte sich für einen Augenblick in Sir Galahad verwandelt, der seinen verwundeten Geg ner in ritterlichem Edelmut von der Walstatt geleitet. Bei mir setzte jetzt die Reaktion ein, und obwohl ich Ghaled ganz und gar verabscheute, fand ich Michaels tapferes Lächeln auch nicht gerade hinreißend. Ich gab mir keine Mühe, es zu erwidern, als sie näherkamen. »Ist es schlimm?« fragte ich. 270
»Nein. Nur eine leichte Verbrennung.« »Mit Verbrennungen ist nie zu spaßen«, sagte Gha led streng. »Sie infizieren sich leicht. Diese hier muß sofort behandelt werden.« Man hätte glauben können, ich sei dafür gewesen, sie überhaupt nicht zu behandeln. Im Lagerraum befahl Ghaled Michael, sich zu set zen, und holte einen reichhaltig ausgestatteten Ver bandskasten herbei. Alsdann begann er den verseng ten Hemdärmel mit einer Schere abzuschneiden. Die Verbrennung erstreckte sich über den halben Unterarm. Die Haut war gerötet, aber meines Erach tens sah es nicht besorgniserregend aus. »Nur ersten Grades«, bemerkte Ghaled, als er den Arm untersuchte. »Aber ohne Zweifel schmerzhaft.« »Nicht mehr so schlimm wie im ersten Augenblick.« »Es muß trotzdem sorgfältig behandelt werden. Ich wußte nicht, daß Kunststoff so leicht brennbar ist.« »Das sind viele Stoffe, wenn man die Temperatur nur genügend erhöht.« »Nun, das habe ich mir nicht klargemacht.« Es war fast eine Entschuldigung. Er beschäftigte sich jetzt angelegentlich damit, aus einem Benzinkanister Wasser in eine Emailleschüssel zu gießen und es mit ei nem weißen Wundpuder aus dem Verbandskasten zu verrühren. Als der Puder aufgelöst war, begann er die Brandstelle sehr sanft mit der Lösung zu benetzen. »Wußten Sie, daß ich ausgebildeter Arzt bin?« fragte er im Plauderton, während er in seiner Tätigkeit fortfuhr. »Nein, Genosse Salah.« 271
»Ich habe in Kairo studiert. Ich habe auch schon als Arzt praktiziert, vor langer Zeit. Und da hatte ich schlimmere Wunden zu versorgen als diese hier, das können Sie mir glauben.« »Davon bin ich überzeugt.« Taleb trat mit Issa ein, blieb abwartend stehen und schaute der fachgerechten Behandlung zu. Ghaled be achtete die beiden erst, als er mit der Reinigung der Brandverletzung fertig war. Dann sah er Taleb an und deutete mit einem Kopfnicken auf La Serinette. »Dein Meisterwerk kann jetzt weggestellt werden. Issa weiß, wohin es gebracht werden soll. Da ist es si cher aufgehoben, bis wir die Langstreckentests durch führen.« »Ja, Genosse Salah.« Die Spieldose wurde in der Tragtasche verstaut und weggeschafft. Ich sah, daß Michael den Vorgang aus dem Augenwinkel beobachtete. Ghaled hatte in dem Verbandskasten gekramt. »Die Behandlung von Verbrennungen«, dozierte er ange regt, als er sich Michael wieder zuwandte, »hat sich in den letzten Jahren ganz entschieden gewandelt. Die alten Heilmittel wie Gerbsäure und Gentiana Violett werden nicht mehr angewendet. In Ihrem Fall wird Penicillinsalbe Wunder wirken.« Er sah mich an. »Haben Sie schmerzstillende Mittel im Haus? Kodein zum Beispiel?« »Ich glaube schon.« »Dann kann er das nehmen. Aber keinen Alkohol heute abend. Ein heißes Getränk, am besten Tee, und 272
ein mildes Beruhigungsmittel vor dem Schlafengehen täten ihm gut. Das und das Kodein.« »Gut.« Ich sah zu, wie er die Salbe auftrug und dann einen Gazeverband anlegte. Es geschah sachkundig und oh ne Aufhebens. Daß er eine ärztliche Ausbildung ge nossen hatte, konnte man ihm glauben. »So«, sagte er schließlich. »Ist das besser?« »Danke, viel besser.« Pflichtschuldig bewunderte Michael den Verband. »Was war in der Reisetasche, Genosse Salah?« fragte er. »Haben Sie es nicht erraten?« »Vermutlich irgendeiner von Issas Zündern.« »Natürlich. Hätten wir den Zünder zwei Kilo hochexplosiven Sprengstoff zur Detonation bringen lassen, wären in Der’a ein paar Fensterscheiben zu Bruch gegangen.« »Das kann ich mir vorstellen. Aber was hat die Zünder ausgelöst? Ich habe nichts gehört, bevor sie losgingen.« Ghaled war offensichtlich erfreut. »Nein, Sie konn ten nichts hören. Es hat alles einwandfrei funktioniert, nicht wahr?« Er kam wieder auf die Verbrennung zu sprechen. »Morgen wird sie schon weitgehend abge klungen sein. Wenn nicht, geben Sie Issa Bescheid. Vielleicht werde ich einen frischen Verband anlegen müssen.« »Ich bin sicher, daß es auch so in Ordnung kommt.« »Nun, sollte das nicht der Fall sein, wissen Sie, wie Sie sich mit mir in Verbindung setzen können.« Er 273
schwieg einen Augenblick lang und verzog dann den Mund zu einem Lächeln, das seltsam einfältig wirkte. »Backgammon spiele auch ich gern, Genosse Michael.« Im ersten Moment glaubte ich mich verhört zu ha ben. Er bat tatsächlich darum, in die Villa eingeladen zu werden. Michael gelang es, seine Überraschung mit dümmlich strahlender Miene zu kaschieren. »Ich bin entzückt, das zu hören, Genosse Salah.« »Und vielleicht besser als Dr. Hawa. Gewinnt er gewöhnlich, oder sind Sie es, der gewinnt?« »Ich habe beim Spiel mehr Glück als Verstand.« »Ich glaube Ihnen nicht, daß Sie sich auf Ihr Glück verlassen. Sind Sie ein vorsichtiger Spieler?« »So gut wie nie.« »Ausgezeichnet. Es macht keinen Spaß, vorsichtig zu spielen. Wir werden ein spannendes Match veran stalten. Aber erst in ein paar Tagen. Sie müssen sich jetzt ins Bett legen und ausruhen. Sie haben morgen viel zu arbeiten.« »Ja, das allerdings – an der Verfügung, Genosse Sa lah.« Michael hielt seinen verbundenen Arm hoch und betrachtete ihn nochmals voll Bewunderung. »Kein Krankenhaus hätte das besser machen können. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar.« Schon wieder das idiotische Lächeln. »Wir wissen uns selber zu helfen, Genosse Michael.« Sie waren beide widerwärtig. Im Wagen sagte ich: »Soviel zum Thema Druckan wendung.« 274
»Was soll das heißen?« Michael klang überrascht. »Alles, was du dir damit eingehandelt hast, ist ein verbrannter Arm.« »Unsinn. Ohne die Verfügung wären wir beide heute abend nicht dort gewesen. Diese Demonstration hätten wir niemals zu sehen gekriegt. Jetzt wissen wir doch wenigstens ungefähr, was für eine Sache das ist, mit der wir es zu tun haben.« Ich war zu angewidert, um mit ihm zu streiten. Sobald wir zu Hause waren, schenkte sich Michael entgegen den ›ärztlichen‹ Anweisungen ein großes Glas Brandy ein. Und anstatt zu Bett zu gehen, bat er mich, meinen Stenogrammblock zu holen und ein Diktat aufzunehmen. »Die Waffe, die Ghaled gegen die Israelis anzuwen den beabsichtigt«, diktierte er mir, »ist ein Sprengsatz, der aus zwei Kilo hochexplosivem Sprengstoff besteht und durch ein Funk-Fernlenksystem gezündet wird. Die Gesamtzahl der Zünder, über die Ghaled verfügt, geht in die Hunderte. Selbst wenn wir Verluste, Fehl zündungen und die Verwendung von zwei Zündern für jedes Paket in Abzug bringen, müssen wir davon ausgehen, daß eine große Anzahl – fünfzig oder mehr – dieser Sprengladungen plaziert werden. Zudem liegt die Annahme nahe, daß sie gleichzeitig gezündet wer den sollen.« »Wie?« Er überlegte kurz und zuckte dann die Achseln. »Ich verstehe nicht allzuviel von Elektronik.« Das stimmte. Es war der eigentliche Grund für 275
seine Abneigung gegen das Elektronik-Montage werk. Obschon es wenig Gewinn abwarf, arbeitete es ohne Verlust. Was ihm nicht paßte, war der Um stand, daß er nicht genau wußte, wie alles das, was dort gefertigt wurde, funktionierte. Schlimmer noch – wenn er sich etwas erklären lassen wollte, erhielt er die erbetene Auskunft gewöhnlich in einem techni schen Fachjargon, den er nur zur Hälfte verstand; und obwohl er seine Fragen so zu stellen pflegte, daß es den Anschein hatte, als wisse er, wovon er re dete, blieb ihm doch nichts anderes übrig, als die Antworten mit weisem Kopfnicken zu registrieren und so zu tun, als sei er in jeder Hinsicht zufrieden gestellt. »Wer ist dieser Taleb?« fragte ich. »Der Werkmeister, der für die Magisch-Geräte ver antwortlich ist, die wir im Auftrag der Armee und der Luftwaffe montieren. Ich wußte, daß Ghaled einen Elektronikfachmann irgendwo im Hintergrund hat. Ich hatte an unseren Iraki gedacht, aber Taleb kam da für auch in Frage. Beide sind sie in Deutschland aus gebildet. Erzähl mir doch bitte, was geschah, als ich mit der Flugreisetasche losging. Was haben sie mit dieser Spieldose angestellt?« Ich berichtete es ihm. »Du sagst, daß die Tasche fast im gleichen Moment explodierte, in dem das Geräusch hörbar wurde?« »Ja, aber danach wurde es viel höher.« Ich machte den Heulton nach, den ich gehört hatte. »Ah, ja. Ich verstehe zwar nicht viel von Elektro 276
nik, aber was in die alte Trickkiste eingebaut wurde, läßt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen.« »Wirklich?« »Liegt das nicht auf der Hand? Erstens ein Hoch frequenz-Oszillator mit Bandantenne. Zweitens ein kleiner Generator, der ein paar Sekunden lang mit ho her Geschwindigkeit und voller Kraft betrieben wer den kann. Das wird durch eine plötzliche Unterbre chung des Geschwindigkeitsreglers und Umgehung des Hauptschaltwegs bewirkt. Dazu genügt eine klei ne Kupplungsklaue. Die Federn in diesen winzigen Dingern sind sehr stark. Nur eine davon braucht für einen Augenblick ganz losgelassen zu werden, um ei ne enorme Drehkraft zu entwickeln. Und ein Augen blick genügt schon. Er muß nur gerade so lang dau ern, daß das Oszillatorsignal die Relais auslösen kann.« »Die was?« »Die elektronischen Relais, die mit den Zündern verbunden sind. So ein Relais befand sich in der Ta sche. Ich habe hinterher einen Blick auf die Überreste davon werfen können. Sie sahen aus wie das Innere eines kleinen Taschen-Transistorradios – oder ein ausgebranntes Magisch-Bauelement. Ich rechne damit, daß wir auf einige Lücken in den betreffenden Lager beständen stoßen werden, sobald wir der Sache nach gehen. Natürlich kann es sein, daß sie in den Listen nicht als Relais aufgeführt sind. Möglicherweise hat Taleb auch irgend etwas anderes bearbeiten oder um ändern müssen, damit es als Relais funktioniert, aber 277
das ist es, was sie brauchen – eine simple kleine Vor richtung, die auf ein Funksignal reagiert, indem sie ei nen Abschuß-Stromkreis schließt.« »Ich verstehe.« Ich verstand tatsächlich, so ungefähr jedenfalls. »Jetzt schreib mal auf: Die Reichweite des Systems ist nicht bekannt, aber es gibt ein paar bezeichnende Hinweise. Bei der Demonstration betrug die Reich weite nur etwa einhundert Meter. Andererseits wurde das Relais mehrere Sekunden vor Erlangung der vol len Transmissionskraft ausgelöst. Mehr noch: zwi schen Sender und Relais befand sich eine dicke Be tonwand. Die effektive Reichweite bei voller Trans missionskraft und guter Sicht – das heißt, wenn der Sender auf See von einem Schiff aus betätigt wird und an Land befindliche Relais aktiviert – dürfte in Kilo metern zu messen sein. Hast du das?« »Ja.« »Als erstes werden wir gleich morgen früh die La gerbestandslisten des Elektronik-Montagewerks auf Fehlbestände überprüfen. Von jedwedem Fertigteil, das nur noch in geringer Anzahl vorrätig ist, werde ich ein Muster brauchen. Taleb darf selbstverständlich nichts davon erfahren.« »Sonst noch etwas?« »Im Augenblick nicht. Bitte keine Durchschläge für die Abschrift dieser Notizen einspannen, sondern nur das Original. Ich werde weitere hinzuzufügen haben, nehme ich an.« »Gut. Und was die Verfügung betrifft, Michael –« 278
»Ja, darüber müssen wir nachdenken. Aber nicht jetzt, meine Liebe. Ich glaube, jetzt gehe ich lieber schlafen.« »Soll ich dir etwas Kodein holen?« »Ist es das Zeug, das der Zahnarzt mir einmal ver schrieben hat?« »Ja.« »Das ist mir schlecht bekommen. Aspirin genügt.« Als wir im Bett lagen, stellte ich eine allerletzte Fra ge. »Michael, wozu brauchst du diese Notizen und warum willst du Muster von diesen elektronischen Bauelementen haben?« Ich hoffte, die Antwort zu bekommen, die ich ins geheim erwartete, aber er gab sie mir nicht gleich. Statt dessen drehte er sich auf die andere Seite, um den bandagierten Arm auf die Bettdecke legen zu können. Dann sagte er nachdenklich: »Ich glaube, mit dem, was wir jetzt wissen, läßt sich schon etwas anfangen. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir es riskieren.«
Sechstes Kapitel Michael Howell 14. bis 29. Juni
Drei Tage darauf flog ich nach Zypern; erst nach Famagusta und dann nach Nikosia. Wir schrieben in zwischen Mitte Juni. Es war töricht von mir. Ich gebe es zu. Indem ich jenen Augenblick für den geeigneten Zeitpunkt zum Handeln hielt, beging ich eben den Fehler, vor dem ich Teresa gewarnt hatte: ich handelte voreilig. Ich glaubte inzwischen genug zu wissen, und wußte doch viel zuwenig. Ich hätte noch warten sollen. Entschuldigungen habe ich nicht vorzubringen. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, daß ich in dem Bestreben, Ghaled unter Druck zu setzen, um ihn Fehler machen zu lassen, nicht genügend bedacht hatte, welchem Druck ich meinerseits in dieser Situa tion ausgesetzt sein würde. Damit meine ich nicht Dinge von der Art wie Ghaleds sadistisches kleines Spielchen mit der Luftreisetasche – wenngleich ich zu behaupten wage, daß es dazu beitrug, mein Urteils vermögen zu trüben –, sondern den psychologischen Druck. Teresa hatte gut reden von Liquidation; aber ein Familienunternehmen wie die Agence Howell ist schließlich kein Eckladen. Man kann nicht die Bestän de verkaufen, bis das Lager geräumt ist, die Rollläden 280
hinunterlassen und einfach davongehen – selbst wenn man es wollte, selbst wenn man sich nicht scheute, ei nen in der dritten Generation bestehenden Konzern zum Teufel gehen zu lassen, selbst wenn man den Goodwill und die Schadenfreude seiner Konkurren ten, die mit gierigen Fingern nach den Überresten greifen, ignorierte. Was da ›liquidiert‹ wird, ist ein Organismus; ein Organismus, von dem man selbst ein Teil ist und der ebensosehr Teil von einem selbst ist wie die eigenen Eingeweide. Ich habe nicht die Absicht, hier zu schildern, wie ich auf Zypern mit der israelischen Abwehr Verbindung aufnahm; ich hoffe noch immer, daß die Israelis soviel Anstand haben werden, mir öffentlich zu bestätigen, daß ich es tat. Die persönlichen Risiken, die Teresa und ich auf uns nahmen, um diese Leute vor einer bevor stehenden Terroraktion zu warnen, waren beträchtlich; und wir kooperierten in jeder uns nur möglichen Weise mit ihnen, um eine Katastrophe abzuwenden. Ich halte ihre Verschwiegenheit in dieser Sache für gänzlich un angebracht. Ich verlange keine Dankbarkeit; ich habe nie erwartet, daß man mir auf die Schulter klopft und die Knesset beschließt, eine öffentliche Dankadresse an mich zu richten. Ich rechne nicht damit, von ihnen be lobigt zu werden. Aber ein kleines Zeichen der Aner kennung käme mir gelegen. Zumindest würde es etwas von dem Makel des ›Cercle-Vert-Zwischenfalls‹ tilgen, der mir jetzt anhaftet und unter dem sowohl Teresa als auch ich zu leiden haben. Wie gesagt, ich hoffe immer noch. 281
Aus eben diesem Grund sehe ich denn auch davon ab, hier eine Beschreibung von Ze’ev Barlevs Nach folger zu geben, die zu seiner Identifizierung und da mit Aufdeckung führen könnte. Ich will mich auf die Feststellung beschränken, daß er jeglichen Charmes ermangelte, daß sein Verhalten mir gegenüber ab wechselnd gönnerhaft und verletzend war und das Ganze für mich eine höchst unerfreuliche Erfahrung darstellte. Meine Zusammenkunft mit dem Nachfolger – ich kann ihn ebensogut Barlev nennen – fand in einem Haus unweit von Nikosia statt. Wir unterhielten uns auf englisch; er hatte einen ›regionalen‹ britischen Ak zent. Alles, was er mir an Erfrischungen anbot, war ei ne abscheuliche Flaschenorangeade. Ich begann damit, daß ich erklärte, wer und was ich sei, aber er fiel mir ins Wort. Er wisse schon alles, was er von mir wissen müsse, sagte er. Was ich ihm denn in der Annahme, es sei ihm nicht bekannt und müsse ihm unbedingt zur Kenntnis gebracht werden, zu berichten hätte? Ich schilderte ihm meine Entdeckung von Issas privater Arbeit im Laboratorium, worüber er sich offenbar herzlich amüsierte, und setzte meinen Bericht bis zu Ghaleds Erscheinen auf der Szene fort. Das fand er, wie ich zu meiner Genugtuung feststellte, schon weni ger komisch. Ghaled hatte im Lauf der Jahre zahllose Landsleute von ihm umgebracht und verdiente, ernst genommen zu werden. Die Einzelheiten meiner und Teresas’ Zwangsrekrutierung faszinierten ihn, und er wollte unbedingt den genauen Wortlaut des Eids er 282
fahren, den wir hatten schwören müssen. Als ich ihm von den falschen Geständnissen erzählte, die unsere erzwungenen Unterschriften trugen, nickte er. »Ja, ich habe gehört, daß sie das tun. Unangenehm für Sie.« Unangenehm war ein Understatement, fand ich, be harrte aber nicht weiter auf diesem Punkt. Als Perso nen waren Teresa und ich für ihn von keinem beson deren Interesse, nur als Informanten. Ich setzte daher meinen Bericht mit einer Beschreibung der ZünderZwischenringe fort. Er unterbrach mich erneut. »Augenblick.« Wir saßen an einem Tisch, und er schob einen Notizblock zu mir hinüber. »Wir wär’s, wenn Sie von dem Treibsatz, den Sie da gesehen ha ben, eine Zeichnung machten?« »Okay.« Ich fertigte rasch eine Skizze an. Als ich anfing, die annähernden Maße einzutragen, unterbrach er mich wieder. »Das genügt, Mr. Howell. Die Dinger kennen wir genau.« »Was ist es denn?« »Sie haben richtig geraten. Es gehört in eine Rakete. In die Zwölf-Zentimeter-Katyusha. Hat einen Fünf zig-Kilogramm-Sprengkopf und eine maximale Reich weite von etwa elf Kilometer. Eine ganze Reihe von den Terroristenbanden operiert mit der Katyusha. Ist für Kommando-Überfälle besonders gut geeignet. Vor ein paar Wochen haben sie ein Krankenhaus mit einer solchen Rakete beschossen. Eine einzige Salve tötete 283
zehn Menschen. Die Abschußvorrichtung ist ganz simpel und kann mit ein paar Winkeleisen rasch auf gebaut werden. Meist lassen sie sie zurück, wenn sie sich aus dem Staub machen.« »Woher kommen sie?« »Ist das eine ernst gemeinte Frage? Oh, ich verstehe jetzt, was Sie meinen – woher Ghaled sie bekommt? Nun, einige könnte er aus Jordanien mitgebracht ha ben. Aber ich glaube eher, daß die Algerier sie ihm überlassen haben. Diese chinesischen Zünder dürften wahrscheinlich von der türkischen Befreiungs-Unter grundbewegung eingeschmuggelt worden sein. Oder vielleicht –« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich dachte, Sie seien hier, um mir etwas zu erzählen, was ich nicht wußte.« »Ich war bloß neugierig.« »Also, dann fahren wir jetzt fort. Bislang ist in die ser Sache für uns nichts drin. Es hätte mich gewun dert, wenn Ghaled über keine Katyushas verfügte.« Daraufhin berichtete ich ihm dann von dem Schiff und den ferngesteuerten Funkzündern. Ich schilderte das Testschießen und überreichte ihm die Notizen, die ich mir gemacht hatte. Er las sie auch aufmerksam durch; tatsächlich las er sie sogar zweimal; aber natürlich tat er, als beein druckten sie ihn nicht. »Das sagt uns nicht viel, oder? Haben Sie sich von diesem Ding, diesem elektronischen Bauelement, das Ihrer Meinung nach verwendet worden sein kann, ein Muster beschafft?« 284
»Ja, das habe ich.« Ich holte es aus meinem Akten koffer. Es sah eher nach einem Rahmbonbon aus als nach einem elektronischen Bauelement – einem sehr harten Rahmbonbon mit roten, gelben und grünen Nußsplittern darin. Auf einer Seite ragten die Enden metallener Verbindungsröhrchen heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch und beäugte es ausgiebig. »Hat es einen Namen?« »Nein, nur eine Bauelement-Nummer. Sie ist am Rand aufgeprägt – U siebzehn.« »Was meinen Sie – bedeutet U ›Übertragen‹?« »Das weiß ich nicht.« »Haben Sie denn gar nicht herauszukriegen ver sucht, was es eigentlich ist?« »Der Mann, den ich danach hätte fragen müssen, wäre Taleb gewesen. Das schien mir keine sonderlich gute Idee zu sein.« »Schade. Über die Funkfrequenz, die sie benutzen, ist nichts gesagt worden?« »Nichts, was wir gehört hätten. Ich nahm an, Ihre Leute könnten das ermitteln, wenn sie das Ding da untersuchen.« »Das ist möglich.« »Na bitte. Dann brauchen Sie also nur noch eines zu tun – ihre Sendefrequenz stören.« »Was sollen wir tun?« »Ihre Sendefrequenz stören.« »Und alle ihre Bomben für sie zünden? Soll das ein Scherz sein?« »Ich bin kein Fachmann. Aber mit dem, was Sie 285
jetzt wissen, werden Sie doch sicher irgend etwas da gegen unternehmen können.« Er sah mich mitleidig an. »Hören Sie, Mr. Howell, falls dieses Ding nicht durch ein verschlüsseltes Signal ausgelöst wird – das heißt, durch eine Kombination von Signalen, die wie das Gewirr eines Schlosses funk tioniert, das sich nur drehen läßt, wenn Sie den richti gen Schlüssel benutzen –, hat jede Störung ihrer Fre quenz denselben Effekt wie der Trick mit der Spieldo se, den Sie gesehen haben. Dieses Relais, oder was immer es ist, sieht mir nicht komplex genug aus für die Art von Stromschaltung, die man für eine kompli zierte Kodekombination braucht. Es ist, wie Sie es in Ihren Notizen genannt haben, eine simple kleine Vor richtung. Sie könnte sogar rein zufällig ausgelöst wer den.« »Zufällig?« Er antwortete nicht gleich. Er starrte auf einen ima ginären Punkt in mittlerer Entfernung, und es sah so aus, als habe er mitten in seiner Darlegung den Faden verloren. Nach einer Weile schien er ihn wiedergefun den zu haben. »Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vor ein paar Monaten passierte in einem neuen Appartementhaus in Tel Aviv etwas recht Merkwürdiges, für das man zu nächst keine Erklärung fand. Der Architekt war ein Amerikaner, und er hatte einen dieser ultramodernen ferngelenkten Türöffner am Garagentor installiert. Je der Mieter erhielt so ein kleines Ding mit einer Druck taste daran, das er im Handschuhfach seines Wagens 286
verwahrte. Ein Druck auf die Taste, und das Tor öffne te sich, ein abermaliger Druck, und es schloß sich. So weit, so gut, nur daß sich das Tor zuweilen öffnete und schloß, auch ohne daß jemand auf eine Taste gedrückt hätte. Schließlich geschah es, daß das Tor seinen Solo akt vollführte, als ein Mieter gerade hindurchfahren wollte. Das Wagendach wurde eingedrückt, und nun mußte etwas unternommen werden. Es dauerte einige Zeit, aber schließlich fand man die Lösung des Rätsels. Zwei Straßen weiter befindet sich ein Krankenhaus. Es stellte sich heraus, daß irgendein Teil eines medizini schen Geräts in der physiotherapeutischen Abteilung jedesmal, wenn der Apparat benutzt wurde, ein Funk signal ausstrahlte. Kein sonderlich starkes Funksignal, aber es lag auf derselben Frequenz wie der Türöffner, und seine Stärke reichte gerade aus, um ihn zu betäti gen. Verstehen Sie jetzt, was ich meine?« »Ja, aber –« »Kommen wir auf diese Schiffsgeschichte zurück.« Es war ein ausgesprochen abrupter Themawechsel, und den Grund dafür begriff ich erst sehr viel später. Zu jenem Zeitpunkt machte ich keinen Versuch, mich dem zu widersetzen. »Was ist mit dem Schiff?« »Erzählen Sie mir nochmals, was gesagt wurde.« Ich wiederholte es. »Diese vier Passagiere – einer von ihnen wird Gha led sein, nehme ich an – sollen dem Kapitän Kurs und Fahrt des Schiffs vorschreiben dürfen. Habe ich das richtig verstanden?« 287
»Das haben Sie.« Er runzelte die Stirn. »Wieso die Fahrt? Warum Kurs und Fahrt? Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Angenommen, diese Ihre Spekulationen stim men – und Spekulationen sind es ja nur –, dann will sich jemand, sagen wir Ghaled, in der Nacht vom drit ten auf den vierten Juli an irgendeinem Punkt befin den, der einige Kilometer von der Küste der Gegend um Tel Aviv entfernt ist. Dort wird er auf die Taste an der Spieldose drücken und damit einige Bomben zün den, die auf dem Festland gelegt worden sind. So etwa stellen Sie sich das doch vor, nicht wahr?« »Ja.« »Nun, schon eine einfache Kursänderung würde ihn in eine Position bringen, aus der heraus er seine Salven mittels Knopfdruck abfeuern könnte. Dazu braucht er dem Kapitän nicht den Kurs vorzuschrei ben, sondern ihn bloß zu fragen, wann das Schiff Tel Aviv passiert, und ihn bitten, etwas näher an die Küste heranzusteuern, damit er die hübschen Lichter sehen kann.« »Er müßte ganz sicher sein, daß er innerhalb der Reichweite ist.« »Stimmt, das gebe ich zu. Aber es erklärt noch im mer nicht, warum die Fahrt eine Rolle spielt.« »Der Zeitpunkt? Vielleicht der Herzl-Gedenktag?« »Ihnen zufolge hat er den Abend des Dritten vor Mitternacht festgesetzt.« »Ja.« »Welche Zeitfaktoren sind sonst noch im Spiel? Die 288
Sprengladungen, die gezündet werden sollen, müßten – sofern es so viele sind, wie Sie glauben – lange zuvor plaziert worden sein. Sie haben natürlich keine Ah nung, wo er sie deponieren will?« »Nein.« Er schlürfte seine Orangeade. »Es ist alles sehr dürftig«, klagte er. »Nichts Konkretes.« Ich deutete auf das Magisch-Bauelement. »Das zu mindest ist konkret.« »Vielleicht sagt es uns etwas, vielleicht auch nicht. Die Frage ist jetzt, was Sie tun werden.« »Ich? Ich bin hier und rede mit Ihnen, oder etwa nicht? Ich habe alles getan, was ich in dieser Sache zu tun gedenke. Jetzt sind Sie dran.« »Zu verhindern, daß Ghaled mit der Spieldose an Bord geht und auf den Knopf drückt? Haben Sie ei nen Vorschlag, wie wir das wohl machen sollten? Die Amalia Howell ist Ihr Schiff, nicht unseres.« Man hätte denken können, er sei derjenige, der mir einen Dienst erwies, und nicht umgekehrt. Die Un verfrorenheit, die dazu gehörte, verschlug mir den Atem. »Sie wollen mir doch hoffentlich nicht nahelegen, das Schiff am Auslaufen zu hindern. Wenn das näm lich der Fall wäre –« »Aber nein, Mister Howell. Sie würden doch be stimmt Ärger mit Ghaled bekommen, meinen Sie nicht? Und Miss Malandra auch, das sollte mich je denfalls nicht wundern. Womöglich reißt er Ihnen gleich den Kopf ab, und das geht ja nun wirklich 289
nicht. Nein, nein, es fällt mir nicht im Traum ein, Ih nen zuzumuten, Ihren moralisch hochstehenden Prin zipien zuliebe irgendwelche Risiken einzugehen.« Der Sarkasmus wurde mit einem kleinen Lächeln verabreicht. Ein tüchtiger Hasser war er, das mußte man ihm schon lassen. »Die bloße Tatsache, daß ich mit Ihnen rede, ist be reits riskant für mich«, entgegnete ich. »Wenn Ihre Leute nicht imstande sind, sich wirksame Gegenmaß nahmen gegen diesen Relaistrick einfallen zu lassen, und Ghaled daher mit Gewalt daran gehindert werden muß, auf den Knopf zu drücken, so werden Sie das besorgen müssen. Ich werde passiv kooperieren, so weit mir das irgend möglich ist, aber das ist auch das Äußerste, was man von mir verlangen kann.« »Was verstehen Sie unter passiv kooperieren?« Aus seinem Mund klang es wie passiv korrumpieren. »Die Amalia bleibt bis Freitag nächster Woche in Ancona, um dann nach Latakia auszulaufen. Ich könnte veranlassen, daß sie einen Ihrer Männer – ei nen ausgebildeten Agenten – als zusätzliches Besat zungsmitglied an Bord nimmt.« »Einen Mann gegen Ghaled und seine bewaffnete Leibwache? Was kann ein einzelner Mann in einer solchen Situation schon ausrichten?« »Dann schicken Sie eben zwei, besonders bewährte und entschlossene Männer, versteht sich.« »Bewaffnet womit? Mit Handgranaten? Ganz so leicht können wir unsere Leute nun auch wieder nicht abschreiben, müssen Sie wissen.« 290
»Also gut, dann setzen Sie doch überlegene Kräfte ein. Sie haben eine Kriegsmarine. Entsenden Sie ein bewaffnetes Patrouillenboot und fangen Sie die Ama lia ab, bevor sie sich der Küste so weit genähert hat, daß Ghaled irgendwelchen Schaden anrichten kann. Entern Sie die Amalia und holen Sie ihn und seine Leibwache von Bord. Was ist dagegen einzuwenden?« »Das fragen Sie mich?« »Das tue ich allerdings.« »Sie, ein Schiffseigner? Sie fragen mich, warum wir ein Handelsschiff, das unter britischer Common wealth-Flagge fährt, nicht auf hoher See stoppen kön nen, um an Bord zu kommen und ein paar Passagiere zu kidnappen?« »Es besteht immerhin ein Kriegszustand.« Er bedachte mich mit einem leidgeprüften Blick. »Muß ich Sie über die einschlägigen Völkerrechtsbe stimmungen belehren, Mr. Howell? Ein Kriegszustand mag bestehen, obschon der Waffenstillstand in Kraft ist. Was nicht besteht, ist eine offiziell verhängte Blok kade, die auch nur einigen Anspruch auf Wirksamkeit erhebt. Neutrale Schiffe ohne Berufung auf eine inter national anerkannte Blockade auf hoher See zu stoppen und zu durchsuchen, ist schlechterdings ungesetzlich. Und was das Kidnapping betrifft –« Er hob die Hände. »Ich kann Ihnen versichern, daß die Eigner der Amalia Howell keine Beschwerde erheben werden.« »Werden die Eigner der Amalia oder Sie als deren Vertreter zum bewußten Zeitpunkt an Bord des Schiffs sein?« 291
Ich erkannte die Falle und wich sofort zurück. »Ich werde ganz bestimmt nicht an Bord sein.« »Dann würde der Kapitän des Schiffs mit Sicherheit Beschwerde einlegen. Er würde es müssen, und zu Recht. Das Verteidigungsministerium würde eine sol che Aktion niemals anordnen.« »Nun, wenn das Verteidigungsministerium nicht will, daß Ghaled im Raum von Tel Aviv auf diesen Knopf drückt, wird es irgend etwas anordnen müs sen.« Er überhörte das. »Auf See können Augenschein und Entfernungen zuweilen trügen«, sagte er nach denklich. »Wäre es nicht möglich, daß Ghaleds Plan um eine Kleinigkeit danebengeht?« »Wie?« »Also, Sie geben Ghaleds Befehle an den Kapitän weiter. Angenommen, Sie ändern sie ein bißchen. Könnte die Amalia sich dann nicht zur angegebenen Zeit statt vor Tel Aviv in der Nähe von Ashdod be finden?« »Ja, bei einer Sicht von nahezu Null wäre das mög licherweise durchführbar. Aber Ghaled ist kein Dummkopf. Und bei den Wetterbedingungen, die wir in dieser Jahreszeit zu erwarten haben, müßte er nicht bloß dumm, sondern auch halbwegs blind sein, um die Lichter von Ashdod für die von Tel Aviv zu halten.« »Aber vielleicht könnte die Amalia weiter nördlich in israelische Hoheitsgewässer abirren – sagen wir knapp südlich von Haifa?« »Abirren! Sagten Sie abirren?« 292
»So etwas kommt vor.« »Die Amalia ist kein Fischerboot. Sie ist ein Vier tausend-Tonnen-Frachter, der einen erfahrenen Kapi tän und eine bewährte Mannschaft hat und vertraute Gewässer befährt.« »Sie haben gesagt, Sie wollten kooperieren, Mr. Howell. Sie bitten um die Entsendung eines israeli schen Patrouillenbootes und eines Prisenkommandos, das Ihnen Ghaled von Bord schaffen soll. Alles, wor um ich Sie bitte, ist eine gewisse Unterstützung von Ihrer Seite, damit wir die Voraussetzungen schaffen, unter denen wir Ihrem Wunsch entsprechen können.« »Sie entsprechen keinem Wunsch von mir. Ich ver suche, Ihren Wünschen zu entsprechen.« »Warum kann der Kapitän nicht einfach per Funk spruch Hilfe anfordern?« »Aus welchem Grund? Weil er einen Passagier mit einer Spieldose an Bord hat, die ihm nicht gefällt? Nein, die Initiative müßte schon von Ihnen ausge hen.« »Aber was für eine Art von Initiative?« »Wie Sie schon sagten, können Entfernungen auf See täuschen. Nehmen wir einmal an, Ihrer Küstenra darstation unterläuft ein kleiner Fehler. Tatsächlich befindet sich das Schiff eine Meile außerhalb der Ho heitsgewässer, aber Ihre Leute behaupten steif und fest, es sei eine Meile innerhalb der Hoheitsgrenze. In jedem Fall kommt ihnen das Schiff verdächtig vor. Sie geben Weisung, zwecks Überprüfung der Schiffspa piere oder weil sie vermuten, daß es ein Schmuggler 293
schiff ist, Haifa anzulaufen. Der Kapitän gehorcht un ter Protest. Entschuldigen können Sie sich später im mer noch.« »Ist das das Äußerste, was Sie tun können, Mr. Howell?« »Ja. Der Ball liegt in Ihrem Vorgarten. Wenn Sie zu pingelig sind, um die Bestimmungen des internationa len Seerechts ein klein wenig zu beugen, dann tut es mir leid. Wohlgemerkt, ich halte Sie keineswegs für pingelig. Sie hoffen bloß, daß ich Ihnen die Rechts beugung abnehme. Nun, ich denke gar nicht daran. Ich habe schon genug zu tun mit der Aufdeckung von Verstößen gegen meine eigenen Bestimmungen, meine eigene Geschäftsordnung. Der Kapitän eines Schiffs mag Angestellter des Eigners sein, aber er wird sich nicht so verhalten, als sei er unfähig, bloß weil der Eigner anfängt, ihm törichte Anweisungen zu erteilen. Der Kapitän ist nach wie vor verantwortlich.« »Selbst wenn der Schiffseigner an Bord und gewillt ist, die Verantwortung zu übernehmen?« »Selbst dann. Aber wie auch immer, der Eigner wird keinesfalls an Bord sein.« Er seufzte theatralisch. »Kooperation? Nun gut. Fas sen wir zusammen. Wir wissen nicht, welche Frequen zen Ghaled benutzen wird. Wir wissen nicht, welche Kursänderungen er Ihnen vorschreiben wird, die Sie dem Kapitän weiterzuleiten haben werden. Halt, ich muß mich berichtigen: Kurs- und Geschwindigkeits änderungen. Wir wissen nicht, warum die Geschwin digkeit dabei eine Rolle spielt. Wir wissen nicht, an 294
welchen Orten diese Bomben gelegt werden sollen und wie. Wir wissen nicht, wir wissen nicht. Wann werden Ihnen diese Kurs- und Geschwindigkeitsän derungen mitgeteilt werden? Sagen Sie es nicht, lassen Sie mich raten. Sie wissen es nicht.« »Stimmt. Sobald ich etwas erfahre, setze ich mich wieder mit Ihnen in Verbindung.« »Nicht mit mir, unter keinen Umständen. Versu chen Sie es gar nicht erst.« Das wurde mir mit einem gestrengen Blick verab folgt, den ich meinerseits mit einem ebensolchen er widerte. »In Ordnung. Mir soll es recht sein. Vergessen wir die Sache also ganz einfach.« »Ich dachte, Sie hätten uns Ihre passive Kooperati on in Aussicht gestellt. Tut es Ihnen schon leid, das Angebot gemacht zu haben, und wollen Sie es jetzt zurückziehen?« »Das liegt bei Ihnen. Sagen wir, ich finde die ganze Art, mit der mein Angebot aufgenommen wurde, alles andere als ermutigend. Ja, ich wäre durchaus geneigt, es zurückzuziehen.« Er schnaubte verächtlich. »Blödsinn, Mr. Howell, die können bloß kein offenes Wort vertragen. Sie sind hergekommen, um Ihr Gewissen zu erleichtern. Was haben Sie erwartet? Blumensträuße?« »Die normale Höflichkeit hätte mir genügt.« »Hups! Pardon. Wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar, Mr. Howell, glauben Sie mir. Sehr, sehr dankbar für alle diese Informationen und Nichtinfor 295
mationen, die Sie uns gebracht haben. Reicht das? Jetzt trinken Sie noch ein Glas Orangeade und beru higen sich erst einmal.« »Nein, danke.« Er füllte mein Glas dennoch aufs neue. »Reines Vit amin C. Sie mögen nicht? Na gut, dann lassen Sie es stehen. Ich will Ihnen, so höflich und artig ich kann, jetzt sagen, was ich tun werde. Ich werde dieses Bau element hier analysieren lassen. Vielleicht bringt uns das weiter, vielleicht auch nicht. Wieder so ein Fall von ›Wissen wir nicht‹, aber auf einen mehr oder we niger kommt es schon gar nicht mehr an. Zweitens werde ich diese Intervention vorschlagen, an die Sie denken. Vorschlagen, wohlgemerkt, mehr kann ich nicht tun. Drittens: wie immer auch über die Frage des Eingreifens und, falls eingegriffen werden soll, über die Art und Weise entschieden wird, die Infor mationen über die Kurs- und Geschwindigkeitsände rungen brauche ich geraume Zeit vorher. Wie sieht es damit aus?« »Ghaled ist gerissen und ständig voller Argwohn. Ganz und gar trauen tut er keinem.« »Wieweit traut er Ihnen?« »Darüber ist er sich nicht schlüssig. Wenn Sie glau ben, ich könnte ihn ganz beiläufig um die Information bitten und sie bekommen, sage ich Ihnen schon jetzt, daß das nicht funktionieren wird. Die Initiative muß von ihm ausgehen. Ich kann ihn natürlich provozie ren.« »Wie?« 296
»Die Amalia wird drei Tage lang in Latakia bleiben und dort Kargo löschen und laden. Ich könnte glaub würdig damit argumentieren, daß ich den Kapitän erst etwas bearbeiten müsse, um ihn dazu zu bewegen, zu nächst die Passagiere zu akzeptieren und dann auch in die gewünschten Kursänderungen einzuwilligen.« »Und werden Sie das müssen?« »Nicht allzusehr.« »Dann wird es also doch auf eine Information in letzter Minute hinauslaufen.« »Ich will versuchen, eine Möglichkeit zu finden, um sie früher zu erhalten, aber verbindlich zusagen kann ich es Ihnen nicht. Und da wir gerade beim Thema ›verbindliche Zusagen‹ sind – es gibt da ein paar Din ge, über die Ihrerseits keinerlei Unklarheit herrschen sollte.« »Sie drohen schon wieder mit dem Zeigefinger, Mr. Howell. Worüber sollte auf unserer Seite keine Un klarheit herrschen?« »Meine privaten Anweisungen an Kapitän Touzani von der Amalia werden ihm viel Entscheidungsspiel raum lassen. Ich weiß noch nicht, wieweit ich ihn ins Bild setzen muß, aber er ist ein erfahrener Mann, und man kann sich darauf verlassen, daß er vernünftig handelt. Wenn eine geringfügige Abweichung von dem Kurs, den Ghaled vorschreibt, es Ihren Leuten ermöglicht, das Schiff vor Haifa aufzubringen, wird Touzani diese Kurskorrektur vornehmen. Sollte er sich jedoch gezwungen sehen, einen Kurs zu steuern, der ihn direkt in den Bereich von Tel Aviv bringt, 297
werden meine Anweisungen ihm Einschränkungen auferlegen.« »Wie zum Beispiel?« »Wenn Ghaled vorhat, diesen Sender von irgendwo knapp außerhalb der Sechsmeilenzone, sagen wir sie ben Meilen von der Küste entfernt, zu betätigen. Dar aus wäre vermutlich zu schließen, daß die äußerste Reichweite des Senders etwa acht oder neun Meilen beträgt. In diesem Fall würden meine Anweisungen an Kapitän Touzani dahingehen, sich der Küste allenfalls auf zehn Meilen zu nähern – wenn er sich an diese Weisung halten kann, ohne Verdacht zu erregen. Eine Positionsabweichung von drei Meilen mag unbemerkt durchgehen, solange kein Land in Sicht ist. Aber in unmittelbarer Küstennähe, wo es Leuchtfeuer gibt, die auf den Seekarten verzeichnet sind und Positionsor tungen ermöglichen, dürfte das nicht so einfach sein.« »Und was folgt daraus?« »Daraus folgt, daß Ihre Leute, Bestimmungen hin, Bestimmungen her, bereit sein müssen, sofort ein zugreifen, sobald sich die Amalia Tel Aviv auf zehn Meilen nähert. Welche Reichweite haben die Radar stationen an der Küste bei Tel Aviv? Fünfzehn, sech zehn Meilen?« »So ungefähr.« »Also bitte, da haben Sie es. Vielleicht wird Touza ni seine Entfernung beibehalten können, vielleicht aber auch nicht. Ihre Leute müssen wachsam und in ständiger Bereitschaft sein für den Fall, daß er es nicht kann.« 298
»Angenommen, er kann.« »Dann wird es in der bewußten Nacht an Land voraussichtlich keine Detonationen geben, und vor aussichtlich wird Ghaled sehr bald wissen, daß irgend etwas schiefgelaufen ist. Vielleicht kommt er in ir gendeiner anderen Nacht wieder, um es nochmals zu versuchen. Natürlich wird er nach Sündenböcken su chen. Kapitän Touzani erhält von mir Order, dafür Sorge zu tragen, daß er nicht zu ihnen zählt. Ich kann es mir ebensowenig leisten, meine Leute einfach abzu schreiben, wie Sie Ihre.« »Und wie werden Sie klarkommen?« »Was Ghaled betrifft, werde ich meine Anweisun gen befolgt haben. Seien Sie unbesorgt. Ich gedenke mich zu salvieren.« »Aber Sie hätten trotzdem nichts dagegen, wenn wir ihn uns für Sie schnappten, falls wir das können.« »Wollen Sie sich ihn denn nicht schnappen, zum Teufel noch mal?« »Schon gut. Halten wir fest: Frühzeitiges Eingrei fen, wenn angezeigt, oder späteres, wenn es danach aussieht, als nähere er sich zu sehr der Küste. Wir werden alles für Sie tun, was wir können.« Für mich! Er war wirklich unausstehlich. »Und jetzt zur Kom munikation, Mr. Howell. Wie ich schon sagte, keine direkte Übermittlung zwischen Ihnen und mir.« »Mein Büro in Famagusta könnte das auf indirek tem Wege besorgen.« »Wissen Sie nicht, daß Oberst Shiklas Leute alles kontrollieren, was Sie hinausgehen lassen?« 299
»Ich könnte eine Kursänderung als Preisangebot frisieren.« »Das ist Taschenspielerei. Wir wollen auf sicher ge hen. Es wäre mir lieber, wenn Sie Miss Malandra be nutzten.« »Wie?« »Sie fliegt doch öfter mal nach Rom, um sich mit ihren Anwälten wegen der Besitzungen ihrer Familie zu besprechen. Wegen all der brachliegenden Lände reien im mezzogiorno, die sie noch immer für sie los zuschlagen versuchen, stimmt’s nicht?« Er wartete darauf, daß ich ihn fragte, woher er das wisse, fuhr dann aber, als ich bloß nickte, fort. »Sobald Sie die Information erhalten, setzen Sie sie damit in die nächste Maschine nach Rom. Dann schik ken Sie ein Telegramm an Ihr Büro in Famagusta mit der Anweisung, für ihre Hotelkosten in Nikosia aufzu kommen, falls sie auf dem Rückweg dort Station macht. Kein weiteres Wort. Ich weiß dann schon Bescheid.« »Wird sie dort Station machen?« »Nein. Die Information lassen wir uns in Rom von ihr geben. Sie steigt immer im Hassler ab, habe ich recht? Wir werden sie dort kontaktieren und Ihren Namen nennen. Gut?« »Angenommen, Ghaled macht Einwände. Verges sen Sie nicht, wir sind Befehlsempfänger des pak.« »Er hat Sie regelrecht vereinnahmt, wie? Könnte mir denken, daß das nicht allzu schwierig für ihn ge wesen sein dürfte. Sagen Sie ihm nichts und telegra phieren Sie Famagusta erst, wenn sie in der Maschine 300
sitzt. Anschließend spielen Sie den Unschuldigen, wenn es sein muß. Das sollte Ihnen nicht sonderlich schwerfallen.« »Angenommen, ich kriege die Information nicht, an genommen, der Plan wird in letzter Minute geändert.« »Dann schicken Sie Miss Malandra, um uns zu ver ständigen. Einzelheiten wie gehabt.« »Das ist alles sehr unsicher.« »An wem liegt das? Sie sind derjenige, der Zugang zu den Informationen hat.« »Sie könnten die Amalia beschatten und sich auf grund dessen, was ich Ihnen gesagt habe, die Informa tion über den Kurswechsel selber besorgen.« »Ist Ihnen bekannt, wie klein die israelische Flotte ist?« »Ja.« »Dann seien Sie doch vernünftig, Mr. Howell. Ein schnelles Patrouillenboot, um das Schiff aufzubringen, das ist vertretbar. Vielleicht schicken wir auch einen Zerstörer, wenn es kritisch wird. Aber wir wollen doch die Kirche im Dorf belassen. Wir sind nicht die Sechste amerikanische Flotte, und wie die Dinge liegen, haben wir mit der Wahrnehmung der anfallenden Sicherungs aufgaben schon vollauf genug zu tun. Ein unbewaffne tes Handelsschiff während der ganzen Fahrt von Lata kia herunter beschatten lassen? Wenn ich das vorschla ge, denken die, ich sei nicht mehr bei Trost.« »Nun, das ist Ihre Sache, nicht meine. Ich finde nur, daß wir allzuviel dem Zufall überlassen und die Dinge unnötig komplizieren.« 301
»Wieso? Sie schicken Ihrem hiesigen Büro dieses unverfängliche kurze Telegramm, und wir werden ent sprechend handeln. Innerhalb weniger Stunden – kaum mehr, als die Flugzeit Damaskus-Rom beträgt – werden wir dann Ihre Botschaft bekommen haben, im Klartext und unter Ausschluß etwaiger Übermitt lungsfehler oder Mißverständnisse. Was soll daran so kompliziert sein?« Ich antwortete nicht sofort, weil ich inzwischen nicht mehr bloß verärgert, sondern auch verwirrt war. Was mich ärgerte, das war – außer diesem unerträgli chen Menschen natürlich, der mir gegenübersaß und mich selbstgewiß musterte – die Erkenntnis, daß das Palästinensische Aktionskommando nicht die einzige Untergrundorganisation zu sein schien, die die Agen ce Howell ohne mein Wissen unterwandert hatte. Der Anlaß meiner Verwirrung hatte mit Teresa zu tun. Der Gedanke, daß sie sich fernab in Rom in Sicherheit befinden würde, wenn Ghaleds Operation anlief, er leichterte mich weit mehr, als ich erwartet hatte. Na türlich argwöhnte ich, daß an der Sache irgend etwas faul sein müsse. Aber ich konnte nicht entdecken, was. Schließlich nickte ich. »Okay«, sagte ich und trank gedankenlos noch einen Schluck Orangeade. Barlev lächelte beifällig. »Voller Vitamin C, das Zeug«, sagte er nochmals. »Und noch dazu die richtige Sorte Zucker. Gut für Sie, Mr. Howell.«
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Obwohl ich drei Tage fortgewesen war und es mir daher nicht leisten konnte, auf der Rückreise zusätzli che Zeit zu verlieren, flog ich nach Beirut und kehrte von dort mit dem Wagen nach Damaskus zurück. In Wahrheit verhielt es sich so, daß ich mich zwar der vip-Sonderbehandlung, die mich auf dem Flugha fen erwartet hätte, in meiner augenblicklichen Verfas sung keineswegs gewachsen fühlte, mir jedoch ande rerseits mit Unbehagen der Tatsache bewußt war, daß Dr. Hawa, wäre ich mit dem Flugzeug eingetroffen, ohne ihn wie üblich von meiner Ankunft im voraus in Kenntnis zu setzen, sich zweifellos darüber gewun dert haben würde. Das ist bezeichnend für die Wir kung, die der Umgang mit Leuten vom Geheimdienst auf mich ausübt; ich werde heimlichtuerisch und schrullig. In ihrer Branche würde ich keine fünf Mi nuten überdauern. Im Büro erwartete mich der übliche Rückstand, aber ich machte keine Anstalten, ihn mit Teresas Hilfe aufzuarbeiten. Unsere außerplanmäßigen Tätigkeiten gingen jetzt vor. Ich erzählte ihr mehr oder weniger ausführlich, wie die Zusammenkunft mit ›Barlev‹ verlaufen war. Sie hörte mir auch ganz ruhig zu, bis ich auf den Teil der Unterhaltung zu sprechen kam, der sie betraf. Da wurde sie ungehalten. »Soll das heißen, daß diese Israelis ihre Nasen in meine Privatangelegenheiten gesteckt haben?« »Sie stecken ihre Nasen in die Privatangelegenhei ten aller ihrer Feinde.« 303
»Ich bin nicht ihr Feind.« »Hier gelten wir alle als Feinde. Deswegen haben sie Dossiers über uns angelegt. Es ist müßig, sich dar über aufzuregen.« »Es regt mich aber auf.« »Hoffentlich nicht so sehr, daß du es ablehnst, nach Rom zu gehen.« »Oh, ich tue das schon, wenn es sein muß, aber dies sind schließlich private Dinge. Wie ist es möglich, daß sie darüber Bescheid wissen?« »Landbesitz, Testamente und Treuhänderschaften sind aktenkundig. Sie brauchen nur nachzuschlagen.« »Also, mir geht das gegen den Strich.« »Wenn das Schlimmste, was mit uns passiert, eine geringfügige Verletzung unserer Privatsphäre sein sollte, wären wir noch einmal glimpflich davonge kommen. Also hör auf, dich zu giften, und erzähl mir jetzt deine schlechten Nachrichten.« »Erstens, du sollst dich bei Issa melden. Das ist sehr dringend. Zweitens, du sollst Abouti anrufen. Das ist auch sehr dringend. Drittens, du sollst dich zum frü hest möglichen Zeitpunkt mit Dr. Hawas Kanzleichef in Verbindung setzen. Das sind vordringliche Sachen, die alle drei miteinander zusammenhängen, scheint mir.« »Die Verfügung für die Batteriefabrik?« »Ja, aber ich konnte keine Einzelheiten erfahren. Die Herren reden nur mit dir.« »Ich fange mit dem Chef an.« Er war weitschweifig wie immer, aber schließlich 304
kamen wir doch noch zur Sache. »Wegen der Vermes sungs- und Planierungsarbeiten auf Ihrem CercleVert-Gelände sind gewisse Bedenken geltend gemacht worden, Mr. Howell.« »Von wem, Chef?« »Von – äh – von zuständiger Stelle.« ›Zuständige Stelle‹ war der gebräuchliche Euphe mismus für Oberst Shikla und seine lustigen Gesellen vom Inneren Sicherheitsdienst. »Bedenken?« »Hinsichtlich der – äh – Sicherheitsvorkehrungen und der Übertragung der Aufsichtspflicht an die örtli che Polizeibehörde. Soweit ich weiß, richten sich die Bedenken insbesondere gegen die Nachtarbeit.« »Würden Sie es vorziehen, wenn die Nachtarbeit suspendiert werden könnte, bis diese Frage auf ent sprechender Ebene entschieden worden ist?« »Ja, Mr. Howell, das würde ich in der Tat. Ich weiß, und der Minister weiß, daß es sich um vordringliche Arbeiten handelt, aber wenn sich, ohne daß dadurch allzu große Ungelegenheiten entstünden, eine Rege lung finden ließe, eine Zwischenlösung –« »Ich verstehe, Chef. Mehr brauchen Sie gar nicht zu sagen. Ich werde mich der Sache umgehend in Ihrem Sinne annehmen.« Er war dankbar. Einem chef de bu reau konnte das Leben sehr sauer gemacht werden, wenn die ›zuständige Stelle‹ nicht bekam, was sie von ihm wollte. Eines bestärkte mich: Ghaled hatte meiner Beteue rung, in der Verfügungsangelegenheit unschuldig zu 305
sein, offenbar Glauben geschenkt und sich hilfesu chend an seine Bundesgenossen im isd gewandt. Ich wurde nicht sonderlich dringend verdächtigt, jeden falls im Augenblick nicht. Abouti sträubte sich zunächst. Da er für die Nacht arbeit das Dreifache kassierte und bestenfalls das An derthalbfache auszahlte, fand meine Instruktion, sie einzustellen, bei ihm keine verständnisvolle Aufnah me. »Mein Bester, Sie haben auf größtmögliche Be schleunigung gedrungen«, wehklagte er. »Ich mußte meine tüchtigsten Leute von anderen Arbeiten für diesen Auftrag abziehen. Ich muß planen, um das für Sie möglich zu machen. Ich kann nicht dauernd um disponieren.« »Die Schwierigkeiten sind nur vorübergehend, mein Freund, nur vorübergehend, das versichere ich Ihnen.« »Das sind doch gar keine Schwierigkeiten, mein Be ster, das sind bloß bêtises. Ich weiß Bescheid. Ich ken ne Rashtis Berichte. Es hat ein- oder zweimal Ausein andersetzungen mit Ihren Wachleuten gegeben, die ungewöhnlich dumm sind. Einen grotesken Wort wechsel mit dem Fahrer von Ihrem Lastwagen. Das ist alles.« Ich hätte fast gefragt: »Was für ein Lastwagen?«, besann mich aber gerade noch rechtzeitig. »Von welchem Lastwagen?« fragte ich statt dessen. »Welcher Fahrer war es?« »Welcher? Haben Sie nachts solchen Hochbetrieb 306
dort? Spielt der Name eine Rolle? Warten Sie, Rashti ist gerade hier. Ich werde ihn fragen.« Vorsorglich legte er die Hand auf die Sprechmu schel, während er mit Rashti redete. Dann meldete er sich wieder. »Er sagt, daß der Laster ein Mercedes-Benz-Diesel und der Fahrer ein kleiner Kakerlak ist, den er mit zwei Fingern seiner linken Hand zerquetschen wird, wenn Sie ihm dazu die Erlaubnis geben.« »Bedauerlicherweise liegen die Dinge nicht ganz so einfach, mein Freund. Wie ich schon sagte, sind die Schwierigkeiten nur vorübergehender Art. Aber die Vorfälle, von denen Sie da sprechen, haben nichts mit den Schwierigkeiten zu tun, die uns im Augenblick zu schaffen machen. Diese Schwierigkeiten, die wir am Telefon besser nicht erörtern sollten, wurden uns von ›zuständiger Stelle‹ bereitet. Es dreht sich um Fragen der Grenzsicherheit und polizeilichen Zuständigkeit.« Selbst Abouti konnte die ›zuständige Stelle‹ nicht leichthin abtun. Er schwieg einen Augenblick lang und sagte dann dreimal »Ah«, und das auf dreierlei verschiedene und ungemein ausdrucksvolle Weise. Anschließend warte te er darauf, von mir einen Fingerzeig zu bekommen. »Ein klein wenig Geduld?« schlug ich vor. »Ja, ja, mein Bester. Unter solchen Umständen soll te man nichts übereilen.« »Gut. Wir bleiben in Verbindung. Aber vorerst ist Schluß mit der Nachtarbeit. Einverstanden?« »Einverstanden. Ich wünsche nicht –« Er sagte 307
nicht, was er nicht wünschte, nämlich es in irgendei ner Weise mit der zuständigen Stelle zu tun zu be kommen. »Ja, wir bleiben in Verbindung«, schloß er und hängte ein. »Wann sind die Zwischenringe geliefert worden?« fragte ich Teresa. »Einen Tag nachdem du nach Famagusta abgeflo gen bist.« Das bedeutete, daß die Zwischenringe jetzt irgendwo – vermutlich in der Batteriefabrik – nachts an die Katyusha-Raketengeschosse geschraubt wurden. Ich hatte im Bereich von Damaskus nicht viele Lastwagen laufen. Es gab einen Transport-Pool, der auf dem Gelände des Keramikwerks eingerichtet wor den war und den diversen kooperativen Unternehmen bei Bedarf zur Verfügung stand. Ich benutzte meist Fi ats. Das größte Fahrzeug, das ich besaß, war ein Ber liet-Laster, der vorwiegend zum Transport der Möbel lieferungen eingesetzt wurde. Ich hatte nicht einen einzigen Mercedes-Benz-Diesel. Der ›kleine Kakerlak‹ – Issa vermutlich – bediente sich des Fuhrparks ir gendeines anderen Unglücklichen, um die Katyushas an ihren Bestimmungsort zu schaffen. Ich verschwendete keinen weiteren Gedanken an die Sache. Barlev hatte gesagt, es wäre verwunderlich gewe sen, wenn Ghaled nicht über ein paar Katyushas verfügt hätte. Mir konnte es gleich sein, wohin sie geschafft wurden; jedenfalls glaubte ich das in meiner Ahnungs losigkeit. Das mit dem Mercedes-Benz-Diesellaster da gegen merkte ich mir. Auch das war bedauerlich. 308
»Und Ghaled?« fragte Teresa. »Willst du dich nicht bei Issa melden? Sie wissen, daß du zurück bist.« Ich faßte einen Entschluß. »Sag Issa, daß die Nacht arbeit eingestellt wird.« »Nur das?« »Nein. Sag ihm auch, er soll unserem Herrn und Meister eine private Einladung übermitteln.« »Kommen wir wirklich nicht drum herum?« »Nein. Ich muß ihn von seiner eigenen Basis losei sen und auf unsere herüberziehen. Bitte ihn für über morgen zum Abendessen und Backgammon oder, falls ihm das nicht paßt, für einen beliebigen anderen Abend, der ihm genehm ist.« »Wann soll ich nach Rom fliegen?« »Deswegen laden wir ihn ja zum Dinner ein – um zu sehen, ob wir das bei der Gelegenheit nicht aus ihm herausbekommen können.« Am darauffolgenden Morgen fuhr ich nach Latakia, um unseren dortigen Schiffsagenten aufzusuchen. Sein Name war Mourad, Gamil Mourad, und wenn ich in der Vergangenheitsform von ihm spreche, so deshalb, weil er kürzlich jede Verbindung mit der Agence Howell abgebrochen hat. Ein Schiffsagent wie Mourad ist in den seltensten Fällen Angestellter einer einzigen Firma; meist betreibt er seine Geschäfte auf eigene Rechnung, vertritt die Interessen verschiedener Reeder, stellt Frachtladungen für sie zusammen und erledigt alle schriftlichen Formalitäten, die mit dem Laden und Löschen zusammenhängen: Zolldeklara 309
tionen, Konnossemente, Versicherungspapiere und so weiter. Er ist eine Art Manager für den Seegüterver kehr. Ich mache es Mourad nicht zum Vorwurf, daß er sich von uns getrennt hat. Der alte Mann lag mir nicht, und er hat Grund zur Klage – wenngleich ich mich, ehrlich gesagt, nicht erinnern kann, jemals eine Zeit erlebt zu haben, in der er nicht geklagt hätte. Das entsprach nun einmal seinem Wesen und gehörte zu seinem Geschäftsgebaren. Mein Vater hat viel von ihm gehalten. Er war sehr fett, litt an chronischem Bron chialkatarrh und trug stets ein großes buntes Taschen tuch in der Rechten, das er nicht bloß als Schnupf tuch, sondern auch als Fliegenklatsche, als Fächer und als Signalflagge zur Unterstreichung seiner Gesten be nutzte. Als ich ihn aufsuchte, brütete er noch über den Fahrplanänderungen, die der für ihn überraschend lange Aufenthalt der Amalia in Tripolis nach sich ge zogen hatte. Er vollführte abwärtsgerichtete Flatter bewegungen mit seinem bunten Taschentuch, um mir sein Mißfallen zu signalisieren. »Ich wußte gar nicht«, schnaufte er, »daß diese Li byer so schwierig geworden sind.« Mit ›schwierig‹ meinte er ›über das vertretbare Maß hinaus bestechlich‹. »Jetzt, wo sie Öl haben«, sagte ich, »glauben alle, sie müßten reich werden.« »Öl! Ah, ja.« In Syrien, dem einzigen arabischen Land ohne eigenes Ölvorkommen, läßt sich nahezu jeder geschäftliche Mißerfolg mit dem Hinweis auf 310
das Öl entschuldigen. »Aber solche kleinlichen Schi kanen sind neu.« Sie waren nicht nur neu, sondern hatten sich für mich persönlich auch als ungemein kostspielig erwie sen. Ich hatte einem Kerl, von dem ich wußte, daß er ein Gauner war, als Mittelsmann aus eigener Tasche fünfhundert Dollar zahlen müssen, die noch zu den Schmiergeldern für die Libyer hinzukamen. Er würde vorerst dichthalten, weil ich ihm weitere Kommissi onsgeschäfte dieser Art versprochen hatte und er noch immer herauszufinden versuchte, warum ich meine eigenen Schiffe sabotierte; aber irgendwann würde er reden. Selbst wenn man ihm nicht uneingeschränkt Glauben schenkte, würde seine Geschichte die Agence Howell ins Gerede bringen. »Diese Verzögerung hat uns viel Geld gekostet«, beharrte Mourad. »Das hier bringt es vielleicht wieder ein. Bitte.« Ich reichte ihm eine Liste der Frachtverschiffungen, die von Seiten meiner kooperativen Unternehmen anfal len würden. Sie waren beträchtlich. Kopfschüttelnd überflog er die Liste. »Ist das al les?« »Was haben Sie für die Amalia?« »Rund hundert Tonnen Roheisenbarren. Sie wird halb leer fahren müssen.« Er nannte ein Schiff nie halb voll; wenn es nicht bis über das Schandeck geladen war, bezeichnete er es als ›halb leer‹. »Sie wird diesmal auch Passagiere befördern.« 311
»Passagiere!« Hätte ich ›Schimpansen‹ gesagt, wäre er auch nicht überraschter gewesen. »Ganz recht. Für Alexandria. Vier an der Zahl.« »Zahlende Deckpassagiere?« »Deckpassagiere, selbstverständlich.« Da auf der Amalia für Fahrgäste keine Unterkünfte vorhanden waren, konnten sie schwerlich etwas anderes sein. »Ob sie allerdings zahlen werden, weiß ich nicht.« Er musterte mich mit einem befremdeten Blick, was ich nicht verwunderlich fand. »Mr. Howell, das ist ja etwas völlig Neues.« »Sie wissen sehr gut, Mr. Mourad, daß wir uns hier in steigendem Maß an staatlichen Handelsgeschäften beteiligt haben.« »Ja, ja.« Das war ein geschnauftes Lamento über die verlorene Unschuld der Agence Howell. »Und daß diese Beteiligung uns viele geschäftliche Vorteile gebracht hat.« »Viele, sagen Sie? Ein paar, würde ich meinen, nur ein paar.« »Ob ein paar oder viele – für Vorteile müssen frü her oder später Gegenleistungen erbracht werden.« »Ah.« Unheilschwanger. »Nachdem uns gewisse Vorteile eingeräumt wur den, müssen wir gewärtig sein, gelegentlich an unsere Dankesschuld erinnert zu werden.« »Das ist immer das Ärgerliche daran.« »Und uns sagen lassen, auf welche Weise wir uns erkenntlich zu zeigen haben. Aussuchen können wir 312
es uns nicht, Mr. Mourad. Wir werden nicht konsul tiert, wir werden instruiert.« »Von wem?« »In diesem Fall von einer staatlichen Stelle, die nicht sonderlich beliebt ist. Es handelt sich um eine Unterabteilung des Sicherheitsdienstes.« Er hustete sich lauthals aus und hob die Rechte zum Mund. Nachdem er sich des Bronchialschleims auf bewährte Weise entledigt hatte, ordnete er den Fal tenwurf des Taschentuchs mit geübter Hand aufs neue. »Sie meinen den isd?« Für euphemistische Um schreibungen war Mr. Mourad nicht zu haben; er pflegte die Dinge beim Namen zu nennen. »Ja, leider.« »Wer sind diese Passagiere?« »Das weiß ich nicht.« »Warum wollen sie unbedingt per Schiff nach Alex andria?« »Ich glaube, wir sollten uns diese Frage nicht stel len, Mr. Mourad. Es ist möglich, daß Kapitän Touzani bestimmte Anweisungen gegeben werden. Vielleicht kommt es vor Haifa zu einem Rendezvous mit einem anderen Schiff oder irgend etwas in der Art.« »Und Sie sind gewillt, dergleichen hinzunehmen?« »Es ist mir unmißverständlich klargemacht worden, daß ich das muß.« »Touzani mag da anderer Auffassung sein.« »Ich werde mit Touzani reden.« »Versteht sich.« Er sank für einen Augenblick in 313
brütendes Schweigen. »Sechsundvierzig stand Ihr Va ter vor einer ähnlichen Situation.« »So?« »Ja, sie war ganz ähnlich. Er meisterte sie.« »Wie?« »Er kannte den richtigen Mann in der Militärregie rung.« »Welcher Militärregierung?« »In der britischen natürlich. Die Franzosen waren abgezogen. Sind Sie zu jung, um sich daran zu erin nern? Vielleicht. Nun, ob Engländer oder Franzosen, Ihr Vater wußte immer, an wen er sich zu wenden und was er zu sagen hatte. Einmischungen hätte er nie ge duldet. Er wußte, wen er zu bezahlen hatte und in wel cher Höhe, und er hat es immer verstanden, seinen Kopf durchzusetzen. Er hatte eine herrische Art, mit Politikern und Beamten umzugehen. Schwierigkeiten ließ er nicht gelten.« Es hätte meine Mutter sein kön nen, die hier sprach. Ich war versucht, ihn darauf hin zuweisen, daß die Zeiten sich geändert hatten, daß ›der richtige Mann‹ in diesem Fall Oberst Shikla sei und daß jemand, dem es in meiner Lage einfiele, herrisch mit ihm umspringen zu wollen, nicht bei Verstand sein könne; aber dann hätte ich ihm von Ghaled und ande ren Dingen erzählen müssen, und damit, daß ich den alten Mann das Fürchten lehrte, wäre nichts gewonnen gewesen. Womöglich würden ihm Schnitzer unterlau fen, weil er es mit der Angst bekam. Solange er wider spruchslos tat, was ich ihm sagte, war es mir gleichgül tig, ob er mich für einen Schwächling hielt. 314
»Ich ziehe es vor, das auf meine Weise zu regeln, Mr. Mourad.« Mit der Hand, die das Taschentuch hielt, vollführte er eine knappe Geste in horizontaler Richtung, als ziehe er einen Schlußstrich unter einer Zahlenkolon ne. Er hatte seinen Rat erteilt, und sein Rat war zu rückgewiesen worden: unklugerweise zurückgewiesen worden, wie er meinte; aber das sollte nicht seine Sor ge sein. »Ich werde die Namen dieser Passagiere benötigen, Mr. Howell. Für die Stammrolle der Amalia.« »Sie werden sie bekommen, Mr. Mourad.« Wir redeten ein paar Minuten lang von anderen Dingen und tranken noch ein paar Täßchen Kaffee. Dann fuhr ich nach Damaskus zurück. Teresa hatte von Ghaled Antwort erhalten. »Er kommt morgen abend um acht.« »Wer fährt ihn hierher?« »Ich glaube, er erwartet, daß wir ihn mit dem Wa gen abholen. Ich habe gesagt, daß ich Issa noch Be scheid gebe.« »Macht es dir etwas aus, ihn abzuholen? Ich will ei ne Weile mit ihm alleingelassen werden, sobald er hier ist. Gib mir eine halbe Stunde Zeit, wenn du den Wa gen abgestellt hast, damit ich mit ihm unter vier Au gen rede.« »Gut.« »Schlage vor, ihn um halb acht vom Werk abzuho len. Wenn du mit Issa sprichst, sag ihm, er soll auch die Nachricht weitergeben, daß die Amalia mögli 315
cherweise einen Tag früher einläuft, also schon am Sechsundzwanzigsten.« »Wird sie das?« »Nicht daß ich wüßte. Aber er soll denken, sie könnte es. Und ich will, daß die Karte im Büro wieder an die Wand kommt.« »Haben wir sie noch?« »Irgendwo muß sie ja geblieben sein.« Die Wandkarte, von der ich sprach, war eine große Übersichtskarte des östlichen Mittelmeerraums sowie des nahezu gesamten Mittleren Ostens und eigens zu dem Zweck angefertigt worden, die Organisation der Agence Howell eindrucksvoll zu veranschaulichen. Alle Orte, an denen wir Büros und Zentralagenturen unterhielten, waren blau umrandet, und die Haupt routen der Howell-Schiffe mit einer roten Linie mar kiert. Es war eine ziemlich detailliert ausgearbeitete Angelegenheit. Ich hatte sie nur deswegen entfernen lassen, weil Dr. Hawa eines Abends – das lag jetzt ein paar Monate zurück – eine bissige Bemerkung dar über machte. Er hatte davorgestanden und erklärt, ihr Anblick vermittle den Eindruck, daß Syrien noch im mer ein Teil des Howell-Imperiums sei. Ob das mei ner Auffassung entspräche? Seither hatte er mich zwei- oder dreimal ›Kaiser Michael‹ tituliert. Die Karte war also heruntergenommen worden. Aber jetzt hatte ich Verwendung für sie. Zu den Dingen, die am deutlichsten auf ihr ver zeichnet waren, zählte die Schiffahrtsroute von Lata kia nach Alexandria. 316
Daß es ein reines Vergnügen sein würde, für Ghaled den Gastgeber zu spielen, hatte ich ohnehin nicht er wartet, aber auf einen derart schauerlichen Abend war ich denn doch nicht gefaßt gewesen. Zudem war er auch noch demütigend. Obwohl ich alles sehr sorgsam – und, wie ich fand, schon recht ingeniös – geplant hatte, bekam ich, was ich wollte, nicht etwa, weil ich clever gewesen war, sondern weil er von sich aus be schloß, es mir nicht länger vorzuenthalten. Ich empfing ihn stilgerecht in dem großen Raum, der auf einen eigenen Innenhof hinausging. In dem Innenhof befand sich ein Springbrunnen, und es war dort angenehm kühl. An diesem Abend sah ich ihn zum erstenmal in ›Zi vil‹-Kleidung, das heißt ohne sein Khaki-Buschhemd. Er hatte aus Anlaß der festlichen Gelegenheit ein weißes Hemd angezogen und trug eine abgewetzte Aktenta sche ohne Griff, von der Art, die die Franzosen serviette nennen. Ich nahm zuerst an, die Tasche diene ihm als tragbares Requisit, das ihm in der Stadt einen Anstrich von Respektabilität verleihen solle; aber als er sie sich von dem Bediensteten nicht abnehmen lassen wollte und ich sie mir daraufhin genauer anschaute, begriff ich, daß er sie benutzte, um eine Pistole darin zu verbergen. Ich gab ihm einen Champagnercocktail mit viel Brandy darin, und er trank ihn durstig, als sei es Wasser. Ich gab ihm eine Zigarre und Feuer. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte um sich. Obschon er offen sichtlich beeindruckt war, schien er sich ausgesprochen wohl zu fühlen. Das paßte mir ausgezeichnet. Ich woll 317
te, daß er so entspannt und gesprächig war wie nur möglich. Alle Förmlichkeit sollte mir vorbehalten blei ben. Ich fuhr fort, ihn respektvoll mit »Genosse Salah« anzureden, und machte bewußt ein bißchen viel Aufhe bens um ihn. Als er seinen ersten Cocktail ausgetrunken hatte, reichte ich ihm sofort einen zweiten in einem neuen Glas. Dann fragte ich ihn, ob er sich vielleicht die anderen Räume der Villa ansehen wolle? Er stimmte meinem Vorschlag gnädig zu und kommentierte ihn mit einer hämischen kleinen Stiche lei über das »ganze Ausmaß meiner kapitalistischen Dekadenz«, das er jetzt zu Gesicht bekäme. Ich for derte ihn auf, seinen Drink mitzunehmen. Weil er auf diese Weise sein Glas und seine Zigarre in der Hand halten mußte, dachte ich, er würde seine Aktentasche zurücklassen; aber wenngleich er einen Augenblick lang zögerte, nahm er sie am Ende doch mit. Von meinem Standpunkt aus gesehen, bestand der Zweck der Unternehmung darin, ihn in das Büro zu lotsen; aber ich ließ mir Zeit damit, verweilte ausgiebig bei Dingen, die ihm gefielen – es bereitete ihm Vergnü gen, mir zu beweisen, daß er einen Feraghateppich auf den ersten Blick als solchen zu erkennen vermochte –, und brachte ihn dazu, seine Ansichten zu äußern. Als ich ihn schließlich den Korridor hinuntergeleitete, der zum Büro führte, murmelte ich eine Entschuldigung. »Jetzt kommen nur noch Büroräume, Genosse Sa lah. Nichts von Interesse, fürchte ich.« Ich öffnete ei nen Flügel der Doppeltür, um zu zeigen, daß dies der Wahrheit entsprach. 318
»Nichts von Interesse in Genosse Howells Büro?« Es war genau die Art Reaktion, die ich hatte her vorrufen wollen. Bereitwillig öffnete ich die zweite Tür und schaltete alle Lampen ein. Die Karte mußte ihm sogleich ins Auge springen. Sie bedeckte nahezu die ganze gegenüberliegende Wand, eine prachtvolle Komposition in leuchtenden Farben, die über und über mit gelben und grünen Fähnchen gespickt war. Er war bereits darauf zugegangen und steuerte ge radenwegs den Bereich Latakia-Zypern an, so daß ich mich schon zu der Hoffnung auf einen aufschlußrei chen kleinen Schwatz über seine Pläne für die Amalia – sowie deren Demonstration auf der Karte – berech tigt glaubte; als er sich jedoch nur mehr drei Schritte vor ihr befand, wandte er sich zu meinem Ärger plötzlich von ihr ab. Er hatte die Schiffsmodelle gesehen. Sie zählten zu den wenigen kostspieligen Extrava ganzen, die mein Vater sich gestattet hatte. Seine Schwäche für Schiffsmodelle hatte er kurz nach dem Ankauf der Pallas Howell entwickelt. Die Pallas war das erste über 1500 Tonnen große Schiff gewesen, das die Agence Howell besaß. Sie war überdies das erste, das einen modernen Schornstein hatte. Die engen Ofenröhren der älteren Schiffe waren immer schwarz angestrichen gewesen; aber beim Ankauf der Pallas, die nach meiner Mutter getauft worden war, hatte Va ter entschieden, daß wir einen ›Kompanie-Schorn stein‹ haben müßten wie die großen Reedereien. Er 319
hatte ihn selber entworfen: Gelb mit einer schwarzen ›Stiefelstulpe‹ und einem großen dunkelgrünen H auf dem gelben Grund. Unter das H, das dadurch aus ei niger Entfernung wie unterstrichen wirkte, war in arabischer Schrift eine Transliteration des Namens Howell gemalt. Als Vater die neu angestrichene Pallas sah, ließ er sich ein maßstabgetreues Modell für sein Büro anfertigen. Bis zu seinem Tod war die Zahl der Schiffsmodelle auf acht gestiegen, von denen drei in seinem Büro und fünf in Konferenzzimmern standen, alle in Glasvitrinen auf Mahagonigestellen. Sie waren von einer Firma in London angefertigt worden und hatten viel Geld gekostet; aber mein Vater sagte, daß sie die Besucher beeindruckten und somit den Ge schäften förderlich seien. Wenn daran auch etwas Wahres gewesen sein mochte, so hatte ihm das in Wirklichkeit doch nur als Entschuldigung gedient; er mochte sie halt. Und warum auch nicht? Es war tröst lich, sie anzusehen. Dort in meinem Büro in Damas kus hatte ich drei der acht Originalmodelle stehen: die Pallas, die Artemis und die Melinda. Sie faszinierten Ghaled. Ich versuchte ihn zur Karte zurückzulotsen, aber es war zwecklos. Er stellte sein Glas auf meinem Schreibtisch ab, legte seine Aktenta sche dazu und kehrte zu den Modellen zurück. Dann begann er Fragen zu stellen. Was dies sei und was das? Und schließlich: »Welches ist die Amalia?« »Wir haben kein Modell von der Amalia, Genosse Salah. Ich kann Ihnen ein Bild von ihr zeigen, wenn Sie wollen.« 320
Aber er interessierte sich nur für Modelle. »Hat die Amalia Ähnlichkeit mit irgendeinem dieser Schiffe?« »Mit der Artemis sehr viel. Das ist dieses hier. Sie ist ebenfalls ein Drei-Inseln-Schiff.« »Drei Inseln?« »Ja, so werden sie manchmal genannt. Sehen Sie die großen Ladedecks vorn und achtern? Diese Schiffe haben ein verhältnismäßig niedriges Freibord, so daß Bug, Heck und die Aufbauten der Brücke alles sind, was man von ihnen sehen kann, wenn der Rumpf un ter dem Horizont liegt. Aus der Ferne sehen sie aus wie drei kleine Inseln.« »Und wo werden wir auf der Amalia untergebracht sein? Aus welchen dieser Fenster werden wir hinaus sehen?« »Leider hat keines unserer Schiffe reguläre Passa gierkabinen, aber es gibt einen Salon, wo die Offiziere essen, und der ist hier. Sehen Sie? Der Salon der Ama lia hat allerdings Bullaugen. Sie gleicht der Artemis nicht völlig.« Ich unternahm einen weiteren Versuch, die Unterhaltung in eine ergiebigere Richtung zu len ken. »Ich bin ganz sicher, daß Kapitän Touzani sich bemühen wird, Ihnen und Ihren Herren die Reise so angenehm wie möglich zu machen.« »Touzani? Ist er Italiener?« »Tunesier.« »Oh.« Das gefiel ihm nicht. Tunesiens Engagement für die palästinensische Sache war nur als lau zu be zeichnen. »Ist er loyal, dieser Kapitän Touzani?« 321
»Wenn Sie damit meinen, ob er Anweisungen be folgen wird, ist die Antwort ja; ich glaube, das wird er. Vorausgesetzt natürlich, daß sie das Schiff nicht ge fährden.« Das läßt sich recht gut an, dachte ich. »Und natürlich auch, daß die Weisungen, die er von mir er hält, klar und praktikabel sind.« »Werden Sie ihm die Weisungen selber geben?« »Oh, ja, Genosse Salah. Sobald ich sie habe.« Ich versuchte, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. »Es gibt da noch eine weitere Information, die ich sehr bald erhalten muß.« »Erhalten muß?« »Ich brauche die Namen der Passagiere, die beför dert werden sollen. Das Gesetz schreibt vor, daß sie auf der Stammrolle des Schiffs aufgeführt werden müssen. Das ist die Liste aller beim Auslaufen an Bord befindlichen Personen.« Er sah sich veranlaßt, einen Witz daraus zu machen. »Einen Namen kann ich Ihnen jetzt schon nennen – Salah Yassin.« Ich lächelte pflichtschuldig. »Und sicherlich werden doch wohl auch Ahmad und Musa auf die Liste kom men?« »Diese alten Männer? Nein, nein. Sie sind gewiß gute Kämpfer und unbedingt loyal. Für den Wach dienst gibt es keine besseren. Aber bei unseren Kom mandounternehmen können wir nur die jungen Män ner, die Frontkämpfer einsetzen. Warum hat dieses Schiff hier zwei Schrauben, während die anderen, ob wohl sie nicht viel kleiner sind, nur eine haben?« 322
Wir waren wieder bei den Modellen gelandet. Es gelang mir nur unter Schwierigkeiten, ihn dazu zu bewegen, zum Essen hinunterzugehen; und selbst dann redete er beharrlich nur von Schiffen. Die ver schiedenen Arten, die Tonnage zu berechnen, mußten erläutert werden. Teresa stand mir bei, indem sie noch törichtere Fragen stellte als er, aber die Unterhaltung blieb mühsam und zähflüssig. Er trank Brandy. Das Backgammon war eine Tortur. Er ließ nur ein draufgängerisches ›arabisches‹ Spiel gelten und sonst nichts. Er war jedesmal darauf aus, mich entweder vernichtend zu schlagen oder aber mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Meistens ge schah letzteres. Es ist ungemein schwierig, eine Partie Backgammon vorsätzlich zu verlieren, ohne daß der Gegner die Absicht bemerkt. Er sieht, was man ge würfelt hat. Man kann nicht glaubhaft fortgesetzt grobe Fehler machen. Um gegen einen Alles-oder nichts-Spieler wie Ghaled zu gewinnen, braucht man nicht einmal durchschnittlich gut zu spielen. Man mache bloß die konventionellen ›Back‹-Züge, und in neun von zehn Fällen wird er sich selber eine Nie derlage bereiten. Genau das tat Ghaled denn auch, aber ihm selber blieb das natürlich verborgen. Es lag an den Würfeln, dann an meiner Glücksträhne, schließlich – und unausbleiblich – an meinem Mangel an Phantasie, an Schneid. »Sie sind zu vorsichtig. Sie spielen wie ein Ge schäftsmann.« »Sie drängen mich in die Defensive, Genosse Salah.« 323
»Sie dürfen sich gar nicht erst in Bedrängnis brin gen lassen. Sie müssen losschlagen, gleiches mit glei chem vergelten.« Mit anderen Worten: wie er spielen und verlieren. »Ja, Genosse Salah.« Indem ich so wild drauflosspielte, daß er sich aus nahmsweise einmal gezwungen sah, seinerseits ver nünftige Züge zu machen, gelang es mir, zwei aufein anderfolgende Partien zu verlieren; aber selbst das fand nicht seinen Beifall. »Wenn Sie ein Kommandokämpfer im Fronteinsatz wären«, bemängelte er, »würden Sie sehr rasch lernen, wann Sie angreifen müssen und wann Sie Ihr Pulver nicht verschießen dürfen, wann Sie stürmen und wann Sie sich in den Hinterhalt legen müssen.« Er hatte bereits eine ganze Menge getrunken, sehr viel mehr wahrscheinlich als je zuvor an einem einzi gen Abend, und die Wirkung begann sich bemerkbar zu machen. Ich gab ihm irgendeine nichtssagende Antwort, und er funkelte mich wütend an. Der Argwohn, daß ich ihn die beiden letzten Spiele womöglich absichtlich hatte gewinnen lassen, stieg jetzt in ihm auf. Es mußte jemand gestraft werden. Teresa kam zuerst an die Reihe. »Sie sagen gar nichts, Miss Malandra.« Das ›Miss‹ war ein Hohn. »Hätten Sie nicht vielleicht Lust, an vorderster Front zu kämpfen wie einige dieser zioni stischen Frauen? Haben Sie nicht den Ehrgeiz, denen nachzueifern?« 324
»Ich habe kein sonderliches Bedürfnis, irgend je mandem nachzueifern«, entgegnete ihm Teresa kühl. »Dann sollten wir vielleicht versuchen, Ihre Einstel lung zu ändern. Vielleicht werden Sie anders darüber denken, wenn Sie gesehen haben, wozu diese zionisti schen Frauen fähig sind.« Er hatte nach seiner Aktentasche gelangt und zerrte jetzt ungeschickt an dem Reißverschluß. Meine Ver mutung, daß sich eine Pistole in der Tasche befand, sollte sich als zutreffend erweisen, aber die Waffe war nicht der einzige Gegenstand, den sie enthielt. Als es ihm schließlich gelang, die Aktentasche zu öffnen, sah ich, daß außerdem einige Papiere und eine lederne Brieftasche darin steckten. Es war die Brieftasche, die er herauszog und Teresa zuwarf. »Sehen Sie sich das an. Sehen Sie sich das genau an und urteilen Sie selbst. Sie auch, Genosse Michael. Se hen Sie sich an, wozu zionistische Frauen fähig sind.« Nach allem, was ich in den folgenden Minuten sah, und aufgrund meiner späteren Lektüre von Lewis Prescotts Schilderung bin ich mir ziemlich sicher, daß die Photos, die Ghaled uns zeigte, diejenigen waren, die er Prescott vorgelegt hatte, als er von ihm interviewt wurde. Kurz, dieselben Aufnahmen, die Mr. Prescott als Beweise für angeblich von Drusen-Kommando gruppen verübte Greueltaten gezeigt worden waren, legte er Teresa und mir als Beweise für Greueltaten vor, die von israelischen Frauen begangen worden sein sollten. Als vormaliger Kriegsberichterstatter mag es Lewis 325
Prescott, wie er sagt, nicht nur für unausbleiblich, sondern auch für ratsam und erforderlich halten, sich an den Anblick verübter Greuel zu gewöhnen. Ich hatte es bis zu jenem Zeitpunkt nicht erforderlich ge funden; mit dem Ergebnis, daß ich auf das, was ich sah, nicht nur völlig unvorbereitet, sondern – ge zwungen, wieder und wieder hinzublicken – auch gänzlich außerstande war, damit auf irgendeine Weise fertig zu werden. Ich weiß nicht und will es auch gar nicht wissen, wer für das, was auf diesen Photos ge zeigt wird, verantwortlich ist. Ich dachte damals – so weit ich überhaupt noch denken konnte –, die An schuldigung der ›zionistischen Frauen‹ müsse falsch sein, und Mr. Prescotts Bericht läßt darauf schließen, daß ich recht damit hatte. Offenkundig änderte Gha led die Geschichte zu den Photos, je nachdem, wel chem Publikum er sie zeigte, nach Belieben ab. Aber daß die Geschichte sich änderte, änderte nichts an den Photos. Ich wünschte, ich hätte es wie Teresa machen können. Nach einem raschen Blick stand sie einfach auf, erklärte, weiteren Kaffee brin gen zu wollen, und ging. Sie blieb weg, und Ghaled nahm keine Notiz davon. Aber mich zwang er, auf meinem Platz sitzenzubleiben und mir die ganze Kol lektion anzusehen; nicht einmal, sondern dreimal, ohne auch nur ein einziges Bild auszulassen; und die ganze Zeit über beobachtete er, was für ein Gesicht ich machte. Die einzige Schutzmaßnahme, auf die ich verfiel, bestand darin, so zu tun, als könne ich die Einzelhei 326
ten besser erkennen, wenn ich die Brille abnahm; wo her sollte er wissen, daß ich ohne sie alles etwas ver schwommen sehe? Aber ich hatte die Brille zu lange aufbehalten, denn nachdem ich einmal gesehen hatte, was die Photos zeigten, konnte ich nicht mehr verwi schen, was mir danach auch ohne Brille überdeutlich vor Augen stand. »Kommandokampf, Genosse Michael, Komman dokampf.« Er hörte nicht auf, dieses Wort wie eine Beschwö rungsformel zu wiederholen. Schließlich gelang es mir, den Bann zu brechen. Ich schaffte es, indem ich mich plötzlich aufrichtete, mir die Brille wieder auf setzte und ihm mit der einen Hand die Photos zu rückgab, während ich mit der anderen nach der Bran dyflasche griff. »Sehr instruktiv, Genosse Salah«, erklärte ich, so lebhaft ich konnte, und füllte sein Glas nach. Er lächelte, als er die Brieftasche an sich nahm. Ich hatte ihn nicht getäuscht; er wußte genau, daß er mich aus der Fassung gebracht hatte. »Sagen wir inspirierend, Genosse Michael«, korri gierte er mich. »Sie wissen jetzt, was wir, und Sie mit uns, rächen müssen.« Er steckte die Brieftasche mit den Photos wieder in seine Aktentasche und holte etwas anderes daraus hervor. »Sie baten um Ihre Befehle. Klar und prakti kabel müßten sie sein, sagten Sie.« Er schob mir ein Bündel Papiere zu. »Sind Ihnen diese Befehle klar und praktikabel genug?« 327
Was er mir gab, war ein Exemplar der Standard-See karte Nummer 2634 der britischen Admiralität. Diese Zahl umfaßt die Küste des östlichen Mittelmeeres von Sour im Norden bis hinunter nach El-Arish. Tel AvivYafo liegt etwa in der Mitte zwischen beiden. Das auf Leinwand aufgezogene Papier, auf das sie gedruckt war, fühlte sich vom vielen Gebrauch schon ganz lappig und schmierig an; die Karte war allzuoft aufgeschlagen und wieder zusammengefaltet worden, aber sie war noch immer lesbar. Irgend jemand hatte mit purpurroter Tinte eine Route für ein Schiff auf Südkurs auf ihr eingezeichnet. Bis zum Caesarea-Breitengrad verlief die Route in durchaus üblicher Weise auf hoher See, etwa zwanzig Seemeilen von der Küste entfernt auf einem Kurs von 195 Grad. Dann war eine Wendung von 20 Grad in östlicher Richtung vorgesehen, die bis zur 20-FadenLinie beibehalten wurde. Hier wechselte der Kurs er neut und verlief nun auf 190 Grad für etwa zwölf Meilen parallel zur Küste. Knapp südlich von Tel Aviv wandte er sich nach Westen, um irgendwo in der Höhe von Ashdod wieder in die ursprüngliche Hoch seeroute einzumünden. In dem freien Raum oberhalb der Kompaßrose hat te der Errechner des Kurses die Aufeinanderfolge der diversen Kurswechsel und deren zeitlichen Ablauf eingehend erläutert. Die Ausführungen schlossen mit dieser Anweisung: »Auf Kurs 190° Süd von 21 Uhr 15 bis 23 Uhr 00 darf das Schiff keinesfalls mehr als 6 Knoten Fahrt machen.« 328
Natürlich prägte ich mir alles das nicht sogleich ein; aber ich wollte kein zu großes Interesse an den Tag le gen. Nachdem ich einen kurzen Blick auf die Karte geworfen hatte, faltete ich sie wieder zusammen. »Nun?« fragte er. »Ich sehe keine Schwierigkeit, Genosse Salah. Die Weisungen scheinen mir ganz eindeutig und präzis abgefaßt zu sein. Ich selber bin kein ausgebildeter Seemann, aber dies sieht ganz danach aus, als sei es die Arbeit eines ausgebildeten Seemanns.« »Das ist sie auch.« »Und sollte der Kapitän wirklich noch irgendwel che Fragen haben, können Auskünfte eingeholt wer den, nehme ich an.« »Fragen dürften sich erübrigen. Machen Sie dem Kapitän nur unmißverständlich klar, daß er diesen Be fehlen strikt Folge zu leisten hat.« »Ja, Genosse Salah. Den Zeitpunkt zum Auslaufen des Schiffs wird jedoch der Kapitän selber bestimmen müssen. Sonst kann er nicht dafür einstehen, daß sich das Schiff am dritten abends in der vorgeschriebenen Position befindet. Im Hafen von Latakia ist jegliche Schiffahrtsbewegung zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang untersagt. Die Einschiffung müßte voraussichtlich am zweiten Juli vor Sonnenaufgang stattfinden, damit die Amalia am dritten frühzeitig auslaufen kann. Aber der Kapitän muß zu diesen Punkten gehört werden.« »Also gut, konsultieren Sie ihn meinetwegen und lassen Sie mich Ihre Vorschläge wissen. Aber merken 329
Sie sich eines – die angegebenen Zeiten für die Kurs änderungen müssen unter allen Umständen eingehal ten werden.« »Ich verstehe.« »Dann danke ich Ihnen für Ihre Gastfreundschaft und bitte Sie, mich jetzt zurückzufahren. Ich habe noch viel zu arbeiten, bevor ich mich schlafen legen kann.« Er hatte sich beim Sprechen vorgebeugt und die Hand ausgestreckt. Die Aktentasche war noch immer offen, und im ersten Augenblick dachte ich, er würde jetzt die Karte zurückfordern. Dann wurde mir klar, daß er nur nach seinem Glas Brandy griff; aber die Geste hatte mich doch nervös gemacht. »Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldi gen wollen«, sagte ich. »Ich möchte diese Anweisun gen nur rasch in meinen Privatsafe legen.« Er zuckte die Achseln. »Bitte.« Ich blieb ein paar Minuten lang fort, weil ich erst eine Abschrift der Instruktionen herunterkritzelte, die auf der Karte vermerkt waren, bevor ich diese in den Safe legte. Ich hatte nämlich Angst, er könne es sich plötzlich anders überlegen und sie mir wieder abfor dern. Daß ich diese überflüssigen Vorsichtsmaßnah men traf, ist bezeichnend für den Geisteszustand, in dem ich mich damals befand – statt klar zu denken und besonnen zu handeln, reagierte ich nervös und überängstlich, wobei ich gegen grobe Fehleinschät zungen der Situation alles andere als gefeit war. Als ich hinunterkam, saßen sie schon im Wagen, 330
Teresa am Steuer, Ghaled auf dem Rücksitz. Er hatte die Tür offengelassen, als erwarte er, daß ich mich ne ben ihn setzte, und so stieg ich zu ihm. Eine Zeitlang sprach er nur mit Teresa. Er gehörte zur schlimmsten Sorte von Mitfahrern; nicht nur, daß er ihr sagte, welchen Weg sie zu fahren habe, obwohl ihm nachgerade klar sein mußte, daß sie ihn kannte; er sagte ihr auch, wie sie zu fahren hatte. »Langsam jetzt, diese Kurve ist gefährlich. Biegen Sie ein, biegen Sie hier ein! Steuern Sie mehr nach rechts. So, jetzt können Sie schneller fahren. Haben Sie die Schein werfer eingeschaltet?« Teresa blieb bewundernswert ruhig. Freilich hatte sie schon einmal an diesem Abend das Vergnügen gehabt, ihn zu fahren, und wußte daher, was zu erwarten stand. Dennoch fiel ihr »Ja, Genosse Salah« merklich knapper aus. Es war daher eine Erlösung, als er, nachdem wir in die Straße nach Der’a eingebogen waren, seine Aufmerksamkeit mir zuwandte. »Welche Erfahrungen haben Sie mit Dieselmaschi nen gemacht?« fragte er. Die Frage war so unerwartet gekommen, daß ich im ersten Augenblick nichts mit ihr anzufangen wußte. »Was den Gebrauch anlangt, Genosse Salah?« »Was den Unterhalt und die Instandsetzung be trifft, Genosse Michael.« Und dann begriff ich endlich, oder glaubte doch, begriffen zu haben. Mir fiel wieder ein, was Abouti über den kleinen Kakerlak gesagt hatte, der den Mer cedes-Diesel-Lastkraftwagen fuhr. Sie mußten Ärger 331
mit dem Ding haben. Es lag nahe, diesen Schluß zu ziehen. Woher sollte ich wissen, daß es nicht der rich tige war und ich ihn übereilt gezogen hatte? »Meine ganze Erfahrung mit Dieselmotoren«, sagte ich, »beschränkt sich auf das, was man nicht tun darf. Zum Beispiel erlauben, daß jemand, der sich nicht damit auskennt, wie geschickt er sonst auch sein mag, sich daran zu schaffen macht. Dieselmotoren sprechen auf stümperhaftes Herumdoktern nicht an.« »Wenn es zum Beispiel darum ginge, eine Einspritz pumpe zu reparieren?« »Versuchen Sie nicht, das selber zu besorgen. Las sen Sie sie durch eine neue ersetzen und den Aus- und Einbau vom Kundendienst des Herstellers vorneh men.« »Und wenn das nicht möglich ist?« Das wunderte mich, denn ich war mir ziemlich si cher, daß es in Damaskus eine Mercedes-Vertretung gab. Dann glaubte ich erkannt zu haben, wo der Hase im Pfeffer lag. Der Laster gehörte Ghaled nicht, er hatte ihn sich nur ›ausgeliehen‹. Und selbst wenn das mit Einwilligung des Besitzers geschehen sein sollte, mochte eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Mercedes-Vertreter nicht ratsam erscheinen. »Sie könnten eine Ersatzpumpe aus Beirut anfor dern und sie von einem hiesigen Diesel-Fachmann einbauen lassen.« Offenkundig befriedigte ihn diese Auskunft nicht. »Warum kann die Pumpe nicht repariert werden?« Ich versuchte ihm klarzumachen, daß diese Pumpen 332
knifflige Dinger seien und man in jedem Fall besser dar an täte, sie zu ersetzen, wenn sie streikten. In der An nahme, was ihn störe, sei möglicherweise die Geldaus gabe, wies ich ihn darauf hin, daß er versuchen könne, die alte Pumpe gegen eine von der Firmenwerkstatt in standgesetzte auszutauschen. Er hörte mir zwar zu, war aber an dem, was ich ihm sagte, offenbar nicht interes siert. Wenn meine Kombinationsgabe mich nicht im Stich gelassen hätte und ich nur ein klein wenig hellhö riger gewesen wäre, würde ich über kurz oder lang ge wiß gemerkt haben, daß wir aneinander vorbeiredeten und daß das, was ich ihm sagte, wiewohl richtig, aus ir gendeinem Grund irrelevant war. Aber ich merkte nichts und versäumte es daher auch, ihm die Fragen zu stellen, die ich ihm hätte stellen sollen. Als wir uns der Batteriefabrik näherten, ließ er das Thema Dieselmoto ren fallen und verlegte sich wieder darauf, Teresas Fahrweise vom Rücksitz aus laufend zu kommentieren. Zu mir gewandt, sagte er, als wir vor dem Werktor vorfuhren: »Sie haben mich um eine Liste mit den Namen der außerplanmäßigen Passagiere gebeten.« »Ja, Genosse Salah.« »Melden Sie sich morgen abend um acht Uhr drei ßig. Ich gebe Ihnen dann die Namen.« »Ja, Genosse Salah.« Ich stieg aus und hielt ihm die Tür auf. Ahmad und Musa standen bereits am Neben eingang und erwarteten ihn. Sie hatten die Torbe leuchtung eingeschaltet. Dem Wagen entstiegen, richtete sich Ghaled straff auf, klemmte seine Aktentasche unter den linken Arm 333
und marschierte mit raschen Schritten zum Tor, wo Ahmad und Musa salutierten und er den militärischen Gruß seinerseits erwiderte. Er hatte nichts mehr zu uns gesagt und sich auch nicht umgeblickt. Offenbar konnten wir gehen. Ich schloß die hinteren Wagentüren und setzte mich neben Teresa. Aboutis Raupenschlepper hatten den Platz dort gründlich umgepflügt, und Teresa mußte beim Wenden scharf aufpassen. Wir sprachen erst, als wir wieder auf der Hauptstraße waren. »Steht auf dieser Karte alles, was du wissen woll test?« fragte sie dann. »Ich glaube, es ist alles darauf vermerkt. Ich hoffe es jedenfalls.« »Waren diese Bilder sehr schlimm?« »Sehr.« »Ich dachte es mir. Du hast ausgesehen, als werde dir schlecht.« »Daß es nicht dazu kam, wundert mich selbst.« »Ich habe dir ja gesagt, er ist wahnsinnig.« Ich antwortete nicht. ›Wahnsinnig‹ war nicht das Wort, das ich benutzt haben würde. Der einzige wirk lich wahnsinnige Mensch, dem ich bis dahin begegnet war – ein Mann, der für uns gearbeitet und eines Tages versucht hatte, seine Frau und sich selbst umzubringen – hatte mir leid getan. Ghaled hat mir nie leid getan. Und es tut mir auch heute nicht leid um ihn. An jenem Abend verspürte ich jedoch nicht das geringste Verlan gen, mich mit Teresa auf eine Diskussion über die Fra ge ›Verbrecher oder Verrückter?‹ einzulassen. 334
Später, im Büro, holte ich die Karte wieder aus dem Safe und legte ein Skalenlineal darauf. Die schriftlichen Instruktionen und die mit Tinte eingezeichnete Route stimmten genau überein. Wenn die Israelis das Schiff aufbringen wollten, mußten sie das, wie ich vorgeschlagen hatte, außerhalb der Ho heitsgewässer tun und sich frühzeitig einschalten, das hieß, sobald das Schiff südlich von Caesarea seinen Kurs zum zweitenmal änderte. Überdies, das wurde mir jetzt klar, mußten sie die Bestimmungen des Internationalen Seerechts ganz be trächtlich beugen, da sich das Schiff, wenn sich Tou zani in der Lage sah, den Instruktionen, die ich ihm zu geben beabsichtigte, Folge zu leisten, sogar noch wei ter außerhalb der Sechs-Meilen-Grenze befinden würde, als es die auf der Karte eingezeichnete Route vorsah. Während ich diesen Punkt noch erwog, sah ich plötzlich die zweite Markierungslinie. Sie war mit Bleistift eingezeichnet und dann ausra diert worden, aber dennoch schwach sichtbar. Die Li nie markierte einen Kurs, der um etwa eine halbe Seemeile weiter westlich lag als der unterhalb von Caesarea mit Tinte eingezeichnete und parallel zu die sem verlief. Ich sah die Linie zwar; aber ich maß ihr keine son derliche Bedeutung bei. Sie konnte auf einen Alterna tivkurs zurückgehen, der zunächst eingezeichnet und dann zugunsten des küstennäheren Kurses verworfen worden war. Sie konnte aber ebensogut auch mit dem 335
mit Tinte eingetragenen Kurs nicht das geringste zu tun haben. Auf diesem abgegriffenen Leinwandpapier befanden sich noch weitere halb ausradierte, fleckige Bleistiftspuren, allesamt offenkundig Relikte von frü heren Passagen. Ich meinte jetzt alles zu wissen, was ich wissen mußte. »Geht morgen eine Maschine nach Rom?« »Alitalia. Soll ich probieren, noch einen Platz zu buchen?« »Du bekommst einen Platz. Sprich mit Fawzi. Gib morgen früh gleich die Telegramme auf, die du auch sonst immer dem Hotel und deinem Anwalt schickst.« »Was ist mit dem Telegramm nach Famagusta?« »Das gebe ich auf, wenn du abgeflogen bist.« Ich schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte ich: »Te resa, ich will, daß du erst nach dem dritten Juli zu rückkommst.« Sie erhob natürlich Einwände, aber ich blieb fest. »Angenommen, Ghaled schöpft Verdacht.« »Ich sehe nicht recht, warum er das tun sollte.« »Er kann jederzeit Verdacht schöpfen.« »Dann schicke ich dir ein Telegramm mit der Order zurückzukommen. Du antwortest, daß du das nächste Flugzeug nimmst, tust es aber nicht. Statt dessen schickst du ein zweites Telegramm und sagst, du seist aufgehalten worden. Oder unterbrich den Rückflug in Nikosia und laß dich dort aufhalten. Es sind bloß zehn Tage bis zum dritten. Die kannst du überbrük ken. Wenn es hier tatsächlich irgendwelche Schwie rigkeiten geben sollte, werde ich mich schon irgend 336
wie herauswinden, aber ich will nicht, daß du unnötig darin verwickelt wirst.« »Es gefällt mir nicht.« »Aber mir. Ich habe eine Sache weniger, über die ich mir Gedanken zu machen brauche.« »Sache!« »Deine Verwicklung in diese Geschichte ist eine Sa che. Verschone mich bitte mit weiteren Argumenten. Ich muß jetzt die Meldung aufsetzen, die du morgen mitnimmst.« Am Nachmittag des darauffolgenden Tages flog Tere sa nach Rom. Ich brachte sie nicht zum Flughafen, weil ich dort bekannt war und vermeiden wollte, daß ihre Abreise unnötige Aufmerksamkeit auf sich zog. Um vier rief ich den Flughafen an, um mich zu vergewissern, daß die Maschine pünktlich abgeflo gen war. Dann setzte ich das Signaltelegramm in der mit Barlev vereinbarten Form auf und wies den Bü rogehilfen an, es unserem Büro in Famagusta zu schicken. Danach versuchte ich, mir über die ganze Angelegenheit keine weiteren Gedanken zu machen. Das wollte mir zwar nicht gänzlich gelingen, aber immerhin arbeitete ich bis sieben Uhr durch und gab dem Bürogehilfen seine Anweisungen für den näch sten Tag. Ohne Teresa fühlte ich mich einsam in der Villa. Wäre sie wirklich verreist gewesen, um ihren Anwalt zu sprechen, hätte ich früh zu Abend gegessen und mich anschließend schlafen gelegt. Aber diesmal wür 337
de sie statt achtundvierzig Stunden zehn Tage lang fort sein und ich mich um acht Uhr dreißig bei Ghaled melden müssen. So saß ich denn nach meinem frühen Abendessen noch eine Weile herum und überlegte mir, wann der Mann, der sich als Michael Howell bei ihr melden sollte, sie wohl frühestens kontaktieren werde. Würde es morgen vormittag sein? Morgen nachmittag? Wenn Barlev die Information im Lauf des Tages erhielt, verblieb ihm reichlich Zeit. Ich je denfalls hatte getan, was ich konnte. Jetzt hing alles von ihm ab. Es hatte ein paarmal geblitzt und auch einige Trop fen geregnet, was im Juni nur selten vorkam; der Abend war unangenehm schwül. Mein Hemd klebte mir am Körper, als ich vor der Batteriefabrik hielt. Ahmad ließ mich ein. Er sah mich zum erstenmal oh ne Teresa und wollte wissen, wo sie war. Ich sagte ihm, daß ihr nicht befohlen worden sei, sich zum Rapport zu melden. Das entsprach der Wahrheit, und er stellte keine weiteren Fragen. Aber Ghaled tat es. »Sie haben gestern abend nichts davon gesagt, daß sie nach Rom fliegt.« »Ich hatte keine Gelegenheit dazu, Genosse Salah. Sie muß ihren Anwalt in geschäftlichen Angelegenhei ten sprechen. Ich erwarte sie Donnerstag zurück.« »Sie selber haben sich korrekt abgemeldet und um meine Genehmigung gebeten, bevor Sie geschäftlich nach Beirut reisten. Und als Sie Ihr Büro in Famagusta besuchten, ebenfalls.« 338
»Miss Malandra hat rein private Dinge in Rom zu regeln. Leider habe ich ihr die Erlaubnis dazu gege ben.« »Als Genossin hat sie überhaupt keine Privatange legenheiten zu haben, und Sie sind nicht berechtigt, ihr eine solche Erlaubnis zu erteilen. Dazu hätte ein Antrag gestellt und genehmigt werden müssen. Um was für Privatgeschäfte handelt es sich?« »Um die Besitzungen ihres Vaters. Sie hat Lände reien geerbt, die verkauft werden sollen, glaube ich.« »Heißt das, daß sie reich ist?« »Es ist einiges Geld da. Wieviel, weiß ich nicht, Ge nosse Salah.« »Nun, das soll sie uns selber sagen, wenn sie zurück ist. Merken Sie sich, daß Genehmigungen für Reisen in Zukunft immer erst eingeholt werden müssen.« »Ja, Genosse Salah.« »Gut. Sie wollten die Liste haben. Hier ist sie.« Ich warf einen Blick auf das Papier, das er mir aus händigte. Es standen vier Namen darauf. Ich blickte hoch. »Eine Frage, Genosse Salah.« »Was denn noch? Sie haben die Liste.« »Die Hafenbehörden werden möglicherweise die Papiere sehen wollen. Werden die Ausweise dieser Personen auf dieselben Namen ausgestellt sein, unter denen sie auf der Liste aufgeführt sind?« »Selbstverständlich. Wir sind keine Narren.« »Ich möchte nur sicherstellen, daß alles, was ich zu arrangieren habe, reibungslos abläuft, Genosse Salah.« 339
»Sehr richtig, Genosse Michael. Nein, gehen Sie nicht. Und stehen Sie nicht herum. Setzen Sie sich.« Ich gehorchte und wartete. »Da Ihnen so viel daran liegt, daß alles am Schnür chen klappt, was wir planen, können Sie uns vielleicht noch bei einer weiteren wichtigen Sache behilflich sein.« »Gern, Genosse Salah.« Aus irgendeinem Grund reizte ihn meine Antwort. »Gern, Genosse Salah.« Er ahmte meinen Akzent nach, als er sie wiederholte, und tat ein übriges, indem er ihr einen servilen Ton gab. »Wie leicht Ihnen das über die Lippen kommt, und wie viele heimliche Ge danken sich dahinter verbergen! Ich kann sie fast hö ren, Genosse Michael. Ich kann fast hören, wie sie klick-klick machen. Was will er jetzt wieder? Wie wird sich das für mich auswirken? Kann ich ablehnen? Was wird es mich kosten? Klick, klick, klick!« Ich lächelte freundlich. »Macht der Gewohnheit, fürchte ich, Genosse Ghaled. Wie Sie selber gesagt ha ben, denke ich wie ein Geschäftsmann.« Es konnte nicht schaden, ihn jetzt an die verlorenen Backgam mon-Partien zu erinnern. »Und warum auch nicht? Das bin ich ja schließlich.« »Und dem dummen Soldaten daher überlegen, wie?« Offenkundig hatte es meiner Anspielung auf seine Niederlagen im Spiel nicht bedurft; sie nagten noch immer an ihm. Überdies hatte er vermutlich einen leichten Kater. »Vom Soldatenhandwerk verstehe ich nichts, Ge nosse Salah.« 340
»Nein, und von dem Plan sehen Sie nur das Äu ßerliche. Ein Schiff, einen elektronischen Auslöser, Sprengladungen, die auf dem Festland gelegt wer den. Was sonst noch dazugehört, zählt nicht für Sie. Der Geschäftsmann denkt, das alles sei kinder leicht.« »Weit entfernt. Ich kann mir gewisse Schwierigkei ten durchaus vorstellen.« Er schnaubte geringschätzig, also fuhr ich fort. »Der Sprengstoff für die Ladungen zum Beispiel. Der mußte erst besorgt und über die Grenze nach Is rael geschafft werden. Keineswegs einfach, das. Dann mußte er, sicher doch als irgend etwas anderes getarnt, an den vorgesehenen geheimen Ort oder die geheimen Orte verbracht werden. Auch nicht so leicht. Das glei che gilt für die Zünder, die hier angefertigt wurden, und die Abschußvorrichtungen. Auch sie mußten an ihren vorgesehenen Bestimmungsort gebracht werden, an die richtigen Orte, und das zum richtigen Zeit punkt. Dann mußten die Sprengkörper zusammenge setzt und, sobald das geschehen war, auf sorgfältig ausgesuchte Plätze verteilt und dort versteckt ange bracht oder hinterlegt werden. Selbst ein Geschäfts mann sieht diese Schwierigkeiten.« »Sehr gut.« Er schien einigermaßen besänftigt zu sein, brachte es aber noch immer nicht fertig, die Sa che auf sich beruhen zu lassen. »Sie können sich Schwierigkeiten und komplexe Probleme vorstellen, aber können Sie auch Lösungen für sie finden? Wenn Sie von mir beauftragt wären, hundert Flugreiseta 341
schen aufzutreiben, sagen wir, fünfundzwanzig Stück von jeder der vier Fluggesellschaften, die den Flugha fen Lod anfliegen – was würden Sie sagen?« »Ist es das, womit Sie mich beauftragen wollen, Genosse Salah?« »Wenn ich es täte, was würden Sie sagen? Flugreise taschen von Pan American, Swissair, KLM und Sabe na zum Beispiel, fünfundzwanzig von jeder Gesell schaft. Nun?« »Ich würde sagen, daß es schwierig sei. Ich würde sagen, daß sie gestohlen werden müßten.« »Dann wären Sie aber im Irrtum.« Jetzt fühlte er sich merklich besser. »Schwer im Irrtum. Es bedurfte sorgfältiger Planung und eingehender Überlegung, aber sie wurden allesamt auf ganz legale Weise be schafft.« »Zwecks Unterbringung der Sprengladungen, neh me ich an.« »Natürlich. Was könnte in all diesen überfüllten Touristenbussen und Hotels harmloser sein als eine Flugreisetasche, die geduldig darauf wartet, von ihrem Besitzer abgeholt zu werden?« »Ich dachte, daß in Lod alle Flugreisetaschen durch sucht werden.« Über soviel Ahnungslosigkeit und Beschränktheit konnte er nur seufzen. »Die Flugreisetaschen werden durchsucht, bevor Fluggäste, die nach Israel wollen, in die Maschine gelassen werden. Unsere Flugreiseta schen werden selbstverständlich nicht von eintreffen den Fluggästen getragen. Sie befinden sich bereits im 342
Land und können jederzeit mit Sprengladungen ver sehen und an ihre endgültigen Bestimmungsorte ge schafft werden.« »Ein genialer Plan, Genosse Salah.« Er hatte zu mindest den Vorzug, einfach zu sein. Ich fragte mich, ob Barlev genügend Scharfsinn aufgebracht haben mochte, um aus meinem Bericht über den Test diesen Schluß zu ziehen. Wahrscheinlich nicht. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das Wort ›Flugreisetasche‹ benutzt hatte. Ich konnte auch einfach ›Tasche‹ gesagt haben. Es war ohnehin eine Pakistani-Tasche gewe sen, und die Pakistani-Fluggesellschaft flog Israel nicht an. Wenn sie eine Swissair- oder El-Al-Tasche benutzt hätten, wäre mir das möglicherweise bedeut sam vorgekommen, aber das hatten sie nicht, und jetzt gab es ohnedies nichts, was ich von mir aus noch hätte tun können. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, Barlev eine Nachricht zukommen zu lassen, selbst wenn es sinnvoll gewesen wäre, das zu tun. Was hätte er zu diesem Zeitpunkt noch unternehmen können? Ein ge nerelles Verbot von Flugreisetaschen wäre wohl schwerlich durchführbar gewesen. »Sehen Sie irgendwelche Schwächen?« »Keine, Genosse Salah. Absolut keine.« Wenn wirklich alles so blendend geplant und organisiert war, wie er meinte, dann blieb es in der Tat der Ama lia Howell überlassen, die nötige Schwäche zu einem späteren Zeitpunkt in den Plan hineinzubringen. »Leider kommen wir nicht mit allen unseren Auf gaben so zügig voran. Kleinere Rückschläge gibt es 343
immer wieder. Gestern abend sprach ich mit Ihnen über Dieselmaschinen. In diesem Zusammenhang können Sie sich nützlich machen.« Einen Augenblick lang hatte ich eine absurde Visi on meiner selbst, wie ich mit dem Mercedes-Vertreter in Damaskus um den Preis einer wiederinstandgesetz ten Einspritzpumpe feilschte. Dann fuhr er fort: »Wissen Sie, was ein Rouad-Küstenfahrer ist?« »Ja, Genosse Salah.« »Gut. Wir haben einen solchen Küstenfahrer zu un serer Verfügung. Wir benutzen ihn für den Nach schub aus dem Norden.« »Ich verstehe.« Und ich glaubte in der Tat, verstan den zu haben. Barlev hatte gesagt, das pak erhalte Ma terial- und Waffenlieferungen, die durch die Türkei geschmuggelt wurden. »Er hat eine Dieselmaschine.« »Sie meinen einen Hilfsmotor?« Der RouadKüstenfahrer ist ein Schoner, ein Segelschiff. »Eine Maschine«, erklärte er mit Bestimmtheit. »Bei unserer Arbeit können wir nicht warten, bis ein günstiger Wind aufkommt. Mit dieser Dieselmaschine werden Sie sich befassen.« »Ist es die mit der defekten Einspritzpumpe?« »Die war es. Wir sind nicht die Narren, für die Sie uns zu halten scheinen. Auf die glänzende Idee, daß eine neue Pumpe beschafft werden muß, waren wir nämlich selber schon gekommen. Die neue Pumpe ist bereits eingebaut worden. Aber die Maschine läuft trotzdem nicht, wie sie sollte.« 344
»Was für eine Maschine ist es denn, ich meine, wel ches Fabrikat?« »Sulzer.« »Woher stammt die neue Pumpe?« »Beirut.« »Wer hat sie eingebaut?« »Ein Mechaniker aus dem Ort. Er sagt, er kennt diese Maschinen.« »Aus dem Ort – heißt das Latakia? Rouad?« »Hareissoun. Das ist der Heimathafen des Schoners.« Hareissoun ist ein dreckiger kleiner Fischereihafen unmittelbar nördlich von Banyas, wo die Erdölleitung endet. Die Aussicht, dort einen kompetenten DieselFachmann aufzutreiben, war außerordentlich gering. Ich sagte ihm das. »Was schlagen Sie vor?« »Lassen Sie den Schoner nach Latakia segeln. Dort gibt es einen Mann, der die Reparaturarbeiten fachge recht ausführen wird.« »Was für ein Mann ist das?« »Er heißt Maghout. Er ist Vorarbeiter bei Chantier Naval Cayla am Südbecken.« »Unser Schoner muß in Hareissoun bleiben. Ihr Mann muß dorthin kommen und die Reparatur an Ort und Stelle ausführen.« »›Mein Mann‹ ist er leider nicht, Genosse Salah. Ich kann ihm keine Vorschriften machen. Aber ich könnte Cayla um seine Entsendung bitten.« »Die Sache ist jetzt dringlich. Würden sie auf Ihre Bitte eingehen?« 345
»Sie können nicht von ihnen erwarten, daß sie ihn auf kurzfristigen Bescheid hin sogleich freigeben. Er müßte alles stehen- und liegenlassen, um sich sofort auf den Weg machen und einen solchen Job überneh men zu können. Es ist wirklich einfacher, den Schoner unter Segel zu ihm zu bringen.« »Das kommt nicht in Frage. Ich sagte es Ihnen doch schon. Wenn dieser Cayla Ihnen nicht pariert, wird er uns parieren. Ich habe meine Leute in Latakia, das sollten Sie eigentlich noch wissen.« »Ja, Genosse Salah.« Einmal hatten sie schon Befehl gehabt, auf Howell-Schiffen Bomben zu legen. »Dieser Vormann Maghout braucht doch nicht mehr zu tun, als die Ursache des Maschinenschadens festzustellen und dem Mann in Hareissoun zu sagen, was er machen soll. Habe ich recht?« »Das weiß ich nicht, Genosse Salah. Der Mann hat gesagt, daß es an der schadhaften Einspritzpumpe liegt. Er kann sich geirrt haben. Der Fehler mag wo anders stecken. Möglicherweise werden andere Er satzteile benötigt.« »Genau. Es ist eine Frage der Organisation, eine ge schäftliche Angelegenheit. Fahren Sie morgen nach Hareissoun, Genosse Michael. Sprechen Sie mit Ha daya, dem Skipper. Reden Sie, wenn nötig, auch mit diesem Pfuscher, dem Mechaniker aus Hareissoun. Stellen Sie Ihre Fragen, entscheiden Sie, was am besten zu tun ist, und koordinieren Sie die Arbeiten. Berich ten Sie mir morgen abend um diese Zeit über den Stand und Fortgang der Dinge. Wenn Sie meinen, Sie 346
brauchen diesen Vorarbeiter aus Latakia, geben Sie Is sa gleich Bescheid, damit sofort an Cayla herangetre ten werden kann. Haben Sie alles verstanden?« »Ich bin nicht kompetent, Motoren zu beurteilen, Genosse Salah.« »Sie sind kompetent, diejenigen einzuspannen, die sie beurteilen können.« Er lächelte maliziös. »Sie brau chen sich doch nur vorzustellen, der Küstenfahrer in Hareissoun sei ein Howell-Schiff, eines der Schiffe, von denen Sie Modelle haben. Stellen Sie sich vor, die se defekte Maschine koste Sie Firmengeld. Die Schwie rigkeiten dürften sehr rasch behoben sein, glaube ich. Sie nicht?« »Ich glaube nicht an Magie, Genosse Salah.« »Nein, aber Sie tun immer Ihr Bestes. Das wird gut genug sein.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Mr. Hadaya, der Skipper, wird verständigt, daß er Sie morgen zu erwarten hat und Sie in dieser Sache in meinem Auftrag handeln. Wenn Sie sich hier zum Rapport melden, Genosse Michael, erwarte ich nur gute Nachrichten.« Am anderen Morgen fuhr ich in aller Frühe nach Hareissoun. Es war keine erfreuliche oder angenehme Fahrt, aber das machte mir nichts aus. Befremdlich, wie es erscheinen mag, freute ich mich trotz allem auf diesen Tag. In gewissem Sinn war es für mich so etwas wie eine empfindsame Reise. Die Ile de Rouad ist ein Inselhafen südlich von La takia, und früher hatte dort eine Schiffswerft existiert. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte diese 347
Werft mit dem Bau von 200-Tonnen-Schonern be gonnen und sich damit in jenem Teil der Welt einen gewissen Namen gemacht. Die Schoner waren ganz und gar aus Holz, aber ungemein solide gebaut, flach gedeckt und bermudageriggt und hatten zwei nach achtern geneigte Masten und einen schweren Bug spriet; sehr brauchbare kleine Schiffe. Obwohl schon seit Jahren keines mehr gebaut worden war, befuhr noch immer eine ganze Anzahl von ihnen die Levan teküste. Als ich ein kleiner Junge war, hatten der Agence Howell drei dieser Rouad-Schoner gehört, und es gab einen kleinen Standardwitz über sie, den mein Vater gern erzählte. Da er über Dinge, die ihm gehörten, im allgemeinen keine Scherze zu machen pflegte, habe ich diesen nie vergessen. Er läßt sich nicht in drei Sätzen wiedergeben, weil er unverständlich bleibt, wenn man den Hintergrund nicht kennt. Schiffen muß von Zeit zu Zeit der Rumpf gesäubert werden. Zu diesem Zweck wird der herkömmliche kleine Küstenfahrer auf einem Slip aus dem Wasser gezogen. In Rouad je doch pflegten sie die Schoner durch seitliches Taljen an den Masten zu krängen. Die auf diese Weise freige legte Seite des Schiffsrumpfes wurde dort nicht, wie sonst üblich, sauber abgekratzt, sondern mit Kerosin übergossen, angezündet und durch Abbrennen des Muschel-, Tang- und Schmutzbelags gesäubert. Mein Vater hatte mich wiederholt mitgenommen, damit ich mir das ansehen konnte. Und bei dieser Gelegenheit war dann der besagte Scherz fällig. Er bemerkte, daß 348
die Agence Howell »ihre Boote verbrenne«. Nicht sonderlich komisch, zugegeben, aber damals habe ich jedesmal darüber lachen müssen. Das Merkwürdige an der Sache war, daß dabei nie etwas passierte; gebrannt haben immer nur das Kerosin, die Muscheln und der Dreck. Einen hölzernen Schiffsrumpf in Brand zu set zen, muß doch schwerer sein, als gemeinhin ange nommen wird. Ich freute mich also darauf, einen Rouad-Schoner wiederzusehen. Ich stellte den Wagen am Ortsrand von Hareissoun ab und ging zu Fuß zum Hafen. Als erstes sah ich seine Masten. Er war am Heck an der Mole festgemacht. Ich ging zu ihm. Ich hatte ganz vergessen, wie klein diese Schiffe wa ren. Einundzwanzig Meter Wasserlinie sind nicht viel, und der hohe Vordersteven und massive Bugspriet ließen den Schoner sogar noch kleiner erscheinen. Er mochte gut seine vierzig Jahre alt sein. Über der Was serlinie gab es Spuren von Farbe, aber nicht viele; er war ein Arbeitsschiff, und sein Anstrich – schwarzes, teerhaltiges Zeug – befand sich dort, wo es nötig war: unterhalb der Wasserlinie. Am Bug standen in vergilbten gelben Buchstaben der Name seines Heimathafens Jeble und das arabi sche Zahlwort khamsa: Nummer fünf aus Jeble. Bevor das pak den Schoner übernommen hatte, war er ver mutlich zur Schwammfischerei benutzt worden. Jetzt wurde er wieder zur Frachtbeförderung verwendet und lag tief genug im Wasser, um vermuten zu lassen, daß er voll beladen war. 349
Der alte Mann, den ich auf Deck stehen sah, war wie ein Fischer gekleidet und hätte der Skipper sein können, aber als ich ihn anrief, rief er seinerseits je manden herbei, der sich unter Deck befand. Der Mann, der an Deck kam, war alles andere als der Typ des Fischers. Wenn man von dem dunkelblauen Overall absah, den er trug, hätte man ihn für den jun gen Oberkellner im Semiramis-Hotel halten können, ein Eindruck, der durch den Umstand, daß er ein klei nes Brett mit darangehefteten Notizblättern wie eine Menükarte in der Hand hielt, noch verstärkt wurde. »Mr. Hadaya?« fragte ich. »Mr. Howell?« »Ja.« »Einen Augenblick, bitte.« Der alte Mann ließ eine Strickleiter über das Heck hinab, und ich kletterte schwerfällig hinauf. Hadaya half mir an Deck. »Ein bißchen unbequem, leider«, sagte er, »aber wir legen auch gar keinen Wert auf Besucher.« »Das ist schon in Ordnung.« Er klang wie ein Algerier. Sein Overall war nicht zugeknöpft und gab den Blick auf eine goldene Kette mit einer goldenen Erkennungsmarke daran frei, die er auf der unbehaarten nackten Brust trug. Eine Ta schenlampe ragte aus seiner Brusttasche hervor. Sein Lächeln war gewinnend und offen. »Darf ich Ihnen sagen, welche Überraschung es für mich ist, mit Mr. Howell als einem Genossen zu spre chen?« 350
»Sind wir uns schon einmal begegnet, Mr. Hadaya?« »Nein, aber vor einiger Zeit wäre ich von Ihrer Reederei beinahe angeheuert worden. Die Stelle eines Zweiten Offiziers war frei. Ihr regulärer Mann hatte sich das Bein gebrochen. Das war in Bône. Ich bewarb mich, aber den Posten hat ein anderer bekommen.« »Tut mir leid.« »Es wäre sowieso keine Dauerstellung gewesen.« Wieder blinkte sein rasches Lächeln. »Ebensowenig wie diese hier. Wollen Sie sich die Maschine gleich an sehen oder erst etwas darüber hören?« »Etwas darüber hören, denke ich. Was ist mit die sem Mechaniker aus dem Ort? Arbeitet er noch?« »Nein, ich habe ihn weggeschickt. Er war mir wärmstens empfohlen worden und hatte einen Werk zeugkasten. Ich habe ihn die alte Pumpe ausbauen und eine neue einbauen lassen. Mit der alten Pumpe lief die Maschine unregelmäßig, aber sie lief. Mit der neuen läuft sie überhaupt nicht mehr. Ich glaube, sie ist ganz falsch eingestellt.« »So?« »Ich vermute das nur.« Er grinste. »Der Mechani ker meinte, daß es an der Zündung liegt.« »Oh.« »Ja. Und da habe ich ihn weggeschickt. Ich glaube zwar nicht, daß er irgendeinen ernstlichen Schaden angerichtet haben kann, aber danach wußte ich auch, daß uns mit ihm nicht geholfen ist. Die Fischerboote, die er kennt, haben alle Benzinmotoren. Das habe ich erst hinterher erfahren.« 351
»Und die Eigner in Jeble? Können die nicht helfen?« »Wir sind die Eigner, genauer gesagt, Genosse Salah ist es.« »Ich hatte gedacht, das Schiff sei gechartert.« »Wir haben es billig kaufen können. Zu billig.« Er pochte sich auf die Brust. »Es ist alles meine Schuld. Das habe ich dem Genossen Salah auch gesagt. Er hat immer Verständnis, wenn ein Genosse offen einge steht, einen Fehler gemacht zu haben. Ich hätte diesen Ärger voraussehen sollen. Das Schiff hat die richtige Größe für den Job, aber diese Maschine ist zwanzig Jahre alt, und wir haben ihr zuviel zugemutet.« »Auf den Fahrten nach Norden?« Er nickte. »Nie unter Segel. Ständig mit Maschi nenkraft. Und so gut wie überhaupt keine Wartung. Da kann man sich nicht wundern, wenn die Maschine streikt. Natürlich mußte das ausgerechnet jetzt passie ren, aber besser jetzt als später. Wollen Sie sie sehen?« Durch eine Nebenluke gelangte man über eine Lei ter direkt in den ›Maschinenraum‹ hinunter. Ur sprünglich, nahm ich an, hatte er wohl zum achteren Laderaum gehört. Dann hatte man ein Schott einge zogen, um die Maschine in einem geschlossenen Raum unterzubringen, aber er war so klein wie möglich be messen worden. Man konnte sich kaum rühren darin, und der Ölgestank war unerträglich; aber obwohl sonst alles vor Schmutz starrte, war das bei der Ma schine selber nicht der Fall. Die Wartung mochte un zureichend gewesen sein, aber gänzlich vernachlässigt worden war sie keinesfalls. 352
»Wieviel Fahrt hat sie denn gemacht?« fragte ich. »Bevor die Pumpe streikte, meine ich.« »Sechs Knoten. Manchmal auch ein bißchen mehr.« Er wies mit dem Strahl der Taschenlampe in eine Ek ke. »Da ist die alte Pumpe.« Sie lag auf einem Ölkanister, der gegen das Schott geschoben war. Ich interessierte mich nicht wirklich für die alte Pumpe, machte aber eine Schau daraus, sie mir anzusehen. »Haben Sie einen Ingenieur?« »Einer aus der Mannschaft kennt sich gut genug aus, um den Schmierer zu machen. Aber er ist jetzt an Land. Bis auf den alten Mann, der Wache hat, sind alle an Land. Befehl vom Genossen Salah. Es könnte sein, daß einer von ihnen Sie erkennt und anfängt zu quat schen.« »Sie schicken die Leute am besten auch morgen an Land. Ich will versuchen, einen Mechaniker aus Lata kia kommen zu lassen, der sich der Maschine an nimmt. Das kann morgen sein, vielleicht auch erst übermorgen, aber Sie sollten die Mannschaft auf jeden Fall von ihm fernhalten. Sein Name ist Maghout.« »Ein Genosse?« »Nein, aber er wird keine Fragen stellen oder reden. Wenn es sich bei der Reparatur um eine relativ einfa che Sache handelt, wird er sie in Ordnung bringen und gehen. Ich hoffe, der Schaden ist leicht zu behe ben, aber möglicherweise wird er irgendwelche Er satzteile, Dichtungen und dergleichen brauchen. Ich schreibe mir für alle Fälle die Typenbezeichnung und 353
die Seriennummer der Maschine auf, damit er unge fähr weiß, was er mitbringen muß.« Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf das kleine Brett, an das mit Notizen bedeckte Zettel ge klemmt waren. »Ich habe mir gedacht, daß Sie sie be nötigen werden.« »Sie haben die Nummern da? Gut.« Er riß das oberste Blatt ab und überreichte es mir mit einer kleinen Verbeugung. »Sehr freundlich von Ihnen, Genosse.« Ich warf einen Blick auf den Zettel, und er leuchtete mir mit der Taschenlampe. Alle Nummern waren auf geschrieben – mit purpurroter Tinte. Ich faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche, bevor ich die Leiter hinaufkletterte. Hadaya, der mir den Vortritt gelassen hatte, blieb einen Augenblick lang zurück, um die Maschinen raumluke zu verschließen, und so schlenderte ich über das Deck zum Vorschiff. Wenn ich auch wiederholt zugesehen hatte, wie bei Rouad-Schonern der Mu schelbelag am Rumpf durch Abbrennen entfernt wur de, so war ich doch nie an Bord eines dieser Schiffe gewesen und daher neugierig. Sie hatten kein Steuer ruder, sondern eine mächtige Ruderpinne. Ich erin nerte mich gerade, daß mein Vater mir erzählt hatte, bei schwerem Seegang reichten zwei Rudergänger nicht aus, um das Schiff auf Kurs zu halten, weshalb Taljen geriggt werden mußten – als ich stolperte und mir die Zehe stieß. Was mich ins Stolpern gebracht hatte, war ein mit 354
Bolzen am Deck befestigter schwerer Holzbalken. Ein Meter davon entfernt und parallel zu ihm befand sich ein zweiter von gleicher Art und Größe. Beide waren etwa zwei Meter lang und offenkundig erst unlängst angebracht worden; die Bolzen zeigten keine Spur von Rost. Außerdem wiesen die Klötze eine Anzahl frisch gebohrter Löcher auf, die nicht verbolzt waren. Ein Schatten fiel auf den Holzbalken, und ich blickte auf. »Träger für Deckladungen«, sagte Hadaya. Er verzog keine Miene, als er das sagte, und so nickte ich nur. Jenseits der Ladeluke konnte ich jetzt auf dem Vorschiff ein weiteres ›Träger‹-Paar sehen. »Es gibt hier im Ort eine Gastwirtschaft, wo wir es sen können, wenn Sie wollen«, fuhr er fort. »Ob das klug ist?« »Klug?« »Ich dachte an die ausdrückliche Weisung, die Ge nosse Salah erteilt hat, weil mich hier womöglich je mand erkennen könnte. Nein, es ist schon besser, wenn ich gleich zurückfahre, Genosse Hadaya. Ich habe noch viel herumzutelefonieren, und nachher muß ich mich beim Genossen Salah melden.« »Dann darf ich Sie nicht länger aufhalten.« Er begleitete mich zum Wagen. Auf dem Weg dort hin erfuhr ich, daß meine Vermutung, er müsse Alge rier sein, richtig gewesen war, daß er bei den Message ries Maritimes gedient hatte und daß von den diversen Anstellungen, die er auf Schiffen innegehabt hatte, keine von Dauer gewesen war. Sein Lächeln verbarg Bitterkeit. Er war von Ghaled persönlich für die Waf 355
fenschmuggel-Operationen des pak angeheuert wor den und ihm treu ergeben; und natürlich auch der ara bischen Sache. Ein sonderbarer junger Mann; gewiß kein hundertprozentiger Söldner, aber doch drauf und dran, es zu werden. Zu Hause eingetroffen, rief ich Issa gleich an und gab ihm die nötigen Instruktionen in Sachen Maghout durch. Selbst wenn meine jüngsten Vermutungen stimmten, bestand keine Möglichkeit, die Reparatur der Maschine zu verzögern. Ghaled wußte bereits Maghouts Namen und Arbeitsplatz. Wenn ich nicht Dampf dahin ter machte, würde er das seinerseits tun; und ich mich verdächtig gemacht haben. Das konnte ich mir nicht lei sten. Wenn ich es nicht verstand, mir sein Vertrauen in gewissem Umfang zu erhalten, würde ich in den bevor stehenden kritischen Tagen gänzlich hilflos sein. Nach beendetem Telefongespräch holte ich die See karte aus dem Safe, um sie mit Hadayas Notizzettel zu vergleichen und nochmals zu studieren. Die purpurrote Tinte war die gleiche, und die Handschrift ebenfalls. Die Kursänderungen hatte also kein anderer als Hadaya festgelegt. Das war Punkt eins. Nun hätte das allein noch nichts sonderlich Unheilvolles zu bedeuten gehabt; ärger, als die Dinge bereits lagen, wären sie dadurch auch nicht geworden. Aber es war nicht das allein. Es gab einen zweiten Punkt. Auf ihrem küstennahen Kurs würde die Fahrt der Amalia sechs Knoten betra gen. Sechs Knoten war die Standardgeschwindigkeit der Jeble 5, wenn sie unter Maschine lief. 356
Und dann Punkt drei: Für die Sorte Deckfracht, mit der ein so kleines Schiff wie die Jeble 5 bestenfalls be laden werden konnte, wurden Trägerbalken von die ser Länge und diesem Umfang, die mit Bolzen am Deck befestigt waren, um die Ladung abzustützen, keinesfalls benötigt. Sie waren installiert worden, um irgend etwas anderes abzustürzen oder zu halten. Was? Die Jeble 5 hatte ihren Frachtraum bereits voll geladen. Punkt vier: Jene zweite Route auf der Seekarte, die nicht vollständig ausradiert worden war. Mir fiel wieder ein, was Barlev mir von der ZwölfZentimeter-Katyusha-Rakete erzählt hatte: FünfzigKilogramm-Sprengkopf, maximale Reichweite etwa elf Kilometer, als Abschußvorrichtung ein ganz sim ples Ding, das sich mit ein paar Winkeleisen im Nu errichten ließ. »Es scheint ihnen nichts auszumachen, es ganz einfach stehenzulassen, wenn sie stiften gehen müssen.« Vermutlich würde es ihnen ebensowenig ausma chen, ›das Ding‹ ins Meer zu werfen, sobald sie es nicht mehr benötigten. Dazu brauchten sie es nur von den ›Trägern‹ abzuheben und über Bord zu hieven. Ich sah mir die Spur des eingezeichneten zweiten Kurses nochmals an, und dabei fiel mir etwas wieder ein, was Ghaled gesagt hatte, als ich ihm ausredete, die Euridice zu benutzen. Er hatte gefordert, daß das Schiff, das ich ihm statt dessen anbot, »aus Eisen« und »nicht kleiner als die Euridice Howell« zu sein habe. Damals hatte ich in der ausdrücklichen Forderung, 357
das Schiff müsse »aus Eisen« sein, lediglich einen Be weis seiner Ignoranz gesehen. Die Agence Howell be saß schon seit Jahren kein Schiff mehr, das aus irgend einem anderen Material bestand. Jetzt allerdings wur de ich stutzig. Es konnte auch ein Lapsus gewesen sein, eine unbeabsichtigte Indiskretion. Der Schoner Jeble 5 war ganz und gar aus Holz ge baut. Wenn er keinen dieser speziellen Radarreflekto ren besaß, mit denen heutzutage immer mehr Jachten ausgerüstet werden, würde er sich auf den Radar schirmen der Küstenstationen nur unscharf abzeich nen. Metallene Gegenstände jedoch – insbesondere, wenn sie auf Deck transportiert wurden – konnten als Reflektoren wirken. In diesem Fall hielt der Schoner, um sich dem Tel-Aviv-Yafo-Bereich unbemerkt nä hern zu können, am besten mittels Maschinenkraft den gleichen Kurs und die gleiche Geschwindigkeit wie ein größeres eisernes Schiff und ließ sich, indem er in geringem Abstand parallel zu diesem steuerte, von dem größeren Schiff gegen die Küste abdecken. Der Schoner Jeble 5 wäre dann unsichtbar. Die Reichweite der Katyusha betrug elf Kilometer. Aus einer zehn Kilometer von der Küste entfernten Position heraus konnte der Schoner eine Menge Schaden anrichten. Ich hatte keine Ahnung, wie es mit seiner Feuerkraft bestellt war, aber daß sich zwei Abschußvorrichtun gen auf Deck befanden, wußte ich. Ich hatte einhun dert Zwischenringe anfertigen lassen, an Munition würde also kein Mangel herrschen. Selbst wenn jede der beiden Abschußvorrichtungen nur zehn Schuß ab 358
feuerte, bis der Schoner beidrehte und die Mannschaft die Abschußvorrichtungen über Bord zu werfen be gann, würden tausend Kilo hochexplosiven Spreng stoffs gezündet worden sein. Barlev zufolge hatte eine Katyusha, die in ein Kran kenhaus eingeschlagen war, zehn Personen getötet. Nun, die Strände von Tel Aviv waren von zahllosen Bauten gesäumt, deren Ausmaße denen von Kranken häusern nicht nachstanden. Einige davon hatten Na men wie Hilton, Sheraton, Park und Dan, aber es gab nicht nur Hotels, sondern auch Appartementhäuser, und alle standen sie so dicht beieinander, daß bei ei nem Raketenbeschuß, selbst wenn er von einem Schiff aus erfolgte, das sich auf hoher See befand, mit einem beträchtlichen Prozentsatz von unmittelbaren Tref fern gerechnet werden mußte. Alles das war selbstverständlich zusätzlich zur Zündung der Sprengladungen geplant, die bereits an die vorgesehenen Plätze auf dem Festland verbracht und geschärft worden waren. Ich hatte Ghaled gesagt, sein Plan sei genial. In Wahrheit entsprach das kei neswegs meiner Meinung. Ich kann nichts Geniales darin sehen, eine Bombe in einem Koffer oder in einer Flugreisetasche zu verstecken. Es ist keine Kunst, Zi vilisten, die sich nicht wehren können, zu töten oder zu verstümmeln. Alles, was man außer Sprengstoff dazu benötigt, ist ein Hang zum Größenwahn, ge nährt von der fixen Idee, Terrorkampagnen könnten den Weg zu immerwährender Menschheitsbeglückung freimachen. 359
Das Novum an Ghaleds Plan war nicht seine Sub stanz, sondern sein Ausmaß. Eine Anzahl an verschie denen Orten plazierter und durch Knopfdruck gleich zeitig gezündeter Bomben würde vermutlich nicht nur Verluste, sondern auch Panik unter der Bevölkerung verursachen. Eine zugleich damit einsetzende Beschie ßung von See her würde das Ausmaß sowohl der Ver wirrung als auch der Zerstörung erheblich vergrößern. Selbst wenn der Operation kein hundertprozentiger Erfolg beschieden sein sollte, konnte Ghaled gewiß sein, in der Weltpresse Schlagzeilen zu machen. Moch te das Lächeln der anderen palästinensischen Führer gezwungen wirken und mochten ihre Glückwünsche aus nicht gerade übervollem Herzen kommen; aber lä cheln würden sie schon müssen, und ihn beglückwün schen ebenfalls. Das pak würde über Nacht zu einem politischen Faktor geworden sein, mit dem es in Zu kunft zu rechnen galt. Inzwischen würden die Israelis ihre Toten begraben und ohne Zweifel Überlegungen anstellen, wie sie am wirksamsten Vergeltung üben konnten. Lange Zeit saß ich da, fühlte mich elend und ver suchte einen Gedanken zu fassen. Es gab keine Möglichkeit, Barlev von diesem zwei ten Teil des Plans in Kenntnis zu setzen. In meinem ängstlichen Bestreben, unbedingt zu gewährleisten, daß er über den ersten Teil unterrichtet wurde, hatte ich mir den einzigen sicheren und störungsfreien Kommunikationskanal dadurch, daß ich Teresa nach Rom entsandte, selber versperrt. 360
Ich könnte Famagusta ein ungereimtes Telegramm schicken, in der Hoffnung, Barlev auf diese Weise zu alarmieren; um aber Oberst Shiklas Zensur zu passie ren, müßte es in der Tat schon sehr ungereimt sein. Deutlich durfte ich in gar keiner Hinsicht werden. Be stenfalls konnte ich hoffen, einen versteckten Hinweis zu übermitteln, daß nicht alles so lief, wie ursprüng lich erwartet worden war. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt nicht die leiseste Ah nung, in welcher Form der Hinweis erfolgen sollte. Außerdem mußte ich mir darüber schlüssig werden, wie ich mich Kapitän Touzani gegenüber verhalten sollte. Es mochte noch angehen, einem Kapitän eine Reihe recht ungewöhnlicher Weisungen zu erteilen und ihm dann ganz im Vertrauen zu sagen, er brauche sich kei ne Sorgen zu machen, falls er in Befolgung dieser Wei sungen mit der israelischen Marine Ärger bekäme; daß ihm unter gar keinen Umständen daraus ein Vorwurf gemacht werden würde und er mit einer angemesse nen Belohnung rechnen könne. Ich gebe zu, daß ich nicht gerade darauf brannte, ihm alles das auseinan derzusetzen; aber ich war immerhin dazu bereit gewe sen. Wozu ich mich jedoch nicht bereit fand, das war, ihm diese ungewöhnlichen Instruktionen zwar zu er teilen, es aber zu unterlassen, ihn darüber aufzuklären, daß er, ein Tunesier, sich dabei in Gesellschaft – und praktisch als Eskorte – eines bewaffneten Schiffes fin den würde, das Order hatte, vor seiner Nase – und möglicherweise über sie hinweg – Tel Aviv mit Rake 361
ten zu beschießen. Das konnte ich nicht tun. Was ich natürlich hätte tun können, wäre gewesen, Kapitän Touzani die volle Wahrheit zu sagen und zu hoffen, daß er mich mit einer ›Ich-scher-mich-den-Teufel darum‹-Handbewegung von aller Verantwortung be freite, die mir die Situation aufgebürdet hatte. Das hätte ich tun können; aber ich erwog es nicht ernst lich. Kapitän Touzanis Vorleben mochte um eine Spur zu abenteuerlich verlaufen sein, und ich traute ihm durchaus zu, daß er sich unter gewissen Umständen über manches hinwegsetzte; aber er ist ein vernünfti ger Mann, ein Realist. Wenn ich gewollt hätte, daß er mir seine fristlose Kündigung einreichte, wäre der si cherste Weg, sie zu bewirken, ohne Zweifel der gewe sen, ihn ins Vertrauen zu ziehen; und seine Offiziere hätten seinen Standpunkt uneingeschränkt geteilt. Ich entschied mich deswegen für den einzigen ande ren Weg, der mir offenstand. Ghaled war in bester Laune, als ich an jenem Abend bei ihm eintraf. Chantier Naval Cayla hatte sich entgegenkommend gezeigt. Maghouts unmittelbarem Vorgesetzten war die Sachlage sehr rasch klargeworden, und so hatten unverhüllte Drohungen unterbleiben können. Der pak-Führer in Latakia hatte gemeldet, daß Maghout anderntags nach Hareissoun komme und so lange dort bleibe, bis er die Reparaturarbeiten zur Zufriedenheit der Kunden ausgeführt habe. Ghaled war davon so angetan, daß er mich sogar 362
lobte, und ich hatte Mühe, ihn von diesem Thema ab zubringen und auf ein anderes zu sprechen zu kom men, das mich jetzt beschäftigte. Er mißdeutete meine gedrückte Stimmung als Bescheidenheit, und warf mir, als ich mich dagegen verwahrte, erneut vor, arro gant zu sein. »Genosse Michael legt keinen Wert dar auf, von uns gelobt zu werden«, sagte er zu Issa. »Ei genlob genügt ihm.« Ich hatte plötzlich genug von diesem Unsinn. Ich verzichtete auf alle Umwege und ging jetzt ganz un umwunden auf mein Ziel los. »Wer bestimmt ein Lob verdient hat«, sagte ich, »ist Genosse Hadaya.« »Sie haben den jungen Mann interessant gefunden?« Ich überhörte den Hohn. »Er hat ein gutes Urteils vermögen. Er hat sich in dem ortsansässigen Mechani ker getäuscht und, als ihm das klar wurde, getan, was zu tun war, um den Fehler zu berichtigen. Andere hät ten vielleicht versucht, sich durchzumogeln und die Sache zu vertuschen. Ich habe mich gefreut, feststellen zu können, daß das für ihn nicht in Frage kam.« »Er wird belobigt werden, keine Angst.« »Er hat etwas gesagt, was mir ganz besonderen Eindruck machte. Es betraf Sie, Genosse Salah.« Das sicherte mir seine Aufmerksamkeit. »Tatsächlich?« »Er sagte, Sie tragen es keinem Genossen nach, wenn ihm ein Fehler unterlaufen ist – vorausgesetzt, er gesteht ihn freimütig ein.« »Einen begangenen Fehler zu verschweigen, ist er 363
bärmlich und grenzt an Verrat. Offene Selbstkritik verdient Achtung.« »Ich bin erleichtert, das zu hören, Genosse Salah.« Er war belustigt. »Warum? Hat der untadelige Ge nosse Michael etwas zu gestehen?« »Ja, Genosse Salah.« Er sah mich scharf an. »Was?« »Eine Fehleinschätzung.« »Was für eine Fehleinschätzung?« Ich sah zu Issa hinüber, als sei ich nicht gewillt, ihn zum Zeugen meiner Schande werden zu lassen. »Es betrifft den Tunesier.« Ich sah Issa nochmals an, und Ghaled verstand den Wink. Er bedeutete Issa zu gehen. »Also, was ist? Los, reden Sie.« »Ich glaube, daß ich das Problem, das Kapitän Tou zani darstellt, unterschätzt habe.« »Was für ein Problem? Der Schiffseigner gibt ihm seine Instruktionen. Er, Ihr Kapitän, führt sie aus.« »Ganz so einfach ist es leider nicht, Genosse Salah. Es haben sich Entwicklungen ergeben, die ich hätte voraus sehen sollen, tatsächlich aber nicht vorausgesehen habe.« »Welche Entwicklungen? Drücken Sie sich ver ständlich aus.« Ich schilderte ihm in einiger Ausführlichkeit, wel cher Methoden ich mich bedient hatte, um den Auf enthalt der Amalia in Tripolis zu verlängern. Seine Miene hellte sich auf. Ich war mit kapitalistischer Ab gefeimtheit zu Werke gegangen; ich hatte bestochen. Das gefiel ihm. 364
»Aber leider«, fuhr ich fort, »sind unerfreuliche Rückwirkungen nicht ausgeblieben. Ich höre aus An cona, daß Kapitän Touzani über die administrative Unfähigkeit der Agence Howell, über Fehler der Fir menleitung und über Verluste, für die man ihn jetzt verantwortlich machen werde, bittere Klage geführt hat. Unsere Agenten in Tripolis und Ancona waren nicht so diskret, wie man es von ihnen hätte erwarten können. Es hat Verstimmungen gegeben und auch verletzten Stolz. Und wenn jetzt Kapitän Touzani in zwei Tagen in Latakia einläuft, wird er wiederum mit einer außergewöhnlichen Situation konfrontiert. Er wird Anweisung erhalten, Passagiere mitzunehmen und darüber hinaus en route nach Alexandria einen Umweg zu machen, der seine Ankunft dort zweifellos verzögern wird. Mit Sicherheit dürfte er gegen diese Weisungen ganz entschieden protestieren.« »Dann entlassen Sie ihn. Nehmen Sie einen anderen Kapitän.« »Ich fürchte, das wird sich nicht machen lassen, Genosse Salah. Der Steuermann auf der Amalia hat kein Kapitänspatent, und selbst wenn er es hätte, gäbe es da gewisse Schwierigkeiten. Kapitän Touzani ist be liebt bei seiner Mannschaft.« »Wollen Sie mir erzählen, daß dieser Mann die Be fehle des Schiffseigners verweigern kann und wird?« »Ich sage, daß er sie möglicherweise nur unter Pro test und mit innerem Vorbehalt akzeptiert. Diese Tu nesier können sehr starrsinnig sein.« Er kniff die Lippen zusammen. »Starrsinnig? Wir 365
haben Genossen, die wissen, wie man mit Starrsinnigen umspringt, Genosse Michael. Überlassen Sie mir Ihren Touzani auf eine halbe Stunde, und sein Starrsinn wird sich gegeben haben, das garantiere ich Ihnen.« »Bedauerlicherweise ist auch das keine praktikable Lösung, Genosse Salah. Kapitän Touzani wird mit seiner Mannschaft auf dem Schiff bleiben. Im übrigen hat er als Kapitän besondere rechtliche Vollmachten und Privilegien, über die sich nicht einmal die Polizei hinwegsetzen kann. Eine Bestrafung Kapitän Touza nis könnte dazu führen, daß die Amalia nicht wie ge plant ausläuft. Was wir von Touzani wollen, ist nicht widerwilliger Gehorsam, sondern uneingeschränkte bereitwillige Kooperation.« »Das ist Ihre Angelegenheit. Ich habe Sie gewarnt. Sie haben genügend Zeit gehabt. Die Verantwortung liegt bei Ihnen.« »Und ich habe sie übernommen, Genosse Salah. Um aber Kapitän Touzanis Kooperation zu gewähr leisten, brauche ich von Ihnen Vollmacht zu einer ge ringfügigen Abänderung des Plans.« »Zu was für einer Abänderung?« »Wenn die Amalia ausläuft, muß ich an Bord sein.« Er schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte er: »Unmöglich.« »Darf ich fragen, warum, Genosse Salah? Kapitän Touzani hat Befehlsgewalt, aber mir als dem Eigner muß er sich fügen. Wegen Verspätungen, die ich gut geheißen habe, während wir auf See waren, kann ihn niemand rügen. Mit mir an Bord, an der Seite des Ka 366
pitäns, wäre es ganz ausgeschlossen, daß er es an der nötigen Bereitschaft zur Kooperation fehlen ließe, da für stehe ich ein.« Wieder schwieg er. Dann: »Mir gefällt das nicht.« »Ohne die Kooperation des Kapitäns kann ich für nichts garantieren, Genosse Salah. Wie Sie gesagt ha ben, liegt die Verantwortung bei mir. Alles, worum ich jetzt bitte, ist die Vollmacht, sie auch übernehmen zu können.« Erneut herrschte Schweigen. Schließlich seufzte er gereizt. »Warum mußte es unbedingt dieser Tunesier sein?« Nach all dem Unsinn, den ich geredet, und all den Lügen, die ich aufgetischt hatte, war ich erschöpft. Als ich nach Hause kam, hatte ich größte Lust, zu Bett zu gehen. Aber ich wußte, ich würde keinen Schlaf fin den, ehe nicht das, was ich angefangen hatte, zu Ende geführt worden war. Noch spät in der Nacht setzte ich zwei Telegramme auf. Das erste war an Teresa gerichtet und beorderte sie zurück, damit sie während meiner Abwesenheit die Leitung des Büros übernahm. Sie würde das Tele gramm ignorieren, wie ich ihr gesagt hatte; aber es war für Oberst Shiklas Spürhunde gedacht und sollte die Ungereimtheit des zweiten Telegramms plausibler er scheinen lassen. Das Telegramm an unser Büro in Fa magusta lautete wie folgt:
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malandra zu umgehender rückkehr angewiesen zwecks übernahme büroleitung in meiner abwe senheit stop unternehme schiffsreise auf amalia nach alexandria stop auslaufe juli 2 stop büro alexandria benachrichtigen stop mit malandra rücksprache nehmen stop erhalt bestätigen stop howell In Famagusta würden sie denken, ich hätte den Verstand verloren. Genau das entsprach meiner Ab sicht. Daß die Nachricht, ich werde auf der alten Ama lia als Passagier mitreisen, als Routinesache behandelt wurde, war gänzlich ausgeschlossen. Barlevs Informant im Büro würde ihn todsicher darüber unterrichten. So weit, so gut. Und was weiter? Nun, Barlev hatte mir zweimal nahegelegt, in meiner Eigenschaft als Ver treter des Schiffseigners an Bord der Amalia zu sein, wenn sie aufgebracht wurde, und ich hatte das zweimal abgelehnt. Für ihn konnte mein plötzlicher Sinneswan del nur heißen, daß die Situation sich in irgendeiner Weise radikal geändert hatte und jetzt zusätzliche Si cherheitsvorkehrungen erforderlich geworden waren. Und sobald ich erst einmal außerhalb syrischer Gewässer war, würde ich einen Funkkanal zur Verfü gung haben. Zugegeben, die Sprüche würden nach wie vor ziemlich ungereimt sein müssen; der Funkverkehr zwischen Handelsschiffen wird von vielen Stellen ab gehört; aber die ›zuständige‹ würde jedenfalls nicht darunter sein. Ich hatte getan, was ich konnte.
Siebentes Kapitel Michael Howell 30. Juni bis 3. Juli
Ich hatte viel Zeit darauf verwendet, mir hin und her zu überlegen, was ich Kapitän Touzani sagen würde, und mich sorgfältig vorbereitet. Ich hatte zwar nie an genommen, daß er die Geschichte sozusagen un zerkleinert im ganzen Stück schlucken würde – das wäre zuviel verlangt gewesen –, aber ich hatte doch gehofft, er würde es für angezeigt halten, so zu tun, als sei das der Fall. Ich war daher bemüht, ihm goldene Brücken zu bauen. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Er ist ein Faß von einem Mann, hat Muskeln wie ein Stauer und einen großen kahlen Schädel. Das star re und etwas schiefe kleine Lächeln, das nie aus seinen Zügen verschwindet, wirkt ziemlich sarkastisch; dabei rührt es von einer Narbe her, die ein UnterkieferDurchschuß hinterlassen hat. Wenn er wirklich lä chelt, bewegt sich die andere Hälfte seines Mundes, und man sieht seine Zahnprothese. Wirklich gelächelt hat er nur ein einzigesmal, als ich ihn an jenem Morgen in seiner Kabine aufsuchte. Er hatte ganz richtig vermutet, daß die Schwierig keiten, die die Abfertigung seines Schiffs in Tripolis verzögerten, inszeniert waren, aber weder herausbe 369
kommen können, wer dahintersteckte, noch, was da mit bezweckt werden sollte. Das wurmte ihn natür lich. Jetzt erwartete er, Aufschluß von mir zu erhalten. Dummerweise nannte ich ihm dieselben Gründe, die ich Mourad gegenüber angeführt hatte. Er schüttelte den Kopf. »Ich war da, Mr. Howell. Ich kann Ihnen sagen, das war schon eine verdammt merkwürdige Sache. Keiner hielt die Hand auf, keiner sagte was, keiner wußte was. Und dann war’s auf einmal vorüber. Alles ein Irrtum. Ein Irrtum? Wenn niemand bezahlt wurde?« »Natürlich wurde jemand bezahlt, Käptn. Das können Sie mir glauben. Ein neues Rädchen in der Maschinerie. Man hatte es übersehen. Nachdem es ge schmiert worden war, lief der Laden wieder. Dabei wollen wir es belassen. So etwas kommt schon mal vor.« Ich hätte die Sache nicht so beiläufig abtun und un geduldig darauf bedacht sein dürfen, auf die Angele genheit zu sprechen zu kommen, die ich mit ihm be reden wollte. Er wurde ärgerlich. »Ja, Mr. Howell, so etwas kommt schon mal vor. Aber jetzt sieht es so aus, als sollte so etwas auf die sem Schiff laufend vorkommen, und das paßt mir nun wirklich nicht.« »Laufend vorkommen, Käptn?« »Mr. Mourad sagt mir jetzt, er hat für dieses Schiff vier Passagiere nach Alex.« Ich hatte Mr. Mourad bitten wollen, über die Pas sagiere nichts bekanntzugeben und es mir zu überlas 370
sen, Touzani die Neuigkeit schonend beizubringen; aber ich mußte es wohl vergessen haben. Ich hatte zu viele andere Dinge im Kopf gehabt. »Das ist der eigentliche Grund, Käptn, weswegen ich hier bin und mit Ihnen sprechen wollte. Wegen der Passagiere.« »Ich habe mich schon gewundert, wie ich zu dieser ungewohnten Ehre komme, Mr. Howell. Ich hatte mir gedacht, es könnte vielleicht wegen Tripolis sein.« »Reden wir nicht mehr von Tripolis, Käptn. Ich brauche Ihre Hilfe in einer ziemlich heiklen Angele genheit. Sie betrifft diese Passagiere, die Mr. Mourad erwähnt hat. Was er Ihnen nicht gesagt hat, weil er es noch nicht weiß, ist die Tatsache, daß ich zu diesen Passagieren zählen werde.« Er hatte kleine braune Augen. In den folgenden Minuten ließen sie nicht einen Moment lang von mir ab. »Das ist allerdings eine Überraschung«, sagte er kalt; »wenngleich natürlich eine höchst willkommene. Eine Inspektionsreise, nehme ich an.« Ich seufzte. »Käptn, ich unternehme keine Inspek tionsreisen, wie Sie sehr wohl wissen. Ich habe gesagt, daß ich Ihre Hilfe brauche, und ich habe das in vollem Ernst gesagt.« »Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe, Mr. Howell, aber nach der Geschichte in Tripolis –« »Und ich habe Sie gebeten, nicht mehr von Tripolis zu reden. Das ist erledigt und vorbei. Dies hat über haupt nichts damit zu tun.« Seine Kabine war das 371
reinste Dampfbad. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Einen Drink statt des Kaffees da, Mr. Howell. Ich habe ein paar Flaschen Bier auf Eis liegen.« »Ja, das ist eine gute Idee.« Aber er ließ mich noch immer nicht aus dem Auge, selbst als er das Bier einschenkte. Ich wartete, bis er wieder in seinem Sessel saß, und sagte dann meinen Spruch auf. »Auch wenn Sie nicht in diesem Land leben, Käptn, wird Ihnen die politische Situation bekannt sein. Ins besondere werden Sie von den inoffiziellen, aber en gen Bindungen gehört haben, die zwischen einigen Regierungsstellen und den palästinensischen Befrei ungsgruppen bestehen.« Er nickte. »Diese Regierungsstellen sind mächtig und haben höheren Orts beträchtlichen Einfluß. Kein Ministeri um, kein Minister ist gegen ihren Druck gänzlich ge feit. Infolge ihrer weitverzweigten Beteiligung an staatlich subventionierten Kooperativen ist auch die Agence Howell nicht immun dagegen.« Wieder nickte er. »So daß ich also, wenn uns eine bestimmte Regie rungsstelle auffordert, vier Passagiere auf einem Ho well-Schiff zu befördern, das nach Alexandria fährt, und es darüber hinaus einzurichten, daß das Schiff von seiner üblichen Route geringfügig abweicht, nicht sogleich ablehne. Ich überlege mir erst die Konse quenzen, die eine Weigerung nach sich ziehen würde. 372
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Käptn, daß sie un angenehm wären.« »Die wagen es, Ihnen zu drohen?« »Es ist keinerlei Wagnis für sie damit verbunden. Sie können ungestraft drohen, und sie können ihre Drohungen auch wahrmachen. Ich sagte es Ihnen doch. Nicht einmal Minister sind ausgenommen.« »Hunde.« »Aber Hunde mit scharfen Zähnen. Erhebe ich Einwände – was Ihnen, wenn Sie von mir erfahren, was verlangt wird, selbstverständlich freisteht –, wer de ich massiv beschimpft. Gebe ich nicht nach, sage ich ihnen, daß keiner meiner Kapitäne Weisungen von ihnen entgegennimmt, stellen sie eine weitere Forde rung. Infolgedessen werden Sie jetzt fünf Passagiere haben statt vier. Ich soll ihre Weisungen an Sie weiter geben und persönlich dafür geradestehen, daß sie be folgt werden.« Er wollte etwas sagen, aber ich schnitt ihm das Wort ab. »Nein, Käptn, sprechen Sie es nicht aus. Das erüb rigt sich. Die einzigen Weisungen, die Sie jemals von mir erhalten werden, sind diejenigen, die der Reprä sentant des Schiffseigners seinem Kapitän mit Fug und Recht geben kann. Ich mag bestimmte Ansuchen an Sie stellen, aber das wird auch alles sein – Ansuchen, denen Sie nach eigenem Ermessen stattgeben oder die Sie abschlagen können. Das versteht sich.« Er nahm einen Schluck Bier. »Was wollen die, Mr. Howell?« 373
Ich holte die Seekarte aus meinem Aktenkoffer her vor und breitete sie vor ihm aus. »Das wollen sie.« Er starrte lange darauf. Es war eine Erleichterung, ihn zur Abwechslung einmal etwas anderes als mich anstarren zu sehen. Ich hatte irgendeine Art von Ausbruch erwartet, aber es kam keiner. Als er schließlich das Schweigen brach, geschah es, um eine Frage zu stellen. »Warum sechs Knoten?« Ich gab ihm die Erklärung, die ich für unverfänglich hielt. »Ich weiß es nicht, Käptn. Ich vermute – wohl gemerkt, ich vermute, denn gesagt worden ist mir nichts davon –, daß ein Rendezvous mit irgendeinem Schiff vor der israelischen Küste stattfinden soll.« »Das die Passagiere übernimmt?« »Ich weiß es nicht.« »Das weitere Passagiere von der Küste heran bringt?« Ich zuckte die Achseln. »Mr. Howell, wenn ein Rendezvous mit einem Boot vor der Küste beabsichtigt wäre, müßte doch die Position für das Treffen eingetragen sein. Auf der Karte ist nichts dergleichen zu finden. Statt dessen werden wir aufgefordert, fast zwei volle Stunden lang sechs Knoten zu machen.« »So lauten die Weisungen, die ich bekommen ha be.« Er langte wieder nach dem Bierglas. »Wer sind die se Passagiere?« 374
»Palästinensische Fedaijin. Soviel steht fest. Der Name des Anführers wurde mit Yassin angegeben. Er soll ein wichtiger Mann sein.« »Werden diese Passagiere Waffen bei sich haben?« »Wahrscheinlich.« »Werden sie auch andere Waffen an Bord bringen – Waffen, die an Land geschafft werden sollen?« »Davon ist nichts gesagt worden.« Ein kurzes Schweigen trat ein, dann musterten mich die braunen Augen aufs neue. »Sie sprachen von bestimmten Ansuchen, die Sie gegebenenfalls an mich richten würden. Welcher Art wären die?« »Erstens, daß Sie die auf der Karte vermerkten Kursänderungen einschließlich der Wendung in Höhe von Caesarea vornehmen. Zweitens, daß Sie, mit Aus nahme der Verminderung der Fahrt auf sechs Knoten, alle weiteren Anweisungen ignorieren und entlang der israelischen Küste einen Kurs steuern, der von ihr nicht weniger als zehn Meilen Abstand hält. Zu kei nem Zeitpunkt darf er näher an sie heranführen. Drit tens, daß Sie das tun, ohne die Passagiere davon zu unterrichten.« »Damit sie das Rendezvous, von dem Sie sprachen, verpassen?« »Genau.« »Ich dachte, Sie haben gesagt, die Hunde hätten Zähne?« »Wenn wir Glück haben, werden sie glauben, daß der Fehler bei dem Küstenboot liegt. Jedenfalls zer 375
breche ich mir jetzt nicht den Kopf darüber. Sagen wir ganz einfach, daß ich mich nicht gern von Gangstern herumkommandieren und zwingen lasse, Kapitän Touzanis Loyalität zu mißbrauchen.« Er überlegte und nickte dann. »In Ordnung, Mr. Howell. Ich lehne Ihre Ansuchen nicht ab. Daß ich über das dritte besonders erfreut bin, dasjenige, die Passagiere nicht zu informieren, kann ich allerdings nicht behaupten. Wenn einer von den Passagieren Seemann ist und die ursprünglichen Anweisungen kennt, wird er sehr bald wissen, daß sie nicht befolgt werden.« »Ich glaube nicht, daß ein Seemann darunter ist, aber rein interessehalber wüßte ich gern, welche Waf fen Sie an Bord mit sich führen.« »Ein paar Handfeuerwaffen, ein Gewehr. Der Erste Offizier verwahrt den Schlüssel für den Waffenspind.« »Würden Sie erwägen, die Handfeuerwaffen an die Offiziere auszugeben oder sie auf der Brücke bereit zuhalten?« »In einer Ausnahmesituation würde ich es erwägen, Mr. Howell. Das ist aber doch kein weiteres Ansu chen, das Sie stellen, oder?« »Nur eine Anregung, Käptn.« »Ich werde sie mir durch den Kopf gehen lassen.« Er leerte sein Glas und stellte es dann bedächtig mit ten auf der Karte ab. »Offen gesagt, Mr. Howell«, erklärte er, »ich glaube nicht, daß Sie mir alles erzählt haben, was Sie von die ser Sache wissen. Ich bin Ihnen deswegen nicht gram, 376
das müssen Sie nicht glauben. Ich habe Ihren Vater re spektiert, und ich respektiere Sie. Wenn Sie mir ge genüber jetzt nicht mit offenen Karten spielen, bin ich bereit, davon auszugehen, daß Sie es nur darum nicht tun, weil Sie meinen, je weniger ich weiß, desto besser sei es für mich.« »Danke, Käptn.« Das war wohl das mindeste, was ich sagen konnte. Und tatsächlich lächelte er jetzt, al lerdings nur ganz kurz. »Aber wenn Sie mir erlauben, das einmal zu sagen, Mr. Howell«, fuhr er fort, »wer es mit Männern von der Sorte zu tun hat, die Sie Gangster nennen, sollte sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Ich meine Ge fühle wie Ihre Abneigung, von Leuten herumkom mandiert zu werden, die Sie verabscheuen. Natürlich muß ein Mann seinen Stolz haben, und die Howells sind eine stolze Familie, aber wenn das, worum Sie mich bitten, keinem anderen Zweck dient als dem, Ih rem Stolz Genüge zu tun, würde ich Ihnen in Ihrem eigenen Interesse dringend raten, sich das noch einmal gründlich zu überlegen.« Ghaled hatte von Arroganz gesprochen. Kapitän Touzani war höflicher – er nannte es Stolz. »Kein schlechter Rat, Käptn«, sagte ich. »Ich wünschte, ich könnte mich entsprechend verhalten. Aber hier geht es um mehr als nur um privaten Groll und persönlichen Stolz.« »Dann ist es ja gut, Mr. Howell. Stolz ist ein schlech ter Ratgeber.« Er befingerte die Narbe neben seinem Mund. »Ich spreche aus Erfahrung. Noch ein Bier?« 377
»Danke. Vielleicht sollten wir uns über die Unter bringungsmöglichkeiten für die Passagiere unterhal ten, oder vielmehr über den Mangel an solchen.« »Sie bekommen meine Koje.« »Das ist nett von Ihnen, aber ich glaube nicht, daß ich zum Schlafen viel Gelegenheit haben werde. Was mich weit mehr interessiert, ist die Frage, wo wir diese vier Palästinenser unterbringen. Wenn möglich, soll ten wir ihrem Führer, Yassin, mittschiffs irgendeine Art improvisierter Kabine anweisen und die anderen vorn oder achtern unterbringen. Es könnte sein, daß wir sie isolieren müssen.« »Ich werde versuchen, mir etwas Geeignetes auszu denken, Mr. Howell.« »Gut. Dann zur Einschiffung und zum Auslaufen. Was ordnen Sie an?« Wir besprachen diese und noch eine oder zwei wei tere Angelegenheiten, bevor ich mich von Kapitän Touzani verabschiedete. Mein Besuch bei Mr. Mourad war kurz. Nach dem Kaffee, den man mir serviert hatte, über reichte ich ihm die Passagierliste für die Amalia. Als er meinen Namen darauf verzeichnet sah, hu stete er zweimal in sein Taschentuch, sah jedoch von jedem weiteren Kommentar ab. Vielleicht fehlten ihm ausnahmsweise einmal die Worte. Mit seinem »Bon voyage, Mr. Howell« trenn ten sich unsere Wege.
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Am Abend des ersten Juli meldete ich mich bei Gha led zum Rapport in der Batteriefabrik. Es sollte das letztemal sein, daß ich das tun mußte. Bei der Gele genheit erfuhr ich von der ›Panne.‹ Issa und Taleb waren beide bei Ghaled, als ich ein trat, und es schien so etwas wie eine dringende Son dersitzung im Gang zu sein. »Aber wenn wir die Nacht durcharbeiteten, Genos se Salah«, sagte Issa gerade, »könnten wir zumindest einen Teil der Verluste ersetzen und morgen mit der Auslieferung beginnen. Wenn Taleb mir hilft, kann ich –« »Nein!« Ghaled schnitt ihm das Wort ab. »Das mußt du endlich begreifen, Genosse Issa. Wenn wir planen, treffen wir Vorsorge für den Fall, daß Dinge schiefgehen, daß Unvorhergesehenes eintritt oder Feh ler gemacht werden. Das ist der Grund, weswegen ge plant werden muß. Damit wir Rückschläge auffangen und absorbieren können, sobald sie auftreten. Was ernste Schwierigkeiten hervorruft, sind hastige Impro visationen. Unvertretbare Risiken werden in Kauf ge nommen, und plötzlich wächst sich irgendeine kleine Kalamität zu einer unabsehbaren Katastrophe aus.« »Aber Genosse Salah –« »Genug jetzt. Du kannst deine Bestände zwecks zukünftiger Verwendung auffüllen, aber ich dulde nicht, daß bei dieser Operation noch in letzter Minute Dummheiten begangen werden. Das wäre alles, Ge nossen.« Sie gingen. Ich wurde von Taleb mit einem schwa 379
chen Lächeln bedacht, aber Issa ignorierte mich. Er sah übermüdet aus und schien den Tränen nahe zu sein. Ghaled forderte mich zum Sitzen auf. »Eine kleine Panne«, erklärte er mir. »Wie wir so eben gehört haben, sind vor zwei Tagen auf der ande ren Seite hundert Zünder verlorengegangen. Weil er derjenige war, der sie hergestellt hat, regt sich der ar me Genosse Issa natürlich sehr auf. Er vergißt dabei völlig, daß wir fünfhundert davon gefertigt haben, und nicht bloß dreihundert, damit wir es uns leisten können, ein paar von den Dingern einzubüßen. Es ist ein Jammer, aber ich denke nicht daran, wertvolle Ku riere aufs Spiel zu setzen, um Ersatz heranzuschaffen, der für die laufende Operation wahrscheinlich zu spät kommt, um noch Verwendung zu finden, und für den ohnehin kein dringender Bedarf besteht.« »Wobei der Bedarf sich nach der Anzahl vorhande ner Flugreisetaschen und verfügbarer pak-Mitglieder bemißt, die sie an die vorgesehenen Plätze verbringt?« Wirklich interessieren tat es mich nicht. Wenn wei tere Zünder nicht mehr benötigt wurden, so konnte das, soweit es mich betraf, nur heißen, daß meine un freiwillige Mitarbeit sich erübrigte. Woher sollte ich wissen, daß das, was ich in jenem Raum soeben mit angehört hatte, die Besiegelung meines eigenen Schicksals war? »Genau, Genosse Michael. Sie verfügen wirklich über eine bemerkenswert rasche Auffassungsgabe. Ich habe übrigens gute Nachrichten für Sie. Die Maschine 380
des Schoners ist überholt worden und läuft jetzt ein wandfrei.« »Das freut mich zu hören, Genosse Salah. Ich habe ebenfalls gute Nachrichten zu überbringen. Die Ein schiffung ist nach wie vor auf morgen nachmittag vier Uhr festgesetzt. Bis dahin dürfte die Beladung des Schiffs weitgehend abgeschlossen sein. Wir laufen am darauffolgenden Morgen in aller Frühe aus. Die Ein haltung des vorgesehenen Fahrplans sollte dann kein Problem sein.« »Der Tunesier macht keine Schwierigkeiten?« »Ich werde ihm auf die Finger sehen und dafür sor gen, daß er tut, was er gesagt bekommt. Alle Einzel heiten der Einschiffung sind hier aufgeschrieben.« Ich reichte ihm das Papier. »Die Agenten sind Mourad und Kompanie. Wir sammeln uns um vier Uhr bei ih nen im Büro in der Rue du Port. Das Schiff liegt am Ostkai bei Schuppen sieben. Die Agenten werden uns aufs Schiff bringen und die Formalitäten erledigen.« »Das nenne ich Service.« »Bleibt noch die Frage des Transports nach Latakia, Genosse Salah. Für Sie und Ihre« – ich geriet ins Stok ken – »für Sie und die anderen Genossen.« »Die Kommandokämpfer sind schon in Latakia und halten sich dort an sicherem Ort bereit. Ich selber werde noch heute nacht zu ihnen stoßen.« »Sie haben die Transportfrage geregelt?« »Alles ist jetzt geregelt. Sie, Genosse Michael, mel den sich dann morgen nachmittag um vier Uhr im Bü ro von diesem Mourad bei mir.« 381
»Sehr gut, Genosse Salah. Wenn ich vielleicht einen Vorschlag machen dürfte?« »Schießen Sie los.« »Weder Kapitän Touzani noch dem Büro Mourad ist Ihre Identität bekannt.« »Ja, und?« »Dort im Büro und später an Bord des Schiffs wer den wir unter Fremden sein. Vielleicht wäre eine un auffälligere Form der Anrede ratsam.« »Unauffälliger?« »Mr. Yassin würde keine Neugier erregen. Genosse Salah bestimmt.« »Woraus besteht die Mannschaft des Schiffs? Aus Arabern?« »Vorwiegend aus griechischen Zyprioten, aber sie sprechen etwas Arabisch, das sie in den Häfen aufge schnappt haben. Genug, um einiges zu verstehen.« »Also gut. Ab morgen tun wir so, als ob wir Zivilisten seien. Ich werde die nötigen Anweisungen erteilen.« Ich stand auf, um zu gehen. »Ein Auftrag noch, Genosse Michael.« »Ja, bitte?« »Bringen Sie eine Flasche Brandy mit. Nein, warten Sie! Bringen Sie zwei Flaschen.« »Mit Vergnügen, Genosse Salah.« »Wir müssen doch gerüstet sein, unseren Sieg zu feiern.« Ich will hier nicht vorspiegeln, daß ich etwa nicht hätte schlafen können in jener Nacht; aber ich mußte ein paar Pillen einnehmen, um sicherzugehen, daß ich 382
es konnte. Wenn ich irgendwelche Tranquilizers im Haus gehabt hätte, würde ich auch die genommen ha ben. Ich fühlte mich, als sei ich wieder in der Schule und sollte anderntags Prügel beziehen; nicht schlim mer als das, zugegeben; immerhin aber merkwürdig, in meinem Alter ein solches Gefühl zu haben. Am Vormittag arbeitete ich eine Weile mit dem Bürogehil fen und packte dann einen Koffer mit dem Nötigsten für zwei Übernachtungen. Damit, so meinte ich, wür de ich auskommen, bis ich nach Alexandria gelangte – falls ich nach Alexandria gelangte. Was danach ge schehen mochte, interessierte mich in jenem Augen blick nicht im geringsten. Ich hatte mir vom Fahrzeugpool des Keramikwerks einen Fahrer ausgeliehen, der den Wagen zur Villa zu rückbringen würde, und traf um halb vier in Mourads Büro in Latakia ein. Mr. Mourad war ausgegangen, und es stellte sich heraus, daß er die Aufgabe, sich der Passagiere der Amalia anzunehmen, seinem Assisten ten übertragen hatte. Der alte Mann wollte offenkun dig nichts mit uns zu tun haben. Ghaled erschien pünktlich um vier Uhr. Auf dem Beifahrersitz, die Serinette in ihrem Behälter auf den Knien, fuhr er in einem altertümlichen CitroënLieferwagen vor. Die Spieldose ließ er sich beim Aus steigen von niemandem abnehmen. Er trug sein wei ßes Hemd und die Krawatte. Die ›Kommandokämpfer‹ waren wenig beeindruk kend. Der älteste des Trios, derjenige, dem Ghaled seine Befehle gab, war der Passagierliste zufolge Aziz 383
Faysal. Er trug einen zerknitterten braunen Anzug mit schwarzen Streifen und einen blauen kaffijeh. Die anderen beiden, Hanna und Amgad, trugen ebenfalls kaffijehs, aber keine Anzüge, sondern nur KhakiArbeitshosen und schmierige Trikothemden. Alle drei waren ziemlich jung und einander in Gesichtsschnitt und Gestalt bemerkenswert ähnlich. Daß sie keine Brüder sein konnten, ging aus ihren Namen hervor, und ich brauchte eine oder zwei Minuten, um mir über den gemeinsamen Nenner klarzuwerden. Be wußt oder unbewußt hatte Ghaled als seine Leib wächter jüngere Männer seines eigenen Typs ausge sucht, frühe Variationen seiner selbst. Außer der Serinette befanden sich vier Gepäckstük ke in dem Lieferwagen. Eines davon, ein alter Leder koffer, gehörte Ghaled. Aziz trug ihn, zusammen mit seiner eigenen Segeltuch-Reisetasche. Ich wußte, daß sich in dem Gepäck nicht nur Kleidungsstücke, son dern auch Waffen und Munition befinden mußten, und fragte mich, ob die Zollbeamten bestochen wor den waren. Das waren sie. Mourads Assistent fuhr uns im Lie ferwagen des Büros zum Schiff, und wir wurden kein einzigesmal angehalten. Eine Zollkontrolle fand nicht statt. Man forderte uns nicht einmal auf, unsere Papie re vorzuweisen. Die Amalia Howell war Ende der dreißiger Jahre von einer holländischen Werft erbaut worden. Wir kauften sie 1959 und haben sie seither zweimal voll ständig überholen und neu ausstatten lassen. Dennoch 384
sah man ihr das Alter an. Als wir aus dem Wagen stie gen und Ghaled sie zum erstenmal sah, blieb er auf dem Kai stehen und stellte die Serinette ab. »Das ist das Schiff?« »Ja, Mr. Yassin.« »Aber es ist alt und dreckig. Die Farbe blättert überall ab. Es kann nicht seetüchtig sein.« »Sie ist absolut seetüchtig, und die Mannschaft hat den alten Anstrich abgekratzt. Sie können nicht nach dem äußeren Anschein urteilen, Mr. Yassin.« »Sie sagten, daß die Amalia aussieht wie das Modell in Ihrem Büro.« »Das tut sie.« »Für mich nicht.« »Modelle fahren nicht zur See«, sagte ich kurz an gebunden und ging weiter. Nach einem Augenblick folgte er mir. Mourads Assistent wartete an der Gangway. Ich sagte ihm, daß seine Anwesenheit nicht mehr erfor derlich sei, und ging der Gruppe voran an Bord. Ach tern wurde noch Fracht verladen, aber Patsalides, der Erste Offizier, war über unsere Ankunft unterrichtet und trat auf uns zu, um uns zu begrüßen, oder viel mehr, um mich zu begrüßen. Die anderen streifte er nur mit einem flüchtigen Blick. »Der Kapitän läßt Sie bitten, Ihre Passagiere in den Salon zu führen, Mr. Howell. Das Gepäck kann einstweilen hier abgestellt werden.« Obwohl er etwas Arabisch konnte, sprach er jetzt griechisch. Ich übersetzte für Ghaled. 385
»Das Gepäck bleibt bei uns«, erklärte er mit Ent schiedenheit. Ich empfand seine schroffe Reaktion als höchst unangebracht. Natürlich hatte Patsalides ver standen, und seine Lippen wurden schmal; aber er sah mich hilfesuchend an, statt Ghaled so zu antworten, wie er es zweifellos gern getan hätte. »Schon gut, Mr. Patsalides«, sagte ich rasch. »Ich sehe, daß Sie zu tun haben. Ich kenne den Weg.« Der Salon befand sich unmittelbar unter der Brücke am Ende des Durchgangs, der zu den Kabinen der Of fiziere führte. Er war nicht gerade üppig eingerichtet, das gebe ich zu; bloß zweckentsprechend. Auf der ei nen Seite standen die Back, an der die Offiziere ihre Mahlzeiten einnahmen, nebst einigen Stühlen, auf der anderen ein paar schmuddelige Armsessel und ein So fa, das mit Kunstleder neu bezogen worden war. Es gab eine Tür zur angrenzenden Kombüse, und eine zweite ging auf einen schmalen Streifen überdachten Decks. Von dort führte eine eiserne Treppe zur Brük ke hinauf. Drinnen im Salon mischten sich die Gerü che von Speiseöl und kalten Zigarettenstummeln mit dem des neuen Kunstlederbezugs. Ghaled blickte um sich, als sei er Besseres gewohnt. »Ein bißchen anders als in der Howell-Villa«, be merkte er. »Ich sehe, daß Sie Ihre Offiziere nicht ge rade verwöhnen.« Der Kommentar ärgerte mich. »Sie brauchen nicht verwöhnt zu werden, Mr. Yassin.« Ich wartete nicht erst ab, wie er die Implikation, die Kommandokämpfer müßten verwöhnt werden, auf 386
nahm; ich machte mich auf die Suche nach dem Kapi tän. Ich traf ihn auf der Steuerbordseite der Brücke an, von wo er auf den Kai hinuntersah. »Im Salon?« fragte er. »Ja.« »Welcher ist Mr. Yassin?« »Der im weißen Hemd. Was haben Sie Mr. Patsali des erzählt, Käptn?« »Daß sie Fedaijin sind und daß sich im Umgang mit ihnen einstweilen Vorsicht empfiehlt. Weniger hätte ich ihm kaum sagen können.« »Nein. Mich interessiert ihr Gepäck, Käptn. Nicht dieser seltsam aussehende Kasten, den Yassin bei sich hat. Was darin ist, weiß ich. Aber das andere Gepäck. Ich möchte wissen, was für Waffen sie bei sich haben.« »Das würde ich auch gern wissen, Mr. Howell.« »Glauben Sie, Patsalides könnte eine diskrete Durchsuchung veranlassen? Vielleicht während wir beim Abendessen sind?« »Ich denke schon. Ich habe eine Kabine für Yassin herrichten lassen, wie Sie gesagt haben. Die anderen drei sind achtern in dem Sonderraum untergebracht.« Bevor das ganz illegal wurde, hatte es eine Zeit ge geben, in der die Agence Howell, insbesondere mit amerikanischen Händlern, die im Auftrag von USMuseen handelten, ins Geschäft gekommen war, in dem sie soeben ausgegrabene griechisch-römische An tiquitäten verschiffte. Die Händler hatten erklärt, was sie haben wollten; wir hatten die Objekte aus der Ge gend, in der sie aufgefunden worden waren, abtrans 387
portiert. Daher die mit Schotten abgedichteten Son derräume. »Ich hatte vergessen, daß Sie auf der Amalia auch so einen Raum haben.« »Wir finden auch heute noch gelegentlich Verwen dung dafür.« Seine Miene blieb unbewegt. »Sie wer den es nicht allzu unbequem haben. Sie können auf Strohsäcken schlafen.« »Was für eine Tür hat der Raum?« »Sie hat einen Riegel, der schwer zu bewegen ist, wenn man nicht weiß wie, und kann außerdem mit ei nem Vorhängeschloß gesichert werden. Vielleicht soll te ich jetzt hinuntergehen und mich mit den Herren bekannt machen.« Ich hatte recht daran getan, mich für Kapitän Tou zani zu entscheiden. Es war fast ein Vergnügen, ihn Ghaled vorzustellen. »Mr. Salah Yassin, Kapitän Touzani.« Sie nickten kurz und musterten einander: zwei gänzlich verschieden geartete Araber. »Und Mr. Aziz Faysal.« Ein nochmaliges Nicken; die anderen beiden beach tete ich nicht. Kapitän Touzani lächelte breit. »Meine Herren, Sie sind an Bord dieses Schiffs alle herzlich willkommen. Mr. Howell wird Ihnen schon gesagt ha ben, daß wir normalerweise keine Passagiere befördern. Die Räumlichkeiten, die ich Ihnen anbieten kann, sind daher beschränkt. Der Zweite Offizier hat sich jedoch bereiterklärt, bis zu unserer Ankunft in Alexandria eine Kabine mit einem Besatzungsmitglied zu teilen. Seine 388
Koje steht daher für Mr. Yassin zur Verfügung. Mr. Howell als Eigner wird selbstverständlich bei mir un tergebracht. Die anderen Herren finden im Achter schiff Unterkunft.« Er drückte auf einen Klingelknopf. »Der Steward, Mr. Kyprianou, wird Ihnen den Weg zeigen. Die Mahlzeiten werden hier eingenommen. Die Tischzeiten für die Passagiere werden Ihnen je weils bekanntgegeben. Ich muß Sie bitten, gewisse Vorschriften zu beachten. Den Passagieren ist der Zu tritt zur Brücke strikt untersagt. Sie können sich auf dem Hauptdeck – das ist ein Deck tiefer als dieses – überall frei bewegen.« Auf das Klingelzeichen hin war der Steward, ein schmutziger kleiner Mann in einer sauberen weißen Jacke, durch die Kombüsentür in den Salon getreten. Der Kapitän zeigte auf Ghaled. »Das ist Mr. Yassin, Kyprianou«, sagte er auf Griechisch. »Führen Sie ihn und seine Reisegenossen zu ihren Unterkünften.« Ghaled starrte den Kapitän wütend an. Offenkun dig hatte es ihm nicht gepaßt, gesagt zu bekommen, was er tun durfte und was nicht, aber er war sich un schlüssig, wie er sein Mißfallen zum Ausdruck brin gen sollte. Touzani blickte ihm fest in die Augen. »Die Wet tervoraussagen sind gut, Mr. Yassin. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht eine störungsfreie und ange nehme Reise haben sollten.« Damit drehte er sich um und ging wieder auf die Brücke hinauf.
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Kurz nach Tagesanbruch liefen wir aus. Ich hatte die Nacht auf einer Couch in Kapitän Touzanis Kapitänskajüte in unruhigem Halbschlaf verbracht. Das Ergebnis der Gepäcksuntersuchung am Abend zuvor war nicht ermutigend gewesen. Die Kommandokämpfer hatten jeder eine Maschi nenpistole. In Ghaleds Koffer befand sich außer einem neuen schwarzen Anzug eine Stechkin-Automatic in einem Halfter aus Gurtgewebe sowie ein kleines trag bares Sprechfunkgerät. Es war dieses Gerät, das mich beunruhigte. Als Pat salides mir davon berichtete, hatte ich ihn sofort ge fragt, ob er nicht zwei Sprechfunkgeräte meine. Ich hoffte, daß er das gemeint hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Howell, nur eines.« Als er hinausgegangen war, sah mich Touzani ver wundert an. »Warum messen Sie dem solche Bedeu tung bei? Wenn er nur ein Gerät hat, heißt das doch nur, daß irgend jemand auf dem Boot, das von der Küste kommt, das andere haben muß.« »Ja.« »Was macht das schon aus? Zum Richtungpeilen können sie diese Dinger nicht benutzen, jedenfalls nicht mit nennenswerter Aussicht auf Erfolg. Ein Boot, das von der Küste kommt, würde nach unseren Lichtern Ausschau halten.« Ich sagte ihm nicht, daß es kein Boot von der Kü ste, sondern Hadaya von See her war, worüber ich mir Sorgen machte. Es deutete alles darauf hin, daß Gha 390
led die gesamte Operation von der Amalia aus zu überwachen und koordinieren beabsichtigte. Ich hätte mir über dieses Sprechfunkgerät noch ganz andere Sorgen machen und die Gefahr, die es tat sächlich darstellte, klarer erkennen sollen, um ihr bes ser begegnen zu können. Daß ich das nicht tat, lag daran, daß ich zu jenem Zeitpunkt schon ganz genau zu wissen glaubte, was die Israelis tun würden. Das war nicht bloßes Wunschdenken von meiner Seite; ich hatte das Funk gerät des Schiffs benutzt. Sobald wir an jenem Morgen die syrischen Gewässer verlassen hatten, begann ich Funksprüche nach Famagusta auszusenden, insgesamt drei. Sie durften nicht unverschlüsselt sein; ich mußte alles in einen kommerziellen Fachjargon transponie ren; aber sie begriffen und wiederholten ihrerseits drei Punkte. Erstens, daß die zuvor übermittelte Information sich als unvollständig herausgestellt hatte und nun mehr zwei Schiffe an der Transaktion beteiligt waren. Zweitens, daß die bekanntgegebene Transportpla nung entsprechend modifiziert werden mußte. Drittens, daß demzufolge die bereits abgesproche nen Schritte, um wirksam zu sein, nicht später als 21 Uhr 15 unternommen werden durften. Die Meldungen waren schwierig zu formulieren gewesen, und eine von ihnen las sich wie sinnloses Kauderwelsch. Der Bordfunker hatte mich wiederholt ernstlich besorgt angesehen; aber mir war es gleichgül tig, was er dachte. Aus der Tatsache, daß der Empfang 391
aller drei Meldungen ohne die gereizte Aufforderung zur Klarstellung, mit der ich hatte rechnen müssen, bestätigt worden war, schloß ich – zutreffend, wie sich erwies –, daß sie direkt an Barlev gingen und daß mein verrücktes Kabel aus Damaskus die gewünschte Wir kung gezeitigt hatte, ihn zu alarmieren. Die abschlie ßende Bestätigung enthielt einen Satz, den ich als per sönliche Zusicherung von seiner Seite auffaßte. Fama gusta sagte, man werde »vorgehen wie geplant«. Für mich hieß das, daß die Aufbringung an diesem Abend um 21 Uhr 15 in der Höhe von Caesarea erfol gen würde. Ich war überzeugt, daß mir jetzt nichts anderes zu tun übrigblieb als abzuwarten. Ghaled war den größten Teil des Tages über in sei ner Kabine geblieben. Die Kommandokämpfer zogen es vor, sich auf Deck aufzuhalten – verständlicherwei se, denn der Sonderraum hatte kein Bullauge. Ich hielt mich bis zum späten Nachmittag in der Kapitänskajü te achteraus der Brücke auf. Das geschah mit Ghaleds Zustimmung; ich sollte den Kurs des Schiffs überwa chen. Aber gegen fünf Uhr kam ein Befehl, den Ky prianou, der Steward, mir überbrachte, daß ich mich in Ghaleds Kabine einzufinden habe. Zugleich mit dem Befehl übermittelte mir Kypria nou eine zusätzliche Information. »Mr. Yassin ist be waffnet«, sagte er in dramatischem Tonfall. »Oh.« »Er trägt seine Pistole an einem Gürtel, Sir.« »Ich verstehe.« »Soll ich ihm sagen, daß er sie ablegen muß, Sir?« 392
»Nein, Kyprianou, das ist schon in Ordnung.« Er schien enttäuscht zu sein. Touzani, der zugehört hatte, verfügte eine weitere Vorsichtsmaßregel. »Sie werden so tun, als hätten Sie die Pistole nicht gesehen. Gehen Sie weiterhin wie gewöhnlich Ihrer Arbeit nach.« Er entließ den Steward. Dann sagte er: »Wenn Sie zurückkommen, Mr. Howell, wäre eine kleine Unterhaltung zwischen uns beiden vielleicht ganz angebracht.« Ich nickte und ging hinunter, um Ghaled aufzusu chen. Er saß an dem kleinen Kabinentisch und schrieb, und ich blieb ein paar Sekunden lang in der Tür ste hen, bevor er sich umdrehte. »Ah, Genosse Michael. Am Tag vor unserer Abrei se hatte ich Ihnen einen kleinen Auftrag erteilt.« »Auftrag, Genosse Salah?« »Zwei Flaschen Brandy.« »Oh, ja. Für die Siegesfeier. Wollen Sie sie jetzt ha ben?« »Eine hätte ich schon ganz gern. Und bringen Sie zwei Gläser aus dem Salon mit.« Ich mußte in die Kapitänskajüte hinaufgehen, um die Flasche zu holen. Touzani sah schweigend zu, wie ich sie meinem Koffer entnahm. Es war ein beredtes Schweigen. Ein gesprochener Kommentar wäre mir lieber gewesen. Als ich zu Ghaled zurückkehrte, hielt er einige Pa piere in der Hand. »Setzen Sie sich, Genosse Michael.« 393
Da er auf dem einzigen Stuhl saß, den es in der Ka jüte gab, setzte ich mich auf die Schlafkoje neben die Serinette. »Können Sie die Flasche öffnen? Gut. Dann schen ken Sie ein und lassen Sie uns über die Zukunft reden. Um welche Zeit treffen wir morgen in Alexandria ein?« »Am frühen Nachmittag, nehme ich an, Genosse Salah. Aber in Anbetracht der bevorstehenden Kurs änderungen ist es schwer, das genau vorauszusagen.« »Meine Ankunft muß selbstverständlich geheim bleiben. Es darf nicht bekannt werden, wie ich ange kommen bin. Die Pressekonferenz werde ich in Kairo abhalten.« »Ist sie schon vorbereitet?« »Alles ist schon vorbereitet.« Er reichte mir ein Blatt Papier mit einem hektographierten Schreibma schinentext darauf. »Das ist die einleitende Erklärung, die den internationalen Nachrichtenagenturen über geben wird, sobald die ersten Meldungen von unserem Angriff einzulaufen beginnen.« Das Papier trug die Aufschrift Palästinensisches Ak tionskommando/Informationsdienst. Die Erklärung be gann wie folgt: Beirut, den 4. Juli Gegen 22 Uhr unternahmen gestern, am 3. Juli, Trup pen des Palästinensischen Aktionskommandos unter dem persönlichen Befehl ihres Führers Salah Ghaled den vernichtendsten Angriff gegen den zionistischen Pseudo-Staat Israel, den dieser jemals erlebt hat. Das Ziel des Angriffs war die Hochburg des zionistischen 394
Expansionismus, Tel Aviv. Massive Bombardierungen sowohl durch Land- als auch durch Seestreitkräfte des pak haben, obschon vorwiegend gegen militärische Einrichtungen und Ziele des Gebiets gerichtet, dem Vernehmen nach auch einige Opfer unter der Zivilbe völkerung gefordert. In einer nach dem Angriff abge gebenen Verlautbarung erklärte der pak-Führer Salah Ghaled, wenngleich er die Opfer bedaure, könne er nicht zulassen, daß die Befreiungspolitik des pak soge nannte unschuldige Zuschauer berücksichtige. »Solan ge wir Palästinenser um unser Recht kämpfen müs sen«, sagte er, »ist kein Zuschauer unschuldig. In der Palästinensischen Befreiungsbewegung ist bis heute zuviel geredet und zuwenig gehandelt worden. Mit dieser Offensive hat das pak, das damit die Führung aller palästinensischen Streitkräfte übernimmt, den Marsch zum Sieg und zur endgültigen Wiederherstel lung des Rechts angetreten.« In diesem Stil ging es noch eine ganze Zeitlang wei ter – offensichtlich handelte es sich um eine Fleißar beit Melanie Hammads –, aber ich tat nur so, als läse ich alles durch. »Ist es auch gutes Englisch, Genosse Michael?« fragte er besorgt. »Ich kann etwas englisch lesen, aber nicht sehr gut.« »Ja, das Englisch ist gut.« Ich wußte, daß von mir eine bestimmte Frage erwartet wurde und daß ich sie besser umgehend stellte. »Hier steht, daß von See aus bombardiert werden würde, Genosse Salah. Kann das stimmen?« 395
Er lächelte zufrieden. »Das ist eine Überraschung, die ich für Sie aufgespart habe. Füllen Sie unsere Glä ser nach.« Und dann erzählte er mir von dem geplanten Jeble-5 Überfall. Ich ließ die erwarteten Laute des Staunens und der Freude hören. In gewisser Weise hatte er mir meine Aufgabe etwas erleichtert, weil ich ihm nicht mehr ganz soviel vormachen mußte. Andererseits hatte ich jetzt vor Kapitän Touzani mehr zu verbergen als zu vor. Statt ihm meine eigenen Mutmaßungen und Schlußfolgerungen zu verschweigen – immerhin hät ten sie irrig sein können –, hatte ich jetzt bestätigte In formationen zu verheimlichen. Ich würde gut achtge ben müssen bei unserer ›kleinen Unterhaltung‹. Das Problem war jetzt, wie ich mich von Ghaled loseisen konnte. Immer nur von Kairo reden und von dem Empfang, der ihn dort erwartete – das war alles, was er wollte. Das letztemal war die Begrüßung fro stig gewesen. Diesmal würde sie ganz anders ausfallen. Er freute sich schon auf das Gesicht, das Jassir Arafat machen würde, wenn sie einander für die Fotografen umarmten. Er hatte sich zu einigen der Fragen, die ihm die Reporter voraussichtlich stellen würden, Stichwörter notiert und seine Antworten vorbereitet. Ich mußte sie mir anhören. Er redete und redete. Nach dem dritten Brandy sagte ich, daß ich jetzt ge hen und Vorbereitungen für den Abend treffen müsse. »Was für Vorbereitungen?« »Der erste Kurswechsel wird um acht Uhr vorge 396
nommen. Sobald ich mich überzeugt habe, daß alles in Ordnung ist, sollten wir meiner Meinung nach unser Abendessen einnehmen, Genosse Salah, damit wir alle für den nächsten Wechsel um neun Uhr fünfzehn vor Caesarea bereit sind. Ich nehme an, die Jeble 5 wird kurz darauf zu uns stoßen.« »Ja, wir haben zu arbeiten. In Ordnung, gehen Sie.« Als ich die Kajüte verließ, schenkte er sich seinen vierten Brandy ein. Kapitän Touzani trank Bier und sah nicht danach aus, als schmecke es ihm. »So«, sagte er, »unser bewaffneter Passagier ist also jetzt eifrig dabei, sich zu betrinken. Sie können von mir als Kapitän dieses Schiffs nicht erwarten, daß mir das gefällt.« »Er wird nicht sehr betrunken. Er wird unange nehmer, nicht betrunkener. Ich erwarte nicht, daß Ih nen das gefällt.« »Aber Sie haben keine Änderung des Plans vorzu schlagen.« »Keine, die wir nicht schon diskutiert hätten.« »Dann schließe ich daraus, daß ich an die Wachoffi ziere jetzt Waffen ausgeben soll.« »Ja. Und wenn Yassin und die anderen Passagiere zum Essen in den Salon gehen, möchte ich, daß die Tür zum Sonderraum verschlossen wird. Ghaleds Automatic müssen wir in Kauf nehmen, aber wir wollen nicht, daß sich die anderen auch noch be waffnen.« »Womöglich sind sie schon bewaffnet.« 397
»Nein, ich habe mich überzeugt. Sie sind an Deck und rauchen.« »Wenn sie die Tür verschlossen finden, werden sie das nicht mögen.« »Vielleicht kommt es gar nicht dazu.« Ich hoffte noch immer auf das Eingreifen vor Caesarea. »Meinen Sie, daß sie heute nacht nicht schlafen ge hen werden?« Die braunen Augen musterten mich eindringlich. »Ich meine, daß ich mit einer Wendung zu unseren Gunsten rechne, Käptn.« Längere Zeit herrschte Schweigen, bevor er sagte: »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Mr. Howell.« »Ich glaube, ich weiß es, Käptn.« Als wir die erste Kursänderung vornahmen, stand die Sonne tief am Himmel. Sobald wir uns auf dem neuen Kurs befanden, ging ich in den Salon hinunter und meldete Ghaled den Vollzug. Er schien nicht son derlich interessiert zu sein. Er mußte stetig weiterge trunken haben, seit ich ihn verließ. Ich setzte mich ne ben Aziz und zwang mich, etwas zu mir zu nehmen. Kyprianou bedachte mich mit mißbilligenden Blicken; ich verhielt mich nicht, wie man es von einem Eigner erwarten durfte. Sobald ich irgend konnte, verließ ich den Salon und begab mich wieder auf die Brücke. Touzani hatte einen zusätzlichen Mann oben an der Kajütentreppe postiert. Patsalides hielt Wache. Beide hatten große Revolver in ihren Gürteln stecken und waren deswegen offensichtlich etwas geniert. Sie taten, als sähen sie mich nicht. 398
Touzani war in seiner Kajüte. Er trug seinen Revol ver in der rechten Hosentasche. Er hatte durch das Bullauge gestarrt, als ich eintrat, aber jetzt drehte er sich um. Er deutete auf die Dunkelheit. »Da draußen ist ein anderes Schiff«, sagte er. »Vor einer Weile hat es ach teraus unseren Kurs gekreuzt. War gut zu sehen gegen den Sonnenuntergang. Ein syrischer Schoner, der un ter Maschine lief.« Ich setzte mich und sagte nichts. »Das ist wohl nicht zufällig das Schiff, mit dem wir uns treffen sollen, wie?« »Warum fragen Sie?« »Bei der nächsten Kursänderung werden wir auf konvergierenden Kurs sein. Ich frage nur, weil der Schoner ohne Positionslichter läuft.« »Er kann unsere Lichter sehen. Ich glaube, Sie wer den feststellen, daß er Abstand hält.« »Ein Rendezvous?« »Nicht mit ihm.« »Ihre Weisungen bleiben unverändert, Mr. Ho well?« »Meine Ansuchen, ja. Auf sechs Knoten herunter gehen, aber von der Küste zehn Meilen Abstand hal ten.« »Gut.« Er verließ mich und ging ins Ruderhaus. Er war unzufrieden mit mir, und ich konnte es ihm nicht ver denken. Ich war selber unzufrieden mit mir. Er ver traute mir, und ich hätte ihn ins Vertrauen ziehen sol 399
len. Aber dazu war es jetzt zu spät. Ich hatte angefan gen, die Uhr im Auge zu behalten. Neun Uhr kam und verstrich. Dann war es neun Uhr fünfzehn. Von der Brücke her konnte ich hören, wie die Kurskorrektur vorgenommen wurde. Patsali des gab über den Telegrafen das Klingelzeichen für halbe Kraft voraus an den Maschinenraum, anschlie ßend die Umdrehungszahl für sechs Knoten. Die Kursänderung, die Hadaya vorgeschrieben hatte, be trug elf Grad nach Steuerbord. Touzani ordnete eine um fünfzehn Grad an. Von jetzt ab würden wir uns bis zur nächsten Korrektur von der Küste entfernen, und nachdem sie vorgenommen war, weit außerhalb territorialer Gewässer befinden. Ich hatte keine kon krete Vorstellung, in welcher Form sich das Eingrei fen des Patrouillenbootes abspielen würde. Mir schwebte nur vage irgendeine Art von Blinkzeichen vor – »Welches Schiff ist das?« –, gefolgt von der Auf forderung, sofort zu stoppen. Ich wußte es nicht. Es interessierte mich nicht. Ich stand bloß da, starrte durch das Bullauge in die Dunkelheit hinaus und war tete darauf, daß irgend etwas geschah. Ich wartete und wartete. Ich wartete noch immer, als Kapitän Touzani in die Kajüte zurückkehrte. Er hatte ein FunkspruchFormular in der Hand, und er war ganz offensicht lich wütend. »Mr. Howell, soeben ist ein Funkspruch aufge fangen worden.« Er hielt mir das Formular unter die Nase. 400
Es war gerichtet an motorschiff amalia howell fuer mr. howell. Es lautete: notmassnahme, steu ern sie 170 grad, wiederhole 170. sie haben die erlaubnis ashod anzulaufen. es war unter schrieben: kuestenwache hadera. Wenigstens hatten sie mich nicht vergessen. Ich blickte auf und geradewegs in Kapitän Touzanis zor nige braune Augen. »Der Spruch mag an Sie gerichtet sein, Mr. Ho well«, sagte er sehr ruhig, »aber ich will wissen, was er zu bedeuten hat. Ich verlange eine Erklärung.« Daß meine Funkmeldungen doch nicht völlig ver standen worden waren – das hatte es zu bedeuten; aber das konnte ich ihm schwerlich sagen. »Könnten wir einen Blick auf die Karte werfen, Käptn?« »Bitte sehr. Aber ich bestehe nach wie vor auf einer Erklärung. Ich will wissen, warum Sie auf meinem Schiff navigatorische Anweisungen von einer israeli schen Küstenwache erhalten und warum uns aus drücklich erlaubt wird, einen israelischen Hafen anzu laufen, den wir gar nicht anlaufen wollen.« »Zeigen Sie mir diesen Kurs bitte auf der Karte.« Wir gingen in das Ruderhaus, und er legte ein Line al quer über die Seekarte, um mir den Kurs zu demon strieren. »Da haben Sie Eins-sieben-null.« »In welcher Entfernung würden wir auf diesem Kurs Tel Aviv passieren?« »Rund sechs Meilen.« 401
»Wie lautet unser derzeitiger Kurs?« »Eins-neun-zwei.« »Wollen Sie bitte an Hadera zurückfunken? Sagen Sie bitte in meinem Namen, daß wir nicht, ich wie derhole, nicht in der Lage sind, diese Notmaßnahme auszuführen, und daß wir gezwungen sind, gebrau chen Sie dieses Wort, Kurs Eins-neun-zwei beizube halten.« »Erst will ich eine Erklärung haben.« »Wir versuchen, uns aus einer bösen Sache heraus zuhalten, und eine Menge anderer Menschen eben falls. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick leider nicht sagen, Käptn. Bitte, geben Sie jetzt den Funkspruch auf und kennzeichnen Sie ihn als sofortiges han deln erfordernd.« Er wollte Einwände erheben, aber ich schnitt ihm das Wort ab. »Dies ist ein Befehl, Kapitän Touzani, und ich kann Ihnen versichern, daß es sich um einen durchaus legi timen Befehl des Schiffseigners an seinen Kapitän handelt.« »Das würde ich gern selber beurteilen.« »Das werden Sie auch, aber im Augenblick müssen Sie das Urteil darüber schon mir überlassen. Bitte ge ben Sie den Funkspruch auf.« Ich ließ ihn stehen, be vor er noch etwas entgegnen konnte. Ich mußte nach denken. Die Botschaft der Küstenwache konnte nur von Barlevs Leuten in Tel Aviv in der Absicht diktiert worden sein, von mir in einem ganz bestimmten Sinn aufgefaßt zu werden. Da sie meine Hinweise auf ein zweites Schiff nicht verstanden hatten, konnten sie 402
zweierlei gemeint haben. Erstens, daß sie noch immer nicht gewillt waren, die Amalia so weit außerhalb ih rer Hoheitsgewässer aufzubringen, und mich nach wie vor dazu bewegen wollten, es ihnen einfacher zu ma chen. Die zweite Möglichkeit … Aber ich kam nicht mehr dazu, sie zu durchdenken. Etwas anderes lenkte mich ab. Die Salontür zum Deck wurde durch eine Sperrvor richtung offengehalten, so daß ich es schon hörte, als ich die Kajütentreppe halbwegs hinuntergestiegen war: ein krächzendes Geräusch und dann, plötzlich und sehr laut, eine Stimme. Ich blieb stehen und sah durch das Bullauge. Ghaled und seine Kommandokämpfer hatten sich um das Sprechfunkgerät versammelt, und die Stimme, die aus dem Apparat tönte, war die Hadayas. Ich gebe zu, daß ich nur ungern wieder aufrühre, was im Verlauf der nächsten Stunde geschah, aber es ist so vieles gesagt, so vieles angedeutet oder unterstellt worden und so vieles ungesagt geblieben, daß ich es tun muß. Die Reichweite von Sprechfunkgeräten variiert. Dieses mochte nach meiner Schätzung bis zu einer Entfernung von etwas mehr als einer Meile funktio nieren. Da Hadaya zu jenem Zeitpunkt über zwei Seemeilen von uns entfernt war, konnten wir ihn zu nächst nur sehr schlecht hören. Wiederholt blieb die Stimme plötzlich weg, und statt ihrer drangen kräch zende Geräusche wie dasjenige, das ich schon von draußen gehört hatte, aus dem Gerät. 403
Aber was er meinte, war selbst unter diesen Um ständen deutlich genug und wurde mit abnehmender Entfernung zwischen den beiden Sprechfunkgeräten immer deutlicher. Ghaled sah wütend auf, als ich eintrat. »Haben Sie das gehört?« fragte er gebieterisch. »War das Hadayas Stimme, Genosse Salah?« »Allerdings war sie das. Er spricht von der Jeble 5 aus mit uns. Er sagt, daß wir nicht auf Kurs sind.« Es empfahl sich nicht, Ghaled zu sagen, er rede Un sinn, aber ich war geistesgegenwärtig genug, das zweitbeste zu tun – ihn vermuten zu lassen, daß er es tat. »Genosse Salah, ich komme gerade von der Brücke, um Ihnen zu sagen, daß das Schiff jetzt auf Kurs läuft.« »Jetzt? Warum nicht schon eher?« »Wenn man mit dem Wagen um eine Ecke fährt, schlägt man das Steuer ein und lenkt dann wieder ge radeaus. Auf See ist es das gleiche. Aber wir sitzen nicht in einem Wagen oder in einem Ruderboot. Dies ist ein Schiff, und eines, das im Augenblick kleine Fahrt macht. Es braucht Zeit, um eine Wendung aus zuführen, und Zeit, um wieder geradeaus zu laufen. Hadaya weiß das genau.« »Er sagt auch, daß wir nicht in der vorgesehenen Position sind.« »Mit Verlaub, Genosse Salah, das ist unmöglich.« Aus dem Sprechfunkgerät drang ein weiteres un deutliches Krächzen. Hadaya sagte irgend etwas von 404
Peilungen vornehmen und Position bestimmen müs sen. Ghaled verstand es nicht, und ich war froh, es ignorieren zu können. »Sie haben selbst zugegeben«, sagte er anklagend, »daß Hadaya kompetent ist.« »Das habe ich auch, und ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß er es ist, jedenfalls im Hafen. Im Au genblick jedoch dürfte er nervlich ziemlich stark be ansprucht sein, und vielleicht ist er ein bißchen aufge regt. Hat er schon einmal als Kommandokämpfer an einer Aktion teilgenommen, Genosse Salah?« »Nein, aber er braucht nichts weiter zu tun, als den richtigen Ort anzusteuern. Er selbst muß keinen ein zigen Schuß abgeben.« »Er hat immerhin die Verantwortung und befindet sich bereits in einer nicht ganz ungefährlichen Situati on. Vielleicht weiß er das.« »Wieso nicht ganz ungefährlich?« »Kapitän Touzani hat den Schoner bei Sonnenun tergang gesichtet. Er lief ohne Lichter und steuerte auf Kollisionskurs mit diesem Schiff. Was auf der Karte einfach aussieht, erweist sich auf See und in der Dun kelheit nicht immer als ganz so einfach. Selbst die kompetentesten Offiziere verlieren zuweilen die Ori entierung.« »Hadaya kann unsere Lichter sehen, und er sagt, daß wir uns nicht in der vorgesehenen Position befin den.« In Latakia hatte Kapitän Touzani mich gefragt, ob unter den Passagieren, die wir an Bord nehmen müß 405
ten, ein Seemann sein würde, und ich hatte das ver neint. Aber Hadaya war Seemann und mit dem ver dammten Sprechfunkgerät so gut wie an Bord. Und zu allem Übel wurde seine Stimme zunehmend klarer. Alles, was ich jetzt noch tun konnte, war bluffen, verwirren und Zeit zu gewinnen versuchen. »Fragen Sie ihn bitte, welchen Kurs wir steuern, Genosse Salah.« Ghaled drückte auf den Sendeknopf und wiederholte die Frage. Einen Augenblick später kam die Antwort zurück. »Amalias und unser Kurs ist jetzt Eins-neun-zwo, aber –« Ich versuchte, den Rest zu übertönen. »Genosse Sa lah, das ist der Kurs, den Sie in Ihren Instruktionen vorgeschrieben haben.« »Lassen Sie ihn ausreden.« Zu Hadaya sagte er: »Wiederhole das.« »Wir sind auf dem richtigen Kurs, aber zu weit westlich.« »Wie ist das möglich?« »Nach der Wende nach Steuerbord hat die Amalia zu lange mit der Korrektur gewartet. Nach meiner Schätzung sind wir mindestens zwei Meilen weiter westlich, als wir sein sollten.« »Das ist ausgeschlossen«, protestierte ich. »Kapitän Touzani ist ein erfahrener Navigator und hat moderne Instrumente zur Verfügung. Hadaya muß sich irren.« Ghaled drückte auf den Knopf. »Genosse Michael sagt, daß du dich irrst. Was sagst du dazu?« »In ein paar Minuten müßte ich anhand der auf der 406
Karte verzeichneten Leuchtfeuer von Hadera und Tel Aviv Peilungen vornehmen können. Dann werden wir wissen, wer sich geirrt hat.« »In wieviel Minuten?« »Ich könnte jetzt gleich einen Mann in den Mast korb hinaufschicken, aber ich möchte lieber selbst pei len. Geben Sie mir fünf Minuten Zeit, Genosse Salah.« »In Ordnung.« Ghaled warf einen Blick auf seine Uhr und richtete ihn dann auf mich. »Ich will Ihren Touzani sprechen.« »Auf der Brücke, Genosse Salah?« »Nein, hier. Lassen Sie ihn holen.« Ich klingelte nach Kyprianou. Als er erschien, sagte ich: »Eine Mitteilung an den Kapitän. Meine Empfeh lung, und er möchte bitte in den Salon herunterkom men.« Ich sprach griechisch und fügte hinzu: »Bestellen Sie dem Kapitän, dies ist ein Ersuchen, auf das er nicht eingehen sollte, und sagen Sie ihm, daß die gesamte Mannschaft sich auf Ärger gefaßt machen muß.« Er blickte bestürzt drein und eilte davon. Ghaled wandte sich an Aziz. »Wenn dieser Tune sier Genosse Michaels Befehle nicht ausgeführt hat, müssen wir dafür sorgen, daß er unseren gehorcht. Bewaffnet euch.« Sie marschierten den Gang hinunter nach achtern. Es war ein ungünstiger Augenblick für mich. Die Männer auf der Brücke waren bewaffnet, und der Rest der Mannschaft wurde inzwischen alarmiert. Ghaled war zwar ebenfalls bewaffnet, aber die Chancen stan 407
den günstig für das Schiff. Nicht jedoch für mich. Bis jetzt hatte es ausgesehen, als vertraue Ghaled mir. Wir hatten unsere behagliche kleine Trinkstunde in seiner Kabine verbracht. Selbst Hadayas peinliche Enthül lungen schienen keinen Zweifel an meiner Loyalität in ihm wachgerufen zu haben. Wenn sich das Schiff nicht dort befand, wo es hätte sein sollen, so war »der Tunesier« schuld daran und nicht der Genosse Micha el. Aber alles das würde sich jetzt in wenigen Augen blicken mit Sicherheit ändern. Ghaled mochte von Navigation nichts verstehen, aber was eine verschlos sene Tür zu bedeuten hatte, würde er wissen. Sie be deutete, daß der Tunesier vorsätzlich Widerstand lei stete und feindselige Handlungen beging. Und von wem bekam er seine Anweisungen? Von mir. Ich versuchte mich aus der Gefahrenzone herauszu reden. »Wenn das Schiff tatsächlich von der Position etwas abgekommen sein sollte, wäre das übrigens nicht weiter schlimm, Genosse Salah. Der Fehler könnte mühelos korrigiert werden. Selbst bei einer Fahrt von sechs Knoten läßt sich ein Positionswechsel um zwei Meilen bis zur Stunde Null bequem durchführen. Ha daya ist übernervös, das ist alles. Vielleicht bin ich es auch, jetzt, wo wir wirklich zur Aktion übergehen. Auf jeden Fall bin ich schon vergeßlich. Ich hatte eine zweite Flasche Brandy mitbringen wollen, als ich her unterkam. Wenn Sie mich einen Augenblick entschul digen wollen, gehe ich hinauf und hole sie.« Er sah wieder auf seine Uhr. Ich glaube, er hätte mich den Brandy holen lassen; aber ausgerechnet in 408
diesem Augenblick kam Kapitän Touzani in den Sa lon. Ich weiß inzwischen, weshalb er kam. Er befürchte te, die Aufforderung, die Besatzung zu alarmieren, deute darauf hin, daß ich wegen der abgeschlossenen Tür zum Sonderraum in Bedrängnis geraten war. Trotz meines Ratschlags, auf der Brücke zu bleiben, kam er, um mich herauszupauken. Sehr großmütig von ihm, wenn man bedenkt, wie ich ihn behandelt hatte; aber es wäre wirklich besser gewesen, wenn er meinen Rat be folgt hätte und geblieben wäre, wo er war. »Sie wollten mich sprechen, Mr. Howell?« fragte er. Ich kam nicht dazu, ihm zu antworten. »Ich will Sie sprechen«, fuhr Ghaled ihn an. Im gleichen Augenblick wurden vom Gang her eili ge Schritte hörbar, und Aziz stürzte herein. »Genosse Salah! Wir können uns nicht bewaffnen. Wir sind aus unserem Raum ausgesperrt.« Dann sah er den Kapitän and zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. »Er hat die Tür abgeschlossen, damit wir nicht hineinkönnen!« Touzani lächelte. »Unsinn, Mr. Faysal. Der Raum bleibt normalerweise verschlossen. Ich nehme an, daß der Bootsmann gewohnheitsmäßig abgeschlossen hat, als er seine Runde machte. Ich werde veranlassen, daß aufgeschlossen wird.« »Sofort, wenn ich bitten darf, Käptn«, sagte Ghaled, und ich sah, daß er seine Pistolentasche öffnete, wäh rend er das sagte. »Aber selbstverständlich, Mr. Yassin.« 409
Touzani schickte sich an zu gehen, als plötzlich Hadayas Stimme laut und schrill aus dem Sprech funkgerät tönte. »Genosse Salah! Genosse Salah!« Ghaled langte nach dem Sendeknopf. »Ja?« »Genosse Salah, ich habe die Leuchtfeuer von Ha dera und Tel Aviv angepeilt. Wir sind drei Meilen au ßer Position, mehr als zehn Meilen von der Küste ent fernt! Auf unserem jetzigen Kurs geraten wir gänzlich außer Reichweite.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher. Wir müssen nach Backbord drehen und Eins-sechs-null steuern. Sofort, Genosse Salah!« Ghaled starrte Touzani an. »Hören Sie das?« Touzani starrte seinerseits ungerührt zurück. »Ich höre eine Stimme, Mr. Yassin. Ich weiß nicht, wessen Stimme, aber Sie redet Unsinn. Glauben Sie vielleicht, ich kenne meine eigene Position nicht?« »Ich glaube, Sie kennen Ihre Position sehr genau. Deswegen werden Sie von jetzt ab meine Befehle be folgen.« Wieder blökte Hadayas Stimme dröhnend. »Steu ern Sie Eins-sechs-null, Genosse Salah. Sofort.« »Und das ist mein erster Befehl«, fuhr Ghaled fort. »Hören Sie? Dann gehorchen Sie!« »Ich lasse mein Schiff nicht auf Grund laufen, um Ihnen gefällig zu sein, Mr. Yassin.« »Es ist nicht mehr Ihr Schiff. Ich habe das Kom mando übernommen. Haben Sie gehört?« 410
»Ich habe gehört«, sagte Touzani und griff nach seinem Revolver. Er steckte in seiner Hosentasche, und der Spannhebel verfing sich im Futter. Er ver suchte noch immer, die Waffe zu ziehen, als Ghaled auf ihn feuerte. Das schwere Geschoß schleuderte ihn rückwärts gegen einen Stuhl. Der Stuhl fiel um, und er mit ihm; wie gefällt schlug die massige Gestalt auf den Linole umboden. Ghaled drückte Aziz seine Automatic in die Hand. »Auf die Brücke«, befahl er ihm. »Übernimm sofort das Kommando. Ordne den neuen Kurs an.« Er wandte sich an mich. »Sie gehen mit ihnen. Sorgen Sie dafür, daß der Befehl korrekt ausgeführt wird. Sehen Sie selber auf den Kompaß. Kurs Eins-sechs-null. Los jetzt!« Er eilte mit raschen Schritten den Gang hinunter in seine Kabine. Aziz und die anderen beiden waren schon draußen auf Deck und hasteten, Aziz mit der Automatic vornweg, zur Treppe, die auf die Brücke führte. Als er sich anschickte, sie hinaufzustürmen, ertönte plötzlich ein scharfer Knall, und ich sah, wie es ihn herumriß und er sich am Treppengeländer festhielt. Es war Patsalides, der von der Brücke aus feuerte. Er hatte den Schuß im Salon gehört und war nicht gewillt, sich auf irgendwelche Risiken einzulassen. Wenn die Kommandokämpfer ihre Maschinenpistolen bei sich gehabt hätten, wäre die Geschichte vermutlich anders abgelaufen; aber jetzt mußten sie in Deckung 411
gehen, während der verwundete Aziz mit der Auto matic mehr oder weniger gezielte Einzelschüsse zur Brücke hinauf abgab. Ich ging zu Kapitän Touzani. Weil er bei dem Versuch, die Waffe aus der Hosen tasche zu ziehen, eine halbe Drehung vollführte, hatte Ghaleds Kugel seinen linken Arm durchschlagen und war ihm in die Flanke gedrungen. Der Blutfleck auf seinem Hemd wuchs, aber stärker noch schien sein Arm zu bluten. Mit der unverletzten Rechten ver suchte er noch immer vergeblich, den Revolver zu ziehen. Ich zog ihn für ihn heraus, aber er hielt die Waffe fest. Er fing an zu fluchen und wollte sich aufsetzen. Ich sagte ihm, er solle seine Kräfte sparen und ganz ruhig liegenbleiben. Dann lief ich den Gang hinunter und trat in Gha leds Kabine. Er hatte die Serinette aus ihrem Behälter herausge hoben und war dabei, sie auf dem Tisch zu installie ren. Die Bandantenne war bereits durch das geöffnete Bullauge hindurch ausgelegt. Er hörte mich und drehte sich um. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen auf die Brücke gehen.« »Genosse Salah«, sagte ich. »Niemand darf auf die Brücke gehen.« Und dann schoß ich auf die Serinette. Ich feuerte drei Schüsse aus dem Revolver ab. 412
Alle waren auf die Spieldose, die Serinette, gezielt. Ich ging dann in den Salon zurück. Was inzwischen dort geschehen war, konnte ich mir im ersten Moment nicht erklären. Als die Kommando kämpfer zum Angriff auf die Brücke aufgebrochen waren, hatten sie die Salontür weit offen gelassen. Jetzt drang blendendes bläulich-weißes Licht durch sie her ein. Es war der Scheinwerfer des herannahenden Pa trouillenbootes, aber sobald mir das klarwurde, achte te ich nicht weiter darauf. Touzani fluchte noch im mer vor sich hin. Ich riet ihm erneut, seine Kräfte zu schonen. Ich hörte den Maschinentelegraphen und fühlte, wie die Vibration aufhörte. Wir stoppten. Ich ging zum Sprechfunkgerät und drückte auf den Sen deknopf. »Hadaya, hier spricht Howell. Hören Sie mich?« »Ja. Ist das ein Patrouillenboot, das Sie angreift?« »Ich weiß es nicht, aber wir stoppen. Ich habe Be fehle vom Genossen Salah zu übermitteln. Die Opera tion ist abgebrochen. Verstehen Sie mich? Die Opera tion ist abgebrochen. Sie sollen Ihre Deckfracht über Bord werfen und in Ihren Heimathafen zurückkeh ren. Haben Sie gehört?« »Warum spricht Genosse Salah nicht selber?« »Er ist verwundet. Aber so lauten seine Befehle. Be folgen Sie sie umgehend. Haben Sie verstanden?« »Ich habe verstanden. Ist er schwer verwundet?« Ich schaltete das Gerät ab, ohne seine Frage beant wortet zu haben. Falls die Jeble 5 jetzt direkten Kurs 413
auf Tel Aviv steuerte, mochte es ihr noch gelingen, ein paar Raketensalven abzufeuern, bevor sie ihrerseits vom Patrouillenboot unter Beschuß genommen wurde. Wenn ich Hadaya auch keineswegs für den Typ hielt, der an selbstmörderischen Angriffsunternehmen Ge schmack fand, so war es doch möglich, daß die Kom mandokämpfer an den Raketenabschuß-Vorrichtungen dies taten. Ich hielt es für besser, sie in dem Glauben zu lassen, daß sie Ghaled noch immer verantwortlich seien. Der Leutnant, der das israelische Patrouillenboot be fehligte, war ein junger Mann mit verkniffenem Mund und stechendem Blick, sandfarbenem Haar und Som mersprossen. Ich traf ihn und sein Prisenkommando auf dem Achterdeck. Er salutierte straff und gab sich zunächst sehr förmlich. Er war entsprechend instru iert worden. »Kapitän Touzani?« »Kapitän Touzani ist verwundet. Mein Name ist Howell.« »Ah, ja. Der Schiffseigner.« Sein Englisch war kor rekt, mit nur ganz leichtem Akzent. »Ich muß Sie fra gen, ob Sie um Unterstützung seitens der israelischen Marine gebeten haben.« »Ja, das habe ich.« »Warum, bitte?« »Wir sollten von vier Passagieren entführt werden. Einer, der Mann, der auf den Kapitän schoß und ihn verwundete, ist tot. Ein zweiter wurde vom Ersten 414
Offizier angeschossen. Der Mann hat eine Pistole, aber ich glaube, daß ihm inzwischen die Munition ausgegangen ist. Die anderen beiden Entführer sind noch nicht gestellt, aber sie haben keine Feuerwaffen.« Er wirkte jetzt weniger förmlich. »Sie nennen sie Entführer, Sir. Haben diese Passagiere versucht, das Schiff mit Gewalt in ihre Hand zu bringen?« »Das haben sie.« »Und den Kapitän bedroht und ihn gezwungen, ei nen bestimmten Kurs zu steuern?« »Ja, allerdings ohne Erfolg.« »Ob es ihnen gelang oder nicht, ist irrelevant. Auf Grund dieser auf offener See begangenen Vergehen sind diese Männer Piraten, Mr. Howell.« »Was immer sie sind, ich bin jedenfalls froh, Sie an Bord zu wissen, Herr Leutnant.« Aber er war schon dabei, in hebräischer Sprache knappe Befehle auszugeben. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die unverletzten Kommandokämpfer ge stellt waren. Sie hatten das Vorhängeschloß an der Tür zum Sonderraum bereits erbrochen, mühten sich aber noch immer vergeblich mit dem Riegel ab. Sie ergaben sich mit finsterer Miene. Inzwischen kümmerte sich ein ausgebildeter Sanitäter um die Verwundeten. Nachdem er seine Meldung erstattet hatte, bespra chen Patsalides und ich uns mit dem Leutnant auf der Brücke. »Die Verwundung von diesem Faysal ist nicht ernst«, sagte er. »Aber Kapitän Touzani hat einen gebrochenen Arm und mindestens eine gebrochene Rippe. Die Kugel 415
steckt noch. Er sollte nicht transportiert werden, bis für ärztliche Hilfe gesorgt ist. Ich schlage vor, Sie laufen Ashdod an, wo wir ihn versorgen können.« »Was soll mit den Gefangenen geschehen?« »Schiffe jedweder Nationalität, die auf offener See Piraten aufbringen, sind berechtigt, sie der Gerichts barkeit ihres eigenen Landes zuzuführen.« Er sagte eine auswendig gelernte Lektion auf. »Da sie von ei nem israelischen Schiff aufgebracht wurden, werden sie vor ein israelisches Gericht gestellt.« »Gut, gut.« »Da ist noch eine weitere Angelegenheit, wegen der ich mit Ihnen Rücksprache nehmen soll, Mr. Howell. Die Sache mit dem zweiten Schiff. Wir haben ein Boot gesichtet, das etwa eine Meile von Ihnen entfernt war und aussah wie ein Schoner, aber kein zweites Schiff.« »Ich bezweifle, ob das von sonderlichem Interesse für Sie ist, Herr Leutnant. Der Schoner war das zweite Schiff, und ich bin sicher, daß Sie ihn mit Leichtigkeit einholen könnten, wenn Sie wollten. Aber er wird Sie nicht um Unterstützung ersuchen. Sie müßten ihn stoppen und sich die Schiffspapiere zeigen lassen. Er ist zwar syrisch, aber in Ordnung werden sie schon sein. Belastendes dürften Sie kaum vorfinden. Das ist mittlerweile über Bord gegangen. Ich werde Ihren Leuten alles erzählen, sobald ich mit ihnen zusam mentreffe. Übrigens nehmen Sie den Toten am besten zusammen mit den lebenden Gefangenen zu sich an Bord.« »Gut, wenn Sie das wollen.« 416
»Auf der Passagierliste ist er unter dem Namen Yassin aufgeführt, aber in Wirklichkeit heißt er Salah Ghaled. Ich hätte ihn gern von Bord gehabt.« »Oh.« Er sah verdutzt aus. Seinen Instruktionen war nichts dergleichen zu entnehmen gewesen; aber er fing sich rasch wieder und grinste. »Ich glaube, je eher wir in Ashdod sind, desto besser ist es für alle Betei ligten, Mr. Howell.« Ich konnte ihm nur zustimmen.
Achtes Kapitel Lewis Prescott August
Michael Howell hätte ein besseres Los verdient. Der Tatbestand der Seeräuberei nimmt im interna tionalen Seerecht eine Sonderstellung ein. Sie ist das einzige ›internationale‹ Verbrechen, das genau defi niert ist und von allen Nationen verurteilt wird. Wenn das Strafmaß für diejenigen, die der Seeräuberei über führt wurden, auch von Staat zu Staat variieren mag, so sind die einschlägigen Gesetzesbestimmungen doch von allen akzeptiert worden. Schwierigkeiten hin sichtlich ihrer Auslegung sind nur selten aufgetreten, und in aller Regel waren sie verfahrenstechnischer Art. Der Fall Amalia Howell kam vor dem Distriktge richt in Ashod zur Verhandlung. Die Angeklagten wurden nur der Seeräuberei beschuldigt und die poli tischen Implikationen ausgeklammert. Die Hauptzeu gen der Anklage waren Kapitän Touzani und sein Er ster Offizier Patsalides. Keiner von beiden erwähnte das pak in seiner Aussage; und die Verteidigung, die den Standpunkt vertrat, daß der Hauptschuldige nicht mehr am Leben sei, hütete sich, es ihrerseits zur Spra che zu bringen. Im Verlauf der Verhandlung behaup tete einer der Angeklagten, Aziz Faysal, Mr. Howell 418
habe Salah Ghaled ermordet, aber es wurden keine Beweise vorgelegt, um die Anschuldigung zu erhärten. Das Gericht kam zu dem Schluß, daß Ghaled bei ei nem Schußwechsel zwischen der Schiffsbesatzung und den Piraten, die das Schiff in ihre Gewalt zu bringen versuchten, getötet wurde. Mr. Howell seinerseits hat den behaupteten Tatbe stand selber nie offiziell in Abrede gestellt. Unter den obwaltenden Umständen war das nicht verwunder lich. Schon vor Beginn der Verhandlung waren so viele andere – und wüstere – Beschuldigungen gegen ihn erhoben worden, daß die Abgabe von Dementis für ihn zu einer nachgerade sinnlosen Pflichtübung ge worden war. Bevor er Latakia an Bord der Amalia Howell verließ, hatte er von Ghaled erfahren, daß eine Sendung von hundert pak-Zündern in Israel verloren gegangen war. Der Verlust war seinerzeit als »kleine Panne« bezeichnet worden, und von Ghaleds Stand punkt aus gesehen kam ihm möglicherweise wirklich keine größere Bedeutung zu. Aber für Mr. Howell war es eine Katastrophe. Was in Israel geschah, war dies: Am 28. Juni hielt ein Bus auf der Fahrt von Haifa nach Tel Aviv in Nazareth, um Passagiere aufzuneh men. Zu ihnen zählte auch eine Gruppe von acht ame rikanischen Touristen. Um Platz für die Reisetaschen und Koffer der neu zugestiegenen Fahrgäste zu schaf fen, war es nötig, den Inhalt des hinten im Bus befind lichen Gepäckraums umzuräumen. Dabei fiel ein klei ner, aber schwerer Karton, der dem Bus mitgegeben 419
worden war, zusammen mit anderen Paketen, die nach Tel Aviv befördert werden sollten, zu Boden. Eine Serie von Explosionen folgte. Es waren keine großen Explosionen, aber es waren sehr viele; und dann fing der Karton Feuer. Niemand wurde verletzt, und nach einer Weile durfte der Bus die Fahrt fortsetzen. Dem Vorfall wur de keinerlei Publicity gegeben. Natürlich war die Po lizei daran interessiert, herauszufinden, wer die Kar tons in Haifa aufgegeben hatte und wer sie in Tel Aviv hätte in Empfang nehmen sollen. Publicity würde Ab sender und Adressaten gewarnt haben. Da der Karton ziemlich stark versengt war, wurde die Aufgabe, die Schrift auf den verkohlten Etiketts zu entziffern, vom Polizeilabor übernommen. Die Ergebnisse sind bis dato nicht bekanntgegeben worden. Was die Öffentlichkeit davon erfuhr, beschränkt sich auf das, was Mr. Robert S. Rankin aus Malibu, Kalifornien, hörte und sah. Er befand sich mit Mrs. Rankin auf einer Rundreise durch das Heilige Land, und sie zählten zu den Fahr gästen, die den Bus in Nazareth bestiegen. Mr. Rankin ist Filmregisseur, und als er und seine Frau ein paar Tage später in Rom eintrafen, wurden sie zu einer Abendgesellschaft eingeladen. Unter den Gästen be fand sich eine umherreisende amerikanische Klatsch kolumnistin. Mr. Rankin erzählte ihr von dem explo dierenden Karton. Der Kolumnistin, die ihr wöchent liches Textsoll mangels Stoff noch nicht erfüllt hatte, kam die Story gelegen. 420
Hier ist Mr. Rankins Augenzeugenbericht über den Vorfall. »Es war eine ganz blödsinnige Sache. Der Bursche mit dem Gepäck stellte diesen Karton auf den Boden. Nicht etwa achtlos, verstehen Sie. Wenn es sich um einen Kasten Scotch gehandelt hätte, wäre nichts zer brochen. Er hat ihn nur etwas unsanft abgestellt. Na, und im nächsten Augenblick war’s dann, als hätten * wir den vierten Juli . Plötzlich knallte es wie verrückt – Pah-pah-pah! Ich dachte zuerst, es sei Maschinen gewehrfeuer, und schrie Mrs. Rankin zu, sie solle sich zu Boden werfen. Aber das war gar kein MG – Pahpah-pah! Und dauernd flogen diese kleinen Dinger überall in der Gegend herum. Kleine Dinger! Was meinen Sie, was das wohl für Dinger waren? Taschen lampen-Batterien, das waren sie! Ganz normale Ta schenlampen-Batterien, die losgingen wie chinesische Feuerwerkskörper. Ich klaubte eine von den Hülsen auf und behielt sie, eine von denen, die losgegangen waren, meine ich. Ein Soldat schaffte den Rest weg. Ich behielt sie als Souvenir und weil ich dachte, sonst glaubt mir das keiner. Man denke, ganz normale Ta schenlampen-Batterien! Natürlich waren es keine richtigen Batterien. Unser Fremdenführer sagte, diese Art Ärger haben sie gelegentlich immer einmal wie der. Auf dem Flughafen, sagte er, haben sie vor unge fähr einem Monat oder so Explosivzünder in den * Independence Day, amerikanischer Nationalfeiertag
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Schuhen einer Frau gefunden: in den Absätzen ver steckt. Das sind die Palästinenser, die dahinterstecken. Zwei Tage später, in Paris, wurde Mr. Rankin von einem Reporter eines französischen Nachrichtenma gazins gefragt, ob er sich die Batteriehülse ansehen könne. Das Magazin veröffentlichte ein Foto davon. Das Etikett war angesengt, aber das Cercle-VertWarenzeichen und der Vermerk »Made in Syria« wa ren klar erkennbar. Die israelische Regierung tendiert dazu, die Verantwortung für feindselige Akte, soweit sie von palästinensischen Guerillagruppen begangen werden, die von ihren Stützpunkten in benachbarten arabischen Ländern aus operieren, den betreffenden Gastgeberländern zur Last zu legen und ihre Vergel tungsmaßnahmen dementsprechend zu adressieren. Als Taschenlampen-Batterien getarnte Zünder einzu schmuggeln, war fraglos ein feindseliger Akt, gleich gültig, welche Guerillagruppe auch immer dahinter stand. In Damaskus hatte Dr. Hawa nichts Eiligeres zu tun, als sein Ministerium von dem Cercle-Vert-Waren zeichen zu dissoziieren. In seiner Erklärung wies er – durchaus wahrheitsgemäß – darauf hin, daß die Cer cle-Vert-Batteriefabrik ein privatwirtschaftliches Un ternehmen der Agence Howell sei, daß keine Staats gelder für ihre Finanzierung verwendet worden seien und daß Michael Howell, ein in Syrien ansässiger aus ländischer Unternehmer, keinerlei wie auch immer ge arteten amtlichen Status genieße. Unmittelbar auf Dr. Hawas Verlautbarung erfolgte 422
die Veröffentlichung der Geständnisse Michael Ho wells und Miss Malandras durch Oberst Shiklas Dienst stelle. In Damaskus glaubten sich die Regierungskreise dadurch salvieren zu können, daß sie Mr. Howell dis kreditierten; und damit hatten sie Erfolg. Hysterisch wie eh und je, fiel die arabische Presse mit allem, was sie ins Feld führen konnte, über ihn her. Und es gab einiges, was sie gegen ihn ins Feld zu führen hatte. Hier war dieser Howell, ein reicher Ge schäftsmann, dessen Familienunternehmen sich seit Generationen an armen arabischen Ländern gemästet hatte, als israelischer Provokateur und Spion entlarvt worden. Nachdem er sich zur Sache der palästinensi schen Befreiungsbewegung bekannt oder vorgeblich bekannt hatte, beschloß er, sie in der niederträchtig sten Weise zu hintergehen. Schlimmer noch, er orga nisierte verräterische Mordkomplotte gegen Araber, die den Erpressungsversuchen seiner Agenten wider standen hatten. Aber Erpressung war nicht seine ein zige Einnahmequelle. In seinen Fabriken ließ er illegal Waffen herstellen, um sie denselben Fedaijin mit Pro fit zu verkaufen, die er später verriet. Zu seinen nach weislichen Opfern zählte unter anderem der palästi nensische Patriot Salah Ghaled, der an Bord eines Howell-Schiffs gelockt und auf Geheiß von Howells zionistischen Auftraggebern heimtückisch ermordet wurde; wobei sein Schicksal im Vergleich zu dem an derer Howell-Opfer, die dem israelischen Usurpator gefesselt ausgeliefert und somit zu qualvollem Dahin 423
siechen in zionistischen Konzentrationslagern verur teilt worden waren, sogar noch als gnädig anzusehen war. Derart unsinnigen Angriffen gegenüber ist eine wirksame Verteidigung schlechthin nicht möglich. Das Opfer kann nur abwarten, bis sie sich totgelaufen haben. Mr. Howells Reaktion hatte sich anfänglich auf die kategorische Zurückweisung aller gegen ihn erho benen Anschuldigungen beschränkt. Als jedoch die europäische Presse die Story aufgriff, änderte er seine Taktik und begann Erklärungen abzugeben. Er hätte bei den Dementis bleiben sollen. Sie waren zumindest eindeutig gewesen. Von den Erklärungen konnte das nicht gesagt werden. Im August hatte ich Gelegenheit, wieder nach Beirut zu reisen, wo ich mit Frank Ed wards über Mr. Howell sprach. Er war kürzlich in Is rael gewesen und hatte den Fall mit seinen dortigen Gewährsleuten diskutiert. Aus Gründen, die mir durchaus einleuchtend erschienen, hatte sich die israe lische Regierung geweigert, zu dem ›Cercle-Vert‹ Zwischenfall oder den von arabischer Seite gegen Mr. Howell erhobenen Beschuldigungen amtlich Stellung zu nehmen. Frank Edwards’ Gewährsleute waren je doch entgegenkommender gewesen, und er hatte eine Reihe interessanter Hinweise erhalten. Die Idee, je manden ein ausgiebiges Feature zu diesem Thema schreiben zu lassen, wurde erörtert. Frank Edwards war mit Mr. Howell flüchtig bekannt und daher in der Lage, ein Interview mit ihm zu vereinbaren. Da ich Ghaled interviewt hatte, erschien es nur logisch, daß ich jetzt den Mann interviewte, der beschuldigt wor 424
den war, ihn ermordet zu haben, und daß ich das Fea ture über ihn schrieb. Die Villa Howell in Famagusta sieht von außen nicht sehr groß aus, aber wenn man sie betritt, weiß man gleich, daß man sich in einem wohlhabenden Haus befindet. Es hat dieses unverkennbare Flair von gesichertem Reichtum: alles ist sehr gediegen, nichts ist sehr neu – ausgenommen vielleicht das Schwimm bad –, und überall herrscht eine leichte, angenehme Unordnung. Mir war gesagt worden, daß Mr. Howells Mutter und seine Frau mit den Kindern den Sommer in Cannes verbrachten, und so überraschte es mich nicht, Miss Malandra in Gesellschaft des Hausherrn anzutreffen. Sie saßen im Badezeug neben dem Swimming-pool, wo sie, den um sie herum verstreuten Akten nach zu urteilen, gearbeitet hatten. Ich wurde aufgefordert, Jackett und Krawatte abzulegen, und man offerierte mir eine Badehose, damit ich mich bequemer fühlte, sowie einen Champagner-Cocktail. Ich lehnte die Ba dehose ab, akzeptierte aber den Cocktail. Miss Malandra brachte ihn mir. Um halb zwei sollte es Lunch geben. Bis dahin blieb uns genügend Zeit für einen zweiten Drink. Inzwischen kamen wir zur Sa che. Oder vielmehr: Michael Howell kam zur Sache. Er tat das, indem er sich zwanzig Minuten lang über die Schändlichkeiten der Presse ausließ. Frank Edwards hatte mich darauf vorbereitet, daß dergleichen zu er warten stand, und so ließ ich ihn zunächst einmal eine 425
ganze Weile lang reden; als er dann aber aus einem Zeitungsartikel zu zitieren begann, den Melanie Hammad für ein Kairoer Blatt geschrieben hatte, und sich anschickte, lange Passagen daraus vorzulesen, mußte ich ihn unterbrechen.« »Tut mir leid, Mr. Howell, aber ich verstehe kein Arabisch.« »Ah, ja, entschuldigen Sie. Nun, ich kann Ihnen auf englisch sagen, was sie über mich schreibt. Sie nennt mich einen Haschemiten-Lakai, einen räudigen Hund, eine mörderische Giftschlange, eine Hyäne, einen Schakal. Ich bin ein Verderber der Jugend. Und das sind noch die milderen Ausdrücke, mit denen sie mich belegt.« »Die milderen?« »Wenn sie auf meine Kreuzigung Ghaleds zu spre chen kommt, wird sie schlechthin abscheulich. Sie sagt, ich wasche meine Hände in palästinensischem Blut. Und lesen Sie das hier. ›Der Name Howell steht für alles, was an unserer Gesellschaft verwerflich ist. Nur mit Feuer kann dieses Übel ausgebrannt wer den!‹« Angewidert warf er die Zeitung zu Boden. »Nun, Mr. Howell, das war doch nicht anders zu erwarten, oder?« »Zu erwarten?« »Von Miss Hammad. Ich höre übrigens, daß sie nach Ghaleds Ende dem pak die Gefolgschaftstreue aufgekündigt und sich der Volksfront angeschlossen hat.« »Aber sie hetzt die Leute nach wie vor dazu auf, 426
mich umzubringen. Ich muß Ihnen sagen, Mr. Pres cott, daß das wirklich außerordentlich schädlich für das Geschäft ist.« Auf eine – wie mir schien – vergleichsweise so ne bensächliche Feststellung war ich in diesem Zusam menhang nicht gefaßt gewesen. »Nur für das Geschäft, Mr. Howell?« »Nur, sagen Sie?! Wissen Sie, daß Howell-Schiffe in einer Reihe von Häfen boykottiert werden? Touzani ist außerordentlich besorgt, das kann ich Ihnen sa gen.« »Touzani? Ist das Kapitän Touzani?« »Natürlich. Er soll unser neuer Schiffahrts-Inspek teur werden. Der Mann, dessen Nachfolge er antritt, steht unmittelbar vor der Pensionierung, und Touzani hat die Beförderung verdient. Aber sie kommt zu einer schlechten Zeit. Er meint, vielleicht werden wir den Namen Howell von unseren Schiffen entfernen müs sen.« »Ich bin mir der Bedeutung des Namens Howell als Symbol in der Geschäftswelt durchaus bewußt«, sagte ich; »aber worüber ich gern mit Ihnen diskutieren würde, das ist Ihr ureigener Standpunkt, der Stand punkt von Michael Howell.« »Die beiden sind nicht zu trennen, Mr. Prescott.« »Wirklich nicht? Es war doch nicht die Agence Howell, die dem pak beigetreten ist, sondern Michael Howell. Und es war Michael Howell, der vor der is raelischen Küste Marineunterstützung gegen Piraten anforderte.« 427
»Aber er befand sich auf einem Schiff, das der Agen ce Howell gehört. Und außerdem – warum sollte ich es Ihnen verschweigen – wurden diese Zünder, die in Na zareth explodierten, in der Cercle-Vert-Batteriefabrik der Agence Howell gefertigt und verpackt.« Ich nahm einen neuen Anlauf. »Was das Thema Zünder betrifft, Mr. Howell, so habe ich eine wichtige Information für Sie, die Ihnen möglicherweise noch nicht bekannt ist. Frank Ed wards hat sie in Israel erhalten. Wir glauben wenig stens, daß sie wichtig ist. Das Dumme ist nur, daß wir sie nicht verstehen. Sie vielleicht.« Ich reichte ihm die Fotokopie, die mir Frank gegeben hatte. Es handelte sich um eine kurze Zeitungsnotiz. Am Spätnachmittag des 2. Juli waren zwei Häuser am Ortsrand eines arabischen Dorfes unweit des is raelischen Flughafens Lod von einer Sprengstoffex plosion zerstört worden, die darüber hinaus auch im nahen Dorf Sachschäden anrichtete. Das Ausmaß der Zerstörungen ließ den Schluß zu, daß bei der Explosi on nicht weniger als zweihundert Kilo Sprengstoff zur Entzündung gebracht worden waren; Leichenteile von sechs Opfern wurden in den Ruinen aufgefunden, wobei diese Zahl lediglich geschätzt werden konnte. Ebenfalls aufgefunden wurde eine Anzahl vom Luft druck weithin verstreuter Flugreisetaschen ausländi scher Fluggesellschaften, die den Flughafen Lod an fliegen. Weder die Polizeibehörden noch das Militär hatten über die Ursache der Explosion etwas verlau ten lassen. 428
Er las die Meldung durch und nickte. »Ich hatte mir gedacht, daß es auf etwas Derartiges hinauslaufen würde.« »Daß was auf etwas Derartiges hinauslaufen würde, Mr. Howell?« »Wie Sie wissen werden, wollte Ghaled diese Bom ben in Flugreisetaschen verstecken und mit Hilfe elek tronischer Auslöser durch Funksignale zünden. Den Sender hatte er in der Spieldose, mit der er an Bord der Amalia ging. Nun ja, ich habe den Israelis einen von diesen elektronischen Auslösern zum Analysieren und Testen gegeben. Offenkundig ist es ihnen gelun gen, die von ihm benutzte Frequenz herauszube kommen.« »Ich kann Ihnen leider nicht folgen.« »Haben Sie eine Ahnung davon, wie man Bomben herstellt, Mr. Prescott? Nein, nehme ich an. Ich mußte mich auch erst darüber informieren. Die Sache ist fol gendermaßen. Sie haben den Sprengstoff, Sie haben den Zünder und dazu eine Batterie, um ihn auszulö sen, und Sie haben die elektronische Abzugsvorrich tung, die dafür sorgt, daß die Geschichte im richtigen Moment losgeht. Aber alle diese Dinge müssen mit einander verbunden werden – ›schärfen‹ ist das Wort dafür. Drücke ich mich verständlich aus?« »Ja.« »Bei einigen Bomben, sagen wir, bei einer einzelnen Bombe in einem Koffer, läßt sich ein geheimer kleiner Schalter außen anbringen, und die Bombe braucht erst im letzten Moment geschärft zu werden. Aber wenn 429
man hundert Bomben anfertigt und in Plastiktaschen unterbringt, kann man keine Schalter gebrauchen. Das wäre zu kompliziert, und außerdem würde man sie sehen. Man muß die Bomben schärfen, bevor man sie dorthin schafft, wo sie hochgehen sollen. Mit anderen Worten, man muß sie da schärfen, wo man sie zu sammenbaut. Sie begreifen jetzt, was passiert ist.« »Leider nicht.« »Nun, sobald die Israelis die zur Zündung der Bomben benutzten Sendefrequenzen herausgefunden hatten, benutzten sie sie. Wirklich denkbar einfach für sie, das. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als eines ihrer militärischen Sendegeräte kontinuierlich bei Tag und Nacht starke Funksignale auf den Auslöserfre quenzen ausstrahlen zu lassen. Und in dem Augen blick, wo das pak sich anschickte, die Bomben zu schärfen, mußte der ganze Laden – wuummm! – in die Luft gehen. Selbst wenn sie die Bomben nicht alle am gleichen Ort gelagert hätten, wären sie doch gezündet worden, weil die Auslöser allesamt völlig gleich wa ren. In dem Fall hätte es dann zwei oder drei kleinere Explosionen gegeben statt einer großen.« »Sie sagten, Sie vermuteten, daß das geschehen würde?« »Ja, aber erst sehr viel später. Zu spät.« Er wurde plötzlich ungehalten und fing an, mir mit dem Finger zu drohen. »Hatten die Israelis den menschlichen An stand besessen, mich darüber aufzuklären, wären die Dinge vielleicht glimpflicher abgelaufen. Ich finde, daß ihr Verhalten mir gegenüber von A bis Z absolut 430
schändlich war. Nicht ein Wort haben diese Undank baren von sich hören lassen. Nicht ein einziges Wort! Für die existiere ich überhaupt nicht. Schweigen!« »Ich komme da nicht mit, Mr. Howell. Wenn Sie um den Ruf, den der Name Howell in der arabischen Welt genießt, so besorgt sind, sollte man annehmen, daß eine offizielle Verlautbarung von israelischer Seite das letzte wäre, was Sie sich wünschen können. Mir scheint vielmehr, daß die Israelis sich lediglich taktvoll verhalten.« Das brachte ihn erst richtig auf. »Taktvoll! Haben Sie die Verleumdungen gelesen, die in der französi schen und der westdeutschen Presse über mich er schienen sind? ›Eichmann in der Levante‹ – so lautete eine der Überschriften. Zugegeben, sie haben ein Fra gezeichen dahinter gesetzt, aber wie würde Ihnen das gefallen, Mr. Prescott? ›Pro-arabischer Unternehmer stellte Bomben für Terroristen her‹, hieß es in einem anderen Blatt. ›Cercle-Vert-Fabrikant plante TelAviv-Massaker‹. Und: ›Howell-Gelder hinter Terrori sten‹. Eine dieser Zeitungen verstieg sich sogar zu der Behauptung, Ghaled sei mein Untergebener und ei gentlich nur ein Strohmann gewesen, ich dagegen die treibende Kraft hinter dem pak! Und die Israelis sagen nichts, gar nichts!« »Aber wenn Sie doch darauf hoffen, Ihre Stellung in der arabischen Welt wiederzugewinnen –« »Ich hege keine derartige Hoffnung. Meine dortige Position ist hoffnungslos. Israelischer Provokateur, Spion, Verräter, Mörder – als das bin ich abgestem 431
pelt. Selbst wenn sie die Wahrheit erfahren dürften, würde ihr keiner von ihnen Glauben schenken. Ich kann Tatsachen ins Auge sehen, Mr. Prescott. Meine Familie hat seit einem dreiviertel Jahrhundert in der Levante ihre Geschäfte betrieben. Dort sind wir jetzt erledigt. Ich weiß das. Touzani hat recht. Wir werden eine neue Gesellschaft gründen müssen, bei der der Name Howell nicht in Erscheinung tritt, und die Schiffe aufkaufen und neu registrieren lassen. Eine an dere Möglichkeit gibt es nicht. Der Rest unseres Ge schäfts wird für ein Butterbrot den Besitzer wechseln. Das ist nicht zu ändern. Das ist ausgestanden und vor bei. Wir haben unsere Verluste abgeschrieben. Aber wie sieht die Zukunft aus? Was wird aus Europa?« »Europa, Mr. Howell?« Staunend über soviel Unfähigkeit, das Offenkundi ge zu erfassen, warf er die Arme hoch. »Aber natür lich steigen wir in Europa ein. Wir müssen. Wir kön nen unser Kapital doch nicht untätig herumliegen las sen. Anleihen zu sieben Prozent? Lachhaft. Nein, Ita lien heißt die Losung. Wir haben schon eigenen Grund und Boden im mezzogiorno, oder vielmehr hat ihn Teresa dort. Die Gesellschaft kauft ihn ihr ab. Un sere Pläne sind fix und fertig. Haben Sie sich über den mezzogiorno informiert, Mr. Prescott? Die italienische Regierung verhält sich da sehr weitblickend. Steuer nachlässe, niedrig verzinste Entwicklungsanleihen, gün stige Amortisationsabsprachen – es ist alles zu haben, einschließlich der Arbeitskräfte. Ich habe bereits fünf Projekte aufgestellt. ›Howell (Italien), siehe auch …‹ – 432
so werden wir firmieren und damit mittendrin sein im Gemeinsamen Markt. Aber wie soll ich zur italieni schen Regierung gehen und die nötigen Vereinbarun gen aushandeln können, wenn diese Verleumdungs kampagne gegen mich weiterläuft und dieser Schatten von Verdacht und Mißtrauen auf mich fällt?« »Mr. Howell«, sagte ich, einigermaßen erschöpft, »eben darum sitze ich hier. Deswegen bin ich ge kommen. Damit wir über diesen Schatten reden.« Miss Malandra reichte mir einen neuen Champag ner-Cocktail. Falls sie zu dem Schluß gekommen war, daß ich ihn in diesem Augenblick nötig haben könnte, hatte sie damit absolut recht. »Was ich von Ihnen gern hätte, Mr. Howell«, fuhr ich fort, »das wäre eine ganz simple kurze Aufstellung der Fakten des Falls, wie sie sich Ihnen darstellen. Keine Entgegnung auf die Anschuldigungen – die meisten sind ohnehin phantastisch –, keine Argumen tation, keine Polemik, sondern eine leidenschaftslose Aufzählung der Fakten.« Er strahlte mich an. »Mr. Prescott, ich habe mich immer bemüht, einen Schritt vorauszudenken. Die Er klärung ist bereits abgefaßt. Teresa hat sie fertig vorlie gen für Sie. Ich habe sie ihr diktiert, als ich erfuhr, daß Sie kommen würden, um mit mir zu sprechen.« Miss Malandra überreichte sie mir feierlich. Der Blick, mit dem sie meinem begegnete, war gänzlich ausdruckslos. Sie ist wirklich ungewöhnlich schön. Die Erklärung wog gut und gern zwei Pfund. Sie war weit über hundert Seiten lang. Ich schlug wahllos 433
irgendeine Seite auf und las eine säuberlich nach Ein zelposten aufgeschlüsselte Schätzung der vorjährigen Verluste, die der Agence Howell durch die Batterien fertigung entstanden waren. Ich schloß sie wieder. »Was ich mir vorgestellt hatte, Mr. Howell, war – wenn ich mich wiederholen darf – eine knappe, ganz einfache Aufzählung der Fakten. Sagen wir, auf drei oder vier Seiten, nicht mehr.« Er verzog den Mund. »Nackte Tatsachen geben noch nicht die Wahrheit wieder, Mr. Prescott. Sie wollen die Wahrheit, wenn ich Sie recht verstehe. Da ist sie.« Hoffnungslos. »Ich verstehe, was Sie meinen, Mr. Howell. Dann würde ich dies gern mitnehmen und durchlesen, wenn ich darf.« »Das war die Absicht. Behalten Sie es als Arbeits unterlage, Mr. Prescott. Ich habe noch weitere Exem plare davon. Aber lesen Sie es, und wenn Sie dann noch irgendwelche Fragen haben, will ich sie Ihnen gern beantworten.« »Danke. Aber da wir gerade auf Fragen zu sprechen kommen, Mr. Howell – es gibt da eine, die ich Ihnen jetzt sehr gern gestellt hätte, wenn Sie mir das erlau ben würden.« »Aber gewiß.« »Haben Sie Salah Ghaled getötet?« Er überlegte einen Augenblick lang und lächelte dann. »Teresa sagt, manchmal bin ich kein einzelner Mann, sondern ein Komitee. Warum fragen wir nicht 434
sie?« Er drehte sein Lächeln in ihre Richtung. »Teresa, meine Liebe, ist dir unter den Komiteemitgliedern je mals ein Mörder aufgefallen?« Sie erwiderte sein Lächeln, aber ich glaubte in ihren Augen einen nachdenklich abschätzenden Ausdruck wahrzunehmen. »Nein, Michael. Nein, ich kann nicht behaupten, jemals einen Mörder unter ihnen bemerkt zu haben.« »Da haben Sie Ihre Antwort, Mr. Prescott.« »Nicht ganz, Mr. Howell. Ich hatte nicht gefragt, ob Sie ein Mörder sind. Ich hatte gefragt, ob Sie ihn getötet haben.« »Ich bin kein Mann der Gewalt, Mr. Prescott.« Kein Wunder, daß er mit Journalisten so schlecht auskam. »Damit ist meine Frage noch immer nicht beant wortet. Haben Sie ihn getötet oder nicht, Mr. Ho well?« »Vorsätzlich, meinen Sie?« »Ja.« Er blinzelte mehrmals. »Finden Sie es nicht etwas seltsam, einem Mann in seinem eigenen Haus eine sol che Frage zu stellen?« »Die Frage wurde außerhalb des Hauses gestellt.« »Und vor einem israelischen Gericht beantwortet.« »Ich glaube nicht, Mr. Howell. In Israel wurde drei Männern wegen Seeräuberei der Prozeß gemacht. Man hat Sie nicht einmal als Zeugen vorgeladen.« »Ich habe meine Aussage schriftlich hinterlegt.« »Soweit sie sich auf die Anklage wegen Seeräuberei 435
bezieht, ja. Sie wurden nicht auf Ihre hinterlegte Aus sage hin ins Kreuzverhör genommen, und Sie haben keinerlei Fragen beantwortet. Kein Wunder, daß es da einen Schatten gibt, Mr. Howell.« »Lassen Sie mich Ihnen erklären, wie es war«, sagte er. Aber er hatte seine Brille abgenommen und putzte sie mit dem Zipfel seines Sporthemds. Erst nachdem er sie wieder aufgesetzt hatte, fuhr er fort. »Als die Israelis uns vor Caesarea nicht aufbrachten und statt dessen den neuen Kurs durchgaben, den wir steuern sollten, nahm ich an, daß sie eventuell eine Möglichkeit gefunden hatten, mit der Bombengefahr fertig zu werden. Wie sich jetzt herausstellt, war das der Fall. Die Notiz über die Explosion, die Sie mir ge zeigt haben, bestätigt es. Aber ich wußte es nicht, je denfalls nicht mit Sicherheit. Woher sollte ich auch? Und die Reichweite dieses Senders in der Spieldose war mir auch nicht bekannt. Nun, nachdem Ghaled auf Kapitän Touzani geschossen hatte, ging er sofort zur Spieldose. Ich also, mit Touzanis Revolver in der Hand, hinter ihm her. Als ich sah, daß er die Spieldose zum Senden herrichtete, schoß ich auf sie, um sie au ßer Betrieb zu setzen. Ich schoß dreimal auf sie.« »Aber zwei Kugeln trafen Ghaled in die Brust.« »Ja.« »Wie viele Kugeln trafen in die Spieldose?« »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Zerstört war sie jedenfalls. Die Israelis haben sie mitgenom men. Vielleicht wissen sie es.« 436
»Wollen Sie damit sagen, daß die Schüsse, die Gha led töteten, von der Spieldose abprallten?« »Ich habe keine Ahnung, Mr. Prescott.« Das Glas in der Hand, die Augen in treuherziger Unschuld weit aufgerissen, beugte er sich vor. »Ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus. Sehen Sie, ich hatte in mei nem Leben noch nie irgendeine Schußwaffe abgefeu ert.« »Die Spieldose war ein ziemlich kleines Ziel für ei nen Anfänger. Ghaled war ein großes. In jenem Au genblick werden Sie schwerlich die freundlichsten Empfindungen für ihn gehabt haben.« »Meine Empfindungen für Ghaled waren zu keiner Zeit freundlich. Ich verabscheute ihn.« »Und er hatte soeben auf Ihren Kapitän geschossen.« »Und der junge Aziz schoß auf den Ersten Offizier, der seinerseits das Feuer erwiderte. Innerhalb eines außerordentlich kurzen Zeitraums wurde außeror dentlich viel geschossen.« »Es ergab sich rein zufällig, daß die Schußwaffe, die Sie in der Hand hielten, auf Ghaled feuerte?« »Es kann nur ein Zufall gewesen sein, Mr. Prescott. Ich habe auf die Spieldose gezielt.« »Mit anderen Worten, Sie trafen das kleine Ziel ab sichtlich und das große zufällig.« »Mr. Prescott, für mich war es eine gänzlich neue Erfahrung, eine Erfahrung, die ich nicht zu wiederho len gedenke. Ist Ihre Frage damit beantwortet?« Ich seufzte. »Sie muß es wohl sein, nehme ich an.« Sein Lächeln begann zurückzukehren. »Ich versi 437
chere Ihnen, Mr. Prescott, daß ich kein Freund von Gewalttätigkeit bin.« »Lunch ist angerichtet, Michael«, sagte Miss Ma landra. Sie schenkte mir ein Lächeln, als wir hineingingen, ein Lächeln voller Teilnahme und Verständnis. Das tröstete mich immerhin; und ich muß sagen, das Essen war ausgezeichnet.