Nr. 401
Der Markt von Xudon Chaos auf dem Marktplaneten der Schwarzen Galaxis von Hans Kneifel
Nach dem Aufbruch aus ...
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Nr. 401
Der Markt von Xudon Chaos auf dem Marktplaneten der Schwarzen Galaxis von Hans Kneifel
Nach dem Aufbruch aus dem Korsallophur-Stau kommt Atlantis-Pthor, der »Dimensionsfahrstuhl«, auf seiner vorprogrammierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher. Und es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr König, tun könnten, um den fliegenden Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, je nen Ort zu erreichen, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte. Als Pthor jedoch die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht, geschieht etwas Unerwartetes. Der fliegende Kontinent kommt abrupt zum Stillstand. Atlan, nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zukommen werden, ergreift daraufhin die Flucht nach vorn. Zusammen mit Thalia und einer Gruppe von ausgesuchten Dellos fliegt er mit dem Organschiff GRIET die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an. Dabei wird Enderleins Tiegel, ein Werft und Schrottplanet, zur Endstation für die GRIET – nicht aber für Atlans Expedition, denn der Arkonide und seine Leute finden ein neues Schiff, mit dem sie im Auftrag des Dunklen Oheims starten. Ziel ihres Flug es ist DER MARKT VON XUDON …
Der Markt von Xudon
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide kommt nach Xudon.
Zyrl - Klanoberhaupt der Durstigen.
Gryta - Einzige Überlebende eines Massakers.
Quahrt - Ein blinder Steinmetz.
Cembergall-Flyrt - Ein unbestechlicher Marktwächter.
1. Donnernd krachte der Rammbock gegen die Balken. Ein langanhaltendes Knirschen ging durch die Platte. Die Menge schrie dro hend auf und schob sich näher heran. Der trotzige Xylm hob die doppelt geschliffene Axt und brüllte befehlend: »Schneller und fester! Sonst flüchten sie durch andere Ausgänge.« Die Eindringlinge hoben den schweren Balken auf, schaukelten ihn zurück und war fen sich mit aller Kraft vorwärts. Mindestens dreißig Arme hielten den Rammbalken. Sei ne Spitze zielte auf einen Spalt der Platte, dann traf das Holz sie. Wuchtige Marmor verstrebungen knisterten und brachen in lan gen Splittern. »Noch einmal!« rief der trotzige Xylm. Die Menge, die aus dem Zentrum von Danjitter-Tal kam, war erregt und gereizt. Rund dreihundert Wesen waren entschlos sen, es dem durstigen Zyrl und seiner Bande zu zeigen. Wieder schlug das ausgesplitterte Ende des langen Balkens zu. Durch die Gän ge und Hallen ging ein lautes Echo. Irgendwo im Stapelpalast schrie jemand gellend auf. »Sie haben uns immer wieder ausgebeutet und betrogen. Jetzt wird abgerechnet«, rief der trotzige Xylm wieder. »Wir lassen uns von den Durstigen nicht den freien Markt kaputt machen!« schrie je mand aus der Menge. Noots, Tamater und Krejoden, ebenso wie Camagurs waren hierhergekommen, teilwei se skeptisch, zum anderen Teil voll berech tigter Unruhe. Dann hatte sie alle die Wut gepackt; sie stürmten den Stapelpalast des durstigen Zyrl und seiner Mannschaft. Der
Spalt in dem Portal verbreiterte sich. Nach drei weiteren Sturmläufen brach eine Ver strebung, und das wuchtige Tor kippte aus den steinernen Führungen nach hinten, in die Haupthalle hinein. »Hinein! Sucht sie! Erschlagt sie!« dröhn te die Stimme des trotzigen Xylm auf. Sie befanden sich in einem breiten Tal der Marmorberge. Dieser Sektor, der dem Fami lienklan der Durstigen gehörte, war nur ein winziger Teil des Ringgebirges um die riesi ge Ebene. Der Weg hierher war weit gewe sen; jeder Kilometer steigerte die Wut und den Haß der Händler gegen den mächtigen Familienbetrieb. Der Grund der Erstürmung aber war nicht der wirtschaftliche Erfolg, sondern ein Gerücht. Der durstige Zyrl ließ verbotene Ware herstellen, die den Keim der Vernichtung für alle in sich trug. Die Meute trampelte über die Trümmer des Haupttors in die Halle hinein. Die Händ ler und ihre Knechte – auch einige Objektive waren darunter – zogen Dolche, Spieße und andere altertümliche Waffen hervor. Der Trotzige deutete auf die verschiedenen Trep pen und Aufgänge, die aus dem bleichen Marmor geschlagen waren. »Ihr müßt sie suchen. Sie verstecken sich natürlich. Der Berg ist voller Kammern.« Seine harte Stimme, das Klirren der Waf fen und das Trappeln der Füße hallten durch den großen Raum. Blitzschnell bildeten sich Gruppen und rannten in verschiedene Rich tungen auseinander. Das Licht der Sonne Xudomanyla fiel in breiten Bahnen durch runde Ausschnitte in der Hallendecke und in den Wänden. Das Trampeln der stürmenden Menge verlor sich in den Korridoren. Der trotzige Xylm war stehengeblieben und sah sich suchend um. In den handartigen Greif
4 kränzen seiner langen Arme glänzte die Schneide der schweren Axt. Der Trotzige war ebenfalls Krejode; Nachfahr einer Raumfahrergruppe, die vor undenkbar weit zurückliegender Zeit den Planeten Xudon, den vierten von zwölf Planeten, besiedelt hatte. Sein zweieinhalb Meter langer Körper bewegte sich unschlüssig hin und her. Dann rannte der Trotzige geradeaus in einen prächtig ausgeschmückten Längsstol len hinein. »Widerschein der Freiheit!« stöhnte er auf. »Die Organschiffe werden uns alle da für töten und den großen Markt in eine Öd nis verwandeln!« Der trotzige Xylm schwang seine Axt. Der Steinhammer-Kopf des Werkzeugs zer trümmerte, mit großer Wucht geführt, ein unfertiges Bildnis, das auf einem Sockel stand. Die Marmortrümmer schlugen klir rend und prasselnd zu Boden, auf das mehr farbige Mosaik unter seinen Füßen. Wieder kam Xylm in den Bereich von Lichtfenstern und Lüftungsöffnungen. Auch der Großklan der Durstigen hatte seinerzeit einen Teil des gewaltigen Ringgebirges in Anspruch ge nommen und ausgebaut. Poutafyhr, der südliche Hauptkontinent, war bereits aus dem Weltraum auf den er sten Blick zu erkennen. Ein fast mathema tisch rundes Ringgebirge, dessen höchste Er hebungen zehntausend Meter hoch und hö her waren, umschloß eine völlig ebene Flä che. Man nannte diese planetologische Se henswürdigkeit schon immer die bleichen Marmorberge. In kleinere Berge oder in die Hänge der Bergriesen hineingebohrt, einge fräst und ausgehöhlt, lagen die zahlreichen Marmorpaläste der Krejoden. Das Geschlecht der Durstigen war eines der mächtigsten und wirtschaftlich wichtig sten. Heute würde sich dieser Umstand dra stisch ändern. Von rechts, vom oberen Ende einer her ausgemeißelten Marmorschnecke, hörte der Trotzige schleichende Schritte. Das wulstförmige Sehorgan des Krejoden erfaßte das Bild.
Hans Kneifel Ein Noot mit hellblauer Schuppenhaut flüchtete dort. Mit Sicherheit ein Helfer des Klans. Der Trotzige packte seine Waffe dicht unter der Schneide und stürmte auf sei nen weichen Reptilledersohlen die Schnecke aufwärts. Das wallende Ende seiner farben prächtigen Kleidung flatterte hinter ihm her; in dem sackähnlichen Gewand klafften beim Rennen breite Schlitze. »Bleib stehen!«, schrie Xylm. Die Sprechblase in der Kinngegend seines drei eckigen Kopfes blähte sich, fiel zusammen und erzeugte die Laute einer weithin knar renden Sprache. Der Noot rannte weiter. Xylm sagte sich, daß niemand übrigbleiben durfte. Wirtschaftliche Mißgunst war ein ge ring zu achtender Faktor, aber die Gefähr dung der von der Gnade der Mächtigen ab hängenden Gemeinschaft wog ungleich schwerer. Der wütende Krejode, dessen bor kiger Körper entfernt an einen dünnen, zit ternden Baum erinnerte, rannte die perfekt gestaltete Krümmung aufwärts und holte am oberen Ende das Noot-Wesen ein. »Gnade!« winselte der Noot. »Ich bin nur der letzte Diener der Durstigen.« Der trotzi ge Xylm schwang gnadenlos seine Axt und stieß, während er ausholte, auf Garva-Guva hervor: »Du hast geholfen, diese verdamm ten Kugeln herzustellen. Eher sterben alle, als daß er verwüstet wird, der Markt.« Die blitzende Schneide traf. Blut floß auf den makellosen Marmorboden. Inzwischen hatte eine andere Gruppe den Teil des Berges er reicht, in dem der durstige Zyrl mit seiner Familie wohnte. Es waren Gemächer von unvorstellbarer Schönheit, vollgestellt mit prunkvollen Mö beln und den wertvollsten Muster aller Ge genstände, die in den Stapelpalästen vorhan den waren. Einhundert bevölkerte Welten weit im Umkreis von Xudon besuchten den offenen Markt im Danjitter-Tal. Die Ausein andersetzung mit der Sippe der Durstigen dauerte bereits eine lange Zeit. Keine Er mahnung und keine Drohung hatten genutzt. Als die starke Gruppe, nachdem sie Kisten und Ballen aufgebrochen und an einige Wa
Der Markt von Xudon renstapel Feuer gelegt hatte, die erste Ter rasse erreichte, warfen sich ihnen drei krejo dische Diener entgegen. »Zurück! Ihr seid Mörder! Unser Herr will verhandeln!« Die Knechte trugen lange Gesteinsbohrer, Marmormeißel und kleine Schleifscheiben. Sie handhabten diese zweckentfremdeten Werkzeuge ebenso geschickt, wie sie damit den Marmor bearbeiteten. »Es gibt nichts mehr zu verhandeln. Ihr seid viel zu oft gewarnt worden!« schrien die Eindringlinge zurück und schwangen ih re Waffen. Zwei Schleifscheiben surrten heran wie fliegende Diskusse, mit äußerster Wucht geschleudert. Die erste traf einen Krejoden zwischen Kopf und Schultern, durchschnitt die ringförmigen Organklum pen und trennte den Kopf vom Rumpf. Die zweite schnitt eine tiefe Wunde in den kurz en Reptilienschwanz eines zurückspringen den Noot in schwarzer Lederpanzerung. Mit einem dröhnenden und knarrenden Wutge schrei reagierten die Angreifer. Sie stürzten sich in besinnungsloser Wut vorwärts. Mar mormeißel klirrten auf sensenförmige Waf fen, ein Gesteinsbohrer, fast drei Meter lang, brach einem Camagur einige Knochen. Von den Simsen unterhalb der Terrasse flogen die zahmen Danjitter-Falken erschrocken in die Höhe und stoben laut kreischend entlang der weißen, von pechschwarzen Schatten ge fleckten Berghänge in die Luft. Ein ge schleuderter Dolch tötete den ersten Diener. Der zweite wurde von drei speerähnlichen Jagdwaffen getroffen. Das Gewand des drit ten Verteidigers flammte auf, als ein Noot seine Feuerkugel schleuderte. Knarrend und kreischend taumelte der Diener hin und her, schlug gegen das durchbrochene Marmorge länder und kippte brennend in die Tiefe. Sein Todesschrei zitterte zwischen den Wänden des Tales. »Weiter! Sie wissen, welches Schicksal sie erwartet!« kreischte ein Objektiver auf. Jedermann wußte, daß auch die Gilde der Marktaufseher die Durstigen und besonders den Zyrl haßte wie die Organpest.
5 Die Eindringlinge rannten auf das nächste Portal zu. Der Ansturm brach die Riegel und Scharniere aus dem geäderten Gestein her aus. Eine lange, schmale Treppe befand sich hinter den Trümmern. Die erhaben heraus gearbeiteten Szenen aus dem Familienleben der Krejoder ließen unschwer erkennen, daß sich die Eindringlinge dem innersten Be reich näherten. Hier lebten die Klanangehö rigen. Hier verbargen sie sich. Schreiend, johlend wälzte sich der Mob die Treppe hinauf.
* Eine andere, etwa fünfzigköpfige Gruppe prallte, nachdem sie einige Verteidiger nie dergemacht hatte, auf die Stapel und hoch geschichteten Vorräte in einer riesigen Hal le. Hier schien der Reichtum des Klans der Durstigen zu liegen. Mit Sicherheit waren auch die Ahnen des durstigen Zyrl Mitbe gründer des offenen Marktes im DanjitterTal gewesen. Seit diesen ersten Tagen hatte sich der Reichtum angehäuft. »Hier haben wir unsere Chance!« schrie einer der Anführer. »Welche Chance, auffallender Tryllt?« fragte einer aus der Gruppe. Sie verteilten sich und schlitzten die Verpackungen auf. »Die Macht der Durstigen ein für allemal zu brechen!« »Aber wo sind die Marmorkugeln, die wir suchen?« »Sie sind sicher hier versteckt!« Seiten platten von raumfest verpackten Gebinden klapperten zu Boden. Waren, aus Marmor hergestellt, zum Versand an fünfzig ver schiedene Stellen des Marktbereichs be stimmt, kollerten aus den schützenden Ver packungen heraus und zerschellten am Steinboden. Wütend droschen die enthemm ten Eindringlinge auf die Packungen und auf die Schalen, Krüge und die anderen kunst handwerklich perfekten Gegenstände ein. Diese Pakete würden keinen der raumfah renden Händler mehr erreichen. »Auch hier sind keine Marmorkugeln!«
6 schrie es aus einer anderen Ecke. Auch dort zerrissen die wütenden Xudoner die Ver packungen und zertrümmerten Teile des In halts. »Sucht weiter.« Vor geraumer Zeit waren im Bereich des Marktes verschieden große Kugeln aus schimmernd poliertem Marmor aufgetaucht. Der Stein, aus dem sie gearbeitet worden waren, gehörte zu den wertvollsten Funden, die je in diesem Ringgebirge gemacht wur den. Nicht alles Gestein in jedem Berg be stand aus Marmor; es gab Drusen aus Halb edelstein ebenso wie wertlosen Granit oder schillernden Porphyr. Aber als die Vorwürfe laut wurden, daß die Meister des durstigen Zyrl solche Kugeln herstellten, in denen der »Widerschein der Freiheit« eingeschlossen war und sich jedem, der die Kugel in den Fingern hielt, mitteilte, handelten die Offizi ellen. Sie erteilten den Befehl, den Durstigen eine Lehre zu erteilen. »Wir haben nichts gefunden.« »Es gibt noch genügend verpackten Mar mor.« An allen Ecken und Enden der Halle fie len jetzt die Verpackungen auseinander. Ge stelle voller halbfertiger Fabrikate wurden rücksichtslos umgestürzt. Marmorteile in jedem Stadium der Bearbeitung und Fertig stellung zersprangen mit furchtbarem Lärm. Immer neue Steinstaubwolken breiteten sich aus. Der Boden bedeckte sich nach und nach mit den Trümmern, die noch vor Minuten einen erheblichen Wert gehabt hatten. Schließlich knarrte ein kleinwüchsiger Kre jode: »Hört auf. Hier sind keine Freiheitsku geln.« Die ersten Teilnehmer der Strafexpedition verschwanden in den wenigen seitlichen Gängen, rissen dort die Türen und Portale auf und stürmten weiter. In einer Kammer, deren östliche Wand nur aus Säulen und Sonnenschutzgittern aus Marmor bestand, fanden die Eindringlinge zwei erblindete, ur alte Marmorarbeiter. Sie schienen darüber hinaus auch noch
Hans Kneifel taub zu sein, denn ungeachtet der Schreie ar beiteten sie ungerührt mit Meißeln, Schleif geräten und Bohrern weiter. Sie starben schnell, und ihr Blut floß über die Werk stücke. Niemand achtete auf die kleinen Kunst werke, die überall auf den steinernen Rega len standen und in äußerster, fast unwirkli cher Präzision bearbeitet worden waren. Von vielen Marmorkünstlern waren die Meister des durstigen Zyrl die tüchtigsten, hieß es auf dem Markt. Aber wo verbarg sich Zyrl? Zwei Dutzend Händler drangen in eine der ersten Kammern des privaten Bereichs ein. Eine andere Gruppe umzingelte diese Zone und näherte sich aus entgegengesetzter Richtung. In der Kammer stand schweigend ein riesiger, alter Krejode mit dunkelbrau ner, schorfigborkiger Haut und einer flecki gen Sprechblase. Er war waffenlos. Sein halbkreisförmiges Sehorgan starrte die Ein dringlinge mit zwingender Schärfe an. »Ihr seid gekommen, um zu töten und zu vernichten«, sagte der durstige Tharm. Er war der uralte Vater des durstigen Zyrl. »Ihr habt den Markt verdorben! Ihr woll tet ihn in einen verbotenen Markt verwan deln, ihr Verräter!« erscholl es aus dem Kor ridor jenseits der Schultern derjenigen, die sich in die Kammer drängten. »Wir haben Kugeln hergestellt, das ist wahr. Aber keine davon trägt den Wider schein der Freiheit in sich«, gab Tharm zu rück. »Euer Neid auf unsere gute Arbeit trieb euch her.« »Das ist nicht wahr. Die Marktsumme hat unleugbare Beweise.« Der Alte stieß ein Geräusch aus, das sich als sarkastisches Lachen deuten ließ. Dann erklärte er in wegwerfendem Ton: »Jeder von euch weiß genau, daß die Marktsumme bestechlich und korrupt ist. Und ihr, die klu gen Händler, glaubt diesen Unsinn.« »Du stellst aber Kugeln her, nicht wahr?« »Ja. Wir versenden sie seit zwanzig Jah ren. Es sind künstlerische Kostbarkeiten. Aber keine der Kugeln hat auch nur die Spur
Der Markt von Xudon einer Beeinflussung auf einen Besitzer aus geübt. Ihr wollt uns ruinieren und töten – al so werdet ihr es niemals glauben. Ich kenne euch. Ihr seid alle Meuchelmörder.« Alle Mitglieder einer Familie trugen den Bedeutungsnamen. Der eigentliche Name war nicht mehr als ein geringwertiges Mittel zur dokumentarischen Unterscheidung. Tharm aus der Sippe der »Durstigen« hob beide Hände. Seine zwanzig Fingergreifer spreizten sich, als die vordersten der Ein dringlinge näherkamen. Sie packten kleine Marmorkugeln und hielten sie in die Höhe. »Halt! Hier sind die Kugeln aus der letz ten Produktion. Bemerkt ihr etwas? Seht ihr den Widerschein von irgend etwas, ihr Nar ren?« Verschiedene Sehorgane von unterschied lich ausgeprägten Wesen richteten sich auf die Kugeln. »Ihr seht nichts. Denn ihr könnt nichts se hen, es gibt nichts zu sehen. Hört auf; es ist schon zuviel vernichtet und getötet worden«, rief Tharm beschwörend aus. Die Eindring linge rückten weiter vor. Diejenigen im Kor ridor schoben andere vor sich her und dräng ten herein. Als der Abstand bedrohlich war und sich die spitzen Waffen dem Alten ent gegenreckten, schleuderte Tharm die Ku geln. Sie trafen mit erstaunlicher Präzision. Die Köpfe von zwei wütenden Krejoden zerplatzten. Ein Wutgeheul brach aus, und die Meute stürzte sich auf den Greis. Klin gen blitzten und fanden ihr Ziel. Tharm ver suchte nicht mehr, sich zu wehren. Er starb mit einem wütenden Gurgeln, als sein Kehl sack zerschlitzt wurde. Der Trupp der rasenden Eindringlinge trampelte über den Leichnam hinweg und erreichte die innersten Räume der privaten Zone. Alle Krejoden verehrten ihre Kinder, als ob es junge Götter wären. Auch dies schien ein Relikt aus jener Zeit zu sein, die der Landung und der Landnahme folgte – da mals, vor einigen kleinen Ewigkeiten. Ein Volk, das Schiffbruch erlitten hatte und sich
7 schnell vermehren mußte, um zwischen den Marmorklippen zu überleben, war mehr als jedes andere um das Wohl der Heranwach senden besorgt, der Garantie des weiteren Existierens als Gruppe. Hier trafen die An gehörigen der kleinen, aufgebrachten Händ lerfamilien, der Marktsumme und der neidi schen Marmorkünstler auf den durstigen Zy rl. Er war entschlossen, seine Kinder zu ver teidigen. Sie schienen sich hinter der wuchtigen Tür zu befinden, vor der sich Zyrl aufgebaut hatte. Durch die Lüftungskanäle kam der er stickende Steinstaub. Vor dem durchbroche nen Fenster flatterten die zahmen Falken aufgeregt hin und her. Die Marmorringe um ihre Fesseln klirrten panisch. Zyrl war gerü stet und bewaffnet. Er hielt ein camaguri sches Feuerrohr mit sieben Läufen in der Hand, der andere Arm hielt einen Schild, und der Körper war mit einem Panzer aus Leder, Metall und dünnen Steinmosaiken geschützt. Auf dem haarlosen Kopf trug er einen uralten, halb geöffneten Raumhelm, der über und über mit bronzenen Nagelköp fen verziert war. »Nur über meine Leiche … und ein paar von euch!« schrie er. Sein Kehlsack, durch Eisenbügel geschützt, gab ein knarrendes Stöhnen von sich. Die ersten der Gruppe rannten weiter, die Äxte und Sensen schwin gend. Die Zündflamme flackerte, als Staubteil chen verbrannten. Dann fauchte ein breiter Glutstrom aus dem ersten Rohr, erfaßte drei Eindringlinge und hüllte sie in lodernde Flammen. Drei Krejoden sanken verkohlt zu Boden. Die an deren blieben stehen. Einige Marmor brocken jaulten durch den Raum. Sie trafen auf den Schild und prallten ab, einer schmet terte gegen den Helm und zersprang in klei ne Würfel, andere prasselten gegen die Tür und die massive Marmorwand. Jetzt dröhnte röhrend die Ladung des zweiten Rohres auf und verwandelte zwei Angreifer in lebende
8 Fackeln. Ein Speer kam durch den Rauch geflogen und bohrte sich knirschend in den Schild. Zyrl sprang nach vorn, stellte sich breit beinig über die schwelenden Körper der Ge töteten und feuerte den dritten Schuß in den Korridor hinein ab. Eine rötlichblaue Feuer säule von sieben Metern Länge fauchte un gehindert in die röhrenförmige Aushöhlung des Marmorfelsens hinein und verwandelte einen Abschnitt des Ganges in eine Flam menfalle. Sechs der Mörder rannten genau in das Feuer hinein. Waffen und geschleu derte Projektile heulten durch den Rauch und schlugen rund um Zyrl in die Wände, prallten ab, trafen seine Schultern, schlugen Funken aus den Ziersteinen und blieben im Schild stecken. Zwei der Angreifer wandten sich zur Flucht und rannten laut schreiend davon. Aus einigen Nischen sprangen die Überle benden dieser Aktion. Eine mit aller Wucht geschleuderte Axt traf den Helm des Dursti gen, hämmerte eine tiefe Kerbe hinein und schlug den kantigen Helm vom Kopf des Mannes. »Ich sterbe für meine Kinder!« schrie Zy rl. »Und wenn ich überlebe, werde ich euch jagen bis in alle Ewigkeit.« Wieder schoß er. Komprimierte Luft trieb die leicht entzündbare Waffenflüssigkeit, ein besonderes Steinöl, an der Zündflamme vor bei. Ein Strahl fauchte laut geradeaus, und die Glutwolke fraß sich in das Lederwams eines hippenschwingenden Noots. »Ahhh!« Ein Schrei, der so laut war, daß er die marmornen Mauern zu erschüttern schien, tobte durch den Raum und durch das System der Korridore. Er war fast im gesamten Be reich des Berghangs zu hören. Von hinten hatte sich der Anführer der anderen Gruppe an den durstigen Zyrl herangeschlichen. Ein riesiges Beil mit halbmondförmiger Schnei de zischte senkrecht durch die Luft, zer schnitt die Schnüre und Schnallen des Pan zers und bohrte sich in den Nacken des Ver teidigers.
Hans Kneifel Noch im Sterben drehte sich Zyrl herum, das Beil tief im Körper. Er riß die Waffe hoch und drückte ab. Der Mörder seiner Kinder starb, als Zyrl bereits tot war. Die Flammen verbrannten den Mörder und sein Opfer. Die überlebenden Marodeu re kamen wieder aus den Verstecken hervor und rannten schreiend in die Räume hinein, in denen die Leichen der Diener, der Kinder und der Frauen der Durstigen lagen. Es schien, als ob ein Kind entkommen wäre …
* Der Stapelpalast der Durstigen war ein verwirrendes Labyrinth für jeden, der nicht mindestens ein Jahrzehnt in diesem Teil des großen Marmorbergs gelebt hatte. Hallen und Kammern, Rampen und Stol len, verborgene und sichtbare Lifts, Kraft stationen und das verschlungene Netz der vielen kleinen und großen Abluft, Zuluft, Kühl und Heizkanäle, Treppen, Schnecken und Stufen … all dies war seit sehr langer Zeit immer wieder erweitert, verändert und ausgebaut worden. Es gab Bezirke, die kei ner der Diener kannte, selbst wenn er zwan zig Jahre im Dienst der Familie gestanden hatte. Die durstige Gryta, rund siebzehn Jahre alt, war zum Zeitpunkt der Erstürmung auf der östlichen Terrasse gewesen. Sie fütterte die zahmen Falken mit rohen Fleisch brocken und sah die Marmorringe an den Ständern nach. Das aufgeregte Verhalten der Vögel hatte sie gewarnt. Das Lärmen und die Schreie kamen im mer näher, und Gryta erinnerte sich daran, daß der Blinde auf sie wartete. Sie besuchte ihn jeden Tag; den Weg in die abgelegene Schlucht hatte sie selbst entdeckt. Wenig stens glaubte sie das. Gryta war jung und schön – nach krejodi schen Maßstäben. Sie sah aus wie ein junger Baum mit weicher Rinde, der sich im war men Frühlingswind wiegte. Ihr schmaler Kopf mit dem breiten Augenband wirkte
Der Markt von Xudon rassig und edel, die dünnen, langen Finger hatten vergoldete Nägel und waren von schmalen Kugelringen verziert, die aus kost barstem Marmor oder aus Halbedelsteinen herausgefräst waren. Ihr Kehlsack pulsierte erregt, als sie die Terrasse verließ, eine in schwindelnde Hö hen hinaufführende Wendeltreppe hinauflief und dann in den Sternenkorridor hinein schlüpfte. Sie nannte dieses schmale Sims am Rand der lichtlosen Schlucht so, weil an seinem Ende sich eine winzige Plattform be fand. Von dort hatte sie einen wunderbar weiten Blick auf die Ebene, die Lichter des Marktes und die Sterne. Als sie die Platt form erreichte, blieb sie stehen und schöpfte Luft. Vom Kreisring des Raumhafens starte ten Raumschiffe der Händler. Immer wartete Gryta darauf, daß eines Tages auch eines der Organschiffe erschien, von denen so viele Diener und auch die Eltern immer wieder mit Scheu oder Furcht sprachen. Aber nur zwei Camagur-Schiffe – gebogene, drittel mondförmige Konstruktionen, aus mehreren Kugelelementen zusammengesetzt – setzten am gegenüberliegenden Teil des Hafens synchron zur Landung an. Plötzlich fühlte Gryta beklemmende Angst. Die Schreie und das berstende Geräusch zahlloser Zerstörungen, die sie immer wie der durch die Abluftschlitze hörte, der aus den Kanälen herausstiebende Staub und der intensive Geruch nach Flammen und Brand – vielleicht hatte dies etwas Schreckliches zu bedeuten. Sie wußte, daß der Blinde ihr helfen würde. Sie lief weiter. Zunächst entlang einer längst stillgelegten Transportebene für Marmorblöcke. Hunder te von kleinen, zerbröckelnden Stufen führ ten aufwärts und in einer Kurve innen um einen Nebengipfel des Familienbergs herum. Dann kam ein breiter Querstollen, aus de ren rechter Seite immer wieder Gänge in das Gestein getrieben worden waren. Hier gab es immer etwas zu sehen, wenn die Mineure Edelsteine oder Halbedelsteine aus den Schichten der verschiedenen Steine heraus
9 holten. Wieder blieb Gryta stehen und lehnte sich an den kühlen Stein. Dicht über ihrem Kopf befand sich ein Kanal der Entlüftung. Wie die Luftzuführung in einen Kamin kam auch hier warme Luft heran, stieg zusammen mit der kalten Luft in dem Schacht aufwärts und riß sämtliche Verunreinigungen eines be stimmten Bezirks mit sich hinaus ins Freie. Sie hörte Stimmen, Schreie und Klirren, dann röhrende Geräusche. »… sterbe für meine Kinder …« Sie er kannte die Stimme ihres Vaters. Wenige Sekunden später kam ein so grau envoller Schrei aus dem schalltragenden Ka nal, daß sie fühlte, wie sie erstarrte. Sie keuchte auf, und ihre Fingerspitzen tasteten hilflos über den rauhen Stein. Mehr automa tisch als mit Überlegung ging sie weiter. Zu erst langsam und stolpernd. Dann, als sie er kannte, daß sie den Tod des durstigen Zyrl mitangehört hatte, rannte sie schneller die sen Marmorbruch im Berg entlang und auf den fernen Ausgang zu. Eine glatte, trichterartig ausgehöhlte Schnecke nahm sie auf. Sie erinnerte sich an eines der Märchen, die ihr Vater erzählt hatte: im Marmor wa ren die versteinerten Körper von Tieren und Lebewesen eingeschlossen, die vor der Zeit der Krejoden gelebt hatten. Hin und wieder machten sich die Mineure und Steinholer ein Vergnügen daraus, die ehemaligen Umrisse eines solchen Tieres in ein strukturiertes Loch zu verwandeln. Sie rannte also durch den ehemaligen Körper eines Lebewesens abwärts und kam in einen geraden Gang, der aus dem unteren, kleinen Ende der Schnecke hinausführte. Mächtige Quadern drehten sich unter ihren zarten Fingern; sie wußte, welche Stellen zu berühren waren, damit sich die in Edelstein gelagerten Drehpunkte bewegten. Nach dreißig Schritten umfing sie strah lendes Sonnenlicht. Sie blinzelte, als sie die Treppe hinunter sprang und vor sich den Blinden sah. Sie war vor Entsetzen fast handlungsunfähig. Ih
10 re Gedanken klammerten sich noch immer an den Todesschrei des Vaters. Trotzdem reagierte sie richtig, aus langer Gewohnheit. Sie rief leise: »Lauter Quahrt! Ich bin es, Gryta!« Sie wollte ihn nicht erschrecken, obwohl sie wußte, daß er sie am Klang ihrer Schritte erkannte. Während bei älteren Krejoden das Sprachorgan knarrende, harte Laute hervor brachte, war ihre Stimme hell und weich. »Ich höre dich. Komm her zu mir«, sagte der Blinde mit brüchiger Stimme und hob seinen kleinen Meißel. Hier, in dem längst verlassenen Marmorbruch, in dem der Blin de lebte, war es still. So still, daß sie sich ein wenig beruhigte. »Ich komme. Hast du den Schrei gehört! Es ist …« Ihre Stimme brach ab. Sie taumel te. Der Alte stand auf, streckte suchend sei ne langen, zitternden Arme aus und griff nach dem jungen Mädchen. »Ich habe es gehört. Dein Vater starb. Er war mein Freund – einer der besten Männer, den das Ringgebirge jemals gesehen hat.« Gryta ließ sich von dem Blinden auf einen Würfelhocker herunterziehen. »Warum tun sie das?« rief sie. »Weil sie neidisch sind und Angst haben. Sie fürchten die Freiheit.« »Ich verstehe nicht«, antwortete Gryta. »Ich bin tief bekümmert über alles, was da geschehen ist«, sagte der laute Quahrt und lehnte sich an eine unfertige Säule. »Ich bin nichts anderes als ein armer, verstoßener Künstler.« »Nein«, wehrte sie ab. »Ich und meine Schwestern und Brüder haben dich nicht verkommen lassen.« »Dein Vater hätte mich erschlagen, wenn er gewußt hätte, daß ich an allem schuld bin!« beteuerte der laute Quahrt und wiegte den Kopf. »Ihr habt mich gerettet.« So war es. Aus irgendeinem Grund, den Gryta niemals erfahren hatte, war der laute Quahrt hierhergebracht worden. Oder er hat te sich unbemerkt von allen anderen in die sen uralten, restlos ausgebeuteten Steinbruch zurückgezogen. Jedenfalls war er ein guter
Hans Kneifel Freund der Kinder des durstigen Zyrl gewe sen, ein mitreißender Geschichtenerzähler. Seine Finger tasteten umher und ergriffen schließlich zwischen den Werkzeugen und Marmorbrocken eine etwa faustgroße Kugel. »Was soll ich jetzt tun?« fragte Gryta. »Ich bin ganz allein, und wenn sie mich se hen, werden sie mich auch töten.« Sie erkannte, daß der alte Künstler hier tatsächlich nichts anderes – oder fast nichts anderes – als Marmorkugeln hergestellt hat te. Jetzt erinnerte sich Gryta wieder: sowohl sie als auch ihre kleineren Geschwister hat ten die Kugeln unter die anderen Verkaufs gegenstände geschmuggelt. »Du mußt flüchten«, sagte er. »Ich habe die Marmorkugeln geschaffen, die den Wi derschein der Freiheit in sich tragen und ausstrahlen. Hier, nimm.« »Was ist das? Du hast wirklich …?« frag te Gryta und schwieg plötzlich. Ihre Ge schwister konnten noch nicht verstanden ha ben, was sie wirklich getan hatten. Auch sie hatten die Freiheitskugeln aus dem Stein bruch geschmuggelt und gegen normale Ku geln ausgetauscht. Gryta begriff erst jetzt die volle Tragweite des Geschehens. »Und ich habe mitgeholfen, daß meine Familie ausgerottet wird!« erklärte sie dumpf. Der Blinde versuchte sie zu trösten. »Du hast es nicht richtig verstanden. Ich war es, der die Idee der Freiheit zu allen Völkern bringen wollte. Du warst nur mein Werkzeug. Du hast nicht verstanden, was Freiheit wirklich ist. Auch du bist im Schutz des Berges aufgewachsen. Aber ich kenne den Markt und die Händlerschiffe und den Weltraum. Ich habe das Risiko für deine Fa milie unterschätzt.« Die Worte gingen förmlich an Gryta vor bei. Sie wußte nur, daß ihr bisheriges Leben sich drastisch geändert hatte. Faßte man sie, brachte man sie um. Sie spürte, wie ihr der laute Quahrt die Kugel aus kühlem Stein in die Hand drückte. »Was soll ich tun, lauter Quahrt?« fragte sie leise.
Der Markt von Xudon Im Stapelpalast tobte noch immer die Meute und tötete, wen immer sie aufstöber te. »Du mußt den Berg verlassen. So schnell wie möglich.« »Ich werde dich mitnehmen«, sagte sie tonlos. »Du kannst mir helfen. Ich kenne die Welt dort draußen nicht.« »Ich komme nicht mit. Ich bleibe hier bei meiner Arbeit. Meiner letzten Arbeit. Es ist noch etwas Wichtiges zu tun.« »Ich weiß nicht, wie ich mich draußen verhalten soll, Quahrt!« sagte sie. Drei fast senkrechte Wände ragten um den Arbeits platz des Alten auf. In einigen kubischen Höhlen hatte er so etwas wie eine Wohnstät te geschaffen. »Du wirst es wissen. Spürst du, was dir die Plejade sagt?« »Ich spüre etwas … Fremdes, Drängendes.« »Das ist es.« Grytas Gedanken klärten sich ein wenig. Sie sah die Gegenwart etwas schärfer. Die unmittelbare Zukunft verlor etwas von ihren fremdartigen Schrecken. Die Kugel strahlte tatsächlich den Widerschein der Freiheit aus: ein Gefühl, das sich aus Befreiung und Sehnsucht zusammensetzte, das Selbstbe wußtsein ebenso enthielt wie den Drang, im Rahmen bestimmter Verhaltensformen über das eigene Schicksal bestimmen zu können. Und dann, als sich der kühle, wertvolle Mar mor unter dem Druck und der Wärme der Finger selbst etwas erwärmt hatte, fühlte die junge Krejodin noch etwas: eine unbestimm te Sucht, einen Drang zur Weite, ein Drän gen, die Welt kennenzulernen, in weitem Umkreis, die Wunder des Universums zu su chen. Das Gefühl war verworren und unaus geprägt, aber es war da. Wieder sprach der Blinde, dessen optisches Organ weiß war wie der Marmor. »Du sollst die Marmorkugel immer bei dir tragen. Verstecke sie, wenn nötig. Es ist aus einer beseelten Ader das schönste und rein ste Stück. Ich nenne die Kugel die große Plejade. Du wirst den festen Glauben an die
11 Freiheit des einzelnen niemals verlieren, so lange du die große Plejade bei dir trägst.« Gryta drehte und wendete die letzte Schöpfung des Blinden zwischen ihren zehn Fingern und glaubte zu merken, wie die Ausstrahlung der großen Plejade wuchs. Sie stand auf und sah nach dem Stand der Son ne. Noch immer war es in dem verlassenen Marmorbruch still und ungefährlich. Aber die Rauchschwaden, die aus Abzugskanälen und Belüftungsschächten hervorquollen, wa ren nicht mehr zu übersehen. »Die Stapelpaläste brennen«, sagte Gryta. »Was kannst du mir raten, lauter Quahrt?« »Geh hinunter ins Tal, zum Markt von Danjitter-Tal. Dort wirst du überleben. Du hast viel von deinem Vater, den anderen Meistern und von mir gelernt. Von mir aller dings nur die Gedanken an die Freiheit. Das neue Leben wird ein Schock sein. Aber der Schock wird dein Auge für eine andere Welt öffnen. Geh jetzt; ich weiß, daß die Zeit zu Ende ist.« Der Blinde faßte sie an der Hand. Mit den Fingern der anderen Hand tastete er sich ent lang irgendwelcher Pfeiler, Sockel und Blöcke. Er schien jeden Millimeter des Weges genau zu kennen. Schließlich hielt er vor einer blockartigen Platte an, die sich am Ende einer Kaverne befand. »Das Tor in deine Freiheit, meine Toch ter«, meinte der Blinde fast zärtlich. Er drückte auf eine Stelle unterhalb des Mittelpunkts. Mit einem leisen schleifenden Geräusch drehte sich der Block um neunzig Grad. Grelles Sonnenlicht fiel in den ver steckten Talkessel. Vor Gryta lagen Stufen, Treppen, Simse und das Panorama eines kleinen Marmortales, in dem geduckte Pflanzen wuchsen und dunkelgrüne Inseln in der grellen Fläche bildeten. »Du mußt jetzt gehen. Sage niemandem deinen Namen. Du darfst dich nur gegen über ganz bestimmten Freunden zu erkennen geben«, riet der laute Quahrt. »Ich will es versuchen. Das ist ein Ab schied für immer?« fragte Gryta. »Ein Abschied für immer«, bestätigte der
12 Blinde. Gryta legte ihre Hand auf die knochige Schulter des Alten. Die borkige Haut war heiß und trocken. »Ich finde den Weg«, sagte sie leise. »Du hast ihn mir in deinen Geschichten immer wieder beschrieben, lauter Quahrt.« »Du wirst deinen Weg auch weiterhin fin den«, bestätigte er und schob sie durch die Öffnung. Dann schwang der Block wieder zurück. Schweigend tastete sich der Blinde zurück ins Zentrum des Marmorbruchs. Sei ne Zeit war abgelaufen, dachte er. Mit der Schuld am Tod einer ganzen Familie und der Ausrottung des gesamten Klans konnte er nicht weiterleben. Er blieb vor der einzi gen Säule stehen, die vollendet war. Sie ruhte auf einem Zylinder. Über dem niedrigen Zylinder erhob sich eine Schale, eine halbierte Kugel. Das kegelförmige En de der Säule ruhte im Mittelpunkt der Kreis fläche. Die Säule selbst berührte an ihrem oberen Ende die vierte Wand des Marmor bruchs, die sich nach innen neigte. Der Blin de bückte sich und hob einen wuchtigen Hammer und einen Meißel mit breiter Spitze auf. »Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe versucht, Gedanken an Freiheit unter die Wesen von Danjitter-Tal und von anderen Welten zu bringen. Ich habe die Freiheit, den Zeitpunkt meines Endes selbst zu be stimmen«, sagte der blinde Quahrt ent schlossen und schwang den Hammer mit al ler Wucht. Ein klirrender Schlag fuhr durch den Mar morbruch und splitterte in viele Echos auf. Der nächste Hieb erzeugte einen breiten Spalt und viele kleine Risse in dem fragilen Turm aus Säule, Halbkugel und Zylinder. Ein Knistern erfüllte das kleine Tal. Wieder klirrte der Meißel, wieder knisterte es. Der nächste Schlag sprengte das Ende der Säule von der Halbkugel ab. Aus dem Knistern wurde ein grollendes Rumpeln. Wieder schlug der Hammer zu. Das Säulenende zer sprang. Die Säule wurde gekippt. Ein riesi ger Marmorblock brach in viele Teile. Säu-
Hans Kneifel lenfragmente und eine gewaltige Masse Steintrümmer fielen herunter. Die obere Hälfte der Säule traf den lauten Quahrt und zerschmetterte ihn binnen eines Sekunden bruchteils. Dann kippten immer mehr Blöcke und rechteckige Marmorteile aus den Wänden, deren statisches Gleichgewicht bis her von der einzigen Säule gewahrt worden war. Minutenlang zitterte ein großer Teil die ses Seitentals. Aus allen vier Wänden des verlassenen Steinbruchs kippten ächzend und polternd die Blöcke und Platten. Weißer Staub flog auf. Der Körper des Blinden wur de unter einem riesigen Berg kantiger Blöcke in allen Größen begraben. Selbst die Gruppen der DanjitterLeute in den Korrido ren und Hallen des Stapelpalasts spürten die Schwingungen und das dumpfe Ächzen, das durch den Berg ging. Es schien, als sei der letzte Angehörige dieses Klans gestorben; nirgendwo in den Systemen des Stapelpalasts der Durstigen rührte sich noch Leben. Nur eine gewaltige weiße Wolke aus Staub schwebte über dem Berg.
2. Jedes Raumschiff, das auf dem offenen Markt von Danjitter-Tal landete, bestätigte die alten Sagen und Berichte. Es war gerade zu unumgänglich, daß die ersten Schiffbrü chigen dieses Stück Land angesteuert hatten. Zwischen dem weißen Ringgebirge erstreck te sich eine gewaltige Ebene, die an mehre ren Stellen schwache, schüsselförmige Sen ken aufwies. Ein Fluß schlängelte sich quer durch das Land. Das Zentrum wurde von ei nem niedrigen Hügel gebildet, um den der zehn Kilometer breite Kreisring des Raum hafens lag. Schon aus dem Weltall war diese auffallende Konstellation aus Gebirge, Tal und Hafen deutlich zu sehen; eine Art Mar kenzeichen für Xudon. Der eigentliche »offene« Markt von Danjitter-Tal befand sich in der Umschlie ßung durch den Raumhafen, also auf dem
Der Markt von Xudon niedrigen Hügel im Mittelpunkt. Der Begriff Danjitter-Tal war ziemlich weit ausgelegt, ebenso der des Raumhafens. Der Kreisring wurde an zwei Stellen vom Flußlauf unter brochen, über den sich zahlreiche Brücken spannten. Die Landefelder bestanden aus ei ner Menge einzelner Sektoren, zwischen die sich Gebäude und Versorgungsanlagen ge drängt hatten. Der offene Markt des Danjitter-Tales war eine erstaunliche Mischung zwischen mo dern und alt, zwischen verwirrender und un durchsichtiger Manipulation und klarer, in weitem kosmischem Bereich bekannter Funktion. Durchschnittlich sechs Schiffe starteten und landeten jeden Tag in Danjitter-Tal; es waren hauptsächlich drei verschiedene Ty pen von Raumfahrzeugen. Cembergall-Flyrt kannte sie alle; die meisten Schiffsnamen kannte er auswendig. Er tippte mit einer dreieckigen Hornkralle auf einen Schalter und drehte seine großen Außenaugen zum Bildschirm. »Die TRABOO landet. Dieser dicke, rei che Händler – wirklich ein tüchtiger Mann, der kein Geschäft ausläßt«, sagte er und konzentrierte sich auf das Bild. Der unter setzte Echsenabkömmling war ein Objekti ver, einer von rund dreihundert Marktaufse hern. Alles, was im Bereich von DanjitterTal passierte, ging ihn an. Der tüchtige Knart, Mitglied der Markt summe, räkelte sich in dem weichgepolster ten Sessel. Seine Sprechblase blähte sich auf, er fragte knarrend in Garva-Guva, der Umgangssprache des Tales und aller Händ ler im weiten Umkreis: »Gibt es etwas Neues vom Stapelpalast des durstigen Zyrl?« »Keine Nachricht«, antwortete der blau schuppige Noot. Er war jung und eifrig. Sei ne Vorgesetzten schätzten an ihm, daß er un bestechlich und sehr pflichteifrig war. We nigstens wurden sie nicht müde, dies immer wieder zu erklären. »Ich schätze dies absolut nicht«, knarrte das Mitglied der Marktsumme.
13 »Was meinst du?« »Diese Strafaktion gegen den Klan des durstigen Zyrl. Man hätte ihn nochmals ver warnen sollen.« Das fingerlange Horn, das in der Mitte von Cembergall-Flyrts Kopf hervorwuchs, schien zu zittern. Es war ein natürlicher Sen sor für alle Arten vulkanischer Gase und entsprechender Rauchentwicklung. Auf der Heimat der Noots, dem Planeten Trimor, war die Fähigkeit, den Vulkanen zu entkom men, Teil der geglückten Evolution gewe sen. Erdbeben und alle anderen vulkani schen Aktivitäten wurden zum Auslöser bio logischer Prozesse. Von den Noots wurde das Organ das »Rauchhorn« genannt, ob wohl es beispielsweise vom CembergallFlyrt auf Xudon noch niemals gebraucht worden war. »Verwarnen? Das haben wir nicht nur einmal versucht. Immer wieder tauchten die se gefährlichen Kugeln auf. Die Leute, die zum Stapelpalast hinausfuhren, waren mehr als nur aufgebracht. Keine Sorge. Wir wer den auch dieses Problem in den Griff be kommen.« »Auf diese oder andere Weise«, brummte der Noot. Er sah zu, wie die TRABOO landete. Das Schiff gehörte ebenfalls einem Noot. Es war ein primitiv aussehendes zylindrisches Schiff mit stumpfer Spitze und abgeschnitte nem Heck. Die Landestützen klappten aus dem Rumpf heraus und spreizten sich wie die Glieder seltsamer Spinnen. »Jedenfalls müssen wir Zyrl verbieten, die Kugeln weiter zu vertreiben. Es ist für uns alle von tödlicher Gefährlichkeit.« »Du hast recht, Zwölftteil der Marktsum me.« Der Marktaufseher, der Objektive, blende te das Bild des gelandeten Schiffes ab. Etwa vierzig verschiedene Schiffe standen inner halb des Kreisrings auf den verschiedenen Segmenten. Die eleganten Pfeilschiffe der Tamater waren vorherrschend. Sie reckten ihre spitzen Kanzeln und die schräggeschnit tenen atmosphärischen Gleitflügel in die
14 Luft. Fahrzeuge fuhren zwischen den Ram pen der Schiffe und den Lagerhallen hin und her. Auf dem offenen Markt wurde praktisch alles gehandelt, das einen Käufer fand. Der Objektive schaltete weitere Monitoren ein und sagte schließlich: »Es herrscht Ordnung. Ich werde meine Runde beginnen.« Das Schweifrudiment des eineinhalb Me ter großen Mannes zitterte, als er sich um drehte und zur Tür hinausging. Die Krallen der drei Gliederfinger kratzten an den Be schlägen der Tür. »Vermutlich suchst du wieder nach dei nem Alptraum«, rief der Krejode und lachte knarzend. »Du wirst dein Rauchhorn nicht brauchen, junger Freund.« Der Noot breitete die Reptilarme aus und entgegnete trocken: »Wer weiß?« Das Gesamtbild des Tales strahlte Ord nung aus. Aber dieses Bild täuschte jeden Neuankömmling. Der Raumhafen mit allen seinen einzelnen Landeplätzen und sämtli chen Einrichtungen, die Wohngebiete, die teilweise in die Bauten und die Baumstreifen des Hafens übergingen, der Markt selbst mit seinen vielen Wohnungen und Geschäftsräu men – das alles gehörte mehr oder weniger den Angehörigen von drei Planetenvölkern. Mit den Krejoden, den eigentlichen Erstbe wohnern, waren es vier Völker. Es gab eini ge kleinere Gruppen, die aber machtpolitisch nicht zählten. Hinter Cembargall-Flyrt schloß sich die Tür. Der junge Noot ging die lange Treppe hinunter zum. Boden. Das Büro der Markt summe war eines von vielen, und fast jeder Angehörige der Marktsumme war beherrscht von Eifersucht und Neid. Jeweils drei Noots, Krejoden, Camagurs und Tamater, also zwölf Individuen, verwalteten den offenen Markt. Konkurrenzdenken und der Versuch wirtschaftlich begründeten Einflusses be herrschten fast offen alle Entscheidungen, die mit hauchdünnen Mehrheiten zustande kamen.
Hans Kneifel Das wirbelnde Leben des Marktes ergriff Cembergall-Flyrt und zog ihn wie ein Stru del in die schmalen Gassen und die verwin kelten, basarähnlichen Ecken und Gewölbe hinein. Er liebte diese Art Leben; er war ein tüchtiger, anständiger und unbestechlicher Aufseher und verdiente die Bezeichnung. Er bemühte sich, ein Objektiver zu sein. Er war Ausführender und Kontrolleur der untersten Ebene. Über ihm standen die bisher erlassenen Gesetze und die Instanz der Marktsumme. Trotz der erwiesenen Schwerfälligkeit der Marktsumme funktionierte das System aus Aufsicht und den vielen Versuchen, zu be trügen und Vorteile zu erwirtschaften. Na türlich gab es immer einen gewissen Spiel raum innerhalb leicht dehnbarer Grenzen. Aber der breitschultrige Echsenabkömmling mit den schnellen Augen und dem zer schrammten, harten Lederdreß war nicht be stechlich. Ein kleiner Tamater hielt ihn auf, als er an dem Gewürzladen vorbeiging und mit schar fem Blick die Preisauszeichnungen kontrol lierte. »He, Träger des Rauchhorns! Hast du die Schwarze Loh schon gefunden?« Die Tamater, vierarmige Gnomen von rund hundert Zentimetern Größe, wirkten auf den Noot stets gemütlich, von unerschüt terlicher Heiterkeit und ziemlich vulgär. Wenn sie sich nicht in ihren strahlenden, sil bern scheinenden Leichtmetall-Raumanzü gen befanden, waren sie völlig nackt und hüpften auf ihren kurzen und stabdünnen Beinen wie Käfer oder Insekten umher. Aber trotz dieses Eindrucks waren sie raffi nierte, äußerst tüchtige Händlernaturen. »Nein, noch nicht«, gab der Noot zurück. »Aber auch trotz des Schweigens aller Ein geweihten werde ich sie finden – wenn sie tatsächlich auf dem Markt ist.« Der Kugelkörper des Tamaters schüttelte sich vor unterdrückter Heiterkeit. »Das weiß niemand. Aber viele werden daran verdienen!« Die Stimmen aller Tamater waren schrill
Der Markt von Xudon und hektisch. Sbhorra war noch eines der vergleichsweise wortkargen Individuen; es gab andere, die selbst die Nerven abgebrüh ter und in langen Dienstjahren fett und grün häutig gewordenen Objektiver marterten. Cembergall-Flyrt hob die Hand und zeigte die drei scharfen Krallen. »Nicht, wenn ich es verhindern kann. Ich sehe es schon deutlich vor mir … der Rauch macht alle wahnsinnig! Sie schreien und rennen. Sie verstreuen deine kostbaren Ge würze und trampeln auf den Preisschildern herum. Sie legen Feuer an die Säcke von Croll-Dylmonkat und stoßen die luftdichten Behälter für Co um. Eine feine Aussicht, wie, Händler der nasenreizenden Gewürze? Wie gefällt sie dir?« Er wanderte weiter und ließ einen unsi cher gewordenen Gewürzhändler zurück. Die Sache mit der Schwarzen Loh war ern ster, als das Gespräch vermuten ließ. Wie die Marmorkugeln mit dem Widerschein der Freiheit konnte auch eine einzige Schwarze Loh das mühsam ausbalancierte Gleichge wicht des offenen Marktes in chaotischer Weise stören oder sogar Danjitter-Tal ver nichten. »Diese Aussicht gefällt mir gar nicht!« kreischte der Tamater mit dem linken seiner drei ovalen akustischen Organe hinter dem Objektiven her. Cembergall-Flyrt grüßte freundlich zurück und ging weiter. Die Hallen und Läden, die kleinen Re staurants und Trinkstuben, die Gassen und die Sonnensegel dieses Marktteils bildeten ein wohlorganisiertes Chaos. Der Noot be gann sich wohl zu fühlen. Trotzdem dachte er immer wieder an das Gerücht von der Schwarzen Loh und an die zahlreichen Ver suche der letzten Zeit, ihn umzubringen. Es war etwas im Gange! Der Markt wimmelte von Gerüchten, wie es in der Natur aller Märkte lag. Jeder Händ ler hatte immer etwas anderes gehört, gese hen oder frei erfunden. Als Mittel, einen in teressierten Kunden in den Laden oder die Ausstellungshalle zu locken, dienten selbst haarsträubende und hornverbiegende Ge
15 schichten, die jeder Wahrheit entbehrten. Cembergall-Flyrt blieb vor einem Mar morsäulen-Laden stehen. Hier kannte er fast jeden Einwohner, auf alle Fälle jeden einzel nen Händler. Ein Krejode trat mit eingefalle ner Sprechblase und zitterndem Sehorgan aus dem Rundbogen in das helle Licht hin aus. Der lange Arm griff nach dem Objekti ven. »Du hast es schon gehört, Objektiver?« fragte der sandige Naahrt leise. Der Objektive konnte sich denken, worauf der Sandige anspielte. Aber er beschloß, sich unwissend zu stellen. »Ich weiß nicht genau, was du meinst, sandiger Naahrt«, wich er aus. »Hat es etwas mit der Loh zu tun?« »Nichts davon«, lautete die grimmige Antwort. »Sie sind früh aufgebrochen, um es dem durstigen Zyrl zu zeigen. Eben habe ich gehört, daß aus dem Stapelpalast dieser Fa milie riesige schwarze Rauchwolken zu se hen sind. Ich kann mir vorstellen, daß die aufgeregte Meute auch getötet hat. Und was tut die Marktsumme? Sie sieht lächelnd zu, weil jemand sie bestochen hat!« Cembargall-Flyrts Klauen zuckten zur Waffe, die er im Gürtel trug, dann hob er die wunden Schultern hoch und versuchte sich zu beherrschen. Er entgegnete kontrolliert und so kurz wie möglich: »Hast du Beweise, daß die Marktsumme bestochen wurde?« »Nun … jeder weiß es. Ich habe es noch nicht ausprobiert.« »Mich besticht jedenfalls niemand. Aber wir wissen, daß in den verschiedenen La dungen für andere Planeten und deren Märk te die Freiheits-Kugeln aus Marmor gefun den wurden. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß die gesamte Organisation des offenen Marktes von Xudon gefährdet ist. Denke an die Strafe, die jene Organschif fe über Unbotmäßige ausschütten.« Der Krejode blieb fest. »Noch lange kein Grund, zu morden und zu brandschatzen. Kennst du die Teilnehmer an dieser Strafexpedition?«
16 Der Laden des sandigen Naahrt war sau ber und ehrlich. Seine Marmorsäulen in al len Größen und Durchmessern, hervorra gend bearbeitet, erzielten Höchstpreise. Der Mann selbst, dessen Klan ebenfalls in den Marmorbergen des Ringgebirges wohnte, befand sich für den Objektiven außerhalb al ler Zweifel. Er war ein guter Händler, aber durch und durch ehrenhaft. Deswegen schlug der Objektive die Meinung des San digen nicht in den Wind. »Ich kenne sie nicht. Ich weiß aber, daß sie erwartet werden. Andere Objektive wer den ihre Personalien aufnehmen.« »Wenigstens etwas. Du hast recht – die Kugeln mit dem Widerschein der Freiheit können uns gefährden.« »So ist es. Vermagst du dir den Schrecken auszumalen, der uns alle überfällt, wenn ei nes Tages plötzlich ein Organraumschiff über unserem Markt schwebt?« »Ich denke in Alpträumen hin und wieder daran.« »Ich nicht weniger«, sagte der Objektive. »Und weil wir beide gerade bei Gerüchten sind – hast du etwas von einem Handel mit einer Schwarzen Loh gehört?« Der Krejode machte augenblicklich die Geste der Verneinung. »Absolut nichts. Der Handel ist ebenso gefährlich wie derjenige mit Freiheitsku geln. Ich lehne ihn ab. Ich kenne keinen Krejoden, der sich derart versündigen wür de.« »Ich kenne auch niemanden. Aber ich ge höre auch zu den wenigen Objektiven, die sich nicht korrumpieren lassen«, bemerkte Cembergall-Flyrt finster. »Solltest du etwas hören, benachrichtige mich. Sind die Krejo den daran interessiert, das Vorgehen gegen Zyrl zu bestrafen oder zu rächen?« »Ich habe keine Ahnung.« »Erkundige dich. Und sprich mit mir dar über«, sagte der Objektive, grüßte und ging weiter. Er merkte, daß ihn viele Blicke tra fen. Alle vier Händlergruppen schienen et was gegen seine Korrektheit zu haben. Al lerdings waren es nicht alle Angehörigen des
Hans Kneifel betreffenden Volkes, sondern nur einzelne. Er kannte fast jeden von ihnen. Er kannte auch sehr viele andere Objekti ve. Was er wußte, entsetzte ihn. So wollte er nicht werden! So, wie die Marktsumme uneinig und von Eigennutz getrieben war, so bestechlich und korrupt waren viele der Objektiven. Einige drückten hin und wieder für ein kleines Ge schenk oder ein besonders teures Essen ein Auge zu und ignorierten einen kleinen Ver stoß. Andere ließen sich und ihre Familien von Händlern finanzieren, die größere Umsätze und entsprechende Gewinne machten. Dies waren Objektive, die erst gar nicht ihre Bü ros verließen, wenn sie wußten, daß verbotene Transaktionen durchgeführt wurden. Diese periphere Region der Schwarzen Galaxis bestand aus rund hundert bewohnten Welten. Ein Neffe des Dunklen Oheims herrschte über das Revier. Der Planet Säggallo war der Sitz des Nef fen, den noch niemand je gesehen hatte. Er hieß Chirmor Flog. Aber das Gesetz der Schwarzen Galaxis wurde von den riesigen Organschiffen unterstützt. Sie straften und verwüsteten, wo gegen das Gesetz verstoßen worden war. Also schadeten die bestechli chen Objektiven letztlich den Marktplane ten, wenn sie Dinge gestatteten, die unter Strafe standen. Darunter fielen die Marmor kugeln ebenso wie zu hohe Preise, die Wei tergabe von bestimmten Kenntnissen und der freie Handel mit Waren, die indiziert waren. Er, Cembergall-Flyrt, sah vielleicht weg, wenn ein kleiner Glasperlenhändler ei ne Handvoll aktiver Perlen gegen ein kleines Vermögen an Pelzen eintauschte. Aber er verzeichnete und meldete erbar mungslos und konsequent jeden wirklich ernsthaften Gesetzesverstoß. Der Krejode senkte seinen haarlosen Schädel und richtete das halbrunde Augenorgan auf den jungen Objektiven. »Ich werde mit dir sprechen. Ich habe den dunklen Verdacht, daß die Marktsumme alle
Der Markt von Xudon Verbrechen der letzten Zeit uns Krejoden in den Stapelpalästen in die Schuhe schieben wird.« »Daran ist etwas Wahres«, bestätigte Cembergall-Flyrt. »Wir sehen uns?« »Wir sehen uns.« Der Krejode war zweieinhalb Meter groß, der Objektive, ein Noot, eineinhalb, und der zwergenhafte Tamater nicht ganz einen Me ter. Hundertfünfzig Schritte in dieser verwir renden Straße weiter hatte Cembargall-Flyrt sein Büro. Er bewegte sich im Zickzack dar auf zu und warf hin und wieder einen Blick auf das Funksprechgerät an seinem runden, muskelstarrenden Handgelenk. Niemand rief ihn, kein anderer Objektiver meldete sich. Er kam an einem schmalen, sieben Stock werke hohen Wohngebäude vorbei. Hier hausten über ihren Läden Noots und Tama ter, die sich gut vertrugen, weil beide Völker ihre Frauen in der Abgeschiedenheit ge schlossener Wohnungen vor den Augen der Öffentlichkeit verbargen. Zwei Stufen führten vom Niveau der ge pflasterten und von allerlei Abfällen bedeck ten Straße durch einen Bogen in eine kleine Bar. Ein Camagur stand hinter der Theke, die kastenförmig aufgebaut war und vier verschiedene Höhen aufwies. Der Objektive stellte sich an den NootTresen. »Weite Rundumsicht, Schoff!« wünschte Cembargall-Flyrt und sah sich um. Die über großen Auge des Camagurs richteten sich auf ihn. Die Facettenaugen schillerten in al len Spektralfarben, sie berührten einander fast auf der Stirn des knapp zwei Meter großen Wesens. Alle Camagurs nahmen nur das wahr, was sich geradeaus vor ihnen ab spielte. Als Barbesitzer schienen sie also ih ren Beruf verfehlt zu haben. Aber Schoff war ganz anders. »Danke. Lavageruch um dein Rauchhorn. Was darf's sein, Gevatter?« Etwa zwanzig Gäste aus vier verschiede nen Völkerstämmen befanden sich in der Bar. Aus den Lautsprechern kam eine zir pende Melodie. Der Objektive antwortete: »Einen heißen Lebap, ohne Truc.«
17 »Sofort.« Das Gemisch war eine schwer verdauli che, aber aufmunternde Mixtur von einem der westlichen Waldplaneten. Als Angehöri ger der Polizeikräfte hatte der Noot dieses Getränk kennengelernt. In der Bar herrschte wohltuende, entspannte Ruhe. Die Hektik des Marktlebens schien ausgesperrt zu sein. Aber durch die großen Fenster und den Mar morperlenvorhang konnte man die Straße und die vorbeigehenden Händlergruppen se hen. Schoff stellte einen großen Becher vor den Noot. Das Material war für den Zugriff der drei Klauenfinger modelliert. »Was gibt's Neues auf Xudon?« erkundig te sich der Objektive. »Weiß man schon, wer das Lasttier so gepeinigt hat, daß es auf mich losging?« Vor vier Tagen hatte er sich einem rasen den, hornbewehrten Tier gegenübergesehen, das durch eine schmale Gasse in äußerster Wut auf ihn zugaloppierte. Nur ein Sprung durch ein halboffenes Fenster in das Lager eines Stoffhändlers hatte Cembargall-Flyrts Leben gerettet. »Nein. Ich kenne den Besitzer. Er hat es als verloren oder gestohlen gemeldet, und zwar bei Abermalz-Lanc.« Dieser Noot war einer der engeren Kolle gen des Objektiven. Flyrt wußte, daß sich Lanc bestechen ließ. »Schon gut. Es wird sich wohl niemals beweisen lassen. Hallo, Irroth!« grüßte der Noot den kleinen, aufgeregt wirkenden Tamater ihm gegenüber. Der Lebap schmeckte stark, heiß und gut. »Gegrüßt, Objektiver!« schrillte der Tamater zurück. Er schien verlegen zu sein. Ein braver, etwas einfacher Bursche, dachte Cembargall-Flyrt, der niemandem etwas zu leide tut und versucht, seine Wurstwaren und – die Produkte eines planetaren Schlammozeans so günstig wie möglich zu verkaufen. Er hatte ihm einmal einen Cama gur-Kunden gebracht, für den die stinkenden Brocken eine Delikatesse waren. Ruhig trank der Objektive das heiße, dun kelbraune Zeug. Seine breiten Froschlippen
18 umfaßten den unteren Rand des ovalen Be chers. Der pflanzliche Saft lief die Speise röhre hinunter und erzeugte im Magen eine wohlige, entspannende Wärme. Auf der Gasse waren kurze, erregte Schritte zu hö ren. Flyrt drehte sich nicht um, vergewisser te sich aber, daß seine Waffe richtig griffbe reit saß. Als er den Becher wieder hob, hörte er in schneller Folge zwei Schreie, schnelle Schritte lederner Sohlen und dann das cha rakteristische Schwirren eines camaguri schen Sägerads. Flyrt ließ den Becher fallen, duckte sich und schnellte sich mit einem weiten Satz von der Theke weg. Prasselnde Geräusche verwandelten das Innere der kleinen Bar in ein Inferno. Der Diskus mit den dreieckigen Zähnen, der ra send schnell rotierte, zerschmetterte einige der an Schnüren aufgereihten Marmorper len, schwebte langsam in die Bar herein und schwankte hin und her. Flyrts Klauen rissen die kurzläufige Strahlwaffe aus dem Gürtel. Das Sägerad erkannte sein Ziel, schwirrte nach rechts und kam mit einem rasend schnellen Schwung auf Cembargall-Flyrt zu. Flyrt sprang hinter einen Tisch und feuer te. Das Sägerad wurde getroffen. Der Flug wurde zu einem Taumeln, und als die Or ganwaffe in den Tisch einschlug, fraß sie sich mit den letzten Drehungen eine Hand breit tief in die Platte. Einige Zähne und das Mittelteil brannten und glühten, und der Schnitt begann zu brennen. Der Objektive feuerte ein zweitesmal. Schreckensstarr sa hen alle Gäste dem Vorfall zu; keiner hatte eingegriffen. Das Tier starb endgültig. Flyrt drehte sich um und sagte: »Jemand wollte mich umbringen. Ich ha be wohl genug Zeugen.« Er schaltete das Funkgerät ein und setzte eine knappe Meldung ab. Schoff kam mit ei nem Kübel und schüttete das schmutzige Wasser über den brennenden Tisch. Das Sä gerad zuckte im Todeskampf. Es war ein harmloses Tier, das kurz vor seinem Tode
Hans Kneifel seine Eier ablegte und zu diesem Zweck zu nächst versteinerte oder sich verhärtete, kurzzeitig Flugeigenschaften wie ein Trag flügler entwickelte und auf seiner Heimat welt sich in Holz oder harten Boden bohrte. Wenn jemand mit dieser natürlichen Waf fe töten wollte, so lenkte er das Auge des Tieres auf das Opfer, verletzte das Tier und schleuderte es in die Luft. In der Regel such te sich das instinktgetriebene Tier in der Si cherheit, das Opfer wäre der Platz zur Eiab lage, den Weg selbst. Es war eine archai sche, aber wirkungsvolle Hinrichtungsart, die in geschlossenen Räumen fast aus nahmslos tödlich wirkte. Dampf wallte von dem gelöschten Tisch auf, und traurig be trachtete der Objektive die Reste des Be chers und des Getränks. Sofort erhob sich ein aufgeregtes Lärmen. Schoff schrie über den Radau: »Ich bringe sofort ein neues Lebap, Ob jektiver.« Kopfschüttelnd blickte der Aufseher der Reihe nach in die Augen der anderen Gäste. Es war früher Abend; das Lokal würde sich in kurzer Zeit füllen. Auf der Straße war es wieder ruhig; niemand schien sich aus der Tür zu wagen. Der Objektive wußte, daß ei ne Verfolgung absolut sinnlos war, denn je dermann konnte diese seltsame Waffe ange wendet haben. »Offensichtlich, Cembargall-Flyrt«, schrie Irroth aufgeregt. Er benutzte einen äu ßeren seiner drei Münder. Jeder Mund war für einen anderen Gemütszustand zugeord net. Nur aus dem mittleren Mund sprach ein Tamater nur einmal: am Tag des Todes. Der Wirt stellte einen vollen Becher vor den Ob jektiven. »Offensichtlich ist, daß du nicht fertigge sprochen hast«, sagte Flyrt. Die anderen Gäste kommentierten das Er eignis. Ein leise vor sich hinlallender grauer Gamber erschien aus einem Nebenraum und beseitigte die Trümmer, das tote Tier und die Pfütze. »Offensichtlich liebt dich jemand nicht!« »So sieht es aus.«
Der Markt von Xudon »Vielleicht hast du jemandem ein gutes Geschäft verdorben?« »Das ist nicht ausgeschlossen«, sagte der Objektive knurrend. Jetzt brauchte er das Getränk wirklich. »Oder es ist wirklich etwas dran an dem Gerücht mit der Schwarzen Loh«, sagte Schoff und setzte sich direkt gegenüber von Cembargall-Flyrt hin. »Du glaubst mir hof fentlich, daß ich mit dem Sägerad nichts zu schaffen habe.« Der Polizist wunderte sich noch immer darüber, wie kühl seine Meldung aufgenom men worden war. Bei anderen Objektiven würde es jetzt schon von den Mitgliedern des Einsatzkommandos hier wimmeln. Er schien wirklich nicht sonderlich beliebt zu sein. »Dir glaube ich es. Hast du auch etwas von diesem verdammten Gerücht gehört?« »Ich habe wie viele andere gehört, daß sich im Bereich des Marktes eine Loh befin den soll. Nicht mehr, nicht weniger. Aber ich habe auch gehört, daß der Dunkle Oheim regelmäßig in Maske hierherkommen soll.« »Die Anwesenheit einer Loh ist ein Ge rücht. Das andere ist lediglich absurd.« »Das sagst du.« »Du weißt, daß der Oheim niemals einen Fuß hierher setzen würde. Falls er überhaupt Füße hat.« Der Camagur sah aus wie eine große, auf recht gehende Fledermaus mit pechschwar zer Haut am ganzen Körper. Die Beine und die drei Armpaare wirkten wie schwarz lackierte Skeletteile. Zu Zeiten höchsten Ge schäftsgangs zeigte sich die Begabung der Wesen für diesen Beruf; gleichzeitig konn ten sie mindestens drei Gäste bedienen, wenn nicht mehr. Konnten die Camagurs nur fast geradeaus sehen, so erreichten sie mit ihren vierfach über kugelige Gelenke knickbaren Armen jeden Teil ihres Körpers. Hin und wieder wirkte Schoff wie ein Bün del schwarzer Schlangen. Jetzt hatte er die langen Ohren aufgefaltet; ein Zeichen seiner echten Erregung. Er deu tete mit zwei Händen auf den Objektiven.
19 »Falls ich etwas höre, werde ich dich ver ständigen, Cembargall-Flyrt. Trinke aus, und wir werden weitersehen. Der Markt ist voller Geheimnisse und gebrochener Ver ordnungen und schlecht kontrollierter Geset ze. Ich selbst habe, dem Neffen sei Dank, mir nichts vorzuwerfen.« »Ich hoffe für dich, daß es so bleibt. Viel leicht ändern sich die Zeiten, und dann wer den die Schurken sich in einer höchst unbe quemen Lage wiederfinden.« »Wird wohl noch lange dauern, Objekti ver!« Die Atemöffnung mit der grauen Membrane zwischen den großen Augen und dem Rüsselmund vibrierte. »Du zahlst nur ein Getränk.« Cembargall-Flyrt griff in eine Tasche sei nes Gürtels und legte eine viereckige Münze auf das Zahlbrett. Er grüßte kurz die anderen Gäste und verließ die Bar. Auf der Gasse zündete man die ersten Lampen an. Die kur ze Nacht Xudons brach an. Und gleichzeitig vergrößerte sich das sin nenfrohe Durcheinander des Marktes. Der offene Markt bestand natürlich nicht nur für die Händler, die in Raumschiffen kamen und gingen. Auch die gesamte Bevölkerung des Danjitter-Tales verkaufte und kaufte auf dem Markt. Es wurden nahezu sämtliche Güter und Nahrungsmittel des täglichen Be darfs angeboten – man konnte ebenso einen Ziernagel kaufen wie auch ein gebrauchtes Raumschiff. Jetzt kamen die Hirten und trie ben die Schlachttiere durch die Gassen in die Schlachthäuser; das Fleisch für morgen und die Felle für die Kürschner. Mit wachen Augen und angespannten Nerven, die Hand am Kolben der Waffe, ließ sich der Objektive durch das Gewühl ziehen und schieben. Er blieb an einem Getränkeladen stehen und nahm ein paar Warenproben. Er schrieb Kennummern auf die Probengefäße und steckte sie ein. Er würde sie anschließend ins Labor der Marktsumme untersuchen las sen – der Trick, mit dem er unkorrekte Un tersuchungsergebnisse ausschaltete, war ein fach. Es gab keine Namen, er trat unter an
20 deren Voraussetzungen auf und besorgte sich die Ergebnisse, ehe sie ein anderer Ob jektiver oder die Marktsumme sehen konnte. Eines war sicher: die Furcht vor der Strafe durch Organschiffen war auf Xudon unver mindert vorhanden. Der Objektive notierte einige Namen; es waren Männer aller vier Volksstämme, die, nach Rauch riechend, mit zerrissener und schmutziger Kleidung zu rückkamen und an den Brunnen ihre bluti gen Waffen reinigten. Wortlos stand Cem bargall-Flyrt irgendwo in einer dunklen Ni sche und schrieb. Diese Männer hatten den Klan des durstigen Zyrl ausgerottet und sei ne Stapelpaläste zerstört. Irgendwann würde er diese Namen brauchen. Er verschwand ebenso schweigend und lautlos, wie er ge kommen war. Minuten später stand er fast auf der Kuppe des Hügels, also im absoluten Zentrum von Markt und Danjitter-Tal. Hier war das große, reichhaltig ausgestattete Ge schäft des Marmorhändlers. Jetzt waren sämtliche Gitter heruntergelassen, es brannte nur die Notbeleuchtung, und ein kleiner Tamater sprang lustlos zwischen all den Säulen, Figuren und Ausstellungsstücken umher und schien absolut nicht zu wissen, was er tun sollte. Der Objektive ahnte, daß sich auch dieser Ort in Kürze radikal verändert haben würde. Vielleicht brannten sie auch den Schauraum und die Büros nieder, vielleicht legte die Marktsumme ihre Hand auf den Betrieb, und vielleicht übernahm ein anderer Klan der Marmorleute dieses Geschäft. Eine Familie, die keine Kugeln herstellen ließ, die den Wi derschein der Freiheit ausstrahlten. Cembar gall-Flyrt wußte definitiv, daß es solche Ku geln gab. Vielleicht, daß es sie gegeben hat te; die Marktsumme hatte andere Objektive ausgeschickt, die Kugeln – soweit sie aufge funden werden konnten – zu vernichten. Es wurde Zeit, das Büro aufzusuchen und den Rapport zu schreiben. Cembargall-Flyrt fragte sich abermals, ob er lebensmüde, wahnsinnig oder ganz einfach nur unge schickt war, seinen Dienst so zu betreiben, wie es das Gesetz vorsah – auf jede andere
Hans Kneifel Weise hätte er ein schöneres Leben, und sei ne Frau würde in der Abgeschiedenheit ihrer Räume nicht nur schönere Kleidung tragen, sondern ihm auch ein viel luxuriöses Heim bereiten können. Der Objektive befand sich am oberen En de einer langen, in mehreren Absätzen ver laufenden Treppe. Die Stufen waren von ho hen, schmalbrüstigen Häusern gesäumt, in denen jetzt sämtliche Fenster, Terrassen und Türen hell erleuchtet waren. Eine bunte Menge aus Spaziergängern, Straßenhänd lern, Käufern und Verkäufern bewegte sich die Treppe aufwärts und abwärts. Musikfet zen drangen aus den Häusern, Gelächter und Flüche erklangen. Der Objektive liebte die sen Zustand der Marktstadt. Trotzdem blieb er unverändert wachsam. Der Schrecken über das letzte Attentat steckte noch in ihm. Er hatte gerade die Mitte der Treppe er reicht, lehnte sich gegen eine Brüstung und wollte warten, bis eine große Gruppe Tama ter in ihren starren Raumanzügen an ihm vorbei aufwärts gestiegen war. Hinter den kleinen, gelbgesichtigen Wesen kam ein Noot die Treppe herauf. Cembergall be merkte, daß die Augen des Noots zuerst ihn anblickten, darin abirrten und sich schließ lich nach oben richteten, auf einen Punkt ziemlich genau senkrecht über dem Objekti ven. Die letzten Wochen hatten CembargallFlyrt wachsam und mißtrauisch gemacht. Er duckte sich, spannte seine Muskeln und sprang mitten in die Gruppe der Raumfah rer-Händler hinein. Er schrie dröhnend: »Zur Seite! Achtung!« Eine falsche Reaktion war ihm lieber als sein Tod. Aber er hatte sich nicht geirrt. Im gleichen Augenblick, als er herumwirbelte, die Waffe herausriß und die Kugelaugen auf die Hauswand richtete, sah er, wie sich der Lauf einer Strahlwaffe aus einem kleinen, verdunkelten Fenster nach unten richtete. Der Schütze hatte hervorragend gezielt, aber nicht richtig reagiert. An der Stelle, an der sich der Objektive eben noch befunden hat te, schmolz ein Feuerstrahl ein Stück aus der
Der Markt von Xudon Brüstung. Steintrümmer und glühende Trop fen prasselten nach allen Seiten. Entsetzens schreie und Flüche gellten auf. Der Objektive zielte und schoß dreimal. Der erste Schuß traf den Rahmen des Fen sters und zersprengte ihn. Der zweite Schuß fuhr durch die Öffnung des Fensters und traf irgendwo, im Innern etwas, das mit einem lauten Krachen zerbarst. Der unsichtbare Schütze feuerte ein zweitesmal und schoß zwischen den Objektiven und der flüchtenden Gruppe von Tamatern in die Stufen. Dann traf der Objektive den Lauf der Waffe. Eine Explosion und ein Schrei vermischten sich. Inzwischen herrschte an diesem Ab schnitt ein grenzenloses Durcheinander. Schreie ertönten von allen Seiten, die Stufen der Treppe wurden leer, weil alles flüchtete. Die Strahlwaffe kippte aus dem Fenster und schlug schwer auf die Treppe. CembargallFlyrt zog sich treppab zurück, den Strahler schußbereit erhoben. Innerhalb des Hauses gab es einen Aufruhr. Die Bewohner rannten hinter den Fenstern aufgeregt hin und her. Flyrt brauchte nicht zu überlegen, ob er in das Haus eindringen und suchen sollte; er war sicher, daß er niemanden finden würde. Natürlich versteckten die Hausbewohner den Attentäter nicht. Derjenige aber, der ihn tö ten wollte, würde auf alle Fälle schneller reagieren können als ein einzelner Marktpo lizist. Es würde sich nichts ändern. »Schon gut«, sagte er zu den Händlern und Dienern, die ihn umringten. »Ich bin in Ordnung. Eines Tages werden wir wissen, wer die Objektiven zu töten versucht. Jeden falls sind es Dilettanten.« Er schob die Waffe zurück und ging in sein Büro. Für ihn war es sicher, daß zwischen dem Gerücht von der Schwarzen Loh, dem Mas saker an dem Klan der Durstigen und den Mordversuchen an ihm ein Zusammenhang bestand.
*
21 Keiner der raumfahrenden Händler, die den riesigen Markt anflogen, benutzte ein Organschiff. Es gab keine Galionsfiguren an ihren Schiffen, und dies bedeutete, daß jene Raumfahrer sich in relativer Freiheit bewe gen konnten. Strategische oder gar militä risch anmutende Ansprüche durften selbst verständlich nicht gestellt werden; dies war auch sicherlich nicht die Absicht der meisten Händler. Mit blinkenden Lichtern landete eines der plumpen Camagur-Raumschiffe. Sieben verschieden große Kugelelemente waren hintereinander aufgereiht; auch dieses Schiff wirkte wie eine exotische Samenkap sel oder eine nußartige Frucht. Aus welchem Grund dieses Volk für seine Schiffe diese Art der Konstruktion gewählt hatte, wußte nicht einmal das Mitglied der Marktsumme TramphRo. Er verknotete unaufhörlich die Finger seiner sechs Hände und sagte mißmu tig: »Dieser Objektive ist überaus lästig. Ich bin dafür, daß er nicht länger unsere Nerven strapaziert.« Der Krejode wippte mit seinem Sessel und sah ebenfalls hinaus zum Landeplatz. Dort setzte das Schiff gerade auf, und die Landungsscheinwerfer erloschen. »Nach dem höchst bedauerlichen Zwi schenfall, der den Klan des durstigen Zyrl hinweggerafft hat, können wir uns keine weitere Demonstration von Gewalt und Ter ror erlauben. Es schadet allen vier Händler gruppen.« »Richtig«, zischte der Noot GriselnemDaahl. »Es schadet.« Der hungrige Zarf sagte in wegwerfendem Ton: »Zank und Hader beherrschen die Markt summe tagein, tagaus. Wir sollten uns we nigstens in grundsätzlichen Fragen einig sein, meine lieben Freunde!« Von jeder Händlergruppe war ein Vertre ter jetzt, fast in der Mitte der vierzehnstündi gen Nachtwache, im Hauptbüro der Markt summe. »Dieser Objektive, bedauerlicherweise ein
22 Noot«, meinte schrill und hektisch der Tamater und richtete seinen Blick auf Gri selnem-Daahl, »ist einer der wenigen Mit glieder unserer schlagkräftigen, ehrlichen und unbestechlichen Polizeitruppe, das die ses Privileg nicht zu würdigen weiß.« Seine Worte klangen völlig ernst, obwohl er wußte, daß das Gegenteil richtig war. »Du meinst, Tramph-Ro«, sagte der hung rige Zarf knarzend, »weil er seine Dankbar keit nicht mit Spenden, Zuwendungen und freiwilligen Geschenken bezeugen will? Al lerdings nimmt er von den Kontrollierten auch keine Geschenke, Zuwendungen oder Spenden an. Er ist arm und kann sich des halb den Luxus der Unbestechlichkeit lei sten.« »Richtig«, erklärte der Noot. »Er ist arm.« »Immerhin setzt er unsere Befehle erfolg reich durch. Daran ändern auch jene An schläge nichts, die bisher auf sein Leben durchgeführt wurden. Höchst unvollkom men – er lebt noch immer.« Der hungrige Zarf begehrte empört auf: »Ich habe nieman dem den Auftrag gegeben, den überaus tüch tigen Cembargall-Flyrt zu beseitigen!« »Auch ich nicht. Bei meiner Ehre!« be teuerte Griselnem-Daahl. »Seit wann benützt ein Noot diesen Be griff, der in Noot-Kreisen weitestgehend un bekannt ist, zum Schwur?« erkundigte sich der Camagur spöttisch. »Richtig!« sagte der Noot in unbegreifli cher Ruhe. »Ich scherzte.« »Also hast du …?« »Nein.« Der Camagur Tramph-Ro fuchtelte mit mehreren seiner Arme wild durch die Luft. Das Büro war überaus luxuriös eingerichtet. Rauchschwaden aus der Wasserpfeife des Tamaters zogen sich durch den Raum. Die Marktsumme hatte freien Ausblick auf das von ihr verwaltete Gebiet, denn der Sit zungssaal befand sich in einem der obersten Stockwerke. Die vier Mitglieder warfen sich nun lange, von deutlichem Mißtrauen ge kennzeichnete Blicke zu; keiner der zwölf traute dem anderen, und jeder hatte ernsthaf-
Hans Kneifel ten Grund dazu. Sie alle waren in einem Netz von Korruption und Neid verstrickt, und dieses Netz bestand aus einem sehr komplizierten Muster. Der Camagur Tramph-Ro sagte: »Auch ich habe niemandem einen Mord auftrag gegeben. Ich rechne damit, daß die ehrbaren Kaufleute und die zornigen Händ ler selbst auf diese Idee kommen. Sie ist ein fach, schnell und leicht zu realisieren und befreit uns alle«, einer seiner Arme be schrieb eine umfassende Geste, »von der Geißel dieser ungeschickten Ehrbarkeit.« »Richtig«, bemerkte der Noot und wedel te den Rauch von sich weg. »Höchst unge schickt!« »Höchst ungeschickt«, griff der Krejode den Faden auf, »verhält sich auch derjenige, der entweder eine Schwarze Loh tatsächlich hierhergeschafft oder das Gerücht auf dem Markt verstreut hat, sie sei hier. In diesem Fall weiß ich definitiv, daß es keiner der Gründerfamilien von DanjitterTal-Offen-Markt war.« »Ich glaube dir. Jeder von uns lebt vom Markt, auf diese oder andere Weise. Es ist ausgesprochen tödlich für viele von uns, ein derartiges Risiko einzugehen. Wenn auch nur der winzigste Funken einer Information an den Neffen oder den Oheim geht, bren nen die Organschiffe Danjitter-Tal nieder.« »Also … wer war es?« Der Noot berührte mit einer Kralle sein Rauchhorn. Die hellblauen Schuppen reflek tierten das Licht der starken Schreibtisch scheinwerfer. Auf den Kunststoffflächen la gen Papiere, Rechenmaschinen, die Waren bücher und kleine, seltsame Instrumente, und mit einer ruckartigen Bewegung schob er die Stapel zur Seite und beugte sich vor. »Diesmal bin ich sicher. Es war keiner von den zwölf Mitgliedern der Marktsum me. Zwar gehorcht der Markt in seiner Ge samtheit inzwischen längst einer bestimmten Eigengesetzlichkeit, die sich im Lauf der Zeit eingeregelt hat. Aber wer auch immer so besessen ist, eine Schwarze Loh hierher zuschaffen – er gehört auf das äußerste ge
Der Markt von Xudon straft und verjagt. Es ist wirtschaftlicher Selbstmord, wenn wir dies unterlassen. Und dieser kleine Objektive, über den wir uns zu Recht lustig machen, ist vielleicht als einziger in der Lage, herauszufinden, ob das Gerücht stimmt, oder ob es nicht mehr als das ist. Wir sollten ihm helfen.« »Richtig«, unterstützte ihn GriselnemDaahl. »Sollten wir!« Sie bestimmten die Richtlinien. Ihnen sollte es also nicht schwerfallen, ihre Ab sichten durchzusetzen. Wenn sie die Befehle gaben, gehorchten sogar die korrupten Ob jektiven, also praktisch die gesamte Polizei truppe. Bei dem Ruf, den sie unter den Händlervölkern genoß, würde es gelingen, diese Gefahr auszuschalten. Und wenn das Ergebnis nur hieß, daß es tatsächlich keine Schwarze Loh in Danjitter-Tal gab! »Ich warte auf Vorschläge«, knarrte der Krejode wenig enthusiastisch. »Unter den Objektiven verbreiten, sie sollen Cembar gall-Flyrt nicht behindern«, schlug TramphRo vor. »Meinetwegen«, antwortete GriselnemDaahl. »Sein Dienst, sehe ich gerade, be ginnt morgen erst mittag.« Tshiff, der Tamater, nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und erklärte: »Richtig. Heute nacht kann viel gesche hen.« Diesmal sprach er mit dem rechten Mund, der für die Gemütsregung von Ruhe und Ausgeglichenheit benutzt wurde. Die Kanten des silberfarbenen Raumanzugs rie ben sich knisternd und schabend aneinander. »Wir diskutieren, aber es geschieht nichts«, sagte der hungrige Zarf. »Wir soll ten, ehe die Nacht vorbei ist, zu einem Ent schluß gekommen sein.« Sie schwiegen und überlegten. Die Situa tion war voller Unbequemlichkeiten. Sie wurden förmlich gezwungen, etwas zu un ternehmen oder einen mehr oder minder prä zisen Befehl zu geben, der nicht unmittelbar mit den Marktgesetzen kollidierte. Mit Glück und vielleicht auch persönlicher Tüchtigkeit hatte der unbequeme, aber effi zient arbeitende Objektive bisher überlebt.
23 Sie brauchten ihn, durften ihn aber nicht stutzig werden lassen. Bot sich ein Ausweg an? Griselnem-Daahl schließlich murmelte fast unverständlich: »Lassen wir ihn weitersuchen. Sagen wir ihm, man habe einigen von uns das Gerücht zugetragen.« »Vortrefflich. Mit seinem Rauchhorn wird er die leiseste Spur der Loh auffangen, kaum daß der Vorgang begonnen und das Unheil seinen Lauf genommen hat. Dann können wir noch immer eingreifen lassen.« Der Krejode nickte mit seinem dreiecki gen Kopf. Die Erregung ließ die Hautlappen von der Nahrungsöffnung zurücktreten. »Einverstanden. Es sollte wieder mehr Ruhe im Markt einkehren. In den letzten Ta gen gab es zuviel Aufregung. Absolut ge schäftsschädigend.« »Richtig«, pflichtete ihm der Noot bei. »Sehr schädlich.« Der Tamater schaltete ein Nachrichtenge rät ein, tippte eine Nummer und sprach dann einen kurzen Text. Cembargall-Flyrt würde ihn morgen, wenn er sein Büro betrat, vor finden und danach vorgehen. Die Anord nung besagte nichts anderes, als daß sich neue Verdachtsmomente ergeben haben, und daß der Objektive in seinem Eifer, die Schwarze Loh zu finden, nicht nachlassen sollte – die Macht der Marktsumme stünde rückhaltlos hinter ihm. Die Taste schnellte wieder hoch, Tshiff wandte sich an seine un gleichen Partner und fragte: »Einverstanden?« »Ja. Wenn wir morgen wieder zusammen kommen, werden wir erfahren, was sich ge tan hat. Dramatische Ereignisse, die vor die sem Zeitpunkt stattgefunden haben sollten, entgehen uns ohnehin nicht.« Jeder der zwölf Partner der Marktsumme hatte unter den etwa dreihundert Objektiven seine Spione und Zuträger. Jeweils drei Noots, Krejoden, Tamater und Camagurs waren überzeugt, daß ihre »Truppe« sie nicht nur zuerst mit allen Informationen ver sorgte, sondern auch im Notfall schützen
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Hans Kneifel
würde. Dies alles jedoch war fragwürdig, falls es wirklich eine Schwarze Loh im offe nen Markt von Danjitter-Tal gab. Kurz vor dem Morgengrauen gingen die vier Partner auseinander. Zu dieser Zeit herrschte fast absolute Ru he im gesamten Bereich zwischen den Hän gen des Ringgebirges. Kein Schiff landete, keines startete vom Kreisring des Hafens. Die meisten Lichter waren ausgeschaltet. Es gab weder offene Bars noch geöffnete Läden oder Ausstellungsräume. Nur ein paar Be trunkene torkelten durch die engen Gassen des inneren Marktbereichs. Sogar Cembar gall-Flyrt schlief. Aber seine Träume waren wild und brutal.
3. Der Laden befand sich in einem der älte sten Gewölbe des Marktes. Das Haus stand nicht auf dem Hügel, sondern am Rand der Ebene. Es war ein wenig abgelegen, aber dies war aus mehreren Gründen recht sinn voll: erstens des Geruches wegen und zwei tens deshalb, weil gute, ausgesucht wertvol le Ware nicht nur ihren Preis hatte, sondern auch um so begehrenswerter wurde, je müh samer man sie erreichte. Das Geschäft, für feine Würste von neun Planeten und die ein zigartigen Waren aus dem Schlammozean von Bidona bekannt, bestand aus einer Deli kateßabteilung und einem kleinen Restau rant, in dem Tamater bedienten und nicht geschlechtsreife Tamater die Küche besorg ten. In einem Winkel hinter den Pökelfäs sern bewegte sich etwas. In dem Dunkel des Vorratsraums schob sich ein dreieckiger Kopf ohne Haare hoch. Eine magere Hand mit zehn Greifern tastete umher und riß einen Kranz kugelförmiger Dr'th-Würste vom Haken. Die magere, große Gestalt schwankte hin und her. Die Finger rissen zwei, drei Würste vom Kranz ab und stopf ten sie gierig in den Nahrungsschlitz. Die junge Krejodenfrau schob sich zwischen zwei Bottichen hindurch; die farbenprächti ge Kleidung war schmutzig und zerschlis-
sen. Durch schmale Schlitze in den Wänden des massiven Gemäuers fiel etwas Sternen licht in den Raum. Langsam und schwerfäl lig tappte die Krejodin zur Tür – das Portal war verschlossen, die Riegel vorgeschoben. »Ich bin eingesperrt!« flüsterte sie und fiel schwer gegen das rissige Holz. Kleine Nager huschten zwischen ihren Füßen hin und her. Der Geschmack und das Fett der Würste machten Gryta krank, aber sie dachte an den lauten Quahrt und versuchte, tapfer zu blei ben. Langsam tastete sie sich in dem großen Magazin umher. Ständig stieß sie mit dem Kopf gegen die Bretter und die eingemauerten Eisenstangen, an denen die Würste hingen. Würste und große, spindelförmige Teile von Tieren. Sie rochen nach Rauch, nach Holzkohle und nach Fett in jedem Stadium der Verwesung. Hier gab es weder Brot noch Früchte. Sie fand auch kein Wasser und nichts Trinkbares. Gryta taumelte, immer schwächer und elender, in den nächsten Raum. Auch hier standen offene Bottiche. In dunklen, übelrie chenden Flüssigkeiten schwammen Dinge, die wie Unrat oder Brocken exotischer Tiere aussahen. Gryta steckte einen Finger in die Brühe, roch daran und berührte dann damit zögernd den Rand des Nahrungsschlitzes. Sie zuckte zusammen, als habe sie ein Stromschlag getroffen. »Ich muß bis morgen durchhalten!« sagte sie zu sich selbst und lauschte auf das Pfei fen der aufgeregten kleinen Tiere. Ihre Flucht hatte sie aus dem Marmor bruch bis hierher geführt. Es war einfach ei nes der ersten, gemütlich und harmlos ausse henden Häuser gewesen, die sie vom schüt zenden Waldrand aus gesehen hatte. Sie war in einer rasenden Eile zunächst die Bergpfa de abwärts gerannt und gestolpert. Dann ra stete sie an einer Quelle und trank und wu sch sich. Als aus der Quelle ein mäßig brei ter Bach geworden war, hatte sie ein fast un brauchbares Boot gefunden und war damit bis zum ersten Wasserfall gerudert und gest
Der Markt von Xudon akt. Von dort aus war sie zu Fuß hierher ge laufen. Genau am Rand zwischen einem Raumhafen-Segment und den großen, tech nisch und fremd aussehenden Bauwerken war sie hierhergekommen, immer im Schutz der dichten Vegetation oder hoher Mauern und Wände. Niemand hatte sie gesehen. Die große Plejade versteckte sie nach wie vor in den Falten ihres ramponierten Gewan des. Dann wurde es dunkler und dunkler. Ge rade, als sie verzweifeln wollte, sah sie die Lichter aus den oberen Stockwerken dieses Hauses. Sie war fast blind durch das große Tor mit den seltsamen Zeichen und Schrift zügen gestolpert und bewußtlos zwischen Wand und den Bottichen zusammengebro chen. Jetzt hatte sie der Hunger geweckt. »Morgen wird alles besser!« sagte sie und schüttelte sich. Die Würste schienen sich in ihrem Magen in reines Gift zu verwandeln; stechender Schmerz breitete sich von dort aus. Sie fühlte, wie ihr schwindelte, und setzte sich auf einen staubbedeckten Stein block. Aber es waren nicht nur die Erschöp fung und die Übelkeit, die Gryta schwanken und ihre Finger zittern ließen. Etwas wie ein starkes Fieber war in ihr. Sie faßte in die Falten ihrer Kleider und legte die zehn Fin ger um die Marmorkugel. Zuerst beruhigte sie diese Berührung. Wärmende und tröstende Strahlungen schienen von der großen Plejade auszuge hen. Oder spielten ihr die überreizten Ner ven einen Streich? Das hellere Rechteck des Fensters begann sich zu bewegen, raste waagrecht hin und her, dann beschrieb es wilde Kurven und Schlangenlinien. Gryta umklammerte die Plejade, kippte nach vorn vom Steinblock und fiel schwer auf den knarrenden Holzboden. Aufgeschreckt ra sten die nächtlichen Schädlinge nach allen Seiten davon.
* Der Tamater hüpfte durch das taunasse
25 Gras, die vielen Einzelzellen seines Seh kranzes im oberen Drittel des Kopfes regi strierten, daß es auch heute wieder ein schö ner, wolkenloser Tag werden würde. »Gut fürs Geschäft!« schnatterte der rechte Mund ruhig und ausgeglichen. An die Nervenkno ten des Riechorgans drangen die leckeren Düfte der gepökelten, geräucherten und ge flammten Würste und Schinken, das Knar ren des großen, altertümlichen Holzportals schlug gegen die Zellen der Höröffnungen. Irroth war nackt und trug nur eine weiche, dicke Schürze um den kugeligen Körper; seine vier Arme und Hände waren ständig in nervöser Bewegung. Die Torflügel knirsch ten auf den blockierenden Steinplatten. »Laden geöffnet!« sagte Irroth tiefbefrie digt und sah, daß der Parkplatz und der Zu fahrtsweg noch leer waren. Um diese Zeit kamen selten Kunden. Er hatte genug Muße, um sein Geschäft für einen langen und hof fentlich erfolgreichen Arbeitstag vorzuberei ten. Irroths Laune war nicht schlecht; seit damals der erste Camagur zufrieden davon geflogen war, kamen immer wieder Händler und ließen sich von ihm exklusiv beliefern. Mehr als die Hälfte seiner Vorräte war be reits fest bestellt. Er ging, aus dem linken und rechten Mund zweistimmig eine einfache Melodie pfeifend, in die Gewölbe hinein. Es herrsch te die richtige niedrige Temperatur. Von den Bottichen stieg ein milder, rauchiger Duft auf, ein wenig nach Seewasser schmeckend. Als Irroth vor der langen, weißgescheuerten Theke stehenblieb, erfaßte sein Sehkranz rechts im Nebenraum ein langgestrecktes Bündel, das gestern abend noch nicht dage wesen war. Er hüpfte aufgeregt darauf zu, ging in die Knie und sah, in ganzer Länge ausgestreckt, eine junge Krejodin. Das zweistimmige Zwitschern und Trillern riß jäh ab. Daß es ein weiblicher Krejode war, erkannte Irroth daran, daß sie trotz der unverkennbaren Ju gend etwas größer und rundlicher war als andere Krejoden. »Was ist das?« schrillte Irroth. Jetzt be
26 nutzte er nur noch das linke Sprechorgan, dessen Gebrauch höchste Erregung bedeute te. Er sprang einmal um den regungslosen Körper herum. Dabei sah er, daß eine Hand unter den breiten Falten des farbenprächti gen Kleides versteckt war. Er blieb stehen, bückte sich und zog daran. Die Hand war sonderbar schwer – dann begriff er plötzlich, daß der Gegenstand zwischen den dünnen Greiffingern eine Marmorkugel war. Eine ganz besondere Kugel aus wertvollstem Marmor. Sie strahlte unverkennbar den Wider schein der Freiheit aus. Es war kein sichtba res Leuchten, wie er es nach allen kursierenden Gerüchten erwartet hatte, sondern ein mehr psychologischer Eindruck. Irroths Schrecken wuchs, als er überzeugt war, daß diese Krejodin tot war. Er lehnte sich zitternd an einen Bottich. Krejodin! Eine Marmorkugel! Der Wi derschein der Freiheit! Diese junge Frau muß eine Überlebende des ZyrlMassakers sein! Möglicherweise eine Tochter des Mar morhändlers selbst! Der vierarmige Zwerg begann, aufgeregt in seinem Gewölbe herumzuspringen. Im mer wieder sah er den regungslosen Körper an. Was hatte die Krejodin mit ihrer verbote nen, gefährlichen Marmorkugel ausgerech net bei ihm zu suchen, bei Irroth, dem Händ ler feiner Delikateßwürste? Sein Blick traf die Marmorberge des Ringgebirges. Er begriff zum zweitenmal: sie war geflohen und hatte sich hierher ge rettet. »Wenn sie gefunden wird, bringen sie mich auch um und zünden mein Geschäft an!« schrillte er. »Was tun?« Zuerst mußt der Körper hier weg. Er sprang hüpfend quer durch den Raum und riß die Tür zu einer dunklen Nebenkammer auf. Hier lagen die schlaffen Schläuche, in denen er die Pökelsalze und das Räucher mehl aufbewahrte. Hastig zerrte er einige Schläuche zusammen, so daß sie ein primiti ves Lager bildeten. In rasender Eile ging es
Hans Kneifel zurück ins Gewölbe. Er packte die Krejodin unter den Schultern und zerrte sie keuchend, ächzend und voller Hast in die Kammer. Der bunte Umhang riß an einigen Stellen auf, die dünnen Gliedmaßen klapperten auf den höl zernen Rosten. Endlich hatte er sie in der Kammer, sprang auf einen Schemel und riß das Fenster auf – sie erstickte sonst. Erstick te? Aber sie war doch schon tot? Er beugte sich noch einmal über sie und mußte erken nen, daß sie in einer tiefen Ohnmacht lag. Ihr Körper war schlaff, aber nicht kalt. Unter der dunkelroten Haut pulsierten schwach die braungrauen Adern. »Nur einer kann helfen … es ist der Ob jektive!« knirschte Irroth und zwang sich da zu, seine Erregtheit nicht zu zeigen. Er warf die Tür zu, blockierte das Schloß und ging, sich zur Ruhe zwingend, in die oberen Räu me. »Ich muß in die Stadt, auf den Markt«, schrie er. »Ihr kümmert euch um das Ge schäft, wenn Kunden kommen.« Er band seine Schürze fester, hüpfte zu seinem Transporter und kurbelte die Ma schine an. Knatternd fuhr er auf dem schma len Weg entlang, der stellenweise noch, der UrStraße folgte, die vor undenkbar weit zu rückliegender Zeit von den Krejoden ange legt worden war. Binnen kurzer Zeit war er am Rand des Marktes. Er überlegte und kam zu dem Schluß, daß sich der Objektive Cem bargall-Flyrt nicht in seinem Büro befinden würde. Der Dienst begann erst um Mittag. Also ließ er seinen Transportkarren stehen und lief zu der Wohnung des Noots. Irroth blieb verdutzt stehen, als er den Noot sah. Der Objektive lag ausgestreckt auf der breiten Mauer vor seinem Wohnhaus. Seine großen Augen schienen die Umge bung analysieren zu wollen. Irgendwie strahlte der Noot Ruhe und Überlegenheit aus. Der kleine Tamater zog mit drei Hän den an der Pranke des schuppigen Wesens. »He! Objektiver! Bist du nicht immer auf Sensationen aus?« schrie er mit der zeternden Stimme des Hektik-Mundes. Cembargall-Flyrt musterte ihn überrascht.
Der Markt von Xudon »Irroth! Du wirkst noch aufgeregter als sonst! Was gibt's? Hat dich ein besonders guter Kunde heimgesucht?« »Im Gegenteil«, zeterte der Zwerg und bewegte seinen Körper hin und her. »Ein ab scheuliches Ereignis hat mein Haus heimge sucht.« Er senkte seine Stimme und sagte tatsäch lich fast unhörbar leise: »In meinen Gewölben lag heute früh eine bewußtlose Krejodin. Sie hält eine Marmor kugel in den Fingern. Ich bin sicher, daß es eine Kugel mit dem Widerschein der Frei heit ist. Ich habe sie versteckt.« Der Noot war mit einem Ruck von der Mauer heruntergesprungen. Er wirkte plötz lich gar nicht mehr entspannt. »Widerschein der Freiheit? Eine junge Krejodin – das kann, denke ich, nur eine Frau aus dem Klan des Durstigen sein, die Totschlag und Brand überlebt hat. Sie liegt bei dir, hast du gesagt?« »Ja. Ich hoffe, nicht mehr lange.« »Das liegt nicht nur bei mir. In Ordnung – ich komme sofort. Wir müssen schnell han deln.« »Du kommst? Wirklich? Oder soll ich zur Marktsumme gehen?« Der Objektive antwortete trocken, ohne zu drohen: »Dann hast du auf dem Markt einen Freund weniger, Irroth. Zuerst sehe ich mir das Problem aus der Nähe an. Ich bin privat bei dir, ich bin noch nicht im Dienst.« »Ich fahre.« »Ich komme sofort nach.« Der Noot bemühte sich, das Problem ob jektiv und ohne Übertreibung zu sehen. Er war sicher, daß es sich so verhielt, wie er dachte. Was sollte er aber mit der Marmor kugel machen, die den Widerschein der Freiheit ausstrahlte? Das war die eigentliche Frage. Er beschloß, vorübergehend seine Su che nach der Schwarzen Loh zu vergessen. Mit seinem Dienstgleiter schwebte er langsam hinter dem knatternden und rau chenden Fahrzeug des kleinen Kaufmannes her. Er stellte das Fahrzeug im Halbdunkel
27 des Gewölbes ab; auch dieses Haus und des sen Umgebung kannte der Objektive genau. Es gab keine zugeteilten Bezirke im offenen Markt, jeder Objektive konnte jederzeit an jeder Stelle sein. »Wo ist dein kostbares Fundstück?« rief der Noot. Der Tamater hüpfte fassungslos vor ihm her und riß eine knarrende Tür auf. »Hier. Sie war ohne Besinnung, als ich sie fand. Hier ist sie – noch immer bewußtlos.« Mit einigen schnellen Schritten war der Noot am Eingang der Kammer. Der Tamater hatte sich nicht geirrt. Langsam bückte sich Cembargall-Flyrt und berührte vorsichtig die kühle Wandung der Kugel, dann prüfte er den Puls der Krejodin. Sie lebte noch. Das Echsenwesen verschränkte die langen Arme und brummte: »Du hast Angst? Du fürchtest, daß sie dei nen Laden auseinandernehmen, wie?« »So ist es, Objektiver«, keifte der Zwerg. »Es braucht nur ein Kunde zu kommen und uns zu sehen. Dann sind wir beide die neue sten Opfer. So unternimm doch endlich et was, Noot!« »Du hast natürlich recht«, antwortete der Objektive. »Hilf mir.« Sie schleppten den langen, schlaffen Kör per unter den Würsten und an den Bottichen vorbei zum Gleiter. Cembargall-Flyrt klapp te den Beifahrersitz zurück und bettete die junge Frau vorsichtig hinein. Irroth schien unendlich erleichtert zu sein. Die Finger des Mädchens klammerten sich noch immer un lösbar an die Marmorkugel. Der Objektive wandte sich an den Händler und sagte scharf betont: »Du weißt nichts, hast nichts gesehen und gehört. Ich kümmere mich um alles. Alles klar?« »Ausnahmsweise, Herrscher der Gewich te und Gesetze. Ich bin froh, daß du dich darum kümmerst.« »Ich sehe es«, brummte Cembargall-Flyrt und schwang sich ächzend in den Steuersitz. »Ich bringe sie in mein Büro. Das zu deiner Information.«
28 »Ich merke es mir.« Der Gleiter stieß rückwärts, drehte sich und fuhr neben der Fahrbahn zurück zum Fuß des Hügels. Über den großen, vorste henden Richtungsaugen des Noots waren die Nickhäute halb heruntergeklappt; ein Zei chen, daß er sozusagen sich in sich selbst verkrochen hatte und nachdachte. Er war un bestechlich. Das wußte er, es würde sich daran nichts ändern. Er hatte die gesamte Nacht genau über diesen Punkt und über sein Verhalten nachgedacht. Es war keine sonderlich schöne Nacht gewesen, selbst sei ne schweigsame Frau hatte seine inneren Zweifel gespürt und auf ihre Art versucht, ihn zu trösten. Jetzt war er entschlossen. Richtig oder falsch, ungeschickt oder prag matisch – er würde sich nicht ändern. Die besinnungslose junge Krejodin in sei nem Fahrzeug hatte mit seinem Entschluß allerdings nichts zu tun. Ein Zufall, nichts weiter. Sie mußte erst in Sicherheit gebracht werden, dann konnte er weitersehen. Er mußte sie – irgendwie war er davon über zeugt – vor den zwölf Mitgliedern der Marktsumme schützen. Die Marktsumme hatte zumindest geduldet, daß die Stapelpa läste der Durstigen verwüstet und der Klan ausgerottet wurden. In seinem Büro war sie in Sicherheit. Er hatte noch nie erlebt, daß einer der zwölf Marktsumme-Partner sein Büro besucht hätte. »In Ordnung, Cembargall-Flyrt«, sagte er leise zu sich selbst. »Der Kampf geht los. Es geht um dich, und es geht ums Prinzip. Und es geht um diese Irren, die eine Schwarze Loh in den Xudon-Markt geschafft haben. Ich weiß es. Ich spüre es in jeder Zelle mei nes verdammten Rauchhorns, daß es so ist. Und ich werde sie aufspüren und ihnen zei gen, daß das Gesetz dazu da ist, daß es alle befolgen. Wenigstens werde ich es versu chen.« Er steuerte den Gleiter in das Unterge schoß des Hauses, in dem das Büro lag. Er wuchtete sich den keineswegs leichten Kör per über die Schultern und schleppte ihn die Treppen hinauf in sein Büro. Das Mädchen
Hans Kneifel lag kurz darauf ausgestreckt auf Decken und Kissen hinter seiner Arbeitsplatte. Er ver suchte, ihr Wasser einzuflößen, aber die Hautlappen über dem Nahrungsschlitz be wegten sich nicht. Er schüttete das Wasser über ein altes Handtuch und legte es ihr über den oberen Teil des Kopfes. Er benötigte unbedingt die Hilfe eines verschwiegenen und zuverlässigen Medizi ners. Wer kam in Frage? Er kannte einen Krejoden. Es war der kleinliche Dnarc, ein uralter Mann, der in seiner winzigen Praxis am anderen Ende des Marktes praktizierte. Vermutlich würde er auch dazu zu bewegen sein, das Problem diskret zu behandeln. »Ich muß es ganz einfach versuchen«, sagte sich der Objektive und warf einen letz ten Blick auf die Kugel, die diesen höchst verwirrenden Widerschein abstrahlte. Dann verließ er das Büro und verschloß die Tür. Die Krejodin lag unverändert starr da. Cembargall-Flyrt versuchte, seine Erregung nicht den Händlern und Kunden zu zeigen. Sie bevölkerten in immer mehr wachsender Zahl die Gassen, Läden und Treppen. Die ersten Raumschiffe dieses Tages landeten und starteten von den verschiedenen Sekto ren des Raumhafens. Die letzte Information, die Cembargall-Flyrt von seinem Gerät ab gerufen hatte, war der Auftrag der Markt summe, weiterhin nach der Schwarzen Loh zu suchen. Er wußte noch nicht, was er da von zu halten hatte – welche Absicht ver folgte das Gremium wirklich mit diesem Auftrag? Eine der vielen Uhren sagte ihm, daß er keine Zeit mehr hatte; der kleinliche Dnarc hatte seine Praxis wohl schon geöffnet. Der Objektive wurde schneller und hastete schließlich die letzte Treppe hinauf, die zum Haus des Mediziners führte. Auf den Stufen warteten bereits zwei Dutzend Patienten. Es waren Angehörige von nicht weniger als sie ben verschiedenen Planetenvölkern. Auf dem nächsten Absatz hielt ihn ein Objektiver auf. »Halt, Cembargall-Flyrt! Hast du heute
Der Markt von Xudon schon mit der Marktsumme gesprochen?« Es war ein Camagur, ein Riese von fast zwei Metern Größe, einer der am meisten bestochenen Objektiven dieser Zone. »Noch nicht. Ich bin noch nicht im Dienst – ich muß zum Kleinlichen. Was gibt es?« »Du sollst dich bei der Marktsumme mel den. Ich weiß nicht, aus welchem Grund. Ich bringe dich hin.« Cembergall schüttelte den Kopf und erwi derte: »Zuerst muß ich zum Arzt. Dann komme ich gern.« »Eilig?« »Ein delikates Problem«, sagte der Noot. Inzwischen hatte er sich fest entschlossen, seinen Fund der Marktsumme nicht mitzu teilen und die Krejodin bis auf weiteres in seinem Büro zu verbergen. Er gab sich auch keiner Illusion mehr hin: diese Marmorku geln gab es! Sie wirkten tatsächlich so wie befürchtet. Sie atmeten also den Wider schein der Freiheit aus. Er selbst hatte ge merkt, wie längst verschüttete und verdrängt geglaubte Empfindungen und Gedanken sich hochschoben, während er die Marmorkugel betrachtet hatte. Er schüttelte seine Gedan ken ab und sagte drängend: »Hör zu! Warte hier, ich laufe nur schnell zum Kleinlichen und sage ihm Bescheid. Dann gehen wir zur Marktsumme. Wer ist heute anwesend?« »Keine Ahnung, ich kenne den Dienstplan nicht. Ich warte.« Der Objektive, durch seine auffallenden Abzeichen und die Waffe deutlich gekenn zeichnet, schob sich zwischen den Gruppen der Wartenden hindurch, klopfte an der Pra xistür und wurde sofort eingelassen. »Du bist es, Objektiver«, knarrte der alte Arzt und schaute mißbilligend auf die war tenden Patienten. »Ein Leiden? Ein Pro blem? Wieder eine unaufschiebbare Aktion, bei der ein zitterfingriger Krejode gebraucht wird?« »In der Tat. In meinem Büro … du weißt, wo es ist?« Der Arzt schob einige Skeletttrümmer
29 von der Tischplatte und antwortete: »Ich weiß.« »Dort liegt eine Krejodin. Sie ist jung und im Schock. Tiefe Bewußtlosigkeit. Ich weiß nicht, woher sie kommt, und auch nicht, was los ist. Ich fand sie heute nacht auf den Stu fen zu meinem Büro. Du kommst?« »Wenn ich die wichtigsten Patienten hin ter mir habe. Sie müssen zurück auf die Raumschiffe.« Der Raum war mit obskuren Gegenstän den übersät und ebenso verwahrlost wie der Rest der Wohnung und das Instrumentari ums des Arztes. Aber der Krejode war un verändert hilfreich zu jedermann. Er deutete zur offenen Tür, hinter sich ein Schaubild innerer Organe eines Camagurs, mehrfarbig und stereoskopisch, dann sagte er: »Ich werde kommen und mich um das Mädchen kümmern. Mehr weißt du nicht?« »Nein. Nichts. Ich hab's eilig, muß zu meinen Chefs. Und … lasse gleich die Rech nung im Büro, hörst du?« »Verstanden. Alles klar. Nicht zu eifrig sein, Objektiver. Schadet nur. Nimm dir ein Beispiel an deinen Kollegen.« »Kaum. Bis bald.« Der Objektive grüßte, entschuldigte sich bei den wartenden Patien ten und ging hinunter zum Camagur. Das Fledermauswesen wartete ausgesprochen lässig, winkte ihm kurz und ging voran. Nach zwanzig Schritten sagte der Objekti ve, dessen schwarze Haut im grellen Son nenlicht wie Lack glänzte: »Du suchst wie ein Verrückter nach einer Schwarzen Loh, nicht wahr?« »Richtig.« Die dünnen, stelzenartigen Beine des Camagurs steckten in engen, weißen Lederstie feln. Plötzlich wirkte die Szene auf den Noot irgendwie befremdlich. Daß ein anderer Ob jektiver dieses Thema berührte, war seltsam. »Und du weißt, daß Marmorkugeln mit dem Widerschein der Freiheit gehandelt werden?« »Das weiß inzwischen der kleinste Nagel händler im Markt«, antwortete er. »Was soll mit der Loh sein?«
30 Eine Schwarze Loh glich dem Hauptge genstand im Märchen von dem mumifizier ten Riesentier unter dem Vulkan. Der Han del mit Schwarzen Lohen war nicht nur ein fach verboten, sondern stand unter persönli cher Strafandrohung der Besitzer der Organ schiffe. Es handelte sich um Mumien, die mit besonderen Ölen und Harzen behandelt worden waren. Die Mumifizierung war na türlich vor sich gegangen, für den Transport brauchten die Händler jene spezielle Präpa rierung. Ehemals waren die Lohen riesige Raubtiere des Planeten Ginderan gewesen. Sie waren sehr selten. Noch viel seltener glückte einem Jäger der Abschuß eines die ser klugen und schnellen Tiere. Eine Schwarze Loh war also ein außergewöhnlich rarer, geradezu unbezahlbarer Gegenstand. »Es gab schon immer Gerüchte, nicht wahr?« fragte der Camagur. Sie näherten sich den großen Lagerhallen. Hier wurden, in direkter Nähe der breiten Zufahrtstraßen, die schwergewichtigen Güter umgeschlagen. Gigantische Stapel aller nur denkbarer Güter lagerten in ebenso großen Hallen, die teil weise unterirdisch angelegt waren und viele Ausgänge, Lüftungsschächte und Zugänge hatten. »Haben sich die Gerüchte verdichtet?« fragte Cembergall zurück. »Mehr als das. Wir scheinen Gewißheit zu haben. Deswegen auch der Zusammenruf durch die Marktsumme.« »Ich verstehe. Warum eigentlich dieser Umweg?« Der Camagur drehte sich um, weil nur so seine Augen Cembargall-Flyrt voll erfassen konnten. »Hat wahrscheinlich alles seinen Grund, Noot.« »Vermutlich.« Der Grund dieses absoluten Verbots, mit den Riesenmumien zu handeln, lag daran, daß es nur einen einzigen Verwendungs zweck für eine Schwarze Loh gab. Dieser Zweck bestand darin, die Mumien anzuzün den. Die beiden Objektiven gingen gerade an
Hans Kneifel einem kleinen Wartungszugang zu der un terirdischen Lagerhalle vorbei. Mit einem seiner zahlreichen Arme deutete der Cama gur auf die spiralige Arbeitsrampe. Der Noot zögerte, ging dann weiter. Eine unbestimmte Ahnung hatte ihn ergriffen. Sein Partner er griff seinen Arm und zog ihn halbwegs ka meradschaftlich mit. »Findet die Versammlung hier statt? Du bringst mich dazu, sehr verblüfft zu sein«, fragte Cembargall-Flyrt und ließ sich mitzie hen. Seine Ahnung verstärkte sich; das Ge fühl, sich ins Zentrum einer sehr ungewöhn lichen und vermutlich negativen Entwick lung hineinziehen zu lassen, wurde noch stärker. Er bewegte kurz den Arm, der Griff des Camagurs brach auf. »Verblüfftsein ist unser Geschäft!« versi cherte der Objektive. »Die Versammlung findet hier nicht statt. Aber du wirst in Kür ze sehen, daß ich dir etwas außergewöhnlich Interessantes zeige.« »Hoffen wir's«, erwiderte CembargallFlyrt. Im gleichen Moment spürte er mit der Direktheit eines Schlages, daß sein Rauch horn aktiviert wurde. Die Geruchszellen rea gierten. Vulkanische Gase? Hier, im Schacht einer Transportrampe? Er zuckte zusammen und blieb stehen. Seine Augen schlossen sich für wenige Sekunden. Er horchte sozusagen mit allen Sinnen in sich hinein. Dann registrierte er mit kaltem Entsetzen – ein Schock, der für ein Reptilienwesen besonders tief ging! –, daß der fremde Geruch die einschlägigen Zellen zu rasenden Reaktionen aufputschte. Er roch etwas, das in der Lage war, ihn in einen Berserker zu verwandeln, ihn dazu zu bringen, jeden und alles anzugreifen, jedes Wesen niederzumachen, das sich ihm in den Weg stellte. Er fuhr herum und stieß hervor: »Ich begreife. Du mußt wahnsinnig ge worden sein, Camagur!« Er begriff wirklich. Er roch eine schwe lende Schwarze Loh! Der Camagur vor ihm lachte schallend. Dann peitschten hinter Cembargall-Flyrt mehrere Schüsse in rasender Folge auf.
Der Markt von Xudon Während er die Detonationen hörte, spürte er die Einschläge der lähmenden Strahlen in seinem Körper. Teile seiner Muskeln und Nervensysteme vereisten. Er schrie auf und stürzte zu Boden. Er sah und merkte nicht mehr, wie andere Objektive aus einigen Ver stecken kamen, ihn aufhoben und in großer Hast die Transportschnecke abwärts trugen. Sie brachten ihn in einen Abschnitt der riesi gen Halle und ließen ihn dort achtlos auf den Betonboden fallen.
* In der Mitte der freien Fläche, die von vier mächtigen Mauern – Stapel von vielfar bigen Kisten mit verwirrenden Nummern und Schriftzeichen auf den Seitenwänden – begrenzt wurde, loderten kleine Flammen. Ein Container stand da. Er befand sich in der Nähe eines großen, mit einem Gitter ver sehenen Lüftungsabzugs. Die Deckplatte und drei Seitenwände waren herunterge klappt und lagen flach auf dem staubigen Betonboden. Gegen die vierte Seitenwand zeichneten sich die Umrisse eines großen Körpers ab. Es war nicht zu erkennen, ob er sechs oder nur vier Beine hatte, aber die Sil houette wirkte noch jetzt gefährlich. Das »Ding« bestand nur aus Haut und Knochen. Auf der pergamentenen, in verschiedenen Schattierungen von Braun glänzenden Haut, krochen die winzigen Flammen aufwärts und entwickelten eine unerwartet große Menge hellgrauen Rauches. Die Schwarze Loh brannte und schwelte. Die Größe der Mumie von Ginderan ent sprach den Vorstellungen, die über jene fast ausgestorbenen Raubtiere herrschten. Sie waren größer als ein Krejode, fast drei Meter hoch; selbst im mumifizierten Zustand. Etwa zehn Meter oder zwölf Meter lang; die Brei te des knochigen Körpers, von der Haut wie von einem Plastiküberzug bespannt, betrug rund drei Meter. Die Menge des Rauches, die die Mumie erzeugen konnte, bis sie rest los eingeäschert war, reichte spielend für den halben Markt von Xudon aus; wenn es
31 niemandem gelang, den Schwelbrand zu lö schen, würde die Wolke tagelang über dem Kessel des Ringgebirges lagern und jeden Bewohner des Marktes in eine Bestie ver wandeln. Gleichgültig ob Säugling oder Greis, gleichgültig ob Noot, Camagur, Kre jode oder Tamater und alle anderen Wesen dazu. Zu diesem Zeitpunkt wußte niemand, wer die Schwarze Loh hierhergebracht hatte. Es war auch nicht festzustellen, wer sie angezündet hatte. Und vollkommen unvorstellbar blieb, was diese Aktion sollte. Wem nützte es, wenn Tausende und aber Tausende Amok liefen und einander umbrachten? Wer wollte die Strafexpeditionen der Organschiffe herbei rufen und riskieren, daß halb Xudon ver nichtet wurde? Wie auch immer: die Schwarze Loh brannte und rauchte weiter. Der Name war zutreffend; dort, wo sich die Hitze ausbreitete, färbte sich die braun pergamentene Haut schwarz wie die Haut der Camagurs. Etwa zwei Dutzend Schritt von der Schwarzen Loh entfernt lag CembargallFlyrt auf dem Boden. Sein breiter Körper war zusammengekrümmt; das Rauchhorn schien zu pulsieren wie ein selbständiges Organ. Seine großen Nüstern sogen den Rauch tief ein, aber noch immer war er be wußtlos. Sein Körper hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen und sich in einen rasenden Organismus zu verwandeln. Während Cembargall-Flyrt im dunklen, raucherfüllten Lagerraum bewußtlos ausge streckt lag und nicht ahnte, welche Menge an Verderben sich über den Markt auszu breiten begann, geschahen folgende Dinge: Zuerst begannen die großen Lüfteraggre gate zu arbeiten. Die Maschinen waren mit empfindlichen Instrumenten verbunden. Diese Sensoren registrierten Hitze, Flammen und Rauch. Sie schalteten die Lüfterflügel und die Radialverdichter ein. Die Maschinen liefen an und sogen gewaltige Mengen Luft aus diesem Lagerraumsystem ab. Zur glei
32 chen Zeit schalteten die Instrumente die Sprinkler an; aus feinen Düsen in der Decke der Halle ergossen sich feine Wasserstrah len, die durch den Druck und die Feinvertei lung in Dampf oder Wassernebel verwandelt wurden. Sie erstickten normalerweise die Flammen, aber da die Schwarze Loh weni ger brannte als schwelte, verdampfte jedes Wassermolekül sofort, kaum daß es die schwelende Pergamenthaut berührte. Dampf mischte sich mit dem gefährlichen Rauch und wurde von den Absaugmaschinen erfaßt und zwischen den Häusern des Marktes in die Luft geblasen. Dann erholte sich Cembargall-Flyrt von den SchockstrahlerTreffern. Der wuchtige, kräftige Reptilienkörper begann zu zucken. Das Schwanzrelikt krümmte sich wie eine Schlange. Rasselnd rieben sich die hellblau en, jetzt schmutzigen Schuppen gegeneinan der und gegen den Beton. Die Halle war völ lig leer, abgesehen von den feucht geworde nen Gütern. Cembargall-Flyrt drehte sich, kam auf den Bauch zu liegen und wachte aus seinem Schock auf. Noch ehe er das volle Bewußt sein wiedererlangte, merkte er, daß aus dem Nervensystem des Rauchhorns deutliche Im pulse der Wut, des Hasses, dem Wunsch nach Zerstörungen und dem Drang, sich zu bewegen, zu rennen, alles niederzustoßen und zu töten, das im Weg stand … Seine klaren Gedanken wurden über schwemmt. Die Sucht, sich auszutoben, nahm zu. Er meinte, miterleben zu können, wie er wahnsinnig wurde. Ein winziger, noch normal funktionierender Teil seines Verstands stemmte sich gegen die Flut der destruktiven Gedanken. Eben noch war der Noot auf dem Bauch und den Kniegelenken gelegen, jetzt stemmte er sich mit den Ar men hoch. Er sah sich um. Vielmehr versuchte er, sich umzublicken. Der Noot erkannte den Wassernebel, die Strömungszonen zu den Exhaustoren, die Quelle des Qualmes, und er verstand. Er kauerte dicht neben einer qualmenden
Hans Kneifel Schwarzen Loh auf dem Boden. Mühsam stemmte er sich hoch und stand plötzlich schwankend da. Immer wieder erlebte er dieselbe Szene: einmal nahmen seine nor malen, vernunftbetonten Gedanken und Überlegungen überhand, dann wieder dieser Tötungs und Zerstörungsdrang. Er taumelte in dem Halbdunkel der Halle. Plötzlich ahn te er, wie es an der Oberfläche aussah. Dort herrschten Vernichtung und Mord. An der Oberfläche, im offenen Markt von Danjitter-Tal, herrschte in diesem Moment lediglich äußerste Verwirrung: Der Grund lag in einer meteorologischen Besonderheit. Der Wind, der sich gegen Morgen erhob und gegen Mittag auffrischte, war unterhalb einer gewissen Höhe von dem Ringgebirge eingefangen. Er konnte sich nicht frei ausbreiten, sondern wurde ge zwungen, einen ungewöhnlichen Weg zu nehmen. Er drehte sich in einer weit gezogenen Spirale in dem Talkessel und endete im We sten. Am Abend frischte er abermals auf und wurde stärker. Dann erfolgte ein schneller Luftaustausch des gesamten Tales. Jetzt aber, beladen mit den Rauchpartikeln, drifte te die Strömung dergestalt, daß ein Teil des Marktes sich im Einfluß des SchwarzeL ohRauches befand. Die Zone unmittelbar da neben blieb völlig frei. Das bedeutete, daß ein Teil der Händler und Käufer mit ihren Familien die Luft ein atmete, ein anderer hingegen nicht. Rund die Hälfte aller Einwohner des offe nen Marktes von Xudon begann, zuerst langsam, dann sich steigernd, in Raserei zu verfallen. Erste, noch harmlose Schlägereien fingen an. Kleinere Zerstörungen breiteten sich aus. In einigen Teilen des Marktes fing es zu gären an. Zuerst wurden von den Rauchmolekülen der Schwarzen Loh die Tamater betroffen. Sie waren am anfälligsten. Ihre kleinen Kör per hatten keine Widerstandskräfte gegen das Gift. Die Riechöffnungen des unteren Organ kranzes blähten sich auf und vibrier ten deutlich. Stöhnend und keuchend sogen
Der Markt von Xudon die Tamater die Luft ein; das Gift erzeugte eine bestimmte Süchtigkeit und lähmte ihren freien Willen. Aber die Bewegungsenergie war nicht gelähmt. Die Tamater eines kleinen Handelszen trums, das aus vielen winzigen Läden be stand, gerieten zuerst in Raserei. Sie rafften an sich, was ihre vier Hände halten konnten. Alles, was nach einer Waffe aussah oder so wirkte, wurde ergriffen. Die kleinen Händler stürzten aus ihren Läden. Ihre HektikStimmen schrillten und zwitscherten in hel ler Aufregung. Jeder Tamater war für seinen Nachbarn plötzlich zum Gegner geworden. Stöcke schlugen gegeneinander. Eine Glas scheibe ging klirrend zu Bruch, ein Tamater hämmerte mit einem pfannenähnlichen Ge genstand auf den Schädel des Nachbarn ein. Raumanzüge verbogen sich, als sie von Büchsen und Gewichten getroffen wurden, die man als Geschosse verwendete. Das schrille, langgezogene Kreischen der Tama ter-Frauen übertönte den Lärm des Kampfes. Passanten flüchteten in wilder Panik, aber mitten im Rennen oder im Stolpern über die Treppen hielten sie an, drehten sich herum und nahmen einen zufälligen Gegner aufs Korn. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich der Bereich rund um dieses Handels zentrum in ein vollkommenes Chaos. Da fast alle Händler und Passanten nicht daran dachten, daß sie auch tödliche Strahl waffen besaßen, sondern ihre Aggressionen mit zufällig ergriffener Waffe austobten, gab es keine Toten. Noch nicht. Das hypnotisch wirkende Rauchgas zwang die Opfer dazu, direkt zu handeln, also mit Muskelkraft, mit dem Drang zur rein körperlichen Betätigung. Je länger die Kämpfenden unter dem Einfluß der Rauchmoleküle waren, desto wilder wurden die Kämpfe. Einige alte Tamater waren erschöpft zu sammengesunken. Andere schoben sie zur Seite oder traten auf die regungslosen Kör per. Noch immer surrten irgendwelche Ge genstände durch die Luft, noch immer schwirrten die Knüppel und trafen mit
33 dumpfem Krachen auf Körperteile, auf an dere Waffen oder auf die Einrichtung der Läden. Zwei Camagur-Objektive, die ver suchten, die Kämpfenden zu trennen und die Unruhen zu unterdrücken, befanden sich Se kunden später mitten im Kampf. Sie ver suchten noch, getreu ihrer Aufgabe, Strei tende zu trennen. Aber beim ersten Stoß oder Schlag, den sie erhielten, sprang sie ihr eigener, künstlich hervorgerufener Aggressi onstrieb sie selbst an und lähmte ihr ver nünftiges Denken. Sofort hörten sie auf zu schlichten und fingen an, zu kämpfen. Die große Schleife der infizierten Luft drehte sich weiter. Die Gase, die mit dem Rauch unaufhörlich aus der Lagerhalle und aus den vielen Öffnungen und Ausgängen quollen, ergriffen nacheinander andere Be reiche des Marktes. Jeder kämpfte gegen jeden. Hin und wieder gelang es einem Händler, der aus unbegreiflichen Gründen noch im mun gegen die hypnotischen Dämpfe der Loh geblieben war, Fenster und Türen zu schließen. Gitter ratterten krachend herunter und trafen ab und zu einen Händler, der sich in den Schutz eines Ladens geflüchtet hatte oder an dieser Stelle erschöpft und blutend zusammengebrochen war. Das Chaos breitete sich weiter aus. Noch gab es weder Brände noch Explo sionen. Aber jeder Fußbreit der Gassen und Plätze war voller kämpfender, prügelnder und schreiender Marktbewohner. Ohne jeden Unterschied schlugen sie aufeinander ein. Camagurs gegen Gamber, Tamater ge gen Krejoden, Noot gegen Camagurs, jeder gegen jeden. Die ersten Schüsse peitschten auf. Jemand feuerte ein Brandrohr ab, des sen Schuß einen dürren Baum sekunden schnell in Flammen setzte. Wieder nahm das Heulen und Schreien zu, die Wut der An griffe schien sich zu verdoppeln. Der Kampf breitete sich nicht von einem Mittelpunkt nach allen Seiten hin aus, sondern mehr oder weniger linear, dem Weg der Luftströmung folgend. Es sah so aus, als ob jetzt und von dieser
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Hans Kneifel
Stelle aus der offene Markt von Xudon im Danjitter-Tal sich selbst zu zerstören be gann.
4. Cembargall-Flyrt kam schwankend auf die Füße. Er war nicht in der Lage, sein ver nünftiges Denken von dem direkten, zwin genden Drang nach Angriff und Aktion um jeden Preis zu trennen. Er fühlte in seinen Gelenken und dort, wo ihn die Betäubungs schüsse getroffen hatten, stechende Schmer zen. »Ich muß hier raus!« Er taumelte hin und her, warf einen langen Blick auf die Schwarze Loh, die in dichten Rauch gehüllt war und nicht mehr sichtbar weiter ver brannte. Überall glänzte Nässe, alles wurde von dem Nebel aus den Düsen eingehüllt. Der Objektive wandte sich in die Richtung, in der er schwache Helligkeit bemerkte. Mit jedem Schritt wuchs seine Wut, die sich ge gen nichts Bestimmtes richtete, aber ausbre chen würde, sobald er etwas oder jemanden sah, der als Gegner in Frage kam. Zuerst langsam, dann immer energischer, schließlich rennend, bewegte er sich die Rampe aufwärts. Es wurde heller, der Anteil der unver seuchten Luft nahm zu, aber es änderte nichts an seiner Stimmung. Sie war mörde risch; er kannte sich selbst nicht mehr und gierte danach, jemanden niederzuschlagen. Er sah furchtbar aus; über und über schmut zig, naß und wild entschlossen. Er hielt sei ne Waffe wie eine Keule in der Hand. End lich erreichte er den Rand der Rampe, sah sich mit halbblinden Augen um und ent deckte das Chaos, das sich ihm förmlich ent gegenwalzte. Mit einem Schrei, der gleichermaßen Freude an der Zerstörung und Befreiung von allen inneren Zwängen ausdrückte, riß er den Arm mit der Waffe hoch und stürzte sich den vielen Gegnern entgegen. Camagurs, Tamater, andere Noots und Krejoden und viele andere Wesen kämpften gegeneinander und warfen sich, als sie sei-
ner ansichtig wurden, auf ihn. Eine gräßliche Schlägerei brach aus. Eine Stunde lang bahnte sich der Noot mit seinen keineswegs geringen Kräften einen Weg durch die kämpfende Masse, raufte mit jedem, der sich ihm entgegenstellte oder nur so aussah oder wirkte, als sei er ein Gegner. Er war außer sich, nur der krankhafte Drang, seine Kräfte zu zeigen, trieb ihn vorwärts. Er schlug um sich, wurde getroffen, wich aus, zerschmetterte Fensterscheiben, schoß auf alles, was sich bewegte und kämpfte sich entlang eines Weges durch den Markt, den er bewußt nicht bestimmte. Aber sein Unter bewußtsein funktionierte und ließ ihn in stinktiv die Treppen und Gassen entlangtau meln, die zu dem Haus führten, in dem sein kleines Büro lag. Er nahm dies nicht bewußt wahr. Seine Schuppen splitterten unter den Hieben, sein Körper begann zu bluten, aber eine dämonische Kraft trieb ihn weiter …
* Der hungrige Zarf versuchte, das Risiko so klein wie möglich zu halten. Er steckte in einem alten Raumanzug. Er konnte sich nicht entsinnen, wann in seinem langen Le ben er diesen Anzug zum letztenmal angezo gen gehabt hatte; jetzt war die Zeit gekom men, in der er diesen Schutz ernsthaft brauchte. Alle Systeme waren eingeschaltet, auch die Außenmikrophone und die Außen lautsprecher. Der Krejode war allein im großen Büro der Marktsumme. Er sah den kommenden Stunden gefaßt, aber nicht ohne Erregung entgegen. »Ich denke«, murmelte er und versuchte, durch bestimmte Schaltungen der vielen Linsen einen Überblick zu bekommen, »daß das Chaos nur einen Zweck hat. Es wird die Machtverhältnisse deutlich machen.« Er wußte, was geschehen war. Aber er war daran unschuldig. Er hatte die Schwarze Loh weder importiert noch angezündet. Die Folgen dieses Geschehens konnte er auf den Bildschirmen der Gebietsüberwachung ver
Der Markt von Xudon folgen. Das Bild faszinierte ihn. Überall wurde gekämpft. An mindestens sechs Stellen brannte der offene Markt. Wenn die Loh restlos verbrannt war und der Wind auch die letzten Moleküle des psy chogenen Rauches weggetrieben haben wür de, waren viele Händler eliminiert. Die Marktsumme mit ihren ausführenden Orga nen konnte dann daran gehen, die verlasse nen Geschäfte und die entsprechenden Han delsbeziehungen an sich zu reißen. Er be trachtete die Szenen des Chaos und wandte sich um, als er ein anderes Mitglied der Marktsumme ein treten hörte. Es war der Tamater Tshiff. »Fröhliche Stunden!« be grüßte ihn der hungrige Zarf. »Ich sehe, dich hat die Information auch rechtzeitig er reicht.« »So ist es«, schrillte es aus dem Rauman zug-Lautsprecher. Der silberfarbene Anzug schimmerte im hellen Tageslicht. Die vier Arme des Zwerges bewegten sich unkoordi niert. Tshiff rief: »Hast du die Schwarze Loh anzünden lassen?« »Bei meinem Umsatz und den verborge nen Prozenten – nein!« gab der Krejode zu rück. »Ich war es wirklich nicht. Ich be zweifle, ob es jemand von der Marktsumme war. Aber es ist unzweifelhaft so: irgendwo brennt und raucht eine Loh. Sieh auf die Schirme!« »Ich bin zwanzig Minuten lang durch den Markt gelaufen. Ich habe alles gesehen. Je der kämpft gegen jeden. Es ist unvorstellbar chaotisch. In ein paar Stunden wird der Markt nur noch aus Trümmern bestehen. Und darüber hinaus bin ich sicher, daß je mand die Organschiffe alarmiert!« »Aber … das ist eine Auseinanderset zung, die nur uns betrifft!« begehrte der Hungrige auf. »Weder die Marmorkugeln mit dem viel strapazierten Widerschein der Freiheit noch die Schwarze Loh sind Vorkommnisse, die nur uns angehen. Die Folgen kommen über uns, ganz richtig. Aber die Gesetze sind in diesen beiden Punkten außerordentlich prä
35 zise und nicht zu mißdeuten.« »Du scheinst recht zu haben«, gab der Krejode zu. »Warten wir, bis die anderen hier sind. Sie sind verständigt.« Der Tamater rief kreischend: »Was immer auch passieren mag: die In stitution der Marktsumme muß unschuldig sein und bleiben. Uns darf nichts nachge wiesen werden können. Wir haben mit die sem Wirrwarr absolut nichts zu tun.« »Ebensowenig wie mit dem Mord an dem Klan der Durstigen, nicht wahr?« »So ist es.« Schweigend sahen sie die ständig wech selnden Bilder auf den Schirmen. Die Hälfte von Danjitter-Tal war mittlerweile von dem Rauch der Schwarzen Loh ergriffen worden. Tausende von Händlern und Käufern und deren Familien kämpften gegeneinander. An mehreren Stellen stiegen Rauch und Flam men auf. Sicherlich hatten viele Marktbe wohner inzwischen mit dem Kampf aufge hört, weil sie Händler und keine Elitekämp fer waren, weil also ihre Kräfte nachgelas sen hatten oder erschöpft waren. Unabhän gig von diesen Zuständen und Vorkommnis sen landeten und starteten ununterbrochen die Raumschiffe der vier hauptsächlich han delnden Völker. Irgendwo dort unten befand sich Cembargall-Flyrt, der Noot, der noch für viele interessante Zwecke zu verwenden war. Oder lebte er gar nicht mehr? Der hungrige Zarf sagte plötzlich: »Es gibt nur eine Methode, diesen Wahnsinn zu steuern.« »Ich höre! Welche Methode schlägst du vor, Hungriger?« erkundigte sich der Tama ter schrill. »Kommandos in Raumanzügen oder min destens mit Atemmasken können eingreifen. Wir sollten damit anfangen, einige Schuldi ge zu suchen.« Tshiff kicherte erregt und rief: »Einige Schuldige und Verantwortliche in Vorrat zu halten, ist sicherlich keine schlechte Idee. Wir werden sie als die eigentlichen Verbrecher präsentieren müssen, wenn man uns fragt.«
36 »Und man wird uns fragen, mit großer Si cherheit.« Sowohl der Tamater als auch der Krejode wußten, daß zumindest die Hälfte der Marktsumme-Mitglieder niemals einen sol chen Zwischenfall provoziert hätte. Trotz dem mußte man reagieren. Der Tamater ver suchte, mit den Geräten eine große Gruppe von Objektiven zusammenzurufen und mit ihnen zu reden. Sie sollten Raumanzüge be sorgen, sie anlegen und sich dann hier ein finden. »Das ist wohl die einzige Idee, die Erfolg verspricht!« schaltete sich der hungrige Zarf ein. »Vielleicht kann ich auch eine Gruppe zusammenstellen.« »Versuche es. Es kann wichtig werden.« Unzählige Anrufe gingen in alle Teile von Danjitter-Tal. Von den dreihundert Objekti ven erreichten die Marktsumme-Mitglieder rund ein Dutzend. Die Männer versprachen, so schnell wie möglich zu kommen. »Eure Befehle sind klar! Ihr müßt sie be folgen. Sucht Cembargall-Flyrt und bringt ihn hierher. Wir brauchen ihn lebend. Der Verdacht, daß er die Schwarze Loh gefun den und angezündet hat, liegt nahe.« Mit dieser Äußerung versuchte die Markt summe, die Objektiven zur Eile anzutreiben. Die Objektiven ihrerseits schienen genau zu wissen, daß die Situation jetzt weder Platz für Verzögerung noch für das übliche, schleppende Vorgehen erlaubte. »Und … die Marktsumme muß vollzählig zusammengerufen werden!« rief der hungri ge Zarf in ein Mikrophon. »Wenn tatsäch lich ein Organschiff nach Xudon kommt, sollten wenigstens wir handlungsfähig sein. Es ist furchtbar! Eine Katastrophe!« »Ich werde sie anrufen!« versprach der Tamater. Zwischen den einzelnen Versuchen, seine Kollegen zu erreichen, blickte er immer wie der aus den riesigen Fenstern oder auf die Monitoren. Überall zeichneten sich weitere Bilder des Schreckens ab. Weder der Hung rige noch Tshiff hatten Erfahrungen mit dem suggestiven Rauch der Schwarzen Loh.
Hans Kneifel Sie wußten nicht, ob die Wirkung des Rauches eine Stunde, einen Tag oder einen Monat anhalten würde.
* Der kleinliche Dnarc, seine schwere Arzt tasche in der Hand, stapfte langsam die Treppe vor seinem Haus hinunter. Seine Pa tienten waren abgefertigt; die üblichen klei nen Leiden, die schnell zu behandeln waren und nicht viel einbrachten. Er blieb stehen und drehte sich nach rechts und links. Die Hörorgane blähten sich auf, als sie den Lärm hörten. Zu dieser Zeit war der Markt immer auf, jeden Tag, das gesamte Jahr über. Aber der Arzt glaubte zu erken nen, daß es eine andere Art von Geräuschen war, die von jenseits der Häuser kamen. In seiner Nähe lagen Sträßchen und Plätze wie ausgestorben da. Hinter einer Rampe sah der Mediziner ei ne Rauchsäule. Sie erhob sich fast senkrecht in die Luft und zerfaserte an der Spitze. Der fahlgraue Rauch zog dicht über den Dächern der Häuser und den Wipfeln alter Bäume da hin und schien vom warmen Mittagswind in einen Kreis gelenkt zu werden. Dnarc ging verwundert weiter. Er wollte das Büro des Objektiven besuchen, wie er es versprochen hatte. Sehr merkwürdig, dachte er, ich kann mich nicht erinnern, einen solchen Radau je mals auf dem Markt gehört zu haben. Der Arzt ging, aufgeregt und schneller werdend, durch eine enge Toreinfahrt. Als er auf der anderen Seite wieder ins helle Son nenlicht trat, schlugen ihm Lärmen, die Bil der von kämpfenden Wesen und Geschrei und Flüche entgegen. Er blieb verwirrt ste hen. Ein Tonkrug, der aus dem Dunkel eines Ladens wie ein Geschoß herausflog, krachte eine Handbreit neben seiner Schulter gegen die Mauer und zerschellte. Übelriechende Flüssigkeit spritzte nach allen Seiten. Der kleinliche Dnarc griff in seine Ta sche, holte einen Lappen hervor und träufel
Der Markt von Xudon te aus einer Phiole eine antiseptische Flüs sigkeit darauf. Mit einer Hand preßte er den Lappen auf die Riechöffnung oberhalb der Sprechblase und wandte sich nach rechts. Hier war eine Schlägerei im Gang; er wollte nicht hineingezogen werden. Nie mand schien zu sehen, daß er ein Arzt war. Hinter ihm schlugen die Marktbewohner sich die Köpfe blutig. Jemand schleuderte Ziegelbrocken in die Menge, die er aus der Dachbrüstung herausbrach. Unaufhörlich schrien und kreischten Angehörige von min destens einem halben Dutzend verschiedener Völker. Eine Glasscheibe krachte mit einem furchtbaren Klirren zu Boden, ein neuer Chor aus Schreien widerhallte zwischen den Hausmauern. Ein blutender Krejode taumelte in ein of fenstehendes Haus hinein. Aus einem Fen ster sprangen hintereinander vier Camagurs, in jeder ihrer vielen Hände Knüppel, ausge brochene Tischbeine oder ähnliche Waffen. Sie stürzten sich wie ein schwarzer Wirbel auf die übrigen Kämpfenden. Erschreckt und in leichter Panik flüchtete sich der Arzt nach rechts und turnte hinter einer Mauer durch einen verwilderten Garten. Warum diese Massenschlägerei? fragte er sich. Er kam an drei langen Häuserfronten vorbei. Der Weg zu dem kleinen Büro führte ziemlich geradeaus durch diesen Teil des Marktes. Es wurde nach einigen schnellen Schritten wieder ruhiger. Als der Arzt aber den Schatten der Mauer verließ, senkte sich eine Rauchwolke auf den kleinen Platz. Der Kleinliche preßte das Tuch kräftiger auf den Geruchsschlitz und hastete weiter. Ein großer Schatten huschte über den Platz. Der Krejode hob den dreieckigen Kopf. Ein Zylinder-Raumschiff eines NootHändlers startete in einem verwegenen Win kel und überflog in geringer Höhe den Markt. Es war, als würde die Besatzung die Brände und die Schlägereien aus der Luft ansehen wollen. Als sich der Rauch lichtete – er stammte aus einem brennenden Lagerhaus im oberen Stockwerk eines Ladens –, rannte der Arzt
37 direkt in eine Menge Tamater hinein. Es wa ren mindestens fünfzig Händler. Die kleinen Burschen, zur Hälfte nackt oder in ihren Händlerschürzen, zur anderen Hälfte in schmutzigen und zerbeulten Raumanzügen, verwandelten den kleinen Platz in eine Are na. Wieder wich der Arzt aus und rief einen Tamater an, der an ihm vorbeihinkte und einen Knüppel aufhob. »Was soll das? Seid ihr alle verrückt ge worden? Ihr prügelt aufeinander ein …« Der Zwerg sank auf die Knie, packte den Schaft eines metallenen Rohres und kam stöhnend und keuchend auf die Beine. Er sprang auf den Arzt los und schwang das Rohr. Das runde Gesicht war vom Zorn ent stellt. Der Arzt machte einen Sprung, raste in panischer Angst eine Reihe von Stufen hinunter und blieb schweratmend in einem Durchgang stehen. Hier herrschte wieder Ruhe; eine Gruppe von blutüberströmten Händlern lag in den Eingängen der Läden, auf Bänken oder in den Winkeln. Das Pflaster war übersät von jeder Art Scherben, Abfall und zerstörten Waren. Jetzt glaubte der Arzt nicht mehr an eine Schläge rei. Das Gerücht von der brennenden Schwarzen Loh schien hier zur grauenhaften Wahrheit geworden zu sein. Cembargall-Flyrt fiel dem kleinlichen Dnarc ein. Hatte der Objektive, den er bisher als einen zwar aufrechten, aber wenig hervorra genden Mann kennengelernt hatte, etwas mit der Schwarzen Loh zu tun? »Nicht zu glauben. Ausgeschlossen!« knarrte der Krejoden-Arzt und rannte auf das Büro des Objektiven zu. Auch jetzt war der Weg gesäumt von den Spuren einer er bitterten Schlacht, die aber augenscheinlich ohne Strahlenwaffen durchgeführt worden war. Die Gasse glich dem verwüsteten Are al, in das eine Bombe eingeschlagen war. Keine Glasfläche war unversehrt, hölzerne Teile von Türen, Fenstern und Läden waren zersplittert und teilweise angekohlt, das In ventar der Läden lag zerfetzt, zerbrochen und rauchend auf den Steinen. Aus dunklen
38 Eingängen und aus Fenstern klang Stöhnen und Wimmern. Und hinter der Silhouette der nächsten, kleineren Häuser tobte unverän dert der Lärm zahlloser Kämpfe. Der kleinliche Dnarc hielt noch immer, ohne es selbst zu merken, das Tuch vor die Atemöffnung. Jetzt, nachdem ihn die Ge danken an die Gefahr der Loh plagten, nahm er das feuchte Tuch weg, blickte es verwirrt an und begriff, daß es ihm bisher den klaren Verstand bewahrt hatte. Sofort preßte er es wieder an die Atemöff nung und eilte die Treppe zum Büro des Ob jektiven hinauf. Es war ein kleines, fast ärm liches Haus, in dem Cembargall-Flyrt seit Jahren sein Büro hatte. Die Tür war ver schlossen, aber die Hausmauer hinauf und quer über Rahmen und Tür zog sich die tief eingebrannte Spur eines Strahlerschusses. An einigen Stellen rauchte das Material noch. Der kleinliche Dnarc rüttelte am Griff und warf dann einen langen Blick durch die schmutzige Scheibe. Das Schloß klapperte. Im dunklen, leeren Büro glaubte der Arzt einige Zipfel von far benfrohen krejodischen Kleidungsstücken zu sehen, die hinter dem zerschrammten Schreibtisch hervorsahen. »Also doch«, knarrte der Arzt und stemm te sich, am Schloß rüttelnd, gegen die Tür. Weit und breit war kein Objektiver zu sehen. Vermutlich war auch Cembargall-Flyrt den suggestiven Rauchgasen der Schwarzen Loh erlegen und kämpfte irgendwo wie ein Ra sen der. Die Tür knirschte und öffnete sich endlich. Mit einem Satz war der Arzt im In nern, schloß die Tür und stellte seine Tasche auf den Tisch. Die Krejodin befand sich un zweifelhaft im Schock, denn sonst würde sie sich auf ihn gestürzt haben wie jeder andere in diesem Bezirk. Wieder träufelte der Kre jode etwas auf das Tuch, dann nahm er das alte Untersuchungsgerät heraus und ging um den Tisch herum. Schweigend betrachtete er das Bild. Die junge Krejodenfrau lag auf Decken und Polstern und bewegte sich nicht. Die Finger hielten eine knapp faust-
Hans Kneifel große Marmorkugel fest. Der Arzt setzte sich vorsichtig auf einen wackeligen Stuhl und musterte die Krejodin mitsamt der Ku gel. »Tatsächlich!« staunte er. Der Anblick der glatten Kugel mit der verschlungenen Äderung des Steines in der Politur löste plötzlich starke Empfindungen in ihm aus. Er vergaß für einige Zeit die Enge seines Daseins, sein Alter und die vielen Ein schränkungen, denen er unterworfen war. Der Widerschein der Freiheit! Also war auch dieses Gerücht zutreffend, und es gab jene gefährlichen Kugeln wirklich. Er ver stand die Verwirrung, die den Objektiven sichtlich befallen gehabt hatte. Der alte Arzt seufzte tief auf und versuchte, die Finger der jungen Krejodin von dem Stein zu lösen. Er schaffte es nicht und setzte sein Dia gnosegerät an. Kurze Zeit später mußte er einsehen, daß seine erste, flüchtige Diagnose richtig gewe sen war. Die Krejodin lag in einem Schock, der sie bewußtlos gemacht hatte. Aber sämtliche Lebensfunktionen liefen ab; die Krejodin lebte und schien nicht unmittelbar in Gefahr zu sein. Der kleinliche Dnarc flößte ihr Was ser ein, in das er etwas aufmunternde Arznei gemischt hatte. Er führte solche Mittel für alle hier lebenden Händler mit sich. Die Ta sche war voll von speziell wirkenden Arz neien für ein Dutzend unterschiedlicher We sen. Langsam richtete sich der Alte wieder auf. Von draußen hörte er Kommandos und schwere Schritte. Als er zur Tür blickte, wurde sie aufgestoßen. Zwei Krejoden und drei Camagurs kamen herein. Auf ihren Raumanzügen glänzten die Abzeichen der Objektiven. »Beim großen Gewicht!« rief Dnarc er leichtert. »Endlich! Ihr müßt mir helfen!« Außenlautsprecher knisterten und rausch ten. Eine metallisch wirkende Stimme sagte: »Wir suchen den Objektiven CembargallFlyrt. Wer bist du … ah, ich kenne dich. Du bist der Arzt!«
Der Markt von Xudon Der Krejode wies auf das bewegungslose Mädchen. »Ich bin Arzt. Cembargall-Flyrt holte mich hierher. Ich sehe, daß ihr begriffen habt, daß eine Loh brennt. Kümmert euch um das Mädchen. Sie hält eine Kugel mit dem Widerschein der Freiheit in den Fin gern. Bringt sie meinetwegen zu mir oder in das nächste Krejoden-Hospital.« »Das wird die Marktsumme entscheiden. Was suchst du hier?« Nicht ohne Würde, trotz des feuchten Tu ches vor der unteren Gesichtshälfte, sagte der kleinliche Dnarc: »Ich helfe einem Kranken. Das ist meine Aufgabe. Wißt ihr, wer für dieses Verbre chen verantwortlich ist?« Er zeigte durch die offene Tür nach drau ßen. Von dort kamen noch immer die Ge räusche der zahlreichen Kämpfe herein. »Nein. Aber die Marktsumme ist sicher, daß Cembargall-Flyrt die Schwarze Loh an gezündet hat. Wir suchen ihn.« Der Arzt wankte hinaus. »Ich wünsche euch viel Erfolg«, knarrte seine Stimme. »Ich weiß fast sicher, daß es Cembargall-Flyrt nicht war. Wenn ihr ihn findet, sagt ihm, daß ich mich um das Mäd chen kümmern werde.« »Auch das hat die Marktsumme zu ent scheiden!« war die Antwort. Die Objektiven brachen den Griff der Finger auf und nah men die Marmorkugel an sich. Sie ver schwand in einer Raumanzugtasche. Fas sungslos sah der Arzt mit an, wie sich zwei Krejoden mit dem schlaffen Körper der jun gen Frau beluden und sie davonschleppten.
5. Der Bildschirm flackerte. Dann stabili sierte sich das Bild wieder. Die wohltönende Stim me des breiten Klynn zitterte und drang dann wieder voll aus den Lautspre chern. »Wir sind Nachbarn. Nur ein schma les Tal trennt unsere Berge mit den Stapel palästen. Und ich sage dir, Nachbar, daß wir die nächsten sein werden.« Der glühende
39 Talt hob abwehrend beide Arme. »Das kann ich nicht glauben. Keiner von uns hat Ku geln oder andere Gegenstände hergestellt, auf die auch nur annähernd die Beschrei bung paßt.« Der breite Klynn lachte sarka stisch. Er rief: »Sie haben die gesamte Fami lie niedergemacht, alle Diener, sämtliche Mineure und Steinbearbeiter. Wir haben dreißig Tote gefunden und sind sicher, daß sich in den Stollen noch mehr befinden. Al les oder fast alles ist zerstört, niederge brannt, verwüstet. Es gibt keine Durstigen mehr. Der Klan ist erloschen. Und du weißt, daß die Marktsumme schon immer auf unse ren Reichtum neidisch war; wir sind die drei mächtigsten Familien.« Es war am frühen Nachmittag. Von den oberen Ebenen der Marmorberge sahen sie deutlich durch die Linsen, daß es an einigen Stellen des Mark tes brannte. Die Meldungen, die zwar alle wirr und sich widersprechend waren, sagten immerhin übereinstimmend aus, daß jeder im Danjitter-Tal gegen jeden kämpfte, falls er noch in der Lage war, sich zu bewegen. Bis hierher war der psychogene Rauch der Schwarzen Loh noch nicht gedrungen. »Die Marktsumme … mit welchen Kräf ten sollte sie angreifen. Niemand gehorcht im Tal mehr irgendeinem Befehl!« wider sprach der glühende Talt. »Die Wirkung des Rauches wird nachlas sen. Dann werden sie den Zorn des Volkes schüren. Diesmal ist der gesamte Markt un terwegs, um uns zu töten. Glaube mir. Wir sind nicht auf Verteidigung eingerichtet. Und wir sind zahlenmäßig in der Minder heit.« »Allerdings. Was schlägst du vor?« »Flucht. Ein Kaufmannsschiff mieten, beide Familien mitsamt den Dienern an Bord bringen und wegfliegen, bis sich alles wieder beruhigt hat.« »Der Gedanke daran widerstrebt mir.« »Mir nicht weniger. Aber es ist die einzi ge Möglichkeit, die ich sehe. Und, noch et was: binnen kurzer Zeit wird eines der schrecklichen Organschiffe über DanjitterTal in der Luft hängen und uns alle strafen,
40 ohne Unterschied.« »Daran dachte ich auch schon.« Die Glühenden, die Durstigen und die Breiten waren schon seit Urzeiten Nachbarn. Niemals hatte es ernsthaften Streit zwischen ihren Familien gegeben. Ihr Ziel war stets, durch Tüchtigkeit, neuartige Produktionsme thoden und gerissen durchgeführten Handel ihr Vermögen zu mehren. Sie waren von dem überfall aus dem Zen trum des Marktes ebenso überrascht worden wie die Familie der Durstigen. Nur hatten sich die aufgehetzten Händler an den Glü henden und den Breiten nicht vergriffen. Jetzt schlich die Furcht durch die bleichen Marmorberge. Es war die Angst vor dem Tod. Der breite Klynn senkte seine Stimme zu einem beschwörenden Murmeln: »Ich habe Angst, Glühender!« »Wir nicht weniger, Nachbar. Wir sollten handeln, so lange wir noch Zeit dazu haben, nicht wahr?« »Ja. Ich werde einen zuverlässigen Boten mit viel Geld zum Raumhafen schicken. Ich weiß, daß noch nicht alle Bezirke des Hafen ringes vom Rauch verseucht sind. Vielleicht sind wir in ein paar Stunden schon gerettet.« »Und unser Vermögen? Unsere Waren?« fragte mit zitternder Stimme der glühende Talt. »Wenigstens ist der Marmor nicht zu zer stören. Was vernichtet ist, kann wieder auf gebaut werden. Tote aber können nicht wie der lebendig gemacht werden.« »Wie recht du hast. Ich höre von dir?« »Sobald sich etwas ereignet. Aber ihr selbst solltet ebenso wachsam sein und euch auf eine schnelle Flucht vorbereiten.« Wieder flackerten die Bilder auf den Schirmen. Der Taumel und die Kämpfe in der Marktgegend schienen auch auf die Energieversorgung überzugreifen. Es war höchste Zeit. »Genau das werden wir tun. Danke für die Hilfe!« »Keine Ursache, Nachbar.« Sie schalteten die Schirme ab und gingen
Hans Kneifel wieder zurück an ihre Plätze. Aus einigen Fenstern richteten sich riesige Instrumente auf den Mittelpunkt des Marktes. In wech selnden Vergrößerungen konnten die Krejo den der bleichen Marmorberge erkennen, wie sich Kampf und Chaos immer weiter ausbreiteten. War dies der Untergang von Danjitter-Tal?
* Der Noot ConmatPort, ein dicker Objekti ver, steuerte seinen Gleiter entlang der Hausmauern. Er war vorsichtig und versuch te, das Risiko klein zu halten. Zwar steckte er in seinem Raumanzug und hatte die Schockwaffe neben sich liegen, aber ein ge zielt geschleudertes Geschoß konnte Unheil anrichten. Aus diesem Grund hielt er sich fern vom Boden der Plätze, Straßen und Treppenanlagen. Er suchte Cembargall-Flyrt. Der Befehl, den Objektiven um jeden Preis zu fassen, war von der Marktsumme ergangen, nach dem sich die Mitglieder der DanjitterTal-Regierung versammelt hatten. Zwischen ihnen auf dem Tisch des Büros lag die Mar morkugel aus den Stapelpalästen der Dursti gen. Die Kugel mit dem Widerschein der Freiheit. Etwa fünfzehn Objektive in schützenden Raumanzügen suchten nach ihren Kollegen. Im Zentrum des Marktes brannte noch im mer die Schwarze Loh. Der Rauch stieg aus vielen kleinen Öffnungen der Lagerhalle. Der nächste Befehl würde sicherlich lau ten, die Loh zu löschen und die Reste zu vernichten. Das hatte Zeit. Zuerst mußte dieser Ver rückte gefunden werden. Conmat-Port hielt den Gleiter an und drehte sich im Sitz nach allen Seiten. Er suchte zwischen den Kämp fenden nach einem Noot mit den Abzeichen der Objektiven. »Nichts in dieser Straße«, meldete er über das Funkgerät des Anzugs. Die Angehörigen der Suchgruppe waren miteinander verbun den, aber auch die Marktsumme hörte mit.
Der Markt von Xudon »Weitersuchen! Auch in den Gebäuden. Er kann sich irgendwo hin geflüchtet ha ben!« drang es aus den Helmlautsprechern. Tamater, Krejoden, Camagurs und Noots waren sich ausnahmsweise einig. Dieser Zu stand mußte so schnell wie möglich beendet werden. Die meisten Straßen und Plätze sahen ver heert aus. Einige ernsthafte Brände waren erloschen, wohl aus Mangel an brennbaren Substanzen. Aber noch immer schwebte über dem riesigen Tal die vier oder fünffa che Spirale des braungrauen Rauches. Sie erhielt selbst jetzt noch Nachschub. Der Noot suchte die Straßenränder ab. Überall lagen verkrümmt die Gestalten de rer, die gekämpft und zerstört hatten und vermutlich von der Schwäche übermannt worden waren. Wo befand sich der Gesuch te? Nachdenklich erklärte der Noot: »Ich bin jetzt in der Krayt-Straße, fast am Ende. Hier gibt es keine Kämpfe mehr. Ich kann keinerlei ernsthafte Bewegungen mehr entdecken.« »Trotzdem weitersuchen! Bei mir schla gen sie noch wie die Irren aufeinander ein und ruinieren sich gegenseitig das Ge schäft.« »Das haben sie hier schon hinter sich.« Die meisten Objektiven befanden sich in einem Gebiet, das zwei ineinandergreifen den Kreisen glich. Ein Kreis lag um Cem bargall-Flyrts Wohnhaus, der andere um sein Büro. Auch Conmat-Port schwebte in diesem Gebiet. Er war sicher, daß er Cembergall finden würde, wenn er ihn sah. Seine Augen waren sehr scharf, und er wußte, auf welche Merk male er zu achten hatte. Der Noot glaubte nichts mehr: seine Einstellung zu allen Machtausübenden im Danjitter-Tal war aus gesprochen zynisch. Er bestach und ließ sich bestechen. Er wußte, daß die Marktsumme bestenfalls aus miteinander hadernden Trot teln bestand. Seine dreihundert Kollegen hielt er für eine Bande von Halsabschnei dern und Betrügern. Sie waren keine Mör der, aber sie legten Gesetze auf fast virtuose
41 Weise so aus, wie es ihnen paßte. Sie über trieben nicht, denn dann hätten sie sich den eigenen Wohlstand ruiniert. Dasselbe galt für ihn. Trotzdem glaubte er nicht, daß dieser dumme und einfache Objektive die Loh her beigeschafft und angezündet hatte. Es ergab keinen Sinn. Wahrscheinlich war es einer aus der Marktsumme gewesen. Oder ein Un fall, eine Panne? »Da! Ich habe ihn!« rief er, dann schränk te er, etwas leiser, ein: »Wenigstens glaube ich, daß ich ihn gefunden habe.« »Positionsmeldung. Wir kommen, wenn du uns brauchst!« »Verstanden.« Der Gleiter schwebte schräg abwärts. Er dirigierte ihn auf das Ende einer langen Rei he bewegungsloser Körper zu. Nicht alle Händler oder Passanten waren besinnungs los. Es gab ein paar, die sich in den Schutz des Schattens schleppten. Am Ende der Schlange lag ein breitschultriger Noot. Als er den Gleiter neben der Gestalt anhielt, ent deckte Conmat-Port die Kennzeichen eines Objektiven. Es gab rund achtzig Noots in dieser Poli zeitruppe. Port sprang aus dem Gleiter, drehte mit einiger Mühe den schweren Körper herum und sah zu seiner Erleichterung, daß es sich tatsächlich um Cembargall-Flyrt handelte. Er richtete sich auf und sagte seinen genau en Standort durch. Dann schloß er: »Hört auf zu suchen. Ich habe ihn. Er liegt da wie tot; ich brauche also eure Hilfe. Los, es eilt.« »Wir kommen.« Das Verlangen, den Anzughelm zu öffnen und tief durchzuatmen, steigerte sich unter dem Eindruck des grellen Sonnenlichts ins Unerträgliche. Der Noot lehnte sich an sei nen Gleiter und musterte die Umgebung. Immer neue Bilder des Schreckens waren zu erkennen. Es berührte ihn nur am Rand. Der Wiederaufbau und die Beseitigung von zehntausend kleiner und größerer Schäden würden den Objektiven wiederum schöne
42 Prozente, Bestechungen und Trinkgelder einbringen. Außerdem waren sicherlich eine Menge nicht kapitalkräftiger Kleinunterneh mer beseitigt worden. Entweder waren sie schwer verletzt, oder ihre Läden waren zerstört und geplündert, oder sie waren tot. Es würden sich anstren gende, aber fette Monate anschließen. Sie, die Objektiven, durften sich nur nicht von der Marktsumme zur Seite schieben lassen. Mehrere Gleiter näherten sich in mäßig schnellem Flug. Der Noot winkte mit beiden Armen seine Kameraden herbei. Die Ma schinen bremsten ab und bildeten einen Halbkreis um den bewegungslosen Körper, der im Winkel zwischen Straßenpflaster und einer Hauswand lag. »Er hätte es einfacher haben können, der Narr!« kommentierte ein Krejode und zog an einem Arm des Reptilienwesens. »Blinder Übereifer hat ihm geschadet«, stimmte ein Camagur zu und half, den Kör per in die Höhe zu ziehen. Cembargall-Flyrt sah übel zugerichtet aus. Überall bedeckte geronnenes Blut den Körper. Die starre Le derkleidung war zerschnitten und voller Schmutz und Reste aus irgendwelchen zer platzten Gefäßen. »Wir bringen ihn zur Marktsumme, wie angeordnet«, brummte Conmat-Port und zog am Gürtel des Noots. Als sie zu viert versuchten, den Noot auf die kleine Ladefläche des Gleiters zu wuch ten, bewegte er sich plötzlich. Er öffnete die Augen, stieß einen heiseren Schrei aus und griff nach der Waffe. Die Tasche war leer, er hatte die Waffe irgendwann verloren. Ein gurgelnder Schrei ertönte, dann hörten sie undeutliche Worte. »… Feinde. Alles niedermachen. Sie grei fen an …« Conmat-Port nahm seinen Schockstrahler vom Nebensitz, hob den Arm und feuerte aus dichtester Nähe einen Schuß gegen den Wirbelsäulenansatz ab. Augenblicklich sackte der Körper des hellblau Geschuppten wieder zusammen. »Der Rauch muß es in sich haben!« sagte
Hans Kneifel Port halblaut. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so lange wirkt.« »Das ist es ja gerade, was die Schwarze Loh so gefährlich macht«, sagte ein anderer Objektiver. »Bringst du ihn hin?« »Ja. Ihr könnt mich ja eskortieren. Diesen Job haben wir hinter uns.« »Damit hast du recht.« Die Nachzügler trafen ein. Die Objektiven verständigten sich schnell miteinander. Die Kämpfe und Verwüstungen innerhalb des Marktes ließen sich nicht aufhalten oder bremsen. Es gab niemanden, der wirkungs voll hätte eingreifen können. Ständig verla gerten sich die Schauplätze. Nur dort, wo al le Kämpfenden bis zur totalen Erschöpfung gewütet hatten und vor Schwäche zusam mengebrochen waren, herrschte Ruhe. Selbst wenn an diesen Stellen noch der hyp notisierende Rauch der Schwarzen Loh wirksam war, richtete er nichts mehr an – vielleicht dann erst wieder, wenn sich die er schöpften Händler wieder erholt hatten. Die Gleiter schwebten davon, an der Spitze Con mat-Port mit dem bewußtlosen Noot auf der Ladefläche. Einmal sagte ein anderer Noot zu Conmat: »Für Cembargall-Flyrt scheint die Karrie re zu Ende zu sein, nicht wahr?« Conmat lachte kurz und entgegnete: »Das wird allgemein als sicher vorausgesetzt, Kollege.« Das Ziel war das Gebäude der Marktsum me. Jeder von ihnen wußte, daß es in den Kellern dieses Bauwerks sichere Gefängnisse gab. Vermutlich würde Cembargall-Flyrt das absolute Ende seiner Karriere in einem solchen Kerker erwarten.
* Drei Mitglieder der Marktsumme waren verschwunden. Die übrigen Partner hatten immer wieder versucht, die Teilnehmer voll zählig ins Büro zu laden. Die Verbindungs geräte funktionierten, aber es meldete sich niemand. Auch drei Objektive mit Rauman zügen, die man losgeschickt hatte, hatten
Der Markt von Xudon keinen Erfolg. Zwei Tamater und ein Krejo de waren und blieben verschollen. Sie steck ten irgendwo im Bereich des Marktes und schienen in den Kämpfen untergegangen zu sein. Zum zehntenmal sagte der hungrige Zarf: »Wir sind auch, nach unseren Satzungen, in dieser Gruppierung voll abstimmberech tigt.« »Richtig«, gab der Noot zurück. »Worüber stimmen wir eigentlich ab?« »Über das zukünftige Vorgehen«, erklärte der Camagur. »Als ob es da etwas abzustimmen gäbe«, zeterten die Tamater. »Die Loh brennt und raucht, solange sie brennen kann. Der Rauch wird sich heute nacht verziehen. Dann wa chen alle wieder auf, sind blutig, voller Beu len und beschämt. Und dann bauen sie wie der auf, was sie zerstört haben. Aus. Sollen wir über die Stärke des Nachtwinds abstim men?« »Nein«, sagte der Noot. »Über Cembar gall-Flyrt. Sie haben ihn gefunden.« Die Versammlung drängte sich in die Lifts und fuhr hinunter ins Basisgeschoß. Dort bremste gerade der Gleiter ConmatPorts. Der Noot schilderte, wo und in wel chem Zustand er Cembargall-Flyrt gefunden hatte. »Wohin soll ich ihn bringen?« fragte er uninteressiert. »Auf alle Fälle erst einmal in eine sichere Zelle. Er wird irgendwann wohl aufwachen, dann unterhalten wir uns mit ihm.« »Verstanden. Helft mir, Kollegen.« Fünf Objektive schleppten den Noot in den Keller, warfen den Körper auf eine Lie ge und sperrten die Zellentür von außen zu. Keiner wußte, wie lange die Wirkung des Rauches anhalten würde, aber der Schock des Betäubungsschusses würde sicher so lange dauern wie die vierzehnstündige Nacht Xudons. Schließlich versammelten sich Objektive und Marktsumme-Mitglieder in dem Sitzungssaal. Die Blicke aller Anwesenden wurden wie magisch von der Kugel angezogen.
43 Es war unbegreiflich, warum die Kugel hier offen auf dem Tisch lag. Zur Ab schreckung? Oder hatte ihre Ausstrahlung bereits bewirkt, daß die Wesen sich so frei fühlten, das verderbenbringende Fundstück hier auszustellen? »Woher ist die Kugel?« fragte jemand. »Ein Arzt fand sie in der Hand einer jun gen Krejodin«, sagte ein Objektiver. Sein Kollege ergänzte: »Die Frau fanden wir, mit dem Arzt und der Kugel, im aufgebrochenen Büro von Cembargall-Flyrt.« »Das ist unzweifelhaft eine Kugel aus dem Stapelpalast der Durstigen. Der Wider schein der Freiheit ist unverkennbar«, unter strich der hungrige Zarf. »Sollen wir sie mit dem Hammer in lauter kleine Stücke schla gen?« »Nein! Beim Oheim!« schrie ein anderer. »Das Beweisstück! Wenn wir es vernichten, haben wir nur Märchen und Sagen zu be richten. Nicht anrühren!« »Richtig«, echote der Noot GriselnemDaahl. »Nicht zerstören.« Jeder Objektive und jeder Angehörige der Händler-Regierung von Danjitter-Tal ahnte, daß etwas Schreckliches auf sie zukommen würde. Und zwar würde dies in ganz kurzer Zeit geschehen. Das schlechte Gewissen gab ihnen diese Überzeugung ein. Irgend etwas würde geschehen, ganz sicher. Die Entwick lung, die mit dem Ausbruch des geschäftli chen Hasses auf die Durstigen angefangen hatte, war unablässig einem Höhepunkt ent gegengestrebt, der in der brennenden Schwarzen Loh und den Zerstörungen gip felte. Was kam jetzt? Wie reagierten die Herr scher? Wann würden sie strafen? Endlich reagierte einer der Marktsumme und sagte zu den Objektiven: »Ihr müßt versuchen, die Schwarze Loh zu löschen. Nehmt die Gleiter und schwebt sofort dorthin. Versucht es mit allen Mitteln, sonst sind wir allesamt Herrscher ohne Land, arbeitslos und verstoßen. Falls wir die Strafe des Organschiffs überleben. Wir wer
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den nachdenken. Uns fällt sicher ein Weg ein, alles so hinzustellen, als sei es eine Ket te von Unglücksfällen gewesen. Geht!« Unwillig, aber gehorsam schoben sich die Objektiven aus dem Saal. Sie verließen das Gebäude, kletterten in ihre Fahrzeuge und schwebten in die Richtung der Lagerhalle, über der noch immer eine langgezogene, große Rauchwolke schwebte. Als sie durch die breiteste Einfahrt hineinschwebten und die Scheinwerfer ihrer Fahrzeuge einschalte ten, hörten sie einen gewaltigen Schrei, der immer lauter und bedrohlicher klang. Jeder, der im Bereich des Tales noch seine Stimme erheben konnte, schien vor Entsetzen so laut zu schreien, wie er konnte. Es war ein Laut, als breche ein Vulkan aus. Der Schrei drück te Entsetzen, Furcht und kaltes Grausen aus. Trotz der Verzerrung durch die Mikrophone und Helmlautsprecher hörten die Objektiven diese Bedeutung und erschauerten. Verwir rung und Angst ergriff auch sie. Vollkommen ratlos schwebten sie auf die große, rauchende Masse zu und sahen sich nach Löschmitteln um. Die Mumie hatte sich aufgelöst. Eine dicke Schicht schleimigen Öls breitete sich auf dem nassen Hallenboden aus. Auch der Wassernebel, der ununterbrochen aus den Düsen sprühte und die Sicht fast unmöglich machte, änderte nichts daran. Die Exhausto ren drehten sich wie rasend. Das Metall des Containers war ausgeglüht. Die Schwarze Loh war nicht zu löschen.
6. Langsam schwebte eine riesige Erschei nung über die Gipfel der höchsten Teile des Ringgebirges. Ein Raumschiff, etwa wie ein längliches Ei geformt, mindestens hundert Meter lang und mit einem Maximaldurch messer von rund sechzig Metern. An zehntausend Stellen zwischen dem Band des Raumhafens schrien die Händler und die Bewohner auf. »Ein Organschiff!« Die schrecklichsten Gedanken hatte sich
bewahrheitet! Die Herren waren gekommen und würden beginnen, die Bewohner von Danjitter-Tal zu bestrafen. Der Ruf von Zer störung und gnadenlosen Racheaktionen ging diesen Schiffen voraus. Überall blick ten die verschiedenen Wesen zum Himmel und sahen dort das mächtige Schiff in der Sonnenstrahlung des Nachmittags. »Ein Organschiff! Es kommt im Name des Dunklen Oheims!« Das schräg einfallende Licht zeigte deut lich die Struktur der Schiffshülle. Sie wirkte pockennarbig und von Linien und Kratern überzogen wie ein kleiner Mond. Einzelne Flächen schienen sich im Sonnenlicht gol den zu färben, Bug und Heck wirkten dun kelbraun oder grau. Das Schiff schwebte nä her an den Rand des Tales heran und verließ den Bereich der höchsten Berge. Schlagartig wurden sämtliche Kämpfe und Zerstörungen unterbrochen. »Das Schiff! Rennt um euer Leben! Ver steckt euch! Das Organschiff wird alles ver nichten und uns töten!« Jeder, der noch bei Bewußtsein war und klar erkannte, was vorgefallen war, schrie vor Furcht. Die anderen ließen sich an stecken, obwohl sie nichts begriffen. Der noch immer fein verteilte Rauch der Schwarzen Loh und der Drang zu Kampf und Auseinandersetzung schienen für kurze Zeit wirkungslos geworden zu sein. Aber nur für kurze Zeit. Ein seltsamer Effekt trat ein. Niemand hatte die Chance, den Wechsel zu begreifen. Aber viele Kämpfer verließen die offenen Flächen und führten ihren Kampf in Zimmern, Kellern und den bereits verwüsteten Räumen der Handelsleute fort. »Das Organschiff …!« Wie eine drohende Gewitterwolke schob sich das Organschiff lautlos heran und zielte auf den Mittelpunkt des Marktes. Das Bild erschien auf zahllo sen Bildschirmen von Nachrichtengeräten und privaten Spionapparaten. Der nächste Schub der Furcht suchte das Tal heim. Als das Schiff den Mittelpunkt des Marktes er reicht hatte, schien sich der Koloß mit der
Der Markt von Xudon dichten Rauchwolke zu verbinden. In die sem Augenblick setzte der erste Raum schiffskapitän seine Startsirene in Tätigkeit. Eines der Schiffe aus Kugelelementen, ge formt wie ein gekrümmtes Samenkorn, star tete mit gefährlichen Werten und raste schräg auf die Berge zu, um Höhe zu gewin nen und sich so schnell wie möglich vom Raumhafen und aus der bedrohlichen Nähe des Organschiffs zu entfernen. Ein Camagur-Schiff folgte, das nur aus drei Kugeln bestand. Dann hob am anderen Ende des Hafens ein Tamater-Schiff ab und jagte steil in den Himmel. An verschiedenen Stellen, über die drei hundertsechzig Grad des kreisringförmigen Hafens verteilt, starteten in rasender Eile die Raumschiffe, deren Piloten an Bord waren. Falls sich Besatzungsmitglieder oder sogar die Eigentümer im Gebiet des Marktes auf hielten, wurden sie zurückgelassen. Überall dort, wo innerhalb des Tales der Rauch nicht hingelangt war, setzte in Glei tern und in Fahrzeugen mit orthodoxem An trieb, zu Fuß oder auf dem Rücken von Reit tieren, eine Massenflucht ein. Die Flüchtenden bewegten sich vom Mit telpunkt des Kreises weg nach außen, flüch teten also in die Schluchten und Klammen der bleichen Marmorberge und des Ringge birges. »Das Organschiff! Es sucht seine ersten Opfer!« Tatsächlich senkte sich der riesige Rumpf tiefer und tiefer. Es schien, als ob die Besat zung durch Luken und über Beobachtungs geräte erst einmal sehen wollte, was eigent lich geschehen war, um dann zielstrebiger strafen und vernichten zu können. Das Schiff beobachtete, was sich unter ihm abspielte.
* Atlan sagte in Garva-Guva, um sich noch mehr an den richtigen Gebrauch dieser Spra che zu gewöhnen: »Zweifellos sind wir am Ziel. Das Ring
45 gebirge, die Fläche, der Markt – es ist der Planet Xudon. Hier sollen wir einen verbote nen Markt auflösen. Ich glaube eher, der Markt löst sich auch ohne unsere Hilfe auf.« Sie hatten mit der HORIET hundertsie benundzwanzig Lichtjahre von Enderleins Tiegel aus zurückgelegt. Auf mechanischte lepathischem Weg hatten sie den Auftrag er halten, den sie jetzt auszuführen hatten. »Etwas brennt hier im Zentrum«, sagte Thalia und hob den Kopf von dem großen Bildschirm des makroskopischen Gerätes. »Und es sieht aus, als habe ein tagelanger Bürgerkrieg stattgefunden.« »Genauso sieht es aus«, bestätigte der Ar konide. »Sie fürchten uns.« »Wir erscheinen schließlich auch im Na men des Dunklen Oheims. Er ist es, den sie fürchten.« Über die wahre Natur dieses Wesens hat ten sie auch während des Fluges so gut wie nichts herausgefunden. Die grauhäutigen Humanoiden schwiegen; niemand hatte es geschafft, sich mit ihnen zu verständigen. »Was hast du vor, Atlan?« fragte Thalia leicht irritiert. Auch Atlan betrachtete den Bildschirm und sah ununterbrochen Bestäti gung der ersten Bilder. Überall gab es Zer störungen, aber offensichtlich hatte kein Kampf mit schweren Geschützen oder durchdringenden Strahlwaffen oder Explosi onskörpern stattgefunden. »Erst einmal versuchen, den wahren Grund der Panik festzustellen. Die Zerstö rungen waren schon vorhanden, ehe wir in der Lufthülle Xudons erschienen sind.« »Wüßten wir es, wenn ein anderes Organ schiff vor uns hier angekommen wäre und diesen Markt aufgelöst hätte?« Atlan antwortete unsicher: »Möglicherweise wüßte es die Galionsfigur Bronniter-Vang.« Auf den Bildschirmen war ebenso deut lich zu erkennen, daß das Erscheinen des Schiffes eine geradezu panische Furcht unter den Bewohnern dieses Marktes hervorrief. Die Informationen, die Atlan, Thalia und die Gruppe der Dellos über Xudon und den
46 Markt bekommen hatten, waren nicht eben sehr erschöpfend gewesen. Atlan mußte sich entscheiden. Aber sie hatten einen Lehrgang durchge macht. Die seltsamen Geräte, an die sie von den kleinen schweigenden Wesen der Bedie nungsmannschaft angeschlossen worden wa ren, hatten ihnen einen mechanischtelepa thischhypnotischen Kurs in einer Sprache vermittelt, die sich Garva-Guva nannte. Es schien eine Verständigungsart zwischen all den verschieden aussehenden Wesen der Schwarzen Galaxis zu sein. Natürlich be herrschte die Mannschaft von Pthor inzwi schen diese Basissprache mehr oder weniger vollkommen. Die HORIET hatte inzwischen eine enge Kreisbahn über dem Mittelpunkt des Mark tes eingeschlagen. Thalia wandte sich wie der an den Arkoniden und sagte: »Wir sollten ihnen möglichst schnell klar machen, daß wir nicht in böser Absicht ge kommen sind.« Atlan ging auf ein Übermittlungsgerät zu, das ihn mit der seltsamen Steuerung der HORIET verband. »Die Organschiffe sind eine feste Institu tion«, sagte er. »Solange wir nicht gelandet sind und mit den Wesen gesprochen haben, werden sie uns für die erbarmungslosen Rä cher halten, die im Namen des Dunklen Oheims gekommen sind, um zu strafen. In Ordnung. Ich werde das Schiff landen.« Er befahl, die HORIET an einer Stelle des Raumhafens zu landen, von der aus sie schnell ins Innere des Marktes gelangen konnten. Mit einiger Verblüffung sahen sie die seltsame Art, in der der Raumhafen an gelegt war. Vielleicht fanden sie hier Verbündete, die ihnen in der fremden Umgebung weiterhel fen konnten. Eines war ziemlich sicher: At lan, Thalia und ihre Dellos würden zunächst einmal für die Abgesandten dieser rätselhaf ten Gestalt gehalten werden. Brachte man ihnen Verehrung, Angst oder Ablehnung entgegen?
Hans Kneifel Das große Schiff driftete langsam auf den Rand des Raumhafens zu und setzte auf. Lu ken und Bullaugen öffneten sich. Die lautlo sen agierenden Bedienungsmannschaften ar beiteten mit der gleichen Schnelligkeit und Präzision wie immer. »Die Rauchwolke, die über dem Markt steht, scheint etwas zu bedeuten«, meinte ei ner der Dellos. »Natürlich nicht nur, daß es brennt. Habt ihr gesehen, daß der Rauch wie eine sich öffnende Spirale auseinandergezo gen wird?« »Irgendwelche Windverhältnisse«, erwi derte Thalia. »Jedenfalls bietet sich diese Er klärung an.« »Vielleicht ist es so.« Atlan wandte sich an die Gruppe Dellos, die ihn in Notfällen als Schiffsführer oder Befehlshaber vertraten. »Hör zu, Fälser«, sagte der Arkonide. »Wir steigen aus, Thalia und ich. Ihr bleibt inzwischen bis auf weiteres in der HO RIET.« Der Kommandant der Dello-Gruppe nick te und stimmte zu. Atlan trug das Goldene Vlies; er hatte den Kapuzenhelm noch nicht über den Kopf gezogen. Er überlegte, ob er eine der Strahlenlanzen mitnehmen sollte, schob diese Frage aber noch auf. Er blickte auf den Bildschirm und schüttelte den Kopf. »Sie haben tatsächlich Furcht vor uns. Schon wieder starten ein paar Raumschiffe.« Wurdihl, einer der stellvertretenden Kom mandanten, hob warnend die Hand und schaltete sich ein. »Du solltest nicht ohne Schutz hinausge hen, Atlan. Es kann sein, daß die Planetarier falsch reagieren und sich durch einen An griff auf euch der Verantwortung entziehen wollen. Eine solche Reaktion wäre verständ lich.« »Aber nicht wahrscheinlich«, entgegnete Atlan und fragte sich, in welchen Schwierig keiten Pthor inzwischen stecken mochte. »Ihr könnt uns ja mit den Geräten verfolgen und eingreifen, falls es nötig wird.« »Das ist eine vernünftige Lösung«, erklär te Branor. Atlan und Thalia blieben in der
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Schleuse stehen und atmeten die Luft des fremden Planeten ein. Sie roch merkwürdig; nicht nur nach dem Rauch, der wie eine graubraune Nebelschicht über allem hing und den freien Blick auf die jenseitigen Ber ge versperrte. Thalia versuchte, ihre Ein drücke zusammenzufassen. »Als ob ver branntes Gewürz in der Luft wäre. Oder das Aroma von einer bestimmten Teesorte, oder meinetwegen Harz. Nicht einmal übelrie chend. Aber … unabhängig davon: dieses Rennen, die Hektik, mit der sich die Planeta rier bewegen, dies kann nicht nur mit unse rer Anwesenheit zu tun haben.« So weit sie über den Raumhafen bis zu den Gebäuden, bis zum Rand der bewohnten Marktzone und zu den kleinen Waldzonen blicken konnten, verkrochen sich dort einige Wesen. Andere schienen gegeneinander zu kämpfen. Mit heulenden Triebwerken hob in
der Nähe ein Raumschiff ab, dessen Form sehr ungewöhnlich war. Atlan schüttelte ver blüfft den Kopf. Hinter Thalia und ihm stan den die drei Dellos und hielten die langen Strahlenwaffen in den Händen. »Wir bleiben hier und bilden eine Einsatz reserve«, meinte Gärgo mit ausdruckslosem Gesicht. »Geht in Ordnung«, sagte der Arkonide. Er nahm Thalias Hand und ging hinunter auf den hellen Boden des Raumhafens. Sie glaubten zu wissen, daß Xudon für die Be satzung der HORIET ein Planet der Überra schungen sein würde. »Im Namen des Dunklen Oheims«, mur melte Atlan sarkastisch. »Fangen wir mit der Strafaktion an. In unserem Sinn allerdings.«
E N D E