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Seit der Belagerung waren fast drei Zyklen verstrichen. Tief im Tal am Fuß des Felsens von Ixiter wurde das Dor...
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Seit der Belagerung waren fast drei Zyklen verstrichen. Tief im Tal am Fuß des Felsens von Ixiter wurde das Dorf Irion Opfer eines schleichenden Verfalls. Es ist die bitterkalte Jahreszeit des Koros, wenn die Nacht schon ungeduldig hinter dem Tag lauert, und nur der Rauch, der zäh aus den Schornsteinen quillt, oder der schwache Schein einer Kerze in einem Fenster bezeugen, daß diese oder jene bescheidene kleine Hütte mit ihren Wänden, von denen der Kalk abblättert, und ihrem zerfledderten Rieddach noch bewohnt ist. Die Grabsteine auf dem Friedhof neigten sich gefährlich zur Seite und waren gesprungen, und dem Tempel erging es ge nauso. Mit jedem neuen Schneefall sackte das große Dreieck des Giebels weiter ab. Es schien höhnisch den Moment hinauszuzögern, an dem es in den Hof hinabstürzte. Die Armut lastete wie ein finsterer Schatten über dem Dorf. Es gab Mißernten, hervorgerufen durch die unregelmäßigen Jahreszei ten. Magere Hühner kratzten auf dem harten Boden der Höfe; die Ziegen gaben ihre magere Milch nur spärlich, und bei den Ochsen, die lustlos über die Felder getrieben wurden, traten die Rippen deut lich hervor. Die Jahreszeit des Theron war nur kurz, aber verräterisch. In die ser Zeit rückte der Wildwald eifersüchtig näher, schob mit dicken Wurzeln und seinem Gewirr aus Zweigen die Steine von der Mauer des Friedhofs. Sporen bedeckten den Dorfanger. Sie wurden von Tausenden Unkrautgewächsen in die Luft geworfen, und von den Bäumen der kleinen Obstgärten fielen unreife Äpfel, Pfirsiche und Birnen und verrotteten im hohen Gras, das bald zu dürren Stengeln gefrieren würde. Die Gesichter der Dorfbewohner waren von tiefen Sorgenfalten zerfurcht. Das Leben verlief für sie nur noch in einer bitteren, lang weiligen Routine. Mit jedem Zyklus, der verging, verschwanden
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mehr von ihnen, machten sich auf, die schäbige Dorfstraße entlang, die in die Fahle Landstraße mündete, die sich nach Süden schlängelte, weg von ihren heruntergekommenen Feldern und Häusern. Dort gingen sie, Söhne, die traurig zurücksahen und doch ent schlossen waren, die sich von ihren klagenden Müttern verabschie deten; manchmal waren auch Väter darunter, stolz, aber gedemütigt, die ihre hageren Frauen und schmutzigen, barfüßigen Kinder trugen und ihre wenigen Habseligkeiten auf klapprige Wagen luden, die von einem Esel oder einer mageren, schwachen Mähre gezogen wurden. Diejenigen, die blieben, versanken in ihrer Niedergeschlagenheit und oft noch tiefer in den scharfen Getränken, die unaufhörlich in dem Haus ausgeschenkt wurden, über dessen Eingangstür das Schild mit dem schläfrigen Tiger prangte. Lange Zeit ertönte kein Hämmern in der Werkstatt des Wagenbauers oder des Kupferstechers, die Esse des Hufschmieds blieb kalt, und der Müller, der stromabwärts wohnte, ließ sein Schleusentor verschlossen. Aber die Veränderung stand bevor. »Kaplan?« »Herr?« »Ihr döst doch nicht etwa schon wieder?« Der Kaplan hatte keineswegs gedöst. Unauffällig hatte er eine Ecke des Vorhangs gelüftet. Man vermißte wirklich den Anblick der Welt da draußen. Heute schien die Sonne hell und strahlend. Er wußte, daß die Straße von dichten Wäldern gesäumt war, doch wenn er nach unten sah, erblickte er die hellen Streifen auf der Straße, an de nen sie vorüberzogen, wenngleich auch nicht sonderlich schnell. Wie lange würde es dauern, bis sie Irion erreichten? Einen Monat? Zwei? »Ihr seht hinaus, hab ich recht?« Der Kaplan stritt es gewandt ab, ja, er ging sogar so weit, unbesorgt aufzulachen. Andere wären niemals so kühn gewesen. »Ihr vergeßt, Herr«, sagte er liebenswürdig, »daß ich ein Geweihter bin. Es gibt Augenblicke, in denen ich meine Gedanken der Liebe und der unendlichen Gnade unseres Herrn Agonis widmen muß.« »Ich vergesse vor allem nicht, daß Ihr eine flinke Zunge habt, Ihr gerissener Heuchler.«
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Diese Bemerkung hatte gesessen. Der Kaplan war ein sehr ernst hafter Mann. Diese Haltung war ihm immer am nützlichsten er schienen. Manchmal kam es ihm vor, als besäßen die Augen hinter dem Schleier die Fähigkeit, sich wie Feuer durch den schweren, be stickten Stoff zu brennen. Das war natürlich absurd. Die Explosion in Zenzau hatte die Au gen des Kommandeurs zerstört. Deshalb betrachtete er den größten Teil des Tages das Innere seines Schleiers, wenn er überhaupt sehen konnte. Bedauerlicherweise bestand er auch darauf, die Vorhänge zugezogen zu lassen! Der alte Mann wurde immer exzentrischer. Die Explosion in Zenzau hatte seinen Körper erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Hatte sie vielleicht auch seinen Geist durchein andergebracht? Der Kaplan hielt das für sehr wahrscheinlich. Die kleine Uhr, die an der Kutschwand über dem Kopf des Kom mandeurs angebracht war, schlug die volle Fünfzehnte. »Zeit zum Gebet«, sagte der Kaplan liebenswürdig. Er griff nach den Händen des Kommandeurs und drückte sie, während er ein Thema suchte. Die sanft schaukelnde Bewegung der Kutsche gab ihm das Stichwort. Reisen. Der Herr Agonis. Die Suche nach der Lady Er murmelte einige Verse aus den Litaneien und fuhr dann fort: »Herr des Lichts, hör unser Gebet. Sieh auf uns von deinem Ort des Innewohnens und Mitleids, wir flehen dich an, betrachte deine demütigen Diener. Bitterlich sind wir von dem Pfad der Rechtschaffenheit abgekommen, elendiglicherweise sind wir gestrauchelt, ver ächtlicherweise sind wir gefallen ...« Die Kutsche rumpelte auf der löchrigen Straße, und die aufge dunsene Gestalt des Kommandeurs taumelte gefährlich. Der Kaplan jedoch ließ sich nicht unterbrechen: »... und haben uns dort, wo wir hinstürzten, gewälzt wie Vieh in einem Stall.« Ja, das war gut. »Allbarmherziger, aus der Sicherheit deiner Verborgenheit blicke nun auf uns mit vor Trauer feuchten Augen, auf daß wir darum kämpfen können, in uns die Göttlichkeit zu entdecken, die einst die Welt durchziehen wird.«
Der Teekocher aus Zenzau, der in einer Ecke der Kutsche stand, war die Quelle dieser letzten Inspiration. »Sieh uns an, o Herr, die wir der Hoffnung harren, dich zu finden. Gelobt seien der Herr und die Herrin!« »Gelobt seien der Herr und die Herrin!« Der Kaplan lehnte sich zurück und musterte den Kommandeur, aber nicht zu ausgiebig. Olivan Tharley Veeldrop war für seine Rücksichtslosigkeit berüchtigt, selbst bei vielen seiner Untergebenen, mit deren Hilfe er seine Karriere vorangetrieben hatte. Es war nicht schwierig, seinen Berufsweg mit einer Ansammlung bestialischer Grausamkeiten zu vergleichen. Die Rotrock-Propaganda hatte den Kommandeur als eine heißhungrige Bestie verteufelt, die vor lauter Gier nach Beute sabberte. Das war eine sehr amüsante Darstellung, aber man konnte diesen freundlichen, älteren Herrn in der gepolsterten Kutsche kaum mit diesem Schreckensbild in Übereinstimmung bringen. Ein gewaltiger, gezwirbelter Schnurrbart war wohl so ziemlich alles, was von seiner einstigen Größe übriggeblieben war. Der Kommandeur saß bewegungslos mit vorgezogenem Schleier da, als würde er von einer religiösen Empfindung gepackt. Während ihrer Reise ließ er jede Fünfzehnte durch ein kleines Gebet markie ren. Der Kaplan fand das ein wenig ermüdend. Nur für die Ge weihten war eine solche Pflicht erfreulich, und für einen Militär wirkte sie wohl kaum besonders passend. Aber der Kaplan wußte, wie der Mann auf diese Idee gekommen war. In Ehe und Krieg von »Miss R...« (zweiter Band, Die gefeierten Briefe der Kavallerie) wurde viel Gewese darum gemacht, daß es der berühmte Held nicht einmal auf dem Schlachtfeld unterließ, seine Gebete zu sprechen. Manche mochten vielleicht behaupten, daß ein solcher Krieger sehr schnell sein Leben verlieren würde, und andere meinten gar, daß es ihm recht geschehe, wo er doch so ein Waschlappen sei. Doch für »Miss R...« schienen die Handlungen des edlen Bevine höchst be wundernswert zu sein und ein weiteres Beispiel für das wahrhaftig vorbildliche Betragen, durch das er letztendlich die Hand der schönen Alrissa gewann. Oder Evelissa.
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Oder Meroline. Der Kaplan müßte es eigentlich genau wissen. In die Polsterung der Kutsche war ein kleines Regal eingelassen, zwischen dem Tee kocher mit seiner geschwungenen Tülle und dem mit Juwelen besetzten Spiegel. Auf dem Bord befand sich die komplette »Agondon-Ausgabe« der Werke von »Miss R...«. Der Kaplan hatte den größten Teil der Reise damit verbracht, sie dem Kommandeur laut vorzulesen. Wie sehr der alte Mann sie liebte! An der Decke der Kutsche schwankte eine vergoldete, ziselierte Lampe, die der Ka plan auf Geheiß des Kommandeurs anzünden durfte - wenn er lesen wollte. Bald war es wieder soweit. Heute fingen sie wieder mit Beccas Erster Ball an. Der Kommandeur hatte die Augen hinter dem Schleier geöffnet. In der Dunkelheit dachte er an ihr Ziel. Irion. Ja! Er würde den Kreis schließen. Als er erfahren hatte, daß man ihn zu den Tarn schickte, war der Kommandeur aufgebracht gewesen. Das war eine Kränkung. Eine Demütigung. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, dieses Kommando abzulehnen, doch dann hatte der alte Mann seine Meinung geändert. Die Tarn waren im merhin Schauplatz seines größten Triumphs gewesen, und außer dem gab es noch etwas, was er dort versteckt hatte. Ein gewisses, kleines Ding. Er mußte es dem Kaplan verraten. Vielleicht war es doch nicht ganz unmöglich, den Ruhm des Namens Veeldrop zu er neuern! Aber diese erfreulichen Gedanken wurden schnell von Verbitterung beiseite gefegt, als der Kommandeur daran dachte, was in Zenzau geschehen war. Er war so kurz davor gewesen, seinen Ruhm zu krönen und seinen letzten und größten Sieg zu erringen! Doch dann war alles um ihn herum zusammengebrochen! Immer und immer wieder hatte er das Schicksal verflucht. Nein, nicht das Schicksal. Sondern den Roten Rächer!
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»Papa?« Mit einem Schrei fuhr Cata hoch. Sie zwinkerte und rieb sich die Augen. Die Strahlen der Sonne schimmerten grüngolden durch das Blattwerk vor dem Eingang der Höhle. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dämmerung und nahmen die Umgebung des Höhleninneren wahr, die rohen Wände, den Bo den und die zerfurchte, niedrige Decke. Es war nur ein Traum gewesen. Sie setzte sich auf ihrer kleinen Liege auf und warf die Decken zurück. Auf der anderen Seite der Feuerstelle lag ihr Papa und schlief. Er atmete langsam und regelmäßig, und unter seiner schwarzbraunen Kleidung hob und senkte sich unregelmäßig seine Brust. Catas Herzschlag beruhigte sich ein wenig. In ihrem Traum war sie tief im Wildwald herumgewandert, wie sie es schon tausendmal getan hatte, mit nackten Beinen durch ein Meer von Farnkräutern. Aber etwas stimmte nicht: Ihre Instinkte schienen wie betäubt zu sein, und der Wald um die Höhle wirkte merkwürdig ruhig. Es wehte kein Lüftchen, kein einziges Blatt ra schelte, und weder zwitscherten Vögel, noch krabbelten irgendwel che winzigen Insekten durch das Gras. Sie hatte das Gefühl gehabt, daß all ihre Sinne zäher waren, gröber, und während sie tiefer in die Farne und Nesselgewächse vordrang, schien sie nicht einmal mehr das Kratzen und Kribbeln auf ihrer Haut spüren zu können. Es wurde kälter, und die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach drangen, wurden fahler und nahmen ab. Es fing an zu schneien. In dem Augenblick war Cata von Angst gepackt worden, von ei ner scharfen, panischen Angst, und ihr wurde klar, daß sie sich verirrt hatte. In dem Wald, dessen Wege wie Adern auf einem Blatt in ihrem Gedächtnis eingebrannt waren, fand sie plötzlich nicht mehr den Weg zu ihrer Höhle zurück. Papa! Papa! Aber er konnte sie nicht hören, und ihr kam es vor, als würde er
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sie nie wieder hören können. Dann verstärkte sich der Schneefall, und alles wurde von dem Weiß bedeckt, die Lichtstrahlen, die Farne und Nesseln und schließlich die Bäume selbst. Papa! Es war ein Traum, den sie schon einmal geträumt hatte. Cata rappelte sich auf und glättete ihr Nachthemd. Sie strich sich die Haare zurück und wischte sich, leise, die Nase mit dem Hand rücken. Vorsichtig beugte sie sich über ihren schlafenden Vater, während sich ihre Augen an das grünliche, dämmrige Licht ge wöhnten. Im Schlaf war ihm die Kapuze vom Kopf gerutscht und entblößte die schwarzen Höhlen, die einmal seine Augen gewesen waren. Sie waren dazu verdammt, für immer offen zu sein, und Cata wurde wie immer bei diesem Anblick traurig. Das Mädchen konnte sich nur vage all die furchtbaren Dinge vorstellen, die man ihrem Papa angetan hatte. Sie wußte jedoch, daß er verletzt worden war, grausam verletzt, und empfand denselben Schmerz um ihn wie für den blutüberströmten Vogel, der auf den weißen Blüten gelegen hatte, oder für das Kaninchen, das sie vor den grausamen Spielen der Dorfkin der gerettet hatte, wenn auch viel zu spät. Es war der schlimmste Schmerz, den sie empfinden konnte. Sie wollte ihren Papa umarmen, zärtlich, aber trotzdem fest; doch statt dessen küßte Cata ihn schnell und leicht auf die Stirn, zog ihm die Kapuze wieder über das Gesicht und drehte sich um. Dann hüpfte sie den Felsvorsprung hinunter zum Eingang der Höhle. Der alte Mann hatte sich nicht gerührt. Cata drängte sich durch die Blät ter, die den Eingang verbargen, warf noch einen Blick zurück und trat dann in den strahlenden Morgen hinaus. Das scheckige Grün des Wildwaldes umgab sie. Es reichte tief in die Lichtung hinein. Catas Laune besserte sich sofort. Sie reckte und streckte sich, genoß die Wärme und ignorierte den Qualm des Holz kohlenfeuers und das Eichhörnchen, das auf einem Baumstumpf neben der Höhle saß und an einer Eichel knabberte. Voller Freude hüpfte sie den vertrauten, gewundenen Weg zum Bach hinunter. Der Traum und seine merkwürdige Vorahnung waren vergessen.
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Cata glitt geduckt durch das Grün. Wo der Pfad zu einem dichtbewachsenen Hohlweg geworden war, fiel ihr das Laufen mittlerweile schwerer. Seit ihrer Geburt waren beinah drei Zyklen verstrichen, und obwohl das Mädchen so war wie immer, eine ungebärdige, zerlumpte Göre, waren ihre Glieder länger und fester geworden, und auch ihr stupsnasiges, rundes Ge sicht wurde allmählich länglich und knochig. Manchmal strich Papa ihr abends vor dem Einschlafen mit seinen knochigen Fingern über das Gesicht. O ja, Kind, seufzte er dann, du besitzt die Schönheit deiner Mutter. Das verwirrte Cata, denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie etwas von ihrer Mutter besitzen sollte, wo die doch so reglos in der Erde lag. Der Bach funkelte im Sonnenlicht und bahnte sich lebhaft gluckernd seinen Weg über Steine und Schilf, während er sich zwi schen den Kiefern dahinschlängelte. Leichtfüßig sprang Cata auf einen Hügel aus Felsbrocken, streckte die Arme hoch, streifte ihr Hemd ab und sprang in das wellige, flüssige Silber. Als sie nach dem Bad in dem weichen Schilf lag, spürte Cata die Zufriedenheit, die sie immer in den kurzen Jahreszeiten der Hitze empfand. Die Sonne liebkoste ihren Körper und ihre Gliedmaßen und trocknete die glitzernden Perlen, die über ihre braune Haut rannen. Sie wünschte sich so sehr, daß es immer so sein könnte! Cata streckte sich und rollte im Schilf herum. Später würde sie durch den Wald laufen, durch die Farne und die langen Gräser, mit den Eich hörnchen plaudern, die durch das Unterholz huschten, und mit den Vögeln, die von den Bäumen herabflatterten. Beiläufig, beinah spielerisch, würde sie Nüsse und Beeren sammeln und die verborgenen, dünnen Wurzeln, die sie am Abend in dem schwarzen Kessel kochte. Der harte Kern schmolz dann in körnige, süße Brocken. Papa nannte es Holzfleisch. Sie aßen es mit einer sauren, trockenen Frucht, die sie von den Kletterpflanzen pflückten, die über dem Höhleneingang wuchsen. Dann würde der Abend verstreichen, und Papa saß mit der Pfeife im Mund auf dem Stumpf neben der Höhle. Cata kauerte zu seinen Füßen und schmiegte sich an ihn. Papa, erzähl mir von Mama, sagte
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sie dann; oder: Papa, erzähl mir von damals, als du noch klein warst. Aber eigentlich wollte sie gar nicht die Geschichten hören, die sie schon hundertmal gehört hatte. Ihr ging es nur um die zärtliche Stimme des alten Mannes, die leise auf der kleinen Lichtung erklang. Ein warmes Lüftchen umwehte sie, geschwängert vom Duft der Früchte, die bald, allzubald, herabfallen würden, und vom Geruch Hunderter schnell verblühender Blumen. Der Bach gluckerte. Insekten mit durchscheinenden Flügeln schwirrten dicht über der Wasseroberfläche, und Fische zuckten unmittelbar darunter hin und her. Aber Cata sah sie nicht. Sie lag am Ufer und hatte zunächst nach oben gesehen, in das goldgrüne Strah len, das durch die Bäume schien; dann hatte sie die Augen geschlossen. Der Raum hinter ihren Augenlidern glühte purpurrot, wie ge heimnisvolle Kavernen, und in diesen Kavernen tanzten langsam merkwürdige Schatten zu einer Musik, die nicht vom Fluß kam, sondern von etwas Tieferem, Finsterem, das sich im Inneren der Welt verbarg. Cata seufzte. Sie fuhr mit der Hand über ihre Haut, die allmählich trocknete, strich mit den Fingerspitzen müßig ihre nackten Schenkel hinauf und hinunter, streichelte ihren Hals und verweilte, wie sie es schon vorher oft getan hatte, zunächst an ihren sanft knos penden Brüsten und dann an dem weichen Hügel zwischen ihren ausgebreiteten Schenkeln. Sie ließ die Finger vorsichtig darübergleiten. Etwas raschelte im Unterholz. Cata erschrak und sprang gerade noch rechtzeitig hoch, um die hellen Streifen zu sehen, die wieder im Grün verschwanden, das sie verbarg. Waldtiger! Sie hatte geglaubt, daß er weg sei, weit weg. Cata hielt sich nicht damit auf, erst wieder ihr Nachthemd anzulegen. Sie stürmte sofort hinter ihm her, etwas unbeholfen, und rief: »Waldti ger! Waldtiger!« Sie rannte weiter. Golden tanzte das Sonnenlicht über ihre nackte Haut, bildete Flecken wie die Kratzer, die sie nicht spürte, nicht spüren konnte. Um sie herum war nur das ungeheure Grün des Waldes. Aber Cata nahm es nicht wahr. Sie war sich dessen nicht be wußt.
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Sie stürmte einfach weiter. Dann blieb sie stehen. Wo war sie? Sie sog mit geweiteten Nasenflügeln die Luft ein, und Ohren und Augen waren plötzlich geschärft wie Dornen. Langsam drehte sie sich um. Ein Vorhang aus Kletterpflanzen hing unmittelbar vor ihr. Jetzt stieg ihr vergessener Traum aus dem Unbewußten auf, rührte an den Rand ihres Bewußtseins. Es hing eine merkwürdige Stim mung in der Luft, als wäre jemand greifbar nah. Warum war sie nur so närrisch herumgelaufen? Cata konnte doch wie eine Jägerin durch das Unterholz schleichen. Sie konnte mit Bäumen und Schwalben reden. »Waldtiger?« Das Mädchen wußte nur, daß sie ihn unbedingt finden wollte. Warum sie das wollte, konnte sie nicht erklären. »Waldtiger?« flüsterte Cata erneut und blickte, fast ohne etwas wahrzunehmen, in das Dickicht der Kletterpflanzen. Der Bach schien weit weg zu sein, und das Mädchen wurde jetzt ganz und gar von den tiefen, dunklen grünen Schatten des Wildwaldes eingehüllt. Nur winzige Strahlen Sonnenlicht glitten noch über ihre Haut, wenn sie sich bewegte. Und es duftete nach Blumen. Schlagartig wurde es ihr klar. Cata teilte den Vorhang der Weintrauben und betrat den geheimen Platz. Als sie noch klein war, hatte ihr dieser Ort Angst eingejagt. Und seit sie die Schneeschwalbe begraben hatten, war sie nicht mehr hierhergekommen. Das war vor vielen Jahreszeiten gewesen. Das Mädchen fiel mitten in den Blüten auf die Knie. Sie schloß die Augen und öffnete sie dann wieder. Es machte keinen Unterschied. In der warmen Jahreszeit war es im Kreis des Wissens dämmrig. In dem duftenden Schatten konnte sie kaum etwas sehen. Sie atmete tief ein. Undeutlich, wie ein weit entfernter Ruf, schoß ihr das Bild des Geistervogels durch den Kopf, wie er sich in den Himmel erhob, von da, wo sie jetzt kniete. Cata wußte, daß der kleine Leichnam noch da war, unter ihr, von Würmern zerfressen und fast ganz in der körnigen, fruchtbaren Erde zerfallen. Cata war traurig, aber es war eine wohlige, angenehme Trauer.
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Heute hielten sich keine Vögel im Kreis auf. Waren denn eigentlich Vögel am Bach gewesen? Als Cata jünger gewesen war, kamen die Vögel herunter und zwitscherten neben ihr, zutraulich wie die Wasserratten und die Eichhörnchen von den Bäumen, und auch ihr alter Freund, der Otter, gesellte sich zu ihr: scheue, stolze Wachposten. Ein schlanker Lachs stupste gegen ihre Hand, und wenn sie mit der anderen ein Rotkehlchen liebkoste oder einen Wurm, der sich zusammenrollte, fühlte sich das wilde Mädchen in dieser ruhigen, aber entzückenden Gemeinschaft sicher aufgehoben. Heute jedoch war es anders gewesen. Es geschah seit einiger Zeit immer seltener, und Cata wurde tieftraurig, als sie begriff, daß ihre alten Freunde allmählich entweder starben oder fortgingen. Sie konnten die Jahreszeiten nicht mehr ertragen. Irgend etwas stimmte nicht mehr. Selbst wenn Cata auf ihr erst kurzes Leben zurückblickte, wußte sie, daß die Kälte vom Koros-Gebirge nicht immer so lange über dem Land gelastet hatte, wie sie es jetzt tat. Mit jedem Jahreszeitenzyklus dauerte der Winter länger, viel zu lange, Mond leben um Mondleben. Cata hockte sich mitten auf die Lichtung, verborgen von den Kletterpflanzen, die sie ringsum einhüllten. »Irgendwas ist passiert!« sagte sie laut. Das Mädchen nahm ein paar Blüten vom Boden, hielt sie hoch und ließ sie durch ihre Hand rieseln. In dem dämmrigen Licht sah sie an ihren geteilten Schenkeln hinunter. Einen Augenblick lang schien sie über sich zu schweben und flog hoch hinauf in die stechenden Zweige. Aber sie spürte jemanden, ganz in der Nähe. »Geistervogel?« Das Mädchen schwankte und wiegte sich auf den Fersen. Ihre neuen Körperschwellungen waren wieder empfindlich, und das Ge fühl pulsierte sanft, aber unaufhaltsam auf die Stelle zwischen ihren Schenkeln zu. In diesem Augenblick fühlte sie in sich diese plötzliche, flüssige Bewegung. Sie stöhnte, obwohl sie keine Schmerzen empfand, und ließ sich hintenüberfallen. Ihre Hände schlossen sich wie schützend über dem feuchten Zentrum der Krämpfe; kurz darauf füllte eine
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zähe, heiße Flüssigkeit ihre Hände, rann durch ihre Finger auf die verstreuten Blüten unter ihr. Sie wußte, was passierte. Zuerst empfand sie Scham, doch dann machte sie das Wissen stolz. Sie blickte hoch. Jemand sah auf sie herab. Eine weiße, ätherische Gestalt. Es war die Vision einer Frau. Einer wunderschönen Frau. Mama! wollte Cata rufen, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Sie blutete immer noch. Dann war es vorbei, und das Mädchen ließ sich staunend auf die Seite sinken, in die Wärme und Feuchtigkeit, die sie selbst erzeugt hatte. Später, als sie aufstand und die Lichtung verließ, war ihr Kör per blutverkrustet und mit steifen Blüten bedeckt. Die Geist-Mama war verschwunden. Aber als sie noch dagelegen hatte und mit verträumten Augen umhersah, bemerkte Cata in einem verstohlenen Sonnenstrahl, wie sich der Vorhang der Kletterpflanzen teilte, nur ein winziges bißchen, und die geschlitzten Augen des Waldtigers sie beobachteten, unergründlich und eindringlich. Zuerst waren sie schwarz, doch dann funkelten sie golden.
»Nein, Nirry! Nicht!« »Tut mir leid, Meister Jem.« Jem träumte. Der Tag, an dem Barnabas ihn verlassen hatte, war der schlimm ste und ödeste in dem noch so kurzen Leben des Jungen. Im Traum mußte er es immer und immer wieder durchleben. Und immer wieder ging er mühsam in die Küche, wo die Magd mit nachlässig auf gerollten Ärmeln mit einem scharfen Messer rosafarbene Innereien zerhackte. Es waren die Eingeweide eines Schweins, das am Vortag geschlachtet worden war. Nirry hatte es festgehalten, während ihr
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Vater es abgestochen hatte. Und jetzt warf sie die zerhackten Stücke in einen blubbernden Kochtopf. »Aber wie konnte er einfach weggehen?« Jem blieb hartnäckig. Er konnte sich nicht selbst stützen und lehnte beinahe ausgestreckt an der zerkratzten, fettigen Bank, einen Haufen Rettiche, Rüben und zerquetschte, haarige Pastinaken direkt vor der Nase. Es roch durch dringend nach Zwiebeln. »Er kann doch laufen.« »Aber nicht weit!« »Er ist jedenfalls weggegangen.« Nirrys Stimme klang tonlos. »Über die Straße nach Agondon, vermute ich mal. Wo die Kutschen fahren. Er hatte doch einen kleinen Beutel mit Münzen. Ach, ich weiß es nicht. Ein Zwerg kann verschwinden. Leicht. Ganz leicht.« An diesem Punkt seines Traums weinte Jem manchmal. Manchmal schrie er auch. In der Realität hatte er Nirry nur mit großen Augen angesehen. Ihr schien es nichts auszumachen, und sie kümmerte sich auch nicht um ihn. Seine Krücken waren neben ihn auf den Boden gerutscht, und gleich würde er es sagen müssen, auch wenn er es nicht wollte. »Nirry, hilf mir.« Jem war schwach. Es war der erste Tag, an dem er seine Krücken benutzt hatte, seit dem Tag im Turm. Seitdem hatte der Mond einmal seine fünf Phasen durchlaufen. Er wandte den Blick von Nirrys verkniffenem Gesicht ab. Die Küche lag unter dem Niveau des Schloßhofes und wurde von dem Licht erleuchtet, das durch die Fenster hoch oben in der Wand schien. Es war dämmrig. Und die Pflastersteine im Hof glänzten vom Regen. An dem Morgen war Jem früh aufgewacht. Fast schien es, als wisse er, daß etwas geschehen war. Daß etwas nicht stimmte. Dann fiel ihm die ungewohnte Stille auf, die die kleine Kammer wie etwas Greifbares erfüllte. Das rasselnde Atemgeräusch des kleinen Mannes mit den gebrochenen Rippen fehlte. Jem blickte nach unten und stellte fest, daß die kleine Matratze neben seinem Bett ebenfalls fort war. »Barnabas?« Einen Augenblick später bemerkte Jem auch die anderen Verän
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derungen. Die Sachen im Alkoven waren geordnet, lehnten ordentlich an den Wänden. Der leere Boden war sauber gefegt, sein Stuhl stand nicht mehr am Bett, und an der Wand neben ihm lehnten seine Krücken, geschnitzt und poliert, dick und verziert, die er gemieden hatte, ja, die er nicht einmal hatte berühren wollen, seit der ver rückte Arzt sie geschwungen hatte. Er griff danach. »Barnabas?« Doch da hatte er es schon gewußt. Nach den Schlägen war nichts mehr so gewesen wie früher. Der Zwerg, der immer fröhlich herumgestreift war, der sich kraftvoll die Treppenstufen hinaufgezogen hatte, war jetzt schwach und lang sam. Seine Rippen waren gebrochen, und seine Glieder waren blau und schwarz vor Prellungen. Eine Weile konnte er nicht einmal den kleinsten Schritt tun, ohne vor Schmerzen zusammenzubrechen. Er gewann nur langsam seine Kraft zurück, und es war nicht mehr seine alte Kraft. Sie hatten die zerschmetterten Stücke der Drehorgel behalten, das zersplitterte Holz, die Tasten aus gelblichem Elfenbein und die rät selhaften Klangsaiten aus dem Bauch des Instruments. Doch als der Zwerg zum ersten Mal aus der Bewußtlosigkeit erwacht und aus dem Abgrund des Schocks aufgetaucht war, hatte sein runzliges Gesicht nur traurig die Überreste betrachtet. »Kann man sie reparieren?« hatte Jem überflüssigerweise gefragt. Ein paar Nächte später hatten sie im Alkoven eine kleine Zere monie abgehalten. Das Feuer flackerte hoch und hell, und Barnabas plazierte die einzelnen Stücke fein säuberlich auf dem Kaminsims und schob sie dann eins nach dem anderen in die Flammen, während Jem und Nirry mit ernsten Mienen zusahen. Einmal brachte die Magd dem Zwerg eine alte Laute, aber ihr fehlten drei Saiten. Außerdem konnte er seine kleinen Finger nicht weit genug spreizen, um sie zu spielen. Ohne seine Drehorgel war er verloren. Später, nachdem Barnabas ihn verlassen hatte, saß Jem allein im Alkoven und kauerte regungslos in seinem Rollstuhl. Dann dachte
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er über die Fremdartigkeit des Zwerges nach, und ihm wurde klar, wie wenig er eigentlich von ihm wußte. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, daß er überhaupt so jemanden zum Freund hatte gewinnen können. Barnabas schien schon jetzt zu einem halbverges senen Land seiner Kindheit zu gehören. Es war Jems erste Lektion über die Vergänglichkeit aller Dinge. Nur Gegenstände waren ihm geblieben. Sie glänzten blaß im Son nenlicht, schimmerten hell im Schein der Lampe und umringten ihn, türmten sich um ihn herum auf. Die angelaufenen Kerzenständer, die verbeulten Trinkbecher, das Schild mit dem Wappen der Rot röcke. Bücher gab es und prächtige Kleidungsstücke und ausge stopfte Tiere wie zum Beispiel das Ferkel und ein kleines Pferd aus Holz. Zerfetzte Standarten lagen neben juwelengeschmückten Scheiden, und auf der Tafel hatte der Zwerg Jem das ABC gelehrt. Das Kaleidoskop lag noch unter dem Fenster, und die silberne, zise lierte Jarvel-Dose stand ebenfalls da. Wie auch das Bild der fahlen, gewundenen Landstraße. Manch mal betrachtete es Jem und versuchte sich vorzustellen, wie Barna bas diese Straße entlangging, sein kleines Bündel geschultert und seine Geldbörse sicher im Hosenbund verstaut. Wohin kann Barnabas gegangen sein? fragte sich Jem. Wohin hatte er sich an diesem regnerischen Morgen davongestohlen? Er versuchte sich vorzustel len, wie der Zwerg traurig - oder vielleicht auch fröhlich - in ein neues Leben ging. Er konnte das nicht. Für Jem war es so, als wäre Barnabas aus der Welt verschwunden. »Mist!« Das Messer rutschte ab und schnitt in Nirrys Daumen. Sie grub wütend die Fingernägel in die Eingeweide und riß an den gelblichen, feuchten Fettfasern. »Oh, Mist!« Sie drehte sich um, schnüffelte und wischte sich mit dem Hand rücken die Nase. »Nirry?« Jem versuchte aufzustehen und stieß sich von der Bank ab.
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Sie drehte sich um. »Er hatte seine Magie verloren«, erwiderte sie nur. »Er wäre ge storben, wenn er geblieben wäre.« Jems Gesicht war aschfahl. »Aber konnte er nicht auf Wiedersehen sagen?« »Hat er das denn nicht getan?« Nirry trat neben ihn, und es schien, als wollte sie ihn umarmen, vielleicht hätte sie sogar ein bißchen geschluchzt. Doch statt dessen lachte sie verzweifelt und hielt ihre blutverschmierten Hände hoch. Sie wischte sie an der Schürze ab, bückte sich schnell und hob Jems Krücken auf. »Ich wollte sie nie wieder anfassen«, erklärte Jem. »Ich weiß.« Die Küchengewölbe waren wie eine Gruft, und es war dort frühmorgens ziemlich kalt. Sie erstreckten sich durch höhlenartige Gänge in Regionen, in denen früher einmal geschäftiges Treiben geherrscht hatte. Die Luft war immer von Rauch und Dampf erfüllt gewesen, geschwängert mit Hunderten von Düften. Wildbret hatte an schweren Haken gehangen, und ständig hatten sich die Spieße ge dreht. Das Blut war in kleinen Bächen über den Boden gelaufen. »Nirry?« Jem drehte sich auf der ersten Treppenstufe um. »Was meinst du damit, daß er seine Magie verloren hat?« »Eure Krücken, junger Herr Jem. Betrachtet nur Eure Krücken. Ihr seid größer geworden. Aber Eure Krücken auch. Zwerge besit zen Zauberkräfte. Wußtet Ihr das nicht?« Jem betrachtete nachdenklich und traurig seine Krücken. Dann blickte er hoch. In dem Augenblick war ihm, als höre er, wie ein weit entferntes Echo, das er nicht lokalisieren konnte, die Drehorgel. Dann ertönte das Geräusch erneut, wand sich wie Rauch - oder wie eine Straße - durch seine Träume. In der Nacht, in der sie das verbrannt hatten, was von dem glänzenden Instrument übriggeblieben war, hatte das wundervolle Holz im Feuer merkwürdig gezischt und geknackt. Dann war ein besonders lautes Knacken zu hören ge wesen, und die Flammen hatten einen kurzen, aber sehr intensiven bittersüßen Duft verströmt.
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»Koros aus dem Fels, erhöre dein Kind! Es weiß, daß das Ende des Sühneopfers endlich kommen wird. Und es ist bereit, seinen Teil zu erfüllen. Koros aus dem Fels, erhöre dein Kind!« Silas Wolveron war von seinen beunruhigenden Träumen geweckt worden und hatte sich langsam und mühevoll zum Friedhof ge schleppt. Er fühlte, daß er schwächer wurde. Er mußte das Gelübde erneuern. Wieder hatte er Yanes Grabstein instand gesetzt. Und erneut hatte er nach dem Mechanismus getastet und ihn von Moos und Unkraut gesäubert. Die Grabplatte öffnete sich, lautlos und rasch. Der alte Mann stand hoch aufgerichtet auf seinen Stab gestützt da und sagte das Gebet auf, das ihn seine Halbschwester Xal gelehrt hatte. »Koros aus dem Fels, erhöre dein Kind. Es weiß, daß der Böse wiederkommen wird, jetzt, in dieser Zeit. Und es ist bereit, seine Rolle zu spielen. Koros aus dem Fels, erhöre dein Kind!« Manchmal dachte der alte Mann über die Ironie des Schicksals nach, die dazu geführt hatte, daß Umbecca Rench für diesen Grabstein gezahlt hatte. Wäre Yane nicht ihre Cousine gewesen, hätte sie keinen Gedenkstein bekommen - oder jedenfalls keinen, den die Agonisten verstehen konnten. Yane war eine Kreatur des Wildwaldes geworden. Ihr wahrer Gedenkstein war von anderer Art. Aber der Stein hatte sich trotzdem als nützlich erwiesen. Er hatte sich dem Schicksal von Koros dienlich gezeigt. Umbecca hatte keine Ahnung gehabt, daß der Handwerker, der ihn hergestellt hatte, ein Vaga war - Xals Sohn. Die Verzückung wirkte stark in dem Jungen und hatte ihn angeleitet zu tun, was zu tun war. »Koros aus dem Fels, erhöre dein Kind. Es weiß, daß der Schlüs sel zum Orokon endlich gefunden werden wird, in dieser Zeit. Und daß alles, was in den Brennenden Versen vorhergesagt ist, schließlich auch eintreten wird, in dieser Zeit. Koros aus dem Fels, erhöre dein Kind!« Wie der alte Mann dastand, mit gesenktem Kopf, wirkte es fast so,
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als könne er sehen und blicke in das offene Grab. Aber selbst seine Nachtsicht verließ ihn allmählich. Manchmal, und zwar immer öfter, spürte er die Macht schwinden, spürte, wie er selbst hinabsank, langsam zwar, doch unaufhaltsam, in den Abgrund seiner endgülti gen Finsternis. Er wußte, daß das Mädchen es ebenfalls spürte. Aber er glaubte nicht, daß sie es verstand. Nicht jetzt. Noch nicht. Es tat ihm im Herzen weh, wenn er an das Leid dachte, das sie dann empfinden würde. Als er sich von dem Grab wegdrehte, stolperte der alte Mann und wäre beinahe gefallen. Er schluchzte einmal heiser auf. Sehr oft würde er nicht mehr hierherkommen können. Er hatte Xal verspro chen, das Ritual einzuhalten, aber bald würde er dieses Versprechen brechen müssen. Das Gelübde konnte ihm nicht länger helfen. Er mußte seine schwindenden Kräfte aufsparen und auf seine Bestim mung warten. Bald würde die Zeit kommen, in der er seine Rolle er füllen mußte. Der alte Mann atmete tief ein und richtete sich auf. Er durfte nicht schwach werden. Und er durfte nicht versagen. Aber während seine Bestimmung sich näherte, dachte Silas Wol veron immer häufiger an die Vergangenheit. Er erzählte dem Mädchen wundersame Geschichten, doch in der Dunkelheit seines Verstandes dachte er an andere, schreckliche Dinge.
Der Fall des Silas Wolveron 1 Silas Wolveron erinnerte sich oft an das Gesicht seines Vaters. Am Ende seines Lebens war es verrunzelt gewesen, so wie jetzt das ver narbte Gesicht seines Sohnes. Eliak Wolveron war ein hoffnungsloser Säufer gewesen. Er war Wildhüter des Erzherzogs und Kind frommer und aufrechter El tern. Aber irgendein Drang zur Destruktion hauste in seinem Inne
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ren und ließ ihn von ihren geraden agonistischen Pfaden abweichen. Sein Bruder war das krasse Gegenteil. Onkel Olion wurde Schriftgelehrter des Tempels. Und er sah auf den Wildhüter mit scharfer Verachtung herab. Eliaks Junge wuchs in zwei Welten auf. Zuerst gab es die Welt des Wildwaldes, tief und leise, wo das Blätterrauschen wie ein Mantra in der Luft lag und der Junge barfuß durch das Königreich des Grün lief. So wie jetzt seine Tochter kannte Silas alle Wege im Wald und alle Kreaturen. Und auch wenn er Häßlichkeit und Schmerz erfah ren hatte, so erfüllte der Wildwald ihn doch mit dem Gespür für eine jenseitige Welt, die wunderbarer und geheimnisvoller war, als sein Vater jemals wissen würde. Es war eine Art Sieg. Dann gab es noch die Welt seines Onkels. Lange Zeit hatte Onkel Olion versucht, Silas seinem Vater wegzunehmen, aber Eliak hing mit einer ärgerlichen, blinden Hartnäckigkeit an seinem Sohn. »Ich werde lieber sterben, bevor ich ihn dir überlasse!« hatte der Säufer einmal geschrien und war während der Messe in den Tempel gestürmt. Sein Bruder war bebend vor Zorn von der Kanzel gestiegen und hatte mit einer Stimme wie Donnerhall den anmaßenden Got teslästerer hinausgeworfen. Aber Eliak hatte ihm nur ins Gesicht gespien. »Ich würde eher sterben, hast du das verstanden?« Und er hielt Wort. Eliak Wolveron war schließlich zu weit gegangen. Der Erzherzog hatte keine Wahl, als ihn von seinem Posten zu entbinden. Es war in der Jahreszeit des Koros passiert. Die Tage waren genauso bitterkalt wie Eliaks Herz, und in einer Nacht war der Säufer besinnungslos betrunken auf dem Dorfanger herumgetaumelt, im Schnee zusam mengebrochen und ohnmächtig geworden. Er war noch vor dem Morgengrauen tot gewesen. Von da an stand Silas unter der Vormundschaft seines Onkels, und es wurde für Onkel Olion zur frommen Pflicht, dem Jungen alle Erinnerungen an die Vergangenheit auszutreiben. Als sie seinen Vater im Schnee gefunden hatten, war Silas ein verwirrter Waise von zwei Zyklen gewesen, schmutzig und kaum in der Lage, mit menschlicher Zunge zu sprechen. Doch als er zum Jüngling heran-
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gewachsen war und fast das Mannesalter erreicht hatte, war er gera dezu ein Modell für einen Aspiranten der Gnade Agonis'. Er strahlte sowohl durch seine Sauberkeit als auch durch seine moralische Reinheit. Er paradierte wie ein Ausstellungsstück vor den Besuchern sei nes Onkels und gab fehlerfreie Antworten auf die Fragen nach dem Kettengebet. An jedem Feiertag leitete seine piepsende Stimme die Gesänge ein, und er las feierlich die Gebete aus den Kommentaren. Am Schluß hielt er den Klingelbeutel, um die Münzen einzusammeln. Der kinderlose Onkel Olion betrachtete ihn als seinen Sohn, und wenn er in einem Anfall von Frömmigkeit den Jungen ansah, gratulierte er sich zu dem Erfolg seines Feldzuges. Sein Sieg über den schlechten Eliak war vollständig. Der Junge seinerseits war von leidenschaftlichem Ernst erfüllt. Die Liebe zu Agonis erfüllte sein Herz. Die Dorfbewohner bewun derten bald seine Frömmigkeit. Die Männer verneigten sich re spektvoll vor ihm, und die Frauen knicksten bei den seltenen Gele genheiten, bei denen er sich unter das Weibsvolk mischte. Das Wis sen, daß er seines Onkels Platz als Geweihter einnehmen würde, wenn die Zeit gekommen war, erfüllte ihn mit tiefer Freude und mit Zuversicht in die Zukunft. Doch diese Freude verwandelte sich in Trauer, als die Gattin des Erzherzogs, eine Frau von tiefem Glauben, verkündete, solch ein Junge solle sein Licht nicht in der Provinz unter den Scheffel stellen. Er sollte nach Agondon geschickt werden. Meister Silas konnte einer der großen Männer des Glaubens werden, vielleicht sogar einer der Auserwählten, und möglicherweise ir gendwann in den Inneren Kreis der Macht vorrücken! Und aus der Ferne würde der Ruhm, der auf sein bescheidenes Heim zurück strahlte, um so größer sein. Es war seine Bestimmung. Eine Gruppe Ältester wurde in das Dorf gerufen. Nur die Reinsten wurden für das Tempelkolleg ausgewählt, und als der Junge erfuhr, daß die Wahl auf ihn gefallen war, sank er auf die Knie und sprach schluchzend ein ekstatisches Gebet. Am Ende seines vierten Zyklus schickte man ihn in die Stadt. Als er an diesem letzten Tag den Karren bestieg, hätte es ihm fast das Herz zerrissen, als er zur Sakristei zurückblickte, deren hohe Fenster in der aufgehenden Sonne golden glänzten. Sein Onkel um-
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armte ihn fest. Der Junge klammerte sich an ihn. Seine Liebe zum Herrn Agonis und zu seinem Onkel waren in seinem Herzen mit einander verflochten wie die Ranken des Efeus. Seine erste Zeit in der Sakristei hatte er längst vergessen: die eiskalten Bäder, die Schläge, die langen Tage eingesperrt im Keller. Die Schreie, bis er zu heiser war, um zu schreien. Es war alles nur zu seinem Besten gewe sen. Onkel Olion liebte ihn. Silas sollte seinen Onkel niemals wiedersehen. Lange Zeit schickte er Briefe in das Tempelkolleg, aus denen Zuneigung und frömmelnde Ermahnungen sprachen. Silas stürzte sich in seiner Zelle förmlich auf sie, und in dem Maße, in dem sein Wissen wuchs, lächelte er immer öfter über die Naivität, die in dem Glauben seines Onkels durchschimmerte. Dann jedoch wurden die Briefe seltener.
Etwa zu dieser Zeit wurde der junge Mann von beunruhigenden Träumen heimgesucht. In diesen Träumen schienen seine neue Exi stenz, die so lebhaft vor ihm lag, die Reichtümer und der Weihrauch innerhalb der Schulmauern und das geschäftige Treiben in der Stadt wie eine Illusion ausgelöscht zu sein. Fast als wären die letzten Jah reszeiten seines Lebens gar nicht wirklich verstrichen. Er war in das Dorf zurückgekehrt, und schließlich streifte er als Kind durch den Wildwald, unberufen vom Herrn Agonis und kaum der menschli chen Sprache fähig, als hätten die Klauen der Vergangenheit ihn immer weiter zu sich hinabgezogen. Es war schon lange her, seit Silas so etwas geträumt hatte. Sie hat ten seit seinen ersten Tagen im Haus seines Onkels Olion aufgehört. Die Anfänge dieses neuen Lebens waren mit verrückten Begierden erfüllt. Wie er sich danach gesehnt hatte, die Schuhe abzustreifen, die seine Füße einengten, und den Kragen loszuwerden, der seinen Hals wie eine Zwinge einschnürte. Später, nach vielen Schlägen und Gebeten, waren diese starken Bedürfnisse vergangen. Nur manchmal, kurz vor dem Einschlafen, schälten sich die Lektionen und die
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heiligen Gesänge und das Kettengebet des Tages von dem ermüdeten Verstand des Jungen wie eine Haut, und darunter tauchten die Erinnerungen an den Wildwald auf. Er versank in ihnen wie in wei chem Gras, und am nächsten Tag hämmerte eine dumpfe Scham hin ter seinen Schläfen. Er versank in glühende Gebete. Im Lauf der Zeit glaubte er, alle Reste seines unberufenen Selbst zerschmettert zu haben. Doch selbst dann glitzerten diese Reste noch intensiv wie Glasscherben. Wenn jedoch die Vögel in der Jah reszeit der Javander aufstiegen, bereit, beim ersten Anzeichen von Schnee zu verschwinden, oder wenn die grünen Triebe der Jahreszeit der Viana sich endlich durch den gefrorenen Boden kämpften, schli chen sich unweigerlich die Erinnerungen an die Zeit vor seiner Be rufung in das Gedächtnis des Jungen. Dann erfüllte ihn ein schmerzliches Sehnen, als wäre ihm ein Geheimnis in einer Sprache anvertraut worden, die er nicht mehr verstehen konnte. Jetzt wühlte ein noch stärkerer Schmerz in Silas. Ein übermütiger Kobold steckte tief in seinem Kopf und schien entschlossen zu sein, ihn um seine Ruhe zu bringen. Jede Nacht, die er in seiner engen Zelle lag, wurden die Bilder vom Wildwald eindringlicher. Inzwischen waren die Briefe seines Onkels zunächst kürzer geworden, dann seltener, bis sie schließlich vollkommen ausblieben. Und dem jungen Mann kam es in seiner umnebelten Panik vor, als hingen diese Vorfälle zusammen. Zwei Zyklen lang hatte er sich im Haus seines Onkels wie mit unsichtbaren Ketten an Olion gebunden gefühlt. Jetzt kam ihm der Gedanke, daß diese Ketten niemals gebrochen waren. Es gab nichts zu sagen. Trotz all der Sprachen, die sie trennten, und all der Zeit, die verstrichen war, hätte Silas immer noch der zitternde Junge sein können, der vor seinem Onkel stand, während der die Gerte zwischen den Händen bog. Ich kann in dein Herz se hen, Silas, flüsterte der alte Mann. Und ich kann sehen, daß dein Herz unrein ist. Komm, Silas, ich muß dich reinigen. Zuerst hatte der Junge geschrien, getreten und geweint. Später beugte er sich re spektvoll vor, um die Schläge zu empfangen. Es war richtig. Es war gut. Aber jetzt, so kam es Silas vor, hatte sein Onkel ihn verlassen. Verzweifelt versuchte er sich vorzustellen, wie er vor dem alten Mann stand und sein Onkel sich voller Widerwillen von ihm ab-
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wendete, während die Gerte in einer vergeblichen Geste auf ihn her untersauste, wie eine verrottete Wand, die, wenn auch jede Jahres zeit neu vergipst, schließlich doch dem Verfall nachgegeben hatte. Silas schämte sich. Doch nach außen hin führte er seine Studien gemäß dem Zeitplan weiter. Für seine geistigen Führer war er perfekt, genau so, wie er sein sollte. Was vielleicht daran lag, daß sie wenig auf ihn achteten. Auf seine Kommilitonen wirkte er, wenn sie überhaupt über ihn nachdachten, wie ein merkwürdiger, eigenbrötlerischer Kerl. Er sprach nur selten mit ihnen. Sie hielten ihn für ei nen Provinzler, für einen einfachen Bauerntölpel. Niemand bemerkte den Aufruhr, der in ihm tobte.
Einmal in jeder Mondphase, am Tag nach dem Kanonischen Tag, wurde es den Studenten erlaubt, die Stadt zu besuchen. Der Tag der Freiheit wurde »Der Mauerfall« genannt. Für die wohlhabenden Junker des Kollegs, von denen es viele zu geben schien, markierte »Der Mauerfall« die Rückkehr zu den Vergnügungen ihrer früheren Leben. Kurz vor Ende der Ausgangszeit würden sie unsicheren Schrittes wieder in das Kolleg stolpern, und ihr Gelächter, begleitet von Stammeln und Beschwichtigungen, würde in den Klostermau ern widerhallen, ebenso wie ihre lauten Gesänge und Scherze. Silas schreckte dann aus dem Schlaf hoch und hielt sich die Ohren zu. Er brannte vor Scham. Nach dem ersten Abend des »Mauerfalls«, den er miterlebte, war er der festen Überzeugung, daß diese Ausschreitungen bestraft werden mußten. Und als die Übeltäter am nächsten Morgen bleich und übernächtigt zum Gottesdienst schlurften, erfüllte ein gerechter Zorn den jungen Mann aus der Provinz. Die Vergeltung würde ge wiß auf dem Fuße folgen! Doch als der Maximus die Kanzel betrat, erwähnte er es mit keinem Wort. Der Gottesdienst ging weiter, als wäre alles in schönster Ordnung! Silas war schockiert und verwirrt. Später, beim Frühstück, brachte er keinen Bissen herunter. Als einer der Trunkenbolde ihn schließlich leise und besorgt fragte, ob ihm et
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was fehle, starrte er ihn nur böse an. Der arme Silas! Wie wenig wußte er doch! Später sollte er die Wohlhabenden und ihre Ver derbtheit kennenlernen. Eine korrupte Welt sorgte dafür, daß sie ge diehen, selbst in der Hochburg des Herrn Agonis. Silas' Verzweiflung wandelte sich in Eifer, und er träumte eine Weile davon, ein großer Reformer zu werden, der die Hauptstadt von Ejland von der Schandhaftigkeit befreite. Aber jetzt war auch dieser Traum ausgeträumt. In meinem Inneren, dachte Silas, bin ich nur eine hoble, schallende Trommel. Ich bin nicht einmal in der Lage, meine eigene Widerwärtigkeit zu lindern. Mitten in seiner Verzweiflung teilte man ihm eines Tages mit, daß er Besuch habe. Seine Stimmung hob sich augenblicklich. Onkel Olion war gekommen! Er eilte erleichtert und aufgeregt ins Portal zimmer, doch dort verwandelte sich seine Erleichterung in Enttäuschung. Es mußte sich um ein Mißverständnis handeln! Es war ein trüber Tag in der Jahreszeit des Koros, und im Portalzimmer war es dämmrig, aber als Silas durch das Gitterfenster blickte, sah er so fort, daß sein Besuch eine Frau war. Aufrecht und schlank stand sie da und drehte sich bei seinem Eintreten herum. Ihr Gesicht war von einem Schleier verborgen. »Es tut mir leid, ich ...« »Silas! Erkennst du mich denn nicht?« Der Schleier wehte, als die Frau lachte, ein sorgloses, heiteres Lachen, wie das Klingen von Glöckchen. Mit einer eleganten Handbewegung nahm sie den Schleier ab. In Silas rang Scham mit Erstaunen. Es war Lady Lo lenda, die Gattin des Erzherzogs - aber wie merkwürdig hatte sie sich verändert! Nichts mehr war von der schwarzgekleideten Gestalt zu sehen, die er gekannt hatte, die in angemessener Frömmig keit in dem einfachen Dorftempel gesessen hatte. An ihrer Statt stand ihm jetzt eine schillernde, juwelengeschmückte Kreatur mit buntgemusterten Seidengewändern gegenüber, und ihr gepudertes Haar war unter dem eleganten Hut hoch aufgetürmt. »Ich sehe dich überrascht, Silas. Aber Agondon ist schließlich nicht Irion. Und Irion ...«, sie lächelte ironisch, »... nicht Agondon. Du weißt doch, was ich meine?« Anscheinend hatten die politischen Pflichten den Erzherzog an
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den Hof gerufen, und natürlich mußte seine Gattin ihn in die Hauptstadt begleiten. Silas war über die offenkundige Begeisterung der Lady nicht sonderlich überrascht. Ungeduldig suchte der junge Mann Neuigkeiten von seinem Onkel in Erfahrung zu bringen. Doch da wurde die Lady plötzlich ernst. »Ach Silas, dein Onkel ist sehr krank geworden ...« »Nein!« Silas schrie das Wort beinahe heraus. Sein Herz wurde wie von einer Hand aus Eis zusammengepreßt. Er hatte das Schwei gen seines Onkels als ein Urteil über sich selbst empfunden, das wortlos an der unsichtbaren Kette entlang zu ihm geschwungen war. Jetzt wurde er sich mit einem Mal seines unreifen, egoistischen Verhaltens bewußt. Er war zutiefst beschämt. Er hatte seit der Jahreszeit des Theron nicht mehr an seinen Onkel geschrieben. Und jetzt bedeckte schon der Schnee der Zeit des Koros die Straßen. Er ließ sich wie betäubt auf einen Stuhl sinken, während Lady Lolenda ihm von dem langen Leiden seines Onkels berichtete. »Aber jetzt geht es ihm besser?« fragte Silas drängend. »Ist er wieder gesund?« »Shh, Silas ...« Die Lady steckte die Finger zwischen das Gitter. Sie hatte den Handschuh ausgezogen. Ihre Haut war weich und kühl. »Ich habe einige Dokumente dabei und ein paar Bücher. Er wollte, daß du sie bekommst. Komm am Tag des ›Mauerfalls‹ zu mir.« In seiner Verlegenheit dachte Silas nicht darüber nach, was die Worte der Lady bedeuten mochten. Er war nur verwundert, daß eine feine Lady die Gepflogenheit des »Mauerfalls« kannte. Sie gab ihm eine kleine, steife Karte mit einer aufgedruckten Adresse.
Ein paar Nachmittage später stand ein nervöser Silas vor den hohen, glänzenden Türen eines Hauses im vornehmsten Viertel von Agon don. Er wollte gerade anklopfen, als er die Glocke bemerkte. In seinem ersten Jahr im Kolleg hatte sich der junge Mann bisher erst zweimal die Freiheit des »Mauerfalls« genehmigt. Beim ersten
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Mal hatte er sich nur ein paar Schritte über die überfüllte Durchgangsstraße getastet, die an dem Portal vorbeiführte. Bei seiner Ankunft war ihm die Stadt fremdartig vorgekommen, wie in einem Nebel, ein Wirrwarr aus Huf geklapper, schreienden Menschen und rie sigen, hohen Häusern, die einen zu erschlagen drohten. Er hatte Angst bekommen, sich umgedreht und war wieder durch den Tor bogen zurückgelaufen. Beim zweiten Mal traute er sich weiter. Silas schüttelte sich immer noch, wenn er an diesen Tag dachte. Was für einen Schmutz er gesehen hatte, was für Entwürdigungen! Das war drei Kanonische Tage nach seiner Ankunft. Danach war er nicht mehr hinausgegangen. Allein und schweigsam war er während dieser unerwünschten Frei heit des »Mauerfalls« in seiner Zelle geblieben und beugte sich eifrig über seine Bücher. Jetzt jedoch führte ein Bediensteter mit einer gepuderten Perücke Silas durch große Räume, die verschwenderisch mit Gold und Mar mor ausgestattet waren. An den Wänden befanden sich wertvolle Tapeten und große, extravagante Gemälde. Helle Fäden glitzerten in den gemusterten Teppichen. Nackte Statuen thronten auf kannelier ten Säulen. Die schwarze Falle seines Glaubens hatte den Jungen aus der Provinz prüde gemacht, und jetzt konnte er sich nur staunend umsehen. Er war gleichzeitig angewidert und fasziniert. Ein solches Haus hatte er noch nie gesehen. Der Diener führte ihn mit einem ironischen Lächeln zu einer Tür. Silas betrat unsicher das luxuriöse Gemach. Schwere Vorhänge verhüllten ein Fenster, und nur der sanfte Schein von Kerzen erleuchtete die duftende Finsternis. Später sollte Silas das, was dann folgte, als den entscheidenden Moment seines Lebens werten. Hier wurde seine Bestimmung ent schieden, hier, und nirgendwo sonst, senkte sich diese Bürde der Wertlosigkeit, die bisher nur drohend über ihm geschwebt hatte, auf ihn herab. Es war eine weiche, kaum wahrnehmbare Last. Wie lange hatte es gedauert? »Ach, Silas, ich habe dich sofort auserwählt. Du dummer Junge! Wußtest du das nicht? Konntest du es dir nicht denken?« In dem verdunkelten Zimmer war sie wie ein Geheimnis auf ihn zugeschwebt, ein wunderbarer Geist, eine Lady Lolenda, die sich
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wieder von der eleganten Frau unterschied, die ihn durch die Gitter des Portalzimmers angesehen hatte. Ihr Haar war offen, und ihre Stimme klang neckend. Silas wußte, daß der Nachmittag lange gedauert hatte - er erinnerte sich an die Teezeremonie, an die Peinlichkeit, als er aufstand und stammelte, daß er gehen müsse, doch anschließend, in seinen Träumen, geschah alles in einem einzigen, unwiderstehlichen Augenblick, das ironische Lächeln des Bediensteten, der die Tür hinter sich zuzog und damit der streichelnden Hand den Weg ebnete, den Armen, die Silas in eine erschauernde, weiche Umarmung zogen. »Shh, Shh.« Sie strich ihm über das Haar.
Das war der Anfang seines Lebens in Unreinheit. Ihm kam es bei nahe so vor, als wäre er am Ende dazu gedrängt worden, seinen Gewissensbissen eine äußere, fleischliche Form zu geben, nachdem sie so lange an ihm genagt hatten. Als es vorbei war, erklärte sie, daß sie ihn wieder erwartete, beim nächsten »Mauerfall«. Er konnte nicht reden und hielt den Blick gesenkt. Sie lachte und strich ihm durchs Haar. Der Bedienstete erschien ungerufen und führte ihn durch die geräumige, luxuriöse Suite. Dann stand Silas wieder draußen vor der polierten Tür, auf der obersten Stufe der Treppe zur Straße. Es hatte geschneit, und der Himmel war rot vom Sonnenuntergang. Er würde nicht wiederkommen. Dieses erste Mal, so schwor er sich, sollte auch das letzte Mal sein. Sein ruiniertes Leben mußte von nun an der Buße gewidmet werden. Vielleicht konnte er nach einer langen Selbstgeißelung zu guter Letzt dem Zorn des Herrn Agonis entkommen. Er betete. Er weinte. In dieser Nacht schlief er nicht auf seiner dünnen Matratze, sondern auf dem kahlen Steinboden seiner Zelle, nackt und zitternd. In den folgenden Tagen badete er immer und immer wieder, bis seine Arme vom Pumpen des eiskal ten Wassers schmerzten. Er würde nicht wiederkommen. Die Kanonischen Tage kamen und gingen, und dann war wieder »Mauerfall«. Das war nicht gut. In der Nacht davor verfolgten ihn
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die Träume, hingen drohend über ihm, selbst als er wach lag und fror. Und sie schienen in der Dunkelheit noch näher zu rücken. Es war der Wildwald, der ihn verfolgte. Da wußte er, daß er niemals frei sein würde. Die Zyklen seit dem Zusammenbruch und Tod seines Vaters im Schnee waren völlig sinnlos verstrichen, davongeweht wie Spreu. Und als sich endlich der Schlaf seiner erbarmte und er im Wald versank, war es nicht mehr das zärtliche Grün, das er kannte, sondern ein dampfender, unheimlicher Dschungel aus Knacken und Krächzen. Er war in ihm. Und in dieser Jahreszeit des Koros kehrte Silas immer wieder in die weichen Arme von Lady Lolenda zurück.
Es war immer dasselbe, und wenn es vorbei war, flüsterte sie ihm mit einem Lächeln ins Ohr, daß sie beim nächsten »Mauerfall« auf ihn warten würde. Sie würde bei jedem »Mauerfall« auf ihn warten. Es schien ein Band zu sein, das sein ganzes Leben halten konnte, oder eine Krankheit, an der er sterben würde. Die Lust stieg in den Tagen zwischen den Entladungen wie Eiter in einem Furunkel. Kam schließlich der Kanonische Tag, war der Druck beinahe unerträg lich. Während er die geliebten, vertrauten Rituale des Gottesdien stes absolvierte, erlebte sein Verstand ein anderes, geheimes Ritual. Er war bereits wieder in den parfümierten Raum zurückgekehrt. Schon bald waren die heiligsten Lieder und Geschichten, die heiligsten Symbole des Glaubens für Silas mit seiner verdorbenen Gier verwoben. Der Maximus sang die Litaneien des Agonis. Silas hörte nur die Litaneien seiner eigenen Lust. Es pochte in ihm vor Begierde. Er sah, wie er grunzte und zustieß wie eine Bestie. Das Weihrauchfaß schwang wie ein Pendel in der Hand des Maximus und versinnbildlichte die weltliche Zeit, die so rasch verstrich. In seiner Vorstellung fühlte Silas schon Lolendas geschmeidige Hände. Er biß hart auf die Vorhöfe ihrer Brüste. »Wann ist deine Taufe?« fragte sie an einem Nachmittag, als sie erschöpft auf ihren seidenen Laken lagen.
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Silas zuckte zusammen. Er hätte nicht gedacht, daß sie davon wußte, und glitt von ihr herab. Hastig, beinahe ärgerlich, griff er nach seiner Hose. »Silas?« Wie sollte er es erklären? Jahreszeiten waren verstrichen, seit er das erste Mal in dieses Zimmer gekommen war. Aber in der ganzen Zeit, in der er insgeheim dem Laster nachgegangen war, hatte er in der Außenwelt die Maske des ernsten jungen Mannes aufrechterhal ten, dessen Frömmigkeit damals in Irion bewundert wurde. Jetzt sollte er vollständig als Geweihter ins Kollegium aufgenommen werden. In nur einem Mondzyklus, unter Beisein des Erzmaximus, würde Silas nackt in das Becken der Reinheit steigen. Zwar lagen noch Jahre des Studiums vor ihm, aber von da an war Silas einer der Auserwählten, für einen hohen Rang im Orden des Agonis bestimmt. Einige waren seit vier Jahren im Kolleg oder sogar einen ganzen Zyklus lang, bis sie überhaupt zur Einweihungstaufe berufen wurden. Silas, so schien es, war als ein besonders vielverspre chender Junge auserwählt worden. Er sah wieder zum Bett. Der Raum war wie immer abgeschottet und heiß, die Vorhänge zugezogen, das Kaminfeuer loderte, und nur die parfümierten Kerzen spendeten Helligkeit. In dem dämm rigen Licht sahen Lolendas Glieder schlank und golden aus. Silas wurde unvermittelt von einem dumpf pochenden Entsetzen überfallen. Es mußte aufhören. Es mußte alles aufhören. In einer plötzlichen Aufwallung von Scham erkannte der junge Mann, daß seine Frömmigkeit zu einem bloßen Bastard seines schlechten Gewissens geworden war. Er sündigte und hatte eine Maske der Makellosigkeit aufgesetzt und wirkte strahlend rein, ob wohl er ganz und gar unrein war. Der arme Silas! Er war damals noch sehr jung gewesen und hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie verbreitet seinesgleichen war! Er floh. »Silas? Ich warte auf dich!« rief Lolenda ihm nach. Sie rollte sich lüstern über die beschmutzten Laken und lachte.
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Der folgende Monat war für Silas eine wahre Qual. Er hatte gewußt, natürlich, daß er mit Lolenda brechen mußte. Mit dem Tag der Taufe, dem geheiligtsten Ritus seines Glaubens, würde er sich einem Leben in ewiger Reinheit widmen. Er würde den Gelüsten des Flei sches für immer abschwören. Immer und immer wieder in diesem quälenden Monat schlich Silas um den Treppenabsatz herum, der zum Büro des Hauptgebieters führte. Er würde sich dem alten Mann vor die Füße werfen und um Verzeihung bitten. Er würde sich seine Unwürdigkeit aus der Brust reißen. Aber er tat es nicht. An einem Abend, kurz vor dem Tag der Taufe, rief der Hauptge bieter Silas zu sich. Zitternd erklomm Silas nun doch die Treppe. Es war vorbei. Es konnte nichts anderes sein. Der junge Mann dachte, daß der Aufruhr seines Herzens ungebe tenerweise nach draußen gelangt war. Er mußte gar nichts mehr ge stehen. Der Hauptgebieter, der alles wußte, würde ihn streng anblicken und ihn dann kummervoll wegschicken. Für ihn gab es keine Taufe, keine Einweihung. Es gab gar nichts. Silas Wolveron würde nach Hause gehen. »Ah, Wolveron.« Der Hauptgebieter lächelte. »Wir fanden es an der Zeit, daß du den Erzmaximus kennenlernst. Erzmaximus, unser vielversprechendster Schüler ...« Silas wäre beinahe zusammengebrochen. Tränen legten sich wie ein Schleier vor seine Augen. Zitternd sank er auf die Knie, um die plumpe, beringte Hand zu küssen, die sich ihm aus einer prächtigen Robe entgegenstreckte. Später jedoch beeindruckte er den Erzmaximus mit allen Bewei sen seiner ernsten Frömmigkeit. Er sprach mit großer Sicherheit von all den entscheidenden Fragen des Tages; er stieg geschickt zu den feinsten Streitfragen der Theologie hinab. Am Ende des Tages betete er gemeinsam mit den beiden Alten. Der junge Mann aus der Pro vinz hatte einen brillanten Eindruck hinterlassen.
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Er ging hinaus, während ihn seine Gefühle beinahe erstickten. Obwohl Silas die Finsternis verachtete, die in ihm eiterte, lag sein Weg jetzt klar vor ihm. Er durfte dieses Leben niemals aufgeben, dafür liebte er es zu sehr. Und er durfte auch das Vertrauen nicht enttäuschen, das man in ihn gesetzt hatte. Er mußte zu Lolenda gehen. Er mußte ihr sagen, daß es vorbei war. Aber dem Hauptgebie ter würde er nichts sagen. Es gab nichts zu sagen. Die Frömmigkeit seines zukünftigen Lebens würde die Vergehen der Vergangenheit sühnen.
8 Silas würde diesen letzten Besuch in Lolendas Haus niemals vergessen. Es war zwei Tage vor der Taufe, und er hätte das Kolleg nicht verlassen dürfen. Er »brach die Mauer«. Es mußte sein. Auf den Stufen vor der glänzenden Außentür sah er sich unruhig um. Als er zum ersten Mal hergekommen war, hatte sich der Schnee auf der ruhigen Straße getürmt, hatte auf den kahlen Ästen der Bäume gelegen, die jetzt knospten. Die Vögel sangen, und es war noch früh am Morgen. »Tut mir leid, Ihre Gnaden ...« Silas schob sich an dem Diener vorbei. Er kannte den Weg und schritt trotzig durch die hallenden, leeren Suiten. Zweimal war er in den letzten Wochen während des »Mauerfalls« gekommen. Jedesmal war er vorher entschlossen gewesen, daß es das letzte Mal war, und beide Male hatten die köstlichen Rituale der Lust ihn überwältigt. Aber diesmal würde das nicht geschehen. Diesmal nicht. »Silas!« Die Helligkeit blendete ihn. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und das Licht der Morgensonne durchströmte das Zimmer. Die großen Fenster führten auf einen prächtigen Garten, und davor stand ein gedeckter Frühstückstisch, an dem Lolenda in einem lan gen Morgenmantel saß und in einem Roman gelesen hatte, den sie jetzt weglegte.
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»Silas, bist du verrückt geworden? Der Erzherzog gestattet es zwar, daß man sich amüsiert, aber ...« »Es ist vorbei, Lolenda.« »Was?« »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es vorbei ist. Es kann so nicht weitergehen.« »Silas, was meinst du damit?« Sie eilte auf ihn zu und umfing ihn mit den Armen. Er blieb unbeteiligt und zitterte nicht einmal. Lolenda sah ihn schluchzend an. Silas blickte auf sie herab. Es war ein Schock. So lange, viel zu lange, hatte er Lolenda nur als die ätherische, sinnliche Erscheinung einer parfümierten Dunkelheit gekannt und war ihrer trügerischen Schönheit erlegen. In dem harschen Licht des Morgens jedoch sah er, wie diese Illusion von ihr abfiel, er sah die tiefen Fal ten um ihren Mund und ihre Augen und die gelblich rauhe Haut ih res alten Halses. Silas erinnerte sich an den Tag des »Mauerfalls«, als er das erste Mal allein in der Stadt umhergewandert war. Wie lange das schon her war! Wie betäubt von den Eindrücken hatte er kaum darauf ge achtet, wohin er ging, sondern war einfach nur vorwärts gestürmt. Annajavander! rief jemand trunken. Es war eine Blasphemie gegen die Gottheit des Wassers. Silas sprang zurück, als der Inhalt eines Nachttopfes aus einem Fenster vor ihm auf den Boden klatschte. Pa nik überfiel ihn. Er war in eine Gegend mit schmutzigen Gassen ge raten. Dreckige Bretterbuden standen dicht gedrängt nebeneinan der, und ihre schiefen Giebel berührten sich fast. Der Gestank war unerträglich. Zerlumpte Kinder blickten ihn neugierig an. Und dann spürte Silas eine Hand auf seinem Arm. Er drehte sich um, und in dem dämmrigen Licht sah er das Gesicht einer Frau, narbig und rotgeädert unter einer dicken Schminkschicht. Sie lächelte ihn lü stern an. Es war eine unverhohlene Einladung. Silas erschauderte und floh. Wie oft hatte er an diese Einladung gedacht, dieses Lächeln, das faulige, zerbrochene Zähne enthüllte, an die trockene, bröckelnde Schminke. Es gibt also doch eine Verderbnis, die ich gescheut habe, so dachte er. Es gab einen Punkt, zu dem er nicht hinabsinken
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würde. Und jetzt erkannte er, daß dem nicht so war. Welchen Unterschied machte es denn? Diese alte Hure mit ihren Pockennarben hätte genausogut auch Lolenda sein können. Sie hätte Lolenda sein können! Seine Miene verzog sich einen Augenblick vor Abscheu. »Wie alt bist du, Lolenda?« »Oh, Silas!« Sie löste sich von ihm, schritt durchs Zimmer, rang die Hände und kam wieder zu ihm zurück. »Wer ist sie, Silas? Wer ist die kleine Metze?« »Das ist es nicht, Lolenda.« Er preßte die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe eine Pflicht zu erfül len. Ein Vertrauen zu rechtfertigen. Ich muß einen Schwur lei sten ...« »Du Narr!« Erst sah sie ihn ungläubig an, dann warf sie den Kopf zurück und wieherte vor Lachen. Sie sank auf das Bett und rollte sich von einer Seite zur anderen. »Ich muß gehen«, sagte Silas kalt. Er verstand sie nicht. Vermut lich würde er sie niemals verstehen. »Willst du sagen, daß du es nicht wußtest?« Lolenda streckte sich nach ihm. Sie wischte sich die Augen, und er drehte sich um. Ihre Miene war beinahe lüstern, grausig in dem erschöpften, verlebten Gesicht. »Armer Silas. Du bist so naiv. Aber vermutlich ist das der Grund, warum ich dich so mag. Ich mochte schon immer gern Tem peljungen. Sie haben ... so viel zu geben.« Sie streckte die Arme nach ihm aus. »Armes, armes Baby. Komm zu Mammi, komm.« »Ich verstehe nicht...« Silas rührte sich nicht. »Ich habe dich protegiert.« Lolenda reckte sich genüßlich. »Ich habe Einfluß, Silas. Was bist du denn schon? Ein frommer Bauern bursche. Gewöhnlich, gewöhnlich, gewöhnlich! Glaubst du wirk lich, daß du ohne mich eine Zukunft gehabt hättest? Der Erzmaxi mus und ich sind ... na ja, alte Freunde. Sagen wir, ich habe ein gutes Wort für den Jungen aus Irion bei ihm eingelegt.« »Nein! Du lügst!« Aber Silas wußte, daß sie nicht log. Seine Beine gaben unter ihm nach. Er brach zusammen.
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Ja, es war die Wahrheit. Sie hatte ihn zerstört. Sie hatte alles zerstört. Sein Erfolg war wie seine Frömmigkeit nur ein hohler Schwindel. Er hatte ein Leuchtfeuer des Glaubens sein wollen, ein strahlendes Licht. Und jetzt war er nichts weiter als eine flackernde Talgkerze. Wie war sein Stolz gedemütigt! Er war ein verzweifeltes, herumkrabbelndes Stück Dreck! Sie kam zu ihm. Ihr Nachthemd streifte seine kauernde, krampfgeschüttelte Gestalt. »Silas, Silas.« Sie stand breitbeinig über ihm, hockte sich hin, während sie ihre Beine weit spreizte. Mit den Fingern zog sie durch den Stoff ihres Gewandes an seinem Haar, kniff seine Wangen, zupfte an seinen Lippen. Sie zog ihn hoch. Er schüttelte sich und rang nach Luft. »Nein, nein!« Aber es nützte ihm nichts. Seine Zunge schien ein Eigenleben zu haben. Lolenda lehnte sich zurück und stöhnte. Dann gab es nur noch den intensiven, feuchten Duft von Lust. Er stieß sie zurück, streifte seinen Mantel ab. Sie umschlang ihn lüstern, und er packte sie. »Nein!« »Doch!« Er warf sie auf das Bett und riß ihr Gewand herunter. Danach schälte er sich selbst aus Hemd und Hose. Sie rollte von ihm weg, und er packte sie. Sie kratzte und schlug und lachte, lachte ohne Unterlaß. Dann geschah es. Sie schrie.
An diesem Morgen kannte das Licht kein Erbarmen. Die Helligkeit gab Lolendas verwelkte Haut preis, wie sie die rußigen Flecken im Kamin enthüllte und den Staub, der scheinbar endlos in der Luft schwebte. Sie ließ die fettigen Reste auf den Frühstückstellern schimmern und brachte sogar den Nachttopf ans Licht, der unter
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dem Bett hervorlugte. Gnadenlos entblößte die Helligkeit die nackte Jugend, die eingefallene Brust und die hervorstehenden Rip pen. Sie entblößte seine dünnen Ärmchen und seine Schenkel, seine O-Beine. Sie betonte die Blässe seiner haarlosen Haut, und auf die ser blassen Haut zeichnete sich besonders deutlich das rote, geheimnisvolle Mal ab, das wie ein Fleck die weiche Innenseite seines Schenkels zierte. Lolendas Gesicht war zu einer Maske verzerrt. Sie deutete mit ei nem zitternden Finger darauf, und als sie redete, war ihre Stimme ein Flüstern, heiser vor Entsetzen. »Das Mal des Vagas!« Sie brach zusammen, langsam, aber unaufhaltsam. »Was habe ich getan?« rief sie. »Weiche von mir, geh ...!« Silas zog sich langsam an, wie betäubt von dem Schock. Es war so, als hätte er keine Nerven in seinen Gliedern. Hatte er es gewußt? Hatte sein Onkel es gewußt? Dem Jungen hatte man nur gesagt, daß seine Mutter tot war, und als er einmal gefragt hatte, ob sie eine aus dem Dorf war, hatte Onkel Olion ausweichend geantwortet, daß sie nicht aus Irion stammte. Hatte der alte Mann gewußt, daß sie eine Vaga-Hure war? Aber nein, das konnte er nicht gewußt haben. Wenn doch, wäre all das vergeblich gewesen, die Ketten, die Knebel, die Bäder in eiskaltem Wasser ... all die langen Mühen der Berufung des Jungen. »Lolenda?« Silas drehte sich an der Tür um. »Du hast gesagt, du hättest Briefe. Von Onkel Olion.« Lolenda schluchzte und sah ihn mit tränenüberströmten Augen an. »Dein Onkel ist tot, Silas. Er ist vor ... ach, vor vielen Jahreszei ten gestorben. Du hast dich nicht darum gekümmert. Deshalb dachte ich ...« »Lolenda ...« Er machte einen Schritt auf sie zu. Noch ein letztes Mal wollte er in ihre Arme sinken. Sie wich vor ihm zurück. »Nein, nein.« Ihre Stimme war tonlos. »Schmutziger Vaga. Schmutzig!« Silas blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Anschließend fragte er sich immer und immer wieder, ob er es gewußt hatte. All diese Jahreszeiten, in denen er zum Manne reifte, war das Mal ge-
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wachsen, hatte sich vergrößert. Hatte er nicht darüber nachge dacht? Hatte er es nicht erraten? Sie nannten es Altes Blut. Es war das Geburtszeichen von Vaga-Männern und saß an der Stelle, an der Theron, der Gott des Feuers, seinen Bruder, den Vaga-Gott Koros, durchbohrt hatte. Es war die Strafe der Lust, der schmutzigen Vaga-Lust. Jetzt kam eine Einweihungstaufe nicht mehr in Frage.
10 Einen Tag später stand Silas mit verkniffener Miene vor dem Erz maximus. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein, doch in dem Arbeitszimmer des alten Mannes waren die Vorhänge zugezo gen. Ein Feuer loderte im Kamin. »Man friert so leicht«, sagte der Erzmaximus freundlich und wollte Silas gerade auffordern, sich neben ihn ans Feuer zu setzen, als dem jungen Mann die unerwartete und schockierende Erklärung von den Lippen sprudelte. »Warum, Wolveron, warum?« Silas hätte noch viel mehr sagen können, aber das tat er nicht. Der Erzmaximus beugte sich vor und nahm die Hände des jungen Man nes in seine. »Mein Sohn, du trägst eine große Gabe in dir. Wirf sie nicht fort ... Wofür? Eine kurzfristige Furcht? Im Laufe der Zeit wirst du einer der Großen des Ordens werden. Oh, Wolveron, wir alle sind unwürdig im Herzen ...« Eine merkwürdige Furcht überkam den Erzmaximus. Diese Befragung war Routine, und man erwartete, daß sie in der üblichen Weise vonstatten ging. Noch nie zuvor hatte ein Aspirant der Ein weihungstaufe verkündet, zu diesem späten Zeitpunkt verkündet, daß er das Kolleg verlassen wollte. Der alte Mann flehte förmlich, doch vergebens. Silas stand da, unerschütterlich und mit gesenktem Blick. Er hatte seine Entscheidung getroffen, und wer konnte ihm Vorwürfe ma chen, daß er sich nicht erklären wollte? Lolenda würde wohl kaum ihre Entweihung gestehen. Das war zuviel. Silas biß sich auf die Lip pen.
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Er würde dieses Geheimnis für immer bewahren. »Kann ich denn nichts für dich tun, mein Sohn? Brauchst du ir gend etwas?« Erneut drehte sich Silas auf einer Türschwelle um. Er wußte, was er wollte. Der Erzmaximus war ein freundlicher Mann. Silas glaubte nicht, daß sein Begehr zornig aufgenommen werden würde. Und das wurde es auch nicht. »Irion?« »Es ist das Tal der Tarn, Erzmaximus. Ein düsteres Leben, gewiß, aber meine Heimat. Dorthin gehöre ich.« In dem folgenden Schweigen war nur das Knacken des Holzes im Kamin zu hören. »Wohlan denn, Wolveron. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Der alte Mann seufzte. Es war absurd. Natürlich gab es einige, die einfach nur einer simp len Frömmigkeit überlassen werden mußten, das war klar, so war es immer gehandhabt worden. Aber Wolveron? Es schien fast so, als litte der junge Mann an einer Krankheit. Das Gespräch war beendet. Die Tür fiel ins Schloß. Der Erzmaximus kehrte zu seinem gepol sterten Stuhl am Feuer zurück und wärmte sich die Hände. Er seufzte erneut. Die arme Lolenda! Den hier hatte sie wirklich ge mocht. Der alte Wolveron ging durch den Wald und setzte den Stock lang sam und sorgfältig vor sich auf die Erde. Stimmte die Richtung? Er wußte es nicht genau. Zu lange hatte er sich in seiner verbitterten Tagträumerei verloren. Wenn er noch hätte Tränen vergießen kön nen, hätte er geweint. Aber was nützte es ? Es war nicht gut, an all die vergeudeten Jahre zu denken. »Papa?« Das Kind tauchte vor ihm auf dem Weg auf. Ihre Stimme war gedämpft, als sie ihn am Arm faßte. »Papa, das ist der Weg zurück zur Höhle.« Die Sonne goß ihr goldenes und grünes Licht zwischen den Zwei gen der Bäume hindurch, aber ihr Ziel schwebte vor ihnen wie eine drohende Wolke.
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5 Das Nova-Riel-Zimmer »Bier!« »Komme schon, Meister Polty!« So spielte es sich unzählige Male am Tag auf die gleiche Weise ab. Zuerst der dröhnende Befehl, der durch die Taverne schallte, dann die Schritte der schweren Stiefel der Frau, die laut auf der engen, gewundenen Treppe hallten. Polty lag auf dem weichen Bett des besten Zimmers und rollte sich träge auf die Seite. Er zerrte sein Nacht hemd hoch und zielte auf den Nachttopf. Doch die beißende Flüssigkeit verfehlte ihr Ziel und verteilte sich statt dessen in einem strömenden Bach auf dem schäbigen Teppich. Der dicke Junge grinste zufrieden und rollte sich zurück. »Oh, ich bin völlig außer Atem!« Goody Throsh hüpfte wie ein kleines Mädchen durch die Tür und legte ihre gespreizten Hände auf ihren wogenden Busen. Mit einem theatralischen Knicks stellte sie den Bierkrug auf den Tisch neben dem Bett, der mit MahagoniIntarsien verziert war. Dann glättete sie ihre Schürze und hockte sich vorsichtig auf den Bettrand neben Polty. Das tat sie jeden Tag. »Fühlt Ihr Euch etwas besser, Meister Polty?« fragte sie wie jedes mal. »Ein bißchen«, erwiderte er. »Dank dir, Wynda.« Sie bestand dar auf, daß er sie bei ihrem richtigen Namen anredete. Als Bohne einmal dasselbe wagte, fing er sich eine Kopfnuß ein. »Aber Meister Polty, Ihr macht mich ganz verlegen«, sagte sie dann. Was nicht stimmte. Die Witwe sah sich traurig und liebevoll in dem Zimmer um, betrachtete die muffigen Gardinen, die dunklen, polierten Möbel und die vielen Bilder, die mit der Zeit angelaufen und verblaßt waren. Dinge, die sie am Anfang ihrer Ehe so eifrig ausgesucht hatte. Was für vornehme Leute hier früher geschlafen hatten! Die Kammer wurde das Nova-Riel-Zimmer genannt und lieferte Zeugnis von der einstigen Pracht des Trägen Tigers, damals, als er mehr gewesen war als eine Bierschänke für das gemeine Volk.
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Schon das Bett allein war prachtvoll. Es war ein massives Himmel bett mit Vorhängen aus rotem Samtbrokat und für einen einzelnen Jungen viel zu groß, selbst für einen großen Jungen. Aber schließ lich war auch Meister Polty vornehm. Er war der vornehmste Gast in dem Haus seit der Belagerung! Außerdem schlief ihr Sohn jetzt ebenfalls hier. Allerdings, und auch das wußte sie, schlief Aron oft in einem Stuhl am Fenster oder draußen im Heuschober. Und zwar immer, wenn er sich mit Meister Polty gestritten hatte. Sie wünschte sich wirklich, ihr Sohn würde etwas mehr Respekt zeigen! Ein stechender Geruch stieg von dem Teppich auf. »Wynda, ich habe nachgedacht«, sagte Polty und trank einen Schluck Bier. »Ist Vel in letzter Zeit in den Tiger gekommen?« »Der Junge des Schmieds? Sicher, er kommt oft her, Meister Polty Immer mit diesem aufgedonnerten Mädchen.« Goody Throsh ver zog mißbilligend die Lippen. »Ich weiß nicht mehr, wie sie heißt.« »Leny«, antwortete Polty, ein wenig zu schnell. »Leny, richtig. Ein schlampiges kleines Frauenzimmer. Wenn ich etwas nicht mag, dann ist das ein loses Weibsbild. Aber Ihr, Meister Polty, Ihr findet sicher ein viel netteres Mädchen.« Sie warf einen an erkennenden Blick auf den Bauch des Jungen. In den Jahreszeiten, die seit seinem Einzug in den Tiger verstrichen waren, hatte der junge Mann gewaltig zugelegt und sah jetzt noch massiger aus als früher. Weißes, wabbelndes Fleisch umgab ihn wie ein Kissen. Seine prallen Wangen liefen rot an. »Aber Wynda!« »O nein, sagt nicht 'aber Wynda' zu mir! Ihr seid vornehm, das seid ihr wirklich, und ich weiß, daß Ihr eines Tages ein großer Mann sein werdet. Wenn Ihr Euch erst besser fühlt.« Sie strich ihm schüchtern durch die roten Locken. »Ich habe Eure Weste fast fertig be stickt.« »Wynda?« sagte Polty, als die Wirtin sich errötend zur Tür zurückzog. »Wenn der Junge des Schmieds wiederkommt, sagst du es mir?« Goody Throsh versprach es. Ihr Leben war vollkommen damit ausgefüllt, sich um den Jungen zu kümmern. Er konnte verlangen, was er wollte, sie schlug ihm nichts ab und stellte nichts in Frage. Manchmal, wenn er am Nachmittag schlief, saß sie auf dem Bett
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rand und streichelte ihn und hielt nur inne, wenn sie Arons Schritte auf der Treppe hörte. Sie hatte zwar Gewissensbisse, aber sie konnte nicht anders. Meister Polty war ihr Trost. Er war als Entschädigung für den Tod ihres Mannes zu ihr geschickt worden - und für den er neuerten, starken Glauben, der seitdem in ihr gewachsen war. Der arme Ebby lag jetzt auf dem Friedhof, unter einem Hügel ohne Grabstein in einer vernachlässigten Ecke. Eines Tages würde sie ihm einen großen Felsstein zum Gedächtnis errichten, und wenn ihre eigene Zeit zu sterben näher rückte, würde sie danebensitzen und mit ihm reden. Sie fragte sich liebevoll, ob es wohl im Reich des Unergründlichen genug Bier gab, um seine immer trockene Kehle zu benetzen, und wie er es anstellte, auf nur einem Fuß herum zuhumpeln. Ebby? flüsterte sie. Ich bin's, Wynda. Wynda mit den goldenen Locken. Aber bis dahin verteilte sie ihre Güte in der Welt. Das wurde von ihr erwartet. Einige Leute sagten, sie wäre eine schlechte Frau. Sie unterstellten ihr, daß sie ein liederliches Haus führe. Sie sahen sie an und flüsterten: Grüne Greta.. Aber das war eine Lüge. Sie war keine Metze, und sie ließ auch längst nicht jeden unter ihre Röcke. Goody Throsh ließ Meister Polty allein und blieb auf dem obersten Treppenabsatz stehen. Verstohlen steckte sie die Hand in ihre Schürzentasche. Ah, da. Sie vergewisserte sich häufig, ob er noch da war. Eigentlich hatte sie ihn schon heute nachmittag Meister Polty geben wollen, aber es war schön, die Wartezeit zu genießen. Noch ein kleines bißchen. Sie zog den Amethystring hervor und musterte ihn beinahe zärt lich. Eine Zeitlang hatte dieser nichtsnutzige Aron doch tatsächlich versucht, ihn vor ihr zu verstecken. Vor seiner eigenen Mutter! Als Goody Throsh das herausgefunden hatte, hatte sie ihm den Ring beleidigt weggenommen! Ob der Junge versucht hatte, ihn seinem ar men, kranken Freund zu stehlen? Aber Aron war viel zu dumm, um ein Dieb zu sein. Das schlechte Gewissen stand ihm sofort ins Gesicht geschrieben. Auch wenn Goody sich noch so sehr bemühte, sie konnte für ihren Sohn einfach keine Zuneigung aufbringen. Er war ein farbloser, schwächlicher Junge. Ebby war ein alter Schelm gewe
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sen, aber wenigstens hatte er Feuer gehabt. Leben. Und Aron? Der hatte nichts dergleichen! Der Amethystring glänzte in dem Licht, das durch das Treppen fenster schien. Wynda Throsh betrachtete ihn und drückte ihn schließlich gegen ihre Lippen. Sie vergaß ihren unzulänglichen Sohn. Aron! Was bedeutete er schon? Von dem Augenblick an, als sie den Ring gesehen hatte, wußte sie, wem ihre wahre Zuneigung galt. Sie dachte zurück an die Zeit der Belagerung, an die vielen Ge schäfte, die sie mit den Soldaten der Blauröcke gemacht hatte. Sie lächelte nachsichtig. Genau so einen Ring hatte sie schon einmal zu Gesicht bekom men. »Bohne«, sagte Polty an diesem Abend. »Ich habe nachgedacht.« »Mmh?« Der schlaksige Junge kuschelte sich, erschöpft von der Arbeit, tiefer in sein Kissen. Er war an Poltys trunkenes Gemurmel gewöhnt, weil er schon lange mit ihm in dem Bett schlief. Es war einfach nur ein Geräusch, das die Stille füllte, nachdem die letzten Zecher die Taverne verlassen hatten. Es war nur unwesentlich aufdringlicher als das Rascheln der Blätter draußen an den Bäumen oder das traurige Rufen der Damasteule. Aron wickelte sich fester in die Decke. Heute abend war es ein bißchen kühl im Raum. Polty war so betrunken, daß er nicht protestierte, als Bohne es wagte, ein Fen ster zu öffnen. Glücklicherweise verflüchtigte sich der säuerliche Gestank des fetten Jungen. Polty zog heftig an der Decke. »Bohne?« »Was ... Was ist los?« »Es geht um Leny« »Leny?« Bohne dachte jetzt kaum noch an Leny Sie waren alle älter geworden. Die kindliche Welt Der Fünf war lange versunken. »Du weißt doch, daß ich sehr krank gewesen bin, Bohne.« »Weiß ich«, erwiderte Bohne. Es stimmte. Polty war sehr krank gewesen, vor ein paar Jahreszeiten. Seitdem lag der Junge in einem alkoholisierten Nebel da, während Bohnes Mutter sich um ihn kümmerte und ihn von vorn bis hinten bediente. »Bohne? Ich glaube, ich bin wieder gesund.«
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»Was?« Falls das stimmte, war es höchst erstaunlich. Bohne richtete sich mühsam auf. Die Federn quietschten, als Polty seinen massigen Körper zu sei nem Freund herumrollte und mit einer plumpen Hand seine Schulter packte. »Hast du mal richtig über Leny nachgedacht, Bohne?« Bohne wußte nicht genau, was sein Freund meinte. »Sie ist ein ziemlich hübsches Mädchen, die Leny« »Vielleicht. Aber du hast gesagt, sie wäre eine Schlampe.« »Das ist sie auch. Aber hast du jemals richtig über Leny nachgedacht, Bohne? Mach dir keine Sorgen, schließlich bin ich hier fürs Denken zuständig. Aber es ist alles ihre Schuld, weißt du, Lenys Schuld. Es ist alles ihre Schuld.« Der fette Junge richtete sich ein Stück weit auf, damit ein Darmwind leichter entweichen konnte. Als Polty in dieser Nacht endlich eingeschlafen war, blieb Bohne wach liegen, getrieben von der Sorge vor Veränderung. Er nannte es für sich seinen »Veränderungssinn«. Als sein Vater gestorben war, hatte Bohne kurz ein starkes Entsetzen verspürt. Dies hier war ein anderes Gefühl, langsam und schleichend, aber genauso erschreckend. Es war ein Gefühl, daß sich Dinge bewegten, die ei gentlich fest sein sollten, und ihm unter den Füßen wegglitten. Das gefiel Bohne überhaupt nicht. Wann hatte Polty das letzte Mal von Leny und Vel gesprochen und von dem Bruch Der Fünf? Heute abend war es das erste Mal seit langer Zeit. Und es sollte nicht das letzte Mal sein. Poltys Meinung nach hatte Leny ihr kleines Königreich zerstört. Mit ihrem verhurten Appetit hatte sie Vel fasziniert, und weil Vel ihr verfallen war, hatten die Jungen sich zerstritten. Wenn das nicht passiert wäre, hätte Polty niemals davon geträumt, zur Grünen Greta zu gehen. Er hätte das Silber nicht gestohlen, und Waxwell hätte sich nicht in ein Monster aus Wut und Rachegelüsten verwan delt, wie er es getan hatte. Warum sonst hatte er Ebenezers Fuß ab geschnitten? Es war Lenys Schuld. Alles war Lenys Schuld.
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Während Bohne darüber nachdachte, mußte er zugeben, daß es durchaus überzeugend wirkte. In gewisser Weise stimmte es sogar, und obwohl Bohne einräumte, daß es vielleicht einfach die Zeit war und die Tatsache, daß sie erwachsen wurden, was Poltys Königreich zerstörte hatte, begriff er auch, daß Polty das einfach nicht erkennen wollte. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld zuschieben konnte. Und mit dieser Schuldzuweisung würde auch die Rache kommen. Ein paar Abende später schlurfte Bohne mit ein paar schäumenden Bierkrügen in den Händen zwischen den Tischen umher, als er Polty in einer dunklen Ecke sah. Bohne ließ vor Schreck die Krüge sinken. »Heh!« Bier rann in einen Kragen, und der Mann drehte ihm verärgert sein sonnengebräuntes Gesicht zu. »Entschuldigung.« Bohne stellte die Krüge ab und wich dem Chorus von sattsam bekannten Flüchen aus. Seine Mutter lehnte lasziv am Tresen. Sie trug eine rote Perücke, und ihr Gesicht war unter einer dicken Schicht Schminke versteckt. Entzückt hörte sie sich einen vulgären Witz des fetten Pferdehändlers aus dem Nachbardorf an. Bohne stieß ihr den Ellbogen in die Seite. »Ma, warum ist Polty hier? Ma?« »Junge! Mehr Bier!« rief jemand durch die Rauchschwaden. »Was hast du, Aron?« fuhr Goody Throsh ihn an. »Hörst du den Gentleman nicht? Los, los!« Bohne biß sich auf die Knöchel. Er hatte gerade erst die Pferde ge füttert. Wie lange hatte Polty schon in der Ecke gesessen? War es überhaupt Polty? Mit wem saß er zusammen? Der dünne Junge starrte durch den Rauch. Er sah die vertrauten roten Locken, den dicken Stiernacken und die Fettrollen, als er den Kopf zurücklegte und trank. Diesen Anblick kannte er zwar gut, aber sein Freund war seit vielen Monaten nicht hier unten gewesen. In dem Augenblick schoß Bohne ein Gedanke durch den Kopf. Es geht los.
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»Polty! Du bist ja hier unten!« Bohne war einen Augenblick später da und wischte mit einem Lappen energisch den Tisch, an dem Polty saß. Er trug seine neue, bestickte Weste und saß, wie Bohne erst jetzt erkannte, mit Leny und Vel zusammen. »Unten?« Polty blickte hoch und lächelte Bohne an. War er betrunken? Der Sohn des Schmieds jedenfalls war betrunken. Bohne sah ihn an. Es war lange her, daß er Vel so richtig angesehen hatte. Er hatte schon sehr früh Bartwuchs gehabt, und jetzt war sein schwarzer Schnurrbart prächtig und dicht geworden. Vel war auch größer und stärker als früher. Die Muskeln eines Schmieds zeichneten sich un ter dem Hemd ab. Und er hatte riesige Hände. Er schnappte sich Bohnes dünne Ärmchen und drehte sie. »Wo bleibt unser Bier, Kerl? Wir haben mehr Bier bestellt!« »Aber Vel!« Leny kicherte. »Das ist doch Bohne. Erinnerst du dich nicht? Bohne!« Lenys Brüste waren gewaltig gewachsen und schienen ihre Bluse zum Platzen bringen zu wollen. Ihr blondes Haar schwang in Locken um ihren Kopf. Vertraulich lehnte sie sich über den Tisch zu Bohne, während sie mit der Hand ihren zerbrechlichen Zauberkri stall schützte, den sie immer noch um den Hals trug. »Vel und ich werden heiraten, Bohne. Ist das nicht wunderbar? Unser alter Freund Polty hier hat es als erster erfahren.« »Heiraten?« fragte Bohne dümmlich. Mehr wußte er nicht zu sagen. Der dunkle Spalt zwischen Lenys Brüsten lenkte ihn ab, ge nauso wie Poltys herzliches, gratulierendes Lächeln. War Polty betrunken? Bohne konnte es nicht genau sagen. Aber später, als Polty ins Bett ging, sah Bohne, wie sein Freund sicher die Stufen nahm. »Dieses Zimmer stinkt manchmal wirklich entsetzlich«, erklärte Polty und riß ein Fenster auf, während Bohne die Tür schloß. »Es überrascht mich, daß du es noch nicht bemerkt hast, Bohne. Aber vermutlich kümmerst du dich sowieso nicht so sehr um Reinlichkeit.« »Wahrscheinlich hast du recht«, erwiderte Bohne finster. Er stellte die Kerze hin. Polty wandte sich vom Fenster ab, und zum er-
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sten Mal betrachtete Bohne die Weste, die seine Mutter für seinen Freund bestickt hatte. Vor dem dunklen Hintergrund tauchten überall die bunten Fäden auf und bildeten ein ungeordnetes Blu menmuster, wie in einem überwucherten Garten. »Sie ist wundervoll«, stellte Bohne fest. Er war nicht einmal neidisch. Bohne hatte noch nie eine bestickte Weste gehabt. Seine Hose war zerrissen und notdürftig geflickt, und seit vielen Monaten waren sein Hemd und sein Mantel für seine langen Gliedmaßen zu kurz, viel zu kurz. Aber daran hatte er sich ge wöhnt. Daß seine Mutter den Morgen damit verbrachte, Kleider für Polty anzufertigen, während ihr eigener Sohn in Lumpen herumlief, kam ihm ganz normal vor. Polty hatte etwas Besonderes an sich, das wußte Bohne. Er wirkte einschüchternd. Es hatte natürlich etwas mit seinem imposanten Leibesumfang zu tun. Und die schönen Stickereien steigerten Poltys Wirkung noch. Einen Augenblick freute sich Bohne, doch dann wurde er wieder unruhig. Mit wurstigem Daumen und Zeigefinger pflückte Polty ein Haar von der Weste. Es war ein lockiges, korngelbes Haar, aber das war es nicht, was Bohne beunruhigte. Es war eher der silberne Ring, der an Poltys Finger aufblitzte, als er die Hand hob. In der Fassung glitzerte ein Amethyst. »Woher hast du den Ring?« »Von deiner Mutter, mein Freund. Wynda hat gesagt, sie hätte ihn für mich aufgehoben. Ist es nicht wunderbar, was sie alles für mich tut?« Der dicke Junge streifte die herrliche Weste ab und hängte sie sorgfältig über eine Stuhllehne. »Ein wunderschöner Abend!« Er lächelte. »Und morgen wird es noch schöner werden. Nun lächle doch, Bohnenstange! Du blickst so finster drein!« Bohne fragte sich wieder, ob Polty betrunken war. Das fette Gesicht strahlte ihn vor Freude und Stolz an. Als sie im Bett lagen und die Kerze gelöscht hatten, versuchte Bohne es noch einmal. »Aber er gehörte doch dir!« Polty kuschelte sich in die Laken und seufzte zufrieden. »Hm?« Die Fensterläden klapperten im Wind, und der Gestank verflüch tigte sich.
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»Er gehörte dir«, wiederholte Bohne. »Der Ring. Du hattest ihn in der Hand.« »Hm? Ich muß schlafen, mein Freund, wirklich. Morgen werde ich meinen Vater besuchen.« »Deinen Vater?« Bohnes Herz hämmerte in seiner Brust. In die ser Nacht schlief Polty friedlich, doch sein Freund neben ihm machte kaum ein Auge zu. Ich besuche meinen Vater. Was meinte Polty damit wohl? Doch die Antwort erfuhr Bohne erst am nächsten Morgen, als Polty sich fröhlich pfeifend auf den Weg machte, um Goodman Waxwell einen Besuch abzustatten. »Polty!« Polty drehte sich um. Seine Weste glänzte in der Sonne. Sein Freund rannte ihm über den Anger hinterher, seine langen Glieder schlackerten wie Windmühlenflügel. »Freund?« »Kommst du zurück, Polty?« »Was? Natürlich komme ich zurück! Du bist seltsam, mein Freund, weißt du das? Du bist wirklich merkwürdig.« Polty schüt telte den Kopf. Der schlaksige Junge ging wieder zum Rand des Dorfangers zurück und drehte sich um. Er sah gerade noch, wie Polty in dem Labyrinth der Gassen verschwand, die sich zu Goodman Waxwells Haus schlängelten. Erst jetzt kam Bohne ein merkwürdiger Gedanke. Er ist nicht mein Vater, hatte Polty gesagt. Konnte es sein, daß der fette Junge die Wahrheit einfach vergessen hatte? War etwas Wesentliches aus seinem Verstand verschwunden, seiner Aufmerksamkeit entfleucht, während er krank im Bett lag? Bohne hatte schon von so etwas gehört. Genau das mußte auch seinem Freund zugestoßen sein. Polty hatte nicht mehr gewußt, daß der Amthystring ihm gehört hatte, dessen war sich Bohne sicher. Und wenn er das vergessen hatte, dann war ihm vielleicht auch das Papier aus dem Sinn gekom men, das er so lange in seiner Faust gehalten hatte. Bohne hatte es sorgfältig und langsam auseinandergefaltet und geglättet, in jener Nacht, in der sein Freund zu ihm in den Trägen Tiger gekommen
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war. Anschließend war er, von Erschöpfung überwältigt, eingeschlafen. Als er von Schritten auf der Treppe geweckt wurde und hochfuhr, strich seine Hand über eine Staubschicht, an der Stelle, wo der Brief gelegen hatte. Der Blick seiner Mutter fiel auf den Ring. »Er gehört ihm«, sagte Bohne. »Natürlich. Er ist etwas Besonderes.« »Ich glaube, sein Vater hat ihn verprügelt.« »Sein Vater? Unsinn!« Natürlich war es Unsinn. Bohne sagte sich immer wieder die Sätze vor, an die er sich aus dem Brief erinnerte. Ich übergebe den Jungen in Eure Obhut. Das war einer. Der Ring ist meine Gabe für ihn. Das war ein anderer. Und noch einer lautete: Wenn er alt genug ist. Sein Vater? Unsinn. Bohne war nur etwas verwirrt, das war alles. Jetzt lief Bohne wieder über den Anger und stürmte in das Laby rinth aus begrünten Hohlwegen, die die Straßen bildeten. »Polty! Polty!« Er war plötzlich unruhig. Er mußte ihn erwischen, das war wichtig. Glaubte Polty wirklich, daß er seinen Vater besuchte? Doch dann verirrte sich Bohne in den grünen Tiefen der Gassen, und er wußte auch nicht, in welcher Richtung das Haus des Arztes lag. Er hatte die falsche Abzweigung genommen und konnte einfach nicht die richtige finden. Und dann konnte er sich nur noch die ent setzliche Gewalt ausmalen, die sich jeden Augenblick in den or dentlichen Räumen des Arzthauses Bahn brechen würde. Eine Ader schwoll an seiner Stirn, und die Sonnenstrahlen, die durch den Bal dachin aus Blättern schienen, blendeten ihn. Er ging langsam wie der zurück. Aber wo lang? Die Straße verzweigte sich in verschiedene Richtungen. »Hallo, mein Freund.« Polty stand vor ihm und lächelte. »Polty, geh nicht dorthin.« Bohne umklammerte mit seinen lan gen Fingern den Arm des Freundes. »Mein Freund, wovon redest du?« Polty pfiff fröhlich vor sich hin
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und schlug die Richtung ins Dorf ein. Die Weggabelung lag hinter ihnen. »Du gehst nicht dorthin?« »Wohin? Ich habe meinen Vater besucht. Mein lieber Vater! Er hat mir ein kleines Geschenk gemacht.« Der fette Junge schien glücklich zu sein. »Ein Geschenk?« fragte Bohne. »Was für ein Geschenk?« Polty hätte ihn beinahe ausgelacht. Dann steckte er Daumen und Zeigefinger in die Seitentasche seiner kostbaren Weste. Einen Augenblick hielt Polty seinem Freund das Geschenk vor die Nase. Dann war es wieder verschwunden. Bohne verstand nicht. Das war doch nichts. Nur eine kleine Flasche, die mit einer schwarzen, zähen Flüssigkeit gefüllt war. »Das ist ja Tinte!« Jetzt lachte Polty laut. »Es ist eine Medizin, mein Freund. Eine Medizin, nach der wir uns viel besser fühlen werden.«
»Herrin ...« »Danke, Stephel.« Umbecca hatte ihre beste Haube aufgesetzt und trug einen Korb in der Hand. Sie erlaubte dem alten Mann, ihr von dem Karren her unterzuhelfen, und stellte sich vor, daß sie eine elegantere Frau wäre, die zu einer vornehmeren Verabredung fuhr. Der schäbige Diener mit seinem gräulichen Bart könnte vielleicht ein eleganter Bediensteter sein und der klapprige Karren eine glänzende Kutsche. »Stephel!« rief sie, als der Mann wegfuhr. »Du kommst doch wohl nicht zufällig in die Nähe des Trägen Tigers?« »Hü-Hott!« knurrte der alte Mann und trieb seine Mähre an. Umbecca gab einen mißbilligenden Laut von sich, lächelte aber. Jem war aufgeregt. Er war ganz allein von dem Karren geklettert, stand auf seinen Krücken und blickte neugierig die schattige Straße
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entlang. An diesem heißen Nachmittag lag sie verlassen da und wand sich zwischen den hohen Ulmen vom Anger bis zu diesem Ort, den seine Tante die Sakristei nannte. Dorthin wollten sie heute gehen. »Tante«, fragte der Junge, als sie weitergingen. »Was ist die Sakristei?« Diese Frage hatte er ihr schon vorher gestellt. »Ein großes Haus.« »So groß wie die Burg?« »Das größte Haus im Dorf.« »Aber warum?« Es war ein Spiel. »Weil es ein wichtiger Ort ist«, antwortete Umbecca salbungsvoll und verbesserte sich nach einem Moment: »Weil es einmal einer war.« Die Sonne glühte zwischen den Schatten, die die Ulmen warfen. Die Straße war holprig und staubig. Löcher und Wurzeln verun zierten ihre fahle Oberfläche, und zwischen den verstreut herum liegenden, scharfkantigen Steinen wuchsen Unkrautbüschel. »Es ist doch nicht zu anstrengend für dich, Jem?« »Aber nein!« stieß der Junge hervor. Er wäre beinahe gefallen. Die Spaziergänge waren Elas Idee, und eigentlich hätte Ela den Jungen begleiten sollen. Sie hatten angefangen: In der langen Jahres zeit des Koros waren der Junge und seine Mutter, eingepackt in ihre dicken Pelzmäntel, über die Korridore der Burg gewandert. Als die Kälte allmählich nachließ und der Schnee schmolz, waren sie auch nach draußen gegangen, über die gepflasterten Kreuzgänge und das Gelände des Innenhofs. Aber schon da hatte Tante Umbecca Jem begleitet, so wie sie jetzt an seiner Seite schritt, in sengender Hitze, bei seinem letzten, ehrgeizigsten Spaziergang. »Jem! Wir werden kräftiger«, hatte Ela gesagt und ihrem Sohn lächelnd die Hand gedrückt. Aber es nützte nichts. Sie war immer noch zu schwach. »Wann geht es Mutter wieder besser?« fragte Jem und manövrierte seine Krücken vorsichtig um die Löcher herum.
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Umbecca antwortete, wie immer, ernst. Und - ebenfalls wie immer - unbestimmt. »Ach, Jem, wer kann das schon sagen?« »Weiß es denn niemand?« Pause. »Goodman Waxwell...« Jem fuhr herum. »Du glaubst ihm doch wohl nicht!« fragte er her ausfordernd. »Aber nein, Jem, nein!« Das rundliche Gesicht wirkte fast erschrocken. »Früher einmal ... Aber wir wollen nicht mehr von die sem unseligen Mann sprechen. Es ist so ein schöner Tag, Jem. Findest du nicht?« »Ein sehr schöner Tag. Wenn Mutter bei uns wäre ...« Jem redete nicht weiter. »Armer Jem«, sagte seine Tante nach einer Weile, als der Junge kurz stehenblieb, um Kraft zu sammeln. Sie strich ihm mit ihrer pummeligen Hand über das Haar. »Mutter geht es so gut, wie das in ihrem Zustand nur möglich ist, das weiß ich.« »Ich weiß«, wiederholte der Junge. »Ich weiß.« Ela hatte es so sehr versucht. In der Nacht von Goodman Wax wells Anfall hatte das Dienstmädchen sie schließlich wieder ins Bett gebracht. Da hatte es so ausgesehen, als würde die blasse junge Frau zusammenbrechen und nie wieder aufstehen. Aber in dem Augen blick, bevor sie ermattet auf die Kissen sank, raffte sich Ela zu einer letzten, wilden und unerwarteten Handlung auf. »Lady Ela, Eure Medizin!« Die schwarze Flasche flog durch die Luft und zersplitterte im Kamin in tausend Scherben. In dieser Nacht und während des folgenden Tages hatte Ela geschlafen, ohne sich auch nur zu rühren. Es sollte die letzte ruhige Nacht sein, die sie in den nächsten Monaten erlebte. Danach lag sie Nacht für Nacht wach, keuchte und schwitzte und starrte in die Finsternis, die von Phantomen bevölkert schien. Wie sie sich nach dem Vergessen sehnte! Die Tage waren von einer spröden Helligkeit, wie Eis, das jeden Augenblick zu brechen droht. »Heute ist es wärmer, findest du nicht?« fragte Umbecca. Aber Ela zitterte und konnte nicht antworten. Erschöpft und ausgemergelt kauerte sie vor dem
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Kamin, in dem ein Feuer loderte, rang die Hände, spielte mit ihrem Haar und zuckte gelegentlich - und unwillkürlich - mit einem Arm oder einem Bein. Währenddessen klickerten die Stricknadeln ihrer Tante munter vor sich hin. »Nimm dir doch etwas, Nichte. Diese Törtchen sind köstlich.« Aber Ela brachte keinen Bissen herunter. »Ich sende nach Goodman Waxwell!« brach es eines Tages aus Umbecca heraus, als Ela hingefallen war und nicht allein aufstehen konnte. »Nein«, flüsterte Ela. Goodman Waxwell! Durch die dämonische Umnachtung ihres Verstandes sah die junge Frau, wie der Arzt seine blutroten Lippen zurückzog und den Pfropfen der klebrigen kleinen Flasche zwi schen die Zähne nahm und herauszog. Plop! In Elas Gedächtnis wurde das fröhliche Geräusch lauter, plopp,plopp, bis es ein unheil volles, dröhnendes Echo war. Es war der Widerhall ihres Unter gangs, und obwohl es Zeiten gab, in denen Ela nur noch ihre Krankheit wahrnahm, ihre Sehnsucht, brannte jetzt ein Satz mit schmerzhafter Intensität in ihrem Bewußtsein: Sie haben versucht, mich um zubringen. Ja. Vielleicht hatten sie es nicht darauf abgesehen, ihren Körper zu töten. Aber sie hatten versucht, ihren Verstand auszulö schen. Ela ballte krampfhaft die Hände und öffnete sie wieder. Wie der spülte eine Woge der Sucht über sie hinweg. Wie sie sich danach sehnte, in dieses dunkle, süße Vergessen zu versinken! In der Welt des Sirups gab es nichts, was sie beunruhigte. Dort war alles süß und warm. Aber es war nur ein süßer, warmer Tod. Ela dachte an den Si rup und sah Waxwells Gesicht, das sie lüstern anblickte. Lachend. Sie würde nicht nachgeben. Niemals! Ich sende nach Goodman Waxwell! Die Worte ihrer Tante hallten laut in Elas Schädel wider. Sie umklammerte den Vorhang und schrie aus tiefster Seele auf. »Nein!« Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ selbst Umbecca verstum men. Die fette Frau trat zurück. Ihr Herz hämmerte, und sie preßte sich die gespreizte Hand auf die Brust. Sie schloß die Augen und seufzte bitterlich. Ihre Nichte war süchtig nach dem Sirup, aber ihre
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Tante bemerkte auch den Stolz in ihr und sah, daß er stärker war. Er würde die Sucht besiegen. In den folgenden Tagen kämpfte Ela hart und entschlossen, um sich aus dem klebrigen Griff des Sirups zu befreien. Umbecca ergriff die Klingel. »Nirry, hilf Lady Ela auf.« Nirry gehorchte. »Madam?« »Was, Mädchen?« »Wünscht Ihr noch etwas?« Umbecca seufzte. »Nein.« Nein. Sie würde Goodman Waxwell nicht holen lassen. Das stand außer Frage. Die Drohung war nur ein Versprecher gewesen, mehr nicht. »Ist es hier, Tante?« »Ja, Jem, das ist die Sakristei.« Jem spähte neugierig durch die rostigen Gitter. Das Haus war von einer hohen Mauer umgeben und wirkte groß und finster, auch wenn es fast von den wuchernden Pflanzen des Gartens verdeckt wurde. Die uralten Angeln quietschten protestierend, und Umbecca lächelte traurig, als der Junge ein wenig zögerlich die Tore öffnete. Sie mußten tiefhängenden Zweigen ausweichen, als sie mit knirschenden Schritten über den Schlackeweg gingen. »Warum nennt man es Sakristei, Tante?« »Aber Jem!« rief Umbecca ungeduldig. »Es ist eben die Sakristei. Hier lebte der Lektor.« »Und wer war der Lektor?« »Der bedeutendste Mann der Stadt.« »Bedeutender als der Herr?« Die fette Frau blieb stehen. »Du sprichst vom Herrn der Burg, Jem. Ich dagegen spreche vom Herrn des Tempels.« Jem drehte sich um. »Der Herr Agonis lebte hier?« Seine Tante war zurückgeblieben. Vielleicht hielt ihr schwerer Korb sie auf. Ihre Antwort wurde vom dichten Unterholz ge dämpft, und einen Augenblick klang ihre Stimme angespannt.
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»Aber nein, Jem. Nein, nein. Sein Mittelsmann. Sein Übermittler. Sein Pastor. Der Lektor.« Ihre Worte sagten dem Jungen nicht viel. »Das alles hat also mit früher zu tun? Als man geglaubt hat? Als noch alle glaubten, meine ich.« Der Junge blickte auf das alte, verlassene Haus und war für einen Moment merkwürdig beunruhigt. An einer Seitenwand war ein selt sames Gebilde angebaut. Es schien aus Glas zu bestehen. »Ja, Jem. Früher«, antwortete die fette Frau. Ihre Stimme klang nicht mehr angespannt, und das Knirschen verriet, daß sie weiter ging. Sie hatte sich genauso verändert wie ihre Nichte. Jetzt wirkte sie ruhig, beinahe wohlwollend. Diese Veränderung war nach der Nacht eingetreten, in der der Arzt verrückt geworden war. Es schien, als wäre sie nicht mehr die Person, die sie einmal gewesen war. Es hatte keine Besuche in Waxwells Haus mehr gegeben, und sie trug auch nicht länger den glitzernden, goldenen Kreis des Agonis um ihren Hals. »Sind wir jetzt da, Tante?« wollte Jem wissen. »Bald.« »Wie bald?« Seine Tante ging voraus und drehte sich bei seiner Frage um. »Armer Jem! Fällt dir das Gehen auf dem Schlackepfad schwer?« »Aber nein!« Jem atmete heftig. »Ich bin einfach nur hungrig, das ist alles!« Das stimmte. Die Sonne hatte ihren Zenit längst überschritten, und sie waren immer noch nicht an ihrem Ziel angelangt. Jem stützte sich mit roten Wangen auf seine Krücken und blickte der plumpen, watschelnden Gestalt seiner Tante hinterher. Sie waren auf der Rückseite des großen Hauses gegangen, dann durch ein Stück Gar ten, der das Haus vollkommen verbarg, und anschließend durch ein zweites, kleineres Tor, das in einen Obstgarten führte. »Als wir noch jung waren, sind Ruanna und ich an jedem Kano nischen Tag hierhergekommen. Wie glücklich wir waren! Plaudernd und kichernd sind wir in unseren Mädchenkleidern die Straße ent
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langmarschiert und haben unsere Sonnenschirme kreisen lassen! Der Lektor gab immer einen freundlichen Empfang nach dem Tem pelgottesdienst. Selbstverständlich nur für die bessere Gesellschaft! Es war schrecklich langweilig. Aber Ruanna und ich sind heimlich in den Obstgarten gelaufen. Wie sehr wir ihn geliebt haben! Und was für Träume wir beide damals hatten! Wir haben zur Weissagung hochgeblickt und uns gefragt, was wohl aus uns werden würde. Das war natürlich lange bevor der Herzog meine arme Schwester auser wählt hat. Oh, er hat sehr lange gebraucht, bis er sie erwählte!« Es roch süßlich nach reifen Äpfeln. »Hier, Jem«, sagte Umbecca einen Augenblick später. »Was ist denn, Tante?« Ihr Ziel war urplötzlich aufgetaucht, als sie um eine Hecke aus verflochtenen Zweigen herumgegangen waren. Es war ein moosbe wachsenes Gebäude, das vollkommen aus Marmor bestand. Zwei Stufen führten auf eine runde Plattform hinauf, die von einer halb kreisförmigen Bank umrandet war. Mitten auf der Plattform ruhte auf einem hohen Sockel eine riesige, geschmückte Schale, und über dieser Schale befand sich eine weitere mit zwei Figuren, die in der Luft zu schweben schienen. Eine Frau und ein Mann. Sie waren nackt, hielten sich an den Händen und sahen beinahe wohlwollend auf diejenigen herab, die auf der Marmorbank saßen und zu ihnen hinaufblickten. »Sie war die Lady, die er auserkor. Und die er wieder verlor«, sagte Jems Tante. Ihre Stimme klang abwesend. »Man sagt, daß sie eines Tages wieder vereint sein werden. Das ist der Herr Agonis, Jem. Der Herr Agonis und die Edle Imagenta.« Jem antwortete nicht. Er wußte nicht genau, was er sagen sollte. Statt dessen ging er vorsichtig um die geborstene Plattform herum, blieb stehen und blickte zu den kalten, weißen Körpern hinauf. Die Körper waren wunderschön, obwohl sie schmutzig und mit Moos bedeckt waren. Die Schale hingegen stank und war häßlich, und ihre verkrustete Rinne neigte sich in das flache, verdreckte Bassin. »Man nennt es die Weissagung. Sie zeigt, was noch nicht geschehen ist. Und ihr Bild schimmert im Wasser des Brunnens wie ein Traum.«
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Mit einem zufriedenen Seufzer nahm Umbecca das karierte Tuch aus ihrem Korb. Sie breitete es auf der Bank zwischen ihnen aus und strich es glatt. Nachdem sie den Korken aus einer Flasche mit Apfelwein gezogen hatte, holte sie das Brot, den Schinken und die Kalbszunge aus dem Korb. Dann die Körnerkuchen, die Brötchen und die Pasteten. »Ich glaube, wir haben uns eine kleine Stärkung verdient, Jem, findest du nicht auch?« »Und ob!« Jem lachte. Sie saßen im Schatten des wuchernden, verrottenden Obstgartens und aßen hungrig, kauten und reichten die Flasche hin und her. Während die Sonne allmählich unterging, schien nur ein Strahl hart näckig durch das Unterholz und tauchte die beiden Figuren auf dem Springbrunnen in ein seltsames Licht. »Verscheuch bitte die Fliegen, Jem, sei ein guter Junge!« Als sie satt waren, betrachteten sie die Statuen. Das goldene Licht leuchtete noch intensiver. »Sind sie das, was man eine Legende nennt, Tante?« »Hm?« Ein Windhauch ließ die Blätter hinter ihnen rascheln, und ein weiterer Apfel fiel mit einem leisen Plumpsen auf den Boden. Der Korb neben ihnen war vollkommen leer. Aber bevor sie gingen, würde er voller Früchte sein. »Sie sind doch eine Legende, nicht wahr? Wie Nova-Riel?« Seine Tante sah ihn beinahe scharf an. »Du kennst Nova-Riel?« »Barnabas ...« »Oh. Sicher. Weißt du, Jem, der Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein.« Mehr sagte sie nicht.
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»Hat dir der Spaziergang gefallen, Jem?« »Aber sicher!« »Natürlich hat er das.« Ela umarmte den Jungen. »Wie ich sehe, hast du ganz rote Wangen!« Die blasse junge Frau lag auf dem Sofa. Eine Decke verhüllte sie von der Taille an abwärts, und auf ihrem Schoß lag aufgeschlagen ein Roman. Es war ein albernes Buch, irgendein alter Schinken, den sie unter den Habseligkeiten ihrer Mutter gefunden hatte. Aber wenig stens war er schön lebendig! Mit ihm hatte sie den Nachmittag in Agondon verbracht, in der Welt der Spieltische und vornehmen Bälle. Arme Ela! Sie erlebte jetzt nur noch im Kopf Abenteuer. Einen Augenblick verschleierte sich ihr Blick vor Traurigkeit. Dann riß sie sich zusammen, lächelte und strich ihrem Sohn durch das blonde Haar. Wie groß er geworden war! Und wie stark! Mit jedem Tag wurde er Tor ähnlicher. »Ach Jem, wenn ich nur mit dir kommen könnte! Aber das macht nichts! Tante Umbecca wird dich wieder mitnehmen. Solange das schöne Wetter anhält. Das wirst du doch, Tante?« »Also wirklich, Nichte! Das ist doch selbstverständlich!« So war es beschlossene Sache. Der heutige Ausflug war nur der erste von vielen, die noch folgen sollten. In dieser heißen Jahreszeit mußte Stephel jeden Morgen die alte Mähre für die Fahrt den Fel sen hinunter aufzäumen. Weiter unten, in den flacheren, schattigeren Gegenden streifte der kräftige Junge mit seinen Krücken umher, während der alte Mann sich in den Trägen Tiger verzog. Jems Tante watschelte klaglos neben ihm - oder hinter ihm her. Letzteres kam immer häufiger vor. Und jeden Tag schwenkte sie ein Körb chen in ihrer dicken Hand, das bis zum Rand mit Schinken, Gepökeltem oder Hühnchen gefüllt war. Außerdem verbargen sich unter dem karierten Tuch Nirrys beste Kuchen, Pasteten und Hefe gebäck. Sie durchstreiften die ganze Gegend, nah und fern. Zweimal kehr
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ten sie zu dem überwucherten Obstgarten zurück, der eine merk würdige Faszination auf sie auszuüben schien. Sie betrachteten die beiden Figuren auf dem Brunnen und bemerkten, daß sich deren Gestalt veränderte, sich ihre Haltung verschob, wenn das Licht durch das Blätterdach fiel. Während seine Tante döste, erforschte Jem die Wege des Obstgartens und stellte fest, daß die Mauer an der entlegenen Seite das Grundstück der Sakristei von dem Friedhof trennte. Lange spähte er über die Friedhofsmauer. Die Grabsteine lagen still in der glühenden Sonne. Irgendwie störten sie ihn, aber er wußte nicht, warum. Ein zweiter Spaziergang führte sie zu einem Feld weit draußen vor dem Dorf, dort, wo die ersten Hügel des Hochlandes sanft anstiegen. Mitten auf dem Feld stand eine große, hölzerne Scheune. Sie wirkte leer und still gegen die finster drohende Burg und die schwindelerregende Fahlheit des Gebirgsmassivs in der Ferne. Froh gemut setzten sie sich mitten auf die freie Fläche und genossen den perlenden Apfelwein. Nach dem Picknick erkundete Jem die dämmrige Scheune und stocherte fröhlich in den Resten eines stroh trockenen Heustapels herum. Hier wimmelte es von Ratten! Ein dritter Ausflug führte sie an das Flußufer, über den Treidelpfad zu einer Stromschnelle, die seine Tante das Mühlgerinne nannte. Sie blickten über das Ufer auf das gedrungene Gebäude der Mühle mit seinem gewaltigen Mühlrad, das sich langsam drehte. An diesem Nachmittag lehnte der Müller am Geländer auf einer bau fälligen Plattform über dem Wasser. Umbecca grüßte ihn, etwas verlegen. Der Mann erwiderte den Gruß nicht. Er hatte sich einen lan gen Strohhalm aus seinem schäbigen Hut gerupft und kaute genüß lich darauf herum. Sie mieden die Dorfbewohner, so gut sie konnten. Auf ihren Spaziergängen umkreisten sie das Dorf und hielten sich auf ruhigen Ne benstraßen. Für Umbecca war das Gedränge auf dem Dorfanger unangenehm, und Jem fühlte instinktiv das gleiche. Genauso wie sie einen Bogen um den dichten, geheimnisvollen Wald machten, der sich an der Südseite dem Dorf anschloß. Manchmal überfiel Jem plötzlich Furcht, wenn er die Dorfbewohner ansah. Ohne zu wissen, weshalb.
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Aber einen Ort gab es, dem seine Tante nicht widerstehen konnte. Und Jem fühlte sich ebenfalls davon angezogen. An einem verschlafenen Spätnachmittag traten sie durch den verfallenen Bogen eines Portals. Mücken und Libellen summten träge durch das Gras, das fast so hoch war wie das Schilf am Fluß und be reits die zerbröckelnden Grabsteine überwucherte und auch den Weg, der sich zwischen ihnen hindurchschlängelte. Im Sonnenlicht war es glühend und grell, und die Schatten hoben sich scharf dage gen ab. Die Atmosphäre war merkwürdig, drohend, als würde aus gerechnet an diesem Platz, wo nichts geschehen konnte, im nächsten Moment etwas Unvorhergesehenes passieren. »Ist es wahr, Tante, daß die Toten hier umhergehen?« fragte Jem. An einem anderen Tag hätte Umbecca den Jungen nur ermahnt und sich darüber beklagt, daß er wieder einmal diesem Vaga-Aber glauben zugehört habe. Doch heute antwortete sie leise, beinahe nachdenklich: »Manche behaupten das jedenfalls. Ich habe es nie genau herausgefunden. Wenn wir sterben, gehen wir in Das Unergründliche ein, es sei denn, wir wären verrucht und würden in das Reich des Nichtseins verdammt. Aber man sagt, daß es Verfluchte gibt, die diese Welt nicht verlassen, obwohl der Tod bei ihnen ange klopft hat. Sie bleiben hier, in unserer Welt, aber sie sind nicht von dieser Welt. Sie verweilen an den Orten des finsteren Gottes Koros.« Umbecca rollte die Augen und beugte sich in theatralischer Pose zu ihrem Neffen herab, während sie die Hände zu Klauen ge krümmt hochhielt. Jem quietschte vor Entzücken und humpelte rasch davon. »Also ist der Friedhof ein Ort des finsteren Gottes, Tante?« fuhr er nach einer Weile fort. »Natürlich, Jem. Deshalb muß der Tempel auch auf dem Friedhof errichtet werden. Oder der Friedhof rund um den Tempel. Andern falls würde der finstere Gott zuviel Macht gewinnen. Deshalb dür fen die Toten nur vor dem Haus des Herrn Agonis liegen.« Jem war verwirrt. »Ist das denn jetzt der Ort von Agonis oder von Koros?« »Aber Jem, von Agonis, selbstverständlich! Der Tempel ist... war sein Haus, und er ließ es nicht zu, daß sein finsterer Bruder irgend
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etwas Böses in seinem Umkreis tat. Früher hat man Tunnel unter die Tempel gegraben, Jem, die sich vom Altar bis zu den Friedhofsmau ern erstreckten. Die Tunnel verliefen von einem Punkt hinter dem Altar aus in fünf Richtungen. Man nannte sie die Kreuztunnel. Da hinter steckte der Glaube, daß der gute Einfluß des Gottes Agonis bis zu den Grenzen des Friedhofs reichen und so den bösen Koros in Schach halten sollte.« »Gibt es hier auch einen Kreuztunnel, Tante?« »Nein, Jem, nein. Das hat man nur früher so gemacht.« Umbecca lächelte. Der Junge konnte manchmal wirklich sehr naiv sein! Sie richteten ihre Blicke auf die Kletterpflanzen, die den Vorraum des Tempels überwucherten. Eine geheimnisvolle Ehrfurcht durch drang Jem, als sie die Treppe hinaufstiegen. Umbecca hielt die Kletterpflanzen auseinander, und ihr Neffe trat hindurch. Es war, als hätten sie eine dunkle Höhle betreten. Jem warf schweigend einen Blick auf das verbarrikadierte Portal. Der Weg vor ihm war uneben und voller welker Blätter. Ein alters schwacher Schaukelstuhl stand da, ein toter Vogel lag davor und ein halb aufgewickeltes Seil. Wenn man sich umdrehte und durch das Efeu auf die helle Welt dahinter sah, fühlte man sich wie in einem kühlen, grünen Gefängnis. In diesem Moment fiel Jem das kleine Mädchen wieder ein ... Das Mädchen auf dem Weg, das sich umgedreht und ihn verspottet hatte. Einen Augenblick glaubte er, sie stände wieder hinter dem Schleier der Kletterpflanzen, wie damals. Eine geisterhafte, trotzige Gestalt. Das war der erste Tag gewesen, an dem er versucht hatte aufzu stehen. »Wir sind nie wieder hierher zurückgekommen, Tante, stimmt's?« »Wie bitte, Jem?« »Ich erinnere mich noch daran, wie wir früher hierhergekommen sind. Als ich klein war. Danach sind wir nie wieder hiergewesen.« »Ja, Jem, das stimmt.« Umbecca hatte dem Jungen den Rücken zugedreht und zögerte unsicher vor den verbarrikadierten Türen. Ihre Stimme klang sehnsüchtig, als sie weitersprach. »An dem Tag gab es eine Vaga-Kir-
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mes, Jem. Es war unsere Pflicht, in dem Tempelvorbau Wache zu halten. Um zu verhindern, daß die Vagas den Tempel entweihten. Na ja, jedenfalls hatten wir das vor. Weißt du, ich glaube, es war das letzte Mal, daß die Vagas gekommen sind. Und es war das einzige Mal seit der Belagerung.« Umbecca legte ihre Hand auf eine rostige Kette. Traurig mußte sie sich eingestehen, daß am Ende die Zeit ganz ohne die Hilfe der Vagas den Tempel von Irion entweiht hatte. Die Zeit und ein Krieg, der vor langer Zeit getobt hatte. Die rostige Kette löste sich. Jems Tante schrie vor Schreck leise auf. Die Barrikaden waren verrottet, und mit einem klagenden Knarren schwang ein Türflügel auf. Langsam und ehrfürchtig be traten der Junge und seine Tante die große Höhle des Tempels. In seinem Inneren war es fast vollkommen dunkel. Das einzige Licht spendeten die spärlichen Sonnenstrahlen, denen es gelang, sich ei nen Weg durch das dichte Geflecht der Blätter, die Spalten der La den vor den verstaubten Fenstern und die Spinnweben im Inneren zu bahnen. Von den hohen Pfeilern und dem Deckengewölbe hin gen Staubflocken wie Fahnen herunter. Es roch faulig. »Ich war seit zwei Zyklen nicht mehr hier«, flüsterte Umbecca gedankenverloren. »Seit fast drei Zyklen sogar.« Jem arbeitete sich Schritt für Schritt weiter. Auf den Fliesen unter seinen Füßen hatte sich eine Schicht aus Vogelkot, Staub, Gips und matten Glasscherben gebildet, die bei jedem Schritt knirschte. Ratten huschten vor seinen Krücken davon. Jem humpelte an den mit Schnitzereien verzierten Bankreihen vorbei. Am Ende des Gangs blickte er zum Altar hoch. Ein großer Kreis des Agonis aus Mahagoni war von der Wand heruntergefallen und lag schräg auf dem Boden. Jem ließ seinen Blick über die stei nerne Kanzel gleiten, wo die modernden Reste eines großen Buches mit einer Kette an einem Lesepult befestigt waren. Jem trat an eine Seitenwand. Fasziniert betrachtete er die Monumente der berühmten Toten: die Gedenktafeln an der Wand, die wie Leserollen aussahen, die Gedenksteine im Boden, die Grüfte, die von liegenden Gestalten geschmückt wurden. Ein Ritter in voller Rüstung lag neben seiner Lady, die Hände im kalten, steinernen Tod
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verschränkt. Es war der vierte Erzherzog von Irion. Hier ruhten alle sterblichen Überreste der Erzherzöge, deren Ahnenreihe sich in endlosen Epizyklen weit in die Vergangenheit erstreckte. Es schoß Jem durch den Kopf, daß er hier all die Gesichter aus der Langen Galerie wiederfinden konnte, verrottet bis auf ihre Totenschädel, eingemauert in diesen Wänden und unter diesen Böden. Es war ein merkwürdiger, trauriger Gedanke, und er wollte mit seiner Tante darüber reden. »Tante?« Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen, seit sie den Tempel betreten hatten. Während der Junge durch den Mittelgang und an den Wänden entlanggestreift war, hatte sich Umbecca schweigend in eine Bank gesetzt, die einigermaßen frei von Abfall war, und verharrte dort regungslos. »Tante?« Sie antwortete nicht, und als er sich ihr näherte, sah Jem, daß sie weinte.
8. Eine höchst unangenehme Angelegenheit Nur einer ihrer Ausflüge erwies sich als Fehlschlag. Er wurde von etwas verdorben, das Jems Tante später als »eine höchst unange nehme Angelegenheit« bezeichnen sollte. Sie hatten einen neuen Weg eingeschlagen und waren dem Fried hofspfad nicht zur Sakristei, sondern in die andere Richtung gefolgt, zu einem Ort am Rand des Waldes, an dem sich laut Umbecca die Blütenhütte befinden sollte. Sie sagte, es wäre einst die Heimstatt einer alten Dienstmagd gewesen, und erklärte, daß sie und ihre Schwester auf ihren Wohltätigkeitsbesuchen oft hier vorbeigekom men wären. Aber nachdem sie sich immer weiter vom Dorf entfernten und an mehreren Weggabelungen abgebogen waren, fragte sich Jem, wo diese Blütenhütte denn sein könnte. Seine Tante war vollkommen in
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Erinnerungen versunken und dachte keine Sekunde daran, daß sie sich vielleicht verirrt haben könnten. Sie redete von der Hochzeit ih rer Schwester mit dem Erzherzog und den großen Feierlichkeiten, die darob in den Tälern begangen wurden. »Alle haben gesagt, daß es eine der Rench-Schwestern werden würde. Umbecca oder Ruanna. Weißt du, daß im Trägen Tiger sogar Wetten abgeschlossen wurden? Stell dir das mal vor! Natürlich gab es keine echte Konkurrenz zwischen uns. Wirklich, überhaupt keine.« »Aber du bist froh, daß du nicht auserwählt wurdest, Tante. Hab ich recht?« Es war seit einiger Zeit das erste, was Jem sagte. »Hm?« »Er war ein Verräter. Der Erzherzog.« Umbeccas unbekümmertes Geplapper verstummte. Sie lächelte schwach, und Jem dachte nicht zum ersten Mal, daß sie ohne den goldenen Kreis des Agonis, den sie sonst immer um den Hals getra gen hatte, merkwürdig nackt aussah. Er nutzte die Pause: »Tante, haben wir uns verirrt?« Natürlich hatten sie sich verirrt, aber das war nicht die höchst unangenehme Angelegenheit. »Meine Güte!« Umbecca war plötzlich zerknirscht. »Ich war so sicher, daß ich den Weg noch weiß. Aber immerhin ist es ... meine Güte, mehr als vier Zyklen her!« Sie hielt inne und schien tief in Ge danken zu versinken. Dann atmete sie tief auf und sagte: »Ich glaube, mein Lieber, wir sollten lieber zurückgehen, findest du nicht?« Jem fröstelte. Durch den grünen Baldachin der Ulmen sah er, wie die Sonne allmählich unterging. Der Wind, der nun aufkam, war keine warme Brise, sondern eine kalte Bö. Einige Augenblicke spä ter fing es an zu regnen. Die Tropfen drangen durch das Blätterdach. Sie hatten sich nicht nur verirrt, sondern wurden jetzt auch noch klatschnaß. Aber auch das war nicht die höchst unangenehme Angelegenheit. Die höchst unangenehme Angelegenheit ereignete sich, nachdem dieser plötzliche Schauer sich gelegt hatte und sie fast schon, wie sich später herausstellte, den Rückweg zum Dorf gefunden hatten.
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»Wirklich, mein Lieber, ich dachte, ich wüßte den Weg! Ruanna und ich waren stets so emsig bei unseren Wohltätigkeitsbesuchen. Wirklich fleißig! Immerhin wußten wir, was es heißt, keine blendenden Aussichten zu haben. ›Mädchen‹, sagte unsere Mutter im mer zu uns. ›Es ist euer Schicksal, adlig zu sein, aber nur dem Namen nach. In dieser Welt werdet ihr nur durch eure Schönheit wei terkommen.‹ Ich möchte behaupten, daß niemals jemand ein wahreres Wort gesprochen hat.« »Tante!« Jem schrie als erster auf. Später würde er sich ein wenig schämen, daß seine Stimme so kläglich geklungen hatte, weil sein Hals wie zugeschnürt gewesen war. Aber auch Umbeccas Stimme hörte sich seltsam an. »Jem! Meine Güte! Bei unserem Herrn Agonis!« Sie umklammerten sich zitternd. Vor ihnen auf dem nassen Weg stand eine große, katzenartige Kreatur mit einem gestreiften Fell, die sie neugierig beäugte. »Tante, ist das der Tiger?« »Es ist der Tiger, Jem. Ich habe früher Geschichten von ihm gehört, aber nie geglaubt, daß es ihn wirklich gibt ... Meine Güte, ich glaube, er springt uns gleich an. Glaubst du das auch, Jem?« Sie plapperte weiter, aber Jem starrte schweigend in die goldenen Augen. Während ihn die geheimnisvollen Schlitze eindringlich musterten, überkam den Jungen eine merkwürdige Ruhe. Er glaubte nicht, daß der Tiger ihnen Schaden zufügen würde. Um sie herum herrschte tiefstes Schweigen, bis auf das Tröpfeln des Regens von den feuchten Blättern. Doch unvermittelt durch drang ein leiser, stetiger Ton die Stille. Es war kein Heulen und kein Summen, sondern etwas dazwischen. Und das Geräusch war von einer einzigartigen Reinheit. Die Augen des Tigers flammten plötzlich hell auf, dann senkte er den Kopf, drehte sich rasch um und verschwand zwischen den Bäu men. Erst jetzt, nachdem der Tiger verschwunden war, sah Jem den Fremden, der den Ton von sich gegeben hatte. Die große Gestalt mit der Kapuze stand neben dem schlammigen Weg im Schatten, kaum zu erkennen.
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Jems Herz hämmerte. Erst jetzt bekam er Angst. Aber er bemerkte, daß seine Tante kein bißchen Furcht zeigte. »Silas!« Sie spie den Namen aus wie eine verdorbene Frucht. »Meine teure Umbecca! Nein, nein, bedanke dich nicht.« Der Tonfall des alten Mannes war ironisch, beinahe amüsiert. »Silas, wir haben uns verirrt. Wie finden wir zum Dorf zurück? Das wirst du uns doch verraten, stimmt's?« fuhr sie ihn an, als hätte der alte Mann diese Information schon einige Zeit zurückgehalten. »Aber Umbecca! Tu nur nicht so, als würdest du dasselbe für mich tun!« Der alte Mann kicherte, streckte den Stab aus, deutete damit in eine Richtung und drehte sich um. Im nächsten Augenblick war auch er zwischen den Bäumen ver schwunden. Das Treffen war vorüber. Und das war es, was Umbecca eine höchst unangenehme Angelegenheit nennen sollte. »Tante, was war das für ein Mann?« fragte Jem erstaunt. Noch mehr als diese Begegnung verblüffte ihn die verhemente Antwort seiner Tante. »Ein böser Mann!« stieß Umbecca hervor. »Ein böser, böser Mann!« Schon bald, nach der nächsten Kurve der schlammigen Straße, kam das Dorf in Sicht.
»Es ist schon so lange her.« »Ja, nicht?« »Ich habe es vermißt.« »Ich weiß.« Bohne fühlte sich beinahe wieder wie ein Junge, während er un beholfen vorneweg stolperte. Farnkräuter streiften seine Schenkel, und der Baldachin des Wildwaldes erhob sich über ihm, gewaltig und strahlend. Grün, grün wächst der Wildwald, sang er mit tonlo
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ser, brüchiger Stimme und vertrieb die Schwalben von den nahegelegenen Bäumen. »Polty, komm schon!« rief Bohne fröhlich. Die heißen Tage der Jahreszeit des Theron dauerten diesmal scheinbar endlos, und mit jedem Tag, der verstrich, wuchs auch Bohnes Glückseligkeit. Das beunruhigende Gefühl war verschwunden. Polty hatte sich verän dert. In seiner Weste und mit dem Ring am Finger war er ein anderer Junge. Manchmal schien es sogar, als wäre die Vergangenheit zurückgekehrt. So wie jetzt waren die Jungen früher in vielen Jah reszeiten zum Fluß baden gegangen. Ihre groben Handtücher hat ten sie über die Schulter geschlungen. »Polty, was ist das für ein Geheimnis, das du mir nicht verraten willst?« fragte Bohne, als sie tiefer in den Wald kamen. Polty mußte lachen. Es war eine alberne Frage, aber Bohne war so glücklich, daß er dachte, er würde vielleicht doch eine Antwort be kommen. »Warum glaubst du, daß ich ein Geheimnis habe, mein Freund?« »Ich weiß es eben, Polty Du hattest immer Geheimnisse.« »Das stimmt nicht. Ich hatte Ideen. Ich habe Ideen«, verbesserte er sich selbst. Bohne hakte nach einer kurzen Pause nach. »Und was für Ideen hast du jetzt, Polty?« Der Fluß schimmerte in einiger Entfernung zwischen den Bäu men hindurch. Polty schlug spielerisch nach dem spindeldürren Arm seines Freundes. »Wer als erster am Fluß ist!« Im selben Moment rannte er los. Dieses Spiel kannte Bohne auswendig. Aber etwas hatte sich geändert. Diesmal lief es anders. Polty lag schon weit vor dem Ziel zurück. »Ich kriege keine Luft. Ich kann nicht mehr!« »Polty?« Er lehnte an einem Baum und winkte Bohne mit seinen plumpen Händen weiter, drängte den schlaksigen Jungen weiterzulaufen. »Geh, Freund, lauf. Ich bin einfach nur außer Atem. Lauf!« Einen Augenblick zögerte Bohne, doch dann stürmte er los. Und lief immer weiter.
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Bohne wurde immer schneller, und plötzlich rannte er, so schnell er konnte. Er hastete durch die Pracht, die ihn umgab, sprang über umgestürzte Bäume und brach triumphierend durch das hinderliche Unterholz. Er warf den Kopf zurück. Und jauchzte vor Freude. Bohnes Glieder waren nutzlos. Bohne dachte das, und alle anderen dachten das auch. Aber jetzt wurden die Gliedmaßen, die so albern lang waren, denen er niemals befehlen zu können schien, wohin er ge hen wollte, jetzt wurden diese Glieder von einer starken, befehlenden Kraft geführt. Der Fluß schälte sich aus dem dichten Grün, doch Bohne stürmte weiter, so daß er beinahe ins Wasser gestürzt wäre. Er taumelte am Ufer entlang und wedelte wild mit den Armen. »Ich habe gewonnen!« rief er in den Wald zurück. »Polty, ich habe gewonnen!« Der prachtvolle Fluß nahm seine Aufmerksamkeit gefangen, und der Geruch drang ihm in die Nase. Bohnes Stiefel sanken in dem nassen Sand des Ufers ein. Er riß sie sich von den Füßen. Der Fluß war in der hellen Jahreszeit ein Wasserfall aus Energie, der triumphierend durch sein steinernes Bett rauschte und sich zwi schen den grünen Hügeln des Wildwaldes entlang schlängelte bis zu den tückischen Stromschnellen des Mühlgerinnes stromabwärts. Bohne teilte die Wellen mit seinen sehnigen Armen und hielt sich wassertretend gegen die starke Strömung. Doch später sollte sich Bohnes Freude in Beunruhigung verwandeln. »Polty?« rief er. »Polty?« Bohne lag erschöpft am Ufer. In diesen wilden Momenten hatte er überhaupt nicht an Polty gedacht. Und jetzt fragte er sich, ob Polty überhaupt aus dem Wald herausgetreten war. Hatte Polty den Wettlauf beendet? Bohne rappelte sich auf. Da sah er die bunten Farben im Gras aufleuchten. Poltys Weste. Hastig hob er sie auf und wirbelte herum.
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Wasser. Felsbrocken. Aber Poltys leuchtender Haarschopf war nirgends zu sehen. Bohne lief am Ufer entlang; seine Schritte verursachten im Morast ein unangenehmes Geräusch. »Polty!« rief er, »Polty!« Die voluminöse Weste wehte dabei in seiner Hand, verfing sich in den Zweigen und schleifte im Schlamm. Die Sonne, die auf dem Wasser funkelte, brannte ihm in den Augen. Bohne atmete heftig. Er wußte nur, daß etwas passiert war, auch wenn er sich nicht genau vorstellen konnte, was es war. Er konnte nicht nachdenken. Doch es würde ihn etwas erwarten, das allein wußte er. Flußabwärts. Erst später beschlich Bohne ein Gefühl, das ihn nicht mehr ver lassen sollte, das in ihm wuchs, den ganzen langen, denkwürdigen Nachmittag hindurch. Es war das Gefühl, daß jemand ihn beobachtete. Jemand Geheimnisvolles. Jemand Verborgenes. Dort, wo sich der Fluß vom Wildwald abwendete, kurz vor den ge fährlichen Stromschnellen des Mühlgerinnes, ragte ein Felsvor sprung über das Wasser hinaus. Die Dorfbewohner nannten ihn den Todesfelsen. In der Frühzeit, in den Tagen des Ersten Königreiches, hatten die Häuptlinge der Tarn gemäß ihrem primitiven Urrecht ihre Feinde von diesem Felsen gestoßen, gebunden an Händen und Füßen. Die Körper wurden rasch vom Wasser mitgerissen, herum geschleudert und zu der Stelle gespült, wo der Fluß über die Strom schnellen in die Tiefe stürzte und über Felsbrocken schäumte. Wer überlebte, so lautete der Erlaß, war ein freier Mann. Aber das gelang nur wenigen. Später, in den Zeiten der Reinheit, war es Sitte, daß sich diejenigen, die in Sünde gefallen waren, der Justiz des Mühlgerinnes über antworteten. Die Gefallenen, meistens unverheiratete Mädchen, suchten im Tod Rettung vor der Schande. Den Kindern verbot man, am Todesfelsen zu spielen.
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Sie taten es trotzdem. Bohne lief zu dem Felsen. Früher hatten Die Fünf hier gespielt. Und sehr oft hatten die beiden ausdauerndsten Schwimmer, Polty und der Sohn des Hufschmieds, sich in den gefährlichen Gewässern gegenseitig herausgefordert und miteinander darum konkurriert, wer am dichtesten an das Mühlgerinne herankam und sich gegen die Strömung wehren konnte. Natürlich wußten sie, wer der Sieger sein würde. Du wirst zu schnell müde, Vel. Das ist dein Problem. Ich habe ja auch nicht deinen Walfischspeck! Du wirst zu schnell müde. Bohne stürmte los. »Was ist passiert?« Aber er wußte es sofort. Auf dem Ufer unter dem Vorsprung des Todesfelsens hockten Leny und Vel, der sein Hemd ausgezogen hatte. Sie beugten sich eifrig und tropfnaß über Polty, der auf dem Rücken ausgestreckt dalag. »Ist er tot?« Bohnes Stimme klang schrill. »Polty! Polty!« Leny schlug ihm auf die dicken Wangen. »Hallo.« Er öffnete die Augen. »Bohne, da bist du ja.« Der dicke Junge hustete und setzte sich mühsam auf. Sein Torso, ein weißer, nackter Fleischberg, faltete sich in mehrere Fettrollen. Rote Haare klebten zwischen seinen fast schon weiblichen Brüsten, und seine nasse Hose schmiegte sich eng an seine mächtigen Schenkel. »Das ist vielleicht ein Freund!« Er grinste Leny an. »Bohne?« »Er weiß, daß ich krank bin. Und? Kümmert er sich um mich? Nein. Er läßt es zu, daß die Strömung mich mitreißt. Andererseits, was könnte so ein Kümmerling schon ausrichten? Leny, ich glaube, du hast den Besseren von unseren beiden Freunden erwischt.« Er drückte mit seiner plumpen Hand Vels Arm. »Hart wie Stein! Du hast mir das Leben gerettet, mein Freund.« Der Sohn des Hufschmieds grinste. »Du bist ein Held, Vel, weißt du das?« Bohne war elend zumute. Da er erst auf dem Schauplatz des Geschehens aufgetaucht war, nachdem alles vorbei war, fühlte er sich
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jetzt wie ein Tölpel. Die aufwallende Kraft von vorhin verrann wie Wasser aus einem löchrigen Eimer. Hätte er Polty vor der Strömung retten können? Damals, in der Zeit Der Fünf, war er immer der Schwächste gewesen, und daran hatte sich auch jetzt nichts geändert, wo sie nur noch zu viert waren. »Ich hab dir deine Weste mit gebracht, Polty«, brachte er kläglich hervor und hielt das beschmutzte Kleidungsstück hoch. Hätte sein Freund ihn daraufhin geschlagen, hätte Bohne geglaubt, daß er es vollkommen verdiente. Doch statt dessen nahm Polty einfach nur ruhig die Weste und zog sie sich über seinen wabbelnden Bauch. »Wir wollen picknicken«, erklärte Leny und hakte sich bei Polty ein. »Aber das haben wir dir ja erzählt, stimmt's?« »Ich glaube nicht«, entgegnete Polty »Bohne und ich wollten nur ein bißchen an den Fluß gehen, mehr nicht. Was für ein glücklicher Zufall! Na gut, wir verduften. Lassen wir die Türteltäubchen allein!« »Sei nicht albern, Polty Komm schon, du mußt uns Gesellschaft leisten.« Dem fetten Jungen blieb keine Wahl, als nachzugeben. Die kleine Gruppe marschierte zum Felsen hoch, wo Leny auf ei nem karierten Teppich ein verschwenderisches Mahl angerichtet hatte. Pasteten, kaltes Hühnchen und Vanilletörtchen, reichlich Bier und Wein, die Flaschen sorgsam aufgereiht. »Geht es dir gut, Polty?« fragte Leny, als der Ehrengast es sich auf einer Ecke des Teppichs bequem machte. Das heißt, eigentlich belegte er fast den halben Teppich mit Beschlag. Sie schob ihm den Korb hin. Der fette Junge wirkte ein bißchen blaß, das stimmte. Der arme Polty! Bekam er etwa wieder einen Anfall? »Ein winziger Schluck, das ist alles«, sagte er. »Hm? Etwas zu trinken? Ich hole dir was!« Doch das meinte Polty nicht. Er suchte in seiner Westentasche. »Ah! Wenigstens hat er nicht auch noch das hier verloren!« sagte er erleichtert mit einem Seitenblick auf Bohne und zog die kleine schwarze Flasche hervor, die sein Freund schon einmal gesehen hatte. Plopp! Er zog den Korken heraus und setzte die Flasche an die Lippen. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick.
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»Ah ...« Polty lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück, stöpselte die Flasche wieder zu und ließ sie in der Innentasche sei ner Weste verschwinden. »Meine Medizin«, murmelt er. »Ein winzi ges Schlückchen. Mehr braucht es nicht.« Aber im Laufe des Nachmittags holte Polty das Fläschchen im mer wieder aus der Versenkung. Das Picknick war ein wahrer Genuß. Die Gruppe gestattete dem in Ungnade gefallenen Bohne, sich zu ihnen zu gesellen. Er sah verdrießlich zu, wie sie Wein und Bier in sich hineingössen und Hühnchen, Pasteten und Vanilletörtchen ver schlangen. Bohne aß nur wenig, aber keiner achtete weiter auf ihn. Mittlerweile hatte das merkwürdige, beunruhigende Gefühl in ihm eingesetzt; eine Empfindung, daß sie nicht allein waren. Er hätte vielleicht etwas gesagt, aber er brachte kein Wort heraus. Bohne spürte, daß er für die anderen einfach nicht existierte. Der arme Bohne! Die Sonne schien strahlend auf den hohen, glatten Felsen. »Es ist beinah so wie früher, stimmt's?« sagte Leny und stopfte eine Jarvel-Pfeife. Sie dachte liebevoll an früher, an die Zeit Der Fünf, und tatsächlich wies der Nachmittag eine gewisse Ähnlichkeit mit einigen Tagen aus ihrer Kindheit auf. Wie glücklich sie damals gewesen waren! Nackt und braungebrannt nach den langen Tagen am Fluß versammelten sich Die Fünf auf dem goldüberfluteten, glühendheißen Felsen. Die Hitze tat ihnen gut, sie sprangen ins Was ser, sie schwammen ein paar Züge, kletterten heraus, abgekühlt, und stiegen wieder auf den Felsen. Die Strömung konnte ihnen nichts anhaben. Damals waren sie jung, geschmeidig wie Tiere. Mittlerweile waren sie älter geworden. Polty wühlte in seiner Weste nach seiner Medizin. »Was ist das?« fragte Leny träge und beäugte die kleine, verstöpselte Flasche. Da mals in den Zeiten Der Fünf hatten die Freunde oft merkwürdige Tränke und Pulver ausprobiert, die ihr pummeliger Anführer ange schleppt hatte. Von Vater, hatte er lachend gesagt. Er wird es nie rauskriegen. So war die kleine Bande sehr frühzeitig in die Gefilde dieser merkwürdigen Mixturen eingeführt worden. Sie hatten bald
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festgestellt, daß die Medizin, die dafür ersonnen worden war, die Kranken zu heilen, den Gesunden half, sich noch besser zu fühlen. Oder schlechter. »Versuch es.« Polty hielt Leny die Flasche hin. »Mmh. Es ist köstlich. Wie Sirup, stimmt's?« »Nur ein bißchen, mehr braucht es nicht.« »Ja! Schön abgekühlt«, sagte Vel und ließ sich tropf naß wieder ne ben Leny auf der Decke nieder. Sie hielt ihm die kleine Flasche an die Lippen. »Koste mal, Vel.« Vel gehorchte. »Mmh. Schmeckt gut.« Er hatte seine Hose ausge zogen und lag auf dem Rücken. Den Hals hatte er nach hinten ge bogen, und sein Adamsapfel war deutlich zu sehen. Klare Wasser tropfen liefen glitzernd über seine Haut. »Wo ist der Sirup?« fragte er eine Sekunde später. »Ja. Mmh. Der Sirup«, stimmte Leny mit ein. Dicke Finger reichten ihnen die Flasche. »Ein bißchen, nur ein bißchen. Mehr braucht es nicht.« Aber die Flasche wurde noch häufiger herumgereicht, obwohl nur Vel und seine zukünftige Braut da von kosteten. Bohne wurde übergangen und konnte nur zugucken, aber er verspürte keinen Neid. Jedenfalls kaum. Irgend etwas ließ dem dünnen Jungen keine Ruhe. »Ein Tropfen auf die Zunge, nur ein winziger Tropfen«, sagte Polty und unterbrach die Geschichte, die er gerade erzählte. Er würde sie niemals weitererzählen. Und es war auch nicht wichtig. Es war ein bloßes Fragment aus der Kindheit und wurde wie von der Strömung davongetragen. Vel rieb sich die Augen. »Hast du was im Auge?« Polty beugte sich über den rücklings da liegenden Jungen. »Laß mich mal sehen.« Er zog das Augenlid zurück und betrachtete mit wissenschaftlicher Gebärde das Auge, als wäre er tatsächlich der Sohn des Arztes. »Nein, ich glaube nicht.« Er ließ das Lid zurückschnappen. Leny und Vel schliefen schon fast; Leny lag auf der Seite, an Vel geschmiegt, und ihre vollen Brüste hoben sich beinahe aus dem Ausschnitt ihres Kleides. Um
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sie herum verteilten sich Knochen und leere Flaschen auf dem Felsen, und die Decke unter ihnen war zu einem karierten Gebirge zer knittert. »Irgendwas ist in meinem Auge«, murmelte Vel träge. »Nein. Da war nichts.« »Polty, was machst du da?« Es war Bohne, der diese Frage stellte, aber er bekam keine Ant wort. Der fette Junge hatte seine massige Gestalt neben den Sohn des Schmieds gewuchtet. Einige Augenblicke passierte gar nichts. »Vel?« »Mmh?« »Vel?« Polty sprach leise. »Ich hab es nicht so gemeint, weißt du. Was ich gesagt habe. Als ich sagte, du stammtest von einem Zenza ner ab. Das wollte ich dir sagen, Vel. Ich meine, daß ich es nicht ge meint habe. Und ich wollte es dir schon früher sagen.« »Mmh. Mmh.« »Was machst du da, Polty?« Bohne runzelte die Stirn. Er hatte eine dunkle Vorahnung und wollte plötzlich aufschreien: Polty! Jemand beobachtet uns! Aber irgendwie konnte er es nicht. Polty strich mit der Hand über Vels Körper. Er betastete seine Brustmuskeln, seine Schenkel. »Ach Vel, du bist so stark. Und ich bin so schwach. Ich bin nur ein häßlicher rosa Fleischkloß. Und außerdem auch noch krank! Wir beide sind keine wirklichen Kon kurrenten, hab ich recht? Du hast deine Überlegenheit bewiesen, Vel. Du bist einfach besser. Der beste. Der Anführer Der Fünf. Die Strömung könnte dir selbst jetzt nichts anhaben, richtig?« Während der fette Junge diese Worte flüsterte, strich er mit einem Finger von dem Unterleib des Jungen hoch zu seinem Adamsapfel, der scharf hervorstand. Es war der Finger, an dem er den Amethyst ring trug. Dann nahm er die Hand fort und wiederholte: »Die Strö mung würde dich auch jetzt nicht mitreißen - oder vielleicht doch?« Dann schnippte er einmal vor Vels Gesicht. Im gleichen Augenblick klickte es in Bohnes Gehirn. Das war Poltys Geheimnis! Jetzt kannte er es. Die glühende Bewunderung,
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die er für seinen Freund verspürte, rang in seinem Inneren mit einer Woge des Entsetzens. »Polty! Nicht!« Aber Vel war schon aufgestanden und stolperte vorwärts. Bohne griff absurderweise nach Polty. Er schrie laut auf, aber seine Rufe verhallten wirkungslos in der Luft. Es war so, als hätte der dünne Junge keine eigene Willenskraft, als könnte nur Polty ihren Freund retten. »Bohne, sei kein Narr!« Polty stieß ihn weg. »Verstehst du das nicht? Das hier wird dich für immer an mich binden!« »Polty, jemand beobachtet uns!« Aber Polty hörte ihm nicht zu. »Spürst du das denn nicht, Polty?« Natürlich konnte Polty es nicht spüren. »Was ist denn los ?« Leny rappelte sich hoch. Mühsam und mit trübem Blick tauchte sie einen Moment aus der Tiefe ihrer Trance auf und sah, wie Vel ins Wasser sprang, wie er es vorhin auch getan hatte. Und so oft zuvor. Sie hatte gehört, was Polty sagte. Vels Überlegenheit war bewie sen. Ja. Aber was ging hier vor? Die goldenen Lichter vor ihren Au gen bildeten merkwürdige Muster. »Liebe Leny ...«, sagte eine Stimme. Vel? War er schon wieder zurück? Leny sank nach vorn, doch die Arme, die sie auffingen, gehörten nicht Vel. Sie wirkten wie weicher Teig, klebrig und schwer von den Fettmassen, die an den Knochen hingen. Brennende Flüssigkeit stieg ihr in den Hals, und ihre Knie gaben nach. »Leny, Leny. Liebe Leny ...« »Polty!« Bohne sprang auf. Doch er erntete nur einen Schlag auf den Kopf, als sein Freund nach ihm ausholte. Er schwankte und blickte wie irre umher. Der Felsen, der Fluß. Der Fluß, der Felsen. »Hübsche, schöne Leny ...« Grobe Hände zerrissen ihr Kleid. Darunter war sie nackt.
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Vels Kopf hüpfte auf den tobenden Fluten. Bohne sprang vor. »Entzückende Leny«, flüsterte Polty. Er drängte sie ohne Gegen wehr auf die karierte Decke. Bohne sprang. Der Felsen. Der Fluß. Polty atmete stoßweise. Erst war da der Schock der ersten Stromschnelle. Dann kam die Panik. Bohne verlor jegliche Kontrolle. Er schlug heftig um sich. Später würde er denken: Ich habe versucht, ihn zu retten. Er würde denken: Niemand konnte etwas tun. Doch irgend jemand erbarmte sich seiner, als die Strömung ihm einen Ast zuspülte. Bohne packte den Ast. Heftig rudernd schwamm er zum Ufer. Schwer atmend blieb er im Schlamm liegen. Der Fluß war überall, er erfüllte ihn, vereinnahmte ihn. Die ganze Welt schien nur aus einem silbrigen Wasserfall zu bestehen, der auf das gewaltige Mühlgerinne zuströmte. Er rappelte sich hoch. Wir beide sind keine wirklichen Konkurrenten, hab ich recht? Bohne lief am matschigen Ufer entlang. Du hast deine Überlegenheit bewiesen, Vel. Er rannte immer weiter, zum Mühlgerinne. Der Anführer Der Fünf. Bohne kam gerade noch rechtzeitig an, um zu sehen, wie der zerschmetterte Leichnam von dem Mühlrad in die Luft gehoben wurde. Bohne schrie laut auf. Er sank auf dem sumpfigen Ufer auf die Knie und schloß die Au gen. Als er sie wieder öffnete, wie ihm schien, eine Ewigkeit später, sah er auf dem anderen Ufer die kleine, zerlumpte Gestalt, die sie den ganzen Nachmittag beobachtet hatte. Die dunklen Augen über
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den hervorstehenden, schrägen Wangenknochen starrten unbewegt in Bohnes fassungsloses Gesicht. Das lange dunkle Haar des Mädchens wehte in der Luft. Es war Cata.
Cata wußte es.
Die Kutsche schien eine Kurve zu fahren. Der Kaplan wurde an die gepolsterte Wand gedrückt und erlaubte sich die Freiheit, den Vorhang etwas zu lüften. Die Kurve lag auf einem Hügelkamm. Als er hinunterblickte, sah der Kaplan den rie sigen Konvoi wie auf einem Panoramabild vor sich ausgebreitet. An seiner Spitze fuhren sie. Er mußte zugeben, daß es ein beein druckender Anblick war. Wenn man Tag für Tag in der verdunkelten Kutsche hockte, vergaß man den Umfang und die Großartigkeit dessen, was hinter ihnen kam. Der Kaplan sah die langen Reihen blaubemalter Kutschen, die im nächsten Tal verschwanden, und näher hinter ihnen die Massen von Infanteristen, die in Formation marschierten. Noch näher, direkt hinter ihnen, ritten die blaugewandeten Kavalleristen auf ihren blaugeschmückten Hengsten. Man bekam den Eindruck, als handle es sich um ein gewaltiges blaues Krokodil, das sich langsam und unaufhaltsam über die Windungen der Fahlen Landstraße wand. Er sah, wie die blauen Wimpel und Fahnen flatterten und die Bajonette in der bläulichen Luft funkelten. Der Kaplan hörte gedämpft das rhythmische Dröhnen der Trommeln, und ihm wurde bewußt, daß er dieses unaufhörliche Geräusch die ganze Zeit vernommen hatte, die er in der gepolsterten Kutsche zugebracht hatte. Blauröcke, ein Meer von Blauröcken auf dem Weg nach Irion. Bald würden sie anhalten. Sie waren in der Nähe. Sie würden nicht alle auf einmal vorrücken. Der Kommandeur hatte eine gründliche Vorab-Aufklärung angeordnet, und erst jetzt
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fing der Kaplan an, über die Implikationen nachzudenken, obwohl er immer schon von dem Plan gewußt hatte. Sie beunruhigten ihn. Ein kleines bißchen. Es gab zwei Möglichkeiten, sich die Täler der Tarn vorzustellen, jedenfalls hatte der Kaplan das bisher immer angenommen. Die eine war, sie sich als eine angenehme, ländliche Idylle auszumalen, mit freundlichen Bauernburschen und Milchmädchen. Mit Wind mühlen und einem murmelnden Fluß. Die andere war weniger verlockend. In ihr spielten Kuhdung, Eßtische aus rohen Holzplan ken, ein Mangel an ordentlichem Steingutgeschirr und stinkende Bauern mit faulenden Zähnen eine große Rolle. Der Kaplan hatte Agondon bisher noch nie verlassen, aber er war welterfahren genug, um zu wissen, daß vermutlich das zweite Bild eher der Wahrheit entsprach. Wenn man an einen Tarn-Bewohner denkt, sagte sich der Kaplan, dann denkt man sofort an eine schlur fende, ungeschlachte Gestalt. Aber bis jetzt hatte niemand einen Gedanken daran verschwendet, daß diese Leute auch gefährlich sein könnten. Der Kaplan betrachtete ernst die langsam vorrückende Armee. Hätte man ihm vor einem Jahr erzählt, daß er ein Teil dieses Konvois sein würde, hätte er bestimmt nur darüber gelacht. Der Kommandeur rührte sich. »Kaplan?« »Herr?« »Ich weiß, was Ihr da macht.« Während er den Vorhang wieder zurückfallen ließ, dachte der Ka plan, daß sein Leben, von einem bestimmten Gesichtspunkt aus be trachtet, vielleicht einen vollen Kreis geschlagen hatte. Der alte Mann erinnerte ihn an seine Mutter. Der Kaplan hieß Eay Feval. Als junger Mann war er einer dieser höchst charakterlosen gutaussehenden Menschen gewesen, die perfekt sind und gleichzeitig vollkommen uninteressiert an allem. Was bedeutet, daß sie erst durch bittere Prüfungen eine Besserung ihres Charakters erlangen. Es liegt in der Natur des Lebens, daß es solche Prüfungen schickt. Aber nicht immer - nicht unausweichlich. Die Zerstörung einer Hoffnung oder eine unglückliche Liebe mögen niemals vorkommen
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- oder Hoffnung und Liebe werden nicht einmal vermißt. Genauso war es Eay Feval ergangen. Er besaß durchaus ein gewisses Maß an Weisheit. Aber in bestimmten Belangen fehlte ihm jegliche Erfah rung. In seiner Jugend hatte er sich zwar um seine kranke Mutter gekümmert, aber es war ihm nicht wirklich nahegegangen. Er hatte sie pflichtbewußt geliebt und ihr nachmittags vorgelesen. Manch mal war sie ganz amüsant. Und sie stand dem Erzmaximus sehr nahe. Als sie starb, bescherte dem jungen Mann diese erstklassige Beziehung ohne viel Aufwand die Aufnahme in den Orden. Wie es der Zufall wollte, wurde in dieser Zeit gerade eine Lektorenstelle im Großen Tempel frei. Eay Feval bekam diese Position. Man könnte glauben, daß er ein beneidenswertes Leben führte. Er lebte in einem Luxus, den er einfach so geboten bekam; nichts schien seinen Werdegang in der Welt aufhalten zu können. Natürlich hätte man sagen können, daß er mittlerweile längst eine gehobene Position im Orden des Agonis erreicht haben müßte. Einige sagten es auch, aber nur sehr selten. Es scheitert nur der, der etwas versucht. Eay Feval hatte nicht die geringste Lust, einer der »Großen Männer« dieser Welt zu werden. Trotz seines fortgeschrittenen Alters behielt er sein gutes Aussehen, auch wenn es ein wenig verblaßte. Von weitem wirkte er immer noch wie ein attraktiver junger Mann. Er war der Typ Mann, den Frauen gern heiraten wollen, bis sie einmal genauer darüber nach denken. Sein schwarzes Ordensgewand stand ihm gut. Sein AgonisRing glänzte immer, und er trug stets makellos weiße Handschuhe. Es verbarg sich kein Geheimnis darunter. Er mußte seine Hände nicht verstecken, aber es gab einfach nichts auf der Welt, was er gern berührt hätte. Die Angelegenheiten des Königreichs beschäftigten ihn, aber nur am Rande. Seine Stellung im Großen Tempel verschafften ihm Zu gang zu den vornehmsten Familien von Agondon, und in seinen besten Jahren war er längst ein fester Bestandteil der erfreulichen Runde von Teeparties, Kartenparties, Diners und Bällen. Er lebte das Leben eines Höflings. Vielen edlen Damen diente er als wert voller Vertrauter. Nichts konnte ihn schockieren, und sein Rat war
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immer klug. Die Ladies waren - selbstverständlich - zutiefst fromm und verbrachten viel Zeit mit Gebeten. Also kam es, daß ihr geisti ger Berater, wie sie Eay Feval nannten, sie unter Umständen besu chen durfte, die für einige alarmierend intim gewirkt haben moch ten. Aber kein Skandal beschmutzte je den Namen Eay Fevals. Und niemand lehnte ihn ab. Außerdem hielt ihn niemand der Sünde für fähig. Ein Spaßvogel machte einmal eine treffende Bemerkung: Viele Männer, so sagte er, hätten die Schlafzimmer von Lady A, B und C betreten. Doch Eay Feval wäre der einzige Mann, der wirklich nur in ihre Schlafzimmer eingedrungen sei. Das stimmte, und so schien es noch ungerechter, daß Eay Feval so plötzlich aus seiner eleganten, angenehmen Routine gerissen wurde. Schon seit einiger Zeit machte das Gerede über eine Große Er weckung in den Salons von Agondon die Runde. Und es war eine der bewundernswerten Eigenschaften von Eay Feval, daß er sowohl aufmerksam anderen zuhören konnte, wenn es erforderlich war, als auch sich beredt über ein Thema auslassen konnte. Dabei gelang es ihm, seine Zuhörer vollkommen zu überzeugen, ganz gleich, zu wel chem Thema man ihn um seine Meinung bat. Er war kein Langwei ler. Ganz im Gegenteil: Er sprach nur, wenn er aufgefordert wurde, und hörte auf, sobald die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer nachließ. Das war eine andere seiner vortrefflichen Gaben. Ungefähr zu der Zeit, als alle über diese Erweckung sprachen, war Eay Feval Gast bei einem Empfang im Haus von Lady Cham-Cha ring, einer Frau, die nicht zu seinem üblichen Bekanntenkreis gehörte. Lady Cham-Charing war, wie alle wußten, sehr von dem Verfall der Frömmigkeit in den Provinzen aufgewühlt. Unaus weichlich steuerte das Gespräch auf den moralischen Zank und den Zerfall der Sitten zu, der allen Berichten zufolge die nördlichen Provinzen vollkommen überwältigt hatte. Und ebenso unausweichlich steuerte Eay Feval einen unwiderstehlichen Kommentar zu diesem Thema bei. Er nahm die Täler der Tarn als Beispiel. (Den Namen hatte er vollkommen willkürlich gewählt; er diente ihm nur als Beispiel für eine unaufgeklärte Provinz). Er befürwortete eine Erweckung, die den Sündenpfuhl wie ein Waldbrand hinwegfegen und
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unaufhaltsam über Berg und Tal wüten würde; er redete einer Er weckung das Wort, die die Herzen in Flammen setzen und, wie er es denkwürdig ausdrückte, unaufhörlich, unauslöschlich und ungeheuerlich sein sollte. Es war eine seiner besten Reden. Eindeutig war Erweckung in dieser Saison die Mode, und so wollte Eay Feval ihr Avatar sein, solange sie anhielt. Zudem kam das nicht in Konflikt mit seinem Terminplan. Normalerweise wäre alles wie geplant verlaufen, wären da nicht zwei Punkte gewesen. Der erste war der Erzmaximus. Er hatte zwar nicht an Lady Cham-Charings Empfang teilgenommen, aber die gute Frau war eine intime Freundin und berichtete ihm mit begei sterten Worten von Eay Fevals Rede. Der zweite war die Zeit, das Zeitalter, die Ära; und wenn es einen dritten Punkt gegeben hätte, wären das vielleicht gewisse intime Angelegenheiten gewesen, die einen besonderen Freund von Lady Cham-Charing betrafen und die Eay Feval angeblich weiterverbrei tet hatte. Der geistige Berater war vielleicht ein bißchen zu leichtsinnig geworden. Der Erzmaximus rief ihn zu sich. »Aha, Eay, mein Junge! Lieber Eay«, begann er, aber sein Verhal ten wurde bald weitaus förmlicher und strenger. »Eay, ich bin heute von einer Audienz bei Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät zurückgekehrt«, fuhr er fort. Damit meinte er, wie Eay sehr wohl wußte, eine Audienz beim Premierminister. »Einen Zyklus lang hat Seine Majestät Ihre Anstrengungen auf die Eroberung der heidni schen Zenzaner gerichtet. Diese Eroberung ist nun vollzogen wor den. Jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die moralischen und geistigen Reformen in den Ländern lenken, die unter unserer Kuratel stehen. Seine Majestät hat verordnet, daß jede der neun Pro vinzen und unsere Territorien in Zenzau unter die direkte Regent schaft von Militärgouverneuren gestellt werden sollen. Diese Män ner sind die edelsten Kriegshelden der letzten Zyklen. Lord Baral, der die Rotröcke im Süden vernichtet hat, wird der Oberste Kom mandeur von Varby und Holluch. Midlexion fällt unter die Fittiche des Earls von Tonion. Lord Michan, der Befreier von Wrax, wird in die Hauptstadt von Zenzau zurückkehren. Der Prinz-Kurfürst Ja
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rel, Groß-Admiral Lord Cral und General Lord Gorgol werden gleichfalls belohnt und ... ach ja, Olivan ...«, hier stockte der Erz maximus kaum wahrnehmbar, »Olivan Tharley Veeldrop, der Held der Belagerung von Irion, wird in die Provinz zurückkehren, mit der sein Name für alle Zeiten ruhmreich verknüpft ist. Was weißt du über Kommandeur Veeldrop, Eay?« Die Frage war nicht sehr schwierig. Jeder in Agondon kannte das Schicksal des Helden der Belagerung von Irion, der jetzt so schreck lich in Ungnade gefallen war. Eay Fevals Abscheu gegen Veeldrop hatte sich bei zahllosen Empfängen als nützlich erwiesen, wenn er gezwungen war, damit die eher öden Tiralos-Trinkgelage aufzumöbeln, an denen er zusammen mit den Gentlemen nach dem Dinner teilnehmen mußte. Sie kamen immer zu dem Schluß, daß er, Eay, einer von den Guten war. Aber Eay Feval war kein Narr. Der Erzmaximus hatte von einem »Helden« gesprochen und das Wort »Ruhm« verwendet. Anscheinend war das hier eine Art Test. »Olivan Tharley Veeldrop ist ein großer Mann«, sagte Eay Feval. »Ich sollte wohl besser sagen, daß er einer der größten Männer ist, die unser Agonistisches Land jemals hervorgebracht hat. Von be scheidener Abstammung, hat er sich wie ein Falke erhoben, um der härteste Kämpfer zu werden, den unsere Generation kennt. Hätten wir ohne ihn das blasphemische Regiment der Rotröcke aus unse rem Reich vertreiben können? Nein. Hätten wir ohne ihn die elen den Respektlosigkeiten der Vianen zertreten können? Allein der Gedanke ist lächerlich. Unsere Rasse steht tief in der Schuld von Olivan Tharley Veeldrop. Er ist zwar mittlerweile gealtert, und es gibt manche, die ihn für seine Fehlschläge verurteilen, die bei einer so langen Karriere unausweichlich sind. Aber ich bin davon über zeugt, daß er noch viel zu geben hat und daß man ihm genausoviel, ja, genausoviel geben sollte.« Der Erzmaximus strahlte vor Freude. »Und ich glaube, daß du genau der richtige Mann bist, der es ihm geben sollte, Eay« Eay Feval lächelte höflich. »Wie meinen, Erzmaximus?«
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Jetzt war der Kaplan weit von Agondon entfernt und suchte nach einer Streichholzschachtel. Es wurde Zeit, die Lampe anzuzünden und wieder vorzulesen: Die Magd einer Lady? Eine Lady! Einige würden der Verzweiflung anheimfallen, dachte der Kaplan, wenn sie einer solchen Strafe ausgesetzt wären. Aber nicht Eay Feval! Der Docht flammte auf. Als die Lampe zu glühen begann, leuch teten die goldenen Einbände der »Agondon-Ausgabe« auf dem klei nen eingebauten Regalbrett. In dem Moment erinnerte sich Eay Fe val an eine Geschichte, die er vor langer Zeit gehört hatte. Eine Geschichte über die Identität der geheimnisvollen »Miss R...« Selbstverständlich war es nur ein Gerücht.
»Die falsche Abzweigung. Das ist letztes Mal passiert. Wirklich, ganz einfach. Linker Hand, nicht rechter Hand. Oder war es rechts, nicht links?« Jem blieb auf dem schattigen Hohlweg stehen. »Tante! Du weißt es doch, oder nicht?« »Aber natürlich, Jem!« Die fette Frau lachte. »Wie könnte ich wohl den Weg zur Blütenhütte vergessen?« Es waren einige Tage verstrichen und mit ihnen, so schien es, auch die kurze Androhung, daß die warme Jahreszeit vorbei sein könnte. Sonnenlicht überflutete die Straße, und an Umbeccas Handgelenk schwang der Picknickkorb. Alles war wie zuvor, und sie hatten sich ein zweites Mal auf die Suche nach der Blütenhütte begeben. Sie kamen zu einer Abzweigung. Diesmal gingen sie nach links, nicht nach rechts. »Der Tiger ...«, warf Jem ein. Umbecca schien jetzt jedoch sorglos. »Früher ...«, begann sie. »Als du noch jung warst, Tante?«
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»Nein, mein Lieber. Vor meiner Zeit - zur Zeit des Vaters des alten Königs. Damals streiften die Waldtiger frei durch die Täler und bedrohten die Dorfbewohner.« »Wie die Schlange Sassoroch?« »Vielleicht nicht ganz so gefährlich wie Sassoroch! Aber sie töteten die Ziegen und Hühner auf den Bauernhöfen und auch kleine Kinder, die in den Wald liefen.« Jem schüttelte sich unwillkürlich. »Und was ist mit den Waldtigern passiert, Tante?« Das war ihr neues Spiel. Seine Tante drehte sich zu ihm um, und ihre kleinen Augen weiteten sich. Sie glühten wie Kohlen, und ihre Stimme war belegt. »Die Große Jagd!« Sie stürzte sich auf den Jungen. Er hätte fast aufgeschrien. »Der alte Herzog, der Vater unseres jetzigen Herzogs, schwor, die Täler von dem ›gestreiften Feind‹ zu befreien. Im ganzen Tarn sam melten sich die Jäger. Und die Jagd dauerte durch alle Jahreszeiten eines Zyklus an. Sie war gnadenlos!« Diese Vorstellung befremdete Jem. Er empfand eine merkwürdige Mischung aus Aufregung und Entsetzen. Der arme Waldtiger! Er stellte sich das Kläffen von Tausenden von Hunden vor. Und das Hämmern von Hunderten Pferdehufen, die durch das Unterholz donnerten. Als seine Tante weitersprach, klang sie gedankenverloren. »Aber es hielt sich das Gerücht, daß ein Tiger weiterlebte und weiterlebte und lebte und nicht sterben wollte. Wir haben diese Ge schichte gehört, als wir noch kleine Mädchen waren, Ruanna und ich ...« Unvermittelt lachte Umbecca laut auf und sagte etwas, das sie noch nie zuvor gesagt hatte. »Albernes Gewäsch!« Jem war verwirrt. Das gehörte nicht zum Spiel. »Der alte Mann ...«, hakte er einen Moment später nach. Was folgen sollte, war eine Erzählung von bösartiger Hinterlist, die Beschreibung eines Verrückten, der Kindern die Leber herausriß und sie tief im Wald auf einem Holzkohlenfeuer grillte. Tap-tap! so
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klopfte er mit den Fingern an die Fenster, wenn die Kinder im Bett lagen. Aber Jem war felsenfest davon überzeugt, daß diese Geschichte nicht wahr sein konnte. Umbecca schwieg. »Der böse alte Mann ...« Jems Stimme klang drängender. »Böse, Jem?« Die Stimme seiner Tante klang sanft. Das Sonnenlicht, das durch das Blätterdach fiel, hatte eine besondere Schärfe und bildete ein dunkles Muster auf der fahlen Oberfläche der Straße. »Er war ein grober Mann, ein närrischer Mann vielleicht. Jetzt ist er nur noch ein alter Eremit. Früher einmal lebte er im Dorf. Dann hat er sich in die Wälder davongemacht. Ich sollte mir keine Gedanken über ihn machen, wirklich nicht.« »Aber Tante, du hast gesagt...« Sie kamen an eine zweite Weggabelung und bogen diesmal rechts ab, nicht links. Als Jem die massige, watschelnde Gestalt seiner Tante betrachtete, die ein wenig gehetzt unmittelbar vor ihm herging, bemerkte er plötzlich, daß sie gar keinen schwerbeladenen Picknickkorb in ihrer plumpen Hand schwang. Nichts war, wie es gewesen war. »Tante ...« »Sieh doch, Jem! Wir sind da!« Die Blütenhütte lag plötzlich vor ihnen. Sie war wie von Zauber hand aus dem dichten Blätterwald am Rand der Straße aufgetaucht. Sie bot in zweierlei Hinsicht eine Überraschung. Jem hatte erwartet, daß die Hütte eine winzige, einstöckige Bruchbude aus rauhen Lehmziegeln war, überwuchert von Efeu. Statt dessen war es ein solides Bauwerk mit einem Giebel und zwei Dachfenstern, die hoch oben in den Gauben über den Fachwerkmauern angebracht waren. Und es war alles andere als eine Ruine. Ein ordentlicher Holzzaun begrenzte einen sorgfältig gepflegten Rasen, der am Rand von tadellos gestutzten Büschen gesäumt wurde. Ein Kiesweg führte zu einer Tür mit einem glänzenden Mes singklopfer. Geißblatt wucherte über dem Türsturz, und aus dem Schornstein kräuselte sich anmutig eine Rauchfahne.
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Jems Tante betätigte den schweren Klopfer. »Tante ...«, wiederholte der Junge. Er blieb zögernd auf dem Weg stehen und betrachtete forschend das Haus. In dem hellen Sonnenlicht sah es einem Kuchen verblüf fend ähnlich, der mit einer komplizierten Glasur überzogen war. Die dunkel gekleidete Gestalt, die die Tür öffnete, schien bereits auf der anderen Seite gewartet zu haben. Sie nickte respektvoll. Als Jem vortrat, sah er eine ältere Frau mit gebeugtem Rücken und runzligem Gesicht. Sie trug die Kleidung einer Dienstmagd. Sie war nur viel ordentlicher als Nirry. Das runzlige Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als Jem seiner Tante unsicher in einen penibel aufgeräumten Flur folgte. Die alte Dienstmagd eilte voraus und deutete höflich auf eine Tür. Sie trat vor ihnen ein und räusperte sich. »Herrin Rench, Mam. Und der junge Herr Jemany.« Alles in dem kleinen Salon schien nur dazu zu dienen, Jem ein ungutes Gefühl zu vermitteln. Die geblümte Tapete, die Stühle, die mit Baumwollstoff bezogen waren, und die Teller mit den Ornamenten in der Vitrine. In einer Ecke am Fenster saß eine blasse, dünne Frau in Schwarz, die ihre Gäste mit einem hoheitsvollen Nicken begrüßte. »Meine Liebe, Ihr seht gut aus!« Umbecca segelte vorwärts. Die dünne Frau stand nicht auf, sondern wandte nur leicht den Kopf, um die Umarmung zu erwidern. Umbecca ließ sich nicht abschrecken. »Jem! Komm schon. Er ist ja so schüchtern«, fügte sie mit einem abrupten Lachen hinzu. Es war vielleicht ein wenig zu unvermittelt. Die Frau reagierte nicht darauf, und ihr hageres Gesicht zeigte kein Lächeln. Sie hatte die Arme auf dem Schoß gekreuzt, und vor ihrem engen Mieder baumelte der glänzende, goldene Kreis des Agonis. Als sie sprach, klang ihre Stimme emotionslos und unbeteiligt. »Mein Ehemann wird uns gleich Gesellschaft leisten«, sagte sie nur, während sich Jem unbeholfen auf einen der unbequemen Stühle setzte. Auf einem Tisch mit Intarsien stand bereits das Teegeschirr. Im Flur schlug plötzlich vernehmbar eine Uhr. Man konnte das
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Geräusch im Zimmer hören, doch das scharfe Tick! Tick! schien die gedämpfte Stille in dem Raum nur zu unterstreichen. »Jem, Junge, lümmel dich nicht so!« zischte seine Tante ihn an. Aber der Stuhl war hart und glatt. Wie konnte die dünne Frau so gerade darauf sitzen? Jem sah sich um und fühlte sich plötzlich elend. Vollkommen elend. Auf dem Boden lag ein Teppich mit einem braunroten, unruhigen Muster, und überall auf den kleinen, runden Tischen standen frische Schnittblumen. Auf den Lehnen der Stühle lagen steife, bestickte Schondeckchen, und auf dem Kaminsims waren zierliche Figürchen aufgereiht. Ein fetter Bauer mit einem grinsenden, geröteten Ge sicht und eine Dienstmagd mit buttergelben Zöpfen. Jem betrachtete das dünne Gesicht der Frau. Es wirkte unbeteiligt, aber er konnte in ihm lesen, wie er die Sätze in einem Buch verstehen konnte. So sah er die Verbitterung, die Verachtung, die überzulaufen drohte wie Milch auf Nirrys Ofen. Jem bekam Angst. »Tante ...« Die Tür flog auf. »Ah, gute Frau! Und da ist ja auch unser junger Freund, wie ich sehe!« Jem schnappte nach Luft und wirbelte herum. »Ich nehme an, es war ein angenehmer Spaziergang? Ja, dieses Wetter ist so viel schöner! Sicher hat Goody Waxwell Euch gut un terhalten?« Die jovialen, schleimigen Worte knallten in Jems Ohren wie Schüsse. Und die verdrehte Gestalt schob sich in ihrem Krab bengang über den Teppich, rieb sich die Hände und lächelte eifrig. Umbecca stand auf. Sie strahlte und sah dem Mann erwartungsvoll entgegen. Jem bemühte sich ebenfalls krampfhaft aufzustehen und hielt sich an den glatten Lehnen des Stuhls fest. »Aber nein, junger Mann, nein. Macht Euch keine Mühe!« Der Arzt trug eine makellose neue Perücke. Und aus seiner Jacke lugte ein steifes, weißes Taschentuch hervor. »Goody Waxwell und ich fühlen uns nicht gekränkt. Wir verstehen, wir verstehen alles! Her rin Rench, wie entzückend, Euch zu sehen.«
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Es schmatzte, als die beiden sich mit Küssen auf die Wangen begrüßten. »Gute Frau! Wir wußten, daß Ihr uns nicht im Stich lassen wür det.« Jem hatte sich wieder auf den glatten Stuhl zurückfallen lassen. »Nun, ich denke, der junge Mann möchte gern etwas ...« Der Arzt stand vor dem verzierten Tisch und hob den Deckel von einer Platte, auf der Sahnekuchen lagen, wie Jem jetzt sah. »Möchtet Ihr etwas, junger Mann? Hm?« Eine schwarzbehaarte Hand reichte dem Jungen ein Stück, und einen Augenblick sah Jem nur die Hand und das, was sie hielt. Ein riesiges Stück duftenden Kuchen. Sahne fiel auf seinen Oberschenkel. »Tante!« rief er. »Tante! Tante!« Aber die fette Frau hatte sich abgewandt, und ihr rannen plötzlich Tränen übers Gesicht. »Ach, Jem! Jem!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Goodman Waxwell achtete nicht darauf. »Soso«, sagte er nur, »der Krüppel will uns Ärger machen, hm?« Sein haariges Gesicht schob sich vor die Augen des Jungen. Ein ekelhafter Gestank wie von etwas Verrottetem stieg von dem saube ren Rock auf. Jem rutschte allmählich vom Stuhl. Er drehte sich zur Seite und lag ausgestreckt auf dem Boden. Dann tastete er nach seinen Krücken, stand mühsam auf und humpelte zur Tür. »Igitt!« spie die dünne Frau unerwartet aus. »Seine Beine!« Ihr Ehemann lachte. Und rührte sich nicht. Die alte Dienstmagd tauchte plötzlich auf und stellte sich Jem in den Weg. Sie war so klein und schwach! Doch Jem war ein Krüppel. Er drehte sich zu seiner schluchzenden Tante um. »Tante!« Seine Stimme brach. »Wie konntest du das tun? Wie konntest du mich hierherbringen?« Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht. Das Licht veränderte sich. Vielleicht hatte eine Wolke die Sonne
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verdeckt. Doch in dem Augenblick, als alles finsterer wurde, er kannte Jem, wie durch ein inneres Licht erhellt, vieles, was er zuvor übersehen hatte. Er sah das Merkwürdige im Verhalten seiner Tante, das auch während all der glücklichen Tage durchgeschimmert hatte, die sie zusammen verbracht hatten. Er erkannte den gehetzten Aus druck, den gesenkten Blick, wenn bestimmte Dinge gesagt wurden. Er erinnerte sich, daß sie plötzlich das Gespräch mit einer älteren Dorfbewohnerin unterbrochen hatte, als Jem näher gekommen war. Jetzt war ihm klar, daß es die alte Dienstmagd gewesen war. Natürlich. Und mehr als einmal hatte seine Tante Briefe gelesen, die sie hastig zerknüllte, wenn Jem oder seine Mutter sie fragend ansahen. Seine Tante hatte gelogen. Sie hatte ihnen etwas vorgespielt. Jem sah sie mit tränenverschleiertem Blick an. Sie hatte sich auf dem steifen Stuhl halb von ihm abgewandt. In ihrer Trauer merkte sie nicht, daß ein Knopf ihres Mieders aufgesprungen war. Es glitzerte golden, und Jem erkannte, daß sie unter ihren Gewändern ver borgen noch immer den glitzernden, eiskalten Kreis ihres agonisti schen Glaubens trug. »Tante!« jammerte Jem, und einen Augenblick beobachtete Good man Waxwell ihn nachdenklich. Dann stürzte er in einer schnellen Bewegung vor und trat dem Jungen die Krücken weg. Jem fiel zu Boden. »Nimm diese widerwärtigen Stöcke und verbrenne sie!« bellte er die Magd an. »Sie sind Verkörperungen des Bösen!« Mit einer affektierten Geste zog der Arzt das Tuch aus der Brust tasche. Er schien seine Hände abwischen zu wollen. Doch statt dessen starrte er auf den erschreckten, keuchenden Krüppel hinunter, der unbeholfen versuchte wegzukriechen. Waxwell seufzte und bückte sich, als müsse er eine lästige, aber notwendige Pflicht erfül len. Eine berufliche Pflicht. »Soso, der Krüppel will also unseren Kuchen nicht essen!« meinte er. »Schade, weil es so viel angenehmer für ihn gewesen wäre. Aber wir verfügen noch über andere Möglichkeiten.«
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Er nahm den Kopf des Jungen zwischen seine Hände. Die Berührung war beinahe zärtlich. Das Taschentuch senkte sich herunter, und der ekelhafte Geruch, den Jem schon zuvor wahrgenom men hatte, drohte ihn zu überwältigen. Er drang ihm scharf, bei nahe brennend in die Nase. Jem versuchte das Gesicht abzuwenden, aber vergeblich. Während der ätzende Gestank ihn erfüllte, hörte Jem die Uhr im Flur ticken, unablässig, wie eine Glocke. Er hörte das Schluchzen und Gurgeln seiner Tante, und er nahm den tonlosen, unbeteiligten Klang der Stimme der dünnen Frau wahr, als sie sich steif über den verzierten Tisch beugte. »Soll ich schon einschenken, Nathanian?« Dann senkte sich Vergessen über ihn.
Tick! Tick! Das erste, was wieder in sein Bewußtsein drang, war die Uhr. In jedem der penibel aufgeräumten Zimmer der Blütenhütte konnte man hören, wie die Uhr präzise die Einheiten des Tages abzählte. Für Goody Waxwell, die steif in ihrem Salon saß, für den Arzt in sei nem Arbeitszimmer, für die alte Dienstmagd, die polierte und Staub wischte, zählte die Uhr den Herzschlag der Hütte und vereinigte sie alle in dem Element der Zeit. Manchmal waren sie sich des Tickens nicht bewußt oder des düsteren Bong, das zu jeder Fünfzehnten er klang und zu jeder Fünf darin. Aber die Uhr war immer bei ihnen, und in der Uhr verborgen war die geheime Feder, das wußten sie, die sich während jedes Mondzyklus mit einer derart gewissenhaften Bedachtsamkeit abspulte, als stecke hinter dem Auftrieb eines jeden Klick die unendliche Beherrschung einer Macht, die mit Leichtigkeit ihrem Zorn hätte freien Lauf lassen können. Sie glich der Macht des Herrn Agonis, die in jedem Moment allen Lebens auf dieser Welt pulsierte. Tick! Tick!
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Dann ertönten die Stimmen. »Herr des Lichts, erhöre unsere Gebete. Betrachte uns von dei nem geheimen Ort und habe Mitleid mit diesem gequälten Kind, darum flehen wir dich an. Hilf uns, o Gnädiger, wenn wir das Böse von ihm nehmen, und bring ihn als einen demütigen und schwachen Bittsteller dazu, sich deinem Urteil zu unterwerfen. Leiste uns Beistand, o Gnädiger, daß wir stark an unserem Glauben festhalten, wenn wir uns jetzt bereitmachen, deine göttliche Arbeit zu tun. Gelobt seien der Herr und die Herrin!« »Gelobt seien der Herr und die Herrin!« Die erste Stimme war die von Waxwell. Sie klang tief und volltönend. Die Stimmen der Frauen fielen in ergebenem Chorus mit ein. Jem war hellwach, aber seine Augen waren fest geschlossen. Ein Gewicht lag auf seinen Lidern, als würden sie von schweren Münzen heruntergedrückt. Sein Mund war ausgetrocknet, und er merkte, daß etwas Rauhes und Sperriges darin war. Wo war er? Dann fiel es ihm wieder ein. Furcht durchfuhr den Jungen wie ein Messerstich. Er hätte geschrien, wenn er gekonnt hätte. Er wäre auf gesprungen, doch auch das war unmöglich. Etwas hielt ihn fest. Schwach drangen die Erinnerungen aus dem Nebel des Vergessens in sein Bewußtsein, von einer steilen Treppe, einem kargen weißen Zimmer. Er wußte wieder, daß man ihm die Augen verbunden, ihn geknebelt und auf einen harten Tisch gefesselt hatte. Er fühlte die engen, heißen Lederbänder. In der kalten Luft bekam er eine Gän sehaut. Dann erinnerte er sich auch, daß grobe, rücksichtslose Hände an seiner Kleidung gezerrt hatten. Sie hatten ihn ausgezogen. »Der Junge ist aufgewacht, Nathanian«, sagte die dünne Frau. Ihre Stimme klang tonlos und gleichgültig. »Hm. Ja.« Jem fühlte die schwieligen Hände des Arztes, der grob seine Schienbeine und Schenkel untersuchte. Jemand seufzte. »Es ist schlimmer, als ich dachte. Die Saat des Bösen hat sich bereits weit ausgebreitet. Ich fürchte, daß ein Schnitt un terhalb des Knies nicht reichen wird ...«
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»Goodman, nein!« Umbeccas Stimme schwankte. »Fürchtet Euch nicht, gute Frau. Der Schmerz wird nur von kur zer Dauer sein. Nach der Desinfektion werde ich schmerzlindernde Salben auftragen ... Und stellt Euch das fromme Leben vor, das er hiernach führen wird!« Jems Schrei durchdrang den Knebel. »Schweig stille, du Saat der Finsternis!« Jem spürte den Schlag ins Gesicht. Er konnte nicht einmal zurückzucken. Selbst seine Stirn wurde von einem Strick gehalten. Dann hörte er das Schmatzen der Lippen des Arztes dicht an seinem Ohr. Der Tonfall des Mannes war weich vor Mitgefühl. »Du wirst ein Mann, Jemany Mißgeburt. Aber was für eine Art Mann wirst du? Von deiner Deformation aus sprießt die Saat des Bösen bereits durch deinen Körper. Sie verzehrt dich. Oh, Kind, wir haben die Zeichen erkannt! Deine Liebe zu den Unfrommen! Zu dem Verräter Torvester! Zu dem heidnischen Zwerg! Deine abarti gen Werkzeuge zum unnatürlichen Gehen, als wolltest du dich dem Willen des Herrn Agonis widersetzen! Selbst jetzt zeigst du durch deinen Widerstand, daß du dich unentrinnbar in den Fängen des Bösen befindest! Nur wenn wir das Böse von dir nehmen, wirst du das Mitgefühl des Gebieters des Lichts ...« Jem wehrte sich, doch die Fesseln waren zu straff. »Aber nein, Mißgeburt, nicht doch! Ich denke, ein weiteres klei nes Schläfchen ist angebracht.« Waxwell lachte eisig, und Jem roch ein zweites Mal den ekelhaften Gestank des Taschentuchs, als der Arzt es ihm auf die Nase drückte. »Nein!« schrie er. »Nein! Nein!« Aber aus seinem trockenen, geknebelten Mund drang nur ein er sticktes, tierisches Heulen. Als sein Bewußtsein diesmal schwand, spürte er die Tropfen der kalten Flüssigkeit über seine Haut rinnen. Dann hörte er, wie der Arzt sich zu den Frauen umdrehte und mit klarer, ruhiger Stimme sagte: »Kommt, gute Frauen. Wir lassen ihn jetzt allein. Die Salbe der Reinigung muß zunächst ihre Arbeit tun. Für einen so jungen Menschen ist er sehr tief im Bösen verstrickt. Selbst jetzt noch, an der Schwelle zu seinem neuen Leben, kämpft das Böse in ihm gegen unsere Güte! Laßt ihn noch diese Nacht hier
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liegen. Bei Morgengrauen ist die Zeit gekommen. Gute Magd, wo ist mein Wetzstein? Die Klinge muß scharf sein!« Die Klinge muß scharf sein. Jems Körper war unter den Lederriemen, die ihn hielten, zu ei nem gefühllosen Fleischberg geworden. Jetzt jedoch überlief ihn ein heftiger Schauer, und unvermittelt brach ihm kalter Schweiß aus. Es war ein Gefühl auf seiner Haut, als wären es eine Million Nadelstiche aus farblosem Blut. Eine Tür fiel ins Schloß. Er war allein. Seine Sinne waren vernebelt, aber diesmal konnte ihn der schwere, betäubende Schlaf nicht beruhigen. Vielleicht ließ ihn seine Furcht nicht ruhen, oder aber er hatte weniger von dem widerlichen Parfüm des Taschentuchs inhaliert. Er taumelte durch sein Bewußtsein, spürte die Kälte auf seiner bloßen Haut, und er fühlte auch die fremdartigen Tropfen, die wie Schnecken über seinen Torso glitten. Die Salbe der Reinigung, hatte Waxwell sie genannt. In der Finsternis fühlte Jem langsam, im Rhythmus der tickenden Uhr, im Tempo der Schreie einer Eule draußen im Wald, wie die Flüssigkeit zu jucken begann. Und dann anfing zu brennen. Die Uhr schlug wieder ihr düsteres Bong und markierte so das Verstreichen weiterer Fünf auf ihrer langsamen, aber unausweichlichen Reise zur Morgendämmerung. Die Geräusche schienen Jem unerträglich laut und hallten in seinem Schädel wider wie in einer riesigen Höhle. Manchmal ergab er sich ihnen und ließ sich von den Echos hinunterziehen, doch manchmal straffte er sich und kämpfte sich zur Oberfläche empor. Er versuchte nachzudenken. Aber was sollte er denken? Bei Morgengrauen ist die Zeit gekommen. Jem würde die Sonne nicht einmal sehen! Er lauschte krampfhaft auf die Stimmen. Eine Weile hatten sie über ihm gemurmelt, vielleicht gebetet. Und einmal, urplötzlich, hatte jemand geweint.
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Jetzt waren sie ruhig. Schliefen sie? Ein leichter Wind wehte um die Giebel. Leise rüttelte er an den Haken der Fensterläden, drang in den Raum ein und strich wie eine Schlange um Jems nackte Glieder. Der Junge fröstelte. Tick. Tick. Er mußte eine Weile bewußtlos gewesen sein, denn als er auf wachte, spürte er die Berührung einer Hand, die sein Haar zurückstrich. Zärtlich. Sehr zärtlich. Er verspannte sich. War es Zeit? War es soweit? »Shh, Jem, leise, Jem.« Es war Tante Umbeccas Stimme. »Ach Jem, laß mich dich ansehen. Ich muß dich ansehen.« Eine Hand zog die Binde vor seinen Augen herunter, und dann blickte der Junge in das ernste Gesicht seiner Tante, das nur von einer Kerze beleuchtet wurde. Der Raum um sie herum war voll kommen finster. War sie etwa vernünftig geworden? War sie gekom men, um ihn zu befreien? Jem versuchte etwas zu sagen, aber seine Tante machte keinerlei Anstalten, den Knebel zu lösen. »Shh«, wiederholte sie statt dessen und strich ihm erneut über das Haar. »Shh, shh. Hast du Angst, mein Liebling? Mach dir keine Sor gen, bald ist alles vorüber.« Die freundliche Stimme war nur noch ein leises Gurren. »Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich furchtbare Schmerzen. Viel schlimmer als deine, Jem. Die Schmerzen waren in mir drin! In meinem Bauch. Der Arzt sagte, er müßte operieren. Was hatte ich für eine Angst! Mutter lebte damals noch, und ich habe sie angefleht: Bitte, Mama, bitte, bitte! hab ich ge weint. Erlaub dem Mann nicht, daß er mich aufschneidet!« Bei den letzten Worten imitierte sie die Babysprache. Die fette Frau lachte gerührt über ihre kindlichen Erinnerungen und schüt telte dann den Kopf. »Was war ich damals für ein dummes kleines Mädchen! Ich hatte
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immer so große ... Schmerzen. In meinem Bauch! Aber weißt du, Jem, nach meiner Operation waren die Schmerzen verschwunden ... für immer! Es war für alle das beste, verstehst du das? Und genauso wirst du dich auch fühlen, mein Schatz. Bald.« Jem blickte sie mit verständnislosem Entsetzen an. Aber seine Tante merkte es nicht. Sie strich mit den Fingern über seine zitternden Glieder und umkreiste dabei langsam den Tisch. Als sie weitersprach, schien sie eher mit sich selbst zu reden als mit Jem. »Weißt du, mein Liebling, es gibt keinen anderen Weg. Es liegt an dem, was du bist. Hast du dich nie gefragt, was du eigentlich bist? Andere Kinder haben einen Vater und eine Mutter. Wußtest du das? Hast du dich gefragt, warum du keinen Vater hast, Jem? Man nennt dich ›Jem Mißgeburt‹. Aber das heißt einfach nur, daß du ein Bastard bist, Jem. Weißt du, was ›Bastard‹ bedeutet? Es bedeutet, daß deine Mutter eine Dirne ist. Eine Hure, eine schmutzige Metze!« Die Stimme wurde lauter. Umbecca zitterte vor Wut. Von der Kerze in ihrer Hand fielen Wachstropfen zu Boden, und Jem zuckte zusammen, als einige auch sein Bein trafen. Das gekrümmte Bein war lebendig, zuckte vor Gefühl. Es war immer schon lebendig gewesen. Nur eben auch gekrümmt. Jem traten Tränen in die Augen. Er kämpfte dagegen an und musterte die dunklen Formen, die von dem flackernden Licht der Kerze beschienen wurden. Er erkannte eine schiefe Decke, ein Dachfenster und sah einen großen, eisernen Kreis des Agonis ehr furchtgebietend hoch über ihm im Giebelkreuz hängen. Ein Altar. Umbecca hatte sich von dem Jungen abgewandt, und obwohl sie wieder leise sprach, schien ihre Stimme wie Galle aus den schwarzen Tiefen der Verbitterung emporzusteigen. »Es war zur Zeit der Belagerung. Die Hure hat sich einem gewöhnlichen Soldaten hingegeben. Einem gemeinen Soldaten! Des halb bist du, wie du bist, Jem. Deine verkrüppelten Beine sind das Mahnmal deiner unehelichen Abstammung. Als du geboren wur dest, Jem, wurde die Saat in dich eingepflanzt. Es war eine Saat des Bösen. Diese Saat muß ausgerottet und vernichtet werden!«
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Sie drehte sich wieder zu ihm um. Ihr dickes Gesicht war gerötet vor Erregung, und Jem verspannte sich vor Entsetzen, als sie ihn erneut liebkoste, leidenschaftlicher diesmal, und mit ihren Fingern über seine verkrüppelten Beine strich, über die Schenkel und seine Geschlechtsteile dazwischen. Der Junge zitterte heftig. Am liebsten hätte er sich übergeben. »Du wächst zu einem Mann heran, Jem. Vor dir kann jedoch nur ein Morast von Verderbtheit liegen. Doch sehr bald schon wird alles gut sein! Sehr bald wird das Böse aus deinem Herzen vertrieben! Dann wirst du in deinem Stuhl neben mir sitzen, wie du es als kleinerjunge getan hast. Erinnerst du dich an den Tag, als wir im Tem pel Wache gehalten haben, Jem? Wie glücklich wir damals waren? Wir werden wieder so glücklich sein. Zusammen werden wir ein Leben voll stiller Hingabe führen. Mit der Zeit wirst du vielleicht sogar ein Leuchtfeuer der Güte in diesem bösen Dorf sein. Oh, es muß einfach so sein! Ach, Jem, Jem!« Umbecca brach schluchzend und stöhnend auf dem dünnen Kör per des wehrlosen Jungen zusammen. Jem bekam kaum noch Luft, und als Umbecca so dalag, schwankte die Kerze in ihrer Hand gefährlich dicht über seiner Stirn. Er schloß fest die Augen. Wie sehr er seine Tante haßte! Er hatte ihren Lügen geglaubt und sie sogar fast liebgewonnen. Was war er nur für ein Narr gewesen! Hätte der Junge sich in diesem Augenblick von seinen Fesseln be freien können, hätte er ausgeholt und Umbecca niedergeschlagen. Es hätte ihm nicht einmal etwas ausgemacht, wenn er sie getötet hätte. Sein ganzes Leben, seit Barnabas fortgegangen war, kam ihm jetzt nur noch wie wertlose Spreu vor, trocken und brüchig und vom Winde verweht. Mit einem Klicken öffnete sich die Tür. Eine dunkle Gestalt kam auf sie zu. »Umbecca.« Waxwells Stimme klang zärtlich. »Du weißt, daß wir den Jungen alleinlassen müssen, auf daß er gereinigt wird. Komm schon, komm mit. Es ist immer noch finsterste Nacht. Überlassen wir ihn dem letzten Schlaf in Sünde. Lassen wir ihn ...« »Oh, Nathanian, tun wir wirklich das Richtige?«
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»Aber, aber, gute Frau! Shh, shh!« Umbecca ließ sich von ihm in die Arme ziehen, und sie blieben so vor dem Altar stehen. Ein wenig zu lange vielleicht, bevor der Arzt sie sanft aus dem Zimmer führte. Jem war wieder allein. Er atmete tief. Sie hatten vergessen, ihm die Augenbinde wieder anzulegen, aber ohne das Licht der Kerze lag der Raum im tiefsten Dunkel. Es war die Nacht, die man Schwarzmond nannte. Nicht der kleinste Lichtschimmer hinter dem Dachfenster linderte die kalte Bedrückung der Finsternis. Bong! Die Uhr im Flur schlug weitere Fünf. Das leise, tiefe Geräusch klang wie ein Vorbote des Verderbens. Wie oft würde sie noch schla gen, bis das Licht die Finsternis vertrieb? Jetzt rannen dem Jungen die Tränen über die Wangen, die er bis jetzt so tapfer zurückgehal ten hatte. Das war der schlimmste Punkt der Verzweiflung. Ihm war klar, daß die Falle, in der er sich jetzt fühlte, nur der Anfang seines zukünftigen Lebens war, das genauso verlaufen würde - für immer. Er hatte geglaubt, daß er nicht einfach nur ein Krüppel war; jetzt je doch würde er für immer ein Krüppel sein, bloß ein Krüppel. Es war vorbei. Alles war vorbei. Hätte Jem sich in diesem Augenblick allein durch seinen Willen töten können, hätte er es ohne zu zögern getan. Er hätte alles un ternommen, um nicht so weiterleben zu müssen, wie Umbecca es für ihn vorsah, verstümmelt und nutzlos und nicht einmal in der Lage, mit Hilfe der »widerwärtigen Stöcke« zu gehen, die Waxwell von der alten Dienstmagd hatte verbrennen lassen. Im Delirium der Nacht schüttelte sich Jems gepeinigter Körper abwechselnd vor Kälte oder sengendem Fieber. Er lag da und zählte die Schläge der Uhr. Vielmehr versuchte er immer wieder neu, sie zu zählen. Er verzählte sich oft. Dann fing er von vorn an. Es war unnütz.
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Verstrich denn die Zeit nicht? Aber nach einer endlos scheinen den Zeit glaubte Jem, daß die Dunkelheit, die ihn einhüllte, etwas lichter wurde. Es war zwar nur eine Vermutung, aber sofort durch fuhr ihn erneut die Furcht. Dann hörte er Schritte auf der Treppe. Es war nur ein leises Geräusch, und Jem sagte sich zuerst, daß er gar nichts gehört hatte. Es war ein Knarren, das zufällige Geräusch von arbeitendem Holz in einem nächtlichen Haus. Dann ging die Tür auf. Jem erschrak. Lange Zeit hatte sich ein starker Druck in seinem Unterleib aufgebaut, obwohl er es kaum bemerkt hatte. Jetzt wurde dieser Druck plötzlich freigesetzt. Die warme Flüssigkeit schoß über seine Schenkel. Zunächst versuchte er noch, es zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Schließlich gab er auf, lehnte sich zurück und schluchzte. Es war soweit. Das war ein Irrtum. Die Gestalt, die sich über Jem beugte, trug diesmal keine Kerze in der Hand. Und der Junge konnte ihre schwarzen Umrisse nur gegen das dunkle Grau des anbrechenden Tages wahrnehmen. Was jetzt geschah, hätte auch rasch getan werden können. Doch statt dessen zog es sich scheinbar unendlich in die Länge, kroch lang sam auf seinen Abschluß zu wie das Licht, das das dunkle Grau aufhellte. Goody Waxwell zog langsam und umständlich an Jems Fesseln. Sie schlurfte um den Tisch herum, als schliefe sie noch. Doch bei jedem Knarren der Bodendielen erstarrte sie zur Salzsäule und wagte kaum zu atmen. Manchmal fragte sich Jem, ob sie sich jemals wieder bewegen würde. Er ließ sie nicht aus den Augen. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß dies gar nicht seine Befreiung werden sollte, sondern nur eine weitere Vorbereitung auf den Morgen. Doch er schob den Gedanken beiseite. Als die Lederriemen an seinen Hän den gelöst waren, griff er steif hinauf und zog den Knebel aus seinem Mund. Er hätte gern gefragt: »Warum? Warum tut Ihr das?« Aber seine Zunge und seine Lippen waren trocken und geschwol len. Er konnte nicht sprechen.
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Und dann verstand er. Nachdem der letzte Riemen gelöst war, schlich Goody Waxwell behutsam zur Tür zurück. Als sie sich dort umdrehte und ihn trau rig anblickte, sah Jem in dem Dämmerlicht des Morgens etwas, das ihm in dem hellen Licht des Nachmittags entgangen war. Sie mußte gewollt haben, daß er es bemerkte, denn sie hatte gelernt, es geschickt zu verbergen. Goody Waxwell hatte ihre Arme leicht ange hoben. Am Ende des linken Arms ragte eine kleine, blasse Hand aus dem Ärmel, die so schwach an den Fesseln des Jungen gezogen hatte. Der rechte Arm jedoch endete in einem bloßen Stumpf. Sie war verschwunden. Jem sank erstaunt auf den kalten, nassen Tisch zurück. Aber nur für einen Moment. Dann richtete er sich auf und rieb sich die Glieder. Er war zwar frei, aber noch längst nicht in Freiheit! Er konnte nicht gehen, er hatte keine Krücken, und er lag auf einem Tisch auf dem hohen Dachboden eines Hauses weit weg von seinem Heim. Verzweifelt blickte er zum Dachfenster. Bei Morgengrauen ist die Zeit gekommen. Es war soweit. Es mußte geschehen. Er blickte vom Fenster zur Tür. Sicher würden jeden Moment die Geräusche von Schritten auf der Treppe ertönen. Diesmal war es gewiß Goodman Waxwell, der hereinkam, und er würde diesmal eine Axt bei sich haben. Das durfte nicht passieren, nie und nimmer! Hinterher konnte sich Jem kaum daran erinnern, wie er sich von dem Tisch zum Fenster gezogen hatte. Er dachte dabei nicht nach es war ein rein mechanisches Funktionieren seiner gespannten, angestrengten Muskeln. Aber ob er einen sofortigen Tod einer höchst unsicheren Chance zur Flucht vorgezogen hätte, vermochte er nicht zu sagen. Er stieß das Fenster auf und zog sich hindurch.
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»Was war das für ein Geräusch?« Morven seufzte. »Nichts. Eine Eule.« »Eine Eule ist nicht nichts.« »Eine Eule ist nichts.« Pause. Morven wartete. Er zählte die Momente. Ja! Er hatte recht. »Aber wie?« jammerte Crum. »Eine Eule ...« »Wer!« zischte Morven. Ein toller Witz. Verstand ihn Crum? Natürlich nicht. »Eine Eule hat Flügel«, fuhr er fort. »Sie kann fliegen ...« »Sie kann vor allem Rekrut Crum Angst einjagen«, knurrte Mor ven. »Ich hatte keine Angst...« »Aber wird sie Sergeant Bunch interessieren? Nein. Willst du zu ihm laufen und ihm deine Eule melden? Nein. Wird er sofort zum Zelt des Kommandeurs laufen und voller Eifer diese sagenhafte Ent deckung melden? Ich glaube nicht. Du etwa? Sind wir Naturbeob achter? Wir sind Wachtposten. Das ist der Grund, mein lieber Crum, warum eine Eule nichts ist.« Morven schnitt eine zufriedene Grimasse. Von solch billigen Siegen hängt jetzt meine geistige Gesundheit ab, dachte er spöttisch. Wahrhaft tragisch! Plaise Morven, ein dürrer junger Mann mit Brille, war vor dem Ausbruch des letzten Zenzanischen Krieges Student an der Univer sität von Agondon gewesen. Aber da er Student eines nicht sehr nützlichen Faches gewesen war, nämlich der Schönen Künste, mußte er zu den Soldaten gehen und, wie sie sagten, seine Bücher gegen eine Muskete eintauschen. Auf seinen Talar für seine Uniformjacke verzichten. Seine Last für Vaterland und König tragen. Es war einfach zu absurd. Trotzdem war es eine Quelle des
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Spaßes. Morven hatte eine Anzahl ausgesprochen geistreicher Briefe geschrieben, Fingerübungen in einer subtilen Ironie, die zweifellos fein genug war, um wie Sand zwischen dem groben intellektuellen Zugriff von Sergeant Bunch hindurchzurinnen. Letzterer war, wie Morven herausgefunden hatte, der Zensor des Kommandeurs. Bunch! Ein einschüchternder, schreiender Idiot! Bäh! Das unver meidliche Wissen, daß er jeder Person, die er bisher getroffen hatte, geistig überlegen war, spendete dem jungen Mann einen gewissen Trost. Nur die gelegentlichen Blicke, die er auf Kommandeur Veeldrop hatte werfen können, trübten Morvens Selbstzufriedenheit ein we nig. Das war ein Kerl, dem er lieber nicht in die Quere kam! Macht korrumpiert. Das stimmte zweifellos. Und es war auch die Bürde des Jelandros, dem dritten der Theaterstücke von Thell, dem großen Meisterwerk aus dem frühen Zeitalter der Zeit nach der Unschuld oder dem Zeitalter von Thell. Morven verschob ein wenig seine geschulterte Muskete und dachte an das Genie von Thell, der die agonistischen Hexameter zu einer Höhe geführt hatte, die seitdem nie wieder erreicht worden war. Wie angewidert Morven gewesen war, als sich Professor Mercol eines Tages in Javander-Term vom Fenster abgewandt hatte, seine Tiralos-Brille in der Hand, und seufzte, als würde er sich langwei len. Er hatte die Große Zäsur im fünfzehnten Gesang als »auf der Hand liegend« beschrieben. Alberner alter Narr! Der vertrocknete Pedant würde nicht einmal ein Genie erkennen, wenn er im selben Zimmer mit ihm wäre. Crum gab eine weitere Erzählung aus seiner Kindheit zum Be sten, in der offenbar Eulen eine Rolle spielten. Morven fühlte sich nicht verpflichtet zuzuhören. »Morven?« fragte Crum nach einer Weile. »Hörst du zu?« Keine Antwort. Crum preßte finster die Lippen zusammen und starrte in die Nacht hinaus. Die Landstraße verschwand schwarz und leer vor ihnen in der Ferne. Ihre einzige Lichtquelle in der ungeheuren Fin sternis war eine flackernde Kerze. Er hatte versucht, Morven zu erklären, was er meinte. Morven
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hörte natürlich wie immer nicht zu. Das Heulen einer Eule bei Schwarzmond war ein Omen. Es bedeutete, daß ein Zauber in der Luft lag. Na ja, das konnte es jedenfalls bedeuten. Kam drauf an. Das wußten doch alle. Der arme Morven! Manchmal tat er Crum leid. Er wußte einfach gar nichts! Crum gähnte. In dem Lager hinter ihnen auf der Lichtung herrschte Ruhe. Alle schliefen. Selbst Kommandeur Veeldrop ruhte vermutlich in diesem Augenblick. Ach, schlafen! Als kleiner Junge war Crum so aufgeregt gewesen, als die Soldaten durch das Dorf gezogen waren. Er hätte sich sofort anmustern lassen und wäre stolz darauf gewesen. Damals wußte er noch nicht, was er jetzt wußte. Schinderei und Plackerei, tagein, tag aus, und nachts auch noch Wache schieben! Und sie durften nicht mal diese schönen roten Jacken tragen! Er stampfte auf den Boden. Es war so kalt! Und das sollte die Jahreszeit des Theron sein! Der untersetzte Bauernbursche kam aus Varl, der südlichsten Ko lonie der Agonistischen Erlösung. Es war ein schlimmer Tag gewe sen, als das Musterungskommando in sein kleines Dorf eingeritten war. Sie wollten Freiwillige, und mittlerweile war Crum auch klar, daß es ein genauso mieser Moment war, als sie seinen Namen für eine Versetzung in die Täler der Tarn aufriefen. Dorthin zogen sie jetzt, wo auch immer das sein mochte. Er wußte nur, daß sie dorthin mar schierten ... und marschierten ... und marschierten ... Irgendwann würden sie ja wohl auch mal ankommen. Klar, bis dahin war er ein alter Mann mit einem Bart bis zu den Stiefeln! Rekrut Olch, der mit den Ohren wackeln konnte, während der Rest seines Kopfes vollkommen bewegungslos blieb, hatte gesagt, daß der Boden, über den sie gingen, ganz und gar aus Eis bestünde. Soldat Rotts, der gemein war, weil er Crum nicht an seiner JarvelPfeife ziehen ließ, sagte, im Himmel würde es weiße Berge geben. Crum wußte nicht, was er glauben sollte. Er konnte sich keins die-
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ser Dinge vorstellen. Es wurde einfach nur kälter, mehr wußte er nicht, und je weiter sie marschierten, desto kälter wurde es. »Ich wünschte, ich wäre wieder in meinem Bett in Varl«, sagte er. Morven zuckte zusammen. Varl! Der widerliche Akzent erzählte seine eigene Geschichte. Er überlegte kurz, ob er eine verächtliche Bemerkung über die Kultur dieser Kolonie machen sollte, aber da es seines Wissens dort keine gab, begnügte er sich statt dessen mit ei nem anderen Seitenhieb. »Schön von Mutti ins Bett gebracht und ordentlich zugedeckt?« Er konnte es besser, aber schließlich war es schon spät. Oder vielmehr früh. Crums Lippen zitterten. »Ich meinte, ich wäre lieber mit einer Hure im Bett«, platzte er heraus. Ah. Das war die Vorlage, die Morven brauchte. »Im Bett!« schnaubte er verächtlich. »Deine Sorte Nutte würde sich von dir höchstens an der Wand vögeln lassen.« Er mochte diesen Spruch. Er hatte ihn sogar schon mehrfach an gewendet. Deine Sorte Nutte. Ja, das gefiel ihm. Es war ordinär und weltgewandt. Daß er bis jetzt über keinerlei Erfahrung mit Huren oder mit Frauen im allgemeinen verfügte, spielte dabei keine Rolle. Sein Gefährte hatte auch keine, das stand für ihn fest. »Ich stehe immerhin im gleichen Sold wie du, hab ich recht?« er widerte Crum nach einer Weile. Meine Güte. Der Kerl war wie ein kleiner Terrier, der immer wieder angriff und einen alten Schuh bearbeitete. »Ich glaube kaum, daß man mir den Lohn gekürzt hat«, erwiderte Morven spitz. »Oder daß ich mich nach meinem ersten Schluck Schnaps blamiert habe.« Crum schnüffelte reumütig. »Es war nicht mein erster!« »Nein?« »Nein!« Crum regte sich allmählich auf. »Hör auf, mich zu schlagen.« Morven haßte Gewalttätigkeiten. Crum brach plötzlich ab. »Hast du das gehört?« Morven glättete seine Jacke. »Ich habe nichts gehört außer einem ignoranten Bauerntölpel, der keinerlei Empfindung für Ironie ...« »Klappe. Da war ein Geräusch.« »Wieder deine kleine Eule?«
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»Nein.« Hinter einer Ulmenreihe auf der anderen Straßenseite lag ein Feld, auf dem sie ihre Pferde grasen ließen. In der Nacht drang häu fig ein Schnauben oder Wiehern durch das Blätterdickicht zu ihnen herüber. Aber es waren Geräusche wie die der Eule, die für die Wa che nicht zählten. Sie waren nichts. Aber Crum hatte etwas gehört. »Morven?« flüsterte Crum. Morven war zusammengesunken. Jetzt straffte er sich und starrte geradeaus. »Hm?« »Glaubst du, daß wir mal nachsehen sollten? Ich meine, sollte einer von uns ...?« »Mmh.« Morven deutete herablassend auf die Bäume. Das leichte Zucken seiner Finger war eine einstudierte Geste. Sie verdeutlichte intellektuelle Überlegenheit und signalisierte Verachtung für ermüdende, geistig anspruchslose Gefährten. Mit dieser Handbewegung gab Morven zu verstehen, daß er, Morven, Crum nicht im Weg ste hen würde, falls der tatsächlich vorhatte, etwas zu unternehmen. Und daß er, Morven, seinerseits seine Verantwortung ernst nahm, stocksteif stehenzubleiben und seine Augen offenzuhalten, wie der Sergeant es befohlen hatte. Und da diese Aktivität darüber hinaus auf eine Weise komplex und anspruchsvoll war, die Crum nie im Leben verstehen konnte, gab es wohl kaum Zweifel daran, wer von ih nen beiden diese Aufgabe erfüllen mußte. Sollte Crum doch seinen Launen nachgehen, schienen die Finger zu sagen, Morven durfte einfach nicht von seiner Pflicht abgelenkt werden ... Crum schnüffelte und blieb dann stehen. Geh schon, schienen die Finger zu sagen. Crum blickte sich verstohlen um und kniff die Augen zusammen. War es noch dunkler geworden? Er griff nach der Laterne, ging in die Hocke und klappte die Krempe seines Hutes zurück. Vorsichtig und mit einem langen Schritt trat Crum auf die Straße. Sein erhobener Fuß verharrte eine Weile in der Luft, weil er ihm nicht befohlen hatte, sich zu senken. Es war eine steinige Straße, und er würde mit seinem Stiefel sicher ein mordsmäßiges Geräusch machen ...
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Schuhuu! Das war eine Eule. »Aua!« Crum fiel hin. »Crum!« »Ich glaube, ich hab mir den Knöchel verstaucht.« Morven seufzte und trat auf die Straße. »Morven!« Morven sah nach unten. Crum hielt ihn fest. »Nimm gefälligst deine Hand von meinem Fuß«, flüsterte Morven. Crum schnüffelte. »Da ist eine Eule.« »Hab ich gehört. Und jetzt laß los.« »Morven? Sie hat dreimal geschrien.« »Ach ja?« »Was ist, wenn es ein Verrückter ist?« »Was?« fuhr Morven ihn an. »Shh!« Morven riß sich los. Er spannte den Hahn seiner Muskete mit ei nem vernehmlichen Knacken. »Wer ist da?« rief er mit seiner gebieterischsten Hauptseminarstimme laut in die Dunkelheit. Plötzlich ertönte ein schrilles Kreischen, und eine große, helle Gestalt brach durch das Unterholz auf die Straße. Crum schrie, und Morven feuerte blindlings. Etwas plumpste zu Boden. Dann war es vorbei. Das heißt, fast. Der weiße Hengst galoppierte mit donnernden Hufen in die Nacht hinaus. Als er sich aufgebäumt hatte, war sein Reiter zu Boden gestürzt. »Du hast ihn umgebracht!« rief Crum verängstigt. Er war aufge standen. Seinen verletzten Knöchel hatte er vergessen. Dann stürmte er zum Körper des Diebes. Die dunkle Gestalt lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße. »Was machen wir jetzt?« »Das weiß ich doch nicht!« Morven mußte absurderweise an die Große Zäsur denken. »Ihr da! Was ist hier los ?« Sergeant Bunch. Mit einer Hand stopfte
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er sich das Hemd in die Hose, mit der anderen hielt er eine Laterne hoch. Er war aus einem Traum über eine gewisse Lady im Kurort Varby gerissen worden, die ein äußerst angenehmes Etablissement führte. Also war der fette Sergeant nicht zum Spaßen aufgelegt. Gnade den Männern, wenn das hier blinder Alarm war. Er würde sie dafür zur Verantwortung ziehen. Der Sergeant erfaßte die Lage mit einem Blick. »Fang das Pferd ein!« Er gab Crum einen Klaps. »Du! Dahin!« Er schob Morven zurück. »Gib mir Deckung. Er könnte bewaffnet sein.« »Ich g... glaube, er ist t... t... tot, Sergeant.« »Halt's Maul!« Er hielt die Laterne über die ausgestreckte Gestalt. Der Dieb war groß und schlank, trug einen weichen Hut und die zerrissene, schmutzige Kleidung eines Bettlers. Aber als der Sergeant den Mann grob herumdrehte, öffnete sich sein Umhang und enthüllte das bunte Kostüm darunter. »Ein Harlekin!« flüsterte Morven. Hatte er ihn getötet? Und dann geschah es. Der Sergeant schob den Hut zurück, der dem Harlekin über die Augen gefallen war. Sie sahen ein junges, aber verlebtes Gesicht, und dann bemerkten sie, wie das Gesicht im Licht der Laterne schim merte, bevor es sich auflöste. Plötzlich flammten die hellen Edel steine auf dem Kostüm auf, und im nächsten Moment war die Ge stalt verschwunden. Das einzige, was übrigblieb, waren der Hut mit einem Loch von einer Musketenkugel in der Krempe und der leere Umhang. Morven schnappte nach Luft. »Das gibt's doch nicht!« Sergeant Bunch sah ihn scharf an. »Was glotzt du so, Mann? Zurück auf deinen Posten!« Sergeant Bunch versuchte erfolglos, zu seinem erfreulichen Traum zurückzukehren. Es hatte keinen Zweck. Nachdem er sich einige Fünfe herumgewälzt hatte, entzündete der fette Sergeant erneut die Lampe und untersuchte gelangweilt den Hut und den Umhang des
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Bettlers, die er von der Straße aufgelesen hatte. Er könnte sie auch ins Feuer werfen, aber aus irgendeinem Impuls heraus inspizierte er sie genauer. Er drehte die Taschen um und fand nur zwei Dinge. Eins war ein grünes Rohr, eine Art Pfeife. Er setzte es an die Lippen und brachte einen hohen, scharfen Ton heraus. Dann zerbrach er die Pfeife und warf sie zur Seite. Vaga-Müll! Das zweite war ein Stück Papier, das aus einem Buch herausgerissen worden war. Es war ein dickes, gelbliches Papier und sorgfältig gefaltet. Sergeant Bunch faltete es auseinander. Eine Botschaft? Es standen nur vier Worte darauf, in einer eleganten, schwungvollen Handschrift. Die Handschrift einer Frau. Ich liebe dich, Tor. Der Sergeant hob eine Braue und überlegte, ob sich der Kom mandeur wohl dafür interessieren würde.
14. Der Schlüssel zum Orokon »Sterbe ich?« Aber diesmal war es anders. Diesmal war der Tod wie ein freund licher, verträumter, sanfter Schlaf. Jem öffnete die Augen und sah ei nen braungrünen Nebel. Dann schloß er sie wieder. Schwebte er? Die Kraft, die ihn durch das Dachfenster gebracht hatte, war nur ein schwacher Widerhall in seiner Erinnerung. Und der schwindelerre gende Moment vor dem Fall nur noch ein alter, vergessener Schmerz. »Nein, Kind, du wirst nicht sterben.« Der Klang der Stimme erschreckte Jem nicht. Sie raschelte wie ein trockenes Blatt in seinem Bewußtsein, ein Blatt, das sich vom Ast gelöst hatte und jetzt auf die gekräuselten Wellen eines Flusses her absank. Die Stimme war volltönend, aber leise, sie klang müde und weise. In dieser Stimme schienen all die Leiden der Welt versammelt zu sein, und gleichzeitig schien es, als ob sie durch diese Stimme wieder getilgt würden. Es war eine Stimme, die Jem schon einmal gehört hatte.
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»Wer bist du?« murmelte er in den grünbraunen Nebel. »Shh, Kind. Du bist noch nicht kräftig genug.« Jem fiel in den Zustand zurück, der einem Schlaf glich, obwohl es keiner war. Dunkel erinnerte er sich daran, daß er durch die Luft ge flogen war, und an die weiche, stachelige Substanz, die seinen Sturz abgefangen hatte. Er hatte kaum ein Geräusch gemacht. Aber jetzt lag er nicht mehr in einem Heustapel. Jem rührte sich. Als er diesmal die Augen öffnete, nahm er seine Umgebung ge nauer wahr. Zuerst erkannte er die felsigen Umrisse einer Höhle, schattig in dem unregelmäßigen Licht, bemerkte das rauchige Feuer mitten in der Höhle. Dann sah er die Gestalt in der dunklen Robe, die am Feuer hockte. Sie drehte sich zu ihm um und hob einen Kelch. Dampf stieg davon empor. »Trink das, Kind.« Jem gehorchte. Die Flüssigkeit schmeckte zwar bitter, war aber eigenartig wohltuend. Dann stieg wieder die Erinnerung an den ge deckten Teetisch in der Blütenhütte in ihm auf. Soll ich einschenken, Nathanian? Er sah auf seine Hände. Seine Nägel waren abgerissen und seine Handgelenke zerkratzt. Er zitterte und blickte zu der großen Gestalt hoch, die sich über ihn beugte. Er versuchte sie zu fixieren. Ein böser Mann. Ein sehr, sehr böser Mann. Dann erst bemerkte er unter der Kapuze des alten Mannes das vernarbte Gesicht und die leeren Augenhöhlen. »Ah!« Der entsetzte Aufschrei vermischte sich mit einem Ausruf des Schmerzes. Jem setzte sich aufrecht hin und spürte sofort einen scharfen Schmerz im ganzen Körper. Vorsichtig nahm der Mann ihm den Kelch aus der Hand. »Kind, sei vorsichtig. Deine Wunden sind noch offen.« »Wunden?« flüsterte Jem. Einen Moment sank er zurück, voller Verzweiflung, und dachte nur an Goodman Waxwells Axt. Er hob den Kopf und blickte nach unten. Er mußte sich anstrengen, um etwas sehen zu können. Er lag auf einem groben Matratzenlager. Das
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Fußende des kleines Bettes lag im Schatten, doch trotz der Dunkel heit konnte Jem unter der Decke die vertrauten Umrisse seiner Füße sehen. Er beruhigte sich wieder. Später sollte sich Jem an seine Flucht aus der Blütenhütte erinnern. Erst war er in den Schutz der Bäume gekrabbelt, dann weiterge krochen, tief in den Wald hinein. Dort hatte er sich manchmal an niedrigen Ästen festgehalten und konnte sich fast aufrecht hochziehen. Doch häufiger war er auf dem Bauch weitergerutscht und hatte seine verkrüppelten Beine hinterhergeschleift. Gelegentlich blieb er mitten im dichtesten Unterholz, zwischen Dornbüschen und Klet ten, erschöpft einige Minuten liegen, nackt, frierend und blutend. Ob er hätte sterben wollen? Manchmal spürte er nur Schmerzen und dann nichts mehr; nur an die Konturen des Gesichts erinnerte er sich, das er in einem letzten Augenblick der Klarheit gesehen hatte. Es hatte über ihm geschwebt, erschreckt und fasziniert. Da hatte schon der Morgen gegraut, und das Gesicht schien beinahe ein Teil des Blätterwaldes gewesen zu sein. Aber es war nicht das Gesicht des alten Mannes gewesen. »Ich bin Catayane.« An einem Abend einige Tage später nahm die undeutliche Präsenz des Mädchens für Jem endlich Gestalt an. Bis jetzt hatte sie sich hin ter dem alten Mann mit seiner Kapuze versteckt, ihrem Vater. Dennoch wußte Jem, daß es das Gesicht des Mädchens gewesen war, das ihm im Moment seines scheinbaren Todes erschienen war. Er saß jetzt aufrecht auf seinem groben Bett und betrachtete die Schüssel mit krümeligen, süßen Brocken, die ihm das Mädchen schüchtern gereicht hatte. Er blickte auf. »Catayane.« Langsam wiederholte er den Namen. Er selbst war ebenfalls schüchtern. Das Mädchen musterte ihn. Sie hatte ein breites Gesicht, eine wilde, dunkle Mähne, ausgeprägte Wangenkno chen und dunkle Augen, die ihn intensiv ansahen. Jem erwiderte ihren Blick.
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Sie hatte sein Leben gerettet. Dachte der Junge an das schmutzige, kleine Kind, das ihn vor Jah ren verspottet hatte, weil er nicht laufen konnte? Vielleicht. Aber er dachte mehr daran, wie er selbst damals gewesen war, wie er sich auf die Lippen gebissen und eine Efeuranke umklammert hatte, während er ihr auf der Handfläche seiner freien Hand eine glitzernde Goldmünze hinhielt. Du hast das fallen lassen. »Hast du die Münze noch?« Das Mädchen lachte nur, drehte sich um und verschwand. Später jedoch blieb sie länger bei ihm, griff nach seinen Fingern und ließ ihn den harten Kreis am Saum ihres Sackleinenkleides fühlen. Sie hatte das Gold des Harlekins dort eingenäht. »Ich werde sie immer behalten«, sagte sie. Als Jem das hörte, freute er sich und wunderte sich gleichzeitig. Er sollte noch oft nach der Münze tasten, wenn das Mädchen neben ihm saß. Die Tage verstrichen. Als Jems Kraft zurückkehrte, half ihm Cata, trug ihn aus der Höhle auf die Lichtung. Dort saßen sie an den sonnigen Nachmit tagen zusammen bis in die Abende hinein. Manchmal leistete der alte Mann ihnen Gesellschaft, manchmal waren sie allein. Jem wunderte sich über das merkwürdige Verhalten des Mäd chens. Manchmal kamen Vögel oder kleine Wildtiere zu ihr, ein ner vöses Eichhörnchen oder ein Rotkehlchen. Einmal erschien sogar ein Fuchs mit seinem leuchtendroten Schwanz. Als Jem das Mädchen nach ihren Kräften befragte, zuckte sie nur mit den Schul tern. Sie schien seine Verwunderung nicht zu verstehen. Sie verstand offenbar eine Menge nicht. Manchmal sagte sie: »Wenn du wieder gesund bist, nehme ich dich mit zum Fluß.« Oder: »Wenn es dir besser geht, gehen wir tiefer in den Wald hinein. Wir suchen den Waldtiger und seine Höhle.« Jem lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Ich werde niemals ge hen können, Cata.« Das Mädchen wurde zornig. »Deine Kratzer sind alle verschwunden, und deine Verwundun-
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gen heilen. Du wirst wieder gesund. Deine Beine werden wieder ge rade.« »Cata, ich bin ein Krüppel. Du weißt doch, daß ich ein Krüppel bin.« »Das stimmt nicht! Sonst hätte dir Papa das Genick gebrochen!« Es mußte ein Spiel sein, das das Mädchen spielte. »Papa«, sagte der Junge am Abend dieses Tages. »Hast du vor, mir das Genick zu brechen?« Er hatte den Ausdruck des Mädchens für den alten Mann übernommen. »Du hast doch keine Angst vor mir, Kind? Oder doch?« »Angst?« Jem mußte unwillkürlich lächeln. Aber dann kam ihm ein Gedanke, wie aus einem anderen Leben. »Tante Umbecca hat gesagt, du wärst böse.« Der alte Mann antwortete ernst: »In ihren Augen bin ich das auch. Es gibt Leute, die uns eine Rolle spielen lassen, obwohl es nicht un sere Rolle ist. Dann gibt es andere, die uns nicht am Leben lassen wollen, wenn wir in derselben Welt leben wie sie. Umbecca Rench ist so jemand. In deinem Fieber, Kind, hast du von vielen Dingen gesprochen. Von schrecklichen Dingen. Die arme Umbecca.« »Papa«, mischte sich Cata ein. »Jem kann doch laufen, hab ich recht?« Der alte Mann saß pfeiferauchend auf dem Baumstumpf neben dem Eingang der Höhle. Er hörte die Furcht in der Stimme seiner Tochter und zog sie an sich. »Kind«, sagte er liebevoll. »Du denkst an die Schneeschwalbe. Sie konnte ihre Natur nicht erfüllen. Aber was ist mit diesem Jungen? Soll er seine erfüllen?« »Papa, ich verstehe dich nicht.« Über dem Blätterbaldachin wurde der Abend zur Nacht. Die Zeit verstrich, aber für Jem waren diese Tage im Wildwald wie verzau bert und hatten nichts mit dem normalen Fluß des Lebens zu tun. Manchmal kam ihm der Gedanke, daß er sich nicht immer hier verbergen konnte. Dann dachte er mit einem plötzlichen Schmerz an seine Mutter und Nirry, und ihm fiel ein, daß die beiden im Un terschied zu ihm ihr Leben in der normalen Zeit führten. Glaubten sie, daß er tot war?
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Wieviel Zeit war verstrichen? Die Tage der Erholung verstrichen jetzt in einer trägen, ewig scheinenden Gegenwart. Aber diese Gedanken beunruhigten Jem nur kurz vor dem Ein schlafen. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger machte er sich dar über Sorgen. Als seine Wunden verheilt waren, kam das Mädchen nachts zu ihm, behutsam, legte sich neben ihn, drehte sich auf die Seite und legte ihm beschützend einen Arm auf die Brust. Sie waren heiter und gelassen, und tief im Wald hörten sie die Schreie der wei sen Schneeeule. Leise atmeten sie im Gleichklang. Der letzte Tag unterschied sich in nichts von den anderen Tagen, die bisher verstrichen waren. Es war nicht kalt, und kein Windhauch ließ die Blätter rascheln. Jem fiel nicht auf, daß die Vögel ruhig wa ren, obwohl er später dachte, daß er es vielleicht doch bemerkt hatte. Vielleicht schien auch die Sonne goldener auf die Lichtung, ließ den süßlichen Duft der Jahreszeit der Javander emporsteigen. Und es fie len doch schon die Blätter, viele Blätter, auf den Waldboden. Ja, letztendlich waren an diesem Tag die Anzeichen überall zu erkennen gewesen. »Kind, du hast den Zustand wiedererlangt, in dem du an diesem Tag aufgebrochen bist, an dem deine Tante dich zu dieser schlimmen Hütte geführt hat. Aber ist das auch deine wahre Natur?« fragte der alte Mann. Obwohl es eine merkwürdige Frage war, wußte Jem sofort, was sie zu bedeuten hatte. Er zitterte und wurde jetzt auch der Stille gewahr, die auf der Lichtung herrschte. Es dauerte nur ein paar flüch tige Momente, bis der alte Mann wieder sprach, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Es gibt vielleicht noch ein Heilmittel, das ich versuchen kann.« Er ging in die Höhle zurück, und als er wiederkam, hielt er einen kleinen Seihtuchbeutel in der Hand. Er schnürte ihn auf und schüttete ein wenig von dem Inhalt auf seine Handfläche. Dann bückte er sich zu den Kindern hinab, die ihn ehrfürchtig schweigend ansahen. Der Sand glitzerte schillernd im hellen Sonnenlicht.
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»Ob wohl die Zeit gekommen ist? Ich habe gedacht, diese Körner wären für mich selbst bestimmt gewesen, um dem Verfall meiner verletzten Sinne Einhalt zu gebieten. Aber ich bin alt. Bald ...« »Papa?« Er sank nach vorn. Blindlings tastete er nach Jem, als suchte er seine Hilfe. Mit der Hand, in der er den Sand hielt. Dann öffnete der blinde alte Mann seine Faust und ließ die Körner über Jems Haare rieseln, über sein Gesicht und seine Augen. Jem blinzelte. Cata kniete neben dem Jungen und hielt den Atem an. »Wenn ich recht habe«, fuhr ihr Papa fort, »dann erscheint uns dieses Kind nicht so, wie es eigentlich sein sollte, sondern in der fehlerhaftesten Mimikry seiner wahren Natur. Die Erscheinung dieses Kindes in der Welt ist nur ein schwacher Schatten seines wahren Selbst.« Mit diesen Worten wandte sich der Alte an seine Tochter. »Mein Kind, sammle einige Handvoll Erde des Wildwaldes. Die fruchtbarste Erde, mit vielen Sporen und zerfallenen Blättern und Eulenkot und trockenen, abgeworfenen Resten von Käferflügeln. Hol mir frisches Wasser vom Fluß. Diese Elemente werden wir zu einem zähen Schleim kochen, und in diesen Schleim rühren wir den glitzernden Sand. Dann, so glaube ich, wird sich uns sein Zauber von selbst enthüllen.« So geschah es, und als alles fertig war, legten sie Jem auf ein Bett aus Blättern mitten auf die Lichtung, eingewickelt in seine Decke. Dicht neben ihm brannte ein Feuer, und darüber hing der Kessel mit dem Schleim. Er fing an zu blubbern. Der alte Mann kniete neben dem Jungen, und Cata beobachtete ihren Papa ernst, als der langsam und leise zu singen begann. Es war ein gemurmeltes Geplapper, das auf fremde Dimensionen anspielte. Es war ein unverständliches, wildes Geräusch, aber dennoch nicht tierisch. Es war das Geräusch eines wilden Menschen. Cata wippte auf ihren Fußballen. Sie legte den Kopf in den Nacken, und die Laute drangen unwillkürlich auch aus ihrem Mund. Das Feuer knackte und knisterte.
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Es bestand aus besonderen Ästen und Rinden und produzierte einen schweren, süßlichen Rauch. Dieser Rauch wurde dichter, stieg in die Luft und vermischte sich mit dem goldenen Sonnenlicht. Vorsichtig schlug der alte Wolveron die Decke auf, die den Jungen einhüllte. Lange strich er mit den Fingern über die blasse Haut, von der Stirn bis zu den Füßen und wieder zurück zur Stirn. Zurückhaltend, wie aus großer Höhe, betrachtete Cata die Nacktheit des Jungen. Mittlerweile waren seine Narben fast vollkommen verheilt. Er war wieder gesund. Fast. Der Junge hatte die Augen geschlossen und atmete kaum. Und selbst diese schwachen Atemzüge schienen aufzuhören. Es wirkte, als läge er im Sterben. Cata liefen Tränen über die Wangen. Plötzlich unterbrach der alte Mann seinen Gesang. Er nahm den Kessel vom qualmenden Feuer und goß den Schleim unvermittelt über die Haut des Jungen. Cata schrie auf, aber ihr Schrei war hohl, ohne wirkliches Gefühl, wie das zufällige Zwitschern eines Vogels. »Hilf mir, Kind!« befahl ihr Papa. Catas Hände reagierten. In dem dunklen Schleim glitzerten Tau sende kleine Körner. Sie wollte sie berühren. Und sie wollte auch den Jungen berühren. Eifrig eilte das Mädchen an die Seite ihres Papas, der den Schleim über das unbewegte Gesicht strich, über den Körper, schließlich über die Gliedmaßen. Sie rollten den Körper auf die eine, dann wie der auf die andere Seite. Sie gossen Schleim in das Haar und besto chen damit die Augenlider, sie rieben die kleinen, empfindlichen Körperteile zwischen den Schenkeln ein. Als endlich der ganze Kör per mit dem Schleim bedeckt war, nahm der alte Wolveron eines der verkrüppelten Beine in die Hand. Er massierte die schwärzlich schleimige Haut. Und packte fester zu. Er schrie. Es war, als nähme er den Schmerz des Jungen auf sich und zwänge ihn durch die Adern seines eigenen, gequälten Seins. Ein scharfes Knacken ertönte. Erst das gebogene Bein.
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Dann das gekrümmte. Cata fühlte sich elend. Der Qualm vom Feuer wurde dichter, brannte in ihrem Hals und in ihren tränenüberströmten Augen. Sie konnte kaum noch etwas sehen. Als die Schwärze schließlich wich, sah sie, daß ihr Papa vom Feuer zurückgetreten war und sich von ihr abgewendet hatte. Er stützte sich auf seinen Stab. »Schlüssel des Orokon«, intonierte der alte Mann. »Es mag sein, daß die Magie nicht stark genug ist. Es mag sein, daß mein eigenes, versehrtes Sein zu zerbrechlich ist, um die Bürde deiner Leiden auf sich zu nehmen. Es mag sein ... mag sein ...« Er schwankte, als würde er gleich fallen. »Papa«, flüsterte Cata. »Papa!« rief sie dann. Denn Jem stand auf, wie in Trance, stolperte wie ein junger Faun im Qualm und im goldenen Sonnenlicht. Dann wich der trancear tige Ausdruck auf seinem Gesicht ungläubigem Erstaunen. Er konnte stehen! Er hielt die Luft an. Stieß einen Schrei aus, als hätte er Schmerzen. Cata bewegte sich auf ihn zu. Er war am ganzen Körper schwarz, so dunkel wie die Nacht, aber er glitzerte wie mit Tausenden von Sternen besetzt. Sie ergriff seine Hände und zog ihn staunend an sich. Rauch umhüllte ihren Papa, und einen Augenblick lang waren sie zusammen, Mädchen und Junge, in einem ewigen Moment, der dem Lauf der Zeit trotzte. »Jem.« Sie flüsterte seinen Namen. Es war wie ein magisches Wort. Sie löste sich. »Jem!« Plötzlich ließ sie seine Hände los und rannte. Sie stürmte durch das Unterholz. »Jem! Jem!« Sie rief das magische Wort, rief es den Bäumen, der Erde und der Luft zu. Sie sprang. Und drehte sich um sich selbst. Ja! Ja, sie hatte es gewußt! Er lief hinter ihr her. Auf der Lichtung stand der alte Wolveron auf seinen Stab gestützt und schwankte. Beinahe wäre er gefallen. Qualm umhüllte ihn wie
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der Vorbote seiner Blindheit, die ihn jetzt, so dachte er, umgeben würde, endgültig und für immer. Damals, auf dem Jahrmarkt, bei seiner Halbschwester, als das Mädchen noch klein war, hatte er gewußt, daß dieser Sand irgendwie ein Teil der Rolle war, die er zu spielen hatte. Was er damals allerdings nicht gewußt hatte, war, daß er ihm nicht seine Nachtsicht zurückgebe, sondern ihn statt dessen ihrer berauben würde. Es war richtig. Es war gut. Aber hätte er, augenlos, weinen können, hätte er es in diesem Augenblick getan. »Du hast deine Rolle gut gespielt«, sagte eine Stimme. »Xal?« Wolveron drehte sich um. »Die Verzückung in dir ist stärker, als ich geglaubt habe. Du bist mehr als nur ein Halbblut-Vaga, Silas! Dein Herz, das glaube ich nun, schlägt ganz und gar für den allbarmherzigen Koros.« Die alte Frau trat auf die Lichtung. Sie hatte hinter den Bäumen gestanden und die Ereignisse beobachtet. Liebevoll führte sie ihren Halbbruder zu dem Baumstumpf neben dem Höhleneingang und setzte sich neben ihn. Sie hielt seine Hände, schob seine Kapuze zurück und strich mit den Fingern über sein entstelltes Gesicht, über die Wangen, wo vielleicht die Tränen geflossen wären. Aber jetzt wären es möglicherweise Freudentränen gewesen. »Aber Xal«, sagte der Alte verwundert. »Wie kommst du hier her? Ich hatte nicht geglaubt, daß du jemals zurückkommen wür dest!« »Aber Silas, du mußt es doch gespürt haben. Wir waren alle hier, die ganze Zeit, während der Schlüssel zum Orokon hier bei dir ge wesen ist. Oh, sicher, wir sind nicht mehr die, die wir einst waren. Es gibt nur noch einige zerlumpte Überlebende, in einem schäbigen La ger am Rand des Dorfs. Wir schlagen uns durch, so gut wir können, aber die alten, großen Jahrmärkte auf dem Dorfanger, nun ja, sie gehören der Vergangenheit an.« Die alte Frau senkte traurig den Blick. »Abgesehen davon wartet bald eine andere Festlichkeit auf Irion.« »Was meinst du, Xal?« »Es geschieht, wie es prophezeit wurde. Die Eroberer haben auf der ganzen Linie gesiegt, und obwohl sie nicht mit dem Bösen zu vergleichen sind, das sich sehr bald über dieses Königreich legen
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wird, sind sie für die Kinder des Koros dennoch schlimm genug. Wo die Blauröcke auftauchen, werden wir geschmäht. Im letzten Zy klus haben sie uns noch nördlich über Harion hinausgetrieben, und selbst hier, das wissen wir, folgen sie uns auf dem Fuß.« »Aber Xal, warum seid ihr nicht nach Agondon aufgebrochen? Können wir dort nicht legal als Gaukler arbeiten?« »Viele von uns sind die Fahle Landstraße hinuntergezogen. Aber, Halbbruder, wie könnte ich nach Agondon gehen, wenn ich doch weiß, daß sich unser Schicksal hier offenbaren wird?« Die Halbgeschwister schwiegen. Auf der Lichtung verflüchtigte sich der Qualm, und das Feuer brannte herunter. »Xal, werde ich jetzt vollkommen blind sein?« fragte der alte Mann schließlich. Xal musterte aufmerksam das zerstörte Gesicht. »Noch nicht, Halbbruder. Was du heute getan hast, mag den Augenblick hinausgezögert haben, oder vielleicht ist er auch einfach noch nicht ge kommen. Aber ja, Halbbruder, bald wird es passieren. Die Fäden entwirren sich. Das Ende mag langsam eintreten oder vielleicht auch schnell. Aber es wird kommen.« »Ja. So ist es bestimmt.« »Mein teurer Bruder!« Xal schluchzte auf und umarmte den alten Mann. »Die Verzückung zeigt uns, daß es ein Muster gibt, und all deine Leiden sind ein Teil dieses Musters. Zuerst, Silas, wird es so aussehen, als wärst du gescheitert. Aber das bist du nicht. Du hast deine Rolle gespielt, so wie der Zwerg die seine. Du hast das dritte Stadium eingeläutet. - Es ist bestimmt, daß fünfmal - und auf fünf Arten - der Schlüssel zum Orokon sein verkrüppeltes Wesen trans zendieren wird. Jedesmal wird die Kraft, die er gewinnt, zu schwach sein, um ihm bei seiner Suche helfen zu können. Das erste Mal wird er sich bewegen, aber nicht mit seinen Beinen. Das zweite Mal wird er sich wiederum bewegen, aber auch jetzt nicht mit seinen Beinen. Das dritte Mal wird er gehen, aber nur für einige Augenblicke. Beim vierten Mal wird er gehen, aber nur mit jemand anderem. Das fünfte Mal wird die größte Transzendenz von allen sein, und sie wird nur eintreten, wenn er seine Bestimmung erkannt hat. Diese letzte Transzendenz wird ebenfalls scheitern, denn sie wird nicht in unse
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rer Dimension stattfinden; danach jedoch wird das Kind laufen können, und zwar in seiner eigenen Dimension. Erst dann wird er bereit für die Suche sein. Und dann muß der Harlekin seine Rolle spielen.« »Ich hatte Angst um den Harlekin«, sagte der alte Mann. »Ist er in Sicherheit?« »Er ist in Sicherheit, Bruder. Aber er wartet. Die Zeit ist noch nicht gekommen.« Der alte Mann wurde traurig bei dem Gedanken, daß seine Zeit bereits verstrichen und jetzt unwiederbringlich verloren war. Es hörte auf, natürlich. Es hörte plötzlich auf. Jems Beine waren gerade und stark. Er brach durch das Unterholz und holte Cata ein. Sie schoß davon. Er holte sie wieder ein. Sie juchzten und schrien. Und liefen und liefen. Es gab keine Hindernisse. Der Wald um sie herum verblaßte wie eine grüne Illusion, und es war, als liefen sie durch ihre eigene Dimension. Sie schrien ihre Namen. Dann geschah es. Ein Pferd. Ein Reiter. Sie krachten zurück in die Dimension, die sie verlassen hatten. Jem schrie. Cata schrie. Das Pferd, groß und schwarz, scheute. Es war so plötzlich aufgetaucht, als wäre es eine Erscheinung. »Heda!« Der Reiter bemühte sich, sein Pferd unter Kontrolle zu behalten. Jem nahm den Anblick mit einem Schlag in sich auf: die schwarzen Stiefel, die weiße Hose, den blauen Uniformrock mit seinen diago nalen weißen Streifen. Den Dreispitz. Cata wirbelte auf dem Absatz herum. »Schnell, Jem!« Sie packte seine Hand. »Halt!« schrie der Blaurock. Hufgetrappel donnerte heran. Ein anderer Reiter war hinter ihm. Und noch einer. Noch einer. »Oh!« schrie Jem. Seine Beine gaben unter ihm nach. Er versuchte, Catas Hand zu halten, aber er schaffte es nicht.
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Er versuchte, sich aufzurappeln, aber auch das mißlang. Seine Beine waren verkrüppelt. Es war alles eine Illusion gewesen! Es war nur eine Illusion! Die Reiter umringten ihn. Er schrie Catas Namen, doch plötzlich war auch sie nur eine Illusion. Sie war verschwunden. Er konnte nur hilflos daliegen, während die Blauröcke abstiegen, ihn musterten und seinen schmutzstarrenden Körper mit ihren Ba jonetten pieksten. »Ein Vaga-Bastard?« »Es ist ein Junge.« »Wie schade!« Rauhes Gelächter. »Was sollen wir mit ihm anfangen?« Der verkrüppelte Junge barg das Gesicht in den Händen. Von den Bäumen sanken brüchige, goldene Blätter zu Boden.
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»Ich mag diese Hose nicht.« »Was soll das heißen: Du magst sie nicht?« Crum kratzte sich am Schritt. »Sie ist zu eng. Und dieser Aufzug ist albern. Ich verstehe nicht, warum wir unsere Uniformen nicht tragen dürfen.« Morven verdrehte die Augen. »Sergeant Bunch hat es doch erklärt, oder nicht? Wir sollen uns unter die Leute mischen. Zwei ein fache Bauernburschen, die die Vagas besuchen. Wirklich, Crum, ich dachte, daß das ziemlich einfach für dich wäre. Gerade für dich.« »Hm?« Morven ging voraus. Er paffte an seiner Maiskolbenpfeife. Ja, er hatte einen weiteren Sieg errungen. Der arme Crum war ein hoff nungsloser Fall. Wie amüsant, daß er, Morven, ein zivilisierter und gebildeter Kerl, in der Rolle eines Tarn-Bauern beeindruckender war! Andererseits hatten alle Meister an der Junior- Akademie seine Darstellung des Bettlers von Wrax gepriesen. Wenn es eine Bedin gung für die Schauspielerei gab, das wußte Morven, dann war es Vorstellungskraft. Das Vaga-Lager tauchte vor ihnen auf. Es lag auf einem Feld am Rand des Dorfes. Während des letzten Monats hatten sich die Ver einigten Regimenter der Tarn-Mission im Tal von Todek versteckt gehalten, einem einsamen, tiefen Tal auf der anderen Seite des Wild waldes. Späher zu Pferde und zu Fuß hatten die Dörfer ausspio niert, in die sie bald einrücken sollten. Morven und Crum hatten ebenfalls eine Aufgabe zu erfüllen. »Warum gehst du so komisch?« Crum hatte Morven eingeholt. »Was meinst du damit? Ich bin ein Bauer. Die gehen schlurfend, ungeschlacht, schleppend.« Morven wollte noch hinzufügen, daß er seinen Gang dem natürlichen von Crum nachempfunden hatte, überlegte es sich jedoch anders.
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»Du siehst aus, als hätte dir jemand eine Karotte in den Hintern geschoben.« Morven zog gerade an seiner Maiskolbenpfeife, verschluckte sich und hustete. »Rekrut Crum!« sagte er, nachdem er sich erholt hatte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du ein Talent für Vulgarität hast? Ich erinnere mich, daß Professor Mercol dasselbe von Dronwal behauptete, dem großen Chronisten der späten Horen-Dynastie. Meiner Meinung nach ist das ein schlimmes Mißverständnis; auf dich angewendet, Crum, denke ich jedoch, daß Mercols ironisches Lob nicht ganz unzutreffend ist...« Aber Crum hörte nicht zu. Er beobachtete das Vaga-Lager. Es erstreckte sich um eine alte Scheune herum auf einem entlegenen Feld, das am Fuß der ersten Anhöhen des Hochlandes oberhalb des Dor fes lag. Für Crum war es eine magische Vision, eine Szenerie aus bemalten Wagen, gestreiften Buden und Ponys, die sich hell gegen die finstere Burg und die Berge abhoben. Glockengebimmel und das kratzende Geräusch einer Fidel drangen bis zu ihnen herüber und entführten Crum in seine Jugend und die Zeit der Vaga-Jahrmärkte. Das war damals gewesen, bevor alles in Varl so schlimm geworden war und die Vagas verschwanden. Dies hier war kein Jahrmarkt. Es war armselig, dürftig und schäbig, doch hier, in diesen abgelegenen Tälern der Tarn, genügte es dem heimwehkranken jungen Mann. Plötzlich kam ihm diese fürchterliche nordische Gegend nicht mehr gar so furchtbar vor. Außerdem war es richtig warm. Crum vergaß seine zwickende Kleidung und ging ungeduldig weiter. »Komm schon, Morvy!« Morven mußte laufen, um Schritt halten zu können. Er war äußerst verärgert. Sein schleppender Gang paßte nicht zum Laufen, und außerdem sollten sie doch zusammenbleiben! Zum tausendsten Mal wünschte sich Morven nach Agondon zurück; ja, er wünschte sich sogar, daß er wieder in einer Vorlesung von Professor Mercol wäre! Ein schleichender Ekel befiel Morven, als Crum ihn in das Vaga-Lager führte. In Morvens Augen war das Lager nur eine vulgäre Ansammlung von heruntergekommenen Wagen und verblichenen Zelten. Von
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kleinen, verstreuten Feuern stieg Rauch auf. Klapprige Mähren wanderten umher, wo sie wollten. Sie waren nicht angebunden. Überall liefen nackte, schmutzige Kinder herum. Man konnte über das Militär sagen, was man wollte, aber es hielt die Dinge wenigstens in einer gewissen Ordnung. Das Vaga-Lager dagegen war nur ein zusammengewürfelter Haufen aus Dreck und Lärm. An einem sol chen Ort konnte der Geist nicht überleben! Eine Frau mit einem Turban und bunten Gewändern ging an ihnen vorbei. Morven stellte entsetzt fest, daß sie ihr Kind an ihrer Brust stillte. Sie lächelte ihn an, und zu seinem noch größeren Entsetzen schien sogar etwas wie eine ... eine Einladung in ihrem Blick zu liegen. Morven lief rot an. Eine Gruppe dunkelhäutiger Männer mit Ohrringen bedachte die beiden falschen Bauern mit forschenden Blicken. Aber es lag we der Mißtrauen noch Feindseligkeit darin, sondern vielleicht eher etwas Wissendes. Vielleicht sind die Männer ja berauscht, dachte Mor ven angewidert. Sie ließen einen großen, irdenen Krug herumgehen und tranken unmäßig daraus. Einer der Männer zupfte ein merk würdiges Saiteninstrument. Er trug ein rotes Stirnband. Morven schüttelte sich und zog Crum weiter. Crum protestierte. Er hatte gerade einen Schluck aus dem Krug annehmen wollen. Die Männer lachten, als die beiden Soldaten weiterstolperten. Crum ließ sich jedoch nicht einschüchtern. »Morvy, sieh mal!« Der junge Mann aus Varl deutete auf einen dunkelblauen Vorhang, auf den helle Sterne gestickt waren. »Das ist das Weib der Weisheit! Komm, mal sehen, ob sie da ist!« Aber diesmal folgte Morven seinem Freund nicht. Er hatte trotzig das Kinn vorgeschoben, und sein Blick war in die Ferne gerichtet. Er wußte, was er zu tun hatte. In seinem Gedächtnis würde er eine Beschreibung dieser heruntergekommenen Menschen und ih res Lagers anfertigen; eine kleine Anleihe beim Verseschmied Dron wal müßte eigentlich genau das richtige sein. Ja. Seine Gedanken ordneten sich wie von selbst in kunstvollen Couplets. Wenn er sei nen Bericht abgab, würde Sergeant Bunch von Rekrut Morvens Künsten erschüttert sein. Und plötzlich war Morven glücklich.
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Es war die alte Magd, die die erste Vorahnung hatte. Die alte Dienerin hängte eines Morgens im Garten hinter der Blü tenhütte die Unterröcke von Goody Waxwell zum Trocknen auf, als ein altes Weiblein auftauchte, noch älter als sie selbst. Sie humpelte und hielt ein kleines Weidenkörbchen hoch. »Fingerhüte, Nadeln oder Garnrollen?« fragte sie mit schwacher Stimme. Doch sie wurde unmerklich immer fester und voller, als sie nach den Stopfarbeiten fragte, die die alte Dienerin versehen mußte, und nach der Farbe der Kleider, die sie am häufigsten auszubessern hatte. Aron Throsh, Bohne, spürte als nächster, daß etwas Merkwürdi ges geschehen würde. Er wischte sich gerade im Trägen Tiger einen Schnurrbart aus Bierschaum von den Lippen, als ein gepflegter jun ger Mann, der auf einem Pferd angeritten gekommen war, Bohnes Arm packte und wissen wollte, ob er das Kettengebet aufsagen könne. Bohne hatte vor Angst einen Kloß im Hals. Er war in letzter Zeit immer verschlossener und heimlichtuerischer geworden. »Laß den Jungen in Ruhe!« brummte der alte Step hei hinter sei nem Bierkrug. Als der alte Mann später die Straße zur Burg hinauffuhr, blieb er stehen, um einem Bettler eine Münze zuzuwerfen. Bis dahin war ihm auf dieser Straße noch nie ein Bettler begegnet. Aber noch bevor er darüber nachdenken konnte, saß die Gestalt schon neben ihm auf dem Kutschbock, erzählte ihm von seinen Sorgen und lud Ste phel ein, ihm die seinen anzuvertrauen. Am nächsten Morgen im Schloß mußte Nirry den Bettler hinauswerfen. Etwas an ihm war ihr unheimlich. »Motley! Ich bitte Euch!« hörte sie ihn sagen und sah, wie er sich mit einer merkwürdigen Intensität zu ihrem Vater hinabbeugte. Der Bettler sprach von anderen Mitgliedern seines Berufsstandes und ließ sich über deren Besonderheiten aus. Und scheinbar beiläufig erwähnte er einen Kerl, der unter seinen Lum pen ein Harlekinkostüm trug. »Ihr habt nicht zufällig in letzter Zeit so einen Kerl gesehen, Meister Stephel?« Ein paar Tage später war alles vorbei. Bevor die Blauröcke kamen, fielen die geschrumpften Blätter von
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selbst von den Zweigen und schwebten trocken durch die Luft. An diesem letzten Abend hielt Goody Throsh inne, als sie gerade ihre rote Perücke aufsetzte, und blickte auf den Dorfanger. »Eine Verän derung steht ins Haus«, sagte sie zu sich selbst. Wolken zogen sich zusammen, und das schwache Tageslicht schien wie durch einen ungewohnten Filter. Die Häuser auf der anderen Seite des Angers sahen aus wie in einer Fantasie, als wären sie nicht ganz mit dem Boden verbunden. Die alte Frau trug Rouge auf und ging hinunter. Ein braunes Blatt flatterte gegen das Fenster. Es klebte einen kurzen Moment an der Glasscheibe und wehte dann weiter. »Und ich dachte erst neulich, daß es wieder wärmer würde«, be schwerte sich Rekrut Crum in diesem Augenblick mit vollem Mund. In den Tiefen des Tals von Rodek hockte der junge Bauer aus Varl in seinem Wintermantel und löffelte mißmutig seine klumpige Ration. Anklagend sah er Rekrut Olch an. »Du hast behauptet, ich würde mich daran gewöhnen, Zappelphilipp!« »Ich niemals. Pfui!« Olch tat, als müßte er sich vor Ekel schütteln. »Du hast nicht mal den kleinsten Schimmer, Varly. Weiß du, wenn ich du wäre, würde ich mir von jetzt an vor Angst in die Hose pis sen.« »Was?« »Es ist so, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. ›Ganz schön kühl da drüben.‹ Das klingt doch nachvollziehbar, stimmt's? Ich würde aufpassen, Varly. Bestimmte Dinge könnten einfach so ...« Er schnippte mit den Fingern. »Weißt du, was ich meine?« »Nein.« Crum sah ihn verständnislos an. Soldat Rotts lachte, daß sein Schmerbauch wackelte. »Mach dir keine Sorgen, Junge. Diese Tarnies werden uns vielleicht ein bißchen Feuer unterm Hintern machen, wenn es erst mal Morgen wird! Du bist so still, Professor. Was glaubst du denn, hm?« Morven saß zusammengesunken da und brach ein Stück Brot von seinem Laib ab. Der junge Gelehrte war seit einigen Tagen ziemlich still. Er fühlte sich gedemütigt. Hatte er doch eine so brillante Rede über die Vagas verfaßt. Und er hatte angenommen, daß Sergeant Bunch beeindruckt sein würde, ja, daß er vielleicht sogar mit dem
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Gedanken spielte, ihn diese Rede vor dem Kaplan wiederholen zu lassen. Statt dessen hatte Sergeant Bunch ihn angeschrien und ihm befohlen, ordentlich zu sprechen. Ordentlich! Morven blickte hoch, als wolle er in die Ferne schauen. Doch er sah nur eine Reihe Latrinen. Kläglich versuchte er, die Frage zu beantworten. »Du redest, als wären wir in einem fremden Land, Meister Rotts. Aber es ist doch immerhin noch Ejland, oder nicht? Könnte man nicht sogar zustimmen, wenn man die Tarn nicht nur als einen Randbezirk der Agonistischen Länder ansieht, sondern auch als ein lebenswichtiges Element für ihre Identität? Betrachtet doch gefäl ligst in dieser Diskussion die Chroniken des Dronwal...« Prrpp! »Mensch, Rottsy!« Soldat Rottsy wedelte mit seinen Rockschößen. »Das sind die Bohnen!« Rekrut Olch kicherte und wackelte mit den Ohren, einfach nur so. Rekrut Crum hatte sich in seinen Wintermantel eingekuschelt und schnüffelte. Der Gedanke an den nächsten Morgen erfüllte ihn mit Furcht. Sie würden wieder marschieren, und es war so kalt! Am nächsten Morgen trat die Veränderung tatsächlich ein, die Goody Throsh hatte kommen sehen. In der Nacht waren die Blätter wie Ratten über den Anger ge huscht, verfolgt von scharfen Regenböen. Jetzt hing ein grauer, feuchter Nebel über dem Dorf. Aron Throsh stieg vorsichtig mit ei nem gesprungenen, irdenen Nachttopf in der Hand die Treppe vom Nova-Riel-Zimmer herunter. Durch das Fenster auf dem Treppen absatz sah er nur einen dämmrigen Nebel. In der Nacht im Bett hatte er die ganze Zeit den herumhuschenden Ratten zugehört. »Was ist passiert?« fragte er einige Male laut, während Polty schnarchte. Ihr Zimmer stank schon wieder. Während der letzten Monate hatte Poltys Bauch - oder genauer gesagt, sein Darm - einige gravierende Irritationen erlitten. Bohne betrat erleichtert den kalten Hof der Taverne und atmete tief ein. Als der Junge den Nachttopf umstülpte, hörte er den Knall. Bumm!
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Es war ein Geräusch wie Donner. Vögel flatterten auf und kreischten. In der folgenden Stille senkte Bohne den Nachttopf langsam auf den Boden. Die flüssigen Exkremente von Poltys Darm bildeten ei nen dunklen Fleck auf dem schlammigen Boden des Hofes. Vorsichtig ging Bohne auf nackten Füßen in die Taverne zurück. Er schlich ans Fenster des leeren Gastraums, öffnete es und spähte hinaus. Das Geräusch war vom Anger gekommen. »Aron? Was war das?« fragte seine Mutter beunruhigt von oben. Bumm! Bumm! Dann ertönten Trommelschläge, und sie signalisierten noch mehr als das Geknalle, daß die alten Tage in Irion zu Ende gingen. Etwas war passiert. Endlich war etwas passiert. Die Dorfbewohner versammelten sich langsam auf dem Anger. Es fing an zu regnen. Schließlich prasselte es auf das braune, verbli chene Gras und das gelbliche Unkraut, auf die lila und rotorangen Blätter. Gleichmäßig durchnäßte der Regen auch die braungewan deten, zusammengezogenen Schultern der Bauern und die leuchtenden Röcke der Soldaten. Er rann um die schwarzen, geöffneten Lip pen der Kanone, glitt über die gespannten Felle der Trommeln, tropfte vom Hutrand des Kaplans, der die Szene vor sich skeptisch betrachtete. »Glauben Sie, daß alle gekommen sind, Sergeant?« »Alle wohl nicht, Herr.« »Ich würde sagen, es sind genug.« Die Trommelwirbel verklangen, und mit Hilfe seines Sergeanten balancierte der Kaplan unbeholfen auf dem Faß, das er mit voll mundigen Entschuldigungen von dem Jungen aus der Taverne ge borgt hatte. Eay Feval entrollte ein hellgelbes Pergament und räusperte sich. Ein Pferd wieherte. Gelächter brandete auf. »Frauen und Männer von Irion ...«
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Am Rand der Menschenmenge stahlen sich bereits einige fort. Eay Feval lächelte verbissen. Man hätte etwas dagegen tun sollen. Aber, aber ... Der Kommandeur hatte sich unmißverständlich aus gedrückt. Nichts, was nicht absolut notwendig war. Verstohlen ta stete Eay Feval nach seiner Pistole und spürte ihr beruhigendes Ge wicht an seiner Brust. »Frauen und Männer von Irion ...« Plopp! Er hielt das Pergament hoch, aber es nützte nichts. Die Tinte verlief. Feval seufzte. Was nützte es? Er würde improvisieren. Er holte tief Luft, und die Worte kamen ihm leicht über die Lippen. Er proklamierte die Wohltaten des Regimes der Blauröcke; er ver kündete die Macht und den Ruhm Seiner Kaiserlichen Agonisti schen Majestät, die Kraft seiner Armeen und die Gerechtigkeit sei ner Gesetze. Seine Tapferkeit und seine Gnade und seine Weisheit und seine Frömmigkeit; er hielt eine Laudatio über die großen Siege in den Ländern der Zenzaner und den neuen Ruhm, der wie der leichte Regen (hier kicherten einige Zuhörer vernehmlich) jeden Winkel des gesegneten und bevorzugten Landes Ejland befruchten würde. Irion würde wieder zu seiner alten Größe finden. Irion würde Garnisonsstadt. »Ein Hoch auf den König!« »Der König!« riefen die Soldaten, und mit ihren nassen Trom meln schlugen sie einen Wirbel, als die Fahne der Blauröcke auf dem Anger entrollt wurde. Pfeifen schrillten, und sie intonierten das Hohelied der Flagge, die letzte und erhabenste Komposition der Lieder der Überlegenheit. An diesem Punkt, so hatte der Kommandeur vorgeschlagen, sollte Eay Feval versuchen, die Dorfbewohner zum Mitsingen zu animieren. Die Macht der Hymne würde ihre schlichten Herzen aufwühlen. Und neue Loyalität festigen. Alte Wunden heilen. Eay Feval betrachtete die Dorfbewohner und hielt das für keine gute Idee. Vermutlich konnten sie sich nicht einmal an die Worte erinnern.
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16. Der Kaplan macht Besuche
Einige Tage später machte der Kaplan zwei Besuche. Beide galten Dorfbewohnern, die dem Ruf der Trommeln nicht gefolgt waren. Sein erster Besuch führte ihn zur Burg. »Hauptman Feval, Madam«, verkündete ein mürrisches Dienst mädchen und schob ihn in eine höhlenartige Wohnung. Wie schäbig sie war! Wie trist! Affektiert blickte sich der Kaplan um. Durch die Vorhänge eines großen Bettes nahm er die Umrisse einer liegenden Gestalt wahr. Die fette Frau in Schwarz, die am Kamin saß, machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Sie würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Er preßte die Lippen zusammen. »Herrin Rench?« »Hauptmann? Ich habe Ihren Kommandeur erwartet.« Feval lief rot an. Er hatte nicht erwartet, daß die Frau Schwierig keiten machen würde. War sie nicht eine angeheiratete Schwester des Erzherzogs von Irion? Er hatte erwartet, daß sie loyal wäre. Und er konnte nur hoffen, daß er sich nicht geirrt hatte. Er verbeugte sich tief. »Bitte, gute Frau, unterstellt dem Kom mandeur keine bewußte Respektlosigkeit. Wisset, daß ich, Eay Fe val, nur ein Vorreiter, ein Botschafter bin, der die ersten schwachen Andeutungen eines Grußes von jemandem überbringt, der Euch bald mit dem ganzen Zeremoniell begrüßen wird, das Ihr verdient. Und laßt mich noch hinzufügen, daß ich, mit Verlaub ...« Er lachte kurz »... nicht Hauptmann, sondern Kirchenmann bin.« »Kirchenmann?« Die fette Frau schien in einer persönlichen Tragödie versunken zu sein. Trauer lag wie ein Leichentuch über dem ganzen Raum. Und diese Trauer hatte gewiß nichts mit der Ankunft der Blauröcke zu tun, das spürte Eay Feval. Aber jetzt blickte die Frau ihn mit aufkeimendem Interesse an. Sie nahm seine makellose Tracht wahr. Und ihre Hand, die ein klein wenig zitterte, ruhte über einer kleinen Glocke. »Möchtet Ihr Tee?« »Aber gern, gute Frau.« Es war vielleicht das diplomatischste Vor
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gehen. Eay Feval hielt es immer gern mit Diplomatie und Überle gung. Herrin Rench war schließlich eine Frau von erklecklicher Be deutung. Sie läutete nach der Dienerschaft. Mit bemüht höflicher Beiläufigkeit sah Eay Feval sich um und ging im Geiste die möglichen Themen einer Unterhaltung durch. Zuerst die Burg. Ja. Man mußte die gute Frau um Verzeihung für die Unannehmlichkeiten bitten, die sie ertragen mußte, da einige Bataillone der Vereinigten Regimenter im Burghof Quartier genommen hatten. Und man mußte ihr anschließend in aller Deutlichkeit versichern, daß ihre privaten Gemächer auf keinen Fall betreten werden durften. Ja, so war es richtig. Obwohl man darauf achten mußte, nicht etwa anzudeuten, daß ihre Erlaubnis oder auch nur ihre Einwilligung nötig wären, um die Burg zu requirieren. Dem war nicht so. An diesem Punkt sollte er vielleicht etwas über die Qualität und die Tapferkeit der Vereinigten Regimenter einfließen lassen, um so patriotische Gefühle zu wecken. Vor allem das Fünfte Füsilierregiment aus Tarn verdiente Erwähnung. Der Kaplan könnte der Frau vielleicht sogar sein eigenes Rangabzeichen zeigen. Schließlich sah es wirklich gut aus. Und dann wollte er auf die Ruh mestaten des Fünften im letzten Zenzanischen Krieg hinweisen. Trotz der langen Zyklen im Exil, so wollte er es formulieren, hatte das Regiment seinen Tarnischen Geist keineswegs verloren. Er mußte ja nicht erwähnen, daß kein einziger Mann aus dem Tarn mehr in den alten Regimentern diente. Genau, so könnte es gehen. Nein, es würde vorzüglich funktio nieren. Und wenn das Vorgeplänkel vorbei war, konnte Eay Feval auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen kommen. Es krachte, und jemand schrie gellend auf. Die Geräusche kamen von unten. »Was ist los ?« Der Kaplan sprang auf und griff unwillkürlich nach seiner Pistole. Seine Männer warteten unten. Er war also nicht in Gefahr. Aber irgend etwas stimmte nicht. Auf der Treppe ertönten rasche Schritte. Die Magd schrie noch einmal auf, als sie ins Zimmer stürmte und direkt in die Mündung der Pistole des Kaplans blickte.
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»Beim Herrn Agonis, halt den Mund!« fuhr ihre Herrin sie an. »Was ist denn, Mädchen?« »Es geht um den jungen Herrn Jem, Madam ...« »Was?« Das Gesicht der fetten Frau wurde plözlich blaß. »Die Soldaten da unten ... Ich habe sie gesehen... Sie haben ihn!« Das Mädchen stürzte sich auf Eay Feval und schlug ihm die Pistole aus der Hand. »Ihr dreckigen Blauröcke!« Sie schlug nach seinen Augen. »Nirry!« Einen Augenblick später war es vorbei. Ein scharfer Hieb der Herrin sorgte für Ruhe. Die glänzende Pistole lag auf dem zerschlissenen Teppich. Eay Feval verstaute sie hastig wieder in seiner Brusttasche, holte statt dessen ein weißes Taschentuch heraus und tupfte sich damit seine linke Augenbraue. Also wirklich! Das war zuviel! Dieses kleine Miststück hatte ihn tatsächlich blutig ge kratzt! Herrin Rench trat wieder an den Kamin zurück. Sie stand mit dem Gesicht zum Sims und kehrte Feval den Rücken zu, während sie sprach. »Kaplan, ich gehe davon aus, daß Ihr meine Entschuldi gung annehmt.« »Selbstverständlich, gute Frau. Aber dieses kleine Mißverständnis stellt sich vielleicht als vorteilhaft heraus, weil es mich auf den eigentlichen Grund meines Besuchs bringt.« Er ging zur Tür und rief zu den Männern hinunter: »Bringt den Jungen her, Korporal. Ihr braucht nicht länger zu warten. Ich glaube, wir haben Klarheit über seine Herkunft gewonnen«, fügte er mit einem freudlosen Lächeln an die Magd hinzu. Die saß nur da und schnüffelte. »Eine Streife hat den Jungen im Wald aufgelesen«, fuhr der Kaplan fort. »Nackt. Und von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt. Ich muß schon sagen! Erst dachten wir, er wäre ein Vaga-Bastard ... Sie lassen sie manchmal zurück, wenn sie herumstreifen. Natürlich ha ben wir den Jungen befragt, aber er schien sich nicht an seine Qua len erinnern zu können. Der ansässige Chirurg hat uns darüber in formiert, daß ein Krüppel verschwunden ist. Das waren bestimmt wieder diese Vagas. Sie verkaufen die Kleidung. Das kommt überra
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sehend häufig vor. Trotzdem bin ich froh, Euch berichten zu kön nen, daß sie ihm seine Haare gelassen haben. Und die Zähne auch.« »Der Herr Agonis sei gepriesen!« Die fette Frau drehte sich um. Eine Vielzahl von Emotionen spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Ihre Miene verriet die Sorge von jemandem, dessen Kind vermißt wird, die plötzliche Freude über die unerwartete Wiedervereinigung und die Befürchtung, daß dem Kind noch weitere Leiden bevorstanden. »Und Ihr sagt, er kann sich an nichts erinnern?« »An gar nichts.« »Der arme Jem!« Der zweite Besuch des Kaplans galt dem Trägen Tiger. Zwar war auch dies ein formeller Besuch, aber er verlief weit einfacher. Die Alte, die die Taverne führte, trug eine fürchterliche rote Perücke und zuviel rote Schminke auf den Wangen. Sie leistete an der Tür Widerstand, bis ihr schlaksiger Junge genug Hirn auf brachte, um sich einzumischen. »Der Junge des Chirurgen? Wo ist er?« fuhr Eay Feval sie an. Diesmal mußte er nicht höflich tun. Mit gezogener Pistole stürmte der Kaplan die Treppe zum Nova-Riel-Zimmer empor. Es war wirklich ziemlich aufregend, allerdings waren Sergeant Bunchs Männer hinter ihm. Der Kaplan wußte, daß keine echte Gefahr für ihn bestand. Er stieß die Tür auf, und ein widerlicher Geruch stieg ihm in die Nase, wie von Exkrementen. Es waren Exkremente. »Meister Waxwell? Poltiss Waxwell?« Die aufgedunsene Gestalt auf dem Bett rührte sich kaum. Der Kaplan wandte sich angewidert ab. Sergeant Bunch wußte, was zu tun war. »Hoch mit dir, Bursche. Du stehst unter Arrest.«
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17. Jem auf dem Schafott
Die Veränderung im Dorf vollzog sich rasend schnell. Es war fast Schwarzmond gewesen, als die Blauröcke eingerückt waren; beim nächsten Westmond sah es aus, als habe Irion nie geschlafen, was es in Wirklichkeit so viele Jahre lang getan hatte. Die Burg vibrierte förmlich vor Geschäftigkeit. Soldaten standen in Gruppen auf dem uralten Burghof herum, der »Blaue Ejard«, das Banner des Königs, flatterte von den Zinnen. Karren-Konvois wanden sich wie Schlangen den Weg zum Felsen hinauf. Unten auf dem Dorfanger wimmelte es von Karren, Kutschen und wiehernden Pferden. Es war fast so, als wäre der Vaga-Jahrmarkt wiedergekommen, aber in einem merkwürdigen neuen Gewand. Die fließende Seide und die glitzernden Pokale waren verschwunden. An ihrer Stelle türmten sich jetzt Musketenkugeln, glänzten mit Spucke auf Hochglanz polierte Stiefel. Hörner und Trommeln und schrille Pfeifen ersetzten die Fideln und die Drehorgeln. Im ganzen Dorf waren alle Scheunen und Ställe, Häuser und Fel der im Namen der Vereinigten Regimenter requiriert worden. Die Burg allein konnte die Menge der Soldaten nicht aufnehmen. »Wie viele sind denn hier?« fragten die Dorfbewohner einander. Sie konnten es nicht sagen. Die Soldaten, die sich an diesem Morgen auf dem Anger tummelten, schienen nur ein Bruchteil der Massen gewesen zu sein, die jetzt auftauchten. Eine Weile sah man jeden Tag neue Gruppen von Blauröcken über die Straße ins Dorf marschieren. Ei nige sagten, es wären tausend. Andere schätzten die Zahl auf zehn tausend. Die Dorfbewohner wußten nur eins genau: daß die Zahl der Blauröcke ihre Anzahl bei weitem überstieg. Es dauerte nicht lange, bis Abgaben verhängt wurden. Die Wie derherstellung des Dorfes war schließlich eine gewaltige Aufgabe, und die Dorfbewohner hatten ihr Scherflein dazu beizutragen. Blauröcke suchten jede Hütte heim, forderten Bezahlung in barer Münze oder in Sachwerten. Nur wenige konnten es sich leisten, aber noch weniger weigerten sich. Die, die es dennoch wagten, wurden
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zu Verrätern erklärt und gefesselt in die Verliese der Burg geworfen. In den folgenden Monaten sollten die Dorfbewohner zu verzweifelten Maßnahmen greifen, um die Abgaben zu zahlen. Einige ver kauften ihr ganzes Hab und Gut. Andere waren sogar gezwungen, sich selbst zu verkaufen. Wieder andere flüchteten in das Vaga-La ger, um dort um einen Kredit nachzusuchen, aber die Vagas hatten keine Kredite zu vergeben. Denn die Abgaben für die Vagas waren doppelt so hoch. Im Vaga-Lager wurden regelmäßig Razzien durchgeführt. Die Vagas zahlten pünktlich ihre Abgaben, wurden aber dennoch für alle Verbrechen verantwortlich gemacht. Nachdem die Abgaben verhängt worden waren, stieg die Diebstahlquote im Dorf beträchtlich. Und für jeden Diebstahl mußten die Vagas herhalten. Schon bald schob man ihnen noch mehr in die Schuhe. Wenn es sich um etwas handelte, das sie unmöglich hatten bewerkstelligen können, schrieb es der finstere Volksmund ihrer »Vaga-Magie« zu. Die Dorfbewohner schienen vollkommen vergessen zu haben, welche Freude ihnen einmal eben diese »Vaga-Magie« bereitet hatte. Wenn jetzt die Milch sauer wurde, war es Vaga-Magie. Verfaulte ein Apfel, war es das selbe. Regnete es, war es wieder Vaga-Magie, und im Tarn herrschte ständig schlechtes Wetter. Wie die Dorfbewohner die Vagas haßten! Häufig lauerte man Vagas auf und griff sie an. Einige wurden sogar getötet. Aber die Vagas protestierten niemals. Wer hätte ihnen auch schon zugehört? Die Blauröcke bestimmt nicht - und schon gar nicht die Dorfbewohner, die die Vagas schließlich für ihr Elend verantwort lich machten. Obwohl die Blauröcke angefangen hatten, die Vagas streng zu bestrafen, behaupteten immer noch viele, die Strafen wären zu lasch. Der Ärger, den die Vagas machten, wollte einfach nicht aufhören. Es waren die Vaga-Verbrechen, die eine Ausgangssperre notwen dig machten. Natürlich galt die nicht für die Blauröcke, sondern nur für die Dorfbewohner, zu ihrem eigenen Schutz. Und für die Vagas, damit sie nachts nicht plünderten. Nach der zwölften Fünfzehn durften sich weder Dorfbewohner noch Vagas auf den Straßen blicken lassen.
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Die Dorfbewohner wurden Die Vagas wurden sofort aufgeknüpft.
in
Schutzhaft
genommen.
Später sollte sich Jem mit Entsetzen an den ersten Gehenkten erinnern, den er gesehen hatte. Als die Blauröcke ihr provisorisches Lager auf dem Dorfanger abbrachen, ließen sie eines zurück: einen Galgen. Die ersten Opfer wa ren Dorfbewohner, die ihre Abgaben nicht bezahlt hatten. Kurz darauf waren die Verurteilten fast nur noch Vagas. Vagas, die dabei erwischt worden waren, wie sie dies oder jenes getan hatten. Vagas, die die Ausgangssperre verletzt hatten. Die Brot gestohlen hatten. Oder Vagas, die kleine Mädchen aus ihren Kinderbetten entführten. Viele Vagas. Viele Hinrichtungen. Sie wurden zu einer Gewohnheit. Einmal in jeder Mondphase, am Tag vor dem Kanonischen Tag, versammelten sich die Dorfbewoh ner auf dem Anger. Wenn die Zeit nahte, wurden die Trommeln gerührt, aber die Dorfbewohner mußten nicht erst herbeigerufen werden. Die Atmosphäre war beinahe festlich. Händler versorgten das Volk mit Bier und köstlichen, steinharten Tara-Keksen. Zuerst wurden die Verbrechen der Vagas verlesen, und die Bauern buhten und zischelten. Dann jubelten sie, wenn die Falltür unter den Füßen der Vagas aufklappte. Der »Blaue Ejard« wurde gehißt, und die Kapelle spielte wieder die Hymne. Der Kaplan begleitete Jem zu der Hinrichtung. Tante Umbecca wollte nicht daran teilnehmen. Sie hielt dieses Ereignis, wenn auch unzweifelhaft eine gute Sache, dennoch für ein wenig peinlich. Für Jem dagegen war es sicherlich höchst lehrreich. Sie hängten immerhin die Vagas, die ihn entführt hatten. Der Kaplan hatte Jem gefragt, ob er es ertragen könnte, auf seinen Krücken oben auf dem Schafott zu stehen, während das Verbrechen verkündet wurde. Später sollte Jem bedauern, daß er dem zugestimmt hatte, und er sollte noch mehr das überflüssige und grausame Opfer bedauern, das man an diesem Tag vor seinen Augen dar brachte. Aber es war kurz nach seiner Rückkehr auf die Burg, und Jems Geist war noch verschleiert. Alle hatten von dem bösen Vaga gesprochen und von Jems knappem Entrinnen.
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Der Beschuldigte war ein Mann, den Jem noch nie zuvor gesehen hatte. Man verriet ihm nicht einmal den Namen des Mannes, son dern beschrieb ihn dem Jungen nur als »schmutzigen Vaga«. Aber er war nicht schmutzig, sondern hatte nur eine dunkle Haut. Für einen Vaga wirkte er merkwürdig nackt. Man hatte ihm sein buntes Kostüm und seinen Turban ausgezogen und ihn in einen schlichten grauen Umhang gesteckt. Anschließend fand Jem heraus, daß sie den Toten diesen Umhang auszogen und ihn bei den nächsten Delinquenten wiederverwendeten. Der Vaga wurde dann splitternackt in einer Grube am Rand des Dorfes verscharrt, da heidnische Vagas nicht auf dem Friedhof begraben werden durften. Der Mann sah weder besonders mutig noch besonders stark aus, aber er blickte dem Tod mit einer erschreckenden, zermürbenden Gelassenheit entgegen. Jem stand schwankend auf dem Schafott und sah auf die Gesich ter herunter, die ihn neugierig anblickten. In seiner Verwirrung überkam ihn plötzlich ein Gefühl der Macht und eine merkwürdige Verwunderung. Neben ihm predigte der Kaplan von der Schlechtig keit der Vagas, die nicht einmal davor zurückschreckten, eine Miß geburt zu entführen. Als Tante Umbecca Jem die Geschichte erzählte, zitterte ihre Stimme, und sie brach in Tränen aus. Im Munde des Kaplans verwandelte sich dieses Ereignis in eine geschliffene Rede, die vor rechtschaffener Empörung nur so strotzte. Mit einer schwungvollen Geste holte er aus und deutete auf die schlanke, schwankende Gestalt des Krüppels. »... ein unschuldiger Spaziergang über eine herbstliche Straße! Stellt euch die Szene vor: Das helle Sonnenlicht scheint durch die Bäume! Die Vögel zwitschern! Der Himmel über dem Blätterdach ist blau! Wer könnte glauben, daß dieser wundervolle Tag sich so rasch in ein Szenario des Entsetzens verwandeln sollte? Stellt euch diesen armen Krüppel und seine Tante vor, wie sie fröhlich plau dernd die wunderbare Natur an einem warmen Tag genießen. Dann malt euch aus, wie diese arme Frau einen Moment wegschaut und sich am Anblick eines bunten Schmetterlings erfreut. ›Hier, mein lieber Jemany! Sieh dir diesen bunten Schmetterling an!‹ ruft sie und dreht sich um. Ihr lächelndes Gesicht zeigt die ganze Zärtlichkeit, die
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ganze Liebe, die sie für ihren Jungen empfindet. Doch dann ...! Das unaussprechliche Entsetzen in diesem Augenblick! Denn während die liebende Tante sich umdreht, kriecht der heimtückische Vaga aus dem Gebüsch! Hatte der Junge noch Zeit zu schreien? Nein! Wie ein Blitz legt sich das vergiftete Taschentuch über sein Gesicht!« Jem konnte die Worte des Kaplans kaum hören. Die Gesichter vor ihm verschwammen und wurden undeutlich. Er war ganz bestimmt immer noch nicht gesund. Er hatte erwartet, daß seine Tante Goodman Waxwell rufen würde, doch als er sie darum gebeten hatte, den Arzt zu holen, hatte sich Tante Umbecca fast brüsk umgedreht und erwidert, daß es nicht nötig sei. Es sei sogar vollkommen unnötig! Aber das vergiftete Taschentuch zeigte immer noch Nachwirkungen, davon war Jem überzeugt. Er dachte an den Vaga und spürte, wie er zornig wurde. Was mochte der Vaga ihm in den Wäldern an getan haben? Der Kaplan hatte Jem gesagt, daß er sich glücklich schätzen sollte, daß er noch sein Haar und seine Zähne hatte. Und seine Augen. Trotzdem wirkte das alles so unwirklich! Seit die Blauröcke Jem zur Burg zurückgebracht hatte, waren die einzigen Dinge, die real und wirklich waren, die Krücken, auf denen er jetzt stand. Er erin nerte sich an die schreckliche Hilflosigkeit, die er empfunden hatte, nachdem die Soldaten ihn auf das Sofa gelegt hatten. Dann stürzte sich seine Tante auf ihn, eine schwarze Fregatte, und hielt diese wundervollen Krücken in ihren Händen. Ich habe sie für dich gerettet, Jem. Ihre Stimme zitterte. Sie lagen auf der Straße, nachdem der Vaga dich entführt hatte. Die gute Tante Umbecca! Wie dankbar Jem gewesen war! »Nur eine Mißgeburt!« rief der Kaplan erneut. »Und doch ist die ser Junge nicht bloß ein Krüppel. Im Gegenteil! Wir alle, die in die sem Tal leben, stehen in seiner Schuld. Denn die schreckliche Ge schichte, die diesem verzweifelten Kind widerfahren ist, mag uns wie ein Leuchtfeuer den Weg weisen, das uns die Wahrheit über die Vagas enthüllt. Epizyklen lang haben wir in Ejland unter den Heimsuchungen dieses verschlagenen Volksstammes gelitten. Wir sind ihren Verführungen erlegen und haben nicht das wahre Maß ihrer Hinterlist erkannt! Jetzt wird ihre Schändlichkeit immer stärker
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sichtbar. Erinnern wir uns: Ein Vaga ist ein Gefolgsmann von Koros, und wie der finstere Gott selbst ist auch er schlecht! Und gefährlich! Frauen und Männer von Irion, laßt uns frohlocken, wenn dieser ver ruchte Vaga seinen gerechten Tod erleidet!« Die Trommelwirbel ertönten. Doch an diesem Tag füllten sich Jems Augen unerklärlicherweise mit Tränen, als sich die Falltür unter dem bösen Vaga öffnete.
18. Polty in einem schwarzen Loch Polty lernte Verzweiflung kennen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie ihn gebracht hatten. Als sie ihn aus dem Trägen Tiger schleppten, hatten die Schläger der Blauröcke ihn nicht nur an Händen und Füßen gefesselt, sondern ihm die Augen verbunden und ihn ausgiebig verprügelt. Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Der fette junge Trunkenbold hatte sich nicht einmal richtig wehren können. Er hatte nur verschwommen mitbekommen, daß man ihn gestoßen, geschlagen und herumgeschubst hatte. Dann hörte er das Geklapper von Hufen und die schweren Stiefel auf den steinernen Stufen. Rauhe Stimmen lachten heiser. Einmal packte ihn eine Hand rauh und unvermittelt zwischen den Beinen und drückte zu. Polty wollte schreien, doch dann merkte er, daß man ihn auch geknebelt hatte. Eine Tür quietschte, und danach erlöste ihn das Vergessen. Jetzt wußte er nicht einmal, wieviel Zeit verstrichen war. Er lag auf einem Heulager in einem feuchten, stinkenden Keller und war an eine Wand gekettet. Es gab kein Licht. Manchmal hörte er, wie die Wachen auf der anderen Seite der Tür miteinander redeten, aber die Tür war zu dick, um die Worte seiner Peiniger zu verstehen. Einige würden bestimmt sagen, Poltys neues Leben unterscheide sich nicht sonderlich von seinem alten. Als er frei war, lebte er in Dreck und Finsternis, und jetzt, im Kerker, war es genauso. Als er frei war, lag er den ganzen Tag herum, ohne sich zu rühren. Hier im
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Kerker war es genauso. Einige sagten sogar, wenn die Blauröcke Polty einsperren wollten, hätten sie nur eine Wache vor das NovaRiel-Zimmer stellen müssen. Oder vielleicht nicht einmal das. Aber es stimmte nicht. Und während Polty in seinem neuen Dreck und seiner neuen Finsternis lag, entdeckte er langsam, warum. Es war seine freie Entscheidung gewesen zu faulenzen, wie er es im Nova-Riel-Zimmer getan hatte. Jetzt hatte er diese freie Wahl nicht mehr. Und das machte den entscheidenden Unterschied aus. Außerdem war da noch etwas anders, und zwar etwas, das von Poltys Standpunkt aus genauso fundamental war. Er hatte nichts zu trinken. Und nichts zu essen. »Halbschwester! Was hast du?« Als die weise Frau diesmal zum alten Wolveron kam, tauchte sie nicht wie ein Gespenst aus der Stille auf, sondern stürmte auf die Lichtung und stürzte sich auf ihn. Sie wurde von Schluchzen ge schüttelt. Es erschreckte den alten Mann, weil er seine Halbschwester noch nie in einem solchen Gefühlsaufruhr erlebt hatte. Dabei war er in diesem Moment selbst der Verzweiflung nahe. Er hatte auf dem Stumpf neben dem Höhleneingang auf sie gewartet. Erst glaubte er, sie wäre seinem Ruf gefolgt, doch dann begriff er, daß ihr eigenes Leiden sie hergeführt hatte. Er nahm sich zusammen und ergriff Xals Hand. Mit seinen schwächer werdenden Kräften brauchte er eine Weile, bis er ihren Schmerz verstand. Natürlich. Es ging um den Mann, der als Entführer des Jungen gehenkt wor den war. Es war ihr Sohn. Zitternd erzählte Xal, wie die Blauröcke gekommen und am Morgen der Hinrichtung in das Lager gestürmt waren. »Als ich die Trommelwirbel vom Anger hörte, glaubte ich, daß mir das Herz brechen müßte. Ich hatte schon auf der Reise von Harion hierher ge spürt, daß der Tod meines Sohnes nahte. Und daß er ihm im Tarn be
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gegnen würde. Aber Silas! Daß es auf diese Weise geschehen mußte! Ich weiß, daß dieser Zeit Leiden bestimmt sind. Und ich weiß, daß all diese Dinge so eintreten müssen, aber jetzt ist auch die Verzückung keine Hilfe bei meinen Qualen, Silas, ich habe sie ver wünscht! Ich habe die Verzückung verwünscht, und ich habe unsere Bestimmung verwünscht!« Eine neue Tränenflut quoll aus ihren Augen, und der blinde Mann ging auf die Knie und umarmte die alte Frau. Ein wenig verlegen zwar, aber fest. Vertrocknete Blätter fielen um sie herum, und der Wind war kalt. Als Xals Tränen nach einer Weile versiegten, begann der alte Wolveron mit einer Rede, die er sich lange zurechtgelegt hatte. »Halbschwester, du bist hierhergekommen, um mich zu beob achten, während ich meine Rolle erfülle. Das habe ich getan. Ich bin ein alter Mann und schwach und verwirrt. Ich wandere nur noch selten im Wildwald umher, weil ich fürchten muß, mich zu verirren. Jetzt erkenne ich nichts mehr von der Verzückung. Ich verweile hier, eingehüllt in meine Vergangenheit...« Die alte Frau packte seine Hände fester. »Silas, es wird eine Krise kommen, die dich noch viel weiter treibt!« Der alte Mann stöhnte. »Erzähl es mir nicht, Halbschwester. Ich kann es nicht mehr ertragen. Auf mich wartet nichts mehr jenseits dieses Ortes. Aber Xal, wo willst du bleiben? Wo bleibt dein Volk?« »Tatsächlich, Halbbruder! Die Verzückung in dir ist schwächer geworden! Unsere Bestimmung hier ist noch nicht vollendet. Ich bin gebunden hierzubleiben. Aber Silas, das ist nicht alles. Einige An gehörige meines Volkes haben versucht, ihrem Schicksal zu entrinnen. Sie sind mit ihren Wagen über die Fahle Landstraße gefahren. Doch die Soldaten der Blauröcke bewachen die Straßen. Sie haben uns mit Flüchen und Drohungen zur Umkehr gezwungen. Sie wol len, daß wir hierbleiben, Silas. Sie wollen, daß wir bleiben.« Die alte Frau trocknete ihre Tränen und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. In dem Moment erkannte sie, daß etwas nicht stimmte. Die Lianen am Höhleneingang waren verschwunden, und in der Höhle herrschte ein heilloses Durcheinander. Die Höhle war durchsucht worden.
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»Silas, ich habe wegen meines eigenen Leids nicht auf dich geachtet. Was ist hier passiert? Was ist mit dir geschehen?« Der alte Mann seufzte. »Sie waren hier, Xal. Ich bin nur froh, daß das Mädchen nicht da war, als sie gekommen sind. Sie hätte vielleicht etwas Verrücktes getan, und dann hätten sie sie auch mitgenommen. Halbschwester, sie haben jemanden gesucht. Als sie ihn nicht finden konnten, haben sie ihren Zorn auf mich gerichtet.« Xal nickte. »Sie haben nach jemandem gesucht, der ein Harlekin kostüm trägt. Sie haben ihn sehr oft in unserem Lager gesucht. Aber sie haben dich doch nicht verletzt, oder, Silas?« »Sie haben nur Drohungen ausgestoßen, Halbschwester. Böse Worte. Nach dem, was ich ertragen habe, kann mich das nicht ver letzen. Aber anscheinend schlägt es mir jetzt zum Nachteil aus, daß ich nicht nur zur Hälfte ein Kind des Koros bin. In ihren Augen bin ich genauso ein Vaga wie du und muß jetzt doppelte Abgaben zahlen. Sollte ich das nicht schaffen, werden sie mich hängen. Ist das die Ruhe, die meinen Sinnen zu guter Letzt bevorsteht?« »Ach, Silas!« Xal traten wieder Tränen in die Augen. »Ich habe nur noch dich ... Oh, wie sollen wir das nur ertragen?« »Vielleicht sollen wir das ja gar nicht. Wenn ich noch jung wäre, würde ich mich im Wildwald verstecken, wo mich niemand findet. Aber ich bin alt, und ich kann nicht mehr vor ihnen weglaufen. Ich denke nur an mein armes Kind. Xal, was soll aus ihr werden? Im nächsten Monat kommen sie wieder und wollen die Abgaben ein treiben. Wenn ich ihnen nichts geben kann, werden sie mich mit nehmen. Ich muß es dem Mädchen erzählen ... Und zwar bald. Aber ich habe Angst vor dem, was sie vielleicht unternehmen wird.« Xal senkte traurig den Blick und dachte an die Grausamkeiten, die das Schicksal für sie bereithielt. Die Schwärze schien eine Ewigkeit anzudauern, bis die Riegel des Verlieses zurückgeschoben wurden. Polty erhob sich aus dem Sumpf von Hunger, Furcht, Durst und wahnsinnigen, rachelüster nen Gedanken. Vage merkte er, daß er seine Hose beschmutzt hatte, vorn und hinten. Der widerliche Geruch, der ihm in die Nase drang, erinnerte ihn an einen Abwasserkanal.
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»Da.« Mehr sagte der Wächter nicht, als er ein Metalltablett auf den Boden stellte. Darauf lagen einige Dinge. Das erste war eine angeschlagene, schmutzige Schüssel mit einer klumpigen, lauwarmen Schleimsuppe. Essen! Endlich! Polty war so hungrig, daß er wie ein gieriges Tier über die Schleimsuppe herfiel und sie schlürfend und schmatzend und mit bloßen Händen in sich hineinstopfte. Er rollte sich fast dankbar zurück und wünschte nur, es gäbe mehr. Für eine Weile hätte Polty sogar gesagt, daß er das Mahl genossen hatte. Jedenfalls so lange, bis die schleimige Substanz sich durch Magen und Darm gearbeitet hatte und eine neue Ladung Darmflüssigkeit seine Hose füllte. Doch Polty hätte sogar einen Trog mit Schweinefraß verschlungen, wenn er dagewesen wäre. Die Schüssel stand sauber ausgeleckt neben ihm. Träge lag Polty da und nahm erst nach einiger Zeit die beiden anderen Gegenstände wahr, die sich auf dem Tablett befanden. Das erste war eine Kerze. Es war mehr ein Stummel, ein winziger Stummel, der kurz davor war, zu zerlaufen und in einer Pfütze aus heißem Wachs zu erlöschen. Doch bis dahin war jeder lichte Moment für Polty gleichbe deutend mit einem Wunder. Für diese einfache Freundlichkeit war er ungeheuer dankbar, und einen Moment dachte er sogar daran, sich bei der Wache zu bedanken, wenn seine nächste Ration kam. Falls sie kam. Dann sah er das Papier. Es mußte unter der Schüssel gesteckt haben. Jetzt klebte es am Boden. Polty nahm es, drehte es in den Hän den und betrachtete es im Kerzenlicht. Es war ein kleines, gefaltetes Viereck. Ein Brief. Seit Polty in den Kerker geworfen worden war, was schon sehr lange her zu sein schien, war er abwechselnd von Hunger, Wut und Furcht verzehrt worden. In seinem Wahnsinn, und er wußte, daß es ein Wahn war, hatte er nicht ein Mal über den Grund seiner Einker kerung nachgedacht. Er hatte sich nicht gefragt, warum sie ihn ein
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gesperrt hatten oder was als nächstes mit ihm passieren würde. Als Polty jetzt den Brief öffnete, hämmerte sein Herz, und ihm kam es so vor, als hätten diese Fragen schon lange in ihm geglommen. Würde dieser Brief einen Hinweis liefern? Hätte er über die Angelegenheit nachgedacht, hätte Polty wohl angenommen, daß der Brief vom Kommandeur der Blauröcke stammte, der die Natur und die Dauer seiner Strafe verkündete. Oder vielleicht hätte er auch gedacht, in Anbetracht dessen, wie er eingeliefert worden war, daß es sich um einen geheimen Brief han delte, um einen Trost, daß ein Plan zur baldigen Flucht geschmiedet würde und daß der Brief von einem befreundeten Wachposten hereingeschmuggelt worden wäre. Es war nichts von alldem. Der Brief stammte von Leny. Und Polty erkannte sehr bald, daß er nicht einmal an ihn adressiert war. Es war ein Abschiedsbrief. Die Kerze zischte, und es wurde wieder finster in der Zelle.
Im Trägen Tiger liefen die Geschäfte so gut wie noch nie. Goody Throsh war begeistert. Oder vielmehr, sie wäre begeistert gewesen, wenn ihr nicht eine Angelegenheit das Herz schwergemacht hätte. Irgendwann spät nachts polierte sie die Tische, als sie plötzlich den Putzlappen fortwarf. »Was ich nicht verstehe«, brach es aus der alten Frau heraus, »ist: Warum?« Ihr Sohn hatte die Türen verriegelt und ging jetzt zu ihr. »Oh, Aron, du bist zu jung!« stöhnte sie. Sie war den Tränen nahe. »Du erinnerst dich nicht an das letzte Mal! Sie kommen nicht, um etwas aufzubauen! Sie kommen, um zu zerstören!« Ihre Schminke rann ihr über das Gesicht. Und sie klammerte sich fest an ihn.
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Aron bekam kaum Luft, als seine Mutter ihn an sich preßte, und so etwas wie Liebe wallte in ihm auf. Und gleichzeitig bedauerte er bitterlich all die schlimmen Dinge, die, so wie er es sah, sein Leben zunichte gemacht hatten. In dem Moment hätte er neben der alten Frau zu Boden sinken, mit ihr schluchzen können, und einen Moment schien es, als erwartete sie das auch. Doch dann nahm er sich wieder zusammen, als er die erstickten Worte hörte, die durch die Tränen seiner Mutter drangen: »Der arme, arme Meister Polty!« Goody Throsh löste sich aus der Umarmung. Als sie sprach, klang ihre Stimme plötzlich hart. »Na gut, dann ist es eben wieder so wie früher!« Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und richtete ihre rote Perücke. »Ma?« »Beim Herrn Agonis, Junge! Steh nicht rum und hör auf zu gaf fen!« Später saß Aron am Fenster des Zimmers, das er mit Polty geteilt hatte, und starrte vor sich hin. Sein Herz war zu voll, als daß er sich hätte hinlegen können, und er glaubte, daß er wieder weinen mußte. Erst dachte er an seine Mutter und dann an Polty. Immer und immer wieder. Der Raum stank nicht mehr. Die Laken waren sauber, und er rollte die Teppiche auf. Auf dem Anger unter dem Fenster herrschte endlich wieder Ruhe. Nur noch das Murmeln einiger Wachtposten drang durch die kalte Luft zu ihm herauf. »Zappelphilipp?« »Hm?« »Wo kommst du eigentlich her?« »Ich? Aus Holluch. Holluch auf dem Hügel nennt man es.« »Ist es hübsch da?« »Es gibt keinen schöneren Ort, Varly.« Vage stellte sich Aron ein Haus auf einem Hügel vor. Rauch quoll aus dem Schornstein, und die Sonne schien. Über den Himmel zo gen weiße Wölkchen, und im Gras wuchsen große, runde Blumen. Kinder spielten. »Wackeln sie da alle mit den Ohren?«
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»Was?« »Auf dem Hügel. Wackeln sie da alle mit den Ohren?« »Das kann man wohl sagen. Wer nicht wackelt, der fällt, sagt man bei uns. Du solltest mal meinen Dad erleben.« Crum trat von einem Fuß auf den anderen. »Zappelphilipp?« »Hm?« »Warum sind wir hier?« »Was?« »Ich meine, warum sind wir den ganzen Weg hierher gekommen? Wofür?« Zappelphilipp schniefte. »Liegt doch auf der Hand, oder? So ist eben Krieg.« »Ach so.« Aron schloß die Fensterläden. Seit die Blauröcke nach Irion gekommen waren, hatten die Dorfbe wohner nicht ein einziges Mal den Mann zu Gesicht bekommen, der jetzt ihr neuer Militärgouverneur war. Aber darüber wunderte sich niemand. Er hatte auf dem langen Marsch aus dem Süden hierher nicht einmal zu seinen Soldaten gesprochen. Alles wurde durch den Kaplan weitergegeben. Die Gerüchteküche brodelte, und wenn die blaue Kutsche durch das Dorf fuhr, die schweren Vorhänge vor den Fenstern zugezogen, dann kochte sie förmlich über. Einige behaup teten, der Kommandeur wäre krank und hätte diese lange Reise bes ser gar nicht unternehmen sollen. Andere meinten, er wäre defor miert oder schrecklich verwundet. Wieder andere munkelten, er wäre eine so uninteressante Person, daß er sich lieber nicht zeigte, sondern wie ein Puppenspieler hinter den Kulissen die Fäden zog. Eines Tages sahen zwei kleine Jungen an den Toren der Sakristei, wie eine große, feiste Gestalt aus der Kutsche in eine Sänfte gehoben wurde. Der Mann trug eine kostbare Uniformjacke der Blauröcke mit glitzernden Epauletten und vielen Orden und grunzte, als seine Leute ihn anhoben. Lautstark beschwerte er sich über seine Gicht und versetzte einigen seiner Männer mit einem juwelenverzierten Stock schmerzhafte Schläge. Es war ein kühler Nachmittag, aber die
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Männer schwitzten dennoch unter ihrer Last, während sie den fet ten Mann über den Schlackepfad trugen. Das war der erste Hinweis, den die Dorfbewohner erhielten, daß ihr neuer Gouverneur nicht in der Burg residierte wie der Erzher zog, sondern in der Sakristei. Für Umbecca Rench war es ein Sakrileg. Aber nur am Anfang. Sie dachte an die Zeit der Belagerung. Damals hatte der General der Blauröcke von der Sakristei aus, die damals von ihren rechtmäßigen Bewohnern aufgegeben worden war, seinen Angriff dirigiert. Umbecca war hin- und hergerissen. Obwohl sie Angst vor den Blauröcken hatte, empfand sie deren Sache dennoch als gerecht. Ihr Problem war nur, wie sie sich selbst auf deren Seite stellen, wie sie ihrer Überzeugung angemessen nachgeben sollte. Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Das verstehst du doch, Becca, stimmt's? Ihr Schwager hatte ihr über das Haar gestreichelt und ihre Au genlider geküßt, in der Nacht, bevor er den König an Kommandeur Veeldrop auslieferte. Es müssen die Blatten sein. Ja. Ja, es war richtig. Blau ist jetzt die Seite des Herrn Agonis. DAS verstehst du doch, Becca, hob ich recht? Umbecca hatte zwar geweint, aber sie wußte, daß ihr Schwager recht hatte. Darüber dachte sie immer noch angestrengt nach, als der Kaplan ihr das nächste Mal seine Aufwartung machte. »Ihr erinnert Euch sicher, gute Frau, daß ich erklärt habe, ich wäre nur der Vorbote, sozusagen ein Botschafter meines Kommandeurs ?« Er verbeugte sich tief und zog mit einer schwungvollen Geste eine Karte heraus, mit der er ein paar Mal vor ihren Augen herumwe delte. Er hatte nicht einmal seine Uniformhandschuhe ausgezogen, bemerkte Umbecca. Der Anblick der cremefarbenen Karte in der weißen Hand quälte die fette Frau. Der Kaplan drückte die Karte an seine Brust und ging unruhig über den verschlissenen Teppich.
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Hm. Er runzelte die Stirn. Es war sicher besser, einige Vorräte hier heraufbringen zu lassen. Er sah zum Bett. Diesmal waren die Vorhänge nicht zugezogen. Das Mädchen war sehr blaß. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab, und neben ihrem Bett stand eine kleine, schwarze Flasche. Ach ja. Eay Feval erinnerte sich an seine Mutter, die fast sechs Zyklen lang in ihrem luxuriösen Stadthaus in Agondon hinter vorgeklappten Fensterläden vegetiert hatte. Er drehte sich lächelnd um. »Eurer Nichte geht es besser?« »Die arme Ela! Ich fürchte, daß man kaum auf eine Verbesserung hoffen kann. Sie hat sich zwar erholt, aber das Verschwinden meines Neffen war natürlich ein herber Schlag für sie.« Das stimmte. Lange, sehr lange hatte Ela gegen den klebrigen Griff des Sirups gekämpft. Doch als sie geglaubt hatte, daß der Junge verschwunden war, war ihre Sucht mit voller Stärke zurück gekehrt. Diesmal konnte sie ihr nicht widerstehen. Die arme Ela! Umbecca konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ihre Nichte war nicht so stark, wie sie gern glaubte. Eigentlich war Ela sogar schwach. Schwach! Umbeccas Lächeln erstarrte zur Grimasse. »Und der Junge?« fragte der Kaplan. »Oh, ihm geht es sehr gut.« Umbeccas Gedanken kehrten mit einem Ruck wieder in die Gegenwart zurück. »Glücklicherweise erinnert sich der arme Jem nicht an diese Vagas. Wißt Ihr, Kaplan, ich frage mich, warum wir diese schrecklichen Heiden nicht einfach aus unserem Königreich verbannen.« »Tatsächlich, gute Frau! Ich glaube fast, daß der Kommandeur mit Euch einer Meinung ist. Ihr werdet feststellen, daß Ihr sehr viel gemeinsam habt.« »Ach ja?« Umbecca errötete vor Freude. Sie hatte etwas von den schwungvollen Kringeln der Karte entziffert, die der Kaplan schwenkte, und setzte sich auf das Sofa. Sofort huschte ihr Besucher hinter ihr her. »Gehe ich recht in der Annahme, Kaplan, daß Ihr mir etwas mitzuteilen habt?« Die weißen Handschuhe vor ihr drehten sich, und die Karte wurde nur noch von zwei Fingern gehalten. Die Stimme des Kaplans
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klang wie ein Schnurren in Umbeccas Ohren. »Und gehe ich recht in der Annahme, gute Frau, wenn ich sage, daß Ihr eine Person von weit höherem Rang seid, als Eure Residenz hier in Irion erahnen läßt? Ich meine damit das alte Irion. Wie es war. Das der schlechten Jahre.« Umbecca genehmigte sich ein gekünsteltes Lachen. »Kaplan, Ihr wißt bestimmt sehr gut, daß der Herr dieser Burg mein Schwager ist. Ihr habt vielleicht sogar von Miss Ruanna Rench gehört, die einmal die gefeiertste Schönheit in allen neun Provinzen gewesen ist. Sie war meine Schwester, meine ... Zwillingsschwester.« »Aber natürlich!« Ob der Kaplan nun meinte, daß er es wußte oder daß Umbecca selbstverständlich die Zwillingsschwester einer Schönheit sein mußte, war schwer zu erraten. Er ließ die kleine Karte aus den Fingern rutschen. »Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, gute Frau, daß die Reihe nun an Euch ist. Ihr werdet eine wichtige Leuchte in einer glänzenden neuen Welt sein.« Umbecca nahm die Karte von ihrem Schoß. »Ein Ball!« stieß sie atemlos hervor. Sie preßte die Karte an den Kreis des Agonis, der golden auf ihrem ausladenden, schwarzge wandeten Busen ruhte. Eay Feval lächelte. »Ich sehe mit Freude, daß Ihr eine fromme Frau seid. Wie ich feststellen kann, gibt es zwischen Euch und dem Kommandeur keinerlei Schranken.« »Gar keine?« Diese neckische Frage beantwortete der Kaplan nicht, aber sie sollte Umbecca immer wieder durch den Kopf geistern, während sie sich im folgenden Monat für den Ball vorbereitete. Zum ersten Mal beschäftigte sie sich mit dem Thema, das die gemeinen Persönlich keiten des Dorfes schon so lange in seinen Bann zog: mit dem Kom mandeur. Konnten die Gerüchte über den gichtgeplagten alten Gentleman stimmen? Sie hoffte jedenfalls auf jemand Schneidigeren, wie zum Beispiel diesen Kaplan Feval. Als Eay Feval wieder in der Sakristei ankam, verlangte ein junger Leutnant der Garde des Kommandeurs ihn aufgeregt zu sprechen. Anscheinend benahm sich der Kommandeur merkwürdig.
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Eay Feval spitzte die Lippen. Das waren schlechte Nachrichten. Seine ganzen Pläne hingen von dem Kommandeur ab. Aber was sollte das heißen: Der Kommandeur benimmt sich merkwürdig? Seit sie in der Sakristei eingetroffen waren, hatte er seine Tage abgeschie den in der Wohnung verbracht, die hastig für ihn hergerichtet wor den war. Die leidenschaftlichen Gebete in der Kutsche schienen jetzt der Vergangenheit anzugehören, genauso wie die Lesungen aus den Werken von »Miss R...«. Der alte Mann saß in Gedanken versunken in seinem abgedunkelten Raum. Allerdings verlangte er vom Kaplan, daß der ihm die verzierte goldene Lampe brachte, die in der gepol sterten Kutsche über ihren Köpfen gependelt hatte. Diese Lampe, so befahl der Kommandeur, sollte den ganzen Tag brennen. Dabei ging es ihm nicht um das Licht, weil er nur selten seinen Schleier zurückschlug. Er wollte sie wegen des Geräuschs, das die Lampe machte. Es war ein leises, eindringliches, schlangengleiches Zischen. In der Eingangshalle der Sakristei verlegte eine Gruppe junger Rekruten neue Bodendielen. Und aus dem saalartigen Salon dahin ter ertönte noch mehr Hämmern und Sägen. Dort sollte der Ball stattfinden. Hatte etwa der Lärm den Kommandeur aufgeregt? Der Kaplan hüpfte beinahe in langen Schritten über die Löcher im Boden zur Wohnung des Kommandeurs, als der Leutnant ihm nachrief: »Sir! Hier entlang!« Der Kaplan drehte sich um. Erstaunt folgte er der Richtung der ausgestreckten Hand des Leutnants. »Sie meinen doch nicht...?« »Er sitzt am Schreibtisch. Er sagt, er wollte ihn zu seiner Kom mandozentrale machen.« »Aber das Licht!« »Er sagt, er müsse ja nicht hineinsehen, Sir.« Eay Feval arbeitete sich zum Leutnant zurück. Die beiden Män ner schritten eilig über den schäbigen Flur, der an einer Seite des Hauses entlangführte. Vielleicht sind es die Gase, dachte der Kaplan. In der Luft hing ein giftiges Gemisch aus Farbe, Politur und Tapetenkleister. Vielleicht wollte der Kommandeur einfach nur eine kleine Ruhepause. »Er ist nicht wütend? Oder plappert unzusammenhängendes Zeug?«
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»Aber nein, Sir. Er ist sehr zufrieden. Er sagt, daß Sie ihm wieder vorlesen sollen.« »Also ist er doch verrückt geworden«, murmelte der Kaplan und fügte mit einem Lächeln an seinen Gefährten hinzu: »Diese Bemerkung, Herr Leutnant, haben Sie natürlich nicht gehört.«
Während ich wache, während ich ruh',
strömen seine Augen über vor Tränen.
Und sein Herz blutet für meine Sünden,
während ich arbeite, während ich bete, sieht er mich,
und sein Herz wird bluten für meine Sünden ...
Umbeccas Herz barst fast vor Freude. Unter den vielen Stimmen waberte das schwere, durchdringende Dröhnen der Orgel. Die wohlklingende Musik war sowohl glockenklar als auch tieftönend und schien aus bodenlosen Ab gründen unter ihnen heraufzudringen und weiter zu steigen, ihre Stimmen zu Kadenzen zu erheben, die im Unergründlichen selbst widerhallten. Während sie steif in ihrem besten schwarzen Gewand dastand, hielt Umbecca ihr Gebetbuch hoch vor sich. Sie liebte das kleine Buch und war stolz auf den gepunzten Ledereinband mit ihren In itialen, die sich wie Girlanden um den Kreis des Agonis wanden. Sie brauchte jedoch kaum auf die eng bedruckten, stechend riechenden Seiten hinabzusehen. Er hat uns nicht verlassen! Er wird zurückkehren! Mit seiner Herrin und einer glühenden Liebe! Die Worte schienen wie aus einer fernen Kindheit zu ihr zu dringen und nahmen sie mit auf eine Reise durch die Erinnerung, als sie und
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Ruanna in denselben Spitzenkleidchen zwei Erbsen in einem Topf gewesen waren, die beiden entzückenden Rench-Mädchen. Damals hatte der Glaube sie überwältigt, als sie im Großen Tempel neben ihrer Mutter stand und der ungeheure Klang ihren Geist und den gewaltigen Raum des Tempels erfüllte und eine wundervolle Ahnung des Geheimnisses von der Pracht des Herrn Agonis wachrief. Umbecca blickte zu dem schmutzigen Fenster über dem Altar. Sie sah die geborstenen Vertäfelungen, aber ihr war auch klar, daß sie nicht mehr lange geborsten sein würden. Bald sollten sie wieder heil sein. Der Tempel von Irion hatte bereits jetzt ein gewisses Maß sei ner einstigen Größe wiedererlangt. Ihre Augen wurden feucht. Das blasse Licht der Jahreszeit des Agonis drang durch das zerklüftete Mosaik. Jem stand neben seiner Tante und schwankte leicht auf seinen Krücken. Aber er hatte nicht sitzenbleiben wollen, wenn alle ande ren standen. Die Worte des Liedes waren ihm nicht vertraut, und manchmal wußte er nicht mehr, an welcher Stelle des Gesangs er war. Dann half er sich einfach, so wie jetzt, indem er nur den Mund öffnete und schloß, während er gleichzeitig den Blick durch das Innere des Tempels schweifen ließ. Es war Jems fünfter Besuch im Tempel, seit die Blauröcke an gerückt waren, und noch immer faszinierte ihn die Veränderung, die hier geschehen war. Der Tempel war sauber und strahlte. Ranken und Spinnweben waren entfernt worden, und die Wände waren frisch gekalkt. Dicke Stämme stützten die Decke und den Vorraum. Die besten Handwerker aus Agondon arbeiteten bereits hart, jeden falls berichtete das seine Tante stolz. Jem musterte den Altar, der unter dem schweren, gewaltigen Kreis des Agonis stand. Über der steinernen Kanzel erhob sich hoch über den Köpfen der versammelten Gläubigen das schwere Buch, aus dem der Kaplan lesen würde. Dann blickte er weiter hinauf, zur Weissagung, die in buntem Glas dargestellt war, zu der gewölbten Decke hoch oben. Der Junge wurde von Ehrfurcht gepackt und schwankte bedenk lich. »Jem!« zischte seine Tante.
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Das letzte Lied stammte aus den Liedern der Überlegenheit, die nicht nur den Feuereifer des agonistischen Glaubens ausdrückten, sondern auch die Versicherung, daß er sich mit der Zeit über die ganze Welt ausbreiten würde: Und als er über den Anger schritt,
konnte man die Strahlen der Liebe glühen sehen,
sie erhoben sich hoch hinauf
in flammenden Farben
in das Himmelsfirmament...
Jem war verwirrt. War der Herr Agonis über den Dorfanger spa ziert? Tante Umbecca hätte das doch sicher erwähnt. Und was waren »flammende Farben« ? Und er wird kommen und triumphieren, und wir werden kommen und triumphieren. In seinem Namen! In seinem Namen! Und eines Tages wird die ganze Welt dasselbe sagen. Gepriesen sei er, gepriesen sei er usw. Ein blasser, glatzköpfiger Blaurock hatte die Rolle des Vorsängers übernommen und führte die Gläubigen in die Lieder. Danach kam Eay Fevals Predigt. Als die Gesänge zu Ende waren und die Gläubi gen sich setzen durften, stieg der Kaplan, der anscheinend mittler weile allen bekannt war, zur Kanzel hinauf. Er trug eine himmel blaue Robe mit langen, weiten Ärmeln über seiner gewöhnlichen schwarzen Amtstracht und dazu einen merkwürdigen Hut auf dem Kopf. Die Gläubigen saßen in erwartungsvollem Schweigen da und richteten ihre Blicke auf ihn. Der Kaplan sah zu den Gesichtern her
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unter, die ihm bereits vertraut waren. In den ersten Reihen saßen Iri ons nicht eben zahlreiche Edelleute: Herrin Rench und das verkrüp pelte Kind, einige Offiziere und ihre Damen. In der Mitte standen die Diener und die ehrbareren Kaufleute. Dahinter befanden sich in einem großen Haufen die Bauern, zerlumpt und eingeschüchtert, sowie die einfachen Soldaten. Wachen paradierten mit aufgepflanz tem Bajonett neben dem Altar und an den hinteren Türen. Der Kommandeur war nicht gekommen. Eay Feval blickte auf das El-Orokon hinab, schlug eine gelbliche Seite um und räusperte sich. Er begann mit dem Text. Es war eine seiner Lieblingsstellen. Denn jeder Kristall war ein Kunstwerk vollendeter Schönheit; doch der Kristall des Agonis war der schönste von allen. Ork. Unsch.II, 36/25-6 Zunächst sprach er leise, beinahe murmelnd, dann wiederholte er es und legte dabei den Kopf in den Nacken. Seine Stimme erhob sich so wohltönend wie die Orgel. Und jetzt wollte er erklären, was es bedeutete. »Frauen und Männer von Irion«, begann er. »Es steht geschrie ben, daß Orok, der Göttervater, in dem Augenblick des Beginns des Zeitalters der Unschuld, als die Götter unter den Rassen dieser Welt weilten und diese Welt nicht so unwissend war, wie sie jetzt ist, wie sie sein muß, in dieser Zeit des Sühneopfers, in einem heiligen Licht badete ...« Eay Feval holte Luft. »Es steht geschrieben, daß der sterbende Gott Orok, in den letz ten Momenten vor seinem Tod in dem Felsbrocken, der der Fels sei nes Todes sein sollte und der der Fels von Sein und Nichtsein genannt wurde und das Zentrum des Tals von Orok werden sollte, in dem die Rassen der unwissenden Welt lebten, bevor sie unwissend waren, in dieser Zeit, der Zeit der Unschuld also ...« Eay Feval holte tief Luft.
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»Es steht geschrieben, daß der sterbende Gott Orok jedem seiner Kinder eine Provinz schenkte und einen Kristall, der die Macht der jeweiligen Provinz verkörperte.« Eay Feval hielt inne und schien nachzudenken. Nachzusinnen. Er musterte die Decke. Eine gute Methode war nach der Erfah rung des Kaplans die, ein spezielles Wort aus dem Text zu lösen und es erbarmungslos zu hinterfragen. Und genau so würde er heute vorgehen. Kristall? Oder Provinz? »Ein Kristalll« sagte er nachdrücklich. »Aber was soll das heißen, Kristall? Das ist natürlich eines der vielen Mysterien des El-Oro kon. Es ist ein Mysterium, über das wir lange und sorgfältig nach denken müssen.« Jem wußte genau, was ein Kristall war, und für ihn lag das Mysterium eher darin, warum der Kaplan sagte, daß es eines gäbe. Aber Jem war ja auch nur ein unwissender Junge. »Und für euch und mich ...« In Agondon hätte er gesagt: für die gewöhnlichen Leute, aber das schien ihm heute und hier nicht angemessen. »Für euch und mich also transportiert das Wort Kristall eine klare und eindeutige Bedeutung. Ich frage mich, was es für euch bedeutet? - Vielleicht so etwas wie ein Juwel?« Der Kaplan musterte die vorderen Reihen. »Ich bin sicher, daß ein oder zwei Damen in unserer Mitte bei meinen Worten die Vision von, oh, vielleicht einer Kristallbrosche hatten. Etwas wie ein Kristallhalsband, ein kleines Kristall-Etwas, mit dem das schöne Geschlecht seine hübschen Ohren schmücken kann.« Einige Leute lachten leise. »Ich glaube nicht, daß der sterbende Gott Orok seiner Tochter Ja vander eine hübsche, seegrüne Brosche in einer Silberfassung über reichte. Ihr etwa? Vielleicht ein hübsches Paar Tropfenohrringe in gebranntem Amber für die erdige Viana? Meine Güte, also wirklich nicht! - Was kann es also meinen, wenn da steht, er gab ihnen allen einen Kristall? Einige denken vielleicht an ein Gefäß aus Glas. Hm? Vielleicht denken einige der Herren Offiziere, und ich meine dabei ein ganz besonderes Regiment, an den wundervollen Kristallkrug,
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den ich in ihrer Messe gesehen habe. In ihm ist der Name einer der großen Damen der Bühnen von Agondon eingraviert.« Gelächter brandete auf. »Das ist wohl nicht ganz das, was der sterbende Gott Orok seinen fünf Kindern gegeben hat, was glaubt ihr? Ein Krug für jeden, mit eingraviertem Namen, damit sie ein Souvenir von ihm haben? Wohl kaum! - Vielleicht denken auch einige von euch, ja, von euch dahinten, von unseren eher rustikaleren Brüdern, an diese Vaga-Jahrmärkte, auf denen ihr alle gewesen seid - ach, streitet es nicht ab! Wir alle haben uns ein- oder zweimal an diesen heidnischen Vergnügungen vorbeigeschlichen, stimmt's? Wir alle spüren diese Neu gier in uns. Ihr wißt, was ich meine: Sie ist albern, und wir wissen es, aber wir können einfach nicht anders - wir alle haben diese Neugier in uns, die uns an den Zelten vorbeischleichen läßt, bis zu dem runz ligen, alten, weisen Weib. Hm? Sie behauptet, sie könnte uns die Zu kunft voraussagen. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte, denke ich! Aber was sieht sie denn? Hm? Was benutzt sie? Sie schaut in eine Kristallkugel, stimmt's? Habt ihr daran gedacht, ihr dahinten? Ich glaube, einige von euch haben es getan, hab ich recht? Ihr habt gedacht: Oh, das ist aber ein nettes Geschenk, das er ihnen gegeben hat, stimmt's? Ich habe immer gesagt, daß ich auch so eine will!« Eay Feval nickte übertrieben, und sein Gesicht strahlte, als die Gläubigen lachten und dann allmählich verstummten. Es lief sehr gut. Sein Lächeln gefror, und seine Miene wurde ernst. »Meine Freunde, meine Schäfchen, laßt uns nachdenken, laßt uns genau über die Kristalle nachdenken, die der sterbende Gott verschenkte. Wofür hat er seinen Kindern letztlich dieses Unterpfand seiner Liebe gegeben? Es war doch seine Liebe, die er verschenkte, oder etwa nicht? Und wem, so frage ich, hat er seine größte Liebe geschenkt?« Seine Blicke schossen durch den Raum, strichen über die Gesich ter vor ihm, als erwartete er eine Antwort. Und tatsächlich, einige Bauern gerieten in Panik. Doch heute würde es keine Unschicklich keiten geben. Nach einem Monat war mittlerweile selbst diesem ungebildeten Pöbel klar, daß die Fragen, die der Lektor stellte, nur von ihm selbst beantwortet wurden.
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Die Antwort fiel in ein respektvolles Schweigen. »Es war Agonis! Agonis hat er seine größte Liebe gegeben! Denkt gut über die Bedeutung dieser Tatsache nach, meine Freunde. Denn wir alle sind Kinder des Agonis. Nein, nicht Sprosse seiner Lenden, weil geschrieben steht, daß wir auf der Erde Kreaturen einer nie deren Rasse sind ... sondern Kinder unter seiner Obhut! Seiner Gnade! Seiner Liebe! Denkt genau über die Bestimmung nach, meine Freunde, die uns das auferlegt!« Er erzählte weiter, aber Jem hatte endgültig den Faden verloren. Der Junge runzelte die Stirn. Der Kaplan schien sagen zu wollen, daß die Agonisten die besten Menschen waren, weil der Herr Ago nis der beste Gott war. Sie sollten dafür sorgen, daß sie alle es begriffen und daß auch alle anderen davon erfuhren. Aber es bedeutete noch mehr. Oder weniger. Jem wußte es nicht genau. Er konnte nur an die Kristalle denken. Doch der Kaplan selbst hatte diese Geschichte vernebelt. Nach den Litaneien und dem Schlußgesang schüttelten die Gläubi gen dem Kaplan die Hand, während sie aus dem Tempel strömten. Die niederen Stände gingen natürlich schnell mit gesenktem Blick vorbei. Aber mit Personen höheren Standes tauschte der Kaplan üb licherweise einige Nettigkeiten aus. »Meine Teuerste!« Er packte Umbeccas Hand und behielt sie während des Gesprächs in seiner. Die fette Frau und ihr junger Neffe waren die letzten Gläubigen, die im Vorraum des Tempels ge blieben waren. Jem blickte hinaus auf den kalten Friedhof. Eay Feval sah Umbecca forschend an. »Ihr seht, wenn ich so sagen darf, wirklich verzaubert aus.« »Aber natürlich, Kaplan. Eure Predigt war ein Meisterwerk! Ihr habt mich auf die Liebe des Herrn Agonis emporgetragen. Ich habe mich selten so erhoben gefühlt.« »Meine Teure, das wäre wahrhaftig eine Leistung. Aber ich ver mute für Eure Verzauberung im Innersten einen anderen Grund. Ein früherer Grund? Vielleicht ein Grund, der ein kleines bißchen ... sagen wir, erdverbundener ist?«
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»Scheltet mich, Kaplan, aber was meint Ihr damit?« »Ich dachte an einen gewissen Ball, meine Teure.« Der Ball sollte demnächst stattfinden. »Also wirklich, Kaplan! Ich brenne zwar darauf, meine gesell schaftlichen Pflichten für diese Provinz zu erfüllen, aber laßt Euch versichern, daß ich ihnen nur dann nachkommen werde, wenn sie denen dem Herrn Agonis gegenüber nicht widersprechen.« »Aber selbstverständlich, meine Teuerste! Hatte ich etwas anderes angedeutet?« Die letzten Gläubigen waren über den Friedhof gegangen und verschwunden. »Kaplan«, sagte Jem plötzlich. »Wo sind die Kristalle?« »Wie bitte?« Der Kaplan hatte nicht erwartet, daß der Krüppel ihn ansprechen würde. Er hatte die Stirn gerunzelt, was ihm nicht gut zu Gesicht stand, so, als würde er angestrengt nachdenken. Die Frage war ihm offenbar unwillkürlich über die Lippen gekommen. Das war immer ein schlechtes Zeichen. »Die Kristalle des Orok«, präzisierte Jem. »Wo sind sie?« »Ach Jem«, kam Umbecca Feval zuvor. »Du hast kein Wort von dem verstanden, was der Kaplan gesagt hat.«
»Puh, der stinkt vielleicht!« »Er ist ein dreckiges Vieh!« »Diese festgeklebte Scheiße! Ich glaube, ich muß kotzen!« »Komm schon, pump weiter.« Polty nahm den angeekelten Spott der Wachen kaum wahr. Das helle Tageslicht blendete ihn, und das eiskalte Wasser versetzte ihm einen gewaltigen Schock. Rauhe Hände schoben und stießen ihn herum, zogen und zerrten an ihm. Er wurde gerubbelt und gerieben, gekratzt und geschabt.
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Was machten sie? Und warum? Während sie ihn grob festhielten, hörte er das Reiben von Metall auf Leder und sah eine Rasierklinge vor seinen Augen aufblitzen. Polty glaubte, daß sie ihm die Kehle durchschneiden wollten. Sie spielten ein Spiel, und jetzt waren sie dessen überdrüssig und mach ten dem ein Ende. Er versuchte zu schreien, da stopften sie ihm einen Lappen in den Mund. Tatsächlich wollten sie nur seinen verfilzten Bart abrasieren. Es war vorbei. Polty saß in ein weißes Laken gewickelt auf einem harten Stuhl in einem großen, merkwürdigen Raum. Die Wächter waren gegangen und hatten ihn allein gelassen. Vor ihm stand in einiger Entfernung ein Schreibtisch. Es war ein Schreibtisch von gewaltigen Ausmaßen, weit beeindruckender als der von Goodman Waxwell. Es war ein enormer Wall aus geschnitztem Mahagoni, der auf Beinen ruhte, die den Säulen des Tempels nachempfunden waren. Es war ein Schreib tisch für einen wichtigen Mann, und man hätte erwarten können, daß er mit den Insignien eines solchen Mannes überhäuft gewesen wäre - mit offiziellen Siegeln, Landkarten, Staatsdokumenten. Doch statt dessen war der Schreibtisch leer bis auf ein paar Bücher, die fein säuberlich in einer Ecke aufgereiht waren. Das Möbelstück stand auf einem luxuriösen Teppich, dessen grüne Maserung an Gras erinnerte. Nur zwei weitere Objekte be fanden sich darauf: ein dünner, geschnitzter Stuhl, der mit blauem Baumwollchintz überzogen war, und eine merkwürdige Holzfigur, die etwa die Größe eines hochgewachsenen Mannes hatte. Es war ein stummer Diener, und er trug die Uniform eines Soldaten der Blauröcke. Es war eine Hauptmannsuniform, perfekt bis ins letzte Detail, bis hin zu dem breitkrempigen Dreispitz, der auf dem gesichtslosen Kopf der Puppe thronte. Stiefel, Strümpfe und Strumpfbänder lagen ordentlich darunter. Aber jenseits des Teppichrandes begann die eigentliche Merkwürdigkeit des Raums. Denn das Zimmer um den Schreibtisch und die grasgrüne Fläche war fast vollkommen mit Pflanzen vollgestellt.
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Es war ein wahrer Dschungel aus dornigen Ästen, hängenden Lia nen, fächerartigen Farngewächsen, Schlingpflanzen, Hängeefeu und leuchtenden Blumen. Ein blasses, glühendes Licht erhitzte den Raum von oben. Als Polty hochblickte, sah er, daß der Raum ein Glasdach hatte. Eine Zeitlang hatte er sich gefragt, was das für ein Raum war und wo er sich befinden könnte. Jetzt wußte er es. In ihrer Kindheit waren Polty und seine Freunde an diesem Ort herumgekrochen, als er noch verlassen gewesen war und die Grün pflanzen ihn vollkommen überwuchert hatten. Er hatte angenom men, man hätte ihn in der Burg eingesperrt. Jetzt wußte er, daß er in der Sakristei war. Sie hatten ihn in das lange Zimmer gebracht, das an der Außenwand des Gebäudes entlanglief. Polty hatte gehört, wie die Waxwells davon sprachen, in einer merkwürdigen Mischung aus Bewunderung und Abscheu. Sie nannten es den Glasraum. Der alte Lektor, der Verrückte, der in den Wildwald geflohen war, hatte hier gesessen und seine Predigten verfaßt. Die Blätter raschelten »Wir sind fast da. Kommt«, ertönte eine männliche Stimme. »Wißt Ihr, Herr, es wäre einfacher, wenn wir den Badestuhl benut zen würden. Wir könnten einen Pfad durch die Blätter schlagen ...« »Redet kein dummes Zeug, Mann!« unterbrach den Sprecher eine dröhnende Stimme. »Was wollt Ihr tun? Mich wie einen Invaliden behandeln?« »Natürlich nicht, Herr.« Ein gereiztes »Hmpf« war die einzige Antwort. Im gleichen Augenblick teilten sich die Blätter, und die gebeugte Gestalt eines alten, offenbar gichtkranken Mannes tauchte auf. Er trug eine Ausgehuniform, eine grelle Mischung aus Schärpe, Epauletten und Orden, und stützte sich auf den Arm eines dünneren, jüngeren Mannes, der ganz in Schwarz gekleidet war. Der alte Mann hatte einen großartig gezwirbelten Schnurrbart, und genauso schön war der große Schleier aus schwerem, besticktem Leinen, der seine Augen bedeckte. Polty überlegte, ob der Mann vielleicht blind war.
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»Ist er da? Hm?« fragte der Ältere den Jüngeren, als der, offen sichtlich erleichtert, die menschliche Last auf dem knarrenden grü nen Ledersessel hinter dem Schreibtisch ablud. »Er ist hier, Herr.« Der jüngere Mann lächelte und zwinkerte Polty zu dessen voll kommener Überraschung zu. Mit gemessenen Bewegungen setzte er sich auf den blauen Chintzstuhl und schlug die Beine übereinander. Dann überlegte er es sich anscheinend anders, setzte sich statt dessen gerade hin und faltete ordentlich die Hände im Schoß. Polty brauchte eine Weile, bis ihm aufging, daß eben dieser Mann ihn verhaftet hatte. Wie lange war das schon her? Damals war ihm aufgefallen, daß der Mann weiße Handschuhe trug, genau wie jetzt. Es dauerte einige Augenblicke, bis Kommandeur Veeldrop seinen Schleier zurückschlug und blinzelnd auf die Gestalt in dem weißen Laken blickte. Polty fing sofort an zu zittern. Was kam da auf ihn zu ? In der Dunkelheit des Verlieses hatte er sich immer und immer wieder seine Zukunft ausgemalt. Er hatte Leny verflucht, er hatte ihr Erinnerungsvermögen geschmäht, er hatte sogar, in seltenen Momenten, ein gewisses zärtliches Gefühl für das Mädchen emp funden und sich gewünscht, sie wäre nicht dazu getrieben worden zu tun, was sie getan hatte. Er hatte den Abschiedsbrief nur kurz ge sehen, bevor die Kerze erloschen war, aber die Worte waren in sein Gehirn eingebrannt. Da standen sie, jeder einzelne jämmerliche Satz des Mädchens, hingekritzelt in seiner kindlichen Handschrift. Mein lieber Vel. Mein Schänder. Verdammtes Miststück! Gerade ihre Zusammenhanglosigkeit enthüllte eine Art grausame Klarheit, und so erklärte sie, daß sie unfähig war weiterzuleben, nach all dem, was ihr schlimmer Peiniger ihr angetan hatte. Sie würde ihrem geliebten Vel in den Tod folgen und sich ebenfalls im Mühlgerinne zerschmettern lassen. Als die Wachen Polty schließlich aus seinem Verlies geholt hatten, war er davon überzeugt gewesen, daß es zu seiner Hinrichtung ging.
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War es die Axt? Die Henkersschlinge? Das Erschießungskommando? Doch jetzt war er verwirrt. »Zigarre, mein Junge?« fragte der Kommandeur. Polty sah ihn verständnislos an. Er war nicht sicher, ob er das rich tig verstanden hatte. Dann sah er, daß Kommandeur Veeldrop einen braunen, vollgepackten Zylinder mit Jarvel-Zigarren über der Tischplatte ausstreckte. Errötend wollte Polty aufstehen, aber das war in dem Laken nicht ganz einfach. Der Kaplan forderte ihn auf, sitzen zu bleiben, und reichte Polty lächelnd eine Jarvel-Zigarre. Ein Streichholz flammte auf. Polty hätte ein geehrter Gast sein können. »Poltiss ... Ich darf dich doch Poltiss nennen?« begann der Kom mandeur. »Wie ich sehe, steckst du ein bißchen in der Klemme, hm?« Polty verschluckte sich. »Leny?« Der Kommandeur beugte sich vor und nahm sich selbst eine Jar vel-Zigarre. »Eine sehr unerfreuliche Angelegenheit...« »Oh, ich weiß, Herr ...« Polty war eingefallen, daß er diesen Mann besser respektvoll anredete. »Sogar eine höchst unerfreuliche Angelegenheit. Deshalb möchte ich, daß du weißt, Poltiss, daß ich nichts davon ...« »Natürlich, Herr!« Polty war schon schwindlig. Der Jarvel-Tabak war der beste, den er jemals geraucht hatte. Er nickte übertrieben und stammelte: »Aber, Herr, ich versichere Euch, etwas Derartiges wird niemals wieder ...« »Natürlich nicht! Wenn ich etwas immer verabscheut habe, dann ist das diese Art von ...« »Oh, Herr, ich auch, ich auch ...« »Aber Poltiss, schlag sie dir aus dem Kopf. Sie ist weg.« »Herr?« »Verbannt! Das ist doch richtig, Kaplan?« Der Kaplan nickte lächelnd, und der Kommandeur fuhr fort: »Es wäre eine ungeheure Untertreibung, wenn ich sagen würde, daß ich solche Menschen immer schon verabscheut habe. Wir wollen so was
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hier nicht haben. Das Mädchen war schon schlimm genug. Meine Männer haben sie gefunden, in einem wirklich schönen Zustand, das muß ich schon sagen. Sie hockte heulend auf irgendeinem er bärmlichen Felsen am Fluß ...« »Schluchzend?« Polty mußte beinahe lachen. »Ja, wirklich. Ist das nicht jämmerlich? Anscheinend hatte sie vorgehabt hinunterzuspringen und es dann doch nicht fertiggebracht. Und ihre Mutter ... Sie hat wilde Beschuldigungen ausge stoßen und mit dem ›Abschiedsbrief‹ des Mädchens herumgefuch telt. Sie forderte Gerechtigkeit, was immer das ihrer Meinung nach bedeuten mochte ... Sie haben mich angewidert, die beiden. Ich möchte hinzufügen, daß der ansässige Hufschmied keinen Gedanken daran verschwendet hat, keinen einzigen Gedanken, daß sein Sohn vielleicht... ermordet worden sein könnte. ›Ich habe den Jun gen immer vor diesem Felsen gewarnt‹, hat er meinen Leuten erzählt. ›Und jetzt weiß ich, wie recht ich hatte.‹« Der Kommandeur lachte erstickt. »Vermutlich ein ehrenwerter Mann. Ein höchst verläßlicher Handwerker.« Polty beugte sich angespannt vor. Verschwommen und unerklärlich drängte sich ihm der Gedanke auf, daß sein Leben, das eben noch vorbei gewesen zu sein schien, statt dessen nun in eine neue Phase eintrat. »Man hätte sie natürlich auch ernsthafter bestrafen können. Die Beschuldigungen waren, gelinde gesagt, ja auch ziemlich schwer wiegend. Aber ...«, der Kommandeur winkte großzügig mit der Hand, »ich sage immer: Gerechtigkeit und Gnade. Gerechtigkeit und Gnade, Poltiss. Das sind die Eckpfeiler jeder Herrschaft. Denk immer daran, mein Junge, dann trittst du vielleicht in die Fußstapfen meiner Größe.« Der Kommandeur lehnte sich zurück und blickte an die Decke. Blasse Rauchwolken stiegen von der Jarvel-Zigarre in seiner Hand auf, und größere, noch blassere Wolken schwebten hoch oben über den Himmel. Er musterte sie. Die beiden Wolkenarten, die innen und die außen, schienen sich einen Moment zu vermischen. Der alte Mann rührte sich wieder. »Hmph. Der beste Jarvel, hm? Weißt du, was ich mir sage, wenn
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ich ihn rauche, mein Junge? Ich sage: Wo wären wir ohne die Agoni stiscbe Erlösung?« Ein keuchendes Lachen folgte dieser Bemerkung. Polty runzelte die Stirn. Er hatte nie begriffen, daß der Jarvel in seiner Hand den ganzen Weg aus den Kolonien von Zenzau kam. Ein merkwürdiger Gedanke. »Natürlich weiß der Kaplan das nicht so zu schätzen. Oder, Ka plan?« Der Kaplan schlug die Beine übereinander, das rechte über das linke. »Ich habe nichts gesagt, Herr ...« »Feval, ich sage, Ihr seid nur ein halber Mann! Nicht mal das!« brach es aus dem alten Mann hervor. Er genehmigte sich ein zweites, keuchendes Lachen, und plötzlich lachte Poltiss ebenfalls. Ein halber Mann. Nicht mal das. »Poltiss, weg mit dem Laken.« »Herr?« »Kaplan, helft ihm.« Der Kaplan gehorchte, und einen Augenblick später stand Poltiss nackt vor den beiden Männern, nur beschienen von dem blassen Licht, das durch die gläserne Decke fiel. Die dicke, köstliche JarvelZigarre war wie durch Zauber aus seiner Hand verschwunden. Die Gicht des Kommandeurs wurde offenbar von den beruhigenden Rauchwolken des Jarvel gelindert. Beinahe leichten Schrittes kam er hinter dem Schreibtisch hervor, nur noch gestützt auf seinen juwelengeschmückten Stab, und stellte sich dicht neben den jungen Mann. »Poltiss, zeig mir, was du trägst.« Poltiss blickte hoch und sah, wie der Himmel sich drehte und drehte ... »Ich bin nackt, Herr.« »Deine Hand, Poltiss. Zeig mir deine Hand.« Der Kaplan nahm die schlaffe Hand des jungen Mannes und hob sie vor die Augen des Kommandeurs. Der alte Mann betrachtete den Amethystring, den Polty die ganze Zeit am Finger getragen hatte. »Ja, ja«, sagte der Kommandeur. »Kaplan, die Uniform.«
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Dann war es Poltys Körper, der sich drehte, immer weiter drehte, als der Kaplan umsichtig, beinahe liebevoll, die Hauptmannsuni form von dem stummen Diener nahm und ein Teil nach dem ande ren Polty anzog. Niemand sprach ein Wort. Als sie fertig waren, führte der Kaplan ihn schweigend an der Hand zum Rand des grünen Teppichs. Er schob einen Rankenvor hang auseinander. Polty sog langsam die Luft ein. Hinter den Ranken befand sich ein Spiegel. Polty hatte nie gern sein Spiegelbild betrachtet, weil ihn das gnadenlos mit seiner Häßlichkeit konfrontierte. Doch jetzt war es ganz anders. Der junge Mann hatte nicht über die Veränderungen nachgedacht, die die letzten Monate in ihm bewirkt haben könnten. Denn die Gestalt des Hauptmanns, die er im Spiegel vor sich sah, war nicht mehr die eines Monsters, das, wie er erwartet hatte, aus der Uniform zu quellen drohte. Fasziniert strich Polty mit den Fingern über das Glas. War das Abbild real? Er sah genauer hin, in die grünen Augen, die ihn über hohen Wan genknochen musterten. Er sah noch genauer hin und erkannte das scharfe Kinn; er schluckte und sah, wie sein Adamsapfel hüpfte. Er griff hoch und nahm den Dreispitz ab. Dann sah Polty, daß sein ka rottenrotes Haar gewachsen war. Flammende Locken fielen ihm ungehindert ins Gesicht. Er sah gut aus. Er sah schön aus. Er war schlank und sehnig! Erstaunt drehte er sich zu dem gichtkranken Mann um, der mit ten auf dem Teppich stand, sich schwankend auf den verzierten Stock stützte und ihn eindringlich musterte. Der Kommandeur streckte die Hand aus. Vielleicht wollte er ja, daß Polty sie küßte. Polty machte einen Schritt vor, und dann sah er, in dem blassen Licht, daß Kommandeur Veeldrop genau so einen Ring trug wie er selbst. Der alte Mann stolperte vorwärts und sank ihm in die Arme. »Mein Sohn!« stieß er leise hervor. »Mein Sohn!«
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»Enger!« »Es geht nicht noch enger, Madam.« »Natürlich geht es!« Umbecca holte tief Luft. »So. Noch einmal drei Finger, oder ich sage, du versuchst es gar nicht. Zieh!« Nirry zog. Wenn sie nur eine bessere Halteposition finden könnte! Die Versuchung, sich mit einem Fuß auf dem breiten Hin terteil der Frau vor ihr abzustützen, war riesengroß. Diese fettärschige alte Kuh! Die Muskeln des Mädchens zitterten von der An strengung wie gespannte Sehnen, und die Schnüre schnitten ihr in die Hände. Mit einem Satz stürzte Nirry vor und zog die Knoten fester. Dann fiel sie schwer atmend zurück. Ihr Rücken und ihre Arme taten weh, und ihre Hände waren rot. Viermal hatte die Herrin das neue Kleid angezogen, dreimal hatte sie es wieder ausgezogen und Änderungen verlangt. »Waren das drei Finger, Mädchen?« »Es waren sogar vier«, log die Dienstmagd verzweifelt und rap pelte sich langsam wieder auf. »Vier?« Umbeccas pummeliges Gesicht war gerötet. Mit zierlichen Tanzschritten posierte sie vor dem Spiegel. Es war die Mühe wert gewe sen. Diese Aufgaben waren die schwierigsten gewesen, an die sie sich erinnern konnte. Während des letzten Monats hatte sich Umbecca zwei Zielen gewidmet. Eines betraf ihr Gewand, das andere ihren Bauch. Umbecca hatte sich auf Diät gesetzt. Sie war mit knurrendem Magen in der Wohnung ihrer Nichte herumgelaufen und hatte sich von Zeit zu Zeit sehnsüchtig auf das Sofa geworfen. Wie eine liebeskranke Dame in einem alten Märchen hatte sie jämmerlich vor dem Fenster gesessen, wie ein verängstigtes Vögelchen hatte sie sich über ihre schlafende, abgemagerte Nichte gebeugt, als wollte sie sie schütteln und kratzen. Manchmal unternahm sie einen Ausflug,
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und bei allen Gelegenheiten forderte sie, daß ihre Magd sich um sie kümmern sollte. Bei Mahlzeiten wurde deutlich, wie gut ihre Nase war. Sie war fähig, selbst den schwächsten Duft eines Eintopfs wahr zunehmen, der unten auf dem Feuer brodelte. Heimtückisch schli chen sich die Düfte aus der Küche herauf. Brutzelndes Schweinefleisch! Duftendes rohes Steak! Hühnerfleisch mit Honig und stark angebraten, serviert mit frischen Erbsen und Kartoffeln, die mit Sahne und Kräuterbutter zerquetscht wurden! Die Mahlzeiten der Offiziere waren die reinste Tortur! Die köstliche Soße schien Um becca im Mund zusammenzulaufen! Selbst im Schlaf fand sie keine Erleichterung. Sie wachte nachts plötzlich auf, auf ihrer Pritsche unter dem Heiligenbild der Edlen Imagenta, und ihre Sinne waren bis zum Bersten vom Geschmack einer Zitronenpastete erfüllt, die mit grobem braunem Zucker besprenkelt war. Oder Kuchen: feuchter, dunkler Pflaumenkuchen mit fingerdicker Glasur. Brötchen: Teller auf Teller, krümelig und heiß und dick bestrichen mit Quittenmarmelade und Sahne! Dann sank sie stöhnend zurück auf ihr Kissen. Es war die Mühe wert gewesen! Die ganzen Strapazen hatten sich gelohnt. Umbecca betrachtete sich stolz im Spiegel. Nicht der kleinste Unterschied, dachte Nirry erfreut. Vorsichtig strich Umbecca ihr elegantes Mieder glatt. Das Gewand hatte viele Tage und Nächte Arbeit gekostet. In Elas Garderobe hatte Umbecca ein ungetragenes Kleid aus wundervoller blauer Seide entdeckt, das dieselbe Farbe hatte wie die »Ejard-Blau«-Fahne. Und es war feminin, weich und seidig. Vom Kaplan hatte sie ein Stück blauen Samtstoff bekommen, der bei den Renovierungsarbeiten in der Sakristei übriggeblieben war. Dieser See aus Blau verwandelte sich wie von selbst - wenn auch Nirry es war, die ihn nähte - zu Umbeccas fabelhaftem Gewand. Einige Stücke aus Elas Kleid bildeten das faszinierende Vorderteil. Über dem Mieder befanden sich eingewebte Perlen, und die gerafften Ärmel waren bestickt. Das Kleid war tief ausgeschnitten, hatte eine hohe Turnüre und eine lange Schleppe. Doch auch als das Kleid fertig war, endete Nirrys Mühsal noch
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lange nicht. Ein breitrandiger Hut mit Schleier sollte das Ensemble vervollständigen, und dann warteten noch die Stickereien und die vielen steifen Unterröcke. Umbecca verlangte Perfektion. »Faules, dummes Mädchen«, rief sie jedesmal, wenn sie die Handarbeit des Mädchens bemängelte. Und nicht nur einmal hatte sie die Stickerei herausgerissen und den Stoff zu Boden geworfen. Die Fledermausärmel waren ganz beson ders aufreibend gewesen. Sie hatten sie doch eher an Mäuseschenkelchen erinnert! Nirry wurden ebenfalls von Qualen gepeinigt, die nicht geringer waren als die ihrer Herrin. Allerdings trug sie im Gegensatz zu Umbecca keine Schuld daran. Nirry war von allen Pflichten in der Burg befreit und stand jetzt vollständig Umbecca zur Verfügung. Eigentlich hätte sie es nun bes ser haben sollen, doch statt dessen sehnte sie sich inständig in die Gewölbe ihrer Küche zurück! Am liebsten wäre sie vom Erdboden verschwunden! Die Ruhe war dahin, und an ihre Stelle war ein In ferno aus ständiger Hitze, Dampf und Lärm getreten. Den ganzen Tag war sie auf den Beinen. Nirry wurde wie eine Gefangene gehalten. Ihr griesgrämiger Va ter soff sich in einer Ecke des Stalls um den Verstand und war nicht schlimmer dran als sonst. Sie hätte ihm gern Gesellschaft geleistet. Ihr Selbstmitleid war grenzenlos. Wenn die fette Frau sprach und ihr dabei den Rücken zudrehte, imitierte Nirry sie häufig mit grotesken Bewegungen ihres Mundes. Sie zog Grimassen und verdrehte die Augen, so gut sie konnte. Mach dies, Nirry! Nirry, mach das nicht! Nirry, geh nicht zu den Soldaten! Nirry, komm her, Nirry! Einmal sah sie, wie Lady Ela sie vom Bett aus bei ihren Fratzen ertappte. Nirry lief rot an, doch Lady Ela lächelte nur. Natürlich! Auch sie wollte entkommen. Die Aussicht, eine kurze Ruhepause von ihrer Herrin zu haben,
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war, wenn Nirry so darüber nachdachte, die einzige wirklich positive Seite an diesem Ball. Umbecca trat einen Schritt zurück. Es wurde dunkel. In dem sanften Schein des Lampenlichts und durch halbgeschlossene Lider betrachtet, zeigte der Spiegel das Abbild einer viel jüngeren Frau, jedenfalls redete Umbecca sich das gerne ein. Viel jünger und viel dünner. Einen Augenblick sah sie das Bild ihrer Schwester. Ach, Ruanna! Wie viele Jahre war sie schon tot? Und dann überkam Umbecca ein Gefühl der Befriedigung, einfach nur deshalb, weil sie, im Gegensatz zu ihrer Schwester, noch am Leben war. »Soll ich Euch jetzt den jungen Herrn Jem schicken, Madam?« »Den jungen Herrn Jem?« Dann erinnerte sie sich. War Umbeccas Vergnügen vor einer Sekunde noch ungetrübt gewesen, schmälerte es sich jetzt erheblich. Umbecca war diese Einla dung zum Ball so wichtig, daß sie sie die ganze Zeit auf dem Teetisch hatte liegenlassen, damit jeder sie sehen konnte. Es gefiel ihr, sie als ein seltenes Privileg zu betrachten, das niemand anderem gewährt wurde, als wäre sie zu einem gewaltigen, glänzenden Empfang ein geladen, bei dem sie, durch eine merkwürdige ekstatische Doppe lung der Möglichkeiten, auch gleichzeitig der einzige Gast wäre. Natürlich war das unmöglich. Die hohen Offiziere, ihre Ehefrauen und jeder Adlige im weiten Umkreis waren ebenfalls gebeten wor den. Umbeccas Einladung war nur eine von vielen. Sie wußte das, natürlich wußte sie es. Aber das Wissen, daß ihre Nichte und sogar ihr Neffe ebenfalls einer Einladung genügten, trübte in bestimmten Augenblicken ihre Laune. Eine Hure und eine Mißgeburt? Was kam noch? Würde Nirry vielleicht auch noch eingeladen? Mit der bewußtlosen Ela hatte sie leichtes Spiel. Umbecca schrieb die Absage sogar in ihrer eigenen Handschrift. Mit Jem dagegen war das nicht so einfach. Der Kaplan würde erwarten, daß er teilnahm, davon ging sie aus. Hatte der Junge wenigstens schon seinen neuen blauen Anzug angezogen?
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Höflich klopfte jemand an die Kammertür. Umbecca erkannte das vertraute Muster. Sie packte Nirrys Arm. »Nirry! Rasch, den Hut! Meine Handschuhe. Er muß mich in vollem Glanz sehen.« Ein letztes kurzes Zupfen, bevor sie vor den Spiegel trat, dann schob Umbecca die Dienstmagd beiseite und rief fröhlich zur Tür: »Herein!« »Meine teure Herrin Rench!« Der Kaplan tat, als bliebe er wie angewurzelt stehen. »Was für ein Anblick!« Er ging in die Knie und griff nach ihrer Hand. Ja, er sah es. Der Teppich erfüllte seine neue Aufgabe wirklich höchst zufriedenstellend. Eay Feval stand auf, ging um die fette Frau herum, schlug einen vollständigen Kreis um ihre massige Gestalt und sah sie dann neu gierig an. Sie wirkte beunruhigt. »Kaplan? Stimmt etwas nicht?« Aber im geheimen dachte sie, daß der Kaplan jetzt eine Bemer kung über die erstaunliche Veränderung machen würde, die mit ihrer Figur vorgegangen war. Er suchte vermutlich nur nach den pas senden Worten. Sie konnte ein Lachen kaum unterdrücken und hätte ihm fast ihre eigene Einschätzung verraten. Ein alter Bock, der Ruannas Tugend eine ganze Jahreszeit belagert hatte, hatte ihr stän dig wegen ihrer »Sanduhrfigur« Komplimente gemacht, und Umbecca dachte erfreut an dieses Wort. »Ob etwas nicht stimmt? Aber nein, gute Frau!« Feval lachte fri vol, und während er lachte, bemerkte Umbecca zu ihrem Unbehagen, daß sein eindringlicher Blick auf dem Spalt ihres wogenden Busens ruhte. Sie errötete. »Es ist alles in Ordnung«, sagte der Kaplan. »Es hat nur etwas gefehlt. Aber jetzt ist alles komplett.« Er schob eine Hand in seine Uniformtasche. Umbecca riß die Augen auf, als der Kaplan ihr auf seiner behandschuhten Handfläche eine längliche, samtbezogene Schachtel hinhielt. Langsam klappt er den Deckel auf. Umbecca schnappte nach Luft. »Sie ist wundervoll!«
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»Aus den Minen von Tiralos. Daher kommen die schönsten.« Umbecca errötete vor Freude, als der Kaplan ihr die Diamantenkette um den Hals legte. Er trat zurück. »Ein Geschenk des Kommandeurs.« »Des ... Kommandeurs?« Umbeccas Stimme schwankte. »Allerdings. Und vielleicht darf ich Euch anvertrauen«, sagte der Kaplan verschwörerisch, »daß der Kommandeur eine besondere Vorliebe für ... wie soll ich es ausdrücken ... für Frauen mit üppiger Figur hat.« »Hat er?« Umbecca stolperte in ihrem engen Korsett. »Aber unsere Kutsche wartet bereits. Kommt.« Der Kaplan hielt ihr galant den Arm hin. »Ich nehme an, daß der Junge fertig ist?« »Jem!« rief Nirry und trottete zu seinem Alkoven. Hoffentlich hatte er sich schon angezogen. Der arme Junge war in letzter Zeit so verträumt! »Darf ich nach dem Wohlergehen Eurer Nichte fragen?« setzte der Kaplan liebenswürdig hinzu, während er Umbecca aus der Kammer geleitete. Er hatte wirklich gute Umgangsformen. »Sie dämmert wie üblich in ihrer Bewußtlosigkeit dahin«, antwortete die fette Frau vehementer, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Aber dann drehte sie sich um und lächelte den Kaplan sittsam an. Als wären die bitteren Worte niemals ausgesprochen worden. Endlich war die Tante fort. Ela hob den Kopf von ihrem weichen Kissen und strich sich das wirre Haar zurück. Der Blick ihrer glasigen Augen schien sich zu klären. Auf dem Tisch am Fenster brannte eine Lampe. Einen Au genblick stützte sich Ela auf den Ellbogen, holte tief Luft und be trachtete das Gerumpel in ihrem Zimmer. Überall lagen Schnittreste des Blaurock-Blaus herum, zerrissene Reste von Spitze, gezackte Leinenreste, Perlen und Knöpfe, Messer und Scheren, Nadeln und Stecknadeln. Sie lagen herum oder steckten im Sofa und in dem schrecklichen neuen Teppich. Die Lampe warf im Spiegel einen gol denen, leeren Glanz.
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Ela ließ den Kopf zurücksinken und summte. Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lag die Flasche mit dem Schlafsirup, unberührt, wie sie schon dalag, seit die Blauröcke einmarschiert waren. Ela mußte lachen. Wie überheblich ihre Tante geworden war! Die alte Hexe hatte nichts gemerkt. Diesmal war es noch schlimmer gewesen, sich von dem Saft zu entwöhnen, als beim letzten Mal. Es waren fürchterliche Qualen gewesen, und sie waren um so schwerer zu ertragen, weil sie geheim bleiben mußten. Nur Nirry hatte die Wahrheit erraten. Während Umbecca am Kamin gesessen und Kekse in sich hineingestopft hatte oder eitel vor dem Spiegel herumstolziert war, hatte sich die Dienstmagd ab und zu zum Bett geschlichen, ihrer jungen Herrin die Stirn abgewischt oder dafür gesorgt, daß sie frisches Wasser zum Trinken bekam. Manchmal streichelte das Dienstmädchen einfach nur Elas Arm. Ela sah sie dann mit einem gequälten Blick dankbar an. Die gute Nirry! Sie war ein einfaches, unwissendes Mädchen, aber sie war Elas Krankenschwester und sogar ihre Gefährtin geworden, ihre wahre Gefährtin! Wohingegen Tante Umbecca versagt hatte, was ihre Pflichten und auch die Mitmenschlichkeit anging, und zwar immer wieder. Nachts, wenn die fette Frau endlich schlief, war Nirry zu Elas Zimmer zurückgekommen. Die Dienstmagd beugte sich beim Schein einer einzigen Kerze über ihr Nähzeug und saß loyal an der Seite ihrer jungen Herrin. Manchmal, wenn Ela sich schüttelte oder stöhnte, faßte Nirry ihre Hand. »Meine arme Lady«, flüsterte sie dann. »Seid tapfer. Seid stark! Es ist bald vorbei.« Jetzt war es vorbei. Ela schwang ihre Beine aus dem Bett und griff nach ihrem Schal. Sie fuhr in ihre Pantoffeln und achtete auf die heimtückischen Nadeln. Schnell ging sie über den Teppich und nahm die Lampe hoch. Dann ging sie zu dem Wandteppich. Gerade, als sie durch die Geheimtür verschwinden wollte, hörte sie, wie die Tür der Suite knarrte. Ela drehte sich um. Es war Nirry. Die Dienstmagd lächelte wissend und fröhlich, als ihre junge Herrin in der Wand verschwand.
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Die Kutsche fuhr auf dem Weg zum Ball durch das Dorf. Es war zwar Abend, aber das ganze Dorf war hell erleuchtet. An den Bäu men, die den Anger säumten, hingen Laternen. Jem saß neben seiner Tante und betrachtete untröstlich die Veränderungen im Dorf. Einiges davon störte ihn immer mehr. Die Zeit seit der heißen Jahreszeit des Theron war für den Jungen nur noch ein Nebel, der halb in der Vergessenheit lag. Aber Jem hatte nichts von dem vergessen, was vorher passiert war. Er wußte, was geschah, aber er war hilflos. Langsam, aber gewaltsam wurde die Welt seiner Kindheit Stück für Stück zerstört. In der Burg hatten die Blauröcke die Fäulnis und den Verfall bei nahe vollständig verdrängt, dabei schien beides unlöslich zu ihr zu gehören. Wenn er lautlos auf seinen Krücken umherging, sich hinter Bogengängen, Wandteppichen und Rüstungen verbarg, konnte Jem nur stumm und entsetzt zusehen, wie die verfallenen Kammern, die er mit Barnabas erforscht hatte, von den Männern in Blau rück sichtslos hergerichtet wurden. Laute Befehle hallten durch die Flure, und Scheiterhaufen brannten jede Nacht in den Höfen, hoch bela den mit modrigen Büchern, verrotteten Stoffen und wurmstichigen, brüchigen Stühlen. Überall im Dorf war es dasselbe. Frische Ziegel thronten stolz auf einst löchrigen Dächern, und dicke Balken aus Bäumen vom Wildwald stützten Decken, die einmal durchgehangen hatten und einzu stürzen drohten. Der Geruch von Kalk erfüllte die Luft. Überall wurde gehackt, gehämmert und gesägt und mit Sand geschliffen. Und überall herrschte eine neue Klarheit, ein neues Licht. Auf dem Friedhof wurde Unkraut gejätet und das lange Gras gesenst. Die Kutsche wurde langsamer, als ihr Ziel vor ihnen auftauchte. Die Straße zur Sakristei war zwar breiter gemacht worden, doch heute abend war sie immer noch zu schmal, um die Zahl der Kut schen und Pferde und die aufgeregte Menschenmenge zu fassen. Die Ausgangssperre rückte näher, aber immer noch warteten Horden
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von Bauern gierig darauf, einen Blick auf die Gäste werfen zu kön nen. Sie bewunderten lautstark die großartigen Kutschen und Ge wänder. Wenn auch einige über die Blauröcke meckerten, waren die meisten doch von dem Reichtum und der Pracht geblendet, die selbst sie so plötzlich, an diesem wunderschönen Abend, einzuhüllen schienen. Wachen standen mit aufgepflanztem Bajonett in einer Reihe bis zur Sakristei und an deren Wänden entlang. Die Wache am Tor zischte über seine Schulter: »Die Gesellschaft des Kaplans!« Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch die Reihe der Män ner, bis hin zu dem hell erleuchteten Haus. Offizierskadetten in schmucken Ausgehuniformen beeilten sich, den Passagieren aus der Kutsche zu helfen. »Einen Stuhl für den Jungen!« Eay Feval schnippte mit den Fin gern, aber Jem hielt krampfhaft seine Krücken fest. Er warf dem Ka plan einen ernsten Blick zu, bis dieser schließlich nachgab. Sie schritten majestätisch zum Tor, und Umbecca hängte sich bei dem Kaplan ein. Jem schwang sich zuversichtlich mit den Krücken hinter ihnen her. Die Menge drängte näher und wurde nur von den Soldaten zurückgehalten. Als sie Umbeccas Kleid ansichtig wurden, hörte man, wie die Leute nach Luft schnappten und spotteten. Aber sie unterdrückten diese Äußerungen rasch. Umbecca hörte es nicht. »Winkt ihnen zu«, murmelte der Kaplan. Jems Tante gehorchte. Sie drehte sich in der offenen Tür um und schlug graziös ihren Schleier zurück, wie Ruanna es getan hatte, als sie an einem königlichen Empfang teilnehmen wollte. Nun hob Umbecca ihre behandschuhte Hand, als wollte sie die Leute segnen. Da zerplatzte plötzlich eine überreife Tomate auf ihren Brüsten! Sie schrie. Sie kreischte. Die Leute johlten vor Lachen, während die Soldaten Umbecca rasch durch die Tore führten. Starke Hände packten Jem und zogen ihn fort. Doch unmittelbar, bevor man ihn vom Tatort wegbrachte, erhaschte er einen Blick auf ein zerlumptes Mädchen, das seinen Blick einen Moment erwiderte, bevor es in der Menge verschwand.
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Schreie ertönten. Und Schüsse. Im Hause wurde seine in Tränen aufgelöste Tante in einen Ruheraum geführt. Jems Erinnerung lieferte ihm einen zweiten Blick auf das Mädchen. Das Gesicht wurde klarer: breite, hohe Wangenkno chen und ein strahlendes, schadenfrohes Grinsen. Dann war es wieder verschwunden. Jem sah sich um. Man hatte ihn in der Eingangshalle zurückgelas sen. Er saß auf einem unbequemen Sofa, und seine Krücken lagen neben ihm. Die Arm- und Rückenlehnen waren mit Goldfarbe be malt, und der Samtstoff des Bezugs war blau. Als man ihn zum Haus getragen hatte, war Jem der Teppich auf gefallen, der auf dem Weg lag. Er schlug eine rötlich-grüne Schneise durch den gepflegten, beleuchteten Garten. Jetzt wußte er, daß der Teppich blau gewesen war und nur durch das künstliche Licht grün gewirkt hatte. Im Haus war alles blau. »Ejard Blau« gestreift war die Tapete, und selbst auf dem Boden liefen breite blaue Streifen. Von der Decke, vor den Fenstern und den Türen, die zum Ballsaal führten, hingen blaue Stoffbahnen. Blau waren die meisten Kostüme, nicht nur die der Soldaten, sondern auch die der meisten Gäste. Und blau war auch die Farbe des steifen, heißen Samtanzugs und der Bundhose, die er trug. Die Spitze am Kragen und an den Manschet ten war weiß. Der Junge saß da und betrachtete die blauen Rücken der Fräcke und das geschäftige Treiben im Ballsaal. Über den Türen hing in ei nem protzigen Rahmen, der jeden Augenblick herabzustürzen drohte, ein Bildnis des Königs. Jem sah es sich genauer an. Er hatte einmal eine Radierung von Ejard Rot gesehen. Ejard Blau sah ge nauso aus, war aber blau angezogen. In einer Fensternische stand auch eine weiße Marmorbüste. Jem dachte, daß dies vielleicht ein mal Ejard Rot hatte sein sollen und daß die Leute jetzt einfach nur sagten, es wäre Ejard Blau. Das war der Vorteil, wenn man Zwil lingskönige hatte, von denen der eine dem anderen folgte. Es war ein merkwürdiger Gedanke. Jem betrachtete erneut das Bild und dann die Büste. Ihm kam ein anderer Gedanke, ein viel merkwürdigerer,
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aber er verfolgte ihn nicht weiter. Die Leute um ihn herum unterhielten sich, und Jem wollte gern zuhören. »Wer war denn diese fette alte Schachtel?« fragte eine Offiziersfrau. »Shh! Sie kommt von der Burg. Sie ist eine Edle hier vom Ort.« »Edel?« Die Offiziersfrau lachte spöttisch. »Liebling, bitte!« »Aber dieses Kleid! Beim Herrn Agonis! Warum wieselt der Kaplan so um sie herum?« »Darling, ich bitte dich. Wir sind nun mal in den Provinzen.« »Meine Teure, laßt Euch davon nicht erschüttern!« sagte der Ka plan. »Ich flehe Euch an, laßt Euch nicht von diesem ordinären Zwi schenfall in Eurem charmanten Verhalten irritieren oder Euch das Vergnügen an dieser Feier verderben. Das Geschoß war direkt auf mich gezielt, nicht auf Euch. In jeder Stadt gibt es unerwünschte Elemente, und man muß mit einer begrenzten, anfänglichen Oppo sition rechnen. Na, na! Es ist nichts, wirklich nichts.« Umbecca trocknete sich ihre Tränen ab. Es gab keinen Grund zu weinen. Mit dem Takt und der Finesse, die der Kaplan die ganze Zeit gezeigt hatte, hatte er sich von einer der Offiziersdamen ein steifes Spitzentaschentuch geliehen und es mit einem kleinen Kniff hier und einer Falte da genau vor dem Fleck auf ihrem Gewand befestigt. »Seht Ihr! Wer wird es jetzt noch merken?« Er führte sie zu einem Spiegel. Umbecca strahlte. Der bestickte Besatz war genau das, was dem Kleid noch gefehlt hatte. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Der Kaplan legte ihr wieder das Diamantenhalsband um und führte sie in den Ballsaal.
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In Jems Kopf brummte es. Wohin war seine Tante gegangen? Er könnt weder tanzen noch ohne Hilfe stehen und mußte des halb einen erbärmlichen Abend über sich ergehen lassen. Im Ballsaal war es unerträglich eng. Überall gab es Kamine mit Feuern, und tau send Kerzen flackerten über ihren Köpfen. Die Reibung von strah lenden Uniformen und den Abendkleidern mit ihren Schleppen erzeugte eine eigene, klamme Hitze. Nicht einmal im Tempel waren so viele Menschen gewesen. Jem hatte nicht einmal angenommen, daß es auf der ganzen Welt so viele Menschen gab. Er hatte wenigstens ein Plätzchen für den Abend gefunden. Jetzt saß er auf einem Stuhl am anderen Ende des Saales, in einer vergessenen Ecke zwischen dem Orchester und den Tischen mit den Getränken. Dort war es sehr bequem. Was die Ladies und Gentlemen eigentlich genau tranken, wußte Jem nicht. Aber er fand es eine großartige Idee, etwas zu trinken. Und wiederholt kamen die Gentlemen zu einem Ecktisch und löf felten eine bunte Flüssigkeit aus einer großen Glasschüssel. Norma lerweise tranken sie nicht ein Glas, sondern gleich mehrere. Jem konnte nicht gleichzeitig auf seinen Krücken stehen und sich ein Glas einschenken. Er bedauerte es, war aber zum Glück nahe genug, um sich hochzuziehen. Schließlich nippte er an der merkwürdigen Flüssigkeit, die gleichzeitig eigenartig bitter und süß schmeckte, und beobachtete das Orchester. Das war ebenfalls eine gute Idee. Die Musik dröhnte glücklicher weise so laut in seinen Ohren, daß sie das Gelächter und die Ge spräche übertönte. Es lenkte ihn ab zuzusehen, wie die Musiker mit ihren Bögen über die Geigen strichen, und die Finger der Lauten spieler zu beobachten, die auf den Saiten zu tanzen schienen. Die Baßtöne der Cembali dröhnten hinter seinem Kopf. »So einsam, Junge?« Jem blickte hoch. Ein stattlicher Gentleman betrachtete ihn gut-
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mutig. Über dem Bauch des Mannes spannte sich eine goldene Uhr kette. Er trug eine besonders prachtvolle Perücke. Der Gentleman beugte sich zu ihm herunter. Er hatte eine brennende Zigarre in der Hand. Ein rundes Monokel klemmte in seinem Auge, oder vielmehr sah es so aus, als wäre es an seiner Nase befestigt, die, vor allem im Gegensatz zu seinen roten, geäderten Wangen, eigenartig hölzern wirkte. Ja, hölzern. Bemaltes Holz. Es war trotz allem eine großartige Nase. Jem lächelte höflich. »Leider habe ich keine Töchter«, sagte der Gentleman. Jem wunderte sich. Nicht, weshalb er keine Töchter hatte, sondern warum er das sagte. »Aber Oberst Rextel von den Blauen Irions hat fünf wunder schöne junge Füllen, das kann ich dir versichern ...« »Pferde?« »Töchter! Töchter, mein Junge. Das magische Wort für einen jun gen Burschen. Du bist vielleicht, na ja, noch ein bißchen zu grün hinter den Ohren, um schon eine ernste Bindung einzugehen, wenn ich das so sagen darf, aber du siehst gut aus und machst keine Feh ler. Ich glaube, es könnte nichts schaden, heute abend eine kleine Einführung zu bekommen und der wundervollen Miss Vyella Rex tel vorgestellt zu werden. Denk darüber nach. Hm? Nun, wenn in mir noch Säfte flössen, mein Junge, würde ich das Angebot sofort annehmen. Sag ein Wort, Bursche, und deine Zukunft ist gesichert. Komm! Sag, daß du mit Miss Vyella Rextel tanzen willst.« Jem warf einen finsteren Blick auf den Tanzboden. Die JarvelZigarre deutete auf eine Person und schien wie durch Magie die unübersehbare Miss Vyella Rextel ins Leben zu rufen. Ja, das war sie. Ein ungelenkes Geschöpf, einige Jahre älter als Jem. Im Augenblick tanzte sie gerade mit einem jungen Leutnant aus dem Regiment ihres Vaters. Sie hüpfte in einer Quadrille vor und zurück. »Ich bin ein Krüppel«, erklärte Jem. Der Gentleman lachte. »Ho, Junge! Ich habe dasselbe empfun den, als ich zum ersten Mal dem anderen Geschlecht begegnet bin. Ich habe gebockt und gewiehert wie ein scheuer junger Hengst. Aber sieh dich an, Junge, genieß den Anblick der saftigen Vy-«
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In dem Moment bemerkte der Gentleman Jems Krücken und räusperte sich verlegen. »Aber vielleicht hast du ja recht, mein Junge. Vielleicht bist du wirklich noch zu jung. Vergeude nicht dein Herz, vergeude nicht deinen Leib, wie ein altes Sprichwort aus der Provinz Midlexion sagt, eines, auf das ich leider nicht gehört habe. Du siehst vor dir die Ruine eines Mannes, notdürftig geflickt und bandagiert. Bewahre dir deine Unschuld, damit du nicht wie ich dein Leben beendest, ge plagt von Reue, gepeinigt von Geschlechtskrankheiten und den da mit verbundenen Wehwehchen.« Der Gentleman nickte höflich und verabschiedete sich. »Oh! Kaplan!« Eine bekannte Stimme »Ihr habt mich geschafft! Ich kann nicht mehr tanzen.« Die Quadrille war vorbei, und Jem klatschte, während er seine Aufmerksamkeit von dem Gentleman losriß und auf die wabbelnde Gestalt seiner Tante richtete. Sie stützte sich auf den Arm des Kaplans und stand direkt neben ihrem Neffen, allerdings ohne ihn zu sehen. Er saß versteckt in seiner Ecke und wurde stets von einer Uniform oder einem Gewand verdeckt, während die Gäste herum streiften. Das Orchester spielte einen Holluch-Reigen. »Kaplan, sagt mir: Wann wird sich unser Gastgeber zeigen?« »Sich zeigen? Ihr sagt das so, als würde er sich verbergen! Er wird eine kleine Rede halten, wenn er soweit ist.« »Herrin Rench!« Auch diese Stimme war unverwechselbar. Und sie klang beflissen. »Darf ich Euch sagen, gute Frau, daß meine Gattin und ich Euch schon lange bewundert haben, aber noch nie so sehr wie heute abend. Ich erkläre Euch hiermit zur Belle des Balles!« »Kaplan, kennt ihr schon Goodman Waxwell?« »Allerdings.« Der Kaplan neigte zur Begrüßung knapp den Kopf. »Aber mit solchen Galanterien kann ich nicht mithalten. Ihr ent schuldigt mich, Madam?«
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Konnte es sein, daß die glatte Stimme ein wenig kühler klang? Jem spähte hinter einem glänzenden Ballkleid hervor und sah, wie die makellose Gestalt des Kaplans sich entfernte und an seine Stelle der gebeugte Arzt trat. Er trug einen neuen blauen Anzug, der ihm mehr als scheußlich zu Gesicht stand. Jem hatte den Arzt noch nie in einer anderen Farbe als dem Schwarz der Agonisten gesehen. Dieser Versuch, sich modisch wie ein Gentleman zu kleiden, war mehr als bedauerlich! Allein die gol dene, gesteppte Weste! Die Blume im Knopfloch! Die seidene Schärpe über seiner Brust war besonders schlimm. Und wenn er sprach, nestelte der Arzt nervös daran herum, als wäre sie zu eng. Eine neue weiße Perücke rutschte ihm grotesk auf dem Kopf herum. »Es ist schon lange her, daß Ihr uns besucht habt, gute Frau«, sagte Waxwell. »Ich muß zugeben, daß es mich allmählich stört. Ich habe mich gefragt, ob etwas vorgefallen ist. Und ich habe mich gefragt, ob Ihr in Eurem Glauben schwankt?« »In meinem Glauben?« erwiderte Umbecca kalt. »Goodman, Ihr habt mich doch an jedem Kanonischen Tag im Tempel gesehen, oder nicht? Ich frage mich, woher Eure Zweifel stammen.« Der Arzt zupfte besonders heftig an seiner Schärpe. »Die Kano nischen Tage, gute Frau, sind eine großartige Angelegenheit. Aber Ihr wißt, wie schnell sie zu einer bloßen Form verkommen können. Ich bin sicher, daß Ihr in Eurem Herzen genau wißt, daß eine bloße Erscheinung auch nur bloßer Schein ist. Daß äußere Zurschaustel lung nur Äußerlichkeit ist.« »Goodman, was wollt Ihr damit sagen?« Der Arzt rückte näher. Jem strengte sich an, um das Gespräch mitzubekommen. War da etwa eine Spur von Tadel in der jammernden, schmeichlerischen Stimme? »Manchmal erleben diejenigen, die nicht festen Glaubens sind, gewisse Rückschläge, die sie verunsichern. Wie närrisch von ihnen! Für die, die ihre Herzen dem Herrn Agonis darbieten, ist der Weg ganz klar, unausweichlich klar. Aber die heimtückische Last des Zweifels ruht schwer auf ihren Herzen. Sie versinken wie Steine in einem Kanal. Ich würde es nicht gern sehen, wenn das auch mit Euch geschähe, meine ... Teure.«
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Umbecca schwieg, und Jem stellte fasziniert fest, daß Goodman Waxwell sie auf irgendeine Art verletzt hatte. Vielleicht ging sie ja oder machte ihm eine Szene. Umbecca tat nichts dergleichen. Leise sagte sie: »Ja, Goodman, ich hatte mein Zweifel...« »Ich wußte es!« »Nein! Nein, nicht an Euren Absichten. Sie waren gut, sie waren ehrenwert. Aber an dem, was wir getan haben. Was wir fast getan hätten. Etwas in meinem Herz hat sich dagegen gewehrt, Goodman. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich muß Euch sagen, daß ich den Jungen sicher freigelassen hätte, bevor es soweit war, wenn er nicht von sich aus den Weg aus Euren Klauen gefunden hätte. Ach Goodman! Die Flucht des Jungen war der Urteilsspruch des Herrn Agonis über uns. Unser Plan war verrückt, das seht Ihr doch sicher ein? Er war übertrieben. Er war abergläubisch. Er war... Goodman, er war provinziell!« Ein Butler eilte vorbei und balancierte glitzernde Gläser auf einem Tablett. Der Holluch-Reigen war vorbei, und die Menschen applaudierten freudig. »Ich verstehe genau, wie es jetzt aussieht!« Die Stimme des Arz tes klang verbittert. Sein verzerrtes Gesicht war rot angelaufen. »Ich sehe, daß da jemand in unsere Mitte ist, der seinen wahren Glauben für die schillernden Seifenblasen dieser Welt verraten hat!« Der Arzt trat zurück, und nach einem mächtigen Zupfer hielt er plötzlich die Schärpe in der Hand. Doch Jem beobachtete ihn nicht mehr. Und er hörte ihm auch nicht mehr zu. Sein Kopf brummte unter einer Flut der Erinnerung, die ihn zu begraben drohte. Er erinnerte sich. Er griff nach den Krücken und rappelte sich auf. Das Orchester war plötzlich ohrenbetäubend laut, und die Hitze im Raum drohte ihn zu ersticken. Er mußte fliehen. Umbecca schloß die Augen. Der Arzt war glücklicherweise wegge gangen, aber wo war der Kaplan? Er war den ganzen Abend in ihrer
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Nähe gewesen. Wenn er nicht ihr Partner bei dem einen oder anderen Tanz gewesen war, übergab er sie in die Arme verschiedener gut aussehender Offiziere, deren Namen wie im Traum an ihr vorbei glitten. Umbecca sah sich um und spürte plötzlich die Hitze und die Enge. Gewänder schoben sich an ihr vorbei, glatte, schwanengleiche Hälse, Sanduhrtaillen. Zum ersten Mal an diesem Abend war Um becca allein. Aber es dauerte nur eine Sekunde. »Herrin Rench?« Der junge Mann verbeugte sich steif. »Ich habe den ganzen Abend versucht, Eure Bekanntschaft zu machen. Daß es mir bis jetzt nicht gelungen ist, spricht nicht gerade für meine Tüchtigkeit und dafür um so mehr für den Feuereifer der anderen, die eine Frau von so einzigartigem Charme so häufig auf gefordert haben.« Umbecca lächelte. Es war eine galante Rede, und sie erinnerte sich schwach an eine ähnliche aus dem Roman ihrer Schwester, Ehe und Krieg. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Ruanna sie dem geris senen und schmierigen Eustan Vyles in den Mund gelegt. Doch jetzt hörte sie sie aus dem Mund eines charmanten jungen Offiziers in einer erstklassigen Ausgehuniform. Und was für hübsche Locken! Etwas an ihm kam ihr bekannt vor. Gelassen blickte der junge Offizier dem gebeugten Rücken von Goodman Waxwell nach. Der Arzt wollte gehen und hatte Schwie rigkeiten, zwischen den steifen Reifröcken zweier feiner Ladies hin durchzukommen. Nervös räusperte er sich, während sie ihm den Rücken zudrehten. »Ein charmanter Gentleman, der Goodman Waxwell.« »Allerdings.« »Er war in den finstersten Jahren einer der Stützpfeiler dieser Gemeinde.« »Wahrhaftig.« »Irion hat allen Grund, ihm dankbar zu sein, genau wie ich es bin.« Jetzt endlich erkannte Umbecca ihn. »Poltiss Waxwell?«
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Es war so viel Zeit verstrichen, seit sie das junge Mündel des Arz tes gesehen hatte, daß Umbecca von der Veränderung erschreckt wurde, die mit ihm vorgegangen war. Er war großartig. Mit einer frischen Klarheit sah sie den Irrtum von Goodman Waxwell. Der Mann mußte an etwas leiden. An einem Wahn. Es mußte so sein! Hatte er nicht gesagt, daß der Junge auf die schlechte Seite abgerutscht war? Der junge Offizier neigte seinen Lockenkopf und lächelte. »Poltiss stimmt, meine Teure, aber Waxwell stimmt nicht mehr. Veeldrop. Poltiss Veeldrop.« »Veeldrop?« Umbecca durchfuhr eine glasklare Empfindung, die sie aber dennoch nicht benennen konnte. Sie erkannte jetzt, daß der junge Offi zier - wie er gewachsen war! - ihr viel vertrauter war, als sie zunächst gedacht hatte. Umbecca schloß die Augen, und die Erinnerung stieg in ihr auf. »Herrin Rench?« Die Frage drückte eine höfliche Besorgnis aus. Poltiss nahm ihren Arm. Die laute Musik im Saal hatte aufgehört, und jemand schlug mit einem Löffel gegen ein Glas. Das Klingen erfüllte den ganzen Raum. Umbecca sah nicht hoch. Auf dem Podium, auf dem das Orchester gespielt hatte, reichte der Kaplan jetzt das Glas einem Helfer. Er hielt seine behandschuh ten Hände hoch, die Handflächen nach außen gerichtet. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein nachsichtiges Lächeln ab, als das aufge regte Gemurmel im Saal allmählich verebbte. »Damen und Herren aus Tarn«, begann der Kaplan. »Es ist ein freudiger Anlaß, der uns heute abend hier zusammenführt. Heute feiern wir das prachtvollste Fest, das jemals in diesen Tälern began gen wurde, seit sie so glorreich von der verhaßten Tyrannei des Thronprätendenten der Rotröcke befreit wurden. In diesem Fest, glaube ich, können wir sowohl eine Kulmination als auch eine Be stätigung sehen, einen Ausklang als auch eine Erklärung. - Ein Monat ist nun seit dem glorreichen Tag verstrichen, an dem die Verei nigten Regimenter der Tarn ihren rechtmäßigen Platz wieder einge nommen haben. In dieser Zeit haben wir miterleben können, wie
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sich dieses Dorf von dem vernachlässigten Zustand, in dem es einst schmachtete, zu einem Ort entwickelte, der, und das sage ich nicht voreilig, bald zu einer Stadt werden wird, die den Neid und die Bewunderung in allen Agonistischen Ländern wecken wird.« Eay Feval war stolz auf sich. Das hier würde vermutlich eine sei ner besten Reden werden. Er hoffte nur, daß der alte Mann, der hin ter einem Vorhang wartete, nicht stolperte, wenn er auf die Bühne kam. Es war äußerst wichtig, einen guten Eindruck zu machen. »Denkt an die Erneuerung, die wir hier gesehen haben, und die Pracht dieser Erneuerung. Zu erneuern! Auszubessern! Zu renovieren! Zu restaurieren, wiederzubeleben, zu verjüngen! Es ist ein ed les Unterfangen, aber dies nur als physisches Tun zu sehen, meine Freunde, wäre ein Fehler. Finden wir, die wir dem Herrn Agonis fol gen, in der Wiedergeburt dieser Täler nicht auch ein Symbol, das wir dieser ruinierten Welt bringen müssen?« Der Kaplan ließ seinen Blick wohlwollend über die Versammlung gleiten und bemerkte mit einem schwachen Stirnrunzeln, daß Umbecca Rench ein wenig bestürzt zu sein schien. Die fette Frau wirkte sogar ziemlich aufgewühlt. Gute Güte! Sie hatte wirklich noch viel zu lernen. Umbecca hatte sich ganz und gar in ihre Erinnerung zurückgezogen. Sie dachte an die wunderbaren Tage kurz nach der Belagerung, als die ganze Welt vor Möglichkeiten nur so überquoll. Konnte es sein, daß diese Tage jetzt zurückgekehrt waren? Sie wagte es kaum zu hof fen. Und dennoch, war nicht alles so, wie es früher gewesen war? Sie erinnerte sich daran, daß der Hof unter ihrem Fenster voller blauge kleideter Gestalten gewesen war. Sie waren zurückgekommen. Sie erinnerte sich an die rumpelnden Karren und die krächzenden Rufe der Gefangenen. Sie erinnerte sich an die Hinrichtungen auf dem Dorfanger, an die wehenden Fahnen und an die Musik. All das war zurückgekommen. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie den Kommandeur der Blauröcke kennengelernt hatte. Schwester Becca,, das ist Kommandeur Veeldrop, hatte der Erzherzog gesagt. War auch er zurückgekehrt? Umbecca hatte aufgehört, an ihn zu denken. Sie
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hatte nie wieder einen Gedanken an ihn verschwenden wollen, doch jetzt mußte sie feststellen, daß er ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie erinnerte sich an seine Größe, an sein gutes Aussehen. Sein Haar. Seine Hände. An seinen großartigen, gezwirbelten Schnurrbart. Nein, sie hatte niemals wieder an ihn denken wollen! »Und so«, fuhr Eay Feval fort, »bleibt mir nur noch, Euch den Mann vorzustellen, der allein für die erstaunliche Erneuerung verantwortlich ist, die wir hier im Tarn erleben durften. Ihr kennt ihn als ... ähm ... einen der größten Helden in den Annalen der Agoni stischen Länder. Ihr kennt ihn als einen Mann, der Euch schon einmal befreit hat, wie er Euch auch jetzt befreit. Edle von Tarn, wenn ich Trauer in meinem Herzen verspüre, dann nur, weil ich ihn nicht mit dem Titel vorstellen kann, den er, da werdet Ihr mir alle zustim men, gerechterweise verdient hätte ... Nein, nicht einfach nur Kom mandeur, sondern Lord Veeldrop.« Donnernder Applaus ließ den Ballsaal erzittern. Und langsam, als würde sie aus einem tiefen Traum erwachen, öffnete Umbecca die Augen. Sie blickte erstaunt auf den gebrochenen alten Mann, verfolgte ungläubig, wie er einige Momente schwankte, sich schwer auf einen juwelengeschmückten Stock stützte und dann ohne ein Wort zu sagen auf einen Stuhl sank. Rasch ließ der Kaplan ihn hochleben und gab dann dem Orchester den Einsatz für das Hohelied der Flagge.
25. Der Obstgarten im Dunkeln Jem zitterte. Es war kalt im Obstgarten, aber der Junge fröstelte nicht. Er hatte Angst, und diese Angst verwirrte ihn. Wieso fürchtete er sich? Die Gefahr war schließlich gebannt. Er war entkommen. Jem hatte die Krücken neben sich gelegt und beugte sich über das Becken des Brunnens der Weissagung. Er stützte sich schwer auf seine gekreuzten Arme und betrachtete die Figuren, die sich ge
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heimnisvoll im Mondlicht über dem gekräuselten Wasser erhoben. Man hatte die Statuen von dem grünen Moos gereinigt. Silbriges Wasser stieg bis zu ihren Füßen hoch wie eine schimmernde, kri stallene Blume und strömte von da aus über den Rand der kleinen Schale in das große Becken darunter. Jem erinnerte sich noch daran, daß das Wasser früher widerlich gestunken hatte und verdreckt ge wesen war. Jetzt blickte er in die klare Flüssigkeit und sah darin das Phantombild des Mondes, gefangen hinter einem Netzwerk aus Blättern und Zweigen. Und über ihm knarrten leise die sauber gestutzten Zweige. Platsch! Der Mond verschwand, und Wasser tropfen spritzten Jem ins Ge sicht. Etwas war von den Bäumen gefallen. Ein Apfel? Er sah ins Wasser, während der Mond sich allmählich wieder zusammensetzte. Einen Augenblick später geschah es erneut. Vorsichtig hielt sich Jem am Rand des Bassins fest und versuchte sich herumzudrehen. »Ist da jemand?« Niemand antwortete. Aber als der Mond diesmal wieder im Wasser erschien, sah Jem auch ein Gesicht. Er erkannte die dunkle Mähne und die breiten, ausgeprägten Wangenknochen. Die dunklen, eindringlichen Augen. Jem hatte sich ein bißchen erinnert. Doch jetzt erinnerte er sich an alles. »Cata!« Er lachte laut. »Warum lachst du?« Zweige knackten, Blätter rauschten, und dann stand das Mädchen neben ihm. »Warum?« fragte sie erneut. Aber Jem konnte nicht aufhören zu lachen, und hätte er es gekonnt, hätte er es ihr dennoch nicht erklären können. Jetzt wußte er, wovor er sich gefürchtet hatte. Er hatte Angst gehabt, Cata niemals wiederzusehen. Er hatte nicht nur eine Erinnerung, sondern deren zwei verdrängt. Die erste, weil sie ihn traurig gemacht hatte. Und die zweite, weil sie ihn glücklich gemacht hatte.
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Dieses Glücksgefühl brachte ihn jetzt zum Lachen, und deshalb schwang er sich leichtsinnig vom Rand des Brunnens weg und griff nach seinen Krücken. Vor Glückstrunkenheit verfehlte er sie und plumpste gegen den Brunnenrand zurück, während seine Krücken die Marmorstufen hinunterpolterten. Er schnappte nach Luft. »Cata ... hilf mir ...!« stieß er hervor. Er griff nach ihrer Hand, doch da verwandelte sich Jems Freude in Erstaunen, als das Mädchen ihn wegstieß. Sie war plötzlich wü tend, und Jem stürzte hart auf den marmornen Boden. »Ich hasse dich!« fuhr sie ihn an. Dann sprang sie hoch und schwang sich wieder in den Baum zurück. »Cata?« Jem lag auf dem Rücken und blickte nach oben. Er hätte sich hilflos und hoffnungslos fühlen können, aber eigenartigerweise war er in diesem Augenblick vollkommen ruhig. Er blickte in die raschelnden Blätter und die wippenden Äpfel. Ein stetiges Schluchzen er tönte von oben. Cata schluchzte. »Ich habe nach dir gesucht«, stieß sie erstickt hervor. »Und wie ich nach dir gesucht habe! Und jetzt finde ich dich, herausgeputzt mit feinen Kleidern, und du lachst mich einfach aus!« »Aber Cata!« sagte Jem. »Du irrst dich. Ich habe nicht über dich gelacht!« Es herrschte eine Pause, in der nur ihr leises Schniefen zu hören war. »Warum hast du dann gelacht? Du wolltest es mir nicht sagen.« »Das konnte ich nicht! Cata, ich habe gelacht, weil ich glücklich war.« Cata wischte sich vernehmlich die Nase. »Welchen Grund hast du, glücklich zu sein?« schoß sie zurück. »Du bist immer noch ein Krüppel.« Jem hätte fast wieder gelacht. Aber er riß sich zusammen. »Ich habe dich«, sagte er schüchtern. »Was ?«
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Er hatte keine große Lust, es noch einmal zu sagen. Aber er schloß die Augen und meinte sehr ruhig: »Ich bin deinetwegen glücklich. Ich war noch nie so glücklich wie in der Zeit, als ich mit dir zusam men war. Und ich bin glücklich, weil du da bist.« Im Apfelbaum herrschte lange Schweigen. Nicht mal ein Schnüf feln war zu hören. Schließlich fragte sie leise: »Wirklich?« »Wirklich«, versicherte ihr Jem. Diesmal glitt das Mädchen geschmeidig und lautlos von dem Baum herunter. Eben hockte sie noch oben, und im nächsten Moment stand sie neben ihm. Und blickte auf ihn herunter. Sie streckte die Hand aus. Jem ergriff sie, und im gleichen Augenblick geschah etwas Außer gewöhnliches. Als würde eine Kraft, eine geheime Macht zwischen ihnen fließen, fühlte Jem, wie er sich ihrem kräftigen Griff entge genstreckte. Unmerklich erst, dann mit einem kräftigen Stoß, und plötzlich wurde ihm klar, daß das Unmögliche eingetreten war. Er konnte stehen. Später würde Jem diesen Moment als den ansehen, in dem sein Le ben endlich klare Formen angenommen hatte. Er hatte so lange ohne Sinn und Ziel gelebt, nicht gewußt, warum er überhaupt auf der Welt war. Doch von diesem Augenblick an wußte er, daß er ein Ziel hatte, auch wenn er nicht genau wußte, was es sein sollte. Er wußte nur, daß Cata ein Teil davon war. Sie mußte ein Teil davon sein. Zögernd gingen sie um die Fontäne der Weissagung herum, die Hände innig verschränkt. Ihre Schritte knirschten auf dem Schlackeweg, und sie hielten sich im Schatten der Bäume. Doch erst als Jem vor Aufregung versuchte vorauszulaufen und stürzte, begriff er die merkwürdige Natur der Magie, die sie einhüllte. Jem konnte gehen; jedoch nur, wenn Cata seine Hand hielt. Poltiss Veeldrop atmete tief ein. er war froh, der stinkenden Atmosphäre des Balls entkommen zu sein. Er schlenderte durch die Anlagen des französischen Gartens seines Vaters.
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Im Ballraum hatte die Musik wieder begonnen, und die perlenden Klänge eines Varby-Walzers schwebten elegant durch die Luft. Der Abend war ein großer Erfolg gewesen. Polty hatte mit einigen der schönsten Damen aus den Provinzen getanzt, und es war offen sichtlich, daß die Damen ihn mit ihren Blicken verschlungen hatten. Wäre er jetzt in den Ballsaal zurückgegangen und hätte seine Hand der üppigen Miss Vyella Rextel dargeboten, hätte sie sie mit Sicher heit akzeptiert. Natürlich hätte sie das. Polty machte einen kleinen Tanzschritt auf dem knirschenden Pfad. Frauen! Sie ekelten ihn an. Er war ein schönes Geschöpf geworden, aber er war zu lange häßlich gewesen, um nicht die bittere Ironie der Schönheit zu spüren. Es war ein scharfes, stechendes Gefühl. Die Blicke, die ihn jetzt mit Sehnsucht verschlangen, lösten nur Verachtung in ihm aus. Dieselben Augen, das war ihm klar, hätten ihn vor kurzem noch verächtlich angeblickt. Frauen waren Närrin nen und ließen sich von billigem Tand blenden. Sie waren heuchlerisch und spielten selbst in den Heimstätten ihrer Lust Tugend vor. Auch die alte Schachtel aus der Burg klebte an ihm, das hatte er gemerkt. Umbecca Rench! Eine lächerliche Frau, die sich mit einem Teppich aufgetakelt hatte, an den sie vorn ein schmutziges Taschen tuch gestopft hatte. Alle feinen Damen lachten hinter vorgehaltener Hand über sie. Aber der Kaplan hatte anscheinend etwas mit ihr vor, also mußte man sie bei Laune halten. Polty würde von jetzt an sehr gut darin sein, Menschen wohlgesinnt zu stimmen. Er hatte sein Äußeres verändert. Nicht aber sein Herz. Polty lachte leise und lauschte den schwachen Geräuschen aus dem Ballsaal. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie den Lexion Revels spielten. Er hatte diesen Tanz der entzückenden Vy verspro chen, aber es konnte nicht schaden, wenn sie ein bißchen wartete. Es gefiel ihm, ein paar rote Flecken auf ihren eisigen Wangen zu sehen! Müßig schlenderte er durch das Tor, das in den Obstgarten seines Vaters führte. Hier ging er nicht auf dem Pfad, sondern im Gras. Es amüsierte ihn, lautlos einherzuschreiten. Und er achtete darauf, nicht gegen die Blätter der Bäume zu stoßen, damit sie nicht raschelten.
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Deshalb hörte er die Stimmen, die sich eindringlich und leise ge gen das sanfte Murmeln des Brunnens abhoben. Polty verstand nicht jedes Wort. Aber er wußte, daß da etwas Interessantes vorging. Er spähte angestrengt durch das Blätterwerk. Einen Augenblick hatte er das merkwürdige Gefühl, als kämen die Stimmen von den beiden Figuren oben auf dem Brunnen, die im blassen Schein des Mondes durch die Blätter schimmerten. Polty erinnerte sich, daß diese Skulptur die Weissagung genannt wurde: der Herr Agonis und seine Lady Imagenta, nackt und händchenhaltend. Sentimentaler Quatsch. Dann sah er die dunkleren Gestalten daneben. Ein Junge und ein Mädchen. Sie standen neben dem Brunnen. Sie umarmten sich. Das Mädchen, soviel sah er auf einen Blick, war keine vornehme Dame. Sie trug Lumpen. »Aber wie kann ich dich wiedersehen? Wann?« »Komm zu mir in den Wildwald ...« »Das kann ich nicht! Sie würden mich nicht...« »Du gehst doch zum Tempel, stimmt's?« »Ich kann mich nicht wegschleichen ...« »Du wirst schon eine Möglichkeit finden. Auf dem Friedhof gibt es einen besonderen Ort, in der Nähe der alten Eibe. Es ist ein Loch in der Mauer, das beinahe völlig von Gestrüpp verdeckt ist. Wie eine Mauer aus Stöcken. Aber du kannst dich hindurchquetschen ...« »Eine Mauer aus Stöcken?« »Ich warte.« Dann küßte das Mädchen den Jungen ein letztes Mal und kletterte rasch und mühelos einen Baumstamm hinauf. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden. War das eine Bauernschlampe, die die Ausgangssperre mißachtete? Sie mußte über die Mauer geklettert sein. Aber wer war der Junge? Erst als sich die Gestalt umdrehte und wegging, erhielt Polty die Antwort auf seine Frage. Und sie erstaunte ihn. Die Krücken machten knirschende Geräusche auf dem Schlacke weg.
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Es knirschte und klapperte. Aber hatte der Junge nicht eben noch gestanden? Höchst merk würdig. Polty unterdrückte einen Pfiff.
26. Umbecca im Dschungel »Kaplan, man hat das Gefühl, als wäre man in einem Dschungel!« Farnblätter streiften Umbeccas Arme, und Efeuranken strichen an ihrem Gesicht vorbei. »Es wird das Glaszimmer genannt, meine Teure ...« »Das Glaszimmer? Wie bemerkenswert.« Das wußte Umbecca. Natürlich wußte sie es. Wie oft hatte sie in diesem grünen Raum gesessen und wie eine Närrin Lektor Wol veron mit Blicken verzehrt? Sie erschauderte. Sie wollte jetzt nicht an Silas denken. »Da sind wir.« Der Kaplan hielt die Ranken beiseite, als wären sie ein Vorhang. Umbecca trat ein wenig zögerlich auf den grünen Tep pich. Sie war anscheinend die erste. Ein Teetisch stand mitten auf dem Teppich, beladen mit Hefegebäck. Um ihn herum standen in ei nem Kreis zierliche, gepolsterte Stühle. Drei Stück. »Meine Teure, setzt Euch doch.« Umbecca errötete ein bißchen, als sie den Kaplan mit einem nervösen Lächeln ansah. »Ihr erwartet anscheinend keine große Gesellschaft, Kaplan, habe ich recht?« »Aber nein, Lady, nein. Der Kommandeur zieht eine gewisse ... Intimität beim Tee vor.« »Ach so. Meine Güte, was für wundervolles Gebäck!« In Umbecca kämpfte die Gier mit einer merkwürdigen Beunruhigung. Sie fragte sich, ob sie die Situation vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Umbecca trug erneut ihr Ballkleid, allerdings etwas
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anders geschnitten und angemessen geändert. Sie hatte gehofft, den Eindruck zu vermitteln, daß sie viele schöne Kleider hatte, und zwar alle im loyalen Königsblau. Ja. Das war ihre Absicht gewesen. Aber sie hatte sich kaum so eine Situation ausgemalt wie die, in der sie sich jetzt wiederfand. Wie sie ihrem Dienstmädchen gesagt hatte, als sie das Kleid geändert hatte: »In der vornehmen Welt, Nirry, gibt es keine schlichte Einladung zum Tee. Du darfst es nicht mit dem vergleichen, wie du deinen Tee nimmst, Nirry Ein kurzes Schlürfen und ein zufriedener Seufzer. Sondern eher so, wie du dir vermutlich den Ball vorgestellt hast ... Ein Tee ist ein Ball, der einfach zu einer früheren Stunde stattfindet. Und alle werden mich anschauen. Nirry Du verstehst mich doch, Mädchen, ja?« Aber das vermaledeite Mädchen hatte nur geknurrt, weil es den Mund voller Nadeln hatte. Die neuen Stoffbahnen in den Seitensäu men boten besondere Schwierigkeiten, und das Dienstmädchen war noch unglücklicher als sonst. Verdammte kleine Göre! Diesmal hatte nicht der Kaplan, sondern Poltiss Veeldrop Umbecca die Einladung überbracht. Sie hatte ihm ein kurzes Lächeln ge schenkt, denn er war mit Sicherheit der bestaussehende Blaurock, der ihr je unter die Augen gekommen war. Aber ihre Scheu verhin derte, daß sie ihm die Fragen stellte, die ihr auf der Zunge brannten. Seit sie den Kommandeur wiedergesehen hatte, wurde Umbecca von einer seltsamen Vorahnung getrieben. Und diese Vorahnung spürte sie auch jetzt, als sie sich in dem Glaszimmer umsah. Ihr Blick schweifte über die irgendwie unheim lich aussehenden Farne, Efeugewächse und Blumen. Es gab große, bunte Blütenkelche und Früchte und wuchernde Dorngewächse mit nadelspitzen Stacheln. Schreckliche Pflanzen, die, soweit sie wußte, aus dem Süden kamen, aus den Gegenden der Agonistischen Erlö sung. Wie entsetzlich, wenn man von solchen monströsen Gewäch sen umgeben war! Umbecca war froh, daß sie eine Ejländerin war. Ihr Blick fiel auf den großen Schreibtisch mit den schweren, säu
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lenartigen Beinen und den kleinen Büchern, die ordentlich aufge reiht in einer Ecke standen. Hinter dem Tisch befand sich ein großer, grüner Ledersessel, dessen Sitzfläche den Pflanzen zugewandt war, als wäre jemand in aller Eile aufgestanden. Wo war der Kommandeur? Umbecca fragte sich unwillkürlich, warum der alte Mann ausge rechnet diesen Ort als seine Kommandozentrale ausgewählt hatte. Hätte Umbecca ein solches Zimmer in ihrem Haus gehabt, hätte sie es sicher auf der Stelle demontiert. Es war ein abstoßender, perverser Ort. Und er entsprach, wie sie fand, genau dem Charakter seines Erbauers. Umbecca ahnte schwach, daß Silas Wolveron in dieser schrecklichen Kammer seine zerrissene Persönlichkeit ausgelebt hatte. Er war eins mit dem Wildwald und doch wieder nicht. Der massive Schreibtisch bildete ein Bollwerk gegen das primitive Grün, und dennoch umgab ihn dieses Grün vollständig. Beharrlich. Be sitzergreifend. Oh, es war ekelhaft! Sicher gab es irgendwelches Viehzeug in diesem Grün. Eklige kleine Käfer. Würmer! Erschau dernd stellte sich Umbecca vor, daß einige von ihnen vielleicht sogar in den Teppich gekrochen sein könnten. Sie hob die Füße hoch. »Tee?« Eay Feval lächelte sie an. Anscheinend wollten sie nicht auf den Kommandeur warten. Die Teekanne war aus wunderbarem Porzellan. Das gemalte Design zeigte Schwanenpaare, Mädchen, verschiedene Kühe und Schafe, eine Windmühle und einen kleinen Bach. Eay Feval goß mit bemerkenswerter Präzision eine zierliche Tasse voll, die dasselbe Motiv zeigte. Das Service war ein wunderschönes Exemplar von »Varby-Landleben«. Umbecca wußte, daß ein solches Set sowohl selten als auch teuer war. Ihre Laune besserte sich ein wenig, und dann wurde ihr schlagartig klar, daß genau dieses Geschirr in einem Roman ihrer Schwester eine Rolle gespielt hatte. Ja, es war in Der Dornige Pfad zur Ehe, in der der Erwerb eines »Varby-Geschirrs« eine nachhaltige Störung in der knospenden Beziehung von Meroline und Oberst Fonnel ausgelöst hatte. Umbecca blickte erneut auf den gewaltigen Schreibtisch und erkannte die Bücher. Es waren nicht irgendwelche Bücher.
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Sondern eine Gesamtausgabe von Ruannas Werken. »Möchtet Ihr Gebäck?« fragte der Kaplan. Umbecca lächelte. Ihr feister Bauch rumpelte zustimmend. Es war schließlich auch ganz erfreulich, hier allein mit dem Kaplan zu sitzen! Die fetteste Sahne der Täler tropfte ihr zwischen den Fingern hindurch. Sie versuchte, amüsant und unverfänglich zu plaudern. »Es muß wunderbar für den Kommandeur sein, wieder mit sei nem Sohn vereint zu sein«, sagte sie. »Allerdings. Der junge Hauptmann Veeldrop ist ein guter Junge und ein großer Trost für seine Lordschaft. Ich wäre nicht überrascht, wenn der junge Hauptmann eines Tages ein genauso großer Mann werden würde wie sein Vater.« »Daran hege ich keinen Zweifel.« Der junge Mann ähnelte dem Kommandeur sehr. Noch etwas Reife, etwas mehr Ernsthaftigkeit, und Poltiss war ein Abziehbild des Kommandeurs in seinen jungen Jahren. Man könnte glauben, er solle eine Erinnerung an die Vergangenheit darstellen. Der gute Poltiss! Umbecca sah nervös auf den abgewandten Stuhl. »Der Kommandeur ist von seinen Pflichten zu sehr beansprucht, habe ich recht?« Eay Feval beantwortete diese Frage nicht. »Noch etwas Tee, Teu erste?« Erst nachdem Umbecca einige Tassen Tee getrunken und dazu die meisten der bemerkenswert köstlichen Gebäckstücke verzehrt hatte, erriet sie endlich den Zweck ihres Besuchs. Allerdings sollte der sie eher noch mehr verwirren. Ihre belanglose Plauderei hatte mehrere Themen gestreift und schien gerade zum nächsten springen zu wollen, als der Kaplan sagte: »Ihr habt, Teuerste, bis jetzt ein bestimmtes Phänomen nicht be merkt. Und zwar etwas, das Euch, wie ich dachte, eigentlich inter essieren sollte.« Umbeccas Blick folgte seiner ausgestreckten Hand, und sie sah, daß der behandschuhte Finger des Kaplans ganz eindeutig auf die vertrauten, vergoldeten Ränder der »Agondon-Ausgabe« deutete.
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Wenn Umbecca bisher nichts zu den Büchern ihrer Schwester gesagt hatte, dann deshalb, weil sie ihr ein unbehagliches Gefühl vermit telten. Es war ihr immer bitter aufgestoßen, an Ruannas Erfolg erinnert zu werden. Außerdem ... warum sollte sie etwas dazu sagen? Es wußte ja niemand, daß sie einen persönlichen Bezug zu den Büchern hatte. »Die Bücher, Kaplan?« »Die ›Agondon-Ausgabe‹«, erwiderte er. »Die letzte Ausgabe der Werke einer gewissen jungen Dame, ist es nicht so? Einer Lady, die mittlerweile, so muß man wohl annehmen, nicht mehr unter uns weilt.« Umbecca nippte an ihrem Tee und tat uninteressiert. »Eine gewisse ›Miss R...‹, stimmt's? Ich habe von ihr gehört, aber das ist schon sehr lange her. Meine Nichte hat ein oder zwei Werke von ihr, glaube ich. Ich habe auch einmal einen Blick hineingeworfen - aber nur ein- oder zweimal. Romane sind doch wirklich Schund, finden Sie nicht? Ich kann nicht behaupten, daß ich ›Miss R...‹ für eine Ausnahme von dieser Regel halte.« Sie lachte gekünstelt und errötete. Sie wußte, daß es ihr nicht gelungen war, ihre Stimme wirklich unbeteiligt klingen zu lassen. Der Kaplan reagierte ebenfalls beiläufig. Er war aufgestanden und hatte scheinbar zufällig einen Band vom Schreibtisch genommen. Er warf einen Blick auf den Titel. »Ehe und Krieg«, sagte er. »Kennt Ihr das?« »Hm ... Ich wüßte nicht, daß ich das schon einmal gesehen habe.« Der Kaplan schlug das Buch wahllos auf und hielt es Umbecca hin. Dann sagte er mit einem ganz uncharakteristischen Räuspern: »Ihr habt nicht zufällig Lust, meine Teuerste, etwas daraus vorzule sen? Die Schrift ist sehr klein, und meine Eitelkeit hindert mich bedauerlicherweise daran, eine Brille zu tragen. Außerdem ist die Stimme einer Frau ...« Sofort war Umbecca wieder beunruhigt. Es schoß ihr durch den Kopf, daß der Kaplan ein Spiel mit ihr spielte und daß er sie auf eine bestimmte Weise quälte, wenngleich sie auch die Gründe nicht verstand. Was wußte er? Und was wollte er? Umbecca war trotz ihres vornehmen Getues eine Frau von primitiven, machtvollen Gefüh
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len. Der Kaplan, das wurde ihr jetzt klar, legte eine Subtilität an den Tag, die sie ängstigte. In einem anderen Leben hätte Umbecca dieses Ansinnen vielleicht verweigert, hätte dem Kaplan das Buch aus der Hand genommen und wütend zu Boden geschleudert. In diesem Leben jedoch schien sie keine andere Wahl zu haben, als seinem Begehren nachzukommen. Sie nahm ihm widerstrebend das Buch aus der Hand. Ihre Hände zitterten. Sie blickte hoch. Über den blassen Himmel drifteten weiße Wol ken wie geisterhafte, riesige Schiffe, als Umbecca anfing zu lesen, wobei sie sich bemühte, unbeteiligt zu klingen. Einundzwanzigster Brief Meine teuerste Freundin: Wie ungeheuerlich! Was sage ich, was soll ich zu, solch besorgniser regenden Nachrichten sagen? Ich bin sprachlos und kann kaum schreiben. Daß solche Drohungen, solche Verwünschungen im Schoß einer respektablen Familie ausgestoßen werden! Schreib mir sofort wieder, meine Liebe, und erzähle mir alles, was geschehen ist, nachdem dein hitzköpfiger Bruder endlich deinen Fast-Vergewaltiger zur Rede gestellt hat. Und daß sie dir immer noch mit einem so anrüchigen Freier drohen! Es ist kaum zu ertragen! Wie oft habe ich an un seren tränenreichen Abschied denken müssen, meine Liebe, als du nach Agondon aufgebrochen bist, und mir gewünscht, dich aus dem Haus deiner verhaßten Eltern zu holen und mit dir in diese Täler zurückzukehren, wo wir in ländlicher Unschuld leben könnten! In was für einer Welt leben wir, in der die Tugendsamste ihres Ge schlechts einem solchen Prozeß ausgesetzt ist? Aber halt! Mama ist an der Tür, und ich muß abbrechen! Umbecca hörte auf zu lesen, weil sie kurz davor war zu schluchzen. Unsicher blickte sie hoch. Ihr Versuch, jegliches Gefühl aus ihrer Stimme herauszuhalten, war kläglich gescheitert. Sie schaute den Kaplan an und bemerkte erst dann, daß sich noch jemand zu ihnen
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gesellt hatte. Er war die ganze Zeit dagewesen, aber sie hatte ihn in dem grünen Stuhl hinter dem Schreibtisch nicht gesehen. Jetzt kam der Kommandeur auf sie zu und stützte sich dabei schmerzgeplagt auf den juwelengeschmückten Stock. Der alte Mann hatte den Schleier zurückgeschlagen und musterte Umbecca mit ei ner leidenschaftlichen Verzückung. Sie rappelte sich hoch, und das zierliche Buch fiel von ihrem Schoß. Sie hätte beinahe aufgeschrien, als der Kommandeur vorsprang und ihre Hand packte. »Meine Teuerste! Meine teure, liebe Lady! Wie gut, daß ihr ge kommen seid! Ihr beehrt uns doch hoffentlich morgen wieder?«
Und er reichte seinem Erstgeborenen einen Kristall schwarz wie die Nacht, der purpurschwarz in einem Licht glühte, das wie die Fin sternis selbst erschien. Ork, Unschl.II, 38/13-14 »Frauen und Männer von Irion, laßt uns über diese höchst merkwürdige Angelegenheit nachdenken. Ein Kristall, so steht geschrieben, der schwarz ist wie die Nacht. Ein Licht, so steht geschrieben, das wie die Finsternis selbst scheint. Ich weiß genau, was einige von euch jetzt denken. Und ob ich das weiß, denn ich habe solche Gedanken schon vorher gehört. Nein, macht euch keine Sorgen, meine Lieben - das habe ich nicht gemeint.« Einige kicherten. »Denkt darüber nach! Über dieses merkwürdige Ding. Diesen dunklen Kristall; das Licht, das wie die Finsternis glüht. Und jetzt sage ich euch: Ich weiß, was ihr denkt. Woher, fragt ihr mich? Ich sage euch, daß ich solche Gedanken schon früher gehört habe. Wo habe ich sie gehört? Wo?« Eay Fevals Stimme war zu einem Wispern herabgesunken. Er
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beugte sich über die Kanzel und stellte erfreut fest, daß die Gläubi gen ihre Köpfe vorreckten, als wollten sie auch nicht die kleinste Silbe verpassen. Er sprach die Worte langsam und deutlich aus, als wäre es eine vertrauliche Mitteilung für jeden Zuhörer, als wäre sie für jeden einzelnen bestimmt. Es war eine bewundernswerte Technik. »Frauen und Männer von Irion, ich muß euch sagen, daß der Ort, an dem ich diese Dinge schon gehört habe, höchst intim und per sönlich ist. Es ist ein Ort, an den jeder nur allein gehen kann, was al lerdings auch in der Natur der Sache liegt. Ich könnte sagen, daß es der intimste Ort ist, den ich kenne.« Jem betrachtete seine faszinierte Tante neben ihm. Ihre Wangen glühten. »Wovon ich rede? Aber meine Freunde, ist das nicht klar? Der Ort, von dem ich spreche, ist mein eigenes Herz!« Der Kaplan lehnte sich zurück, stieß seinen blaugewandeten Arm in die Luft und schrie: »Denn ja, meine Freunde, auch ich habe eine Last zu tragen, die mir aufgebürdet wurde wie einem Vieh, die Last des Zweifels, der auch euch jetzt packt! Bin ich nicht durch die dunkle Kammer meines Herzens gewandert wie durch ein Labyrinth? Das bin ich! Und wie, habe ich mich gefragt, wie konnte es passieren, konnte es sein, konnte es eintreten ... daß die Finsternis ein Licht hervorbringt? Meine Freunde, denken wir an diesen dunklen Kristall! Denn es steht geschrieben, daß der sterbende Gott den dunklen Kri stall seinem erstgeborenen Sohn gegeben hat. Und wer, so fragen wir uns, war sein erstgeborener Sohn?« Der Kaplan ließ seinen Blick über die Gemeinde schweifen. Ja, die Technik funktionierte gut. Sie funktionierte tadellos. »Koros!« dröhnte er. »Koros, der Gott der Vagas!« Jem wurde unruhig. Als er die ersten Male an den Kanonischen Diensten teilnahm, verspürte der Junge noch einen ehrfürchtigen Respekt. Zwar hatte etwas an dem Kaplan ihn gestört, das schon. Vielleicht war es der Unterschied zwischen seinem privaten Benehmen und seinem Verhalten in der Öffentlichkeit. War der Kaplan manchmal nicht ein
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wenig frivol? Führte er sich wirklich wie der Hüter einer heiligen Wahrheit auf? Aber Jem zweifelte nicht daran, daß der Kaplan diese Wahrheit kannte, nur die Art, wie er seine Rolle spielte, war ein bißchen verwirrend. Das war jetzt jedoch nicht mehr alles. Jem war in vielerlei Hinsicht ein einfacher Junge, aber er war kein Narr. Er konnte denken. Und denken heißt zweifeln. Als Eay Feval zum ersten Mal den Namen des Gottes Koros rief, begriff Jem den Sinn seiner Predigten. Den eigentlichen, heimlichen Zweck. Die Dunkelheit, so behauptete der Kaplan, war die Dunkelheit der Vaga-Rasse, die vom Licht des Herrn Agonis verbrannt worden war. Das Licht aus der Finsternis, so behauptete er, war das Böse, das wie ein schwärzendes, negatives Licht von allem ausging, was die Vagas taten und herstellten. In dem Augenblick gewann das nagende Gefühl in Jem, das ihn zutiefst beunruhigt hatte, Klarheit. Und er wußte: Sie wollen, daß wir die Vagas hassen. Sie wollen, daß wir die Vagas hassen, damit wir sie nicht hassen!« Jem dachte an das El-Orokon. Das heilige Buch war schon sehr alt, das wußte er. So alt, daß keiner mehr genau wußte, wann es ge schrieben worden war oder wer es geschrieben hatte. Vielleicht war es ja falsch. Vielleicht auch nicht. Aber Jem wußte eines genau: Es könnte auch speziell für die Blauröcke geschrieben worden sein, um ihr Regime zu rechtfertigen. Jedenfalls benutzten sie es so. Er drehte sich zu seiner Tante um und sah, daß sie Eay Feval ver zückt musterte. Ihr Blick war derselbe, mit dem sie einst Goodman Waxwell bedacht hatte. Nach dem Ball hatte Jem seine Tante eine Zeitlang wirklich gehaßt. Er kochte innerlich und stellte sich vor, wie er ihr alles erzählen würde, was er wußte. Er wollte sie plötzlich mit seinem Wissen konfrontieren. Doch er entschied sich dagegen, und später begriff er, daß er seine Tante gar nicht haßte. Er bedauerte sie. Er wandte den Kopf und musterte die erhobenen Gesichter der
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Offiziersgattinnen, der ehrenwerten Händler, der Bauern im hinteren Teil der Kirche. Eay Feval nannte sie seine Schäfchen, und Jem begriff, daß sie genau das waren. Eine Herde von Schafen. Jem konnte nicht mehr länger stillsitzen. Er richtete sich mit Hilfe seiner Krücken auf und schob sich zum Gang durch. »Jem! Ist dir nicht gut?« flüsterte seine Tante. Jem antwortete nicht. Später würde er ihr sagen, daß ihm tatsächlich übel gewesen war, aber er wollte ihr jetzt nicht verraten, warum. Daher humpelte er so schnell wie möglich aus dem Tempel, während Eay Feval nur unmerklich stockte, bevor er dröhnend verkündete, daß es die überlieferte Pflicht eines jeden Agonisten wäre, das VagaÜbel auszurotten, wo immer sie es fanden. Die Vagas auszurotten! Auf dem Friedhof war die Luft frisch und sauber. Die Wachen am Portal sahen neugierig zu, wie Jem unbeholfen die Tempelstufen hinunterging. Jem wußte, was sie dachten. Der verkrüppelte Junge aus der Burg. Harmlos. Er humpelte langsam den Pfad zwischen den Gräbern entlang. Mittlerweile war alles ordentlich und gepflegt. Eigenartigerweise dachte Jem nicht mehr an den Gottesdienst. Im Tempel hatte die Wut ihn beinahe verzehrt. Doch jetzt war sie fort, verschwunden. Er blickte zum bewölkten Himmel hinauf. Dann musterte er die Grabsteine und das geharkte Gras. Wohin wollte er gehen? Er wollte nur ein wenig zwischen den Gräbern herumwandern, das war alles. Nein, das stimmte nicht. Er drehte sich um. Kein Wachtposten beobachtete ihn. Niemand konnte ihn sehen. Er verließ den Pfad und humpelte in eine Ecke des Friedhofs. Dort war das Gras noch hoch und bog sich im Wind. Vom Tempel wehten der Klang der Orgel und die Stimmen zu ihm herüber, die in den Schlußgesang einstimmten. Bei diesen Geräu schen fühlte sich Jem zwischen den Grabsteinen besonders einsam. »Ich bin allein«, sagte er laut. »Nein, das bist du nicht.«
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Natürlich war sie da. Jem stand vor der Stelle in der abgelegenen
Mauer, zu der sie ihn bestellt hatte.
Der Spalt.
Die Bresche.
Die Mauer aus Stöcken.
Jem starrte in die merkwürdigsten Augen, die er je gesehen hatte.
Natürlich handelte es sich um eine Illusion. Solche Augen gab es nicht. In einem Augenblick waren sie golden, im nächsten schwarz. Eben glühten sie noch wie flache, ovale Scheiben, im nächsten Moment schienen sie unendlich tief zu sein. Wenn sie schwarz waren, so kam es Jem vor, dann konnte er in diesen Tiefen wie in einem bodenlosen Becken versinken. Aber er würde nicht ertrinken. Und nicht sterben. Er würde nur immer tiefer hinabsinken, und ir gendwo in der Finsternis würde er ein Licht finden. Der Waldtiger drehte sich um und verschwand. Es war vorbei. Es war vorbei. Jem lag im tiefsten Wildwald auf einem Bett aus weißen Blüten. Cata lag neben ihm.
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Jems Leben hatte sich geändert. Als er noch jünger gewesen war, hatte er die Burg nur in einem Wagen oder einer Kutsche verlassen - und nur in Begleitung seiner Tante. Er hatte nur den Burgfried erkundet, denn schon die inneren Hofmauern zu überwinden war für ihn ein zu gewaltiges Unterfan gen. Jetzt wurde er kühner. Er stand in seinem vierten Zyklus, und als wäre das ein Zeichen neuer Stärke, dehnte der Junge seine Expeditionen zunächst auf den Weg vor der Burg aus - und dann noch weiter. Und weiter. Bald unternahm Jem in regelmäßigen Abständen lange, einsame Spaziergänge, wenn das Wetter es erlaubte. Sie führten ihn über die Straßen und Wege des Dorfes und darüber hinaus. Manchmal, wenn er sich gefährlich über Pfützen oder Schneematsch schwang oder sich den felsigen, steilen Weg zur Burg hinaufmühte, sprachen ihn Händler mit ihren Karren oder Berittene an und fragten, ob er Hilfe brauchte. Jem war ebenso stolz wie eigensinnig und lehnte immer kopfschüttelnd ab. Er wollte kein Mitleid und brauchte keine Hilfe. Jem hatte keine Angst, durch das Territorium der Blauröcke zu streifen. Im Gegenteil, dort fühlte er sich sicher. Für die Soldaten war der Anblick des »Krüppels«, wie sie ihn nannten, allmählich vertraut. Und einige brachten ihm unausgesprochen eine tiefe Zu neigung entgegen. »Halt!« rief eine ihm unbekannte Wache eines Nachts, als Jem sich über die Zugbrücke schleppte. Es war dunkel, und die Ausgangs sperre war eingeläutet. In dem wolkenverhangenen Mondlicht mochte die Gestalt auf Krücken mit den baumelnden, verdrehten Beinen einen Augenblick den Eindruck von etwas Bösartigem, Gefährlichem hervorgerufen haben. Der Posten hob seine Muskete und fragte nach Jems Begehr.
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»Morvy, mach dich nicht lächerlich!« Eine zweite Gestalt trat aus dem Schatten des Tors. »Es ist nur der arme Krüppel, siehst du das nicht? Er lebt hier.« Ein anderes Mal hörte Jem, wie jemand sagte: »Laß die Mißgeburt in Ruhe. Der Junge ist ein Einfaltspinsel.« Genau das denken alle, überlegte sich Jem. Zunächst störte es ihn, doch nachdem er genauer darüber nachgedacht hatte, hieß er es gut. Es war eine Quelle der Macht. Im Dorf war Jem bereits eine bekannte Gestalt, als es ihm gelang, bis zu der Mauer aus Stöcken vorzudringen. Zwei Monate lang hatte er sich nicht getraut, so weit zu gehen. Doch dann verließ er eines Ta ges den Pfad auf dem Friedhof und schwang sich rasch und leicht sinnig zu dem Spalt in der Mauer. Er ging an der Eibe vorbei. Der Schnee war geschmolzen, und von den Blättern tropfte ihm Tauwasser ins Gesicht. Ob sie da war? Er lehnte sich gegen den festen, hölzernen Wall und atmete tief. Niemand hatte ihn herkommen sehen, davon war er überzeugt. Würde sie kommen? Natürlich kam sie nicht. Es war auch zu albern, ja, absurd. Wie lange war es her, seit sie zusammen gewesen waren? Konnte er erwarten, daß sie ihr Leben da mit verbringen würde, auf ihn zu warten? Jem spürte eine tiefe, innere Qual. Das Mädchen hatte etwas mit ihm gemacht, ihn verän dert. Manchmal haßte er sie geradezu dafür. Was sie an diesem Tag im Wald getan hatten, war ihnen damals perfekt vorgekommen, voll kommen natürlich. Es war wie das Ende von etwas gewesen, eine Kulmination. Der Junge hatte nicht damit gerechnet, daß er sich da nach sehnen würde, es wieder zu tun. In dieser Nacht lag er allein im Alkoven in der Burg und ließ diese Szene immer wieder im Traum an sich vorüberziehen. Immer und immer wieder stellte er sich das Mädchen vor. Er wollte sie. Dann spritzte die Flüssigkeit aus ihm hervor, süßsauer und heiß, und wurde zu klebrigen Flecken auf dem Laken und seinen Händen.
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Gedanken daran kreisten in seinem Kopf, während er an diesem ersten Tag verloren auf sie wartete. Sein Herz schlug sehnsüchtig in seiner Brust, und zwischen seinen Schenkeln brannte wieder das schmerzhafte Verlangen seiner Nächte. Sie war nicht da, aber auch am nächsten und übernächsten Tag ging Jem immer wieder zu der Mauer aus Stöcken. Er schob sich umständlich hindurch und stand zitternd auf der Seite des Wildwaldes. Am vierten Tag war sie endlich da. »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte er. Aber das stimmte nicht. Er hatte nichts gewußt. »Ich habe dich beobachtet.« Ihr Blick war trotzig. »Ich habe dich heimlich beobachtet.« »Du wußtest, daß ich hier war?« Der Junge konnte sie nicht an sehen. Er hatte die Augen niedergeschlagen. Jetzt zitterte er nicht mehr vor Verlangen, sondern vor Kälte. Die Tropfen fielen mit einem leisen Geräusch von den Blättern. Sie hob herausfordernd das Kinn. »Ich wollte sehen, wie sehr du mich begehrst.« Das klang wie eine Kampfansage, und ihre Stimme hatte einen grausamen Unterton. Jem konnte es nicht ertragen. Langsam rutschten seine Krücken unter seinen Armen weg. Während er sich verdrehte und unbeholfen versuchte, sich an den Holzstäben festzuhalten, sank er zu Boden. Er streckte die Hand aus. »Nimm sie. Bitte.« Aber sie tat es nicht. Zitternd lag er auf den Blättern im Schlamm. Er hatte die Augen geschlossen und hörte ihre Schritte. Hatte sie sich umgedreht und ging weg? Laß sie gehen. Ich komme nie wieder hierher. Ich denke nicht mehr an sie! Er würde mit der Zeit ein anderes Objekt finden, um die harten, heißen Ausbrüche seines Körpers zu genießen. Sie lag neben ihm. Sie berührte ihn. Was sie an dem Tag taten, hatte nichts mit Wonne zu tun. Sie küßte
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ihn nicht einmal. Das rauhe, animalische Verlangen stieg in ihm hoch, ungebeten und drängend, und reagierte nur auf das, was sie mit ihren Händen tat. Sie riß seine Hose auf, drückte ihn auf den Rücken, zog ihren Rock hoch und setzte sich rittlings auf ihn. Er drang heftig und schnell in sie ein. Er schrie auf, vor Schmerz, nicht aus Lust. Sie rappelte sich hoch und verschwand zwischen den Bäumen. Er hörte, wie sie keuchend davonlief. Der Junge.zitterte immer noch und schluchzte jetzt auch. Das war zuviel gewesen. Es war zuviel. Aber er kam am nächsten Tag wieder, genau wie sie. Irgend etwas war vorbei. Etwas war entschieden. Von nun an waren Jems Tage nur noch Cata gewidmet. Die war men Tage der Jahreszeit der Viana krochen langsam, zögernd in die Täler zurück, und als das erste süße Leben die Bäume sprießen ließ, machte sich Jem jeden Tag auf in den Wildwald. Manchmal wartete das Mädchen nicht an der Mauer aus Stöcken. Doch wenn sie da war, nahm sie immer seine Hand. Sofort strömte die Energie durch seine schlaffen Glieder. Dann versteckte er seine Krücken unter einem Efeu, der über verrottete, feuchte Äste wucherte, und die beiden lie fen zusammen tiefer in das Grün hinein. Mit verschränkten Händen lachten und sprangen sie herum, tanzten und spielten im dämmrigen Licht des Wildwaldes. Unter irgendeinem Baum liebkosten sie sich, küßten sich, und jeder Baum erschien ihnen wie ein heiliger Ort. Und jeder Baum schien der einzige zu sein. Wie sehr er sie liebte! Manchmal ertappte er sie in einem kurzen, faszinierenden Augen blick. Wie ihre Augen unter den halbgesenkten Lidern blitzten oder wie der Schatten über ihre Wangenknochen fiel, und in diesen Momenten kam es ihm vor, als sehe er ihr ganzes Selbst. Dann sehnte er sich danach, sie ganz und gar zu besitzen, weil er nur so das Licht und den Schatten besitzen konnte. Später erinnerte er sich an den Blick, an die Wangenknochen, und seine Liebe und sein Begehren
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überwältigten ihn aufs neue. Wenn er nicht bei ihr war, waren die Ausbrüche seines Begehrens unermüdlich, wurden von seinen feuchten Händen zu neuen Höhen geführt. Doch jetzt war es anders. Das lag daran, daß sie die seine war und er der ihre und weil er niemals aufhören würde, sie zu begehren. Zusammen betraten sie ein ewiges Reich. Sie liebkosten sich, um armten sich, preßten hungrig und gierig ihre Münder aufeinander. Sie rissen ihre Kleider herunter. Im Kreis des Wissens sanken sie ek statisch auf die blütenübersäte Erde, nackt und der Realität ihres Verlangens ausgeliefert. Sie war willig und wild. Sie lachte ihn aus, spielte mit ihm, zog ihn am Haar, biß und kratzte ihn. Sie rollte sich auf ihn, nagelte ihn auf die Erde. Sie verweigerte ihm die Erfüllung, wenn er vor Verlangen glühte. Sie vergnügte sich allein, mit schnellen Fingern, mit einer kreisenden Handfläche. Wenn er einbezogen werden wollte, stieß sie ihn fort. »Ich hasse dich, ich hasse dich!« schluchzte er manchmal. Doch es war eine wundervolle Qual. Manchmal beendete er sie einfach, nahm seine geschwollene Männlichkeit in die Hand und ließ den heißen Saft auf seinen Bauch spritzen. Dann kroch sie zu ihm und leckte ihn wieder sauber. Wie er es liebte, wenn sie sich ihm vollkommen hingab! Dann ließ sie es zu, daß er sie zu Boden preßte, und spreizte weit ihre schweißnassen Schenkel unter ihm. Dann vollzog er seine Revanche, mit wilden, heftigen Stößen. Nichts war mehr von seiner Ungeschicklichkeit oder seiner jungenhaften Scheu zu spüren. Alles an dere galt nichts mehr; es zählten nur die explosive Kraft seiner Lei denschaft und sein leichtsinniges, stürmisches Verlangen nach Lust. Sie stöhnte unter ihm, war eine Sklavin seiner Begierde. Genauso, wie er ihr Sklave war. Berauscht und entzückt gab sich der Junge ihr hin, ihrer geheimnisvollen dunklen Haut, ihrem schwarzen, duftenden langen Haar. Er liebte ihre glatten, festen Glieder, ihren kleinen Bauch, ihre zar ten Brüste, er liebte die samtig-feuchten Tiefen ihres Innersten. Ihre Berührung und ihr Duft verzehrten seine Sinne. Seine Finger er kundeten jede Kurve, jede Spalte. Ihr Speichel vermischte sich in
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ihren Mündern, und ihre Zungen umspielten sich wie Schlangen. Immer wieder wurde sein Verlangen neu entzündet, klebrig, sehnsüchtig und nach Befriedigung verlangend. Es gab nichts anderes auf der Welt, und es konnte auch nichts anderes geben. Es war, als würde der Fluß der Zeit innehalten. Nichts existierte, nichts war real außer ihrer freudigen Liebe, außer ihrer Lust. Er liebte sie, er wollte nur mit ihr Zusammensein; er wollte diese Dinge tun und in Kaskaden von sprühender weißer Hitze explodieren. Immer und immer wieder. Mit ihr. Für immer und ewig.
29. Vertrauen Umbecca seufzte zufrieden. Sie blickte in den Spiegel. In dem Licht des sonnigen Nachmittags sah sie eine leichte, luftige Gestalt in dem blassesten der blaßblauen Musselinkleider, die man zum Tee tragen konnte. Ihr Kleid hatte ein entzückendes Blumenmuster aufgedruckt, und feine Silberfäden über dem Mieder erzeugten einen schimmernden Effekt, was eine sehr hübsche Wirkung hervorrief. Die Röcke fielen so leicht, so locker, daß man sie fast als durchscheinend bezeichnen konnte. Jedenfalls hatte das der Kaplan gesagt, und sein Urteil hatte sich in diesen Angelegenheiten immer als richtig erwiesen. Und in allen anderen ebenfalls. Zierliche Borten vervollkommneten den Effekt. Geklöppelt aus feinster Varby-Spitze. Genau das richtige für die Jahreszeit des Theron! Umbecca drehte sich vor dem Spiegel. Das Kleid war diesmal kein Werk von Nirry; es war ihr auf Ver anlassung des Kaplans aus Agondon geschickt worden. Es war eines von mehreren großartigen neuen Kostümen, die er Umbecca geschenkt hatte: Ballkleider, Teekleider, Morgenkleider ... Er war so nett. Und so umsichtig. Wie Umbecca diese wundervollen Pakete
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liebte, die er ihr brachte. Wie sie das knisternde Papier liebte, in das sie eingewickelt waren, und den Duft der Kleider, wenn sie sie von der Verpackung befreite. »Oh, Kaplan!« rief Umbecca dann atem los. Und manchmal auch etwas intimer: »Aber Eay!« Jetzt verbrachte sie den größten Teil des Tages damit, sich anzu kleiden. Jemand klopfte an die Tür. Es klang wie »Rat-a-tat«. Das Klopfen war luftig und leicht wie der großartige blaue Himmel draußen vor dem Fenster und die, ja, durchscheinende Gestalt vor dem Spiegel. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. »Mädchen?« sagte Umbecca, als sie sich zum Gehen wandte. Nirry erschien wie aus dem Nichts. »Findest du, daß meine Nase glänzt? Jedenfalls ein bißchen?« »Vielleicht ein winziges bißchen, Madam.« Nirry trug mit der Quaste Puder auf und, auf Geheiß, auch etwas mehr Rouge. Umbecca war keine eitle Frau und folglich nicht in der Kunst der Kosmetik bewandert. Wie sie dem Kaplan gegenüber erwähnte, als der sie bewunderte, verachtete sie nichts mehr als eine angemalte Frau. Allein der bloße Anblick dieser aufgetakelten alten Metze vom Trägen Tiger, fügte sie liebenswürdig hinzu, reiche, um jeder rechtschaffenen Frau einen Schauer über den Rücken zu jagen. Der Kaplan hatte übertrieben zugestimmt. Aber auch eine tugend hafte Frau, so fügte er hinzu, bleibe eine Frau, und welche Frau wolle schon auf die Vergnügen verzichten, die, so sei ja die einhellige Meinung in der mondänen Welt, das Vorrecht ihres Geschlechts wären? Da mußte Umbecca lächeln und stimmte ihm sofort zu. Denn ihr war klar, daß der Kaplan nicht von der Welt im allgemeinen gespro chen hatte, als er »mondäne Welt« sagte, mit all ihren ordinären Ungeheuerlichkeiten, sondern von den höchsten und exklusivsten Zir keln in Agondon. Er sprach vom Hof selbst. Umbecca warf sich im Spiegel einen letzten bewundernden Blick zu. Wie gut sie aussah! Es war nicht die Figur, so sagte sie sich, einer reiferen Frau, dieses Wort konnte einen völlig falschen Eindruck erwecken. Sondern die Figur einer Frau in der Blüte ihrer Jahre.
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Auch das hatte der Kaplan gesagt. Umbecca segelte, durchscheinend natürlich, auf die Tür zu, wo ein gutaussehender Wachposten der Blauröcke respektvoll auf sie wartete. Konnte es sein, überlegte sie entzückt, daß das »Rat-a-tat« seiner Hand an der Tür in diesem Moment von dem »Rat-a-tat« sei nes Herzens widergespiegelt wurde? Sie lachte kurz, nur ein bißchen, als er ihr in die Kutsche half, und setzte dieses rätselhafte Lächeln auf, das sie seit einiger Zeit vor dem Spiegel geübt hatte. Wie sehr sich Umbeccas Leben verändert hatte! Manchmal rechnete sie es von dem Tag an, an dem die Blauröcke einmarschiert waren. Manchmal von dem Ball und manchmal von dem ersten Tee, den sie im Glaszimmer getrunken hatte. Sie wußte nur, daß sie glücklich war. Und diese Glückseligkeit wuchs mit jedem Tag, der verstrich. Eine Kutsche stand zu ihrer persönlichen Verfügung bereit, und an jedem Nachmittag wurde sie zur Sakristei gebracht, um mit dem Kommandeur Tee zu trinken. Und mit dem Kaplan. Zuerst war Umbecca über einen gewissen Aspekt des Nachmit tags etwas enttäuscht gewesen. Selbst jetzt mußte sie einräumen, daß sie bei den Gelegenheiten ein winziges bißchen glücklicher war, bei denen der Kommandeur verhindert war, sei es wegen seiner Pflichten oder durch seine Gicht. Dann konnte sie mit dem Kaplan ungehindert über die neuesten Stoffmuster sprechen oder über die Tiralos-Teppiche bei Lady T... oder über den bemerkenswerten Maskenball, für den Lady S... den gesamten Ollon-Lustgarten ge mietet hatte. »Ganz Agondon spricht immer noch davon«, sagte der Kaplan. Wegen all dem fand Umbecca es nicht mehr qualvoll, aus den Romanen von Ruanna vorzulesen. Nach dem ersten Tag hatte der Ka plan ihr nahegelegt, daß sie am Anfang der »Agondon-Ausgabe« beginnen und »Miss R...« von vorn bis hinten vorlesen sollte. Also hatte sie mit Beccas Erster Ball angefangen. Sie brauchte für diesen Roman einen Monat, im Verlauf dessen sie jeden Nachmittag beim Tee laut daraus vorlas. Am Ende mußte Umbecca über die Erfahrungen ihrer Namensvetterin regelmäßig lachen oder schluchzen. Tag für Tag nahm es die wunderschöne junge Becca mit den Fähr-
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nissen der mondänen Welt auf, drohte unterzugehen, aber lief schließlich doch in den Armen von Lord Elgrove in einen sicheren Hafen ein. Ganz allmählich, Stück für Stück, spürte Umbecca, daß etwas in ihrem Herzen zersprungen war. Vielleicht mußte sie einräumen, daß Ruanna sie trotz allem niemals verachtet hatte. Ruanna war immer freundlich gewesen. Möglicherweise begriff sie auch, wenn auch nur vage, daß allein der Titel von Ruannas erstem Roman ein Geschenk, eine Liebesgabe an ihre einfachere Schwester war. Warum sonst hätte »Becca« all das verkörpert, was Umbecca gern geworden wäre? Auf den Seiten dieses Werks der Fiktion hatte Ruanna alle Enttäuschungen im Leben ihrer Schwester umgekehrt. War nicht die fiktive Becca tatsächlich in vielerlei Hinsicht wie die reale Umbecca? Beide Frauen waren leidenschaftlich in ihrem Glauben. Und beide waren unendlich vornehm. Umbecca las lebhafter, als Beccas Stimme allmählich zu ihrer eigenen wurde. »Sie ist Euch so ähnlich«, sagte der Kommandeur eines Tages, als er unerwartet nach Umbeccas Hand griff. Sie hatte gerade eine bewegende Passage beendet, in der Lord Elgrove Becca sein Herz geöffnet hatte. Die Ärmste war vollkommen von ihren Gefühlen überwältigt. Sie hatte gedacht, er würde all die Verleumdungen glauben, die man über sie ergoß. Und jetzt begriff sie, daß er ein weit vornehmerer Mann war, als sie geahnt hatte. Ein feinerer Mann und dazu ein Mann, der sie liebte. Diese Passage hatte vor einer Generation ganz Ejland in Tränen schwimmen lassen. Und jetzt standen Umbecca Tränen in den Au gen, genauso wie dem Kommandeur. Als er den greisen Kopf neigte, um ihre Hand zu küssen, blickte Umbecca über ihn hinweg auf den lächelnden Kaplan. Sie tauschten bedeutsame, sehnsüchtige Blicke aus. Was für eine pikante Szene, dachte Umbecca. Wie charmant, daß zwei tugendsame junge Menschen, vereint in der Liebe zum Herren Agonis, einem durch sein Alter angeschlagenen Edelmann eine so einfache Freude machen können. Es war tatsächlich fast wie die Werbung von Meroline und Oberst Fonnel in Der dornige Pfad zur Ehe ... Traurig dachte Umbecca daran, daß sie dem Kommandeur damals, als er noch ein strahlender Held gewesen war, nur zu gern ihre
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Hand gereicht hätte. Aber dann verpuffte ihre Trauer, und sie dachte nicht mehr an die Vergangenheit, sondern an die Zukunft. War nicht jeder der Helden ihrer Schwester gezwungen gewesen, eine frühere Verbindung aufzugeben, bevor sie endlich ihr Glück gefunden hat ten? War nicht die süße Traurigkeit des Verzichts immer das Vorspiel für die letztliche Erfüllung? Umbecca hatte den Kommandeur geliebt, das stimmte. Aber jetzt war ihr Herz anderweitig vergeben. Auch eine tugendhafte Frau ist eine Frau, hatte der Kaplan gesagt. Und auch ein Geweihter, so dachte Umbecca, bleibt dennoch ein Mann. Manchmal war ihr der flüchtige Gedanke gekommen, wirklich nur ein Gedankenblitz, wie schade es war, daß sich ein solcher Mann wie der Kaplan dem Zöli bat weihen mußte. Und das mußte er zweifellos. Dann dachte sie darüber nach, daß geweihte Männer immer schon Dispens bekom men hatten. In den höchsten Kreisen von Agondon war das sicher sehr verbreitet, so glaubte sie, und der Kaplan verkehrte bestimmt in den allerhöchsten Kreisen. Liebevoll sah sie dem Kaplan in die Augen. »Es liegt wohl an den Abgaben?« Das Mädchen schwieg verdrossen. »Du hast nicht viel zu erzählen, was, Liebchen? Na, macht nichts, Dein Gesicht ist hübsch genug. Du gehörst nicht zu der nuttigen Sorte, wenn ich das so sagen darf. Wahrscheinlich ist's dieser ver fluchte Zehnte. Bei meinem Beruf lernt man eine Menge Abgaben mädchen kennen. Ich sage immer: Es gibt die Abgabenmädchen, und es gibt Nutten. Und ich glaube, daß ein Gentleman ein Abga benmädchen mehr respektiert, meinst du nicht? Immerhin kann keiner von uns die Abgaben bezahlen. All das Geld, das ich verdiene, und trotzdem kann ich den Zehnten nicht zahlen! Ich will dir nur sagen, daß ich mal eine verheiratete, ehrbare Frau gewesen bin. Aber mein armer Ebby war leider kein ehrbarer Ehemann.« Während sie sprach, faßte sie dem Mädchen unter das Kinn und drehte das junge Gesicht in dem flackernden Licht der Lampe hin und her. Ein hübsches Mädchen. Aber...
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Und mit dem Kleid mußte auch irgendwas geschehen. Musik und Gelächter drangen aus dem Schankraum, als Goody Throsh ihre Musterung fortsetzte. »Komm her, Liebchen«, sagte sie freundlich und nahm das Mädchen an die Hand. »Gucken wir mal nach, was Mutter so in ihrem Zauberkasten hat, hm?« »Z ... Zauber?« Das Mädchen warf ihr einen beunruhigten Blick zu, als sie vor der Kiste am Fußende des Bettes der alten Frau stand. Sie riß sich los und trat einen Schritt zurück. Goody Throsh drehte sich um. Ihr altes Gesicht legte sich in Falten, und dann lachte sie plötzlich. »Aber Liebchen, du bist wirklich eine Anfängerin, was? Da hast du mich wirklich einen Moment drangekriegt. Trotzdem, ein Gentleman mag ein bißchen Unschuld ganz gern. Sie haben es gern, wenn sie sich wie die ersten fühlen. Selbst wenn ... Na ja, sei's drum. Hier gibt es keine Magie! Sieh doch, Täubchen, es ist nur meine alte Frisierkommode.« Die alte Frau öffnete die Kiste. Das Mädchen warf einen Blick hinein, verzog erstaunt das Gesicht und stieß verblüfft die Luft aus. Sie beugte sich vor und griff mit beiden Händen in das Meer aus schillernden Stoffen. Sie drehte sich zu der lächelnden alten Frau um und flüsterte: »Seid Ihr eine Vaga?« »Eine Vaga!« stieß die alte Frau hervor. »Na, und das sagst ausge rechnet du mir?« Doch dann fügte sie ein wenig freundlicher hinzu: »Was ich bin, dafür gibt es keine Worte, Liebchen. Genausowenig wie für das, was du bist. Hm?« Sie griff in die Kiste und zog ein langes, raschelndes Stück roten Stoffs heraus. »Ach ja. Einfach ein Trick. Wollen wir aus dem grünen Gänschen eine Rote machen? Und jetzt zieh mal den alten Fetzen aus, ja?« Das Mädchen gehorchte schweigend und zog zuerst das leuchtendrote Kleid an, dann die weißen Strümpfe und die Lederschuhe, die rot angemalt waren wie das Kleid und die die alte Frau von ganz unten aus der Kiste geholt hatte. Als das Mädchen angezogen war, musterte Goody Throsh sie unsicher. »Irgendwas stimmt noch nicht ganz.« Sie trat vor und ließ das dunkle Haar des Mädchens durch ihre Finger gleiten. »Du würdest
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eine Menge Geld dafür bekommen, weißt du das ? Es gibt welche, die einen sehr hohen Preis bezahlen.« Das Mädchen trat zurück und blickte sie scharf an. Meine Güte! Goody Throsh holte tief Luft und lächelte freund lich. »Nein, nein, Liebchen! Mach dir keine Sorgen. Ich wollte dich nur auf deine Schätze hinweisen, das ist alles. Und du hast auch hübsche Beißerchen, wenn ich das so sagen darf. Wie kleine Perlen. Aber komm, wir geben dir den letzten Schliff.« Goody Throsh tauchte wieder mit den Händen in das glänzende Meer und verschwand beinahe ganz darin, bis sie schließlich mit et was auftauchte, das wie das Fell eines schäbigen, gelben Tieres aus sah. Das Mädchen riß die Augen auf, doch bevor es protestieren konnte, hatte die alte Frau das lange Haar des Mädchens hochgesteckt und ihr die Perücke übergezogen. Dann schob sie das Mädchen vor den Spiegel. Während sie staunend die Veränderung betrachtete, die mit ihr vorgegangen war, beugte sich die alte Frau zu ihr. »Das ist deine Magie, hm, Liebchen?« flüsterte sie. »Was grün ist, machen wir rot. Was dunkel ist, machen wir hell. Übrigens, wie heißt du? Ach, ich glaube, wir nen nen dich ... hm ... Dolly. Ja, Dolly! Ein entzückender Name!« Es war vorbei. Es war entschieden. Aber dann erinnerte sich die alte Frau an etwas anderes. Wie hatte sie das nur vergessen können! »Die wirst du natürlich auch brauchen, Täubchen.« Zögernd nahm das Mädchen die grünen Strapse entgegen. Aron Throsh fühlte sich elend. Nichts war mehr so wie früher, seit der Kaplan Polty abgeholt hatte. Und jetzt hatte sich Polty voll kommen verändert, genauso wie der Träge Tiger. An einem Abend stellte er seine Mutter zur Rede. Sie saß vor ihrem Spiegel und richtete ihre Perücke. Vor dem Spiegel standen Töpfe mit Puder und Farbtiegel, Kämme, Bürsten und Lappen und zerdrückte, farblose Puderquasten. Die alte Frau hockte in einer Wolke weißen Puders und drückte sich vorsichtig einen schwarzen Fleck auf die Wange.
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Immerhin, das Geschäft blühte. »Du siehst aus, als hättest du die Pest.« »Das ist ein Schönheitsfleck, Aron. Alle vornehmen Damen tragen so was. Aber du hast keine Ahnung davon, was vornehm ist. Und auch nicht von Damen.« »Ich weiß genau, was du tust, Ma.« »Aron, hast du dieses Faß mit Bier hereingeholt?« »Ja, und auch noch drei andere.« Aron spielte mit einer Haarbür ste seiner Mutter. Haarsträhnen von verschiedenen Perücken hingen darin. Es war menschliches Haar, rotes, braunes, schwarzes und blondes. Heute trug sie blond. Sie gab ihm einen spielerischen Klaps. »Aron, laß meine Sachen in Ruhe.« »Ich möchte, daß es aufhört, Mutter.« »Hm? Daß was aufhört, Aron?« Die alte Frau stand von ihrem Frisiertisch auf, und Aron packte sie am Arm. »Ma, ich weiß genau, was du tust.« »Was ich tue? Ich sorge seit vier ganzen Zyklen dafür, daß du ein Dach über deinem wertlosen Schädel hast, das tue ich, Aron Throsh. Und jetzt geh mir aus dem Weg. Wir machen jede Minute auf. Ich weiß, was du für ein Problem hast, mein Junge.« »Was?« »Du bist beleidigt, das ist dein Problem.« »Beleidigt? Wie meinst du das?« »Komm schon, Aron. Weil du hier nicht mehr die Nummer eins bist. Das ist es doch, oder? Sieh mich bloß nicht so an! Für deinen Vater war der kleine Aron die Nummer eins, sobald er laufen konnte. Stimmt das etwa nicht?« Aron hatte keine Ahnung, was seine Mutter meinte. Seit er laufen konnte, war er, soweit er sich erinnern konnte, immer nur Mädchen für alles gewesen, ein unbezahlter Handlanger im Trägen Tiger. Aber jetzt war es noch viel schlimmer. »Nun, Aron, die Zeiten ändern sich«, sagte seine Mutter. »Wenn ich eines in meinem langen Leben gelernt habe, dann das. Du bist ein komischer Junge, Aron. Ich habe immer gedacht, daß irgendwas an dir merkwürdig ist, und jetzt weiß ich auch, was. Ich dachte, du
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wärst froh, daß die Geschäfte gut laufen. Ich dachte, du wärst froh, daß wir erweitern.« »Erweitern? Du hast aus diesem Laden ein Bordell gemacht!« Goody Throsh drehte sich um und gab ihrem Sohn eine Ohrfeige. »So redest du nicht mit mir, Aron Throsh! Ich beschäftige nur ein paar nette Mädchen hinter der Bar. Ich sorge dafür, daß meine Kun den zufrieden sind! Was sollen die Soldaten deiner Meinung nach tun? Dich anglotzen? Du bist eine dürre Bohnenstange, Aron, und falls du es noch nicht bemerkt hast, was durchaus wahrscheinlich ist, du solltest eigentlich ein Junge sein!« Plötzlich schlug Aron nach seiner Mutter. »Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Er verdrehte ihr die Arme und zwang sie vor den Spie gel. Dort fegte er den Puder vom Glas, der wie feiner Staub die Umrisse des Spiegelbilds seiner Mutter verwischte. »Sieh dich an! Deine runzligen Wangen bemalt wie die einer Puppe und dieses ... alberne Ding!« Er zog seiner Mutter die Perücke vom Kopf und enthüllte die dünnen weißen Haarsträhnen. Dann fiel er auf das Bett seiner Mutter und schluchzte. »Du bist nur eine alte Hure, und das hier ist ein Hurenhaus!« Jemand klopfte an die Hintertür. Goody Throsh ignorierte ihren schluchzenden Sohn. Mit ruhiger Würde setzte sie ihre hinreißende neue Perücke auf und trat an den Vorhang des Fensters. Verstohlen blickte sie hinaus und stürmte dann mit einem erfreuten Schrei aus dem Zimmer. Aron hörte, wie sie die Treppe hinunterpolterte und den Riegel zurückschob. Dann hörte er fröhliche Stimmen. »Meister Polty! Ihr seid ein wenig früh heute abend, also wirk lich!« Das schmatzende Geräusch eines Kusses. »Ich kann eben nicht allzulange fernbleiben, Wynda, stimmt's? Nicht von einem hüb schen, kleinen Mädchen wie dir.« »Ach, welche Galanterie. Ihr schelmischer Betrüger. Kommt herein, Meister Polty Ich binge Euch ein kleines Etwas.« »Etwas, Wynda? Und was kann das wohl sein?« »Du frecher Bursche! Also wirklich, Meister Polty Ich habe heute abend etwas ganz Besonderes für Euch. Ein kleines Etwas in Grün. Oder vielleicht meine ich Rot. Oder vielleicht sogar Gelb.«
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»Ich weiß nicht, was du meinst, Wynda.« Sie lachte. »Das glaube ich wohl, Meister Polty. Und ob ich das glaube! Oh, tretet zurück und laßt Euch anschauen. Ich muß schon sagen: Ich wußte immer, daß Euch Großes bestimmt war.« Am nächsten Morgen stand Aron Throsh vor Sergeant Bunch. Der Sergeant musterte ihn von Kopf bis Fuß und betastete die Muskeln an seinem dürren Arm. »Du bist eine ziemliche Bohnenstange, Kerl. Aber wir werden dich schon aufpäppeln. Na gut, gehen wir los und besorgen dir eine Uniform.«
»Shh!« Das Tier glitt lautlos aus dem Unterholz. Seine straffen Muskeln bewegten sich unter dem gestreiften Fell. Ein Lichtstrahl fing sich in seinen Augen, die daraufhin geheimnisvoll wie goldene Scheiben aufblitzten. In dem goldenen Blitz schien sich ein besonderes, geheimes Wissen zu verbergen. Jem betrachtete die Kreatur fasziniert. »Waldtiger?« flüsterte er. »Das ist er.« Cata war vorsichtig auf die Knie gesunken und hielt ihre Hand fest mit Jems verschränkt, während auch er, sehr langsam, in die Knie ging. »Shh, shh.« Cata schloß die Augen. Sie streckte die Finger aus, und Jem, der immer noch mit ihr verbunden war, fühlte das Bedürfnis, dasselbe zu tun. In dem gedämpften grünen Licht des Wildwaldes kauerten sie ehrfürchtig vor dem wilden Tier und boten sich ei ner fremdartigen Gemeinschaft dar. Sie waren nackt, und ihre Körper schmerzten noch vom Liebes spiel, doch diese neue Verbindung schien nur eine Erweiterung ih
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rer Liebe zu sein. Jem wurde eine Kreatur des Wildwaldes. Unmerklich, während ihre gemeinsamen Tage verstrichen, hatte Cata ihn die Geheimnisse der Bäume, der Vögel und der anderen Tiere ge lehrt. Durch die Berührung ihrer Hand, den sanften Druck ihrer Lippen, in dem Auf und Ab ihrer wilden Ekstasen empfand der Junge, daß alle aus dem Wald zusahen. Sie waren der Wildwald. Er durchstömte sie, erfüllte sie. Und sie versanken, fröhlich untergehend, in seiner grünen Intensität. »Waldtiger, sprich«, flüsterte Cata. Aber der Tiger sprach nicht. Jem hielt die Hand des Mädchens fest umklammert. Er spürte, daß sie nichts anderes sah als die purpurne Schwärze, die hinter ihren geschlossenen Lidern glühte. »Komm zu mir«, sagte sie. Auch das tat der Tiger nicht, aber sie merkten, daß er eine Weile zögerte und die knienden Kinder mit seinen eindringlichen, fremdartigen Augen scharf beobachtete. Dann war er fort. Jem verspürte eine langsame, traurige Berührung von Wissen. Doch damals begriff er nicht, warum das so war, und vergaß es auch sofort wieder, als Begehren erneut in ihm aufflammte. Später jedoch fragte er sich, ob die Kreatur nicht doch gesprochen hatte, sogar zu ihm gesprochen hatte. Vielleicht lag schon allein in ihrem Sein eine traurige Weisheit. Sie hatten gedacht, der Waldtiger habe nichts zu sagen. Aber vielleicht lag in diesen mal golden, mal dunkel schim mernden Augen, in der Dunkelheit und dem Glanz seiner Streifen genug Wissen für die, die zu lernen verstanden. Mit der Sonne drang auch die Hitze durch das Blätterdach. Die sprossende Jahreszeit der Viana hatte sich bereits in die glühende Zeit des Theron verwandelt, die zu hell strahlte und zu bald endete. Vielleicht wußte Jem da schon, daß das Idyll im Wildwald, genau wie die Jahreszeiten, nicht ewig andauern konnte. Als sie sich an diesem Tag an der Mauer aus Stöcken verabschiedeten, löste sich Jem zögernd von Catas Lippen. »Laß mich bei dir bleiben!« platzte es aus ihm heraus. Der Gedanke war ihm nie zuvor gekommen. Jetzt jedoch überfiel
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es ihn plötzlich mit einer schmerzhaften Intensität. Warum sollte er zurückkehren? Er war eins mit dem Wald, mit den Fischen im Fluß, mit dem schlanken Otter und der Damasteule. Doch das war er nicht. Sie stieß ihn von sich. Er hielt sich an den Stöcken fest, weil er nicht stehen konnte. Sie wandte sich von ihm ab. »Du kannst nicht stehen.« »Cata, warum?« Er hatte nach seinen Krücken gegriffen. Er haßte sie, weil sie die Bürde seines nutzlosen Körpers trugen. Er spähte durch den Spalt in der Mauer. Das Licht auf dem Friedhof war ein weißblaues Schimmern. »Da draußen bin ich ein Krüppel«, sagte er ruhig. »Hier kann ich gehen. Sogar rennen.« »Aber nur, wenn ich deine Hand halte. Ich kann aber nicht immer deine Hand halten. Oder?« Ihre Stimme klang nicht grausam, sondern sachlich. Der Junge verzog enttäuscht das Gesicht. Dann strömten ihm die Tränen über die Wangen, ohne daß er es merkte. Cata hatte sich ent schlossen von ihm abgewandt. Erst als er durch das Loch in der Mauer verschwunden war, sich so mühsam, wie sie es noch nie zu vor gesehen hatte, hindurchgeschleppt hatte, ließ das Mädchen ihren eigenen Tränen freien Lauf. Sie stürmte hastig in den schüt zenden Wald. Schluchzend rannte sie zurück zur Höhle. Warum hatte sie das gesagt? Sie konnte es nicht erklären. Aber ihr Instinkt, der ihr sagte, daß Jem gehen mußte, war stärker als die Sehnsucht, die ihn bleiben hieß. »Papa!« Sie versteckte ihr Gesicht in der Kleidung des alten Mannes. Sie hatte ihm nichts von ihren Treffen mit dem Jungen erzählt. Wie sie ihm auch von vielen anderen Dingen nichts erzählt hatte. Weil es nicht nötig war. Der alte Mann wußte es, natürlich wußte er es. Er legte seine rauhe, zittrige Hand auf den Kopf seiner Tochter und streichelte ihr tröstend über das Haar. »Die Ordnung der Dinge muß sich selbst finden, Kind. Wir alle sind Teil der Ordnung der Dinge.«
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Jem machte derweil auf dem Friedhof seine eigene Erfahrung. Es war ein glühend heißer Tag. Im Schatten der Eibe in der entle genen Ecke saßen einige Blauröcke auf einem Grabstein, tranken Bier aus einem Krug und spielten Karten. Sie hatten ihre Hüte und Jacken abgelegt; ab und zu lachten sie dröhnend. Was sie taten, war verboten. Sowohl das Spielen als auch die Ver unglimpfung des Friedhofs, aber die Hitze weichte sogar die stren gen Sitten auf. Mit stillschweigender Duldung der Wachen und einer gewissen kühnen Verachtung, die diese kleine Gruppe aus strahlte, wurde das Verbot einfach übergangen. Außerdem handelte es sich um Offiziere. »Heh!« Sie sahen Jem. »Was macht der denn da?« »Er sieht aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen, wenn du mich fragst.« »Wahrscheinlich hat er sich einen runtergeholt. Der dreckige kleine Bettler!« »Das mußt du gerade sagen!« »Heh, du Mißgeburt!« Einer winkte mit dem Finger. Jem tat, als verstehe er nicht. Ein rotgesichtiger Offizier kam schwankend auf ihn zu. Er war Hauptmann und offenbar der Anführer der kleinen Gruppe - und die Quelle der Verachtung, die wie ranziger Gestank von ihnen auf stieg. Er mochte gutaussehend sein, aber die Trunkenheit machte ihn häßlich. Sein rotes Haar hing ihm in lockigen Strähnen bis ins Gesicht. »Heh, Sabbergesicht, willst du mir auch einen runterholen?« Der Hauptmann sah ihn boshaft an und machte eine obszöne Geste mit der Hand. Hinter ihm lachten grölend seine Kumpane und fielen fast um. Jem versuchte schnell an ihm vorbeizuhumpeln und schwang seine Beine von den Grabsteinen auf den Schlackepfad. Eine Krücke rutschte weg, und er fiel hin. Die Männer applaudierten. Und johlten.
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Jem atmete tief, während er auf dem Boden lag. Er hatte sich an einem moosigen Stein den Kopf gestoßen, und ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn. »Krüppelchen?« Jem blickte hoch. Schwankend bückte sich der betrunkene Hauptmann über ihn, und in diesem Augenblick schien er etwas zu registrieren. Etwas flackerte hinter der einfachen, grausamen Neugier in seinem Gesicht. Und Jem erkannte ihn ebenfalls. Das Antlitz von Hauptmann Veeldrop füllte seinen Gesichtskreis. Obwohl Hauptmann Veeldrop heute schlank und muskulös war, sah Jem ihn wie damals, wie er als Polty gewesen war. Der Bauch, der über den Bund der Hose hing, die teigige Masse des Kopfes mit dem roten, kurzgeschnittenen Haar. Es war so, als hätte Polty sich selbst verkleidet. Und was Jem in diesem kurzen Moment sah, war die Wahrheit hinter der Verklei dung. Die Häßlichkeit. Jem hielt das nicht für unmöglich. Er nahm nur die Verachtung wahr, die ihn wie ein Ekelgefühl erfüllte, und war kurz davor, sich zu übergeben. Doch als er sprach, klang seine Stimme ruhig und kontrolliert und galt nur dem alten Polty »Halt den Mund, du fettes Schwein. Halt einfach dein fettes Maul.« Das Gesicht lief dunkelrot an. Schweigen. »Polty?« fragte jemand. Langsam richtete sich der rothaarige Offizier auf und sagte über die Schulter zu seinen Gefährten: »Ich glaube, daß dieses Bier mir wirklich furchtbar auf die Blase drückt. Versteht ihr, was ich meine, Jungs?« Er fummelte an seinem Hosenschlitz herum. »Polty, hör auf.« Ein schlaksiger Leutnant stand plötzlich neben ihm und zog ihn am Arm. »Das ist nicht komisch.« »Du hast doch auch gelacht!« »Jetzt ist es aber nicht mehr komisch.« Jems Gesicht war rot angelaufen und glühte, aber er hielt den Mund fest geschlossen, während der dünne Leutnant ihm ungeschickt aufhalf. »So. Alles in Ordnung?« Jem war von dem Vorfall erschüttert. Bis jetzt waren die Soldaten
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immer gut zu ihm gewesen. Wenn er auch ihre blauen Röcke ver achtete, hatte er doch nie die Männer verachtet, die sie trugen. Doch dies hier war anders. Als Jem weiterging, hörte er Polty trunken schwadronieren: »Du bist mir wirklich ein Hosenscheißer, Bohne. Wenn ich dran denke, daß ich dir dein Offizierspatent verschafft habe! Du warst immer schon so eine schissige, schwache Memme!« Auf dem Grabstein, unter dem Catas Mutter ruhte, lagen Karten, die Zauberer, Bettler und Reiter zeigten. Daneben glitzerten Münzen und standen Bierkrüge. Die Soldaten spielten ein Spiel, das man Orokon-Tarot nannte. Sie spielten es nur um Geld, weil sie seine Bedeutung nicht kannten. Hätten sie das getan, hätten sie sich viel leicht anders verhalten. Das Orokon-Tarot stellte die unerbittlichen geheimen Ketten dar, durch die die Zeit uns alle mit unserem jewei ligen Schicksal konfrontiert. Es beruht auf der Seltsamkeit der Wahl, des freien Willens, der offenbar in jedem Moment existiert und doch in der Rückschau niemals existiert zu haben scheint. Es gibt eine Phase im Leben eines jeden jungen Menschen, in dem das Schicksal sich zu zeigen beginnt. Gewisse Ereignisse sind Vor spiele, Lichtungen auf dem Weg. Die Begegnung mit Polty an diesem Tag war die erste von dreien, die Jem erleben würde, bevor ihm seine Bestimmung endlich enthüllt werden sollte.
In dieser Nacht war Jems Lust nicht sehr stark. Er atmete schwer und lag bewegungslos in seinem Alkoven, während eine einzelne Kerze langsam herunterbrannte. Es war heiß, und das Fenster stand offen. Kein Lüftchen bewegte die Kerzenflamme. Der Junge dachte angestrengt über das nach, was Cata gesagt hatte. Die Trauer drückte ihm schwer aufs Gemüt. Er hatte gedacht, daß die Worte, die er dem Mädchen gesagt hatte, ein Ende bedeuteten. Jetzt begriff
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er, daß sie kein Ende waren, sondern einen Anfang einläuteten. So bald, hatte er gedacht, so früh habe ich den Platz gefunden, an dem ich sein will. Aber er konnte nicht dort bleiben. Unausweichlich, wie das Ende der glühendheißen Jahreszeit, würde auch seine Ver treibung aus der Glückseligkeit des Wildwaldes kommen. Jetzt be griff er es. Laß mich bleiben. Was war er für ein Narr gewesen! Jem betrachtete die Dinge im Alkoven, die alten Bücher, die mo dernde Kleidung, den Schild der Rotröcke, den er zur Wand gedreht hatte. Die Jarvel-Dose glänzte matt in der Nische über dem Kamin. Sie war leer. Sie war immer leer gewesen, und Jem schoß der Gedanke durch den Kopf, daß das vielleicht ganz passend war. Traurig dachte er darüber nach, daß diese Dinge im Alkoven, die er aus den alten, zerstörten Räumen geborgen hatte, alles waren, was von der alten Burg übriggeblieben war. Aus der Zeit vor der An kunft der Blauröcke. Er wurde noch trauriger. Er hatte zwischen diesen Dingen gelebt, und sie waren aus den Trümmern gerettet worden, in denen sie so lange vergessen geruht hatten. Und während er verzaubert auf einer Welle des Verlangens geschwommen war, hatten all diese Dinge ihren Wert für ihn verloren. Er schüttelte sich angewidert. Er dachte an seine Kindheit, die Abende im Alkoven, wenn er beim Klang der Drehorgel in den Schlaf geglitten war. Er dachte an den armen Barnabas. Was war aus ihm geworden? Jem sah das Bild der Fahlen Landstraße. Es war immer noch da, aber er hatte einfach nicht mehr darauf geachtet. Aber Jem konnte nicht mehr dorthin zurück, wo er hergekommen war. Und erneut überlegte er, ob es stimmte, was er vorhin gedacht hatte. Ob Cata etwas in ihm zerstört hatte. Ob sie ihn zerstört hatte. Aber es war nicht Cata. Es war die Zeit. Ein Buch hatte Jem lange neben seinem Bett verwahrt. Es war ein mitgenommenes altes Ding mit einem abblätternden Rücken. Ein mal schien es das größte Buch der Welt gewesen zu sein, wenn er abends dasaß und es offen auf den Knien liegen hatte. Mit einem
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traurigen Lächeln erinnerte er sich an die Geschichten von Prinzes sin Alamane und vom Schweinekrieger von Swale, und mit einem noch traurigeren Lächeln erinnerte er sich an die Geschichte von Nova-Riel. Vorsichtig griff Jem nach Mythologicon. Er fürchtete, daß sich das Buch auflösen würde, wenn er es fallen ließ oder zu grob behandelte. Es war nicht immer so fragil gewesen. Früher einmal hatte er es für magisch gehalten. Jetzt jedoch war es traurig verblaßt, geschrumpft. Das Buch war nicht mehr so groß, wie es früher gewesen zu sein schien. Vorsichtig schlug Jem in dem dämmrigen Kerzenlicht die Seiten um. Sein Blick glitt über die vertrauten Bilder: der blumengeschmückte Mann, der auf einer Kuh ritt; der Junge mit dem Fisch an der Stelle, an der seine Augen sein sollten; der Hund mit dem Gesicht eines Mannes. Aber Jem wußte, wonach er suchte. Er suchte nach dem Vogel-Jungen, der sich in einer stürmischen Nacht in die Lüfte erhob. JaDa war er. Jem traten Tränen in die Augen, und einen Moment glaubte er, die schwebenden Töne des Leierkastens zu hören. Wie lange hatte er über diese Geschichte gerätselt, damals, als Barnabas ihn gerade erst das Alphabet gelehrt hatte? Er rieb sich die Augen und las die Ge schichte noch einmal, aber in dem schwachen Licht der Kerze war der alte Druck kaum noch zu erkennen. Die Buchstaben begannen zu verschwimmen, und Jem verlor immer wieder die Linie. ... Denn Sassoroch war die letzte Kreatur des Bösen, und der Böse, genauso verzweifelt wie teuflisch, war fest entschlossen, daß ihn nichts in das entsetzliche Reich des Nichtseins zurücktreiben sollte.... ... Jetzt jedoch herrschte großes Zittern und Zagen auf der Burg, als die zehnte Wiederkehr des Monsters bevorstand... Eines Tages, als er noch klein war, geriet Riel auf dem Burghof unter ein Pferdefuhrwerk, dessen Räder seine Beine zermalmten...
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Das Zeichen des Riel ... Doch jedesmal, nachdem sie abgeschlachtet worden war, kehrte sie stärker zurück. Als sie einmal getötet worden war, kehrte sie doppelt so stark und zweimal so groß wieder; nachdem sie das zweite Mal vernichtet worden war...
Ihre Macht wird verhundertfacht sein ... nur der Junge kann die Burg retten. In der übernächsten Nacht wird es einen gewaltigen Sturm geben...
Die Macht des Orokon Was geschah hier? Es war höchst merkwürdig. Vielleicht passierte es ja, weil Jem müde war oder weil er seine Augen überanstrengt hatte. Die Buchstaben auf den Seiten veränderten und verschoben sich, und die neuen Worte, die sie bildeten, waren nicht alt und grau, sondern schienen wie Feuer in das Buch eingebrannt. Aber es war ein finsteres Feuer. Jem hatte ausgestreckt auf dem Bett gelegen und das Buch auf der Brust gehalten. Jetzt zog er sich hoch. Das Buch lag auf seinen Knien und schien größer und schwerer geworden zu sein. Er run zelte die Stirn und versuchte die neuen hellen Worte zu lesen. Zu erst sah er nur weitere Blitze. Jem las: ER WIRD SEINEN WAHREN NAMEN TRAGEN UND AUS DEM REICH DES NICHTSEINS KOMMEN UND ERNEUT DAS ZEICHEN DES RIEL... Instinktiv blätterte Jem weiter. Er hielt die Luft an. Auf der nächsten Seite flackerten die Buchstaben nicht. Die nächste Seite schien zu leben, mit schwarzroten Flammen. Durch die Flammen drangen die Worte mit einem Licht, das zu strahlen schien und doch schwarz war wie die Nacht. Jem las:
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DAS KIND, DER SCHLÜSSEL ZU OROKON, WIRD TRAGEN DAS MAL DES RIEL UND IN SICH HABEN DEN GEIST VON NOVA-RIEL; ABER SEINE AUFGABE IST GRÖSSER, DENN DER BÖSE IST STÄRKER, WENN DAS ENDE DES SÜHNEOPFERS KOMMT Es stand noch mehr da, aber Jem begriff den Sinn der Worte kaum. Es mußte eine Illusion sein. Das letzte, was Jem hörte, bevor er das Bewußtsein verlor, war das geisterhafte Echo der Drehorgel, das in der Luft verklang. Das Buch glitt ihm aus der Hand, und der Rücken brach. Die Sei ten fielen zu Boden. »Jem, Jem!« sagte eine leise Stimme. Eine Hand schüttelte ihn an der Schulter. Jem wachte langsam auf. Keine Melodie ertönte, nur das langwei lige, penetrante Prasseln des Regens an das schmale, hohe Fenster war zu hören. Es war mitten in der Nacht. Der Alkoven lag im Dunkeln, aber eine kleine Flamme flackerte. Es war eine Kerze, die von einer Hand geschützt wurde, und als die Hand sich bewegte, er kannte Jem die Gestalt über sich. Sie trug ein weißes Gewand. Jem hatte keine Angst, sondern war nur erstaunt. »Mutter?« »Jem!« Sie reichte ihm die Krücken, und Jem glaubte zu träumen, als er sich schnell und geschickt hinter der Gestalt in dem wehenden weißen Nachthemd herschwang. Die Burg lag still da, bis auf den Regen und den entfernten Donner. Ela blieb an der Tür ihrer Woh nung stehen und drehte sich zu ihrem Sohn um. Sie umfaßte seinen Arm und stellte sich dicht neben ihn, während sie ihm ins Ohr flü sterte: »Er hat gesagt, du sollst es nicht erfahren. Jem, er wollte nicht, daß du ihn so siehst. Aber ich mußte es dir sagen, Jem. Du mußtest es wissen.« Jem hatte keine Ahnung, was sie meinte. Ihre Worte kamen ihm hohl und leer vor, wie die Trommelschläge des Regens. Er wußte
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nichts, und gleichzeitig wußte Jem so viel. Er stand, auf seinen Krücken, und seine Mutter stand, und zum ersten Mal bemerkte er, wie groß er geworden war. Er war fast so groß wie ein ausgewachse ner Mann. Das Kerzenlicht beleuchtete flackernd das bleiche Gesicht seiner Mutter, und Jem merkte, wie sehr er sie liebte. Aber er wußte, daß jetzt, wo er erwachsen war, etwas zwischen ihnen zu Ende gegangen war. Etwas war vorbei. Er blickte seine Mutter mit verzweifelter Trauer an. Seine Augen waren tränenüberströmt. Sie war verrückt, natürlich. »Mutter, ich verstehe dich nicht.« Sie strich ihm durchs Haar. »Du siehst genauso aus wie er.« Sie hob den Kopf und küßte ihn auf die Lippen. »Ich liebe dich, Jem.« Dann drehte sie den Türknauf, und die Tür schwang auf. Jem folgte seiner Mutter in das Zimmer, das nur von dem gedämpften Licht der Lampe beleuchtet war. Jetzt war diese Welt, die er so gut kannte, wo seine Tante endlos Tee getrunken, ihre Dienstmagd gepiesackt und mit ihren Herrenbesuchen geflirtet hatte, vollkom men verändert. Es war eine andere Welt. In der Wand hinter dem Behang stand eine Geheimtür offen. Der Besucher saß am Feuer, in Decken gehüllt. Ein zum Skelett abgemagerter Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen. Jem kam lang sam näher. Es war ein Mann, der unglaublich alt zu sein schien, ein Mann, dessen gespannte Haut wie aus Pergament wirkte, ein Mann, der so schwach war, daß er schon bei der leisesten Berührung in Stücke brechen und zu Staub werden konnte. Ein todgeweihter Mann. Es war Tor.
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32. Die Weißen Blüten
Jem erfuhr damals nicht genau, was mit seinem Onkel passiert war. Er wußte nur, daß Tor verwundet worden war und sich mit letzter Kraft zurück zur Burg geschleppt hatte. Sollte der Junge geahnt haben, daß sein Onkel zurückgekommen war, um hier zu sterben, so unterdrückte er diese Erkenntnis. Tor ist krank, dachte Jem, und auch wenn das Feuer und die Kraft, die er so an ihm geliebt hatte, verschwunden waren, redete er sich ein, daß sie bald zurückkom men würden. Der Rote Rächer würde sich wieder erheben! Stand er nicht immer wieder auf? Das Erstaunen über Tors Anwesenheit überwog jede Überra schung, die Jem vielleicht wegen dem Geheimgang empfunden ha ben könnte. Er vermutete, daß Tor und seine Mutter dieses Geheimnis geteilt hatten, ein Geheimnis, das ihre Mutter ihnen verraten hatte. Vielleicht fand Jem es etwas unfair, daß er nichts davon gewußt hatte, und es war schon seltsam, daß er und Barnabas die Burg so genau untersucht hatten und doch niemals etwas so Auf regendes und Merkwürdiges entdeckt hatten. Einmal, sagte seine Mutter, habe sie sich entschlossen, Jem dieses Geheimnis zu zeigen. Doch dann war ihr Leben zerbrochen, sowohl wegen ihrer Krank heit als auch wegen der Behandlung. Die Tage verstrichen und konn ten nicht mehr zurückgerufen werden, und Jem wußte, daß seine Mutter, die er beinahe jeden Tag gesehen hatte, fast zwei Zyklen lang genauso fern und unerreichbar gewesen war wie Tor. In der Zukunft würde Jem noch oft traurig darüber nachdenken. In dieser ersten Nacht, als er ehrfürchtig zu Füßen seines Onkels saß, dachte er nur, wenn er zu seiner Mutter aufsah, daß sie eine wunderschöne und edle Frau war, die von einer bösen Welt mißbraucht wurde. Und von einer bösen Tante. Es tat ihm leid, daß seine Mutter so lange die Wahrheit über Tor zurückgehalten hatte. Wenn er daran dachte, daß Tor all diese Mo nate heimlich in der Burg gelebt hatte und seine Mutter sich genauso verstohlen seiner Pflege gewidmet hatte! Selbst Nirry hatte es ge
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wußt! Das kränkte Jem, aber er empfand auch ein merkwürdiges, nagendes Gefühl, daß er dieses Wissens nicht würdig gewesen war. Als er jetzt daran dachte, wie er seine Tage verbracht hatte, schämte er sich. Mit niedergeschlagenen Augen sagte er seiner Mutter, daß er jetzt nicht mehr länger jeden Tag die Burg verlassen, sondern, wie sie es getan hatte, Tor pflegen wolle. Seine Mutter umarmte und küßte ihn, aber sie sagte, daß sie so weitermachen mußten wie bisher. Es durfte keine auffälligen Veränderungen geben. Alles müßte beim alten bleiben. Die Blauröcke durften keinen Verdacht schöpfen. Wenn sie Onkel Tor fanden, würden sie ihn töten. Am nächsten Tag hatte Jem damit gerechnet, daß Cata nicht da war. Aber sie wartete schon an der Mauer aus Stöcken. Sie redeten nicht über das, was am Tag zuvor zwischen ihnen vorgefallen war. Und Jem erzählte ihr auch nicht, was in der Burg passiert war. Aber beide wußten, daß etwas zu Ende ging. Es würde nicht heute passieren und vielleicht auch nicht in den nächsten Tagen, aber es würde bald enden, wie die Jahreszeit, und es würde eine neue Zeit anbrechen. In ihren Herzen wußten sie, daß es eine traurigere Zeit sein würde. Heute waren sie besonders zärtlich miteinander, wie in einer schweigenden Übereinkunft durch das Wissen, das sie nun besaßen. Im Kreis des Wissens gingen sie fast wieder schüchtern miteinander um, wie damals, beim ersten Mal. Es gab keine Spiele, keine ausge lassenen Tobereien. Sie atmeten tief und rollten miteinander in den weißen Blüten umher, hielten sich fest, bis sie beide eine lautlose, zit ternde Erleichterung fanden. Ich liebe dich, Cata, wollte Jem sagen. Aber er brachte kein Wort heraus. Er lag auf dem Rücken und hatte die Augen geöffnet. Doch er sah nur ein schwaches Strahlen, das ihn umhüllte. Das Bewußtsein war wie ein dumpfer Schmerz. Cata sammelte eine Handvoll Blüten auf und legte sie langsam und zärtlich auf das Gesicht des Jungen. Sie befestigte jede Blüte mit
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dem feuchten, gemischten Saft an seiner Haut, der ihr zwischen den Schenkeln herauslief und der seine Schenkel bedeckte. Es war eine Aufgabe, die endlos zu dauern schien. Als sie eine Ewigkeit später fertig war, trug der Junge eine duftende, steife weiße Maske. Er lag schlaff und unbeweglich da, doch dann begriff er und rollte sich auf die Seite. Er sammelte Blüten auf und tat das mit ihr, was sie mit ihm getan hatte. Sie küßten sich. Dann begann es. Der Klang des Horns war erst so weit entfernt, daß es kaum ein Klang war. Eher ein Geräusch des Wildwaldes, in dem es so viele gab: das schwache Krächzen der Vögel, das leise Ticken der Käfer in der Rinde, das Gleiten der Würmer in der warmen Erde. Dann bellten die Hunde. »Hör mal!« Der Kuß hätte ewig dauern können. Doch Cata beendete ihn und hockte sich hin. Sie strich sich das Haar in den Nacken und drehte aufmerksam und wachsam den Kopf. Ein scharfer Schrei ertönte, und ein aufgeschreckter Vogel flatterte davon. Und dann noch einer. Schweigen. Cata drehte sich zu Jem um. »Hörst du das? Hunde und Pferde.« Er konnte nichts hören. Sie sah, daß er Angst hatte. Sie griff nach seiner Hand, und er stand auf, hielt sich an ihr fest, in dem duftenden Zentrum ihres Ver stecks. Jem hörte nur sein eigenes Blut in den Ohren rauschen. Dann fiel ihm auf, daß etwas nicht stimmte. Etwas war anders draußen im Wald. All die normalen Geräusche waren verstummt. Es war ruhig, viel zu ruhig. Der Wildwald hielt gespannt die Luft an. Und dann passierte es. Es kam über sie, brach über sie herein wie eine Welle. Es explo dierte in der Luft wie ein Wutanfall, eine Woge von Haß, als hätte alles, was in der blütenübersäten Laube passiert war, schließlich eine destruktive dunkle Seite beschworen. Jem und Cata verbargen sich in der Laube, aber draußen, vor dem Vorhang aus Efeu, hinter den Ranken, brach ein Tumult im Wildwald aus. Erst hörte man nur das
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wilde, überwältigende Kläffen. Klauen und Hufe brachen durch das Unterholz, Stimmen schrien, und eine Peitsche knallte. Bumm! Bumm! Vögel flogen kreischend auf. Jems Knöchel waren weiß, und er grub die Nägel so tief in Catas Schulter, daß Blut austrat. Sie merkte es nicht, sondern zitterte und schluchzte tonlos. Das Mädchen hatte genausoviel Angst wie der Junge. Beide hatten noch nie die Geräusche einer Jagd gehört. Dann gab es eine Pause, aber keine Ruhe, sondern ein rastloses Kreisen der trainierten Tiere, die das Gras und die Farne niedertrampelten. Sie knurrten und schnaubten. »Wohin ist er gelaufen?« »Hoffentlich zu Koros!« Die erste Stimme war hoch und fistelnd und lachte atemlos. Die zweite war bösartig und knurrend. All die Anmaßung der Menschen war hier zu hören, deren Pläne man durchkreuzt hatte und die zu wütender Entladung entschlossen waren. Glattes Fell berührte Catas Waden und dann Jems. Hinter ihnen hatten sich lautlos die Ranken geteilt. Die Schritte waren auf dem Boden der Laube kaum zu hören. Aber das rote Tröpfeln. Der verwundete Waldtiger lag zu ihren Füßen und hatte sich ru hig auf seinem geschützten Platz ausgestreckt. Eine kleine Pfütze färbte die weißen Blüten rot. Das Blut ergoß sich langsam aus der gestreiften Flanke des Tigers. Hinter dem Vorhang waren Stimmen zu hören. »Er ist weg.« »Diese blöden nutzlosen Köter!« »Was ist denn mit ihnen?« »Ich krieg ihn.« »Polty, wir haben ihn verloren!« »Wir hätten ihn fast gehabt!« »Polty, er ist weg. Korrim zurück!« »Halt den Mund.« Es war ein drängendes Flüstern. »Er ist hier ir gendwo. Wenn ich es dir sage!«
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»Polty, komm zurück.« Cata stöhnte. Sie hörte und sah nichts bis auf den schwer atmen den Tiger. Draußen entfernten sich die Hunde und die Pferde, aber sie bemerkte nicht einmal das. Sie schloß die Augen. Aber ihre Hand lag immer noch in Jems. Also war er es, der als erster, mit der steifen Blumenmaske auf dem Gesicht, trotzig den Eindringling ansah, der sich plötzlich und unerwartet auf der anderen Seite der Ranken wie derfand. Er kroch mit der Schulter voraus hinein, das Gewehr schußbereit in der Hand. Polty stieß leise die Luft aus und richtete sich auf. »Wer seid ihr?« Er flüsterte. Dieser merkwürdige Ort schüchterte selbst ihn ein. Aber nicht lange. Cata war aufgestanden und stellte sich ihm entgegen. Sie hielt Jems Hand immer noch fest in ihrer. Durch ihre Blütenmaske sah sie Polty glühend an. »Verstehe, eine Vaga-Hure, die ihre kleinen Tricks versucht. Schmutziges Miststück. Was ist los mit euren Fratzen? Warum tragt ihr dieses Zeug auf euren Gesichtern?« Sie antworteten nicht. »Heh, du Hungerleider! Du weiß doch, daß sie die Pocken hat, oder? Sie haben alle die Pocken, diese Vaga-Schlampen. Sie stinken schon danach, ich sag's dir.« Polty spuckte aus, wedelte mit der Waffe durch die Luft und deutete auf den Tiger. »Ich bin seinetwegen hier. Er gehört mir.« »Er gehört dir nicht«, murmelte Cata leise. »Ich bin gekommen, um ihn zu erledigen.« Polty zielte auf ihn. »Er gehört dir nicht«, wiederholte Cata. Und dann tat sie etwas Außergewöhnliches. Sie hielt Jem fest und ging näher auf Polty zu, während sie direkt in die Schußlinie trat. »Heh!« Polty schrie nicht. Im Kreis des Wissens wurde nicht geschrien. Alles, was sie sagten, alles, was noch gesagt werden würde, sollte in einem Flüstern geäußert werden. Jetzt wisperte Cata noch leiser, als sie ihre Lippen ganz dicht an Poltys Ohr hob.
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Er senkte das Gewehr, aber nur ein kleines Stück. »Warum flüsterst du?« »Wir sind die flüsternden Menschen.« »Was?« »Du hast mich gefragt, warum unsere Gesichter so aussehen. Weil wir nicht so sind wie du. Wir leben hier im Wald. Und wir flüstern. Aber wir können schreien. Wenn wir das tun, mußt du sterben. Wenn wir laut schreien, würde dir dein ganzes Blut aus den Ohren laufen. Du kannst den Tiger nicht töten! Töte ihn, und wir werden laut schreien. Töte ihn, und das Blut wird dir, ohne aufzuhören, aus den Augen, der Nase und dem Mund laufen.« »Polty? Wo bist du?« Der Bann war gebrochen. Die Stimme kam von draußen. Brutal schob Polty Cata beiseite. Sie stolperte, und ihre Hand ließ die von Jem los. Der Junge brach zusammen. Er war wieder ein hilfloser Krüppel. Polty drehte sich um. Einen Augenblick schien es, als wollte er seinem Gefährten etwas zurufen, doch dann sparte er sich die Mühe. Er zielte. Cata sprang ihn an. Er schlug sie und hätte gefeuert, hätte dem verwundeten Tier aus nächster Nähe eine Kugel in den Leib gejagt. Dann hätte er ihm den Schädel mit dem Gewehrkolben eingeschla gen, nur um sicherzugehen, daß es auch wirklich tot war. Er hätte die stinkenden Eingeweide mit den Händen aufgerissen, das Herz herausgeholt und es triumphierend hochgehalten. Er hätte sicher all das getan, aber das Tier hatte sich inzwischen erholt und stand auf, wieder gesundet. Das Blut strömte ihm nicht mehr aus der Seite, die Wunde war verheilt, und unvermittelt und schnell wie der Blitz sprang der große, schwarzgoldene, muskulöse Körper vor, Zähne gefletscht und Krallen gespreizt. Die Augen des Waldtigers glühten, und er war zum Angriff bereit. Ein tapfererer Jäger als Polty hätte weitergemacht und gefeuert, aber Polty schrie nur entsetzt auf und floh durch die Ranken nach draußen. Jem und Cata krochen über die blutigen Blüten aufeinander zu
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und schlossen sich in die Arme. Der Tiger war verschwunden. Spä ter sollte sich Cata an etwas erinnern, das ihr Papa vor langer Zeit über die Geschöpfe gesagt hatte, die die Menschen getötet hatten. Diejenigen, die sie ausgerottet hatten. Damals hatte sie es nicht verstanden. Er hatte gesagt, daß eines dieser toten Tiere, nur eines, für immer weiterlebte und nicht getötet werden konnte, sosehr sich die Menschen auch darum bemühten. Jetzt hörten sie die Stimmen auf der anderen Seite des Efeuvor hangs. »Polty, da bist du ja! Was ist passiert?« »Passiert? Nichts.« »Du hast geschrien.« »Hält's Maul. Ich hab nicht geschrien.« »Ich habe es doch gehört.« »Da war ein Spinnennetz. Ich hasse Spinnen.« »Polty?« »Was denn noch?« »Ich dachte, ich hätte denTiger gehört.« »Was? Hast du nicht.« »Er hat aber gebrüllt.« »Bohne, halt den Mund. Du benimmst dich wie eine Memme, also wirklich!« Die Stimmen verklangen.
33. Das Geheimnis des Rächers Das Licht, das durch die Decke des Glasraums schien, war nicht mehr so hell wie zuvor. Die Jahreszeit verklang allmählich, und als es sich jetzt bewölkte und noch dunkler wurde, befestigte der Ka plan die verzierte Lampe aus der gepolsterten Kutsche auf dem Rand des Schreibtischs. Schon bald ergoß sich das künstliche Licht über Umbecca, wenn sie las, und das Zischen der Lampe und ihr matter goldener Glanz vermischten sich merkwürdig mit dem Grün
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des Teppichs, den dichten Blättern und dem Blau, Rot, Purpur und Schwarz, das so langsam und geheimnisvoll am Himmel über ihnen vorüberzog. Zuerst wurde die Lampe nur angezündet, wenn zu wenig Licht durch das Glasdach fiel. Aber schon bald schien der Kommandeur sie die ganze Zeit brennen lassen zu wollen, selbst bei strahlendem Sonnenschein. Der alte Mann mochte das Geräusch, das sie von sich gab. Das Zischen. Umbecca hatte mit dem ersten Band von Die Schönheit der Täler angefangen, als etwas Merkwürdiges passierte. Als sie eine Seite um drehte, fiel zu ihrer Überraschung ein Stück vergilbtes Papier aus dem Buch auf ihren Schoß. Natürlich war sie abgelenkt und blickte unwillkürlich darauf. Es war ein Brief, oder besser: eine Nachricht. Sie war einmal gefaltet gewesen, das war klar, aber jetzt war sie in den Seiten des Bu ches geglättet worden. Es war eine sehr kurze Nachricht, und da sie mit der Handschrift nach oben hingefallen war, mußte Umbecca sie einfach lesen. Dann schoß ihr die Röte ins Gesicht. Ich liebe dich, Tor!, waren die Worte auf dem Zettel. Und die Handschrift, das erkannte Umbecca sofort, war die von Ela. Wie war der Zettel in das Buch gekommen? Und was hatte das zu bedeuten? Der Kaplan sah sie fragend an. »Stimmt etwas nicht, meine Teure?« flüsterte er. »Oh, nein.« Umbecca rettete sich in ihr rätselhaftes Lächeln und lehnte sich wieder zurück. Der Kommandeur hatte den Schleier noch vorgelegt, und Umbecca wollte vermeiden, daß er ihn hob. Solange er den Schleier vor seinen Augen hatte, fühlte sie sich fast mit dem Kaplan allein. Manchmal hätte sie nicht einmal sagen können, ob der alte Gentleman nicht eingeschlafen war. Gelegentlich kam das wohl vor, aber immer wenn sie gehen mußte, schob der Kommandeur den Schleier zurück und sagte ihr etwas Nettes. Die Notiz lag immer noch in Umbeccas Schoß, als sie an diesem
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Tag die Lesung beendete. Obwohl es nur ein Stück Papier war, kaum mehr als ein Fetzen, wirkte es auf sie, als wäre es eine Unverschämtheit, die gegen sie gerichtet war. Eine Verletzung. Es brannte durch den blaßblauen Stoff ihres Kleides. Und lag in ihrem Schoß wie ein Fleck. Die Worte der schönen Evelissa schienen diesen Tag mit unge wöhnlichen Gefühlen zu erfüllen. Umbecca las so brillant wie selten. Als es vorbei war, überbot sich der Kommandeur in übertriebe nen Komplimenten über die Begabung seines schönen Gastes. Er hielt sogar ihre Hand länger als gewöhnlich in der seinen. Aber einen Augenblick, bevor der alte Mann seinen Schleier zurückschlug, tat der Kaplan etwas höchst Ungewöhnliches. Er schnappte sich die Notiz von Umbeccas Schoß. Und ließ sie in seiner Rocktasche verschwinden. Natürlich tat er das auf elegante Weise, und seine geschickte, schnelle Bewegung war zartfühlend und respektvoll, ohne auch nur im geringsten vulgär zu wirken. Der Vorfall war vorbei, aber nicht Umbeccas Gefühl, verletzt worden zu sein. Zum ersten Mal war ihre Glückseligkeit ein wenig geschrumpft, die ansonsten von Tag zu Tag größer geworden zu sein schien. In dieser Nacht blieb sie lange neben dem Bett stehen und be trachtete Ela. Wie gewöhnlich stand die Flasche mit Schlafsirup auf dem Nachttisch neben dem Mädchen. Nachdem die Soldaten gekommen waren, schien Nirry regelmäßig an Nachschub zu gelan gen. Wirklich, es war ekelhaft. Umbecca sprach zur Zeit kaum mit ihrer Nichte. Wenn Ela am Morgen noch vor sich hin dämmerte, war Umbecca viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu überlegen, welches Kostüm sie heute anziehen sollte, um auf sie zu achten. Einige feine Damen, so hatte der Kaplan angedeutet, wechselten jedes Stück ihrer Konfektion bis zu fünfmal am Tag. Die beiden Frauen hätten genausogut in verschiedenen Häusern leben können - und nicht an zwei gegenüberliegen den Ecken eines einzigen, großen Raums. Am frühen Nachmittag schlief Ela. Sie nahm ihren Tee ein, wenn Umbecca unterwegs war,
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und ruhte normalerweise bereits, wenn Umbecca zurückkehrte. Nachts zog sich Umbecca in ihre Zelle zurück. Früher hatte Umbecca regelmäßige Berichte von Nirry bekom men. Lady Ela tut dies, Lady Ela hat das gesagt, ich mache mir ein bißchen Sorgen um Lady Ela. Jetzt waren schon Monate verstrichen, und Umbecca hatte keine solchen Berichte mehr gehört. Aber vielleicht hatte sie auch einfach nicht darauf geachtet. Seit einiger Zeit beschäftigte sie nur ein Gedanke, der ihre Nichte anging. Er betraf die Frage ihrer Unterbringung. Elas Wohnung war groß, aber Um beccas neue Besitztümer wurden immer zahlreicher. Für Umbecca war Elas Wohnung sowohl Ankleide- als auch Frühstückszimmer und Salon. Für Ela war es nur ein Ort, an dem sie ihre Tage verschlief. Sie war wohl kaum eine vornehme Lady, jedenfalls nicht im eigentli chen Sinne des Wortes. Umbeccas Zelle wäre weit angemessener für eine Invalide. Sie würde die Soldaten bitten, den Raum frisch zu kalken. Und in Elas Wohnung würde Umbecca endlich Privatsphäre haben. Wirklich, es war sehr verlockend, eine Privatsphäre zu haben! Nur zwei Dinge hielten Umbecca davon ab, den Plan umzusetzen: Das eine war ein gewisser Ausdruck, der in Nirrys Augen auf getaucht war, als Umbecca es angedeutet hatte. Es war ein wütender Blick gewesen, wie Umbecca ihn nur selten zuvor gesehen hatte. Denn eigentlich hatte sie ein wenig Angst vor Nirry, obwohl sie sich das niemals eingestanden hätte. Und sie fürchtete sich auch ein bißchen vor ihrer Nichte, und das war der zweite Grund, warum der Plan noch nicht umgesetzt worden war. Sie mußte Ela zugestehen, daß sie normalerweise keinen Ärger machte, es sei denn, man zählte die Tatsache mit, daß sie überhaupt existierte. Aber obwohl sie seit Monaten in ihrem ekelhaften Däm merzustand dahinvegetierte - es gibt doch nichts Schlimmeres als Drogensucht, dachte Umbecca -, verfügte sie trotzdem über die Fähigkeit, sich gelegentlich fürchterlich aufzuregen. Es war bedau erlich, und es war gefährlich. Goodman Waxwell hatte immer davor gewarnt, daß ein Blutsturz möglich wäre. Wie der, der ihre Mutter umgebracht hatte. Anschließend hatten sie das ganze Bettzeug weg werfen müssen. Umbecca hatte zwar die Matratze behalten wollen, aber das hatte Ruanna kategorisch abgelehnt.
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Nicht auszudenken, was passierte, wenn Ela aufwachte und sich in Umbeccas Zelle wiederfand! Vielleicht sollte man die Renovierung solange verschieben, bis sich das Mädchen an die neuen Um stände gewöhnt hatte. Ein guter Gedanke, aber trotzdem war der Plan noch in der Schwebe, und diese Tatsache verstärkte Umbeccas Aversion gegen ihre Nichte. Sie war ja ein so egoistisches Mädchen. Und die Notiz, die ihr aus der »Agondon-Ausgabe« des Kom mandeurs in den Schoß gefallen war, hatte Umbeccas Empörung neu entfacht. Ich liebe dich, Tor. Womit vertrieb sich ihre Nichte da die Zeit? Und welche Spielchen spielte Tor? Sie drehte sich verärgert vom Bett weg. Der Kaplan hatte ihr den Zettel absichtlich weggeschnappt. Ich weiß, was daraufsteht, schien das zu sagen. Ich weiß, was es bedeutet. In den vier Worten und in dem Platz, an dem der Zettel gelegen hatte, witterte Umbecca ein großes Geheimnis. Daß dieses Geheimnis auch sie in seinen Bann zog, sich ihr aufdrängte und sich seinen Weg in das Herz ihrer Fröhlichkeit erschlich, konnte sie kaum ertragen. Das alte, vertraute Pochen in ihren Schläfen begann wieder. Der Kaplan hatte ihr an diesem Abend zwar in die Kutsche geholfen, war aber mit keinem Wort auf die Angelegenheit eingegan gen. Er sollte einige Tage später wieder darauf zu sprechen kommen. Der Regen prasselte auf das Glasdach über ihnen. Der Himmel war grau, und die Lampe auf dem Schreibtisch brannte ungewöhnlich hell. Es war einer dieser charmanten Abende, an denen der Kommandeur, der jetzt häufiger von seiner Gicht niedergerungen wurde, ihnen nicht Gesellschaft leisten konnte. Liebevoll stellte sich Umbecca vor, wie der arme alte Gentleman träumend auf einem Nebel von Schlafsirup schwebte. Umbeccas Glückseligkeit war zurückgekehrt. Man hatte die Blätter vor der Ziegelwand des Hauses entfernt, an die das Glaszimmer angebaut war, und einen großen Kamin freigelegt. Ein Feuer prasselte auf dem Rost. Der Kaplan lächelte sie über den verzierten Tisch an, während er der Teezeremonie huldigte. Ein enormer Teller mit
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Erdbeerkuchen lag vor ihm. Umbecca lief beim Anblick der prallen, roten Früchte das Wasser im Munde zusammen. »Ein Stück Kuchen, Teuerste?« »Aber ja, Kaplan, eins vielleicht. Eine wahre Lady muß auf ihre Figur achten, wissen Sie.« Umbecca setzte wieder ihr rätselhaftes Lächeln auf und ließ den Kuchen in ihrem kleinen Mund ver schwinden - ohne sich lange mit Abbeißen aufzuhalten. Einige Tage zuvor hatte der Kaplan angefangen, ihr eine höchst amüsante Geschichte über einen bestimmten Empfang im Stadthaus der Lady M... zu erzählen. Es waren sogar irrige Gerüchte im Umlauf gewesen, daß der König persönlich daran teilnehmen wollte. Umbecca wollte den Kaplan gerade drängen, natürlich höchst damenhaft, in der Erzählung dieser Geschichte fortzufah ren. Doch er kam ihr zuvor. »Ihr habt Euch sicher über einen klei nen Zwischenfall gewundert, meine Teuerste?« »Kaplan?« Umbecca wollte gerade ein zweites Stück Kuchen in ihrem Mund verstauen und hielt mitten in der Bewegung inne. Da griff der Kaplan in die Innentasche seines Mantels und holte die Notiz hervor, die Umbecca so verwirrt hatte. Sie lag jetzt auf dem Tisch vor ihr, zwischen einer Tasse und dem Sahnetopf des » Varby-Geschirrs«. »Ich liebe dich, Tor«, zitierte der Kaplan. »Eine sehr charmante Nachricht, findet Ihr nicht? Sie scheint von einer Frau geschrieben worden zu sein, und Tor ist, wenn ich mich nicht irre, ein Kosename für ... Was würdet Ihr vorschlagen, meine Teure?« »Vielleicht Torby?« »Hm.« Der Kaplan schien darüber nachzudenken. »Ihr könntet recht haben. Aber Torby ist ein wenig ... vulgär, findet Ihr nicht?« »Oh, allerdings.« Umbecca errötete leicht. Ihr Vater hieß Torby. »Ja. Torby«, fuhr der Kaplan fort. »Diesen Namen findet man sel ten bei Mitgliedern der Mittelschicht. Aber eigentlich kommt uns doch ein weit aristokratischerer Name in den Sinn, oder?« Umbecca blickte nach oben. Sie sah in der grauen, regennassen Glasdecke die Spiegelbilder von sich und dem Kaplan. »Vielleicht Torvester?« meinte sie beiläufig. »Obwohl Ihr auch den Hintergrund eines solchen Schreibens berücksichtigen solltet. Wenn man
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seine Liebe auf einem herausgerissenen Fetzen Papier erklärt... Na ja, das entspricht wohl kaum dem Verhalten einer Frau aus den oberen Ständen, es sei denn, natürlich, sie kennt weder Tugend noch Scham. Ich würde sagen, diese Notiz hat nichts Vornehmes, Kaplan. Allerdings ist die Handschrift elegant, die Orthographie korrekt, aber es gibt viele Armenschulen, wo Mädchen das lernen können. Nein, Kaplan ...«, Umbecca lachte gekünstelt, »... das hier verrät sicher die Leidenschaft irgendeines Hausmädchens für ihren ungeschlachten Torby!« Als suchte sie bei ihrer kleinen Rede nach Hilfe, hatte Umbecca den Zettel in die Hand genommen. Um ihre Verachtung für seine vulgäre Herkunft zu zeigen, drehte sie ihn um und betrachtete ihn, als sie lachte. Es war das erste Mal, daß Umbecca das Papier in der Hand hatte, und es war das erste Mal, daß sie die Rückseite sah. Das Papier war zwar mittlerweile gelb und brüchig, aber es war trotzdem von bester Qualität. Und es war aus einem Buch herausgerissen worden. Auf der Rückseite standen Druckbuchstaben und ein Name in Tinte geschrieben. Die Druckbuchstaben waren der Rest eines Titels. Und die Signatur, die einmal in der oberen Ecke der Seite gestanden hatte, war unverkennbar.
Ruanna Rench ER-TÄLER Immerhin hatte Ela die Bücher ihrer Mutter behalten. »Bemerkenswert, nicht wahr?« Der Kaplan lächelte. »Aber ich kann einen Teil des Geheimnisses sofort auflösen. Ihr habt doch si cher von einem gewissen Individuum gehört, das unter dem Namen ›Der Rote Rächer‹ sein Unwesen treibt, meine Teure?« Umbecca betrachtete gleichgültig den Teller mit den Kuchen. Sie überlegte, ob sie rätselhaft lächeln sollte, doch statt dessen bediente sie sich lieber eines kurzen, zustimmenden Brummens. »Die feine Gesellschaft von Agondon hält ihn für eine höchst vulgäre Person«, erklärte der Kaplan. »Eine Weile hatte er eine kleine
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Bande um sich geschart, und wenn ich mich recht entsinne, gab es eine höchst bestürzende Auseinandersetzung vor der Küste der In sel Xorgos. Ihr kennt doch Xorgos, meine Teure? Ein höchst nütz licher Ort, an den man Mitglieder des niederen Volks verbannen kann, wenn sie vergessen, welcher Platz ihnen gebührt...« Umbecca hob den Blick. »Es ist so wichtig, daß das gemeine Volk weiß, wohin es gehört«, begann sie überschwenglich. »Ich könnte Euch kaum mehr zustimmen, Teuerste. Und ist es nicht noch besser, an ihren Anführern ein Exempel zu statuieren?« »Aber selbstverständlich, Kaplan ...« Der Kaplan seufzte. »Deshalb ist Seine Kaiserliche Agonistische Majestät so von dem Roten Rächer enttäuscht. Wenn man sich vor stellt, daß ein junger Mann aus gutem Haus ... Nun, man munkelt, daß er eine Zeitlang sogar mit einer Gruppe ... Vagas umhergereist ist, in der Verkleidung eines Harlekins. Früher, so vermutet man, hat er seine Greueltaten unverschämterweise in der Uniform des roten Königs begangen. Später wurde das bunte Harlekinkostüm seine bevorzugte Verkleidung. Das Rot war so unter vielen anderen Farben versteckt ...« Umbecca fühlte sich langsam unbehaglich. Was für ein Spiel spielte der Kaplan? Jeder kannte den Namen des Roten Rächers. Jeder wußte, daß er der Sohn des Erzherzogs war. Das Kaminfeuer knackte laut. In dem Lampenlicht glitzerten die Augen des Kaplans merk würdig. Zum ersten Mal schoß es Umbecca durch den Kopf, daß er vielleicht grausam war. Aber bestimmt nur ein ganz kleines bißchen. Seine Worte wogten über sie hinweg. »Ihr seid euch vielleicht nicht bewußt, meine Teure, daß der Feldzug des Roten Rächers vor allem während der letzten Zenzanischen Kriege besonders brutal war. Es ist zwar wenig davon durchgesickert, nicht einmal in Agondon, aber ohne die Bosheiten des Ro ten Rächers wäre die Befreiung unseres unwissenden benachbarten Königreiches sicherlich viel einfacher vonstatten gegangen.« Er beugte sich auf seinem Stuhl vor. Sein Ton wurde zu einem vertraulichen Murmeln, und zuerst glaubte Umbecca erleichtert, daß er das Thema wechseln wollte. Aber er näherte sich ihm nur von einem anderen Gesichtspunkt aus.
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Er knabberte an einem Stück Kuchen. »Habt Ihr Euch jemals gefragt, meine Teure, warum ein Gentle man von der Bedeutung Kommandeur Veeldrops noch immer kein Lord ist? Man sollte doch erwarten, daß er wenigstens zum Marquis gemacht worden wäre. Habt Ihr Euch jemals gefragt, warum er ausgerechnet, mit Verlaub, die Täler der Tarn verwalten soll und nicht eine der fetten südlichen Provinzen? Habt Ihr Euch jemals gefragt, warum er einen bestickten Schleier trägt und warum seine stattliche Gestalt so schrecklich abgemagert ist?« Umbecca hatte sich tatsächlich darüber gewundert. Sie sah den Kaplan mit großen Augen an. »Die Antwort, meine Teure, geben drei Worte: Der Rote Räcberl« Umbecca schnappte nach Luft und begann zu zittern. Der Kaplan aß seinen Kuchen auf und nahm sich ein neues Stück. Er bedeutete Umbecca, sich ebenfalls zu bedienen, und sie gehorchte zögernd. »Der letzte Krieg der Neuen Bestimmung war erst ein paar Jah reszeiten alt, als bereits unser Triumph gekommen schien«, fuhr der Kaplan fort. »Die Streitkräfte des Kommandeurs standen vor den Toren von Wrax. In ein paar Tagen, so schien es, sollte er ihre Befe stigungen überwunden haben. Dann wäre Zenzau unser! Rasch wurde eine Nachricht an unser Hauptquartier an der Küste ge schickt. In Agondon waren alle der Meinung, daß der Sieg bereits so gut wie sicher war, daran kann ich mich noch gut erinnern. Habe ich Euch jemals vom großen Siegesball der Lady W... berichtet? Diese Peinlichkeit, meine Teuerste, oh, was für eine Schande! Da standen wir und brachten einen Toast auf ›Veeldrops Siegeszug‹ aus, als ein Reiter von der Front neue und anderslautende Nachrichten verkün dete. Die arme Lady W...! Sie hat sich niemals ganz davon erholt! Denn der Sieg schien uns sicher zu sein. Wir hatten den Roten Rächer für tot gehalten und den Widerstand für in alle Winde zerstreut. Wer hätte gedacht, daß sich der Verräter die ganze Zeit in der Stadt aufhielt und eine neue, fürchterliche Waffe schmiedete?« Umbecca legte ihren Kuchen weg. Sie hatte nur am Rand geknabbert. »Der Rote Rächer war im Laufe des Krieges zu einem erbitterten
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Gegner des Kommandeurs geworden«, erklärte der Kaplan. »Er wurde oft für tot erklärt, absolut und ganz entschieden tot, doch genausooft und genauso entschieden ist er wieder auferstanden. Erst wenn der Rote Rächer an einem Galgen baumelt, so pflegte der Kommandeur zu sagen, können wir sicher sein, daß er wirklich tot ist. Und was könnte dem Kommandeur nach dem Greuel von Wrax eine größere Genugtuung bereiten, als eben diesen Befehl für die längst überfällige Hinrichtung zu geben? Der Kommandeur ist der Ansicht, daß irgendeine böse Vaga-Magie dem Roten Rächer an diesem Tag bei seiner Greueltat geholfen hat. Auf jeden Fall hat die Macht, die der Rote Rächer an diesem Tag entfesselte, alles überstiegen, was jemals in sämtlichen Kriegen Ejlands gesehen wurde. Der Kommandeur kann dazu nur eins sagen: Als er die Mauer von Wrax angriff, um sie in Schutt und Asche zu legen, wurde eine ungeheure Explosion entfesselt, gewaltiger als das Feuer jeder Kanone. Hun derte Männer starben, und Tausende wurden schwer verwundet. Es war die Sache eines Augenblicks! Was konnte diese fremde Macht sein? Ich habe den Kommandeur viele Male gebeten, es zu beschrei ben, aber er konnte nur sagen, daß es sich um einen blendenden Blitz handelte. Seine Augen haben sich davon niemals erholt. Genauso wenig wie sein Herz.« »Sein Herz?« »Ihr dürft nicht vergessen, meine Teure, daß der Kommandeur ein sehr stolzer Mann ist. Er wurde einmal als unser größter Held gefeiert. Dann wurde er fürchterlich als Verräter geschmäht. Aber es wurde immer anerkannt, daß er ein mächtiger Mann war. Jetzt, unmittelbar vor dem unsterblichen Ruhm, war er gezwungen, sich zurückzuziehen, und seine Truppe war in heilloser Auflösung. Obwohl die außergewöhnliche Waffe kein zweites Mal eingesetzt wurde, konnte der Kommandeur nicht mehr den Schwung aufbringen, den er verloren hatte. Kurz danach verschlechterte sich seine Gesundheit, und er hatte keine andere Wahl, als sich von der Front zurückzuziehen. In Agondon stellte er fest, daß er in Ungnade gefallen war. Jetzt wurde nur noch mit Sarkasmus vom ›Veeldrop-Sieg‹ gesprochen, den es nie gegeben hatte. In den Salons wurden ›Veel drop-Witze‹ gerissen. Witze, und das über den Sieger der Belage
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rung von Irion! Witze, von Höflingen mit weißen, weichen Hän den! Selbst der Erste Minister, der seine gegenwärtige Position ausschließlich dem Kommandeur verdankt, sagte angeblich, daß man Veeldrop nicht trauen könne. Er behauptete, Veeldrops Tage seien gezählt. Und daß Veeldrop nur noch einen vulgären Provinzposten wert sei! Dem Kommandeur wurde sogar die Erhebung in den Adelsstand verwehrt, die schon sicher geglaubte Krönung seiner langen Karriere. Es war ungeheuerlich! Einige meinten, diese Erhe bung hätte nach der Belagerung von Irion erfolgen müssen, und waren damals entsetzt, als der Erste Minister sie ihm versagte. Aber jetzt wandte sich auch die mondäne Welt vom Kommandeur ab. Ein Ritterschlag? Er hätte ihn niemals verdient, sagten sie. War nicht der Erzherzog der eigentliche Held von Irion? Was hatte der Kommandeur schon anderes getan, als zu warten und den König dann fort zuschaffen? Welche Perfidie! So wankelmütig ist die menschliche Zuwendung ... Mittlerweile fiel es Kommandeur Michan in den Schoß, der Befreier von Wrax zu werden und daraufhin auch Lord und Generalgouverneur dieser reizvollsten unserer Besitzungen. ›Michan!‹ stöhnt der Kommandeur manchmal. ›Wenn ich daran denke, daß er ein bloßer Grünschnabel unter meinem Kommando gewesen ist!‹ Wenn der Kommandeur jetzt Michan traf, mußte er den Kopf neigen und ihn ›Mylord‹ nennen!« »Der arme, arme Gentleman!« Tränen liefen Umbecca übers Gesicht. Es war eine rührende Zurschaustellung ihres Mitgefühls, aber es galt nicht nur dem Kom mandeur. Der Kaplan sprach weiter: »Es freut mich zu sehen, daß Ihr die Leiden dieses großen Mannes versteht, meine Teure. Er ist alt und muß bald sterben, aber jetzt ist es unmöglich, all diese Heimsuchungen zu beheben. Wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten, dann könnten wir auch den Kommandeur wieder in alle Ehren ein setzen, die ihm eigentlich gebühren. Und doch, meine Teure, es gibt etwas, das wir tun können.« »Was meint Ihr, Kaplan?« »Es wurde gemunkelt, daß der Rote Rächer sich selbst verletzt hat. Angeblich hat diese Magie, die er entfesselte, einen schreckli
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chen Tribut gefordert, nicht nur von anderen, sondern auch von ihm selbst. Nach der Explosion von Wrax hat man seine Art von Aktio nen nie wieder gesehen. Erneut kursierte das Gerücht, daß er tot sei. Aber wir haben Nachrichten erhalten, daß er sich an verschiedenen Orten versteckt hielt. Er war immer unterwegs, stets außerhalb unserer Reichweite. Aber dabei hat er sich ständig in eine bestimmte Richtung bewegt, das haben wir herausbekommen. Vielleicht gibt es ja einen Ort, an dem er sein Leben beenden möchte? Meine Teuer ste! Stellt Euch vor, der Kommandeur könnte jetzt den Roten Rächer stellen! Wenn er ihn an einem Galgen baumeln sähe, würde das Tränen der Freude in diese erblindeten Augen zaubern! Und wenn der Kopf des Verräters nach Agondon gebracht würde, dann könnte nicht einmal der Erste Minister abstreiten, daß Olivan Thar ley Veeldrop seinen Namen reingewaschen hat. Und würde sich dann nicht auch sein Name ändern? Es hieße nicht mehr ›Kommandeur Veeldrop‹, sondern ›Lord Veeldrop‹, wie es schon längst hätte sein sollen.« Umbecca brach zusammen. Zuerst hatte sie geschluchzt, still und dann laut und kehlig. Und jetzt beugte sie sich vor und wäre fast mit dem Gesicht in den Kuchen gefallen. »Oh, Tor! Tor!« stöhnte sie erschüttert. Es war schlimmer, viel schlimmer, als sie jemals gedacht hätte. Umbecca lebte isoliert in den Provinzen und hatte natürlich keine Ahnung vom Umfang der Perfidie ihres Neffen. Sie hatte den Jun gen geliebt, aber als der Kaplan jetzt sagte, daß er sterben müsse, blieb ihr keine Wahl, als ihm zuzustimmen. Sie dachte an den Kom mandeur, wie er nach der Belagerung gewesen war. Dann dachte sie an den Kommandeur, wie er jetzt aussah. Es war ungeheuerlich, was Tor getan hatte! Aber warum hatte der Kaplan sie so gequält? »Kaplan, Ihr seid grausam!« stieß sie hervor. »Erwartet Ihr, daß ich den Roten Rächer verteidige ? Glaubt Ihr nicht, daß ich jeden Tag unter dieser Verbindung gelitten habe? Der liebe Torvester ist ein so süßer, charmanter Junge gewesen! Aber seinen Vater so zu hinterge hen! Seinen König so zu betrügen! Und jetzt hat er auch noch dem Kommandeur solche Qualen bereitet! Wenn ich daran denke, daß
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ich dieses Monster auf meinen Knien gewiegt habe! Ich dachte, daß schon seine Schwester meine Familie entehrt hat, aber ihre Hurerei ist nichts gegen die Verruchtheit dieses Jungen!« Umbecca wäre fast von ihrem gepolsterten Stuhl heruntergerutscht. Der Kaplan sank auf die Knie und umarmte sie. »Meine teure, liebe Lady! Bitte glaubt nicht, daß ich nicht auch um Euer schreckliches Schicksal trauere! Und bitte glaubt keine Se kunde, daß Ihr etwa Objekt unseres Verdachts wärt! Niemand wird Euch angreifen! Niemand wird Euch Vorwürfe machen! Alle lieben Euch und wollen, daß Ihr glücklich seid!« Umbecca schnüffelte und sah dem Kaplan in die Augen. »Alle?« Es hätte eine Szene aus Ruannas Romanen sein können. Und der Kaplan hätte ihr in diesem Augenblick seine Liebeserklärung machen können. Er nahm ihre Hände. »Teure Dame, ich kann nur eins sagen: Ich liebe dich ...« Umbeccas Herz tat ein paar unkontrollierte Schläge. O Kaplan! Hätte sie gern gerufen, aber ihr fehlte die Kraft, die Worte zu äußern. Ja! Jajaja! Das war alles, was sie sich erträumt hatte! Der Kaplan würde um Dispens bitten, und dann gehörte er ihr! Sie riß ihn in die Arme. Erst nach einigen Augenblicken und nicht ohne gewisse Schwierig keiten gelang es dem Kaplan, sich aus der Umklammerung zu be freien. Die Frau war eindeutig übergewichtig! Er half ihr auf den Stuhl zurück. Sie setzte sich mit gekrümmten Schultern, als befände sie sich im Würgegriff einer peinlichen Erkenntnis. Sie ließ den Kopf sinken, und ihr Gesicht war puterrot. Schnell schnappte sie sich ein weiteres Stück Kuchen. Der Kaplan ging auf dem Teppich hin und her und zitierte diesmal den Satz zu Ende: »Ich liebe dich, Tor. Dieser Zettel ist in einem Mantel gefunden worden, der nachweislich von dem Renegaten zurückgelassen wurde. Woher stammt er? Vielleicht, meine Teure, ist es eine Erinnerung von früher, die der Widerständler immer an seinem Herzen trug. Aber vielleicht ist er auch ein Zeichen für etwas
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anderes. Ein Zeichen dafür, daß der Renegat einen Kontakt hat. Und zwar zu jemandem ganz in der Nähe, meine Teure. Eure Nichte besitzt die Romane der ›Miss R...‹, habt Ihr mir erzählt. Könnte es sein, daß Euer Dienstmädchen vielleicht diesen Fetzen aus einem Band gerissen und die Nachricht für ihren Geliebten darauf ge schrieben hat?« »Nirry?« Umbecca hätte fast laut aufgelacht. Im Tarn gab es keine dieser hervorragenden kleinen Sonderschulen. Nirry konnte weder lesen noch schreiben. Und allein der Gedanke, daß Tor eine Affäre mit ihr haben könnte, war schon zuviel. Nicht mal Tor würde so tief sinken ... Umbecca riß sich zusammen. Jetzt beugte sich der Kaplan dicht an ihr Ohr und flüsterte leidenschaftlich: »Teuerste, der Kommandeur hat Grund zu der Annahme, daß sich der Rote Rächer hier in den Tälern befindet und irgendwo versteckt hält. Der Renegat ist, wie wir ja wissen, sehr geschickt in bestimmten, ruchlosen Künsten. Auf unserer Reise hierher wollten die Männer des Kommandeurs ihn mehrmals fassen, als der Rächer plötzlich verschwand. Aber seine Macht wird schwächer, davon sind wir überzeugt. Er ist vielleicht dem Tode nah. Könnte es sein, daß er in seine Heimat zurückgekehrt ist ? Und könnte es sein, daß ihn selbst jetzt noch jemand versteckt ? Teuerste, ich möchte wiederholen, daß Ihr nie und nimmer unter Verdacht steht. Sicher, Ihr habt den Jungen auf Euren Knien gewiegt. Es ist eine Tragödie, daß eine so liebe, tu gendhafte Person wie Ihr so schrecklich mißbraucht wurde. Aber welche Tugend ist noch nie auf die Probe gestellt worden? Ich bitte Euch nur um eins: Sollte Euch etwas zu Ohren kommen, Teuerste, dann möchte ich Euch nahelegen, es nicht zurückzuhalten. Mir ist klar, was für einen Kampf eine solche Entscheidung in Euch auslöst. Ich habe schließlich auch Gefühle! Aber Euer Neffe ist kein Klein kind mehr, das Ihr auf Eurem Schoß wiegen müßt. Er hat sich selbst ruiniert, seinen Charakter und seinen Namen beschmutzt. Er ...« Umbecca sprang auf, und der Kuchen landete klatschend auf dem Boden. Die Szene, die so entzückend begonnen hatte, hatte sich zu einer bitteren Demütigung für sie entwickelt, doch nun begriff sie, wie sie sich wieder reinwaschen konnte.
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»Kaplan, es ist genug!« rief sie. »Mir bricht das Herz. Ich sage nur eins: Wieviel Liebe zu diesem gemeinen Betrüger noch in mir sein mag ... Sie ist ein Schatten im Vergleich zu dem Gehorsam, den ich der Tugend schulde. Ihr Wankelmütiger! Seid Ihr taub ? Oder blind ? Kann es sein, daß Ihr mich so lange kennt, so unermeßlich, so gren zenlos lange, und doch nichts von dem edlen Herzen wißt, das in meinem Busen schlägt? Könnt Ihr Euch wirklich vorstellen, daß ein egoistischer Impuls dieses Herz daran hindern könnte, im Bruchteil eines Moments seiner Pflicht zu genügen? O üble Verleumdung! Wißt Ihr denn nicht, Ihr schwacher, zweifelnder Mann, daß Ihr neben einer tugendhaften Frau steht? Wißt Ihr denn nicht, daß es keine Handlung gibt, die eine Frau meiner Tugendhaftigkeit begehen würde, die nicht dem größeren Ruhm unseres Herrn Agonis und seiner Königin gewidmet wäre? Ihr Zweifler, werft Euch mir zu Füßen und bittet um Verzeihung!« Eay Feval gehorchte auf der Stelle und mühte sich tapfer, sein Lachen zurückzuhalten. Für Umbecca klang es wie ein Schluchzen. Es ist wirklich Umbeccas größter Augenblick, dachte er, oder eher, ihr bis jetzt größter Auftritt. Sie wird immer besser. Eindeutig, sie legt mächtig zu. Diese Rede hatte sie, Wort für Wort, aus Ehe und Krieg von »Miss R...« entliehen. Nachdem sie gegangen war, erhob sich der Kommandeur vom abgewandten Schreibtischstuhl, in dem er unbemerkt gesessen hatte. Es gab einige Aspekte in diesem Gespräch, die ihm nicht gefielen, aber er begriff, daß sie notwendig gewesen waren. Sie hatten Gefühle in der Lady ausgelöst, soviel war klar. Er schlug den Schleier zurück. Seine Augen waren tränenfeucht. »Eine höchst rührende Szene. Wie seht Ihr das, Kaplan?« Der Kaplan zupfte seine Handschuhe zurecht. »Wir können nicht sicher davon ausgehen, daß sie seinen Aufenthaltsort kennt, Herr. Aber falls nicht, wird sie es wohl sehr bald herausbekommen.« Der Regen klatschte immer noch auf das Glasdach. »Und wenn sie es weiß, wird sie ihn ausliefern.« Der alte Mann lächelte den Kaplan an, was selten vorkam. Es war ein bedauerndes Lächeln. Der arme Kaplan hatte wirklich keine Ge
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fühle! »Ich müßte eigentlich von Euch überrascht sein, Kaplan. Aber natürlich bin ich es nicht.« »Herr?« »Sie hat sich wirklich als tugendhafte Frau dargestellt. Aber was hätten wir auch sonst erwarten sollen? Wir wissen schließlich, wer sie ist, stimmt's?« Der Kommandeur seufzte und warf einen Blick auf die Bücher auf seinem Schreibtisch. Die gepunzten Buchrücken glänzten im Licht der Lampe. Ein paar eingestaubte Bücher standen unbeachtet in Elas Wohnung herum. Es war so lange her, daß Ela darin geblättert hatte, und noch länger, seit Umbecca einen Blick hineingeworfen hatte. In dieser Nacht zog sie vor dem Spiegel ihre Unterwäsche aus, als ihr Blick das Buchregal am Rand des Spiegelbildes streifte. Sie drehte sich um und ging hinüber. Angewidert betrachtete Umbecca die Bände. Sie waren entsetzlich schäbig, ganz anders als die wunderschöne »Agondon-Ausgabe« des Kommandeurs. Die war eine Zierde für jedes vornehme Heim. Sie fand sofort die Ausgabe von Die Schönheit der Täler und zog den kleinen Band heraus. Unwillig verzog sie das Gesicht, als sich eine Staubwolke auf ihre Unterröcke senkte. In den Ecken eines Zimmers kann man sehen, ob die Dienstboten ihre Arbeit taten, hatte ihre Mutter immer gesagt. Nirry tat offenbar überhaupt nichts. Umbecca schlug das Buch auf. Aber natürlich. Die Schönheit D stand auf der Titelseite. Nicht, daß sie daran gezweifelt hätte. Umbecca betastete die zerrissene Seite und betrachtete fragend die bewußtlose Gestalt auf dem Bett. Ela atmete ruhig. Umbeccas Herz schlug heftig. Sie dachte nach. Und dachte. Allmählich nahm ein neuer Gedanke in ihr Gestalt an. Er begann
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mit der gekritzelten Nachricht auf dem Fetzen Papier. Ich liebe dich, Tor. Dann erwog sie, was sie dem Kaplan gesagt hatte: daß keine tu gendhafte Frau eine solche Nachricht schreiben würde. Und dann dachte sie über den Vorschlag des Kaplans nach, daß vielleicht die Magd ihrem Liebhaber geschrieben haben könnte. Nein. Nicht die Magd. Zum ersten Mal keimte ein fürchterlicher Verdacht in Umbecca. Aber sie schrie nicht auf. Lautlos ging sie in ihre Zelle zurück. In der Dunkelheit blieb sie in ihren Unterröcken liegen und weinte in ihr Kissen, leise und lange. Was war sie für eine Närrin gewesen. Was für eine schlimme, schlimme Närrin!
34. Der Grabstein Die Jahreszeit des Theron war schon vorbei, als Jem seine dritte Begegnung mit Poltiss Veeldrop haben sollte. Jems Bestimmung würde sich danach endgültig entfalten. An diesem Tag war der Himmel über dem Dorf grau, und dicke Wolken drohten mit Regen. Jem war zu der Mauer aus Stöcken ge gangen, aber Cata war nicht da. Während er mit dem Mädchen zu sammen war, hatte immer etwas Ungerührtes, etwas blindlings Be dingungsloses in seiner Liebe gelegen. Er hatte akzeptiert, daß sie an manchen Tagen nicht kam. Er fragte sie nicht, warum. Er war nur traurig. Doch jetzt, als die kalten Lüfte die Rückkehr der Jahreszeit des Agonis verkündeten, empfand Jem die Trauer schärfer. Er hatte schon eine düstere Vorahnung gehabt, weil er wußte, daß die Dinge nicht so weitergehen würden wie bisher. Jetzt zeichneten sich einige Möglichkeiten deutlich ab. Wenn der Schnee hoch lag und ohne Pause vom Himmel fiel, wie sollte er da von dem Felsen herunterkommen? Er hatte gedacht, sein ganzes Leben läge jetzt neu vor ihm, doch nun begriff er, daß er vieles, was er getan hatte, nicht mehr länger tun konnte.
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Jem verwünschte seine Hilflosigkeit. Wie sehr er sich an die Berührung von Catas Hand gewöhnt hatte! Was sie ihm verlieh, war das Leben! Er kehrte auf den Friedhof zurück. An diesem Nachmittag war er leer und grau. Eine schwere Müdigkeit überkam Jem. Er hatte sich danach gesehnt, in den Wildwald zu laufen und zu springen; statt dessen schleppte er sich mühsam in die Ecke des Friedhofs unter der Eibe, wo die Soldaten gewesen waren. Die Spuren ihres Gelages wa ren immer noch zu sehen. Glassplitter glitzerten zwischen dem Wurzelgeflecht der Eibe; das Notenblatt eines Trinkliedes, ein grünes Strumpfband, das Symbol der Angeberei eines Soldaten. Der Grabstein lag im Schatten der Eibe. Seine Kanten waren abgerundet, und er war moosbedeckt. Er lag flach wie ein Felsen in dem Gras und dem Unkraut, das wieder nachwuchs. Die Inschrift war kaum lesbar. Die erhabenen Buchstaben waren mit Pflanzenresten und kleinen gelben Sporen übersät, aber Jem verfolgte ihre Bot schaft und konnte die Huldigung ausmachen, die einer Frau namens Catayane dargebracht wurde. Es dauerte einen Augenblick, bis Jem begriff, daß bei diesem alten Namen, aus der Zeit der Unschuld, auch Cata gerufen wurde. Unbeholfen ließ sich Jem auf den Stein sinken. Er legte die Krücken neben sich und saß zusammengesunken am Rand des Steins. Er sah auf seine Füße. Erst jetzt, in dem Unkraut neben dem Grab, sah er die Spielkarte, die zerknüllt dalag. Offenbar hatte jemand sie im Rausch fallen lassen. Er hob sie auf. Es war der dunkle Gott Koros. Schwarz, mißgestaltet, den Tod ankündigend, schien der dunkle Gott eine Sekunde in Jems Augen zu sehen. Der Junge erschauderte und ließ die Karte fallen. Er hüllte sich in seinen Mantel und legte sich über den Stein. Er lag auf dem Rücken und blickte durch das Gewirr der Äste in den Himmel. Es nieselte. Jem schloß die Augen. Es wurde dunkel, doch dann schob sich aus seinen wirbelnden Gedanken das Bild der Karte vor das Purpurschwarz seiner Lider. Es war plötzlich viel größer, als ob der schwarze Gott sich über ihn beugte und ihn aus dem be 253
wölkten, drohenden Himmel anblickte. Dann blitzten plötzlich die Brennenden Verse vor ihm auf: DENN SASSOROCH WIRD ERNEUT
AUS DEM NICHTSEIN ERSTEHEN,
UND SEINE MACHT WIRD HUNDERTFACH SEIN;
ABER DIESMAL WIRD ER SEINEN
WAHREN NAMEN TRAGEN
UND SEIN WAHRES GESICHT ZEIGEN,
DIE VOR DER WELT VERBORGEN,
ALS ER NOCH SASSOROCH WAR.
Jem öffnete die Augen. Er war erschüttert. Den merkwürdigen Traum damals im Alkoven hatte er vergessen. Jetzt erinnerte er sich, daß er im Mythologi con gelesen hatte, daß ihm die Augen zugefallen waren und er das Buch hatte fallen lassen. Der Einband war zerbrochen. Wie traurig war er gewesen, wie leer hatte er sich gefühlt, als die brüchigen Sei ten auf dem Boden gelegen hatten! Der Traum bedeutete natürlich nichts, er war reiner Unsinn. Aber jetzt kehrte diese Trauer zu ihm zurück. Jem wußte nur, daß ihn eine Sehnsucht erfüllte, die er weder verstehen noch benennen konnte. Er hatte gedacht, es wäre genug, was er mit Cata getan hatte, oder könnte genug sein. Jetzt jedoch fühlte er eine gewaltige Leere in sich, die nichts füllen konnte. Sassoroch! Wollte er etwa Nova-Riel sein? Aber, wie seine Tante richtig gesagt hatte, der Blitz schlug niemals zweimal an derselben Stelle ein. Die Wege des Schicksals sind geheimnisvoll, und es steht uns nicht zu, als Bauern in seinen unvorhersehbaren Händen (was wir sind und auch sein müssen!), seine komplizierten und unerklärbaren Pläne zu hinterfragen. Aber obwohl nur die Qualen des Nichtseins den gemeinen Betrüger Porlond bestrafen können und mir meine geliebte Evelissa nur im Reich des Unergründlichen wiedergegeben werden kann, werde ich nicht trauern und Trost aus den grenzen losen Segnungen ziehen, die wir trotz allem erfahren haben. Für 254
alle Zeiten bin ich deine Freundin. LADY QUINMIRE
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Es war zuviel. Der Band fiel Umbecca aus der Hand, und sie brach schluchzend zusammen. Der Kommandeur schluchzte ebenfalls. Sie hatten das Ende von Die Schönheit der Täler erreicht. Wenn man sich vor stellte, daß es Leute gab, die behaupteten, die letzten Sätze markierten einen Tiefpunkt im Schaffen der »Miss R...«! Es war die reinste Verleumdung. Der Roman war ein Meisterwerk. Der Kaplan lächelte nachsichtig über die schluchzenden Gestalten vor ihm und ging dann schnell durch das Blätterwerk zu den Türen. Gut. Die Wachen warteten. Heute hatte die Lesung lange gedauert, und genauso war es beab sichtigt gewesen. Aber die Lady war während der letzten Seiten vollkommen von dem Roman gefesselt gewesen. Man hatte sie nicht einmal überreden müssen zu bleiben, obwohl sie mehr als kärgliches Naschwerk serviert bekommen hat, wie der Kaplan ironisch dachte. Nur einen Möhrenkuchen, einen Getreidekeks und einen Teller mit Butterbrötchen. Die arme, teure Lady! Sie mußte ziemlich hungrig sein! Sie würde bald ihre Belohnung erhalten. Umbecca blickte überrascht und beunruhigt auf, als die Wachen in den Raum kamen. »Kaplan?« fragte sie unsicher. Aber der Kommandeur beantwortete ihre Frage. »Teure Lady!« Er packte ihre Hände. »Während dieser letzten Monate habt Ihr uns so viel Vergnügen bereitet, so viel reichliche Freude! Dürfen wir uns jetzt erlauben, es Euch zu vergelten?« Umbecca sah fragend auf die Wachen. Erst brachten sie den Tee tisch fort und ersetzten ihn durch einen höheren, ausladenderen Tisch. Einen Augenblick glänzte die dunkle Oberfläche im Licht der Lampe, dann verschwand sie unter einem frischen weißen Tuch. Anschließend wurden Schüsseln, Platten und Geschirr aufgetragen. Ein berauschendes Aroma schwebte in der Luft. Umbecca drehte sich um. Es war wie ein Traum. Auf einem Servierwagen, der rumpelnd durch das Unterholz geschoben wurde, befand sich ein ganzes Spanferkel, das von Fett glänzte und einen Backapfel im Mund hatte! Es ruhte auf einem Beet von gerösteten
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Zwiebeln, Möhren, Pastinaken, Kürbissen und Kartoffeln. Sie schwammen alle in Öl. In Schüsseln wurde Soße herangetragen. Umbecca wäre fast in Ohnmacht gefallen, aber der Kaplan paßte auf, nahm ein funkelndes Glas vom Tisch und drückte es ihr mit ei nem Lächeln in die Hand. »Ich nehme an, Teuerste, daß Ihr zum Dinner bleibt?« Jem mußten die Augen zugefallen sein. Anscheinend war er vor Mü digkeit und Trauer eingeschlafen. Als er aufwachte, kam es ihm vor, als wäre er weit, weit weg gewesen. Merkwürdige, dunkle Formen hatten sich durch seinen Kopf geschlängelt. Erinnerung und Traum hatten sich seltsam vermischt, der samtene Vorhang, der im Alkoven flatterte, das Gesicht des dunklen Gottes, das purpurschwarz und groß auf ihn heruntersah. Und dann unvermittelt wieder das Aufblitzen der brennenden Worte: UND VOR DER RÜCKKEHR DES BÖSEN
WIRD EINE ZEIT DES LEIDENS DIE ERDE ÜBERZIEHEN,
UND SIE WIRD DAS ENDE DES SÜHNEOPFERS
VERKÜNDEN;
UND NUR DIE MACHT DES OROKON
VERMAG DAS BÖSE ZU BESIEGEN,
DAS DANN KOMMEN WIRD
Was war mit ihm los ? Wenn dieser Unsinn doch endlich aufhören würde! Jetzt, als er wach war, spürte Jem die schmerzhafte Kälte. Er hatte wie ein Narr im Regen gelegen. Seine Kleider waren vollkommen durchnäßt, und die Unfähigkeit seiner Beine schien sich auf seinen ganzen Körper ausgedehnt zu haben, seine Schenkel hinauf, seine Arme hinunter bis zu seinen Fingern. Seine Zähne klapperten. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, aber die Dunkelheit blieb. Dann sah er, daß der Himmel über dem Gewirr der Zweige dunkel war und nur ein wenig vom Mond erhellt wurde, der sich hinter ei
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ner Wolke hervorschob. Jem stützte sich auf die Ellbogen. Auf dem Friedhof war es ruhig bis auf den Wind und das Tropfen des Regens von den nassen Blättern. Die Unruhe breitete sich langsam in Jem aus. Wie spät war es? Er hatte die Ausgangssperre überschritten, und seine Kraft war geschwunden. An den Toren des Friedhofs standen sicher Wachen, Soldaten schlenderten vielleicht betrunken auf dem Anger herum, nachdem sie den Trägen Tiger verlassen hatten. Jem dachte an all das, was Tor ihm erzählt hatte. Er hatte vorher keine Angst vor den Blauröcken gehabt, aber jetzt spürte er die Furcht. Er hörte Stimmen. Erneut preßte er sich gegen den Grabstein, ohne zu wissen, warum. Er umfaßte den moosigen Rand und tastete nach seinen Krücken. Ob die Wachen nachts auch über den Friedhof patrouil lierten? Die leichte Beunruhigung hatte sich in eine pochende Angst verwandelt. Eine Eule schrie weit weg, jenseits der Mauer, die den Wildwald abhielt. Die Stimmen kamen näher. Es waren keine Wachposten. »Ich kann nicht! Ich kann nicht! Oh, komm zurück!« »Fang nicht an, mit mir zu handeln. Du warst es, ich weiß es.« »Du bist verrückt. Ich weiß nicht, was du meinst.« »Bring mich dorthin. Bring mich sofort dorthin!« Die erste Stimme war die eines Mannes, die zweite die einer Frau. Beide waren leise und drängend, und in beiden lag ein Flehen. Aber das Flehen des Mannes, das war klar, drohte jeden Moment umzuschlagen. In etwas Gewalttätigeres. »Komm schon, Dolly.« »Laß mich los!« Jem drehte den Kopf und sah die beiden Gestalten, die zwischen den Grabsteinen auf den Spalt in der Mauer zugingen. Der Mann war in seinen Mantel gehüllt und hielt eine Laterne hoch. Er zog die widerstrebende Frau hinter sich her. In dem grellen Licht der La terne war ihre Gestalt gut zu sehen. Sie hatte blonde Haare und trug ein helles, rotes Kleid. Ihr Gesicht war vor Angst verzerrt. Sie ver suchte sich freizumachen. Die Gestalt in dem Mantel hielt sie fest.
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Sie schrie auf. »Halt den Mund, du Miststück!« Sie trat ihn. Er sprang sie an und ließ die Laterne fallen. Sie rollte ins Gras, und ihr Licht drehte sich zuckend in den Himmel. »Du stinkende, pockenzerfressene kleine Schlampe!« Sie hatte sich von ihm losgerissen und wollte vom Friedhof weglaufen, aber das konnte sie nicht. Sie war in eine Ecke gedrängt worden. Der Mann stand drohend vor ihr. Jetzt machte er einen Schritt auf sie zu. Er wurde unheimlich von der Laterne im Gras beleuchtet. Seine Pelzmütze war ihm vom Kopf gerutscht, aber es war gar nicht nötig, sein feuerrotes Haar zu sehen. Seine klagende, bösartige Stimme war unverwechselbar. »Komm schon, Dolly! Ich bezahle doch dafür, oder nicht?« »Das kannst du nicht. Das nicht.« »Nein? Da irrst du dich, Dolly. Ich kann haben, was ich will, und ich bekomme es so, wie ich es will. Ich dachte, das wüßtest du mitt lerweile, Dolly« »Bitte, laß mich los. Bitte, geh!« Sie hielt die Hände hoch und stolperte rückwärts auf die Eibe zu. Und zu dem Grabstein, auf dem Jem lag. »Ach, Dolly« Polty kicherte. Er spuckte auf seine Hand und hielt sie hoch. Die Finger zusammengepreßt. Er bewegte sie rasch hoch und runter und sah sie gierig an. »Wenn du mich nicht nimmst, dann muß ich dich wohl nehmen.« Angewidert rollte sich Jem vom Grabstein und lag schwer atmend in dem Unkraut daneben. Vorsichtig spähte er über den Rand. Die Frau in dem roten Kleid kam auf ihn zu. Es blähte sich auf. An den Füßen trug die Frau Lederschuhe in der Farbe des Kleides. Er umklammerte seine schweren Krücken. Es geschah ganz plötzlich: Der Absatz eines Schuhs glitt von einem Stein ab. »Mein Knöchel!« »Stinkende kleine Hexe. Dreckige kleine Vaga-Hure!« Polty stürzte sich auf sie. Sie kratzte und biß. Er schlug sie und
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zerriß ihr Kleid. Außer sich vor Wut warf er sie auf den Grabstein. Sie schrie, als er ihren Knöchel packte, ihn grob drehte und ihre Beine auseinanderpreßte. »Kleines Miststück, ich kriege dich.« Er riß seine Hose auf. Die Laterne flackerte noch einmal auf, bevor sie erlosch. In ihren Lichtblitzen sah man zuerst die Gestalt von Jem, der sich neben dem Grabstein auf die Knie erhob. Dann Polty, der zusammenbrach, und dann wieder Jem, der die beiden Krücken über dem Kopf schwang, ausholte und wieder zuschlug. Wieder und wieder. Dann war es finster. Der Körper rollte ins Gras. Jem sank nach vorn. »Cata?« Er hatte es gewußt. Nicht von Anfang an, aber am Ende hatte er es gewußt. »Ach, Cata, was hast du getan?« »Nein, Jem, was hast du getan!« Der Junge antwortete nicht. Ein sanfter Wind fuhr durch die Zweige der Eibe, und graue Wolken segelten vor dem Mond dahin. »Du hast ihn umgebracht, Jem.« Das Spanferkel war nur der Anfang gewesen. Ein kleiner Hinweis auf das, was noch kommen sollte. Dann kamen die Aale in Gelee. Dann die Rebhühner. Dann Reh in Cherrysoße. Dann der Fasan. Die Gans, die Ente, der Schwan. Und dann das saftige, blutige Filet vom Rind. Es war ein prächtigeres Bankett, als es sich Umbecca jemals hätte vorstellen können. Die besten Weine wurden zu jedem Gang kre denzt, nicht nur aus Varl, sondern auch aus Orandy und Lexion. Im mer wieder kamen Körbe mit heißen Brötchen auf den Tisch. Die Wachen hatten alles mit Eleganz und Finesse serviert! Das Dessert bestand aus einem enormen Apfelkuchen mit einer goldenen Kruste, einem hohen, dampfenden Plum-Pudding, der
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mit Brandy flambiert wurde und in Vanillesoße schwamm. Ein perfekt gebackener Käsekuchen, der mit den seltensten Früchten aus den Zenzanischen Wäldern und geschlagener Sahne verziert war. Sie spülten alles mit Unmengen von Kaffee herunter, begleitet von den besten und exotischsten Likören aus Tiralos. Platten mit bestem Käse aus Varby und Holluch standen bereit, um den eventuell ver bliebenen Appetit endgültig zu stillen. Erst als sie sich gesättigt zurücklehnte, noch eine Tasse ZaxosSchwarz trank und mit Schokolade überzogene Pfefferminztäfelchen aß, betrachtete Umbecca die Szenerie, die sie umgab. Sie strahlte vor Freude, ließ ihren Blick über die geschmückten gol denen Kerzenständer gleiten, die auf den Tischen standen, über das wunderschöne Arrangement von Blumen in der Mitte und die kleine Rosenblüte, die wie ein Geschenk vor ihrem Platz lag. Es war eine rote Rose. Umbecca sah sie an, blickte hoch und sah, daß eine Reihe von Spiegeln in einem Kreis um den Tisch herum aufgebaut worden war. Die Kerzenleuchter, die Blumen und die Gesichter ihrer Freunde spiegelten sich scheinbar endlos darin wi der. »Gut«, sagte der Kaplan lächelnd. Jetzt brachten die Wachen etwas anderes. Diesmal war es kein Essen. Es war auch kein weiterer Spiegel. Sondern eine merkwürdige Gestalt aus Holz mit einem glatten, runden Gesicht. Es war eine Kleiderpuppe, die auf Umbeccas Größe zugeschnitten war. Und diese Puppe trug ein weißes Kleid, das wunderbarste Arrangement von Spitze, Gaze und Bändern, das Umbecca jemals gesehen hatte. Es dämmerte ihr nur langsam, und selbst dann begriff sie nicht gleich die vollständige Wahrheit. »Aber Kaplan ...«, hauchte sie ergriffen. Doch es war der Kommandeur, der von seinem Stuhl aufstand, auf den Boden sank und ihre Hände nahm. »Teure, liebe Lady! Was ist das? Überraschung? Ach, die Sittsamkeit der tugendsamen Frau! Aber wie könnte ich Euch nicht von Anfang an geliebt haben? Wie könnte ich Euch nicht lieben, wo Ihr doch, leugnet es nicht, ›Miss R...‹ seid!« Er zog sie in die Arme, und die entsetzte Umbecca konnte nur
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über die Schulter des Mannes blicken. Sie sah in einem Spiegel die Reflexion eines Gesichts. Es war das des Kaplans, und um seinen Mund lag ein rätselhaftes Lächeln. Cata schüttelte die Hurenschuhe ab. »Mein Knöchel!« Er schwoll schon an. Jem sah sie in dem gedämpften Mondlicht an. »Warum, Cata?« fragte er leise. Sie wußte, was er meinte, und senkte traurig den Blick, während sie sich die schreckliche Farbe vom Gesicht rieb. »Es sind die Abgaben. Sie wollten Papa holen! Ich hatte kein Gold außer der Münze des Harlekins - ich mußte etwas unternehmen, Jem!« »Ach, Cata!« Jem ballte die Hand zur Faust und drückte sich die Knöchel fest zwischen die Augen. Ihn erfüllten Gefühle, die er kaum verstand. Eifersucht, Neid und ein merkwürdiges Staunen durchströmten ihn in Wellen - und dann ein entsetztes Mitleid. Wie hätte er das ahnen sollen? Wie hätte er das wissen können? »Ich konnte es dir nicht erzählen, Jem.« Sie deutete auf den Körper auf dem Boden. »An diesem Tag im Kreis des Wissens. Er wußte, daß ich es war. Er sagte, ich müßte ihn dorthin mitnehmen.« Das Mädchen erschauderte. Sie war den Trä nen nahe. »Er hätte es zerstört. Aber jetzt haben wir es zerstört.« »Cata, was meinst du?« Schwere Schritte ertönten auf dem Schlackeweg. »Heda!« rief je mand. Ein anderer: »Wer ist da?« Jem packte Cata, und sie umklammerte Jem. Einige Augenblicke schienen sie zu schweben, außerhalb der Zeit zu sein, und sie ver gaßen das stetige Tröpfeln von den Blättern, den Wind und den Zug der Wolken vor dem schwachen Mond. Dann war die Zeit wieder da. »Sie kommen«, sagte Jem atemlos. »Sie werden uns umbringen«, meinte Cata. »Schaffen wir es durch den Spalt?«
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Sie packte Jems Hand, aber diesmal stimmte etwas nicht. Sie konnte nicht stehen - und er auch nicht. »Cata, stütz dich auf mich«, bat er sie verzweifelt. Aber nein. Ein scharfes Splittern ertönte, und der Junge schrie laut auf, als die Krücken unter ihm zerbrachen. Panisch blickte er sich um. Er sah das Blut, das aus Poltys Kopf floß, die Laternen, die näher kamen und hin und her pendelten und durch das Gewirr der Blätter und Zweige leuchteten. Dann sagte Cata: »Ich weiß einen Weg. Schnell. Geh von dem Grabstein runter.« Cata tastete das Gras und den Rand des Grabsteins ihrer Mutter ab. Sie schubste Jem beinahe beiseite, so daß er panisch dalag, schwach in seiner Verzweiflung. Eine Eibenwurzel piekste ihn schmerzhaft in den Bauch. »Cata! Ich verstehe dich nicht! Was machst du da?« Der Mechanismus war alt, mit Moos und Unkraut bewachsen, aber er funktionierte. Jem schnappte nach Luft. Lautlos klappte der Grabstein hoch wie der Deckel einer JarvelDose. Auf der anderen Seite des Friedhofs leuchtete eine Laterne. Die Wachen inspizierten jede dunkle Ecke und hatten schon den Norden, Osten und Westen kontrolliert. Sie drehten sich um und kamen auf sie zu. Nur die Rücksichtslosigkeit ihrer Liebe konnte Cata in diesem Moment befähigen, sich auf ihren verletzten Knöchel zu stützen. Sie hob Jem vom Boden auf. Einen Augenblick standen sie eng anein andergeklammert da, schwankten und drohten zu fallen. Als das Mondlicht sich in Catas Augen fing, sah Jem, daß sie weinte. »Ich liebe dich, Cata«, stieß er hervor. »Wir haben alles zerstört, Jem. Jemand muß dafür bezahlen. Das hat uns der Waldtiger sagen wollen. Die schwarzen Streifen, die gol denen Streifen. Du verstehst das doch, oder? Jem?« Er verstand es nicht. Doch dann wurde es ihm schlagartig klar. »Nein!« flüsterte er entsetzt, aber er hatte keine Angst vor dem dunklen Grab.
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Es war die Trennung. Das Opfer. Und dann war alles vorbei. Alle Kraft wich von ihr, und sie glitt langsam zu Boden. Doch erst, nachdem sie Jem in den Abgrund gestoßen hatte und den Mechanismus betätigte, der den Deckel schloß. »Cata!« Es war kein Flüstern, sondern ein Schrei. Aber es war zu spät. Genauso schnell, wie der Deckel sich geöffnet hatte, schloß er sich auch über Jem. Als einen Augenblick später das Licht der Laterne auf sie fiel, hockte Cata auf dem Grabstein ihrer Mutter. Ein schluchzendes Vaga-Kind in einem zerrissenen roten Kleid. »Beim Herrn Agonis!« rief einer der Männer. »Seht nur!« Sie war so winzig. So klein. Doch was hatte sie getan?
35. Die schwarzen Blüten Erst kam das Vergessen und dann etwas anderes. Jem lag in völliger Dunkelheit da und fühlte zuerst weder Trauer noch Schmerz. Die Dunkelheit um ihn herum erstickte jedes Ge fühl. Hier schienen selbst die rohesten Empfindungen von ihm genommen zu sein. Wie tief war er gefallen? War er verletzt? Falls Jem sich eine Rippe gebrochen hatte, merkte er es nicht. Wenn er sich den Arm verletzt hatte, fühlte er es nicht. Er würde nicht einmal spüren, wenn er sich mit einem Messer das Herz herausschneiden würde. Cata war fort, und auch das fühlte er nicht. Es dauerte lange, bis Jem den Schmerz wahrnahm und seine mißliche Lage erkannte. Was hatte Cata getan? Sie hatte sich geopfert, sich für Poltys Tod hingegeben. Sie würde am Galgen des Dorfangers sterben. Und sie hatte Jem hier zurückgelassen, wo er in der Finsternis ei-
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nes langsamen und schrecklichen Todes starb. Sie hatte ihn an einen Ort gebracht, wo man ihn niemals finden würde. »Warum, Cata?« Jetzt schluchzte Jem. Warum hatten sie nicht wenigstens zusammen sterben dürfen? Erst nach langer Zeit fing Jem an, sich über den Platz Gedanken zu machen, an dem er sich befand. Er lag weder auf einem harten Stein, wie er es vielleicht erwartet hätte, noch auf modernden Kno chen, wie er gefürchtet hatte. Der Boden des Grabes war weich. War es Stroh? Nein. Ein merkwürdiger, starker Duft herrschte hier, in dieser totalen Finsternis. War das der Duft des Todes? Kaum hatte Jem ihn wahr genommen, da wurde er auch schon intensiver. Er stieg ihm in die Nase, intensiv und seltsam, aber auch irgendwie vertraut, und ver drängte jede andere Wahrnehmung. Dann wußte Jem es. Er strich über den weichen Boden, streckte den Arm aus und berührte einen Teppich von winzigen Zungen. Der Boden war mit Blumen bedeckt, mit vielblättrigen Blüten, die aus dem Efeu wuchsen, der sich hier entlangwand. Aber wie konnten hier unten Blu men wachsen, hier, an einem Ort, an dem kein Sonne schien, an dem es vollkommen dunkel war? Zögernd kroch Jem weiter und ertastete die Grenzen dieses neuen Terrains. Bis jetzt hatte er die Augen geschlossen, als wäre es ihm lieber, die Dunkelheit hinter seinen Lidern zu sehen als die Schwärze der Umgebung. Jetzt jedoch öffnete er sie, als wartete er darauf, die Sichel des Mondes zu erkennen, die vielleicht durch einen Spalt im Grabstein schien, damit er einen kurzen Blick auf die Blu men werfen konnte. Aber es gab keinen Spalt. Und auch kein Mondlicht. Aber es gab ein anderes Leuchten. Es war nicht hell und auch nicht glühend, kein feuriger Strahl. Zu erst konnte er es kaum sehen. Es war ein schwaches purpurschwarzes Glühen, das so dunkel war, daß Jem nicht einmal genau sagen konnte, woher es kam.
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Es verblaßte. Es verschwand. Vielleicht spielte ihm seine Wahrnehmung ja auch nur einen Streich. Jem glaubte, daß das Licht weit weg gewesen war, wie das Flackern einer weit entfernten Aura. Das war in einem winzigen Grab natürlich unmöglich, aber der Junge hatte bereits gespürt, daß dieses schwarze Gefängnis nicht so klein war, wie es zunächst schei nen mochte. Das Licht flackerte wieder auf, und diesmal dauerte das Glühen etwas länger an. Diesmal war es ein schwaches, pulsierendes Leuchten, durch das Jem sehen konnte, wo er eigentlich hineingefallen war. Er lag nicht in einem engen, hohen Schacht, sondern am Ende eines breiten, niedrigen Tunnels. Der Tunnel war von Blumen gesäumt, und diese Blumen waren schwarz. Dunkel, purpurschwarz, genau wie das merkwürdig glühende Licht. Die Quelle des Leuchtens konnte er noch nicht erkennen. Er wußte nur, daß er sich darauf zubewegen mußte. In dem merkwür digen Licht begann der verkrüppelte Junge über den Boden mit den schwarzen Blumen zu kriechen, getrieben von einer Kraft, die er nicht verstand. Schwach erinnerte er sich an ein Gespräch mit seiner Tante. Es war schon lange her, stammte aus einem anderen Leben. Sie hatte über Kreuztunnel gesprochen, Tunnel, die vor langer Zeit unter den frühesten Tempeln des Agonis gebaut worden waren. Die Frage, ob es einen Tunnel unter dem Tempel von Irion geben könnte, hatte sie verneint. Aber sie hatte sich geirrt. Diese Kreuztunnel waren angelegt worden, um sicherzugehen, daß kein Teil des geheiligten Bodens des Tempels oder der Erde, in der die Toten liegen sollten, von der geheiligten Ölung ausgenommen blieb, das wußte Jem. Von einem zentralen Punkt unter dem Altar erstreckten sich von dem erweiterten Keller fünf Stollen in jede Ecke des Friedhofs. Später hielt man diese Kreuztunnel für Aberglauben, und man baute keine mehr. Und die, die gebaut worden wa ren, wurden gewöhnlich versiegelt. Und oft wurden sie vergessen.
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Hatte Cata das gewußt? Sie mußte es gewußt haben! Jem krabbelte weiter, und je weiter er kam, desto stärker wurde das purpurne Licht. Aber auf eine seltsame Art. Es strahlte nicht heller, sondern intensiver. Wie Flammen flackerte es in der duftenden Luft. Es strahlte und schimmerte auf den schwarzen Blütenblättern, wurde stärker und blieb doch die ganze Zeit ein Licht, das schwarz brannte. Noch immer konnte Jem die Quelle nicht ausmachen, aber der Ort, auf den er zukroch, von dem das Leuchten ausging, war der Knotenpunkt der fünf Arme des Kreuzes. Je näher er kam, desto wuchernder wurde auch die Vegetation an den Tunnelwänden. Schwarze Ranken und Efeu wuchsen bis zum Boden, und Blütenblätter regneten auf ihn herab, als er sich hindurchdrängte. Der Efeu mit den schwarzen Blüten schien von diesem zentralen Punkt aus zu wachsen. Dieser Mittelpunkt war eine fünfeckige Kammer, und vor lauter Ranken sah Jem zunächst nicht, daß die Decke der Kammer am Ende höher wurde. Und er bemerkte auch nicht, daß er sich stetig aus seiner liegenden Position erhob. Er kroch nicht mehr. Als Jem die Mitte der Kammer erreicht hatte, stand er. Langsam drehte er sich um. Es war eindeutig kein Traum. Zwar fühlte er sich merkwürdig, aber er war wach und bei vollem Bewußtsein. Er stand in einem Tunnel, dessen fünf Arme von ihm wegführten. In der zentralen Kammer verdeckte üppige Vegetation fast vollständig die Treppe, die einmal vom Tempel hier herabgeführt hatte. Dort kam er nicht heraus, aber daran dachte Jem auch gar nicht. Staunend blieb er in dem Mittelpunkt des merkwürdigen Lichts stehen und drehte sich langsam um sich selbst. Erst nach einigen Augenblicken realisierte er, daß er selbst hier die Quelle dieses selt samen Leuchtens nicht ausmachen konnte. Er stand mittendrin, und das dunkle Glühen umhüllte ihn, wie eine Aura aus Nebel. Es schien direkt aus der Luft zu kommen. Oder von ihm selbst. Jem sah auf seine Beine und Füße, die jetzt wunderbarerweise seinen Körper trugen. Er stand auf einem kleinen Hügel. Und als er
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sich herumdrehte, hatte er mit den Füßen die Blüten zertreten, die hier auf dem Hügel genauso wuchsen wie überall sonst. Es war die große Hauptwurzel des Efeus. Sie gehörten alle zu der selben Pflanze, deren Ursprung hier an dieser Stelle lag. Jem ver folgte das Wirrwarr der Wurzeln, die unglaublich dick und fest wirkten, und sah, daß sie aus der Erde unterhalb des Tunnelbodens kamen. Dann sah er den Felsbrocken. In dem pupurschwarzen Licht war er in dem Gewirr der Wurzeln kaum zu erkennen. Und es gab keinen Grund, warum Jem bei sei nem Anblick in Aufregung geraten sollte. Er war eigentlich das am wenigsten Aufregende in diesem Gewölbe - ein harter, häßlicher Brocken aus zusammengepreßtem schwarzem Lehm, der in den un erbittlichen, merkwürdigen Wurzeln gefangen schien, die sich ihren Weg von unten gebahnt hatten. Der Brocken hatte ungefähr die Größe einer Männerfaust, vielleicht war er sogar noch etwas kleiner. Er funkelte nicht und er glänzte nicht. Jems Herz schlug plötzlich sehr, sehr langsam. Er ließ sich auf die Knie sinken. Selbst für einen ausgewachsenen Mann wäre es ein unmögliches Unterfangen gewesen, diesen Brocken aus seinem Wurzelgefängnis zu befreien. Also war es eigentlich unvernünftig, es überhaupt zu versuchen, aber Jem wurde von einem Drang getrieben, der stärker war als Vernunft. Er umklammerte die Wurzeln und zog. Keine Chance. Sie schienen aus Eisen zu sein. Er versuchte es noch einmal. Es wurde wieder dunkel, als das purpurschwarze Licht um ihn herum erlosch. Aber Jem spürte keine Furcht. Es gab nichts zu fürchten. Bis jetzt war alles eine Illusion gewesen, das spürte er. Und dann wurde es wirklich hell. Der Brocken begann merkwürdig zu glühen, wie vorher die Luft. Zuerst in demselben gedämpften Fluoreszieren und dann mit derselben schwarzen Intensität. Jem beobachtete es fasziniert. Und obwohl er nicht verstand, was da geschah, wußte er doch, daß sein ganzes Leben ihn zu diesem
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Moment geführt hatte. Er wußte, daß sich jetzt sein Schicksal er füllte, ohne jedoch sagen zu können, was dieses Schicksal war und was es bedeutete. Es war ein Segen, der ihn vor Freude jauchzen ließ; und gleichzeitig eine Bürde, die ihn unter Tränen zusammenbrechen ließ. Bedauern und eine ungeheure Erleichterung durchströmten ihn. Dann teilten sich die dicken Wurzeln unter Jems Händen, als er nach dem Stein griff. Nein. Es war kein Stein. Es war der Kristall! Jetzt verstand Jem. Jetzt wußte er. UND DAS KIND WIRD ZUERST
DEN KRISTALL DER FINSTERNIS FINDEN
DER IN DEN HIMMEL GESCHLEUDERT WURDE
VOM GÖTTERVATER
UND ER WIRD DURCH DIE
LÄNDER DES EL-OROK ZIEHEN
UM DIE KRISTALLE VON ERDE, FEUER, WASSER
UND LUFT ZU SUCHEN
AUF DASS ER SIE IM OROKON VEREINE
Jem schrie auf, zuerst vor Freude und dann vor Schmerz, und schließlich mischte sich beides in seinem Schrei. Die glühende Schwärze des Kristalls versengte seine Hände. Er riß ihn aus seinem Käfig und streckte ihn hoch in die Luft, während er aufstand. Seine Kleidung fiel von ihm ab, verglüht in der schwarzen Hitze. Sein Mantel, sein Hemd und seine Hose zerfielen zu Asche. Er war nackt, und seine Haut war schwarz. Heiße Tränen strömten ihm über das Gesicht, und er nahm in seiner Ekstase kaum wahr, daß um ihn herum, in jedem der fünf Tunnel, ebenfalls alles in Auflösung be griffen war. Die Efeuranken vertrockneten, als würden sie von Flammen verzehrt, zerfielen zuerst zu Asche und dann zu einem feinen Pulver. Dann gab es nichts mehr. Nur noch den Kristall!
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FALLS ER ERFOLG HAT,
WIRD EIN NEUES ZEITALTER ANBRECHEN
UND DAS GANZE LAND VON EL-OROK
WIRD IN FRIEDEN LEBEN
SCHEITERT ER JEDOCH,
WIRD DAS ENTSETZEN DER VERGANGENHEIT
NICHTS SEIN IM VERGLEICH ZU DEM SCHRECKEN,
DER KOMMEN WIRD
Die Hitze, die keine Hitze war, wurde immer heißer, und das Licht, das keines war, wurde immer heller. Und der Kristall erhob sich im mer höher und höher. Jetzt war Jem vollkommen ausgestreckt, im nächsten Augenblick trug ihn der Kristall höher, und die ganze Welt bestand nur noch aus einem purpurschwarzen Licht. Bilder, Visionen und Träume blitzten auf und fegten in heftigen, explosionsartigen Wellen durch den Tunnel. Es war, als würden sich Tausende und Abertausende von Blitzen in einer Welt entladen, die kein Licht kannte.
Drehen, drehen. Das Gesicht des Mondes war ungeheuer nah, und sein goldenes Licht schmerzte. Es war so hell, als wollte es die Erde versengen. Es war sogar heller als die Sonne. Aber eine Seite war schwarz. Der Osten? Der Westen? Der Mond drehte sich durch den Himmel wie ein Rad, und die unscharfe Linie zwischen Hell und Dunkel drehte sich ganz langsam. Die Wolkenvorhänge darunter hatten sich geteilt, und in der samtigen Finsternis drehte sich auch die Gestalt im Himmel. Jetzt konnte sie hinun terblicken in die Helligkeit des Blitzes, die allmählich abnahm. Und die langsam schwarz wurde. Er drehte sich und drehte sich.
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Jem öffnete die Augen. Es war alles ein Traum gewesen. Der Friedhof war fort und auch der Tunnel. Es gab kein Efeu und keine purpurschwarzen Blüten. Und keinen Kristall. Cata war im Wildwald, und am Grab ihrer Mutter lag kein toter Poltiss Veeldrop. Jem war in der Burg, und seine Beine waren verkrüppelt. Sie würden immer verkrüppelt sein. Waren sie denn jemals anders gewesen? Er hatte es geglaubt, aber jetzt kam es ihm wie eine bloße Illusion vor, zum Leben erweckt nur durch die Intensität seines Wunsches. Er hob den Kopf und sah die Umrisse der Beine, die verkrüppelt unter der Decke lagen. Die Gegenstände im Alkoven umringten ihn gleichgültig, grau und glanzlos in dem matten Licht. Regentropfen liefen an dem hohen, schmalen Fenster herunter. Vom Hof drangen Geklapper und Stimmengewirr in sein Zimmer. Es mußt schon spät am Morgen sein. Genaugenommen war er schon längst vorbei. Jem sank zurück. Er lag nackt zwischen den Laken, und ihm war kalt. Im Kamin des Alkovens brannte kein Feuer. »Meister Jem! Seid ihr noch im Bett?« Der Vorhang wurde zurückgeschlagen. »Nirry!« Er hatte sie erst gestern gesehen, doch plötzlich kam ihm ihr Anblick merkwürdig vor. Er sah sie an und merkte, daß sie ihn verwirrt und entsetzt musterte. »Nun seht Euch nur an! Ihr schlaft bis in den hellichten Nachmittag! Und Ihr seid so schmutzig! Seht nur Euer Gesicht an! Ich sage Euch etwas, Meister Jem. Sie wird es Euch nicht durchgehen lassen! Sie war gestern abend noch spät aus und hat bei Euch vor beigesehen. Und Ihr wart nicht da! Wenn nicht soviel passiert wäre, würde sie bestimmt von nichts anderem reden, das kann ich Euch sa gen!« Die Magd räumte neben Jems Bett auf, hob die Strümpfe vom Boden auf, das zerknitterte Wams und ein steifes, schmutziges Halstuch. Es stank entsetzlich im Alkoven. »Passiert?« Jem rieb sich die Augen. »Was ist denn passiert?« »Also wirklich, Meister Jem! Ihr müßt es doch gehört haben,
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ganz gleich, wo Ihr gewesen seid! Sie haben den Tempel in die Luft gesprengt! Sie behaupten, es wäre Vaga-Magie!« Nirry sah ihn viel sagend an. »Zappelphilipp, mein ganz besonderer Freund, meinte, heute würden sich bestimmt eine Menge Menschen auf dem Anger versammeln!« Jem schwirrte der Kopf. »Menschenmenge?« brachte er nur her aus und sah Nirry verständnislos an. »Die Vagas, Meister Jem!« Nirry tat, als lege man ihr eine Schlinge um den Hals, und streckte die Zunge heraus. Dann wurde sie wie der »lebendig«. »Diese Vagas bekommen jetzt endlich, was sie ver dienen. Erinnert Ihr Euch noch daran, was Sie Euch im Wald angetan haben? Diesmal steht das ganze Dorf unter Waffen! Zappelphi lipp meint, sie treiben ihre Anführer zusammen. Jetzt kommt, Mei ster Jem, Ihr müßt aufstehen. Ihr habt ja ganz schön Glück gehabt. Es ist auch so schon schlimm genug. Sie weiß es, junger Herr!« »Sie weiß es?« Jem rappelte sich auf. »Nirry, was weiß sie?« Die Magd wich zurück. »Das wißt Ihr doch!« »Nein, ich weiß es nicht!« Nirry umfaßte den Vorhang und sah den Jungen mit einer Mi schung aus Zuneigung und Empörung an. Sie biß sich auf die Lip pen, lief rot an und stieß dann hervor: »Sie hat Eure Laken gesehen, junger Herr Jem!« Jem lachte unvermittelt laut auf, und sein Gelächter verfolgte Nirry, die über den Flur davonlief. Es machte ihr angst. Das Gelächter verstummte, und Jem ließ sich zurücksinken. Konnte es wahr sein, daß heute Hinrichtungen auf dem Anger stattfanden? Sein Kopf schmerzte, und er fühlte sich so schwach! Er ließ einen Arm über den Bettrand sinken und tastete wie gewohnt nach den Krücken. Seine Hand glitt über den Boden, und er rollte sich auf die Seite, halb aus dem Bett. In dem Moment löste sich etwas aus seinem Haar und fiel auf den Teppich. Jem hob es auf. Es war eine schwarze Blüte. Der Alkoven schien sich plötzlich zu verbiegen, die Blüte flackerte und war verschwunden.
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Jem hätte beinahe aufgeschrien. Er drehte seine Hände um. Zwar spürte er keine Schmerzen, aber er sah, daß seine Handflächen tief gezeichnet waren, mit Narben übersät, als hätte er einen brennenden Stern umfaßt. Er warf die Decken vom Bett, und sein Herz klopfte heftig. Wie konnte das sein? Seine Beine waren immer noch verkrüppelt. Alles hatte sich verändert und war doch beim alten geblieben. Er schluchzte auf, laut und bitter. Im Flur herrschte Aufruhr. »Bitte, Mädchen! Ich muß zu Eurer Herrin, ich muß sie sehen!« »Das geht nicht! Oh, wie seid ihr nur hier hereingekommen? Bitte, geht!« Die zweite Stimme gehörte Nirry, und die erste war die eines Mannes. Sie war ehrwürdig und zittrig, aber ihr Besitzer wurde offensichtlich von einer gewissen Kraft getrieben. Es war die Kraft der Verzweiflung. Nirry versuchte ihn mit allen Mitteln aufzuhalten, während er zur Tür von Elas Wohnung ging. Wer konnte das sein? Dann wußte Jem es. Sein Erstaunen war so stark, daß er beinahe vergessen hätte, was vor einigen Momenten passiert war. Er schlug gegen den Rand sei nes Bettes. Wenn er doch seine Krücken hätte! Er wollte dieses Zusammentreffen genauso dringend sehen, wie die Magd es verhindern wollte. Er mußte es sehen. Er mußte es wissen. Er rollte sich auf die Seite und sah sich um. Auf dem Flur hörte er die dröhnende Stimme seiner Tante, die wissen wollte, wer sie da störte. Verzweifelt musterte er die Gegenstände im Alkoven. Das ausge stopfte Schwein, stockig und zerschlisssen, das die ganzen Geschehnisse unbeeindruckt verfolgt hatte, die verbeulten Trinkbecher, die Kerzenleuchter und das Bild der Fahlen Landstraße. Auf dem nied rigen Kaminsims stand die Jarvel-Dose an derselben Stelle wie im
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mer, da, wo Barnabas sie hingestellt hatte. Aber irgend etwas war anders. Jem sah, daß sie ein wenig verrückt worden war. Als hätte man sie heruntergenommen und zurückgestellt. Der verkrüppelte Junge ließ sich aus dem Bett auf den Boden fal len und kroch zu dem leeren, kalten Kamin. Mit zitternden Händen nahm er die Dose herunter und sah beinahe gleichgültig auf den verzierten Deckel. Ja. Hatte er es doch gewußt. Er tastete nach dem versteckten Mechanismus. In der Dose lag schimmernd der Kristall, und sein merkwürdiges, dunkles Licht pulsierte. Jem nahm das geheimnisvolle Objekt her aus und stellt fest, daß das Licht seine Arme hinauf - und seinen Körper hinunterlief. Es umgab ihn mit einer purpurnen Aura. Langsam erhob sich Jem vom Boden und schwebte schwerelos an die Decke. Er schwebte aus dem Alkoven. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter stand weit offen. Jem wurde von der purpurschwarzen Aura vor Entdeckung geschützt und blickte, beinahe wie ein Geist aus dem Reich des Nichtseins, auf die Szene, die sich vor ihm abspielte. Aber er konnte nur zusehen.
Umbecca hatte am Kamin gesessen und an einem Schal gestrickt, als der Aufruhr ausgebrochen war. Sie trug ein einfaches, blaues Kleid. Und sie war glücklich. Schon bald würde ihre Kutsche ankommen und sie noch vor den Hinrichtungen in die Sakristei bringen. Bis da hin hielten Pflaumenkuchen und Butterbrötchen Leib und Seele zu sammen. Zuvor hatte Umbecca sich noch Sorgen gemacht, sich gequält. Es war nicht die Explosion des Tempels, die sie beunruhigte. Für Umbecca war das eher ein Hintergrundrauschen in dem Tumult ihrer ei-
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genen Gefühle gewesen. Wie Meroline nach dem Antrag des zusam mengebrochenen Generals Etzcombe hatte Umbecca diesen Morgen in einer Agonie der Unentschlossenheit verbracht. Der Antrag des Kommandeurs hatte sie schockiert. Sie konnte nicht abstreiten, daß es sogar ein entsetzlicher Schock gewesen war. Aber allmählich hatte Umbeccas Entsetzen nachgelassen. Natürlich war sie ent täuscht. Das war nur verständlich. Und sie konnte dem Kaplan auch nicht vergeben, daß er mit ihrer Tugend gespielt hatte, was er ganz eindeutig getan hatte. Aber sie war eine starke Frau. Sie hatte schon viele Enttäuschungen überwunden. Außerdem hatte sie, anders als Meroline, angefangen, die Vorteile dieses Antrags zu sehen. Eines vor allem war glaskar: An diesem Nachmittag würde sie ihrem Zukünftigen ihr Herz ausschütten und mit ihm über ein höchst intimes und persönliches Thema reden. Unter Tränen würde sie Olivan darüber informieren, daß sie sich nicht länger imstande fühlte, sich um ihre arme Nichte zu kümmern. Von nun an mußte Ela einer Pflege übergeben werden, die konstanter und sicherer war: Olivan mußte das arrangieren. Umbecca seufzte. Sie war froh, daß sie diese Entscheidung getroffen hatte. Ja! Sie würde endlich frei sein! In einer Aufwallung von Dankbarkeit murmelte sie einen Satz aus der Litanei: Herr Agonis, morgen werde ich dir treuer dienen. Ja, sie würde ihm dienen! Sie würde ihm jetzt dienen, wie ihm noch keiner je gedient hatte! Als Gattin des Kommandeurs, mit ordentlichen Bediensteten und ohne die Einschränkungen, die Ela ihr auferlegte, standen Umbecca ungeahnte Möglichkeiten offen, ihren wohlwollenden Einfluß in der Welt geltend zu machen. Bisher waren ihre Tugenden versteckt gewesen, doch nun würden sie triumphieren! Sie sah sich um. Seit der Kaplan gekommen war, hatte sich Elas Wohnung erheblich verbessert. Der neue blaue Teppich und die pas senden blauen Vorhänge waren ein Segen, das war klar. Aber es gab noch so vieles, was getan werden mußte! Nun, es würde nicht mehr dazu kommen, jedenfalls nicht in dieser Wohnung. Sie würde bald leer sein und dann aufgegeben werden. Vielleicht würde man sie den Soldaten zur Verfügung stellen. Alle Spuren von Umbeccas langem Leben waren dann spurlos verschwunden. Einen Augenblick fühlte
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sie sich verloren. Sie blickte auf das Fenster, den Wandteppich, auf das Bett, in dem Ela ahnungslos lag. Dann kehrte Umbeccas Fröhlichkeit wieder zurück. Es war die Fröhlichkeit eines Triumphators. Sie dachte daran, wie Ela Tag für Tag in diesem Bett gelegen hatte, sie dachte an die vielen Tage ihres Lebens, die sie für die Pflege die ser undankbaren, verrückten Hure verschwendet hatte. Das war vorbei! Es war endgültig vorbei! »Wie kommt dieser Mann hier herein?« »Bitte, Herrin, er ist einfach hereingekommen! Er ist einfach hier aufgetaucht!« »Vermutlich Vaga-Magie! Du böser Mensch!« »Umbecca, hör mich an. Bitte, hör mich an!« Im Bruchteil eines Momentes verwandelte sich Umbeccas Fröhlichkeit in Wut. Sie warf ihr Strickzeug achtlos zu Boden. Mit gerötetem Gesicht sprang sie vom Sofa hoch und baute sich vor Silas Wolveron auf. Diese Begegnung hatte etwas Schockierendes, als würden zwei Welten miteinander konfrontiert, die getrennt bleiben mußten und die jetzt urplötzlich mit Gewalt zusammenprallten. In seinen Umhängen, mit der Kapuze und dem Schal hätte der alte Mann eine Gestalt aus der Zeit der Unschuld sein können, der bizar rerweise in eine Zeit eingedrungen war, die nicht die seine war, und an einen Ort gekommen war, an dem er nichts zu suchen hatte. Ela rührte sich auf ihrem Bett. Und der Regen prasselte aus dem öden, grauen Himmel an die Fensterscheiben. »Bitte, Herr, wollt Ihr nicht gehen?« Nirry zupfte an dem Ärmel des alten Mannes. »Es geht um meine Tochter!« brach es aus Silas heraus. »Sie ist verhaftet worden!« »Verhaftet?« Umbecca stand neben dem Kamin und verzog keine Miene. »Zweifellos als Vaga-Hure. Dieses Mädchen ist eine Beleidi gung für alle anständigen, ehrbaren Menschen. Silas, woher du die Unverfrorenheit nimmst hierherzukommen, werde ich nie verste hen.«
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»Ich komme, um dich zu beschwichtigen, Umbecca. Ich komme mit einem Angebot.« »Einem Angebot? Beschwichtigen? Wie solltest du mich jemals beschwichtigen können, Silas Wolveron? Nach all dem, was passiert ist. Nach all dem, was du getan hast. Und kommst dann zu mir!« Umbecca sprach leise und schnell. Ihre Worte waren nicht laut oder schrill, aber sie waren erstickt von der Bitterkeit, die in ihr wie Galle hochquoll. Dieser böse Mann! Wie hatte sie sich in ihm getäuscht! Was war das für eine Welt, in der diejenigen, die tugend sam schienen, sich als die Inkarnation des Bösen entpuppten! Sie tastete nach ihrem glitzernden Kreis des Agonis und umklammerte ihn, während sie mit ihrer vernichtenden Kritik fortfuhr. »Du korrupter, verdorbener Mann! Die Tugend dieses Dorfes lag in deiner Obhut! Wie viele andere sind gestrauchelt, als du gefallen bist? Wäre meine geliebte Nichte eine Hure geworden, wenn du nicht Yane verdorben hättest? Wäre mein teurer Neffe Torvester zum Verräter geworden? Silas, es ist unsere Pflicht, unsere Natur zu beherrschen. Hast du mich das nicht gelehrt, als du in den Tempel gekommen bist? Ich habe dir vertraut! Ich habe an dich geglaubt! Ich dachte, in dir würde mein Glaube sein Spiegelbild finden. Ahnst du, was du den Dorfbewohnern angetan hast? Oder mir? Ach, Silas, daß du so tief, so schrecklich fallen mußtest! Glaube und Vertrauen sind wie Spreu im Winde verweht! Pflichten und Schwüre hast du verächtlich beiseite geschoben!« »Umbecca, Umbecca, du blinde, dumme Frau!« »Blind? Du nennst mich blind?« »Weil du nichts siehst. Umbecca, du bist jünger als ich, aber du wirst allmählich alt. Hast du in all diesen Jahren nicht gelernt, daß es Verpflichtungen gibt, die höher stehen als die dieser Welt, als ihre Konventionen, ihre Institutionen? Das ist die Spreu! Ich habe mich selbst belogen, als ich Lektor von Irion war! Yane war meine Bestimmung!« »Bestimmung? Du warst ein Mitglied des Ordens. Du nennst es Bestimmung, ein junges Mädchen zu verführen?« »Arme Umbecca! Du wirst es nie verstehen. Yane und ich haben uns keiner sündigen Leidenschaft schuldig gemacht. Zwar hat kein
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Tempel unsere Vereinigung sanktioniert, aber von allen Ehen, die in diesem Tal geschlossen wurden, war unsere eine der wenigen wah ren. Wir haben im Wildwald geheiratet, in einer Laube mit weißen Blüten. Es ist ein Ort, der geheiligter ist als der Tempel von Irion, und es ist der Ort, an dem mein Schatz ruht, auch wenn ihr Grab stein sich woanders befindet.« Doch Umbecca schien nicht mehr zuzuhören. »Geh weg, Silas! Du ermüdest mich und widerst mich an. Erspare mir diese Aufzählung deiner sündigen Taten.« Sie schüttelte sich und drehte sich zum Kamin um. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich dir meine intimsten Geheimnisse anvertraut habe! Und wenn ich daran denke, wie oft ich mit dir ganz allein gewesen bin!« Der alte Mann mußte sich ein Lachen verkneifen. »Oh, du warst vollkommen sicher, Umbecca! Es hat mich nie nach dir gelüstet!« Darauf schwieg Umbecca, stand am Kamin und rang die Hände. Als sie sich schließlich umdrehte, waren ihr Gesicht und ihr Hals so blutunterlaufen, daß man fürchten mußte, sie würde gleich platzen. »Nirry«, sagte sie verblüffend ruhig, »hol die Wachen.« »Nein, Nirry, du bleibst.« Steif und langsam, aber nicht so langsam, wie man es von der In validen hätte erwarten können, erhob sich Ela von ihrem Bett. Sie war leichenblaß. »Ela!« flüsterte Umbecca heiser. Ihre kleinen Augen funkelten. Aber die fette Frau war eher wütend als erstaunt, als hätte sie jemand beleidigt. Ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt. Diese neue Ver rücktheit war fast zuviel. Wieso konnte ihre Nichte aufstehen? Elas Rolle sah vor, daß sie passiv in ihrem Bett lag, nichts sagte und nichts tat. Und bald würde sie nicht einmal mehr diese Rolle ausfüllen können. Olivan würde sie bestrafen, so bestrafen, wie sie es verdiente. Umbecca rang um ihre Fassung und war einen Augenblick sprachlos. »Alter, Ihr sagt, Ihr wolltet meiner Tante ein Angebot machen«, meint Ela. »Sagt uns, was es ist. Sagt uns, warum Ihr gekommen seid!« Wolveron drehte sich zu ihr um. Seine Kapuze war bei seinem dramatischen Auftritt verrutscht, und als er sich jetzt umdrehte, glitt
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sie von seinem Kopf und entblößte seine grauenvollen Verletzun gen. Einen Moment schloß Ela gepeinigt die Augen. Dann öffnete sie sie wieder. Der alte Mann verneigte sich. »Lady Elabeth«, sagte er ruhig. »Ich bin nicht hierhergekommen, um Eure Tante zu quälen. Und auch nicht, um endlich Frieden mit ihr zu schließen, weil ich weiß, daß sie ihn zurückweisen würde, wenn ich ihn ihr anböte. Was ich will, ist ganz einfach. Die Blauröcke haben meine geliebte Tochter, weil sie sie verdächtigen, eine Rolle bei den Vorfällen von letzter Nacht gespielt zu haben. Der Kommandeur hat im Namen seiner Art von Justiz bereits entschie den, daß sie schuldig und dem Untergang geweiht sei. Angeblich sollen fünf Kinder des Koros ihre Komplizen gewesen sein. Sie wird mit ihnen gehenkt, bevor die Nacht hereinbricht.« »Gehenkt?« stieß Ela hervor. Nirry schnappte nach Luft. »Gehenkt?« »Ein Schicksal«, meinte Umbecca beißend, »das jeder Mensch hätte vorhersehen können, der noch Augen im Kopf hat.« Die fette Frau hatte ihre Fassung schnell wiedergewonnen. Sollte Ela über sie triumphieren? Auf keinen Fall. Umbecca dachte frohlockend an das Schicksal, das Ela bevorstand. Olivan würde sie verschwinden lassen! In Agondon gab es Spezialkrankenhäuser. Ganz spezielle Spezialkrankenhäuser! Sie leckte sich die Lippen. Das war fast genauso gut, wie Ela zu hängen. Immerhin war ihre Nichte um keinen Deut besser als die schlampige Tochter des blin den Mannes. »Tante, sei ruhig ...«, befahl Ela. »Nein, Nichte, das werde ich nicht! Muß ich mir das anhören? Aha! Eine Hure soll gehängt werden. Und was soll ich dagegen tun, Blinder? Soll ich zum Kommandeur gehen und ihn um ihr wertloses Leben bitten?« Sie lachte spöttisch. »Umbecca, ich habe schon gesagt, daß ich dich niemals um einen Gefallen bitten würde«, sagte Silas Wolveron ruhig. »Und das werde ich auch nicht. Du sagst, ich hätte dein heiliges Vertrauen miß braucht. Und daß du seit dieser Zeit nur noch Verachtung für mich übrig hast. Ich habe dir gesagt, daß ich gekommen bin, um dich zu
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beschwichtigen, aber ich will dich nicht dazu bringen, mich zu lieben. Ich will deinem Haß genüge tun. Ich biete dir, mit einem Wort, die Rache, die du immer gewollt hast. Der Kommandeur hat zwar meine Tochter verurteilt, will aber nicht mit mir sprechen. Ich wurde vor seinen Pforten abgewiesen. Auf dich wird er hören, Um becca. Ich flehe dich an, geh zu ihm und berichte ihm von meiner Schuld. Sag ihm, daß ich an meinem Zufluchtsort im Wildwald alle Pläne geschmiedet und alle Ränke ausgeheckt habe, die die trium phierenden Blauröcke mir anhängen wollen. - Liebe Umbecca! Liebe, närrische Frau! Verstehst du, um was ich dich bitte? Begreifst du jetzt, was ich dir gebe? Ich bin ein alter Mann. Ich habe zu lange gelebt und zuviel gesehen, als ich noch mein Augenlicht lang hatte. Sorg dafür, daß mein geliebtes Kind freigelassen wird, dann soll mein Leben wie Spreu im Wind verwehen. Ich lege es in deine Hände, Umbecca. Wirf es weg!« Während seiner Rede war der alte Mann vor der gebieterisch da stehenden Frau auf die Knie gesunken und hatte sich krampfhaft an seinen Stab geklammert. Ungerührt sah sie ihn an. Als er schließlich seine Rede beendet hatte, huschte einen Augenblick lang ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann preßte sie hart die Lippen zusam men und wich vor ihm zurück. Ihre Stimme war böse und verächt lich, als sie sich ihm verweigerte. »Böser, lüsterner alter Vaga! Kannst du dir wirklich vorstellen, daß ich tun würde, was du von mir verlangst? Es ist nicht richtig! Es ist Sünde! Du vergißt, Silas, daß ich dazu geweiht bin, wie auch du es einmal warst, in der Liebe des Herrn Agonis zu leben. Was du den Winden überantworten würdest, ist die Wahrheit selbst! Und wofür? Für ein verdorbenes Kind?« »Das reicht, Tante. Genug!« Ela hatte zugehört und geschwiegen, viel zu lange geschwiegen. Ihre Worte brachen wie ein Schrei aus ihr heraus. Umbecca fuhr erschrocken herum. Die Gefaßtheit des alten Mannes war dahin, als er schluchzend auf dem Boden zusammengebrochen war. Ela ging zu ihm, nahm ihn in die Arme, hielt ihn, küßte ihn. Sie streichelte sein Haar und sein Gesicht, und sie fuhr mit den Fingern zärtlich über seine ver
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letzten Augenhöhlen. Die Narben traten entsetzlich hervor, während er trocken schluchzte. Umbecca sah ungläubig und angewidert zu. Entsetzt musterte sie den alten Mann: In seinen Lumpen tummelten sich gewiß Läuse und Flöhe, und sie betrachtete seine entzündeten Wunden am Kopf und an den Armen. Sie nahm den widerlichen Gestank wahr, der von ihm ausging, ein Geruch wie alter Müll. Sie hatte ihn geliebt, ihn verehrt, und er war weggelaufen, um wie ein Vieh in einer stinken den Höhle zu hausen und sich mit einer Hure in einem Schweine stall der Lust herumzuwälzen. Wäre er ihr näher gekommen, hätte sie geschrien, den Schürhaken vom Kamin genommen und ihn damit niedergeschlagen. Langsam löste sich Ela aus der Umarmung des alten Mannes. Als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig und gebieterisch. »Nirry, meinen Mantel. Und meine Schuhe!« »M'Lady?« »Nichte, was redest du da?« »Ist das nicht sonnenklar, Tante? Ich gehe aus. Das habe ich früher auch schon getan und nur einfach seit einer Weile nicht mehr, das ist alles. Nirry ...?« »Nichte, es geht dir nicht gut!« brach es aus Umbecca heraus. »Du bist im Delirium! Bitte, geh wieder ins Bett zurück, bevor du dich selbst verletzt.« »Nirry?« wiederholte Ela. »Nirry! Weg von der Truhe!« Die fette Frau sprang vor und packte den Arm des Dienstmädchens. »Aua. Laßt das!« Nirry riß sich los. Sie stand zwischen den bei den Frauen und rieb sich den Arm, während sie unsicher von einer zur anderen blickte. »Nirry, du tust, was ich sage«, erklärt Ela eisig. »Hast du verges sen, daß ich deine Herrin bin? Diese Frau, der du so bereitwillig zu gehorchen scheinst, ist nur meine unverheiratete Tante, mehr nicht. Meine ›Gouvernante‹, und sie hat sich als eine wahrhaft furchtbare Begleitung erwiesen. Was auch immer meine Schande in den Augen der widerwärtigen Welt sein mag, ich war und bin die Tochter des Erzherzogs. Ich bin Lady Elabeth Ixiter von Irion, eine Edle dieses
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Reiches, und als solche werde ich jetzt Kommandeur Veeldrop auf suchen.« »Du willst zum Kommandeur? Nichte, was redest du da? Sie ist irre, Nirry, siehst du das nicht? Oh, hilf mir!« Aber Nirry hatte bereits die Truhe am Fußende des Bettes geöffnet und half Ela in einen großen Mantel. Sie zog ihn direkt über ihr Nachthemd. Er war muffig und ziemlich mottenzerfressen, bestand aus rotem Samt und war mit Hermelin besetzt. Dazu holte sie einen passenden Hut heraus, in den eine goldene Brosche mit dem Wap pen der Rotröcke eingearbeitet war. »Ich werde weder das Leben dieses armen alten Mannes opfern noch mein eigenes«, sagte Ela. »Niemand wird sterben, auch du nicht, Tante, oder du, Nirry Ich nicht, Jem nicht, Lektor Wolveron nicht und auch nicht Yanes Kind. Wie ich diese Schwäche verwünsche, die mich ans Bett gefesselt hat! Von dort aus habe ich, nur halb bei Bewußtsein, mit anhören müssen, wie diese Burg, dieses Dorf und dieses Königreich vom Entsetzen überwältigt wurden! Ich bin schwach und krank und habe zuviel ertragen, aber einige Dinge kann man einfach nicht hinnehmen. Tante, kannst du dir wirklich vorstellen, daß ich Veeldrop das erlauben werde? Daß er Yanes Kind auf dem Dorfanger hängt? Ausgerechnet Veeldrop! Ein widerliches, schmutziges Stück Abschaum!« »Nichte, du sprichst von dem Retter unseres Königreiches!« »Von seinem Retter? Wohl eher von seinem Zerstörer!« »Kommt, M'Lady Ich gehe mit Euch. Vater wird uns zur Sakri stei fahren.« Nirry hatte Elas Arm ergriffen, doch plötzlich ver sperrte die massige Umbecca ihnen den Weg. »Du kannst nicht gehen. Ich werde es nicht zulassen.« »Ich werde dich nicht um deine Meinung fragen, Tante. Laß mich vorbei.« »Er wird dir nicht zuhören! Glaubst du wirklich, daß ... Olivan dir zuhören wird?« »Olivan?« »So heißt er. Olivan Tharley Veeldrop. Verstehst du, ich kenne ihn ... ich kenne ihn sogar sehr gut.« »Gratuliere, Tante. Wolltest du das hören?«
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»Ja, Nichte. Genau das ist es. Verstehst du, Olivan und ich werden heiraten.« »Was?« »Er liebt mich! Er liebt mich und hat mich gebeten, seine Frau zu werden! Deshalb weiß ich, daß er dir niemals zuhören wird.« »Ihn heiraten? Und das willst du wirklich tun? Du erbärmliches, krankes Weib! Weißt du nicht, wer er ist ? Was er getan hat ? « Ela deutete auf Silas Wolveron, der immer noch am Boden lag. »Weißt du nicht, wer ihm die Augen ausgestochen hat? Dein Olivan war es!« Aber Umbecca nahm das ungerührt hin. »Natürlich hat er es getan! Und weißt du auch warum? Weil ich es ihm gesagt habe, darum! Silas Wolveron war eine Gefahr für uns alle. Er war ein Abtrünniger und Verräter, und er hätte den Tod verdient gehabt. Ich habe Olivan alles erzählt, was dieser verdorbene Mann getan hat. Ich habe ihm gesagt, daß er während der Belagerung Geheimpläne der Blauröcke in die Burg geschmuggelt hat. Es stimmt! Ich weiß es. Ich habe ihn gesehen! - Aber ich habe ihm auch gesagt, daß er einmal ein guter Mensch gewesen ist. Deshalb wurde er nicht hingerichtet. Nur mei netwegen! Deshalb wurde er mit Mitleid bedacht!« »Mitleid!« »Ja, Mitleid! Und er glaubt, ich hasse ihn. Dabei bedaure ich ihn nur, das ist alles.« »Und ich bedaure dich, Tante. Unsere gemeinsame Zeit ist vorbei. Heirate nur deinen teuren Olivan! Kann er mich daran hindern, das Dorf zu verlassen? Oder kannst du es ? Ich bin zu lange bestraft wor den. Ich habe zu lange getrauert...« »Getrauert? Worum getrauert?« Ela ignorierte sie und redete einfach weiter. »Es ist vorbei, Tante. Ich gehe jetzt zu Veeldrop, und wenn ich zurückkomme, nehme ich Jem, Nirry und Stephel ... Wir fahren nach Agondon, und es kümmert mich nicht, ob wir verhungern, solange wir nur von dir wegkommen!« Es war unzusammenhängendes Gerede, fast irr, aber Ela schien von einer Stärke und einer Wut erfüllt, die nichts mit Vernunft zu tun hatte. Nirry stützte ihre junge Herrin, und ihr Gesicht verriet eiserne Entschlossenheit. Aber Jem, der immer noch zusah, konnte
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auf ihrer Miene die Frage beinahe ablesen: Was geschieht mit Lord Tor? Ela drängte sich an ihrer Tante vorbei. »Und jetzt geh mir aus dem Weg. Beweg dich! Willst du, daß ich dich ohrfeige? Willst du, daß ich dich die Treppe hinunterwerfe?« Die fette Frau lachte keifend auf. »Ja, schlag deine alte Tante nur, das würde dir so passen, was? Die Tochter des Erzherzogs, daß ich nicht lache! Du bist genauso eine schlechte Edelfrau, wie der ver ruchte alte Mann ein schlechter Lektor von Irion gewesen ist. Du schmutzige kleine Hure! Glaubst du wirklich, es kümmerte mich, ob du in der Gosse endest? Du und dein krankes, perverses kleines Balg? Und glaubst du wirklich, daß Olivan nicht alles von dir weiß? Er wird dich auslachen, das ist alles! Edeldame? Du bist nur eine verrückte, drogensüchtige Hure!« Ela schlug ihrer Tante ins Gesicht. »Aus dem Weg, du boshaftes Miststück!« Sie schubste die fette Frau und rang nach Luft. Verzweifelt schien sie sich von ihrer Gegenwart befreien zu wollen, aber jetzt hielt Umbecca Elas Arm fest, klammerte sich an ihren Mantel und versuchte, ihre Nichte so grausam zu verletzen, wie sie nur konnte. Sie suchte nach Worten, nach den schlimmsten Worten, die sie finden konnte. »Ich weiß alles über Jem!« »Jem? Laß Jem aus dem Spiel! Was hast du anderes getan, als ihn zu gängeln, ihn zu quälen und seinen Kopf mit deinem sklavischen Agonis-Gefasel vollzustopfen? Ich bin sehr froh, daß er klug genug ist, um dich zu durchschauen!« Aber ihre Tante ließ nicht locker. »Ich weiß es, sage ich dir! Glaubst du etwa, ich wäre nicht dahintergekommen, du schmutzige Hure?« »Dahintergekommen? Wohinter bist du gekommen?« »Ich weiß, wer sein Vater ist!« Ela wirbelte herum. »Sein Vater? Was weißt du?« »Ein ›Soldat während der Belagerung‹, hast du doch gesagt, stimmt's? Ja, eine gute Geschichte. Wir alle haben gedacht, daß es so viele Soldaten gab, daß du nicht wußtest, wer es war! Wir dachten alle, du wärst ein Soldatenliebchen gewesen! Aber das war immer
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noch besser als die Wahrheit, hab ich recht? Du wolltest nicht, daß wir die Wahrheit erfahren, denn die war noch viel schlimmer!« »Wahrheit? Was weißt du schon von Wahrheit?« »Ich habe es zuerst nicht begriffen, wie auch? Der Kaplan hat mich darauf gebracht. Er kennt sich in der Welt aus. Wie hätte ich, eine tugendhafte Frau, mir eine solche Verdorbenheit vorstellen sol len? Wie hätte ich mir vorstellen können, daß meine geliebte Nichte nicht nur ein uneheliches Kind gebären sollte, sondern dieses Kind auch noch von ihrem eigenen Bruder stammtet« Auf die Beschuldigung folgte Schweigen. In diesem Schweigen ließ Umbecca langsam den Kragen von Elas Mantel los, dessen Hermelinaufschläge sie beinahe abgerissen hätte. In diesem Schweigen stolperte Ela zurück und sah ihre Tante schockiert an. In diesem Schweigen klappte Nirry vor Staunen der Unterkiefer herunter. Und in diesem Schweigen glitt ein geheimes Paneel hinter dem Wandteppich zurück. Tor stolperte in den Raum. Er war in eine Decke gehüllt, und als er weiterging, rutschte sie ihm von den Schultern. Darunter trug er das Kostüm eines Harlekins. Umbeccas gerötetes Gesicht wurde plötzlich kalkweiß. »Du irrst dich, Tantchen«, sagte Tor sanft. »Ich liebe meine Schwester, aber sie war nie meine Geliebte. Du nennst sie eine Hure. Du behauptest, sie wäre eine unmoralische Frau? Meine arme, dumme Tante!« »O Tor, Tor!« flüsterte Umbecca. Sie hörte ihm kaum zu, sondern trat mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, als wolle sie ihn umarmen. Doch dann riß sie die Arme zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Sie schwankte und wäre beinahe hingefallen. Sie biß die Zähne zusammen. »Wovon redet er?« murmelte sie. »Was meint er?« »Du begreifst es einfach nicht, Tante, hab ich recht?« Tors Stimme war immer noch leise, sanft, beinahe ätherisch. Er deutete auf Silas Wolveron, der zum Fenster gegangen war und dort auf seinen Stab
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gestützt dastand, den Kopf vor Kummer gesenkt. »Du hast gedacht, daß Lektor Wolveron Geheimpläne in die Burg schmuggelte, also hast du ihn verraten. Du hast dich geirrt. Er ist tatsächlich während der Belagerung in die Burg gekommen. Aber warum? Er kam, um eine Ehe zu trauen. Er kam, um meine Schwester mit ihrem Gelieb ten zu vermählen.« »Was?« Umbecca rang nach Luft. »Tor ...«, begann Ela. Sie zitterte so sehr, daß sie kaum noch stehen konnte. »Schwester, sie muß es erfahren. Unsere Tante war eine eitle und dumme Frau, aber ich weiß, daß sie tief in ihrem Inneren Güte be sitzt. Nur wenn sie die Wahrheit erfährt, können wir sie vielleicht an die höheren Pflichten erinnern, die sie vergessen hat.« Umbecca betrachtete das zerstörte Gesicht ihres Neffen. Er sah ihr eindringlich in die Augen. »Liebes Tantchen«, sagte Tor. »Jem ist kein Bankert. Und sein Vater war auch kein gewöhnlicher Soldat, genausowenig wie ich es war. Nein, die Tugend meiner Schwester wurde nie leichtfertig weggeworfen, sondern sie wurde für den höchsten und edelsten Freier aufbewahrt.« Tor hatte die ganze Zeit leise gesprochen, aber jetzt wurde seine Stimme zu einem Wispern, als er dicht neben seine Tante trat. »Du kannst meine Schwester eine Hure nennen, aber, Tante, du sprichst von unserer verwitweten Königin. Ja, Tantchen, Jemany ist der Sohn von Ejard Rot und folglich der rechtmäßige Erbe dieses Königreiches!« Tor schwankte und drohte zu fallen. »Nein!« Umbecca riß ihren Blick von ihm los, schrie und wich zurück, als ihr Neffe fast in ihren Armen zusammengebrochen wäre. Es war Nirry, die ihn auffing und vor einem Sturz bewahrte. Dann klopfte es an der Tür. Ein höfliches »Rat-a-Tat.« Umbeccas Kutsche war eingetroffen.
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»Aber... aber das ist ungeheuerlich!« flüsterte Morven. »Fünf Män ner? Fünf unschuldige Männer? Vagas, sicher, aber es gibt Prinzi pien der Justiz ...« Crum seufzte. Sein Freund fing an, sich zu wiederholen. Wirklich, er wiederholte sich schon seit einiger Zeit. Am Ende einer Wachpatrouille marschierten die beiden jungen Männer stolpernd über die matschige Straße zu dem Vaga-Lager. Diesen Weg waren sie schon einmal gegangen, an dem Tag ihrer geheimen Mission. Aber damals hatte die Sonne geschienen, und sie waren allein gewesen. Dies jedoch war das erste Mal, daß sie auf Vaga-Patrouille gingen, und es war auch schon schlimm genug, ohne daß Morven plötzlich sein Gewissen entdeckte. »Denk an Vytonis Der Diskurs der Freiheit. Dritter Brief. ›Über politische Freiheit‹: ›Nur der Stab der Gerechtigkeit ist geeignet zu herrschen, und man kann ihn nur mit Barmherzigkeit schwingen ... ‹ Wofür hat der große Philosoph das geschrieben, wenn wir einwilligen, daß ...« »Morvy?« zischte Crum. »Ja, Crum?« »Halt's Maul!« Crum war sauer. Gerechtigkeit? Barmherzigkeit? Diese Dinge hatten seinen Freund doch früher auch nicht interessiert! Wenn er keinen Dienst hatte, dann saß Morven immer lesend in der Kaserne, während auf dem Anger die Hinrichtungen stattfanden. Er schwebte nur noch in der Welt seiner Bücher. Und weil er jetzt was über Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geschmökert hatte, glaubte er wohl, daß vor ihm keiner darüber nachgedacht hatte. Oder vielmehr darüber, daß es an beiden mangelte. Morven konnte es sich nicht verkneifen, noch etwas hinzuzufü gen. »Denk an Jelandras großen Monolog über die Macht - genau die Rede, die auch die Große Zäsur enthält!« »Ihr da! Gleichschritt halten!« bellte Sergeant Bunch.
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Der Sergeant war in einer dieser Stimmungen, in denen er keinen Spaß verstand. Die Dinge im Dorf hatten einen heiklen Punkt er reicht. Es hatte sich herumgesprochen, daß die Vagas zusammengetrieben werden sollten. Vermutlich mußten sie das machen, auch wenn es eine erbärmliche Aufgabe war. Wen sollten die Dorfbewohner hassen, wenn es keine Vagas mehr gab? Die Blauröcke natürlich, wen sonst? Bunch hoffte inständig, daß diese fünf reich ten. Und das Mädchen. Morven und Crum trotteten schweigend hinterher, und ihre schweren Musketen schlugen ihnen gegen die Seite. Nach einem Moment brach es erneut aus Morven heraus. »Ich verstehe nicht, warum das erlaubt wird, Crum. Der Kommandeur ist doch ein kul tivierter Mann, er war mit Professor Mercol auf dem Kolleg! Sicher hat er gelesen, was ... Crum, glaubst du, er weiß überhaupt, was hier vorgeht?« »Morvy, natürlich tut er das! Er hat es doch selbst angeordnet, du Dummkopf!« »Was?« »Ihr da, Mund halten!« befahl Sergeant Bunch. Sie bogen um eine Ecke, und das Vaga-Lager erstreckte sich vor ihnen. Es schien noch elender und heruntergekommener zu sein als vorher. Ein zerlumptes kleines Vaga-Kind brach in Tränen aus, als es die Soldaten sah. Es hatte wieder angefangen zu regnen. »Ich weiß nicht, wie du mich einen Dummkopf nennen kannst, Crum. Wenn jemand ein Narr ist, dann du. Einfach nur gehorchen und bloß keine Fragen stellen! Ist das nicht der typische militärische Geist? Hast du niemals von so etwas wie persönlicher Integrität gehört?« »Morvy, so was würde ich dir hier nicht empfehlen.« Vor ihnen pickte Sergeant Bunch gerade die Vaga-Verräter heraus, die als Catas Komplizen gehenkt werden sollten. Crum hatte er wartet, daß es einen Kampf geben würde. Aber es war ein Spaziergang. Die Vagas kamen still mit. Plötzlich hatte Crum ein schreckliches, widerliches Gefühl in der Magengegend. Er erinnerte sich an den Tag ihrer geheimen Mission, dann an die Vaga-Jahrmärkte sei
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ner Kindheit in Varl. Am liebsten hätte er sich übergeben, schluckte aber nur schwer. »Du hast keine Ahnung von Politik, was, Morvy?« sagte er. »Du nennst mich einen Narren, und es stimmt, ich habe keins von deinen schlauen Büchern gelesen. Wie auch? Leute wie ich werden nicht im Lesen unterrichtet. Aber du hast vergessen, daß ich aus Varl komme. Ich habe das alles schon mal gesehen, Morvy Oh, ich weiß genau, wie dein edler Kommandeur denkt. Gestern hat jemand den Tempel in die Luft gesprengt. Wer war es? Wer weiß das schon? Es könnte eine ganze Jahreszeit dauern, um das herauszufinden. Vielleicht fin det man es auch nie heraus. Aber irgend jemand muß die Schuld dafür bekommen, hab ich recht?« Morven war beschämt. »Irgend jemand?« »Sehr gut. Die genügen!« rief Sergeant Bunch. Die Vagas wurden an Knöcheln und Hals zusammengekettet. Jetzt würde die Patrouille sie zum Anger eskortieren. Crum verfiel in Gleichschritt, während Morven seinen Arm packte. »Jemand?« zischt er drängend. »Irgend jemand?« Anscheinend konnte er es immer noch nicht glauben. Crum zuckte mit den Schulter. »Das ist Politik.« Er schüttelte Morvens Hand ab. Hoffentlich war es nun endlich vorbei! Der arme Morvy! Crum fühlte Mitleid mit seinem Freund. Er hätte an seinem gemütlichen Kolleg bleiben sollen. Morven stand fassungslos da. Er rührte sich nicht, er konnte es einfach nicht. Etwas arbeitete in ihm, durchströmte ihn wie ein Eli xier. »Morvy«, meinte Crum drängend. »Geh im Gleichschritt!« Aber dann geschah etwas sehr Beunruhigendes. Morven hatte natürlich gewußt, daß das Böse das Königreich von Ejland über wältigt hatte. Er hatte gewußt, daß er, Plaise Morven, ein Werkzeug dieses Bösen geworden war. Aber bis jetzt war das Böse nur ein Wort für ihn gewesen. Doch nun war es Realität. Tränen schossen ihm in die Augen, als er zusah, wie die Vagas abtransportiert wur den. Morven sank auf die Knie. Er faltete die Hände zum Gebet, und blickte furchtsam in den drohenden Himmel empor. Eine Szene aus seiner Kindheit stieg in ihm auf, und er sah sich in dem Großen
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Tempel des Agonis knien und seine Gebete darbringen, damals, als sein Glaube noch einfach und stark gewesen war. »Heiliger Herr Agonis, vergib mir, vergib mir ...« »Morvy, hör auf damit!« zischte Crum entsetzt. Zu spät. »Du da! Rekrut Morven!« Sergeant Bunch hatte für heute die Nase voll. Wütend fegte er durch den Schlamm und trat dem jungen Rekruten kraftvoll in die Rippen. Morven kippte nach hinten, schluchzte und wälzte sich im Dreck. War der Kerl verrückt gewor den? Diese Schlaumeier machten immer mehr Ärger, als sie es wert waren. »Steh auf, du Blödmann! Was fällt dir ein, dich hier im Dreck zu suhlen?« Crum konnte nur zusehen. Sein Gesicht war weiß vor Schreck. Es regnete noch stärker. Umbecca hatte sich wieder einigermaßen in der Gewalt. Sie rum pelte in der Kutsche der Blauröcke den Felsen hinunter und schüt telte sich, entsetzt von der Szene, die sie eben erlebt hatte. Hatte der Wachposten etwas gemerkt? Was sollte sie tun? Kaum vorstellbar, daß sie vor kurzer Zeit noch glücklich gewesen war! Natürlich glaubte sie kein einziges Wort von Tors Geschichte. Der Junge war immer schon ein hinterhältiger Lügner und Betrüger gewesen, und diese letzte Lüge hatte er nur ersonnen, um die schlimme Wahrheit zu verbergen. Außerdem war er verrückt. Aber was für ein wunderbarer Junge er einmal gewesen war! Umbecca hatte ihn so geliebt! Ela hatte ihn verdorben, soviel war klar. Ja, für Umbecca war das jetzt völlig offensichtlich. Ela hatte ihren Bruder in den schrecklichen Inzest gelockt. Und danach war die Moral rasch verdorben, und der arme Junge hatte alle Tugend und Scham verloren. Ela war krank. Ela war verrückt. Sie war eine Infektion, die diese Welt verseuchte. Umbecca fiel in der Kutsche stöhnend nach hinten. Bis jetzt war ihr gar nicht klar gewesen, wie sehr ihre Nichte sie anwiderte, wie
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sehr sie sie verachtete. Sie verachtete Verrückheit, und sie verachtete Schwäche. Ein Bedürfnis überwältigte sie beinahe, und die Intensität erschreckte sie. Es war das Bedürfnis, Ela weh zu tun, so sehr und un wiederbringlich zu verletzen, daß das Mädchen sich nie wieder da von erholt. Und Umbecca empfand ein frustrierendes Gefühl der Ohnmacht, weil es schien, als ob sie keine Möglichkeit dazu hätte. Nichts würde schlimm genug sein. Jem flog. Von den Begrenzungen des Burgfrieds befreit, mit seinen drohen den Bögen und dicken Decken, war er plötzlich hoch in den blassen, regennassen Himmel aufgestiegen. Er hielt den Kristall fest und blickte auf die Burg tief unter sich hinab. Er sah die Karren, die Pferde, die Kasernendächer, die Kohlköpfe und Kürbisse in den Küchengärten und die Gänse und Schweine im Hof, die nach Wur zeln suchten. Jem stieg immer höher und segelte weit über den flatternden Fahnen und den Wachposten auf den hohen Mauern und Wehrtürmen. Er sah die Zugbrücke und das Wasser im Burggraben, er erblickte die weißen Berggipfel, die von den Wolken verhüllt wurden, und sah die Häuser und Felder des Dorfes unter ihm. Er empfand sofort eine ungeheure Macht - und gleichzeitig eine Ohnmacht, die größer war als je zuvor. In der Kammer seiner Mutter hatte er zunächst, wie er so an der Decke schwebte, eine heimliche Ausgelassenheit gefühlt. Er stellte sich vor, er wäre einer der Götter aus dem Unergründlichen, der aus großer Höhe auf die zerstörte Welt blickt. Ungesehen zu bleiben und doch die anderen zu sehen: Das war Macht. Wenn er seine Stirn runzelte und scharf in ihre Augen blickte, war ihm, als würden ihm selbst ihre Gedanken enthüllt, erschreckend und entsetzlich in ihrer Klarheit und Wahrheit. Das war Macht. Das war Wissen. Aber er konnte nichts anderes tun als zusehen. Immer wieder, als seine Tante den alten Wolveron attackiert hatte und dann Ela, hatte Jem darauf gebrannt, die fette Frau anzugreifen. Ihr ins Gesicht zu schlagen. Ihr die Zähne auszuschlagen. Ihr gegen ihre fetten Beine
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zu treten. Ohne Warnung oder Gnade wäre er von der Decke her untergeschwebt und hätte sie zu Boden geschlagen. Aber er konnte sie nicht einmal berühren, sie nicht am Ohr zie hen oder ihr ins Auge pieksen oder mit den Fingern ein Nasenhaar herausziehen. Die dunkle Aura schützte ihn, und sie ließ ihn schweben, aber sie hielt ihn auch in einer Dimension der Einsamkeit ge fangen. So schien jede neue Enthüllung aus dem Mund seiner Tante oder dem seiner Mutter hundertmal in der Luft widerzuhallen, bevor Jem daraus schlau wurde. Er war nicht nur außerhalb ihres Raumes, sondern auch außerhalb der Zeit. Er war nie ganz präsent, nie ganz real. Er wirbelte durch den Himmel. Bumm! Das Signal. Das Kommando. Der Kanonenschuß, der auf dem Anger abgefeuert wurde, rief Jem wieder in die Gegenwart zurück. Jetzt hörte er auch die Trommelwirbel. Durch die feuchte Luft sah er weit unten die braungewandete Menschenmenge, die sich um die Schafotte drängte, und die Blauröcke, die in langen Reihen darum herumstanden. Bald würde das fahle Licht des Nachmittags der Dunkelheit des Abends weichen. Und das unheilvolle Trommeln ging weiter. Es würde erst aufhören, wenn die Exekutionen vorbei waren. Es würde erst aufhören, wenn Cata tot war. Leidenschaft und Sehnsucht durchströmten Jem, als er sich darum bemühte, seinen Flug zu steuern und nach unten zu fliegen, seiner Mutter zu folgen. Jetzt kam es ihm vor, als könnte nur seine Mutter ihn hinunter zur Erde bringen. Ohne sie würde er für immer davonfliegen. Er würde in den klaren Himmel über die Berge fliegen und niemals wiederkommen. Er konnte sie sehen. Ihr roter Mantel leuchtete hell. Sie stand hinten in Stephels wackligem Karren, hielt sich mit einer Hand fest und winkte wie verrückt mit der anderen, trieb den Kutscher weiter. Neben ihr stand der alte Wolveron. Seine Kapuze war ihm vom Kopf gerutscht, und sein
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Mantel flatterte im Wind. Auf der Ladefläche des Karrens lag Stroh, und leere Bierflaschen rollten herum. Der Karren diente Stephel schon seit vielen Jahreszeiten als Bett. Jetzt schwang der alte Kutscher seine Peitsche und trieb das alte, graue Kutschpferd an. Nirry war in der Burg geblieben und kümmerte sich um Tor. Das Gefährt donnerte über die Zugbrücke. Es war genauso schä big wie sein Lenker und sah aus, als würde es jeden Augenblick aus einanderfallen. Es fegte wie verrückt um die Kurven und war immer kurz davor, vom steilen Weg abzukommen und in den Abgrund zu stürzen. Jems Mutter führte den Karren wie eine Heldin ihre Truppen in die Schlacht. Als würde sie jetzt endlich, vom Leichtsinn getrieben, in einem mächtigen Ausbruch all die Wut, Energie und Leidenschaft herauslassen, die so lange in ihr geschlummert hatten, die so ver schmäht und vergeudet worden waren. Das Dorf war nah. Jem taumelte durch die Luft und sah die gel ben Dächer, die Blütenhütte, den Trägen Tiger und das glänzende Glas des Hauptquartiers. Er sah den Friedhof mit dem Wildwald, der über die Mauer ragte, und den gepflegten Garten der Sakristei. Er sah die weiße Marmorruine des Tempels, mit dem schwarzen Krater in der Mitte. Einen Augenblick erinnerte er sich wieder an die Explosion, die ihn noch einmal mit all ihrer Macht nach oben fegte. Bumm! Die Königinwitwe stand auf ihrem Streitwagen und fuhr in das letzte Gefecht für ihren König. Voller Stolz sang sie ein Lied. Sie san gen alle, selbst der alte Wolveron, aber erst als Jem wieder in die Gegenwart zurückfand und tiefer sank, hörte er die Worte, die sie sangen. Es war ein altes Kampflied aus den Feldzügen zur Zeit der Be lagerung, als einige noch fälschlicherweise glaubten, daß man das Königreich Ejland von dem Joch der Blauröcke befreien könnte. Wir erheben unsere Stimmen und singen stolz
Ejard Rot ist der rechtmäßige König!
Er wird voller Ruhm und Kühnheit zurückkehren,
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Er wird uns von der Sklaverei der Blauröcke befreien,
Ejard Rot ist der
Ejard Rot ist der...
Jem spürte, wie das Entsetzen in ihm immer stärker wurde. Meine Mutter ist verrückt! Er schämte sich und errötete, wurde rot wie ihr Mantel. Die Jahre unter dem Einfluß des Schlaftrunks hatten ihren Geist verwirrt. Sie konnte Cata nicht retten, ja, sie konnte nicht einmal sich selbst retten. Es regnete wieder, und das Licht brach. Jem schloß die Augen, während er sich durch die helle Luft drehte. Die Trommelschläge drangen dumpf zu ihm herauf, aber die Geschichte, die sie erzähl ten, war nicht die einzige, die wahr sein konnte. Jem war zu sehr in der Dimension der Einsamkeit eingeschlossen, um etwas von den Ereignissen zu wissen, die jetzt eintraten. Von den Steinen und Zie geln, die durch die Luft flogen, von den flüchtenden Gestalten, von den Schreien und dem Kettengerassel, als buntgekleidete Menschen auf dem Anger plötzlich und mit Gewalt um ihre Freiheit kämpften. Der Kristall des Koros glühte in Jems Händen und warf sein dunkles Licht auf die Szenerie unter ihm. Später sollte niemand genau sagen können, wie dieser Vaga-Auf stand angefangen hatte. Er kam so unerwartet, daß er nicht zu er klären war. Keiner, nicht Veeldrop, nicht die Soldaten der Blauröcke, vielleicht nicht einmal die Dorfbewohner, die sich in großen Scharen zu den Hinrichtungen auf dem Anger eingefunden hatten, glaubte, daß die Vagas den Tempel in die Luft gejagt hatten. Die Vagas und Cata, die schmutzige kleine Halbwaise, waren bequeme Sünden böcke, wie üblich. Halb erregt und halb angewidert würde Irion ihrem Tod zusehen. Es war keine Frage von Recht und Gerechtigkeit. Es war ein rituelles Schlachtfest, aber schließlich waren es nur Vagas. Zu allen Zeiten waren die Vagas der verachtete Volksstamm auf der Erde gewesen. Nach diesem Tag würden sie zwar verachtet blei ben, und sie würden noch schlimmer leiden, als sie bisher gelitten hatten. Aber in den Zyklen, die noch kamen, sollte die Erinnerung an diesen Tag, als sie sich plötzlich wie ein Mann erhoben hatten, in
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ihrem Gedächtnis wie ein Leuchtfeuer der Freiheit glühen. Zuerst langsam und dann schneller und immer schneller sollte sich die Kunde von diesem Tag, dem Irion-Tag, durch die Lande verbreiten, durch die die Vagas zogen, und etwas in jedem Vaga-Herzen sollte sich ändern. Was dieser Tag bedeutete, in Geschichte, Gesang und Traum, war, daß Ungerechtigkeit und Unterdrückung nicht für im mer andauern konnten. Daß diese Herrschaft bald enden würde und daß die Kinder des Koros frei sein würden. Einige meinten, der Aufstand wäre von den Gefangenen losgetre ten worden. Die Gruppe von fünf Vagas erwartete ihre Hinrichtung in einem Zelt hinter dem Schafott. Man hätte sie besser bewachen sollen. Einer der Blauröcke, so erzählte später jemand, war unaufmerksam gewesen. Es sollte noch eine gründliche Untersuchung geben. Wie es geschehen konnte, wußte niemand genau, aber es hielt sich die Geschichte, daß einer der Vagas, nur einer, seine Ketten ab gestreift hatte und schnell die anderen befreite. Dann stürmten die fünf, die Fünf von Irion, wie man sie später nennen sollte, aus dem Zelt, und in diesem entscheidenden Moment gelang es ihnen, die Wachen zu überwältigen. Damals schien eine fremdartige, besondere Macht von diesen fünf auszugehen. Später sprachen einige von einem glühenden Licht, obwohl sie nicht sagen konnten, um was für ein Licht es sich gehandelt hatte. Das war eine Geschichte darüber, wie es anfing. Eine andere han delte von der Gruppe von Vagas, die sich an diesem Nachmittag am Rand des Angers versammelt hatte. Schon bald waren alle Vagas aus dem Lager da. Den Dorfbewohnern war das unheimlich, und auch die Blauröcke fühlten sich nicht sonderlich wohl. Damit hatte niemand gerechnet. Die Vagas kamen nie zu den Hinrichtungen, aber schließlich fanden sie lange vor der Ausgangssperre statt. Sie haben nichts Verbotenes getan, jammerte Sergeant Bunch später. Aber das war keine Entschuldigung. Schließlich hatten die Vagas noch nie et was Verbotenes getan. Selbst das Licht hatte sich an dem Tag gegen sie verschworen, ver suchte Sergeant Bunch zu erklären. Der helle Himmel, der einen verrückt machte. Das unaufhörliche Plätschern des Regens von den
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Blättern, das dumpfe Geräusch der Tropfen auf dem Holz des Scha fotts. All das hatte das Unbehagen und die merkwürdigen Vorah nungen verstärkt, die wie Vorboten des Untergangs über der gesam ten Szenerie schwebten. Die Vagas sahen schweigend zu. Ihre Mienen waren ausdruckslos. Und dann begannen sie zu singen. Es war, als hätte eine besondere Magie sie ergriffen, etwas, das sie nicht beeinflussen konnten. Ihre Gesänge waren nicht die fröhlichen, bekannten Lieder von den Jahr märkten. Statt dessen waren es geheimnisvolle, verwobene VagaMelodien, traurige Sprechgesänge. Die Gesänge wurden erst unterbrochen, wenn ein Wachposten näher kam. Bald waren alle Blauröcke nervös. Einige von ihnen sag ten, sie hätten es kaum ausgehalten. Vielleicht war das der Grund, warum einer der Posten plötzlich durchdrehte und ein altes VagaWeib schlug, das kaum hörbar gesungen hatte. Der Wachposten war plötzlich von einer leidenschaftlichen Gewalt erfüllt gewesen. So etwas war schon früher passiert und würde immer wieder vorkommen. Im Lager wäre die alte Vaga-Frau immer wieder geschlagen worden, während sie schon auf dem Boden lag, und der Soldat hätte ihr mit dem Gewehrkolben den Kopf einge schlagen. Die anderen Blauröcke hätten sich weggedreht und so ge tan, als wäre nichts passiert. Während die Vagas sich furchtsam duckten. Doch heute war es anders. Das Vaga-Weib schlug zurück, und zwar mit aller Kraft. Der Aufruhr breitete sich rasend schnell über den ganzen Anger aus, und die Blauröcke verloren schon bald jegliche Kontrolle. Die Vagas stürmten vor. Und die Dorfbewohner ebenfalls. Plaise Morven starrte ausdruckslos in den Tumult. Er zitterte, als hätte er Fieber, und konnte einen Augenblick kaum seine Muskete halten. Blut rann aus seiner geplatzten Oberlippe. Warum hatte er die Vaga-Frau geschlagen? »Du, Mann!« brüllte Sergeant Bunch. »Tu was!«
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Einige Augenblicke zuvor war Umbecca vor Kommandeur Veel drop getreten. Schaudernd sollte sie später daran denken, wie knapp sie dem Ausbruch des Vaga-Aufstands entkommen war. Sie hätte mitten hineingeraten können! Umbecca war in der Kutsche um den Anger herumgefahren und hatte mit einem nachsichtigen Lächeln die Sze nerie betrachtet, die sich dort vor ihren Augen entfaltete. Alles war makellos geordnet. Die Galgen waren bereit, die Soldaten standen in ordentlichen Reihen, und im rhythmischen Schlag der Trommelwirbel verrann die Zeit. Selbst die Bauern wirkten feierlich und fromm. Die bevorstehende Hinrichtung schien sie anscheinend nicht zu ver anlassen, vulgär zu feiern, wie Umbecca erfreut feststellte. Einige hatten sich sogar richtig herausgeputzt: ein ordentlich geknotetes Halstuch hier, eine weiße Haube da und dort sogar ein frisch gewaschener Trägerrock. Wenn selbst die niederen Stände sich derart bemühten, zeigte das, daß sich das Niveau tatsächlich hob. Der gute Olivan! Er hatte das Leben für alle so viel besser gemacht! Umbecca war noch nie bei einer Hinrichtung gewesen und wußte folglich nicht, daß die Vagas normalerweise nicht daran teilnahmen. Sie beobachtete nur, daß auch sie sich bemerkenswert ordentlich aufführten und schön aufgereiht am Rand des Angers standen. Umbecca nahm an, daß dies ihr zugewiesener Platz war. Dann fuhr die Kutsche durch die Tore des Friedhofs, und die Rui nen des Tempels kamen in Sicht. Mit einem Schlag verschwanden alle erfreulichen Gedanken aus Umbeccas Kopf. Sie verzog ihre Miene zu einer griesgrämigen Entschlossenheit und fand nicht ein mal zu ihrer üblichen Fröhlichkeit zurück, als ein junger, gutaussehender Offizier ihr an Olivans Tor aus der Kutsche half. »Ich muß dringend den Kommandeur sprechen«, sagte sie nur. Im Glasraum hatte sich Kommandeur Veeldrop hinter seinem massiven Schreibtisch verbarrikadiert. Er hockte im Stuhl, paffte eine
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Jarvel-Zigarre und schien auf das Glasdach zu starren, über das die Regentropfen liefen, und die schillernden Farben zu betrachten. Aber der bestickte Schleier bedeckte seine Augen, und alles, was der Kommandeur sehen konnte, war Schwärze. »Seid Ihr fertig, Kaplan?« »Ich bin soweit, Herr.« »›Bewohner von Irion‹ oder auch ›Menschen aus dem Tarn‹, wie Ihr wollt. ›Ich spreche heute in Eurer Mitte als die Verkörperung der Liebe und der Gnade des Herrn Agonis, und ich spreche auch im Auftrag unseres höchst exzellenten Kommandeurs ... ‹ und so wei ter. Also: ›Seit dem Beginn unserer Regierung hier in Irion vertreten wir von den Vereinigten Regimentern der Tarn die göttlich und rechtlich sanktionierte Herrschaft Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät, König Ejard vom Blauen Tuch ... ‹, und so weiter und so fort ..., ›und haben versucht, die Maßstäbe der Gerechtig keit, des Anstands, der Gnade und der Vernunft in Kraft zu setzen, die wie ein Leuchtfeuer durch diese Provinz scheinen, und jeden Stumpf, der einst dunkel war, und Stiel, in dem noch Verruchtheit ihren Unterschlupf gefunden haben mochte, zu erleuchten, jedes Schlupfloch zu erhellen, in das sich Unrecht verkrochen haben könnte, und selbst... selbst... selbst...« »Die Vagas, Herr?« »Zu denen komme ich noch. Ich meinte die Zenzaner.« »Vielleicht ›die unwissenden Massen von Zenzau‹? Ich fand das immer sehr nützlich, Herr.« »Hm.« Der Kaplan saß auf seinem blauen Chintzstuhl und hatte die Beine sorgfältig übereinandergeschlagen. Auf seinen Knien ruhte ein kleines Tablett mit einem Block Papier, auf dem er die Rede des Kommandeurs mitschrieb. Nur selten beugte er sich vor und tauchte seine Feder in das kleine Tintenfaß am Rand des Schreib tischs. Für einen Beobachter mochte es so scheinen, als würde der Kaplan weit weniger Worte schreiben, als der Kommandeur sagte. Doch das stimmte nicht. Der Kaplan hatte eine eigene Kurzschrift entwickelt. Das war ihm schon sehr zugute gekommen, um die Wün sche und auch die anderen Äußerungen der Ladies in Agondon fest-
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zuhalten. Wenn er aus den Salons von Lady A... oder dem Schlaf zimmer von Lady B... zurückkehrte, hatte der Kaplan es immer auf sich genommen, so präzise wie möglich all das Wissen festzuhalten, das man ihm anvertraut hatte. Lady A... hatte ein so schauderhaftes Gedächtnis, und Lady B... war so beschäftigt. Man konnte nie wis sen, wann sie an das eine oder andere erinnert werden wollten. Eay Feval unterdrückte einen Seufzer. Seine momentane Situation enttäuschte ihn nicht, nicht im geringsten. Aber - meine Güte - es war doch trotzdem eine Schande, seine Fähigkeiten für die Plappe reien des alten Knaben zu verschwenden, oder nicht? Außerdem würde der Kaplan improvisieren, wenn er auf dem Schafott stand. Das machte er immer so. Es war nur ein Jammer, daß es regnete. »Also: ›Wir scheinen die Hoffnung nähren zu können, daß wir noch vor dem Verstreichen eines Zyklus dieses ehemals stolze Dorf ...‹ Oder Stadt?« »Gemeinde?« schlug der Kaplan vor. »Hm. › ... diese ehemals stolze Gemeinde wieder den Segnungen des ... ‹ Und so weiter und so fort. Ejländische Justiz, Neid und Ruhm in der ganzen Welt, das übliche Blabla ...« »Wir haben das schon einmal geschrieben, nicht wahr, Herr?« Schlief der Kommandeur etwa ein? Sein Kopf sank nach vorn. Eay Feval verdrehte gereizt die Augen, und dann wünschte er, er hätte es nicht getan. Wieder beschlich ihn das Gefühl, daß der alte Knabe ihn durch seinen Schleier sehen konnte. »Aber bei all dem«, fuhr der Kommandeur fort, »haben wir nicht mit dieser Viper in unserer Mitte gerechnet, mit diesem hinterhältigen Meuchler von Moral und Tugend, der so lange, viel zu lange in unserem Reich geduldet worden ist...« Der alte Mann zog an seiner Jarvel-Zigarre. Die Entwicklungen des letzten Tages hatten seine Pläne durchkreuzt. Da er ausgerechnet seine Zeit für diesen Unsinn verplempern mußte, wo doch nun »Miss R...« zu ihm gekommen war! Es würde seiner Karriere si cherlich nicht nutzen, wenn er ein paar dreckige Vagas aufknüpfen ließ! Jeder konnte einen Vaga aufhängen. Oder auch fünf. Warum hatten sie bloß diesen blödsinnigen Tempel nicht in Ruhe gelassen?
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Er dachte erneut an die ungeheure Explosion, die ihn gestern aus dem Schlaf gerissen hatte. Vaga-Magie, also mußten Vagas sterben. Aber steckte vielleicht mehr dahinter? Er dachte wieder an die Ex plosion in Zenzau. Der Rote Rächer! Konnte er es gewesen sein? Eay Feval fragte sich erneut, ob der Kommandeur eingeschlafen war. »Wir könnten vielleicht auch etwas über den dunklen Gott Koros einfügen, Herr«, schlug er vor. »Wie seine Bosheit durch die Vagas wirkt. Der dunkle Gott wäre die beste Eröffnung; und dann noch etwas über den hinterhältigen, geldgierigen Charakter der Vagas. Es ist so gut wie sicher, daß niemand in der Menge nicht schon einmal von einem Vaga betrogen wurde. Lassen wir sie doch darüber nachdenken! So vergessen sie den ganzen Spaß, den sie bei den Jahrm -« Es krachte im Unterholz, und Umbecca betrat abrupt die Szene. Tränen rannen ihr über die Wangen. »Olivan!« stieß sie hervor. »Ich muß mit dir sprechen. Allein!« Jem hatte die Augen wieder geöffnet. Er drehte sich immer noch am blassen Himmel und sah auf das Chaos unter sich hinab. Der Regen ließ das Grün saftig leuchten. Und auf diesem smaragdgrünen Teppich sah er die fliehenden Vagas, die von den Blauröcken verfolgt wurden, er sah die Bauern, die sich an der Jagd beteiligten, sah, wie Steine und Ziegel flogen und Stöcke geschwungen wurden, er sah die Blitze der Musketen und die Rauchwolken, die von ihren Mündungen aufstiegen. Einiges war dunkel, und anderes war hell, einiges lag unter einem Schleier, während anderes klar war. Jem sah sie alle, aber am deut lichsten sah er den Mantel seiner Mutter, der leuchtendrot glühte und sich rasch fortbewegte. Der Karren raste mit atemberaubender Geschwindigkeit über den Anger, dann sprang Ela hinaus und lief mit wehendem Mantel auf die Tore der Sakristei zu. Musketenkugeln, Ziegel und andere Geschosse regneten herab. Menschliche Gestalten stellten sich ihr in den Weg, aber nichts konnte sie aufhalten. Nichts konnte sie stoppen.
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Dann kam die Welt wieder näher. Plötzlich war Jem nicht mehr isoliert. Mit einem Mal war ihm schlagartig klar, daß die Anwesenheit seiner Mutter an diesem Tag einer der Gründe war, die den Vaga-Aufstand auslösten. Sie war sein Geist, und sie war geschützt. Er fühlte keine Furcht. Dann wußte er mit ebenso großer Gewißheit, daß Cata nicht auf das Schafott gehen würde. Es würde nichts passieren, weil es nicht geschehen konnte. Sie würde leben. Und sie würde frei sein. Dann spürte Jem eine verzweifelte Liebe, stärker, als er sie je zuvor empfunden hatte. Wie die Strahlen aus dem Kristall drang sie aus jeder Pore seines Körpers, sehnte sich danach, seine Mutter zu umhüllen, die über den Anger rannte; Tor in seinem Schlupfwinkel in der Burg zu berühren, den alten Wolveron und Nirry zu umfas sen und ihren Vater und Barnabas, seinen verlorenen Freund, wo im mer er sein mochte. In einem schwindelnden Moment erkannte Jem, daß seine Liebe sogar alle seine Feinde einschloß: Tante Umbecca und Goodman Waxwell, den armen, toten, rothaarigen Polty, sie umfaßte die Streitkräfte von Ejard Blau ebenso wie die von Ejard Rot; sie umfaßte die Vagas und die Zenzaner und alle anderen Ras sen in dieser geheimnisvollen, riesigen Welt. Ebenso wie sie die Kreaturen des Wildwaldes einhüllte, die Fische im Fluß und die Vögel in der Luft. Sie umarmte alle Lebenden und auch die Toten. Seine Liebe weitete sich aus, verstärkte sich und schloß die ganze mißbrauchte und zerstörte Welt ein, die sich leidend unter Jem er streckte. Die Quelle dieser Liebe, das wußte Jem, die tiefste und stärkste Liebe, die alles andere beherrschte und kontrollierte, war seine Liebe zu Cata. Es war ein verzweifelter Irrsinn. Es war alles. Die Welt war wieder da! Jem drehte und drehte sich. Aber nachdem die ersten Ekstasen seiner Liebe nachließen, bemerkte er, daß auch das merkwürdige Licht des Kristalls in seinen Händen verblaßte.
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Es erlosch. Der Regen war mittlerweile stärker geworden, Jem konnte ihn fühlen. Seine Augen und Lippen waren naß, und seine Hände, die den Kristall umklammerten, waren kalt. Als in diesem Augenblick seine Mutter durch die Tore der Sakri stei stürmte, bemerkte Jem, daß der Kristall fort war. Er war einfach aus seinen Händen verschwunden, und nun fiel er. Hätte jemand unten auf der Erde seinen Blick von dem Aufruhr losgerissen und in den Himmel geschaut, hätte er eine dunkle Ge stalt gesehen, die langsam, in einer Spirale, durch die grauen Wolken nach unten schwebte. Jem drehte sich und sah den zerstörten Tem pel, den Friedhof, den Garten der Sakristei. Er erkannte die hohen Schornsteine und das glänzende Glasdach des Anbaus, auf das unablässig der Regen niederprasselte. Eay Feval ging unruhig im Ballsaal auf und ab, als plötzlich der Sturm losbrach. Der Kaplan ging langsam, beinahe schlurfend, als würde er einen einsamen Tanz vorführen. Es regnete, und die Dunkelheit drang durch die Vorhänge der Fenster in den Raum. Er wartete. Erst hatte er in dem langen Flur gewartet, der zum Glasraum führte, dann in der Halle, wo er mit seinen behandschuhten Händen ein paar Staubflocken von der Marmorschulter des Kö nigs weggeschnippt hatte. Und jetzt war er hier, Zeuge des ersten ge sellschaftlichen Triumphes von Umbecca Rench. Wie schnell sie aufgestiegen ist, dachte er. Wenn ein Beobachter in diesem Moment festgestellt hätte, daß der Kaplan gereizt war - oder vielleicht sogar wütend -, hätte Eay Feval ihm nicht widersprochen. Es war schon unwürdig genug, daß der alte Mann ihn aus dem Glasraum verwiesen hatte. Schlimmer war, daß Umbecca Rench dem Kaplan vorher mit nichts, nicht einmal mit einem Jota angedeutet hatte, welche Motive hinter ihrem unvermittelten, tränenreichen Besuch standen. So behandelten wahre Ladies Eay Feval nicht. Wäre nicht ständig eine Wache vor der Tür des Glasraums auf und ab marschiert, hätte Eay Feval ein bißchen genauer gewußt, was ei gentlich hinter den Türen vorging. So jedoch hatte er nur den An fang mitbekommen, eine Beichte, irgendeine Enthüllung.
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Dann wurde es ihm plötzlich klar. Natürlich! Der Rote Rächer! Der Kaplan holte tief Luft. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Das war die Erlösung! Ein imaginäres Orchester schien in der Finsternis zu spielen, und Eay Feval summte leise vor sich hin. Er machte ei nen kleinen Schritt und dann noch einen. Eins zwei drei, eins zwei drei... Er dachte an den Abend zurück, an dem er Umbecca auf dem Ball hofiert hatte, erinnerte sich an ihr grauenvolles Kleid und ihren monströsen Hut und die unzähligen Male, die sie ihm auf die Füße getreten war, während sie sich bleiern über den Tanzboden gewuch tet hatten. Sie war lächerlich. Alle Offiziersgattinnen, alle ohne Ausnahme, hatten hinter vorgehaltener Hand gelacht. In der vor nehmeren Gesellschaft hätten sie sogar offen gelacht und sich nicht zurückgehalten. Sie hätten angenommen, daß sie eine komische Nummer war, ein Witz, den Eay Feval machte, wie der Affe in Trau erkleidung, der alle bei Lady M... so entzückte, oder der Lenden schurz, den er an Lady E's... berühmtem Dschungelabend getragen hatte. Aber wer wußte, daß Umbecca keine Witzfigur war? Der Witz ging auf Kosten derjenigen, die sie für eine hielten. Der Ball in der Sakristei zählte nicht. Das war nur ein bäuerlicher Scheunentanz! Wenn Umbecca Rench das nächste Mal auf einen Ball ging, würde er von anderem Kaliber sein. Und dort würde niemand es wagen zu la chen. Eay Feval hatte einen Instinkt, was Frauen anging. Umbecca Rench war noch ungeschliffen, das war alles. Aber ihr Provinzialis mus war nur oberflächlich. Im Augenblick hatte sie sich von dem Kaplan distanziert, weil sie sich ein wenig zu ihm hingezogen ge fühlt hatte. Das war provinziell und würde vergehen. Herrin Rench war verletzt und beleidigt, aber als Lady V... würde sie begreifen, daß Eay Feval der beste Freund war, den sie haben konnte. Sicher würde es vergehen. Umbecca Rench war keine Närrin. Sie mußte nur den Roten Rächer aufgeben, und schon würde sie alles bekommen, was sie wollte. Veeldrops Ruf war wiederhergestellt. Umbeccas Ehe würde brillant sein, und das beste war, ihre Witwen-
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schaft würde sicher schon bald folgen. Die feine Gesellschaft von Agondon würde ihr zu Füßen liegen! Und da kam er ins Spiel und würde an ihrer Seite als ihr Berater fungieren. Eay Feval tanzte auf dem Parkett im Kreis, wie die aufgezogene Figur einer Spieluhr. Es ging alles sehr schnell. In seiner dunklen Bastion hörte Eay Feval zunächst den Lärm nicht, der auf dem Friedhofsweg erscholl. Im Ballsaal wurden Schreie zu Geflüster, und zerberstendes Glas wurde zu Vogelgezwitscher. Doch als Schüsse fielen, kamen sie auch hier als Schüsse an. Eine Tür wurde zugeschlagen, und man hörte, wie die Wachen eilig zum Glasraum liefen. Etwas ging da vor. Der übliche Ablauf für die Hinrichtungen war durcheinandergeraten, soviel war klar. Der Kaplan hielt in seinem Walzer inne und ging zu den Türen des leeren Ballsaals. Mit ge spitzten Lippen trat er in den blauen Flur. Diese schrecklichen Wachen hatten den ganzen Teppich mit Lehm verschmiert. Wirklich eine Schande! Eay Feval blickte aus einem Fenster auf den regennassen Schlackepfad. Er hörte Schritte. Unschlüssig stand der Kaplan an der Tür, als sie plötzlich aufflog. Er wich zurück, erschreckt von der roten Erscheinung. Der Rote Rächer! Es dauerte einen entsetzlichen Moment, bis der Kaplan begriff, daß es doch nicht der furchteinflößende Renegat war, sondern Lady Elabeth, die sich von ihrem Krankenlager erhoben hatte. »Wo ist er?« »Mylady Elabeth, also wirklich!« Sie stieß seinen Arm zurück. »Wo ist Veeldrop? Sagt mir, wo er sich aufhält!« Eay Feval hatte Lady Elas Aussehen nie sehr gemocht. Sie wäre niemals eine seiner Ladies geworden. Stammelnd deutete er zu dem Glasraum, und während er ihr folgte, sah er sich um. Zu seinem Entsetzen bemerkte er die beiden alten Männer, einen runzeligen Die
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ner und einen schmutzigen alten Vaga, die anscheinend zu Lady Ela gehörten. Sie folgten ihnen. Nein, sie war wahrhaftig keine von Eay Fevals Ladies! Im Glasraum hatte sich der Kommandeur hinter seinem Schreib tisch aufgerichtet und stützte sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seinen juwelengeschmückten Stock. Vor ihm kniete Um becca immer noch auf dem Teppich, das Gesicht tränenüberströmt von dem Trauma ihrer Enthüllung. Die Wachen, die in den Raum ge stürmt waren, stolperten furchtsam zurück, als die Wut des Kom mandeurs sie wie ein Donnerschlag traf. »Was? Dieser Vaga-Abschaum! Was? Was?« »Veeldrop!« Das war kein Ersuchen. Es war ein Befehl. »Ela!« Umbecca riß erstaunt den Kopf herum. Sie hatte ihre Nichte schluchzend bei dem zusammengebrochenen Tor zurückge lassen. Niemals, nicht einen Augenblick lang, hatte sie damit ge rechnet, daß Ela ihre wüste Drohung wahrmachen und dem Kom mandeur gegenübertreten könnte. Dabei hatte sie auch noch Silas mitgebracht! Und Stephel! Die rotgewandete Gestalt trat vor. Es war ein königlicher Auftritt, und sie glühte vor Haß und Liebe. Einen endlos scheinenden Moment lang blieb die Konfrontation zwischen Rot und Blau in der Schwebe, und Eay Feval begriff zu seinem Entsetzen, daß er sich geirrt hatte. Sicher, Lady Ela würde niemals unter seinen Einfluß geraten; doch ja, der Rote Rächer war gekommen. Die Inkarnation des Widerstands stand hier im Raum! Und dann stürzte der Himmel ein. Es blitzte grell, und dann zuckte ein weiterer Blitz über das regennasse Dach. Einige schmerzhafte Augenblicke lang waren die grauen Glasscheiben plötzlich grell, blendend weiß. Dann erscholl ein Donnerschlag. Und die Decke explodierte. Der Kommandeur brach unter seinem Schreibtisch zusammen. Umbecca warf sich flach auf den Boden. Ela drehte sich um sich selbst, stolperte und fiel. Die Wachen wichen zurück und schützten ihre Gesichter, als die Glassplitter in den Raum flogen.
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Der Regen prasselte nun ungehindert herunter. Und da war noch etwas anderes. Etwas war mitten auf den Boden gefallen. »Vaga-Magie!« stieß Umbecca entsetzt hervor, während sie die nackte Gestalt musterte. Sie hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt, und ihre Haut glühte noch schwach in einem verblassenden, purpurschwarzen Licht. Langsam näherten sich alle über die Glasscherben dem »Etwas«. Nur eine Gestalt erhob sich nicht. Sie blieb liegen, wo sie hinge fallen war, in einem roten Haufen. Und in einer ebenso roten Pfütze, die rasch größer wurde. Wenigstens in einem Punkt hatte Goodman Waxwell recht behal ten. In einer gewaltigen, roten Eruption schien alles Blut in Elas Körper aus ihrem Mund zu quellen. Der lange vorhergesagte Blut sturz war nun doch eingetreten. Stephel brach schluchzend über seiner Königin zusammen. Aber er konnte nichts mehr für sie tun. Die andere Gestalt auf dem Boden schien lange nichts wahrzu nehmen. Nur langsam hob er den Kopf und musterte die Gesichter, die ihn betrachteten. Langsam, durchweicht vom Regen, der durch das Loch im Dach hereindrang, erhob sich die nackte Gestalt und stand schließlich zitternd auf den Füßen. »Jem!« Umbecca wollte vortreten, um den Jungen zu umarmen oder nie derzuschlagen, wer weiß? Aber ein Wachposten zog sie zurück, als drohe ihr Gefahr. Die Blauröcke richteten ihre Musketen auf den Jungen und waren bereit, beim leisesten Anzeichen von Gefahr zu schießen, während er sein nasses Gesicht dem Kommandeur zu wandte, der unter dem Schreibtisch hervorgekrochen war, und gelassen erklärte: »Es war nicht Cata. Ich habe es getan. Ich habe alles getan.«
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40. Die Schönheit der Täler
Der Kommandeur sank zurück und lehnte sich an den Schreibtisch. Sein gerötetes Gesicht war schmerzverzerrt, und er schien einen Augenblick lang nicht sprechen zu können. Aber dieser Lapsus dauerte nur kurz. Sergeant Bunch stürmte geräuschvoll durch die Pflanzen und blieb dann erstaunt vor der Szene stehen, die sich ihm bot. Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, und seine Augen schienen ihm fast aus den Höhlen zu treten. »Was ist los, Mann?« fuhr der Kommandeur hoch. »He ... Herr!« Der fette Sergeant nahm Haltung an. »Der Auf... Aufstand ist niedergeschlagen, Herr!« »Niedergeschlagen?« »Drei von meinen Männern sind verletzt, Herr, und einer wurde von einem Zie ... Ziegelstein getroffen.« »Und der Vaga-Abschaum?« »Herr?« Der Sergeant konnte seinen Blick trotz aller Mühen nicht von der strahlenden Vision mitten im Zimmer losreißen. Später würde er versuchen zu verstehen, was geschehen war. Ohne Vorwarnung, so kam es ihm jedenfalls vor, war seine Indentität als Soldat und Sergeant in Frage gestellt worden. Als Junge hatte seine schwarzgewandte Großmutter ihn auf eine Wallfahrt zum Brunnen der Weissagung mitgenommen, wo Lady Imagenta echte Tränen vergoß. Seit damals war der fette Sergeant nicht mehr so außer sich gewesen, wie er es jetzt war, als er ehrfürchtig begriff, daß die Welt doch nicht nur eine langweilige Kugel war, die aus den langweiligen Tatsachen bestand, die ihn sein Leben gelehrt hatte. Er riß sich zusammen. »Wir ... wir haben ein paar Vagas eingesperrt, Herr. Und auch ein paar Bauern, die Steine geworfen haben und ... « Der Sergeant brach ab, und sein Blick glitt wieder zu Jem. Der Kommandeur näherte sich ihm, ja, er schritt beinahe auf ihn
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zu. Der alte Mann stützte sich kaum auf seinen Stock. Statt dessen schien er ihn gleich in die Luft zu schwingen und den fetten Sergeant damit schlagen zu wollen. »Was ist los mit Ihnen, Mann?« dröhnte er. »Und der Rest dieses Vaga-Pöbels? Haben Sie sie zusammengetrieben?« Der Sergeant schnappte nach Luft. »Herr ... einige sind ... in die W ... Wälder entkommen ...« Der Kommandeur holte mit seinem Stock aus. »Sie sind ein Narr, Bunch! Diese Angelegenheit wird untersucht, verstanden? Sie hat ten die Verantwortung für die heutigen Operationen, und ich mache Sie für das, was hier passiert ist, höchstpersönlich verantwortlich. Verstehen Sie das? Unsere Stellung hier hängt von erbarmungsloser Kontrolle ab. Wenn Sie diese Kontrolle nicht hinkriegen, dann sind Sie für so ein Kommando nicht geeignet! Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen! Treiben Sie soviel von diesem Vaga-Pöbel zusam men, wie sie können, und töten Sie sie ohne lange Befragung. Haben sie das kapiert?« »Jawohl, Herr.« Der Kommandeur drehte sich fuchsteufelswild zu den Anwesen den im Raum um. Diese Krise hatte etwas in ihm geweckt, etwas, das geschlafen hatte. Er war aus einer Lethargie erwacht und hatte erneut den furchterregenden Mantel des Helden der Belagerung übergeworfen. Silas Wolveron hörte die mitleidlosen, gebellten Befehle, hörte, wie der Stock auf den Sergeanten herniedersauste, und wußte, daß er sich wieder in der Gegenwart seines Peinigers befand. Der blinde Mann ließ seinen Stock fallen, sank auf die Knie und flehte in wohlgesetzten Worten um das Leben seiner Tochter. Es war eine erschreckende Vorstellung. Niemand hätte erwartet, daß solche Verzweiflung und Furcht in dem Herzen des alten Einsiedlers hau sen konnten. In seinem Appell, in seiner scharfen Verzweiflung, wurde das Vaga-Blut des ehemaligen Schriftgelehrten von Irion erschreckend deutlich. Vielleicht war es nicht einmal so sehr eine Bitte als vielmehr eine Klage, die aus den unendlichen Tiefen des Leids kam. Die Kapuze glitt ihm vom Kopf und entblößte seine Verletzungen. Eay Feval hatte den linken Handschuh ausgezogen und musterte
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seine Fingernägel. Sie waren perfekt gepflegt und zeigten bewun dernswerte Halbmonde. Er konnte nichts weiter tun, denn er hatte bereits das Thema seiner Predigt gefunden, die er sicher bald halten und in der er die Verderbtheit des Jungen öffentlich rügen würde. Nacktheit. Das war der Schlüssel. Die Schamlosigkeit unkeuscher Lust. Der Kaplan warf einen kurzen Blick auf den Jungen. Dessen Anblick löste ein gewisses ästhetisches Vergnügen in ihm aus, das konnte er nicht leugnen, aber er wandte den Blick rasch ab. In diesen Dingen war Gleichgültigkeit das beste, das hatte er gelernt. Wenn nur dieser alte Vaga endlich schweigen würde! Also wirklich, soviel Vulgarität konnte einen schon anwidern! »Was für ein armer alter Kerl aus dir geworden ist, Silas Wolveron«, sagte der Kommandeur mit erhobener Stimme und unterbrach die Wehklage. »Oder sollte ich lieber sagen: ›Augenloser Silas‹?« Er drehte sich halb um, und seine Soldaten kicherten pflicht schuldigst. »Zufällig, Mann, hast du mit der Arroganz und der geistlichen Überheblichkeit, die, wenn ich so sagen darf, typisch für dich sind, die Gerechtigkeit, die Gnade, das Mitgefühl und die Milde meines Regiments unterschätzt. Wenn ich das Monster wäre, für das du mich hältst, hättest du dann diese Jahre im Zwielicht dein nutzloses Leben geführt und dich in dem Strahl der Achtung deiner Tochter gesonnt? Niemals! Du boshafter alter Verräter! Welche Greueltaten würdest du mir nicht zuschreiben? Wie kannst du wirklich auch nur einen Moment glauben, daß ich bereit wäre, ein armes, mißbrauch tes Mädchen auf das Schafott zu schicken? Ein Mädchen, das, wie ich vermute, nicht zuletzt von dir mißbraucht worden ist? Um un seres Herrn Agonis willen, Mann! Für was hältst du mich?« Der Kommandeur schnippte mit den Fingern, und ein Soldat trat vor. Er schlug Silas Wolveron mit dem Gewehr über den Schädel. Umbecca brannte vor Erregung. Und in Jem loderte die Wut. Er stürmte vor, stürzte sich auf den Kommandeur und ging ihm an die Gurgel. Hätte Jem Veeldrop mit bloßen Händen erwürgen können, hätte er es in diesem Moment ge tan.
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»Haltet ihn auf, haltet ihn auf!« schrie Umbecca. Im nächsten Moment war es vorbei, und Jem zappelte hilflos im Griff des Soldaten, der Silas Wolveron niedergeschlagen hatte. »Der Junge ist übergeschnappt!« stieß der Kommandeur erstickt hervor und wich zurück. Er war rot angelaufen und hielt sich den Hals. Dabei schluckte er schwer, als müßte er Erbrochenes zurückwürgen. »Bist du verrückt geworden, Junge? Weißt du, was du da tust? Junge, wenn dein Vaga-Böses dich in diesem Augenblick ver schwinden lassen kann, dann solltest du das lieber tun. Ich weiß zwar nicht, was du sonst noch auf dem Kerbholz hast, aber was du eben getan hast, kostet dich dein Leben! Bringt ihn weg!« »Nein!« rief Umbecca. Doch der Kommandeur hörte nicht auf sie. Er lehnte sich an den Schreibtisch und atmete schwer, wie ein großes, verwundetes Raub tier. Dann knirschte er mit den Zähnen. »Olivan?« Umbecca eilte an seine Seite. »Ich kümmere mich darum, Vater!« Jem schnappte nach Luft und schüttelte sich unwillkürlich. Der Blaurock hielt ihn unerbittlich fest, so daß er nur langsam den Kopf wenden konnte, um die Gestalt zu betrachten, die jetzt in den Kreis trat. Vorsichtig wich er mit seinen Pantoffeln dem zerbrochenen Glas aus. Der schlanke, muskulöse Mann trug einen blauen Um hang, und ein weißer Verband, der wie ein Turban wirkte, verbarg sein feuerrotes Haar. Poltiss Veeldrop trat näher an Jem heran und musterte den nackten Jungen scheinbar kritisch. »Sollte man ihm nicht etwas anziehen? Er hat doch wohl schon genug moralische Verderbtheit gezeigt, auch ohne uns auch noch seinen nackten Körper zu zeigen, denke ich.« »Poltiss!« knirschte der Kommandeur. »Geh wieder ins Bett. Du bist noch nicht gesund.« »Du auch nicht, Vater. Aber dir, so fürchte ich, wird es immer schlechter gehen. Ich dagegen werde mich erholen, nicht zuletzt dank dieses Jungen hier. Ich habe mir seine zersplitterten Krücken bringen lassen. Was für ein Anblick. Hätte ich die ganze Wucht ab bekommen, wäre ich jetzt wohl tot. Und das war zweifellos seine Absicht. Aber nach dem ersten Schlag scheint er seine Wut mehr ge-
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gen den Grabstein dieser Hure Yane Rench gerichtet zu haben als auf meinen Schädel. Was vielleicht auch durchaus angemessen ist. Yane Rench war, soweit ich das beurteilen kann, eine Frau, die eine Menge Fragen zu beantworten gehabt hätte. Man könnte sagen, daß sie diese Kette des Bösen begonnen hat, die zu der erbärmlichen kleinen Schandtat des Jungen geführt hat.« »Poltiss, bitte!« knurrte der Kommandeur, aber ob es ihm um seine eigene angegriffene Gesundheit ging oder um die des Jungen, war schwer zu sagen. Sein Sohn hielt sich an die erste Interpretation. »Setz dich doch, Vater! Warte, ich helfe dir. Goodman Waxwell wird gleich zu uns stoßen. Er sorgt nur dafür, daß das Mädchen seine Medizin nimmt.« »Mädchen?« fuhr Jem hoch. »Was hast du ihr angetan?« Polty drehte sich mit ungläubigem Staunen zu der kleinen Gruppe um. »Hört ihr das? Was für eine Schamlosigkeit! Er fragt mich, ausgerechnet mich, was ich dem Mädchen angetan habe!« »Wovon redest du?« rief Jem. »Ich liebe sie!« »Liebe!« Polty lachte dröhnend. »Seht ihr, wozu sein verdorbenes Herz ihn gebracht hat? Oh, zuerst mag man gar nicht glauben, daß ein einfacher kleiner Krüppel zu einer solchen Boshaftigkeit fähig ist!« Eay Feval musterte ausgiebig seine Fingernägel. Er war etwas ge reizt, als der junge Hauptmann Veeldrop jetzt in aller Ausführlich keit einen großen Teil des Materials verwendete, daß der Kaplan ei gentlich für seine eigene Predigt hatte benutzen wollen. »Wir alle glauben, natürlich, daß wir in einer äußeren Deformität auch die innere Entstellung sehen können«, sagte Polty. »In dem, was uns der Körper lehrt, so denken wir gern, sehen wir auch das, was das Herz weiß. Aber wir unterdrücken diese Erkenntnis nur zu gern, stimmt's? Wir bremsen sie, wir kontrollieren sie, wir ersticken sie, wir zügeln sie, als würden wir uns dessen schämen! Wo eigent lich Ekel ist, zeigen wir Mitgefühl. Wo Antipathie ist, üben wir Toleranz. Aber was ist mit dem Ekel, der Ablehnung und dem Entset zen, das aus unseren Herzen strömt wie Wasser aus einer Quelle? Wie lange haben wir ihm zugesehen, wie er sich auf seinen Krücken durch das Dorf geschleppt hat? Der arme kleine Krüppel, haben wir
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gesagt. Laßt ihn nur in Ruhe, er ist harmlos, haben wir gesagt. Wer hätte vorhersagen können, daß sich dieser kleiner Junge in der ge heimen Kammer seines Herzens an den dunklen Gott verkauft hat?« Erneut raschelten die Blätter, und eine andere Stimme meldete sich zu Wort. »Ich glaube, daß ich diese Frage beantworten kann, denn schließlich habe ich genau das vorhergesagt. Es war meine Überzeugung, daß moralische Verderbtheit von seinen unteren Gliedmaßen ausstrahlen würde wie von einem Infektionsherd, und ich habe, mit Verlaub, recht behalten. Daß dieser Bastard jetzt sogar in der Lage ist, seine Deformitäten zu verbergen, zeigt nur, wie recht ich hatte.« Es war Goodman Waxwell, der mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht in seinem Krabbengang vorwärts trat. Aber Jem achtete nicht auf den schäbigen Arzt. Waxwell hatte seine Arzttasche vor sich an die Brust gepreßt, doch hinter sich her zog der Mann eine merkwürdige und dennoch seltsam vertraute Gestalt. Als Polty gesagt hatte, der Arzt würde sich um das Mädchen kümmern, hatte Jem natürlich angenommen, daß es sich bei diesem Mächen um Cata handelte. Doch wer war diese Person? Sie trug ein glänzendes weißes Kleid, darunter mehrere Un terröcke, die raschelten; als sie näher kam. Der hohe Kragen war mit Spitze verziert, die auch die engen Manschetten verschönte. Das dunkle Haar des Mädchens war hoch aufgetürmt, ließ die Stirn frei und war mit einem blauen Band befestigt. Sie war sehr sauber. Von einer Kette um ihren Hals hing ein Amethystring. Dann spürte Jem, daß sie unter ihren Röcken hinkte. »Was habt ihr ihr angetan?« rief er. Cata ließ den Kopf hängen, und ihre Schultern waren zusammengesunken. Als sie den Kopf hob und Jem fragend anblickte, verrieten ihre Augen keinen Funken Leben. Scheinbar erkannte sie ihn nicht. In dem Augenblick rührte sich der alte Wolveron wieder, als hätte die Anwesenheit seiner Tochter ihn geweckt. Aber als er seinen verletzten Kopf hob, wimmerte er nur und stöhnte, wie eine Kreatur, die verloren war.
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Er nahm Cata nicht wahr. Er fühlte sie überhaupt nicht. »Ach, Cata, Cata!« Jem schluchzte. »Eine schöne Zurschaustellung von Reue!« rief Poltiss angewidert. »Er tut, als würde er das edle und vornehme Gefühl der Liebe empfinden, wo er doch die ganze Zeit nur versucht hat, dieses Mädchen in die Fänge seiner verdorbenen Lust zu bekommen!« »Aber nein, Jem!« rief Umbecca. »Ich fürchte doch, Herrin Rench.« Mit einer ausladenden Geste deutete Poltiss auf die merkwürdig veränderte Cata, und während der junge Mann dastand und das Mädchen scheinbar liebevoll anblickte, begann er, eine fantastische Geschichte zu erzählen. Jem konnte nur staunen. »Ich hatte schon oft von diesem einsamen Mädchen gehört, das in der grünen Einfachheit des Wildwaldes lebte, nur die Lektionen der Bäume lernte und von der Zeit lediglich den Wechsel der Jahreszeiten kannte. Viele scheuten sie, weil sie glaubten, daß sie außerhalb der Gnade und der Liebe lebte. Doch ich erkannte, daß dieses Kind trotz ihrer Entfremdung vom Herrn Agonis und von allen Wohltaten der Gesellschaft, in seinem Herzen die Kraft der Tugend besaß. Ich wußte, daß sie in die Gemeinschaft unseres Tempels eingeführt werden konnte, wenn man sie nur ihrem Leben im Wildwald entriß. Sie ist kein böses Kind, sondern bedarf nur der Unterweisung. Mir war klar, daß sie nach angemessener Erziehung von Herz und Ver stand gerettet werden konnte. Und in ihrer Errettung sehen wir ge nau das Symbol der Erneuerung des Herzens, die wir, Mitglieder der Streitkräfte Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät, dieser unwissenden Provinz zu bringen versucht haben. Ich habe mich darum bemüht, dieses Mädchen aus der Dunkelheit zu befreien. Während langer Monate ist es mir gelungen, sie mit Hilfe von Tand und Süßigkeiten aus dem Wald hervorzulocken. Ich habe gehofft, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie dann allmählich hinter mir her in das Licht der Liebe des Herrn Agonis zu ziehen. So kam es, daß sie zunächst scheu, wie ein junger Faun auf seinen dünnen Beinen, um-
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herstakste, an den goldenen Abenden zu mir kam und das Brot des Geistes aus meinen Händen aß.« Poltys Stimme war zu einer traurigen Liebkosung herabgesunken. Jetzt schwoll sie wieder streng an. Er drehte sich um, sah Jem an und wies anklagend mit dem Finger auf ihn. »Aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß diese Viper ihren Weg kreuzte. Während ich versuchte, ihren Geist zu retten, hatte ich nicht gewußt, daß da jemand war, dem nach ihrem Korper gelüstete! Ich hatte keine Ahnung, daß dieser verdorbene Junge in dem un schuldigen Mädchen einen Brunnen für seine Lüste suchte!« »Oh, Jem, Jem!« schluchzte Umbecca. Polty fuhr rasch fort: »Ich bin davon überzeugt, daß dieses Mädchen tugendhaft geblieben ist. Aber wäre ich nicht eingeschrit ten, wäre ihr Untergang besiegelt gewesen! Eine Weile hatte ihre natürliche Schlichtheit sie gerettet, ihre Ahnungslosigkeit, nicht die Skrupel bewußter Tugend. Aber das hat die Lust dieses Jungen nur noch mehr entflammt, und er belagerte ihre Unschuld noch drän gender. Am Ende war er frustriert vom Scheitern seiner Pläne und griff zum letzten Mittel aller hinterhältigen Verführer. Er suchte mit Gewalt zu erreichen, was ihm durch seine Hinterlist nicht gelang. In einer angeblichen Zeremonie im Andenken an die Toten kleidete er das Mädchen in die Gewänder einer Hure, nahm sie im Schutz der Dunkelheit mit auf den Friedhof und hätte sein schändliches Ziel beinahe erreicht, und zwar auf dem Grabstein ihrer toten Mutter!« »Ungeheuerlich!« rief der Kommandeur und erhob sich, seinen Schmerz vergessend. Er war wirklich wütend, denn die schlimmen Taten, die sein Sohn beschrieb, entsprachen genau denen, die die schöne Evelissa in dem Roman Die Schönheit der Täler erdulden mußte. »Das Mädchen ist gerettet worden«, schloß Polty fromm, »und wird nicht mehr in den Wildwald zurückkehren. Sie wird in die Ob hut meiner teuren Adoptiveltern gegeben, die sich in all den Jahren liebend um mich gekümmert haben, bevor ich meinen Vater gefun den habe. In der Blütenhütte wird sie vor allen schändlichen Ver führern und dem verrückten Eremiten geschützt sein, der sie so
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schrecklich mißbraucht hat. Und dort werde ich sie nur zu gern besuchen. Denn ich glaube, daß sie bald eine wahre Zierde dieses Dor fes sein wird, wenn die Glückseligkeit ihre momentane Trauer über windet und die Erinnerung an diesen bösen Buben aus ihrem Herzen vertrieben worden ist.« Eay Feval knabberte an einem Nagel. Die Verärgerung, die in ihm genagt hatte, war erheblich gewachsen. Er fühlte sich überflüssig. Wenn er daran dachte, daß er diesem jungen Hauptmann noch vor kurzer Zeit in seine neuen, feinen Kleider geholfen hatte! In einem zweifachen Sinne! Der Sohn des Kommandeurs lernte rasch, soviel war sicher. Der Kaplan riß den Nagel ab. Der Kommandeur war aufgestanden und sah Polty bewundernd an. »Ach, mein Sohn! Mein Sohn! Ich habe mich gefragt, ob du ein wahrer Veeldrop wärst, und jetzt sehe ich, daß du wahrlich einer bist. An diesem Mädchen hast du dein Mitleid und die Tiefe deines Vertrauens in die menschliche Tugend bewiesen. Und an dem Jun gen hast du gezeigt, welcher Zorn in uns brennen muß, wenn dieses Vertrauen mißbraucht wird. Ich werde das Wohlergehen dieses ar men Mädchens selbst an mein Herz legen und sie als meine Tochter ansehen. Was diesen Jungen angeht, gibt es nicht mehr zu sagen. Er hat sich selbst aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, denn seine Verbrechen sind Verbrechen gegen die Unschuld. Und daher sind sie zu widerwärtig, als daß man sie ihm vergeben könnte. In seiner Gegenwart erlischt selbst das flammendste Mitleid. Vor ihm gefriert das Wasser der Vergebung. Er hat jede Hoffnung auf Besserung verwirkt. Wachen! Auf das Schafott mit ihm!« »Nein!« rief Jem. »Cata, sag es ihnen, bitte!« Aber Cata war tief im Nebel von Waxwells Medizin versunken und konnte nichts sagen, nichts fühlen, sondern nur mit leerem Blick zusehen, wie die Wachen den widerstrebenden Jungen aus dem Zimmer zerrten. Das schien das Ende zu sein, aber da packte Umbecca plötzlich den Arm des Kommandeurs und rief unter heftigem Schluchzen: »Olivan, nein! Das darfst du nicht! Es ist falsch ...!«
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Eay Feval sah von seinen Fingernägeln hoch und hob die Brauen, als der Kommandeur sich seiner zukünftigen Braut zuwandte. Sein Gesicht hatte wieder diese purpurrote Färbung angenommen. Oh, oh, das war besorgniserregend. Es war sogar gefährlich. »Falsch? Weib, du vergißt dich! Weißt du nicht, was du sagst?« »Bitte, Olivan. Jem ist kein böser Junge ...« »Was? Du hast gesehen und gehört, was er getan hat, und du be hauptest, er ist nicht verdorben?« »Ich weiß, daß er es nicht ist!« rief Umbecca. »Sieh ihn doch an! Er steht vor uns im Gewand der Verruchtheit, das will ich nicht abstreiten. Aber ist es sein wirkliches Gewand? Olivan, dein Sohn hat für dieses Mädchen gesprochen. Aber darf nicht auch jemand für diesen Jungen reden? Sehen wir in meinem armen Jemany nicht auch eine Geschichte des Mißbrauchs eines Unschuldigen?« Eay Feval nahm sich den nächsten Nagel vor. »Denk nur an das Leben, das er gelebt hat! Sehen wir nicht, daß dieser arme Junge ohne jede Hoffnung in dieses Leben geworfen worden ist? Deformiert, empfangen zwischen inzestuösen Laken, eine Hure als Mutter und ihren verräterischen Bruder als Vater! Ich habe alles bei ihm versucht, aber was für eine Chance hatte ich, eine schwache Frau, gegen das Schicksal? Erinnert euch auch daran, daß in den frühen Jahren nicht einmal ein Tempel hier in Irion gewesen ist, wohin ich ihn hätte mitnehmen können. So sehr mangelte es die ser Provinz an allen Segnungen der Zivilisation. Welche Hoffnung hätte es geben sollen, daß dieser Junge dem Herrn Agonis folgen konnte, dessen Licht allein uns vor den Verderbtheiten dieser Welt schützen kann? Es war unausweichlich, daß dieser Junge fallen mußte - tief fallen mußte. Wir sehen ihn hier vor uns, verloren für die menschliche Würde und Scham, wie er sich im Griff des dunklen Gottes Koros windet. Ach, Olivan, ich kann nicht abstreiten, daß selbst in meinem Herzen die Lust auf Rache schwelt! Als der Junge in seinem Wahn an deine Gurgel gesprungen ist, brannte ich darauf, ihn niederzuschlagen. Ich habe die weibliche Schwäche verwünscht, die mich daran hinderte. Aber Olivan, ich flehe dich an, bei deiner Liebe zu mir, rette meinen armen Jemany! Seine Verbrechen sind
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nicht die seiner Eltern. Er ist nicht böse. Er ist krank. Er braucht eine Behandlung.« Während dieses ergreifenden Monologs hatte Goodman Waxwell mit steigender Aufmerksamkeit zugehört. Jetzt trat er vor und schenkte Umbecca sein schmieriges Lächeln. »Gute Frau, ich bin sehr froh«, meinte er, »daß Ihr Euch nun doch meiner Ansicht anschließt.« »Eurer Ansicht, Goodman?« Der Kommandeur sah ihn an, als wollte er eine wissenschaftliche Expertise einholen. Umbecca wurde blaß. »Allerdings, Mylord. Wenn ich Euch als Wissenschaftler meine berufliche Einschätzung vermitteln darf, muß ich sagen, daß meiner Meinung nach dieser Krüppel keines moralischen Tadels, sondern einer Amputation bedarf. Ich habe diesen Fall von Anfang an ver folgt, obwohl ich bedauerlicherweise nicht alle Fakten kenne. Hätte ich gewußt, daß er nicht nur ein unehelicher Sproß, sondern auch noch die üble Frucht eines Inzestes ist, hätte das meine Überzeu gung nur noch untermauert. Die Umstände seiner Geburt erklären die entsetzlichen Deformationen, die der Krüppel durch die Vaga-Magie im Augenblick verschleiert. Als er noch jünger war, habe ich gehofft, durch eine Entfernung der deformierten Teile die restlichen Bereiche seines Seins retten zu können. Wäre die Prozedur damals durchgeführt worden, hätte vieles von dem vermieden werden können, wovon wir nun gehört haben. Ich fürchte, daß die Infektion schon zu weit gediehen ist. Aber wenn es noch Hoffnung für die Mißgeburt gibt, dann möchte ich Euch nachdrücklich ersu chen, mich sofort operieren zu lassen.« »Nein! Olivan, bitte!« rief Umbecca, doch diesmal hörte der Kommandeur nicht auf sie. Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Ihr habt gut gesprochen, Goodman. Die ›Mißgeburt‹, wie ihr ihn nennt, ist doch nur ein Kind, und wenn es eine Möglichkeit gibt, ihn zu retten, dann müssen wir es versuchen.« Er drehte sich zu Umbecca um. »Beruhige dich, meine Liebe. Du mußt doch einsehen, daß Goodman Waxwells Methode die beste ist. Er ist sowohl ein Diener der Wissenschaft als auch ein Anhänger des
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Herrn Agonis und hat uns aufgezeigt, wie diese Wege sich vielleicht miteinander verbinden lassen. Ich dachte, daß man nur im Zorn mit diesem Jungen verfahren könnte. Nun sehe ich, daß uns die Wis senschaft auch einen Weg der Gnade offenbart. - Einverstanden, Goodman. Ihr könnt den Jungen haben.«
41. Der Gefährte Die Welt war ein Nebel aus Schwärze und Regen. Jem fühlte sich wie aufgehängt in dem festen Griff der Blauröcke, die ihn festhielten, wie auch das purpurschwarze Licht ihn gehalten hatte. Dann jedoch bewegte sich plötzlich alles, und dann war genauso unvermittelt alles vorbei. Er erinnerte sich an den hellen, nassen Raum, daran, wie die Wachen ihn fortschlepp ten, er erinnerte sich an die grünen Pflanzen und an das goldene Glitzern des zerschmetterten Glasdachs. Er erinnerte sich auch an den Kommandeur, der blau und drohend vor ihm stand, an seine Tante, die schwarz trug und schluchzte, an Catas Vater, der be wußtlos in seiner braunen Robe dalag. Das Rot des Leichnams sei ner Mutter war in sein Gedächtnis eingebrannt, und in der Mitte von allem wurde seine Erinnerung von Catas ausdruckslosem Ge sicht beherrscht, von Cata, die ahnungslos in Poltiss Veeldrops Arme sank. Wie Echos von der Wand einer Grabstätte hörte Jem seine eige nen Schreie, voller Verzweiflung, Entsetzen, Sehnsucht und Liebe. Dann schlugen ihn die Wachen, damit er ruhig war, knebelten ihn, fesselten ihn an Händen und Füßen und hüllten ihn in ein Cape, das sich wie ein Leichentuch um ihn schmiegte. Sie trugen ihn in eine Kutsche. »Kommt schnell! Diesmal darf es keine Verzögerungen geben! Wir müssen ihn sofort für die Operation vorbereiten!« Waxwells aufgeregte Schreie drangen durch die regennasse Luft. Der Kutscher ließ seine Peitsche knallen, und der Rhythmus der galoppierenden
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Hufe erklang, hämmernd und drängend, in den Dissonanzen des Sturms. Es goß mittlerweile in Strömen, und Jem wurde gefesselt und hilf los hin und her geschleudert, während die Kutsche vorwärts schoß. Sein Blickfeld schwankte zwischen dem heftigen Sturm draußen und der fürchterlichen, verhaßten Gestalt von Waxwell hin und her, der grotesk auf dem gegenüberliegenden Sitz hin und her hopste. Der Junge versuchte verzweifelt zu schreien, aber es gelang ihm nicht. Er sehnte sich danach, mit den Fäusten zuzuschlagen, aber auch das konnte er nicht. Treten war genauso unmöglich. Ein dickes Stück Tuch steckte in seinem Mund und drängte seine Zunge zurück, und die Stricke, mit denen er an Händen und Füßen gefes selt war, schnitten ihm tief und schmerzhaft ins Fleisch. Es blitzte, und das Licht zuckte über Waxwells verzerrtes Gesicht, über dessen ganze monströse Bösartigkeit. Gierig und mit der Leidenschaft eines Liebhabers starrte der Arzt auf den gefesselten und geknebelten Jungen. Er beugte sich vor und hielt sein Gesicht dicht vor Jems entsetzt blickende Augen. »Ah, du Mißgeburt! Du Krüppel! Bald wirst du kuriert werden!« Er sprang hoch und hämmerte gegen die gepolsterte Decke. »Schneller, Mann, schneller!« Speichel tropfte von Waxwells schlaffen Lippen, und seine Perücke war zur Seite gerutscht, entblößte seinen schorfigen Schädel. Er rollte heftig mit den Augen, bis das Weiße zu sehen war. »Schneller, schneller!« Der Rhythmus der Kutsche war wie ein Liebesrhythmus, der ihn endlich, in einer immer stärkeren Ekstase, zu der blutigen Krönung seines Verlangens führte. Sie bogen schwankend auf den Weg ein, der zur Blütenhütte führte. Da geschah es. Es war das Werk eines Augenblicks. Der Sturm war immer stär ker geworden, genauso wie der Wahnsinn von Waxwells Leiden schaft. Dann ertönte ein ungeheures Krachen und ein betäubendes Licht blitzte auf. Die Kutsche neigte sich, und der Kutscher schrie laut auf, als ein riesiger Baumstamm auf den Weg stürzte.
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Jem schrie, kaum hörbar hinter seinem Knebel. Erst wurde er gegen das Wagenfenster geschleudert, dann weiter hinaus in die aufgewühlte Luft, als die Kutsche wie Zunder in tausend Stücke zerbarst. Es war vorbei. Nein. Noch nicht ganz. Der Blitz schlug zweimal ein. Während Jem gefesselt und völlig durchnäßt im Unterholz am Rand des Wildwaldes lag, brannten sich drei Eindrücke unaus löschlich in sein Gehirn ein: das Genick des Kutschers, das wie ein Stiel abgeknickt war, die Pferde, die sich losgerissen hatten und jetzt wild davongaloppierten, und Waxwell, dessen Beine zerschmettert unter dem Baumstamm lagen und der gegen den Sturm anschrie. Dann kam das zweite weißglühende Licht vom Himmel, und die zerstörte Kutsche war nur noch ein Flammenmeer. Goodman Waxwell würde nie wieder schreien. Crum schnarchte. Crum schnarchte immer. Manchmal trieb es Morven zur Ver zweiflung. Er lag in der Koje unter seinem Freund, streckte den Arm aus, und schlug mit der Hand gegen die knarrenden Bretter über ihm. Manchmal stand er auch auf und schob Crum ein Kissen über Mund und Nase. Aber heute bemerkte Morven die grunzenden Geräusche fast gar nicht. Der Sturm war zu laut. Und der Sturm in Morven selbst wurde ebenfalls immer lauter. Seine Oberlippe war an der Stelle, wo der Ring an der Hand der Vaga-Frau sie aufgerissen hatte, geschwollen. Morven hatte Schmer zen, aber er schätzte diesen Schmerz. Es war der Anfang von etwas. Er schämte sich und war entsetzt, wenn er daran dachte, was er heute getan hatte. Ein altes, runzliges Weib zu schlagen und einen Aufstand auszulösen. Aber dann dachte er: Ich wollte, daß sie mich schlägt. Ich wollte es. Während des Aufstands hatte Morven sich gut gehalten. Nach dem ersten Schock hatte er reagiert. Er hatte Schüsse abgefeuert, er war herumgerannt, hatte dem gehetzten Sergeant Bunch Bewegun gen und Zahlen gemeldet. Es war, als hätte etwas Hartes, etwas Me
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chanisches in ihm die Kontrolle übernommen; ein Impuls, vielleicht der Selbsterhaltungstrieb. Ich darf mich nicht opfern, dachte Morven. Noch nicht. Später sollte Sergeant Bunch denken, daß Rekrut Morven eigentlich gar nicht so schlecht war, wirklich, nicht schlecht, man mußt ihn einfach nur formen, das war alles. Er hatte keine Ahnung, wer den Aufstand ausgelöst hatte. In der Baracke war es stockdunkel. Morven wälzte sich schlaflos auf seiner harten Pritsche. Er fragte sich sogar, ob er jemals wieder würde schlafen könne. Von dem Moment an, als er mitten im Matsch auf die Knie gefallen war und gebetet hatte, ein Moment, der schon so lange her zu sein schien, war Morven sich des Bösen bewußt ge wesen, das in seinen Schläfen wie eine Trommel schlug. Er sah, wie das Böse wuchs, sich verbreitete und die Welt erfüllte. Und er wußte, daß die Blauröcke die Agenten dieses Bösen waren. Der Sturm ließ endlich nach, und Crums Schnarchen erfüllte die Dunkelheit über Morvens Kopf. Der arme Crum! Morven wurde von Mitleid für seinen Freund durchströmt und dann für alle Soldaten, die um ihn herum in diesem langen, kalten Raum lagen und un ruhig schliefen. Einige Männer waren an diesem Tag gestorben. Morven setzte sich auf und schlug die Hände vor das Gesicht. Jetzt überkam ihn Verzweiflung: wegen seiner Rolle bei diesem Aufruhr; aber es war mehr als das. Er verspürte Verzweiflung über das ganze System, über die ganze Ordnung der Welt. Aber was konnte er tun? Was konnte überhaupt jemand tun? Er sah sich als unendlich kleine, unendlich hilflose Fliege, die in einem riesigen Spinnennetz gefangen war. Und die Spinne kroch langsam näher. Als endlich ein Lichtschein die Baracke erhellte, griff Morven nach dem Buch unter seinem Kissen. Es war Vytonis Diskurs der Freiheit. Er las mit brennenden Augen, bis das Signalhorn ertönte. Jem lag da und starrte in den violetten Himmel. Erst als der Sturm nachgelassen hatte, bemerkte der Junge die Ge stalt, die neben ihm hockte und ihn ansah. Sie war nicht von der
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Straße gekommen, sondern zwischen den Bäumen herausgetreten. Erst war es nur irgendeine Präsenz für Jem, weiches, lautloses Wis sen von Wohlwollen, und dann fiel ein Strahl des Ostmondes durch die Wolkengebirge. Jem drehte den Kopf und sah, wie er es erwartet, nein, gewußt hatte, in die geheimnisvollen und dennoch vertrauten Augen. Sie blitzten einmal auf und waren dann wieder dunkel. Waldtiger. Behutsam legte das Geschöpf seine Tatze auf Jems Brust, und während der Junge in die dunklen Augen blickte, sah er merkwürdige Eindrücke von Farben und langsame Bewegungen. Die dunk len Farben drehten sich, wie das Bildnis eines Kaleidoskops, und dann veränderten sie sich. Sie wurden mehr als nur Farben. Es war das Bildnis einer menschlichen Gestalt, die sich drehte und wand, und als es deutlicher wurde, erkannte Jem, daß diese Gestalt die Kleidung eines Harlekins trug. Fasziniert sah er dem Tanz des Har lekins zu, und durch die Luft drang das Echo eines lange verklunge nen Liedes zu ihm. He, ho! Der Kreis ist rund!
Wo ist sein Anfang und wo sein Ende?
Als Jem erwachte, nahm er zunächst nur das stetige Tröpfeln von den Blättern auf sein Gesicht wahr und das erste Schimmern des Morgenrots zwischen den hohen, feuchten Ästen über ihm. Schnell drehte er den Kopf und suchte nach der zerstörten Kutsche des Arz tes. Sie war nicht da. Er lag tief im Wildwald. Dann erst bemerkte er, daß er frei war und die grünbraune Kleidung eines Bauern trug. Er setzte sich hin. »Das mußt du tragen«, erklärte eine Stimme. »Wenigstens auf dem ersten Teil der Reise, die du unternehmen wirst.« Jem wandte hastig den Kopf. Es war der Harlekin, der schlanke, große Mann in seinem bunten Kostüm und mit seiner silbernen Maske. »Tor! Bist du das?« Jem stand schnell auf und strich sich Zweige und Blätter von seinem Wams. »Was meinst du damit, daß ich eine Reise unternehmen muß?«
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»Aber Jem, hast du es schon vergessen? Du mußt es doch erken nen! Deine Zeit in dem Dorf ist zu Ende. Dein ganzes Leben bis jetzt, deine Erziehung und Gewohnheiten, die du kennst, sind un wiederbringlich Teil deiner Vergangenheit. Deine Kindheit ist vor bei, Jem. Sie ist ein Ort, an den du nicht zurückkehren kannst. Und jetzt mußt du nach Süden gehen, falls die Blauröcke dich nicht erwischen. Es besteht allerdings keine Gefahr, daß sie nach dir suchen. Jedenfalls im Moment nicht. Nicht sofort. Sie werden glauben, daß man deine Überreste in den verkohlten Trümmern der Kutsche fin det, vermischt mit denen der anderen. Aber du mußt trotzdem eine Weile in den Wäldern bleiben. Folge dem Lauf der Fahlen Land straße. In etwa einem Tag wirst du auf eine Gruppe von Vagas treffen, die genauso verkleidet sind wie du. Mit ihnen kannst du reisen. In Agondon werden Vagas noch als Gaukler geduldet. Und dorthin werden sie sich wenden.« »Soll ich ein Vaga werden?« fragte Jem staunend. »Nein, Jem. In der großen Stadt Agondon, die sich über das Delta des Flusses Riel erstreckt, wirst du eine Straße suchen, die DavalonAllee heißt. Und in diesem luxuriösen Viertel gibt es ein Haus mit goldenen Schnörkeln über Türen und Fenstern. Es ist das Haus ei nes Gentleman, den man Lord Empster nennt. Gehe zu ihm Jem, und er wird dich empfangen.« »Aber Tor, woher soll er mich erkennen?« »Er wird dich erkennen, Jem.« Jems Augen funkelten, als er den Harlekin ansah. Er hatte ihm zwar erzählt, daß seine Kindheit vorbei war, aber auf einmal erinnerte er sich an einen Traum, der noch aus den Tagen stammte, als er ein kleiner Junge war. »Tor! Was ist mit dem Widerstand?« Würde ein Traum wahr werden? Sie gingen durch den Wildwald, in dem das Morgengrauen däm merte, und drängten sich kraftvoll durch Farne und lange Gräser. Der Harlekin ging voraus, und Jem hielt sich natürlich an seiner Seite. Der Harlekin beantwortete Jems Frage nicht direkt. »Jem, bald wirst du mehr von dem verstehen, was dir jetzt noch
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unklar erscheinen muß. Aber zunächst einmal: Es liegt eine Reise vor dir. Du wirst einen schweren Weg vor dir haben, und der Kristall des Koros kann dir nicht noch einmal helfen. Als du ihn gefunden hast, hat er vor Macht geglüht und dich in die Aura seiner Kraft ein gehüllt. Aber jetzt wirst du nur noch die Kräfte dieser Welt besitzen. Du wirst gehen können, aber du kannst nicht mehr fliegen, und der Kristall wird nur wie ein dunkler, langweiliger Stein aussehen. So wird er bleiben bis zum Ende deiner Suche, wenn der Kristall wie der mit seinen Gefährten vereint ist.« »Suche?« Jem wollte es einen Moment nicht glauben. Konnte all das wahr sein? »Jem«, sagte der Harlekin, »du mußt jetzt begreifen, daß du ein Kind bist, das vom Schicksal ausersehen wurde.« Jem blieb stehen und legte dem Harlekin eine Hand auf den Arm. Wie dünn er sich anfühlte, wie zerbrechlich! In den Zweigen der Bäume über ihnen erwachten die ersten Vögel, und ein graues Eich hörnchen kreuzte ihren Pfad. »Mutter hat so etwas gesagt. Kurz bevor sie ...« Der Harlekin hatte sich zu dem Jungen umgedreht und lächelte traurig. Jetzt ging er weiter. »Ja, Jem«, meinte er nur. »Aber du bist mehr als der Sohn von Ejard Rot, sowie auch das Böse, das über uns schwebt, mehr ist als das Böse von Ejard Blau. Du bist in einer Zeit geboren, Jem, die vie les erlebt hat, aber das alles war nur ein Vorspiel. Die Zeit des Sühneopfers endet, Jem. Und schon jetzt wappnet sich derjenige, der einmal als Sassoroch bekannt war, um aus dem Reich des Nichtseins aufzubrechen. Es wird die Zeit kommen, in der du mehr begreifst, Jem. Aber jetzt brauchst du nur eins zu wissen: Du bist der Schlüs sel zum Orokon. Und alles, was in den Brennenden Versen geschrie ben steht, wird sich in dieser Zeit ereignen.« Jem sah nachdenklich zu Boden. »Aber Tor, was ist mit Cata? Muß ich sie verlassen?« »Jem, du kannst nichts für sie tun. Sie ist in den Machenschaften des Bösen gefangen, aber diese Zeit wird, wie alle anderen Zeiten, vergehen. Kind, du mußt ihr erlauben, ihre eigene Bestimmung zu finden.«
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»Aber das kann ich nicht! Ich liebe sie!« »Jem, leise, Kind, bitte.« Der Harlekin hatte sich umgedreht und umfaßte Jem mit seinen dünnen Armen. »Ich habe gesagt, daß du sie jetzt verlassen mußt, aber Jem, ich verspreche dir, daß du sie wieder sehen wirst. Ich sage, daß sie ihre eigene Bestimmung finden muß, und das ist auch so. Aber wisse eins: Ihr Schicksal ist mit dem dei nen verwoben. Es wird viel Zeit verstreichen, Jem, was ja auch das Wesen der Zeit ist. Aber am Ende wirst du herausfinden, daß es genauso sein mußte.« »Aber Tor, woher weißt du all das?« wollte Jem wissen. Er bekam keine Antwort. Der Harlekin ließ Jem los und ging schnell durch das Unterholz. Doch nach einem Moment, ein Stück weiter, drehte er sich plötzlich wieder um. »Habe ich gesagt, ich wäre Tor?« Jem lief weiter. »Ich verstehe nicht!« Doch diesmal lachte der Harlekin nur. Ihr Marsch führte sie an einen Ort, den Jem kannte. Es war die Mauer aus Stöcken. Erst war Jem verwirrt, weil ihm der Harlekin gesagt hatte, daß er das Dorf verlassen mußte. Dabei hatte er ihn selbst an seinen Rand zurückgeführt. »Jem, wir sind dort angekommen, wo ich dich verlassen muß. Umarme mich jetzt, mein Kind, denn es werden viele Jahreszeiten verstreichen, bevor es dir bestimmt ist, mich wiederzusehen. Aber wisse eins: Ich werde in deinem Herzen immer mit dir gehen, und wo du bist, werde auch ich sein.« Jem traten Tränen in die Augen. »Aber Harlekin, willst du nicht mit mir kommen?« »Das kann ich nicht, mein Kind. Nun rasch, Jem, du mußt eilen.« Der Harlekin deutete mit seiner schlanken Hand auf den Spalt in der Friedhofsmauer. »Noch einmal mußt du diesen Weg nehmen, Jem. Und es ist noch nicht hell. Also bist du in deiner Kleidung sicher.« Jem sah verwirrt in die silberne Maske. »Warum, Harlekin? Was ist da?« »Du meinst, du hast es vergessen? Jem, da ist ein Gefährte, ohne den du nicht reisen kannst. Dieser Gefährte wartet auf dich in der Mitte des Angers.«
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»Harlekin?« Jem war plötzlich sehr aufgeregt. Natürlich! Was für ein geschickter Gauner der Harlekin war! Diesmal jedoch spielte er ihm einen grausamen Streich. Dennoch spürte Jem nur die Feude, die ihn überflutete. »Cata? Ist das möglich? O Harlekin, wie denn?« Jem wartete nicht auf eine Antwort. Er sprang durch den Spalt in der Mauer und lief hastig durch das morgendliche Grau, vorbei an den moosigen Grabsteinen, der Eibe und dem Krater, wo einst der stolze Tempel gestanden hatte. Jem hatte den Worten des Harlekin ehrfürchtig zugehört, doch als er von der Suche hörte, die ihn erwartet, und den Prüfungen und Gefahren der Zeit, die vor ihm la gen, hatte der Junge auch eine heimliche Furcht empfunden. Und eine Trauer um die Kindheit, die er hinter sich lassen mußte. Doch jetzt war diese Furcht vergangen und seine Trauer vom Winde ver weht. Mit Cata an seiner Seite kannte er keine Furcht und auch keine Trauer. Er konnte überall hingehen, er konnte alles tun, wenn er in die besondere Dimension ihrer Liebe eingebettet war. Der Junge stürmte durch die Tore des Friedhofs und rutschte fast in dem Schlamm aus, den der Regen vom Vortag gebildet hatte. Der Anger lag vor ihm, und dann stolperte Jem erneut, wäre fast gestrauchelt, denn der Anblick, der sich ihm bot, war nicht der, den er erwartet hatte. Er war ein entsetzlicher Anblick. Die Leichen lagen dort, wo sie in den Schlamm gefallen waren. Er stieß auf tote Vagas, auf tote Dorfbewohner, hier und da lag sogar eine Gestalt im blauen Rock. Zitternd schlich Jem über die aufgewühlte, dunkle Erde. Hier lag ein Wagen auf der Seite, dort war Glas zersplittert. Hier flatterte eine Leinwand von einem zerfetzten Zelt im Wind. Dort fand Jem einen toten Hund, dessen Schädel von ei nem Ziegelstein zerschmettert worden war. Und da lag ein weißes Taschentuch, das sein Besitzer verloren hatte und das in den Schlamm getreten worden war. Jem bückte sich und hob das zerknitterte Tuch auf. Es war schwer von dem Schlamm, der daran klebte. »Warum?« flüstere er. »Warum?« Er schluchzte beinahe und holte erstickt Luft. Er legte
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den Kopf in den Nacken. Erst sah er nur die weißen Berge, unklar und verschwommen hinter den grauen, drohenden Wolken. Dann den hohen Felsen von Ixiter, wo das gewaltige Bauwerk der Burg über dem Dorf thronte. Und dann senkte er den Blick auf die Sze nerie vor ihm und bemerkte etwas, das er zuvor nicht gesehen hatte. Mitten auf dem Dorfanger wartet dein Gefährte auf dich, hatte der Harlekin gesagt, aber was Jem mitten auf dem Anger sah, war nur eine schlanke, dunkle Gestalt, die an einer Schlinge vom Galgen baumelte. Also waren die Hinrichtungen gestern abend doch wei tergegangen. Jem überkam blankes Entsetzen. Denn etwas an dieser schwankenden Gestalt, an ihrem Umriß und ihrer Größe war ihm vertraut, viel zu vertraut. Rutschend und stolpernd lief er darauf zu. Und sank auf die Knie. Jetzt erinnerte sich Jem an das Gesicht seiner Tante, als Tor aus der Geheimtür hinter dem Wandvorhang getreten war. Ihr innerer Kampf war schon da sichtbar gewesen. Tor hatte geglaubt, daß sie nicht wirklich in Gefahr war: Trotz aller Verwirrung und Bitterkeit in ihrem Herzen hatte Tor geglaubt, daß seine Tante nicht vollkom men verloren war. Jetzt wußte Jem, daß Tor sich geirrt hatte, er hatte sich fürchterlich geirrt. Umbecca Rench hatte mit sich gerungen, aber Jem sah nun, daß sie diesen Kampf offensichtlich verloren hatte. Tränen strömten ungehindert aus Jems Augen, als er in das ge liebte, vertraute Gesicht blickte,das grau und eingefallen unter dem gebrochenen Hals hing. »Oh, Tor! Tor!« Der Himmel glühte rötlich, und als Jem bei dem Schafott im Schlamm kniete, sah er in dem Licht, daß ein merkwürdiger Efeu aus dem Boden gedrungen war. Langsam, aber unaufhaltsam wand er sich auf das düstere, hölzerne Bauwerk zu. Schwarze, zarte Blüten raschelten im Wind. Da begriff Jem. Er teilte mit den Händen die dicken Wurzeln des Efeus und grub neben dem Schafott in dem feuchten Lehm. Wie der Harlekin gesagt
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hatte, war der Kristall diesmal nur ein dunkler, langweiliger Stein, aber Jem zog ihn heraus und umklammerte ihn. Bevor er durch die Tore des Friedhofs verschwand, drehte sich Jem noch einmal um und sah zurück. Er blickte hinauf zur Burg, dann hinunter auf das Dorf. Er wäre noch länger stehen geblieben, aber er hörte die Schritte einer Patrouille der Blauröcke, die an der anderen Seite des Angers entlangmarschierte. Jem verbarg den Kristall in seinem Wams und lief zurück in den Wildwald.
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Anhang: Die Zeit im Orokon
Es ist absolut möglich, der Welt des OROKON einen Besuch abzustatten,weil sie nicht weit von der unseren entfernt ist. Es ist unsere Welt, allerdings in einer anderen Dimension. An bestimmten »schwachen Punkten« der dimensionalen Textur können wir leicht in die Welt des OROKON hineintreten, wie in viele andere alternative Welten auch. Entsprechend ist auch die Zeit im OROKON nicht, wie wir viel leicht zuerst denken, vollkommen anders als die Zeit in unserer ei genen Welt. Im Maß der Zeit gibt es Einheiten, die real sind und sol che, die willkürlich sind. Die Länge eines Jahres ist real und ändert sich nicht, wenn wir unter einem »Jahr« die Zeit verstehen, die die Welt braucht, um einmal die Sonne zu umkreisen. Die Länge eines Tages ist ebenfalls real. Eine Woche dagegen ist eine willkürliche Einheit. Es gibt nichts Besonderes an dem Zyklus von sieben Tagen, sondern er ist einfach nur eine Angelegenheit von Kultur und Tra dition. Im El-Orok sind die »Realen« Einheiten dieselben wie un sere. Was sich unterscheidet, sind nur die Arten, in denen sie gemes sen werden. Diese unterscheiden sich auch in den verschiedenen Ländern von El-Orok. Was jetzt folgt, bezieht sich im Prinzip auf das Königreich von Ejland und auf die Zeitbegriffe, wie sie im Tanz des Harlekin verwendet werden. Es gibt fünf größere Ebenen, auf denen Ejländer die Zeit messen. Es sind dies: die Jahreszeiten, die Zyklen, die Monate, die Phasen und darüber hinaus die verschiedenen Einteilungen des Tages. Sie werden im folgenden erklärt.
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Jahreszeiten Das Jahr zerfällt in fünf Jahreszeiten, von denen jede nach einem der fünf Götter benannt worden ist. Es gibt zwei, die dem Winter in un serer Welt entsprechen: Die Jahreszeit des Agonis, die am Jahreszyklus endet, und die Jahreszeit des Koros, die einen neuen Zyklus beginnt. Die Agonis-Jahreszeit ist die Zeit des Festes des Agonis, der wichtigsten religiösen Feierlichkeit in den Agonistischen Ländern. Diese Zeit des Jahres entspricht in etwa dem Weihnachten unserer Religion, während die Koros-Jahreszeit die ersten Monate des neuen Jahres repräsentiert, die traditionell in den nördlicheren Ländern unserer Welt als die ödeste Periode gelten. Die weiteren Götter und ihre Jahreszeiten folgen in der Reihenfolge, in denen die Götter laut dem El-Orok erschaffen wurden. Der ganze Zyklus dieser Jahreszeit wird in der Tabelle weiter unten aufgeführt, verbunden mit den entsprechenden Monaten unserer nördlichen Hemisphäre. Wir sollten allerdings beachten, daß der Zyklus der Jahreszeiten im El-Orok immer stärker unterbrochen wird. In Ejland werden die kalten Jahreszeiten immer länger und härter, und die heißen Monate verstreichen immer schneller. Hier ist das über lieferte Muster: Jahreszeit des Koros: Winter (= Januar, Februar, März)
Jahreszeit der Viana: Frühling (= April, Mai)
Jahreszeit des Theron: Sommer (= Juni, Juli, August, September)
Jahreszeit derjavander. Herbst (= Oktober, November)
Jahreszeit des Agonis: Winter (= Dezember)
Der Zyklus In bäuerlichen Gemeinden wird die Zeit hauptsächlich in Begriffen der Jahreszeiten und den damit verbundenen landwirtschaftlichen Aktivitäten wahrgenommen. Die größte formale Einheit der Zeit in Ejland ist jedoch eine Einheit von fünf Jahren, die als Fünf-Zyklus,
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oder einfach Zyklus bekannt ist. Einzelne Jahre werden nicht nach dem Prinzip 1998,1999,2000 gezählt, sondern es wird ein Buchstabe zu jedem Zyklus hinzugefügt, und diese Jahre eines Zyklus unter scheiden sich in a, b, c, d, e. Der Tanz des Harlekin beginnt im Zyklus 9971 des Sühneopfers, das heißt im ersten Jahr des 997sten Zyklus des Sühneopfers. Daher ist die eigentliche Zahl der Jahre, die seit dem Anfang des Sühneopfers verstrichen sind, nicht 997, sondern 2 981. Es herrscht der Glaube, daß die Zeit des Sühneopfers endet, wenn der tausendste Zyklus anbricht. Beim menschlichen Alter wird ebenfalls in Begriffen von Zyklen statt in Jahren gerechnet. Wenn Cata also »einen Fünferzyklus« alt ist, ist sie fünf Jahre alt. Am Ende von Der rote Schlüssel kommt Jem in seinen vierten Zyklus, das heißt, er ist fünfzehn Jahre alt. Und er wird sich zwischen seinem fünfzehnten und neunzehnten Lebens jahr in seinem »Vierten Zyklus« bewegen. Jem und auch Cata wurde 996a geboren. Nach unserer Zeitrech nung werden sie also am Anfang des tausendsten Zyklus zwanzig Jahre alt sein. Nach ihrer Rechnung entspricht der tausendste Zy klus des Sühneopfers ihrem fünften Alterszyklus. Zyklen werden auch in längeren Zeitabschnitten zusammengefaßt, die als Gens und Epizyklen bekannt sind. Ein Gen (dem unsere Dekade noch am nächsten kommt) repräsentiert fünf mal fünf Zyklen, also fünfundzwanzig Jahre. Ein Epizyklus repräsentiert fünf Gens, also hundertfünfundzwanzig Jahre (etwa unser Jahr hundert).
Der Monat (Mondleben) In den Ländern El-Oroks entspricht der Monat, wie wir ihn ken nen, dem Mondleben. Wie in unserer Dimension dauert ein Mond zyklus 29,5 Tage und der Sonnenzyklus etwa 365,25 Tage. Das ent scheidende Problem für Kalendermacher bestand immer darin, wie man ein korrektes Muster wiederkehrender Monate konstruieren soll, das die Sonnen- und die Mondzyklen berücksichtigt. (Der Son
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nenzyklus ist etwa elf Tage länger als zwölf Mondmonate.) Im ElOrok scheint dieses Problem noch komplizierter zu sein, weil das Jahr nicht gleichmäßig in ein Muster fällt, das auf der geheiligten Zahl fünf fußt. Es gibt zwar fünf Jahreszeiten, aber sie sind nicht gleich lang, und es gibt auch keine fünf Mondleben in jeder Jahres zeit. In den Provinzen wird ein Mondzyklus wörtlich genommen. Ein Mondleben ist wortwörtlich die Zeit des Lebens eines Mondes. In Agondon jedoch hat man die Mondleben reglementiert, allerdings so, daß man sie vollkommen von jeder Beziehung zu den tatsächli chen Mondzyklen getrennt hat. In dem Agonistischen ReformKalender, ARK, wurde das Jahr in zwölf »Mondleben« aufgeteilt, von denen jedes dreißig Tage dauert. Sie haben die Namen, die in der Tabelle unten aufgeführt sind, und wurden von der alten Sprache der Zeit der Unschuld abgeleitet. Sie legen eine eher romanti sche Begrifflichkeit der traditionellen Attribute der jeweiligen Jah reszeiten an.
ARK-Mondleben (jeweils dreißig Tage) Ichios = Schnee = Januar Evos = Regen = Februar Vyand =Wind = März * Die »Unperfektion« des jährlichen Zyklus war die Quelle vieler Kommentare von Geologen und ähnlichen Männern. Einige behaupten, daß der Zyklus zur Zeit der Unschuld perfekt gewesen ist und erst zerstört wurde, seit die Götter die Welt verlassen haben. Andere merken an, daß obwohl der Ur-Gott Orok, laut El-Orok, »die Zeiten und Jahreszeiten der Welt ordnete«, den noch nur das Chaos der »Korosanischen Schöpfung« so gut flickte, wie er eben konnte. Die Zeit war nach dieser Ansicht immer schon zerstört. Im Tempelkolleg in Agondon hat lange eine Debatte getobt, ob Orok nicht in der Lage war, ein perfektes System der Zeit zu erschaffen (Der Unfähigkeits-Standpunkt), aber darauf verzichtet hat, um durch den ruinösen Zustand der Zeit den kompromittierten Zustand der Welt zu symbolisieren. Die Unfähigkeitsanhänger werden von 332
den Überlegungsvertretern als Häretiker beschimpft und umgekehrt. Für letztere ist es verrückt anzunehmen, daß Orok nicht allmächtig war. Für erstere liegt die Häresie darin anzunehmen, daß der Ur-Gott keine perfekte Schöpfung abliefern würde, wenn er es gekonnt hätte. Darüber, welche Wahrnehmung der Zeit im Zeitalter der Unschuld existierte, ist nichts bekannt, jedenfalls nicht den Menschen auf der Erde, einige glauben, daß damals ein vollkommen anderes (und über legenes) Bewußtsein von Zeit geherrscht haben muß.
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Sendal = Sannen = April Evanos = Blüte = Mai Pesdior = Weide = Juni Harion = Ernte = Juli Fend = Hitze = August Luxor = Frucht = September Vendal = Weinlese = Oktober Nos = Nebel = November Aros = Eis = Dezember Da das Jahr hier genauso lang ist wie unseres, ist es nötig, fünf wei tere interkalendarische Tage, bekannt als die Meditationen, am Ende eines jeden Jahres einzufügen - in Schaltjahren sogar sechs. Diese werden zwischen Aros und Ichios eingefügt und sind nach jedem der Götter benannt. Der sechste Schalttag ist nach dem Ur-Gott Orok benannt. (i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)
Die Meditation des Koros Die Meditation der Viana Die Meditation des Theron Die Meditation der Javander Die Meditation des Agonis Oroktag: nur in Schaltjahren
Die Phase Der Begriff der Woche ist in den Ländern von El-Orok unbekannt. In jedem Monat gibt es fünf Phasen. In den Provinzen repräsentieren sie ganz direkt die Mondphase. In dem Reformierten Kalender ist die Verbindung zwischen Natur und Zeit, wie sie vom Kalender gemessen wird, aufgehoben. Doch unter den traditionellen Begriffen ist der »Neumond«, der jede Mondphase einläutet, bekannt als Schwarzmond. Die Mondphasen oder -leben dauern folglich von ei nem Schwarzmond bis zum nächsten, eine Periode von entweder neunundzwanzig oder dreißig Tagen. Und die Zeit zwischen den
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Schwarzmonden wird in fünf Phasen gemessen, die jede nach dem wichtigsten Element oder Attribut des Mondzyklus in jeder Phase benannt ist: Tag l Tag 2-6 Tag 7-12 Tag 13-18 Tag 19-24 Tag 25-29/30
Schwarzmond Wachsend Westmond Hornlicht Ostmond Schwindend
Neumond Sichelmond auf der Westseite Halbmond auf der Westseite Vollmond Halbmond auf der Ostseite Sichelmond auf der Ostseite
In Ejland sind Schwarzmond und der jeweilige Beginn der zweiten, dritten, vierten und fünften Phase, soll heißen, Tag l,7,13,19 und 25, die Kanonischen Tage, in denen eine Teilnahme am Gottesdienst im Tempel norrrialerweise empfohlen wird. (Entspricht etwa dem Sonntag in den christlichen Ländern unserer eigenen Dimension.) Der erste Tag der Mondphase ist deshalb gleichermaßen als Schwarzmond und Erster Kanonischer Tag bekannt. Für die folgenden Tage gibt es keine eigenen Namen; sie sind anhand ihres Platzes in der Mondphase durchnumeriert. Der zweite Tag der Mondphase heißt folglich Erster Wachsend, dem der Zweite Wachsend folgt usw. Die Tage 7,13,19 und 25 sind der Westmond Kanonische Tag, der Hornlicht Kanonische Tag und so weiter. Dann folgen der Erste Westmond, als Tag 8, der Erste Hornlicht als Tag 14 und so fort. Um diese Tage in der Schrift auszudrücken, werden Abkürzun gen benutzt. Der Erste Wachsend wird als IWa geschrieben, der Westmond Kanonische Tag als KTWe, der Dritte Hornlicht als 3H und der Vierte Ostmond als 4O. In einigen Teilen Ejlands jedoch hat es sich eingebürgert, die Schwarzmonde jeder Jahreszeit durchzunumerieren. Daher kann man sagen: »Zweiter Schwarzmond, Javander«, und die Zahl des Zyklus der Zeit des Sühneopfers angeben. Normalerweise sind prä zisere Datumsangaben nicht erforderlich, aber beim Reformierten Kalender hat man Versuche unternommen, ein rigoroseres System einzuführen.
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Die Aufteilungen des Tages In Ejland wird der Tag in fünfzehn »Stunden« oder Fünfzehner eingeteilt. Dies leitet sich von einem uralten System ab, das in Ejland und Zenzau verbreitet war. In ihm wurde jede Einheit des Tages, der Arbeitstag, die Periode nach dem Arbeitstag und die Schla fenszeit, in fünf Teile untergliedert. Obwohl man oft noch Schat tenuhren benutzt hat, wurde dieses System häufig von einfacher Beobachtung der Sonnenbahn abgeleitet. In dieser Weise ist es auch jetzt noch in vielen Teilen der bäuerlichen Bevölkerung in Gebrauch. Die Fünfzehner, die so präzise von der Uhr in der Blütenhütte ge messen wurden, repräsentieren eine Einteilung, die von der Ein führung der mechanischen Uhr erzwungen wurde, jede Fünfzehn ist folglich gleich 1,6 Stunden in unserer Welt, entspricht also einer Stunde und sechsunddreißig Minuten. Will man eine Umrechnung von Ejländer-Zeit in unsere Zeit vornehmen, muß man folgender maßen vorgehen: Mitternacht bis 1:36 Uhr 1:36 bis 3:12 Uhr 3:12 bis 4:48 Uhr 4:48 bis 6:24 Uhr 6:24 bis 8:00 Uhr 8:00 bis 9:36 Uhr 9:36 bis 11:12 Uhr 11:12 bis 12:48 Uhr 12:48 bis 14:24 Uhr 14:24 bis 16:00 Uhr 16:00 bis 17:36 Uhr 17:36 bis 19:12 Uhr 19:12 bis 20:48 Uhr 20:48 bis 22:24 Uhr 22:24 bis Mitternacht
= Erste Fünfzehn = Zweite Fünfzehn = Dritte Fünfzehn = Vierte Fünfzehn = Fünfte Fünfzehn = Sechste Fünfzehn = Siebente Fünfzehn = Achte Fünfzehn = Neunte Fünfzehn = Zehnte Fünfzehn = Elfte Fünfzehn = Zwölfte Fünfzehn = Dreizehnte Fünfzehn = Vierzehnte Fünfzehn = Fünfzehnte Fünfzehn
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Innerhalb der Fünfzehn ist die Zeit wiederum in Fünfer unterteilt, das heißt fünf gleich große Untereinheiten, jede genau 19,2 Minuten lang; und dann in kleinere Einheiten, die den Minuten und Sekunden unserer Welt entsprechen. Diese kleineren Einheiten wurden erst mit der mechanischen Uhr eingeführt, die von dem großen Ejländer Mechaniker Plaise Olton im Zyklus 951c des Sühneopfers erfunden wurde. Sie werden Oltons und Mechons genannt oder auch Mechs. Eine Fünf ist in fünfzehn Oltons geteilt. Die Oltons entsprechen etwa unseren Minuten, dauern aber tatsächlich 76,8 Sekunden. Da es 75 Oltons in jeder Fünfzehn gibt, gibt es in jeder Olton 75 Mechs. Im zwölften Kapitel von Der rote Schlüssel tickt die Uhr folglich alle 1,024 Sekunden unserer Zeit. Die Zeit wird notiert als 1/15, 2/15 und so weiter, wenn es nötig ist, die Fünfzehner zu spezifizieren. Als Umbecca auf den Ball eingeladen wird, ist die Zeit mit 13/15 angegeben, das entspricht 20:48 Uhr unserer Zeitrechnung. Die Ausgangssperre für die Vagas ist diesselbe Zeit, das heißt, »nach dem Verstreichen der zwölften Fünfzehn« oder dem Beginn der dreizehnten. Noch präzisere Unterteilungen der Zeit sind in Ejland unüblich, aber sie würden nach folgender Formel ausgedrückt: erst die Fünfzehner, dann die Fünfer, dann die Oltons, wenn nötig. Normalerweise sehen solche Formulierungen so aus: 6:3/15, das bedeutet den dritten Fünfer der sechsten Fünfzehn. Im gesprochenen Wort würde es genügen zu sagen: »Sechs-drei«. (In unseren Begriffen würde das eine Zeit gegen neun Uhr morgens bezeichnen, genaugenommen 8:57 Uhr und sechs Sekunden.) Eine besonders präzise Zeit würde zum Beispiel so notiert: 12:4:5/15. Gesprochen hieße das: »Zwölf-vier-fünf«. In unserer Zeit wäre es dann genau 18:36 Uhr und 52,4 Sekunden.
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Gescannt und korrigiert
von
Minichi Nightingale
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JEM, ein verkrüppelter Junge
CATA, ein Kind der Natur
SILAS WOLVERON, ihr Vater
UMBECCA RENCH, Jems Großtante
ELA (LADY ELABETH), Jems Mutter
TOR (TORVESTER), ihr Bruder; ein gesuchter Mann
DER HARLEKIN, ein geheimnisvoller Unterhaltungskünstler
BARNABAS, ein geheimnisvoller Zwerg
XAL, eine weise Frau
POLTY (POLTISS), ein Aufschneider, Anführer Der Fünf
ARON THROSH (BOHNE), sein bester Freund, Mitglied Der Fünf
LENY, VEL und TYL, Mitglieder Der Fünf
NATHANIAN WAXWELL, Arzt und Apotheker
GOODY WAXWELL, seine Frau
GOODY THROSH (WYNDA), Arons Mutter, Tavernenwirtin
EBENEZER THROSH (EBBY), ihr Ehemann
OLIVAN THARLEY VEELDROP, Militärkommandeur
EAY FEVAL (DER KAPLAN), sein Kaplan
NIRRY, Dienstmagd im Schloß
STEPHEL, ihr Vater, alter Schloßbediensteter
DIE ALTE MAGD
MORVEN und CRUM, Soldaten
OLCH (ZAPPLER) und ROTTS, ebenfalls Soldaten
SERGEANT BUNCH, ihr unmittelbarer Vorgesetzter
DIE KINDER VON KOROS (VAGAS), Reisende
ZECHER in der Taverne
EDLE auf dem Ball
DORFBEWOHNER, BAUERN und noch mehr SOLDATEN
etc.
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HINTER DEN KULISSEN:
EJARD BLAU, der König
DER ERSTE MINISTER JORVEL VON IXITER,
achtundvierzigster Erzherzog von Irion
DER ERZMAXIMUS, Leiter des Ordens von Agonis
HUL und BANDO, Mitglieder des Widerstands
PROFESSOREN der Universität von Agondon
INTERZESSIONISTEN, Geschichtstheoretiker
PRÄE-AONS und KÖNIGIN-ELANISTEN, andere Theoretiker
CHARAKTERE aus den Romanen von »MISS R ...«
DIE GRÜNE GRETA und andere HUREN
MITGLIEDER DER BESSEREN GESELLSCHAFT von Agondon
HELDEN von Ejland
ZENZANER
etc.
AUS DER VERGANGENHEIT:
EJARD ROT, der abgesetzte König
LADY LOLENDA, die Mutter des Erzherzogs
LADY RUANNA, seine Frau, Schwester von Umbecca Rench
YANE RENCH, ihre Cousine, Mutter von Cata
TORBY RENCH, Vater von Umbecca und Ruanna
GOODY RENCH, ihre Mutter
ELIAK WOLVERON, Silas' Vater
OLION WOLVERON, Silas' Onkel
DER HAUPTGEBIETER des Tempelkollegs
MITGLIEDER des Tempelkollegs
NIRRYS MUTTER
etc.
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AUS DEM EL-OROKON:
OROK, Göttervater
KOROS, sein Erstgeborener; Gott der Finsternis VIANA, Göttin der Erde
THERON, Gott des Feuers
JAVANDER, Göttin des Wassers
AGONIS, Gott der Lüfte
GEISTER DER UNERSCHAFFENEN,
von Orok verstoßene Kreaturen
TOTH-VEXRAH, ein geheimnisvoller Zauberer
LADY IMAGENTA, seine Tochter
MENSCHEN von El-Orok
etc.
AUS DEM MYTHOLOGICON:
DIE TARN, Geschöpfe des Bösen
SASSOROCH, der mächtigste der Tarn
AON EISENHAND, ein uralter König
KÖNIGIN NAYA, seine Königin
RIEL (NOVA-RIEL), ihr angenommener Sohn
IXITER-IRION, der erste Erzherzog von Irion
DER WAHRSAGER
MOTLEY, ein Hofnarr
DER SCHWEINEKRIEGER VON SWALE
PRINZESSIN ALAMANE
PRINZ YON
etc.
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