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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ravens in Winter« 1989 im Verlag Simon & Schuster Inc., in New York Titelformulierung mit freundlicher Genehmigung »Der Spiegel«. © 1989 by Bernd Heinrich © der deutschen Ausgabe 1992 Paul List Verlag in der Südwest Verlag GmbH & Co KG München Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3471-77887-X
Inhalt Vorwort
Gemeinsame Schlafplätze
Eine Einführung
Kommen sie von einem Schlafplatz?
Raben an einem Elch Raben als Jäger und Aasfresser
Einen Raben fangen und markieren, auch zwei oder mehr
Herbeirufen von Kadaveröffnern
Balz und Imponierverhalten
Eine selbstsüchtige Herde?
Individuen
Ein Corviden-Vergleich
Frühlingsüberraschungen
Was ist akzeptable Evidenz?
Am Nest
Verwirrung im frühen Winter
Rabenrufe
Sind Raben Falken oder Tauben?
Die Reviervögel behalten alles
Die Intelligenz der Raben
Warum mutig sein?
Kurzer Prozeß mit zwei Schafen
Geschäftliches und Komplexes
Eine Kuh
Vom Käfigbauen
Loner
Die letzten Runden
Zahme Vögel aus dem Nest
Zusammenfassung
Eine andere Hypothese
Anhang
Adulte Reviervögel und wandernde Junge
Die Seele der Raben Bernd Heinrich Vorwort Als wissenschaftlicher Feldbiologe habe ich die Aufgabe, unsere Natur zu erforschen. Ich genieße auch Privilegien, zum Beispiel Urlaubssemester. Die meisten meiner nordamerikanischen Kollegen verbringen diese Zeit in fernen exotischen Ländern, um neue Lebewesen kennen zu lernen oder neue Aspekte der alten biologischen Rätsel zu erforschen. Ich ging stattdessen in mein Ferienhaus in Maine, weil ich dort Raben gesehen hatte, die sich, wie ich fand, nicht vernünftig verhielten, und ich wollte herausfinden, warum. Es war Winter, und damals war das Ferienhaus nur ein winziger Schuppen aus Teerpappe, ein »camp« im Jargon von Maine, mit einem gekrümmten rostigen Ofenrohr, das seitlich herausschaute. Dieses Ofenrohr funktionierte bei Blizzards wunderbar als Lufteinlaßschleuse — doch darüber später. Vor ein paar Jahrzehnten hatte ein früherer Besitzer das Camp auf den Namen »Kaflunk« getauft. Es liegt in West-Maine am Rand des Mount Blue State Park. Ich bin ganz in der Nähe aufgewachsen. Es ist ein guter Ort für Kinder, denn hier sind die Wälder grenzenlos, und zumindest damals gab es keine Zäune und Verbotsschilder, die einen Jungen eingesperrt hätten. Noch immer spüre ich in Kaflunk ein Gefühl von
Leichtigkeit und Freiheit. Kaflunk liegt am Rand einer Lichtung mit Blick in ein großes Tal. Um dorthin zu gelangen, muss man zu Fuß eine halbe Meile einen steilen Pfad durch den Wald steigen. Diese Einsamkeit war wesentlich für die Beobachtungen, die ich vorhatte. Allerdings war sie nicht so gut für die Logistik, wenn man durch meterhohen Schnee stapfen und dabei Lebensmittel schleppen und tote Schafe, Kälber und ähnliches für die Raben heranschaffen musste. Ich war schon zuvor für längere Zeit im Camp gewesen. Aber da war es Sommer, und ich arbeitete über Hummeln. Hummeln sind äußerst soziale Tiere, und man sollte erwarten, dass die Mitglieder einer Kolonie mit denen einer anderen Kolonie kooperieren. Doch es läuft nicht immer so, wie man meint, vor allem weil man gerne wichtige Details übersieht. Die Hummeln agierten (für mich) unerwartet nicht nach Plan und traten in einen Krabbelwettbewerb, in dem jedes Tier seine Rückkehr vom Beutezug individuell optimierte. Dies führte zu einer Art kapitalistischem Wirtschaftssystem mit Kosten, Handelsbeziehungen und einer optimalen Lösung. In einigen der Felder und Wälder, in denen ich damals Hummeln beobachtete, hatte ich des öfteren ein Rabenpaar bemerkt. Auf einmal sah ich Vögel, die ich immer für Einzelgänger gehalten hatte, bei etwas, das Einzelgänger angeblich nicht tun: Sie teilten wertvolle Nahrung – die, die sie besaßen, so schien es, gaben denen, die sie brauchten. Es war das »kommunistischste« Benehmen, das mir jemals in der Natur untergekommen
ist. Und mehr noch – es ergab keinen Sinn. (Als Biologe, der daran interessiert ist zu sehen, wie die natürliche Welt funktioniert, suche ich immer nach einem selbstsüchtigen, evolutionären Grund, warum Tiere etwas tun, obwohl es außerhalb ihrer tierischen Motive liegt und noch weiter weg von dem, was nach den Begriffen menschlichen Verhaltens »sein sollte«.) Hier gelang es mir nicht, einen eindeutig selbstsüchtigen evolutionären Grund für dieses offensichtliche Teilen zu erkennen, und dieses Versagen führte bei mir zu einem plötzlichen Adrenalinstoß. Ich spürte, dass ich vielleicht nicht nur etwas über Raben, sondern etwas von größerer theoretischer Bedeutung erfahren könnte. Es ist irritierend, täglich etwas zu sehen und doch nicht wahrzunehmen. Wie seit Jahrtausenden andere schon hatte auch ich jahrelang immer wieder Gruppen von Raben beim Fressen von Rotwild- und Eichkadavern gesehen – doch niemandem war aufgefallen, dass es seltsam war. Seltsam, weil ein Kadaver nach allen Gesetzen von Vernunft und Verstand eine äußerst wertvolle Ressource ist (zumindest für einen Raben); jeder Rabe, der einen solchen Schatz findet, »müsste« ihn eigentlich sehr energisch verteidigen — wenn er dazu in der Lage ist –, denn damit wäre er auf Monate mit Nahrung versorgt. Wenn er seinen Proviant nicht verteidigt, werden ihn andere wegfressen – und wer weiß, wann das nächste Aas gefunden wird. Die Frage war offensichtlich: Warum teilten Raben? Wie sah das Muster aus, das diese Anomalie erklären konnte? Bevor ich begann, mich an der Beantwortung dieser Frage zu versuchen, hatte ich keinerlei Literatur über Raben gelesen, und ich blieb auch unwissend, nachdem ich
schon mitten in der Arbeit war. Ich wollte meine Erkenntnisse aus der eigenen Beobachtung gewinnen und nicht von den Erwartungen anderer geleitet werden. Natürlich las ich mich später kritisch durch die gesamte Literatur. Auf diese Weise schrieb ich auch dieses Buch, mit einer allgemeinen Einführung über Raben und warum sie mich interessierten, und brachte meine naiven Beobachtungen zu Papier. Synthesen der oft verwirrenden und widersprüchlichen, aber immer faszinierenden Literatur über Raben, die in diesem Zusammenhang relevant war, kamen später hinzu. Dieses Buch ist ein Detektivroman, der versucht, ein Rätsel zu lösen, es ist wie eine Jagd nach flüchtigem Wild. Es handelt von der Suche nach Fingerzeigen durch Beobachten von Raben, Tag für Tag, und manchmal habe ich auch nachgeholfen, um Beweise zu erhalten, die ein stimmiges Bild liefern könnten, wie ein kleiner Bereich der Natur arbeitet. Wenn ich erst einmal die Lösung gefunden hätte, das fühlte ich von Anfang an, wäre sie – wie es gewöhnlich der Fall ist – plötzlich sonnenklar und dann bald selbstverständlich. Was dem gesunden Menschenverstand sofort einleuchtet, nennen wir selbstverständlich. Wenn es in eine Theorie (die schließlich nur gesunder Menschenverstand in fester Form ist) passt, haben wir das Gefühl, dass es voraussagbar gewesen sein könnte. Aber der Köder ist die Jagd selbst, nicht der Preis. Als forschende Biologen stellen wir unsere Trophäe auf den Seiten einer bedeutenden Zeitschrift vor, wo sie, wie wir hoffen, die Aufmerksamkeit der staunenden Kollegen findet. Doch die meisten Biologen, Jäger und Forscher sind während ihrer Pirsch zu abgelenkt oder beschäftigt, um einen
detaillierten Bericht darüber vorzulegen. Unsere Augen sind fest auf das Ziel gerichtet und unsere Köpfe während der Jagd zu fixiert, um einmal innezuhalten, nachzudenken und alles niederzuschreiben. Vielleicht liegt es daran, dass eine solche biologische Pirsch oder Verfolgungsjagd keinen eindeutigen Ausgangspunkt , keine festen Zwischenstationen hat. Diese Studie hat nur einen vernünftig erklärbaren Ausgangspunkt: Ich bin ein Novize der Rabenforschung. Mein Plan weitete sich zu einer Serie von Feldforschungen am Studienplatz aus. Diese Ausflüge wurden zu selbstverständlichen Stufen in einer Reihe fortwährender Beobachtungen. Ich führte in jedem Moment Buch über jede dieser Stufen und konnte so die falschen Schritte erkennen, die richtigen, die relevanten und natürlich auch die irrelevanten. Dieses Buch entstand nach meinen Feldnotizen. Die ersten Daten, die ich notierte, waren solche Details wie die genaue Uhrzeit, zu der ein Rabe ankam, ob er seine Flügel senkte, quorkte, weiterflog und so weiter. Ich hielt die Art des Köders fest, die Anwesenheit von anderen Vögeln und alles, was vermutlich relevant sein konnte – unseligerweise war das, was wirklich wichtig war, oft erst im Nachhinein klar. Am Ende eines jeden Tages las ich die Notizen durch, um die Daten, die festhaltenswert schienen, zu exzerpieren, und ich machte eine tägliche Aufstellung dessen, was ich zu finden gehofft und erwartet hatte und was tatsächlich geschehen war. Es sind hauptsächlich diese überarbeiteten Notizen, die dieses Buch enthält, zusammen mit einigen wichtigen Hintergrundinformationen.
Balsamtannen bewachsen. An den steilen Gebirgskämmen wachsen Eichen, Buchen und Ahorn, und die Höhen werden von einem reichen Rotfichtenbestand gekrönt. Hier liegt oft hoher Schnee, die Temperaturen fallen unter minus 30 Grad. Stürme sind häufig und Raben selten im Verhältnis zu ihren nahen Verwandten, den Krähen und Blauhähern. Meine Raben sind außerdem ungewöhnlich scheu und fliegen bereits fort, wenn sie nur irgendjemand stehen bleiben sehen, der sie aus der Ferne beobachtet. Frühere Forschungen hatten angenommen, dass sie vermutlich über große Entfernungen fliegen, möglicherweise Hunderte von Meilen. Ihr Geschlecht kann nicht nach ihrer äußeren Erscheinung bestimmt werden, und nach vielen Berichten sind sie listig und so gut wie gar nicht zu fangen. Kurz gesagt — Raben stehen fast ganz am Schluss einer Desideratenliste für Forschungsprojekte. Ich wusste schon (anfangs allerdings nicht so gut wie später), dass es keine leichte Aufgabe sein würde. Sie zu bewältigen würde eine riesige Portion Glück erfordern oder harte Arbeit oder beides. Nach allgemeiner Meinung ist es so gut wie unmöglich, mit Raben in Kontakt zu kommen, und die Hoffnung, von einem Tier zu lernen, besteht nur, wenn man diesen Kontakt bekommt. Über Raben ist wahrscheinlich mehr als über jeden anderen Vogel geschrieben worden, doch es gibt nur wenige wissenschaftliche Arbeiten im eigentlichen Sinn, meist in schwer auffindbaren Zeitschriften und häufig auf deutsch erschienen. Diese Literatur besteht überwiegend aus Notizen und Anekdoten, und viele der Schlussfolgerungen sind falsch
oder irreführend. Außerdem ist viel von unserem »Wissen« durch jahrhundertealte Mythen und Märchen – und auch durch Fehlurteile – vernebelt (oder gar erleuchtet?). Trotzdem schrieb der amerikanische Ornithologe Edward A. Samuels 1872 in The Birds of New England: »Die Gewohnheiten dieser Vögel sind schon so oft beschrieben worden und uns allen so vertraut, dass ich hier nicht näher darauf eingehen werde.« Samuels irrte. Selbst heute ist der Rabe noch immer ein geheimnisvoller Vogel. Ich hoffe im Zusammenhang mit der Lösung eines wissenschaftlichen Rätsels hier ein maßgebliches Buch über diesen Vogel vorzulegen. Ich habe sicherlich viele beliebte Rabengeschichten weggelassen – und bitte dafür um Entschuldigung. Ich war gezwungen, strenge Maßstäbe anzulegen: Es wären sonst mehrere Bände nötig, um diesen Vogel so darzustellen, wie er es verdient. Es ist eindeutig ein Buch über das Problem. Es ging mir weniger darum, alle Fakten zusammenzutragen; vielmehr wollte ich ein paar neue Ideen vorstellen. Das Rabenprojekt brachte eine scheinbar endlose und ungeregelte Arbeit mit sich, die ohne die großzügige und hingebungsvolle Hilfe vieler Leute, ihr beständiges Interesse und ihre gute Laune gar nicht möglich gewesen wäre, und die die Arbeit zum Vergnügen werden ließ. Ich danke Lenny Young und Kate Engel für unschätzbaren Rat und kritische Unterstützung bei der Telemetrie und beim Markieren. Billy Adams, Ola Jennersten, George Lisi, James Marden, Brian Mooney, A. Rosenqvist, Charles Sewall, Steve Smith und Wolfe Wagman nahmen alle an den denkwürdigen Rabentreiben teil. Gillian Bowser, Denise Dearing, Steve Ressel, Laura Snyder und Wolfe Wagman waren da und kümmerten
sich um die schreienden Jungen, wenn ich nicht konnte. Wolfe Wagman, Delia Kaye, Leona und Henry DiSotto, Alice und Denise Calaprice, Brent Ybarrondo, O. Jennersten, Elsie Morse, John und Colleen Marzluff, C. Sewall, S. Smith, J. Marden, Dan Mann, Jesse Graham, Billy Adams, Scott Dixon, Stephen Card, Kimberly Frazier, Michele Kruggel und der Wojcik-Clan nahmen höchst aktiv an den riesigen Rabenkäfig-Partys teil und auch an den vorhergehenden Ereignissen. Weitere logistische Unterstützung gaben Vernon Adams, Dana Eames, Christel Lehmann, Lee Lipsitz und Gus Verderber. Ich danke Dave Hirth, Bernie Gaudette und Mike Pratt, die mich auf Kadaver hinwiesen, wenn sie dringend benötigt wurden. David Capen, Pamela Duell, Lincoln Fairchild und Peter Marler steuerten die Ausrüstung und Erfahrung bei, die die Sonagramme und die kritische Arbeit über Lautäußerungen erst möglich machten. David Hirth, Moira Ingle und Dave Person beschafften weitere Ausrüstung und halfen bei der Radiotelemetrie. Für hilfreiche Korrespondenz und Gespräche, Erfahrungsaustausch über Raben und andere Aspekte des Projektes danke ich Skip Ambrose, Pat Balkenberg, Warren Ballard, Peter W. Bergstrom, Kathy Bricker, David Bruggers, Cyril Caldwell, Martha Canning, Peter Cross, Jim Davis, Laurel Duquette, Kate Engel, Frank Gramlich, Eberhard Gwinner, Fred Harrington, Gary Haynes, Doug Heard, Joan Herbers, Henry Hilton, John Hunt, »P. J.« Johnson, Lawrence Kilham, Hugh Kirkpatrick, William Krohn, Audrey J. Magoun, Miles Martin, John Marzluff, Fran Maurer, Mark McCollough, L. David Mech, Frank Miller, Karen J. Morris, Frank Oatman, Raymond Pierotti, Paul Sherman, Susan S. Shetterly, Robert Stevenson, Charles Todd, Chuk Trost und M. L. Wilton. Ich bin der psychobiologischen
Sektion der U.S. National Science Foundation dankbar für das Vertrauen, mir ein Forschungsstipendium (BNS-86,1933) gewährt zu haben, das unentbehrlich für das Projekt war. Das Humboldt-Stipendium der Bundesrepublik Deutschland gab mir Zeit zu schreiben. Ich bedanke mich auch für die großzügige Gastfreundschaft von Andreas Bertsch, der mein Gastgeber während meines Deutschlandaufenthalts war. Zu guter Letzt war es Erika Geiger, die imstande war, meine unleserliche Handschrift zu entziffern und ein Manuskript daraus zu machen, das der pragmatischen Redaktion meiner rabenophilen Kollegen John Marzluff, Rick Knight und Alice Calaprice viel verdankt, und Anne Freedgood, die das Buch immer im Auge hatte und half, es richtig zustande zu bringen. Alle diese gemeinschaftlichen Bemühungen und die schöne Zeit, die dieses Projekt verschlungen — und gebracht — hat, veranlassen mich, die Hälfte der zu erwartenden Erlöse aus dem Verkauf dieses Buches für weitere Rabenforschung zu stiften. Die Honorare werden im Raven Research Fund der University of Vermont verwaltet. Spenden werden dankbar akzeptiert.
Eine Einführung Dieses Buch handelt vom Kolkraben, Corvus corax. Was ist das eigentlich für ein Vogel? Alle Welt weiß, dass Raben große schwarze Vögel sind. Doch je nach der Gegend, in der man lebt, gibt es viele Arten großer schwarzer Vögel. In Neuengland und anderen Regionen des Nordostens der Vereinigten Staaten muss man den Raben, wenn man ihn unter anderen großen schwarzen Vögeln erkennen will, nur von der Krähe (und gelegentlich vom Truthahngeier) unterscheiden. Es wird verwirrend, wenn man sich an einen anderen Ort begibt, denn der Rabe gehört zur Familie der Krähen, und weltweit sind 41 Krähenarten bekannt. Unseligerweise hat dieselbe Spezies oft verschiedene Namen in der Umgangssprache. Corvus corone, die Nebelkrähe, heißt auf englisch hooded crow oder auch schottische, dänische, irische oder graue Krähe, während der Somali- oder Braunnackenrabe, Corvus ruficollis, auch Wüstenkrähe, Rabe oder Ediths Krähe genannt wird. Um die Verwirrung zu vergrößern, wird dieser Corvus ruficollis (der etwa ein Drittel des Kolkraben, Corvus corax, wiegt) in zwei wissenschaftlichen Arbeiten als »Corvus corax ruficollis« bezeichnet, als ob er eine Unterspezies des Kolkraben wäre. Ich kenne auch zwei weitere, wissenschaftliche Arbeiten neueren Datums über den Raben, Corvus corax, die mit einer Zeichnung und einem Foto der Amerikanischen Krähe, Corvus brachyrhynchos, illustriert sind. Was hier im Nordosten »Krähe« genannt wird, ist genauer die Amerikanische Krähe, Corvus brachyrhynchos. Der Kolkrabe (»northern raven«, Yel, Txamsem, Hemaskus,
Tsesketco und noch weitere Namen bei den Indianerstämmen an der pazifischen Küste) ist der Corvus corax, so I758 von Carolus Linnaeus, dem schwedischen Biologen, benannt, der das System mit den zwei lateinischen Namen zur Klassifizierung der Organismen einführte. In anderen Teilen der Vereinigten Staaten und in Kanada ist der Rabe meist auch der Corvus corax, obwohl ein naher Verwandter, der Chihuahua- oder Weißhalsrabe, Corvus cryptoleucus, in einigen Gebieten des Südwestens der Vereinigten Staaten lebt. In der freien Natur kann der Kolkrabe, Corvus corax, im Folgenden immer Rabe genannt, an seiner Größe erkannt werden. (Er ist im Normalfall viermal so schwer wie die Amerikanische Krähe, und die Spannbreite seiner Flügel kann 1,20 Meter erreichen.) Er hat spitz zulaufende Flügel (1m Vergleich zu den eher stumpfen und abgeschrägten Flügeln der Krähen), und sein Schwanz ist lang und keilförmig (während die meisten Krähen einen eher rechteckigen Schwanz haben). Ornithologisch sind Raben Mitglieder der Krähenfamilie, Corvidae. Zu den Corviden gehören nicht nur die großen schwarzen Vögel der Gattung Corvus, sondern auch die bunten Häher, Elstern und Tannenhäher. Im Allgemeinen sind Corviden mittelgroße bis große Vögel mit borstenbedeckten Nasenlöchern (die allerdings bei Nacktschnabelhähern und ausgewachsenen europäischen Saatkrähen fehlen). Die Männchen sind manchmal etwas größer als die Weibchen, doch es gibt keine farbliche Differenzierung der Geschlechter. Corviden gesellen sich meist für das ganze Leben zusammen, auch wenn sie sich nach dem Tod des Partners häufig schnell wieder paaren. Sie verstecken Vorräte. Beide Geschlechter bauen Nester und füttern die Jungen, doch außer bei den Tannenhähern brütet nur
das Weibchen. Alle Corviden leben von tierischer und pflanzlicher Nahrung, und wo sie nicht verfolgt werden, verbinden sie sich oft mit Menschen. Die Corviden gehören zu den Passeriformes, der jüngsten evolutionären Gattung der Singvögel, zu der Finken, Grasmücken, Spechte, Würger, Vireos und viele andere gehören. Es hat große Diskussionen gegeben, wie die Arten der Passerine in verschiedene Familien zu gliedern wären. Der Ornithologe Dean Amadon hat vorgeschlagen, dass die Paradiesvögel den Corviden zugeordnet werden sollten. Charles G. Sibley (früher Yale University) hat taxonomische Beziehungen von Eiweißproteinen untersucht, die danach unter den Corviden »eindrucksvoll einheitlich« sind, obwohl die Proteine der Corviden denen der Würger mehr gleichen als denen der Paradiesvögel, Paradiseidae. Kürzlich haben Sibley und seine Kollegen versucht, bestimmte Beziehungen festzustellen, indem sie das Ausmaß der biochemischen Bindungen untersuchten, die zwischen den DNAs der verschiedenen Spezies möglich sind. Je mehr die DNAs die beiden Spezies aneinander binden, umso ähnlicher ist ihre genetische Information (zum Beispiel kann bewiesen werden, dass Menschen und Schimpansen zu etwa 98 Prozent das gleiche genetische Material teilen) und umso enger sind sie verwandt. Obwohl solche Untersuchungen nicht gänzlich unumstritten sind, zeigen sie, dass die Corviden mehr mit den Paradiesvögeln als mit den Würgern verwandt sind. Im Allgemeinen leben Würger und Paradiesvögel in Wäldern, während die Familie der Corviden (Eichelhäher ausgenommen) sich abspaltete, um im offenen Land zu leben. Viele der erst später entwickelten Corviden suchen ihre Nahrung jetzt zumindest
teilweise am Boden. Einige haben sich sogar an baumloses Land und dem Nisten auf Klippen angepasst. Setzt man die Tendenz der Corviden voraus, groß, intelligent und anpassungsfähig zu sein sowie unabhängig von Bäumen auf dem Boden Futter zu suchen, dann ist es wohl nur eine leichte Übertreibung, den Raben, Corvus corax, als die Krönung der Corviden zu bezeichnen. Er steht auch an der Spitze der artenreichsten und sich am schnellsten entwickelnden Vogellinie. Er ist das Nonplusultra einer besonders aktiven Vogelfamilie. Trotz aller Vorbehalte gegenüber dem eigentlichen Raben oder krähenähnlichen Vögeln, die man »Raben« nennen kann (zwei Arten in Nordamerika, eine in Europa, vier in Afrika und drei in Australien) –im öffentlichen Bewusstsein Europas und Amerikas und in der meist umfangreichen Literatur bezieht sich Rabe lediglich auf eine Spezies, den Corvus corax. Es ist auch die Spezies, die vor allem in populären Kommentaren und Beobachtungen gemeint ist, in der wissenschaftlichen Literatur und auch in diesem Buch. Der Rabe, C. corax, ist geographisch und ökologisch in einem außerordentlich großen Gebiet zu finden. Er ist zirkumpolar, findet sich sogar oberhalb des Polarkreises und südlich bis in die Gebirge Mittelamerikas. Das Verbreitungsgebiet seiner Vorfahren umschloss wahrscheinlich fast ganz Europa, Asien und Nordamerika. Er lebt in der eisigen Tundra und auf arktischem Treibeis, in dichtem Tannenwald wie in Mischwäldern, in heißen Wüsten und seit kurzem sogar in einigen städtischen Gebieten. In ihrer maßgeblichen Checklist of Birds of the World haben Ernst Mayr und James C. Greenway jr. weltweit acht Unterarten des Raben, Corvus corax Linnaeus, beschrieben,
obwohl eine solche Unterteilung immer etwas willkürlich ist. Malcolm Jollie von der Northern Illinois University in De-Kalb, Illinois, meint zum Beispiel, dass die vielen Unterarten nicht gerechtfertigt sind (er schlägt vor, gleich aus sechs eine zu machen), weil es große Unterschiede beim C. corax gibt, die von der jeweiligen Umwelt abhängen (1n der Wüste sind die Vögel heller, im Norden größer). Der C. corax sinuatus, die westliche Rasse, ist klar identifiziert und unterscheidet sich vom C. c.principalis, der nördlichen und östlichen Rasse, vor allem, weil er viel kleiner ist. Doch wenn Größe alleine ein gültiges Klassifizierungskriterium wäre, dann zeigen die von George Willett (der am Los Angeles County Museum arbeitet) gesammelten Messungen die Möglichkeit einer dritten Spezies, die in den Tälern Kaliforniens und bis in Mexiko lebt. Außer den offensichtlichen Größenunterschieden in verschiedenen Regionen gibt es eine beträchtliche Vielfalt sowohl am gleichen Ort wie zur selben Zeit. Bei 56 Raben aus dem westlichen Maine, die ich im Januar/Februar 1986 beobachtete, schwankte das Körpergewicht zwischen 1,05 und 1,53 Kilogramm, durchschnittlich waren es 1,22 Kilogramm. (Eine Amerikanische Krähe zum Vergleich wiegt etwa 350 Gramm.) Die Raben aus Maine ähnelten also Größenmäßig den Raben aus Alaska, wo die Männchen ein Durchschnittsgewicht von 1,38 Kilogramm haben. Die Schnabellänge der Maine-Raben betrug zwischen 7, 5 und 9, 3, im Durchschnitt 8,18 Zentimeter, die Schnabelbreite zwischen 27 und 32, durchschnittlich 30,5 Millimeter. Mit welcher Größe oder welchem Namen auch immer — der Rabe ist groß, schwarz und schön. Sein stark glänzendes Gefieder zeigt irisierendes Grün, Blau und Purpur und
schimmert im Licht wie ein schwarzer Tautropfen. Wie ein schwarzer Blitz taucht er im schnellen Flug mit flüssigen, gleitenden Flügelschlägen aus dem Himmel auf. Der Rabe ist wie die Verkörperung der Luft und mehr. Er soll der Kopf der Vogelwelt sein, und seine tiefe, sonore und durchdringende Stimme fordert unmittelbar Aufmerksamkeit und Respekt, auch wenn wir wenig oder gar nicht wissen, was sie sagt. Er hat mehr verschiedene Rufe als vielleicht jedes andere Lebewesen in der Welt, Menschen ausgenommen. Er ist ein eindrucksvoller Vogel. Raben verbünden sich mit allen Lebewesen, die Großwild töten — Eisbären, Grizzlybären, Wölfen, Kojoten, Killerwalen, Schwertwalen und Menschen. Wer im Norden in großem Umfang jagt, hat sein Gefolge von Raben. Die Inuit der Arctis und andere Eingeborene wissen, wann die Karibus auf ihrer Wanderung ankommen— durch die Ankündigung der Raben, die mit ihnen reisen und sich von dem ernähren, was die Wölfe am Rand der Herden töten. Die Jäger der Vergangenheit haben wenige Berichte hinterlassen, aber es wäre überraschend, wenn der Rabe nicht schon seit der Besiedlung der nördlichen Hemisphäre mit den Menschen verbündet gewesen wäre. Die Raben waren dabei, wenn unsere Urahnen jagten, sie beobachteten sie und folgten ihnen auf dem Weg zurück in ihr Lager unter den Felsen. Das Bild des Raben ist in Lascaux in der Szene vom Tod des Vogelmannes dargestellt. In seinem Klassiker Lift Histories of American Birds beschreibt Arthur Cleveland Bent Raben auf den Aleuten als »so zahm wie Hennen«. Raben finden sich auch in menschlicher Gesellschaft beim Wühlen auf Müllhalden, ein häufiges Pendant
zu den abgenagten Kadavern. Dem Raben gebührt ein wichtiger Platz in der Mythologie der Völker des Nordens, sowohl in der Alten wie der Neuen Welt. Odin, der Herr und König der Götter und Menschen in den nordischen Sagen, hatte ein Rabenpaar auf seiner Schulter sitzen. Es waren Hugin (Gedanke) und Munin (Gedächtnis), und er schickte sie in der Dämmerung bis an das Ende der Welt zur Erkundung aus. Nachts kamen sie zurück und flüsterten ihm die Geheimnisse, die sie erfahren hatten, ins Ohr. Odin hat seine Boten klug gewählt, denn kein anderer Vogel fliegt so gut über weite Entfernungen oder ist so scharfäugig, munter und redselig wie der Rabe. (Kann ein Rabe etwas übersehen? Kann er ein Geheimnis bewahren?) Odin, der Allwissende, beriet sich dann mit den anderen nordischen Göttern. Im alten Irland sagte man die Zukunft nach den Rufen der Raben voraus, und noch heute bedeutet die irische Redewendung »rauen ‚s knowledge«, alles zu sehen und zu wissen. Die Flugaktivitäten des Raben und seine Geschwätzigkeit waren zweifellos auf dem Höhepunkt, wenn die Wikinger in die Schlacht zogen. Der Rabe war der Schlachtvogel, und die Krieger der Wikinger, auch Wilhelm der Eroberer, trugen eine heilige Rabenfahne. Die Wikinger begrüßten die Gesellschaft von Raben, obwohl diese Verbindung zweifellos auf der den Raben eigenen Anpassungsfähigkeit beruhte. Sie folgten den Wikingern aus demselben Grund, aus dem sie jetzt den Wölfen bei den Wanderungen der Karibus folgen: um Futter zu finden. Die Wikinger verehrten den Raben, doch diejenigen, die sie überfielen, fürchteten die großen schwarzen Vögel. Raben waren direkt mit Tod verbunden, und nicht nur im
Zusammenhang mit den Überfällen der Wikinger. In der frühen englischen Literatur gibt es vielerlei Hinweise auf Raben auf dem Schlachtfeld, so in dem großen heroischen Gedicht Judith (Zeile 205-211), wo der Rabe der »Hagere«, der »Taubefederte« und so weiter genannt wird: »Der Schlachtenlärm erfreute den Hageren, den Wolf im Wald, und den dunklen Raben, den schlachtgierigen Vogel. Beide wussten, dass die Krieger vorhatten, ihnen ein Fest zu bereiten, mit unseligen Kriegern; und hinter ihnen flog der Adler, gierig nach Beute, und der Taubefederte, der Dunkelgefiederte; er sang ein Kampflied, der Hornschnablige.« In den Zeilen 60-63 am Ende der Dichtung The Battle of Brunanburh liest man von der Niederlage der Wikinger und ihrem Rückzug nach Irland, während die Sachsen siegreich heimkehren: »Hinter sich ließen sie, der sich des Leichenschmauses freute, den Dunkelgefiederten, den schwarzbraunen Raben mit dem Hornschnabel...« Ähnliche Szenen werden im Beowulf, dem altenglischen Epos aus dem frühen 8. Jahrhundert, lebendig. Zeile 3021-27: »Jetzt wird den Ger umfassen die Faust, den frühkalten, erheben die Hand. Keine Harfe weckt die schlummernde Schar. Sondern der schwarze Rabe, der Gefallnen froh, wird viel reden, dem Adler erzählen, wie er Atzung fand, mit dem Wolf um die Wette, die Wal beraubend.« Die Verbindung zwischen Raben und Tod führte zu der Annahme, dass die Vögel den Tod vorhersagen konnten, und das heisere Krächzen der Raben wurde in ganz Europa sowie in Teilen Afrikas und Asiens für die Ankündigung drohenden Unglücks gehalten. Mit Sicherheit erscheinen Raben nach einem Tod, der sie interessiert. Und es
ist nicht unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich drohende Tode vorhersehen können (wenn wohl nicht einen individuellen Tod). Ein Reisender des Mittelalters hörte vermutlich schon das Krächzen der Raben, bevor er an ein Wegekreuz kam, an dem Übeltäter als warnendes Beispiel erhängt worden waren. Das Bild hat sich noch heute in der englischen Sprache erhalten: »ravenstone« ist eine alte Bezeichnung für eine Richtstätte. Der Rabe hatte seinen schlechten Ruf vermutlich nicht nur, weil er Aas fraß, sondern auch, weil er angeblich seine Jungen nicht ordentlich fütterte (junge Raben sind tatsächlich auffallend laut, wenn sie nach Futter rufen). Raben wurden allgemein ein Synonym für »Sünder«, trotz des biblischen Hinweises, dass sie heilige Eremiten mit Nahrung versorgten. Wir lesen im 1. Buch der Könige (17,3ff.), dass Elia eine Dürre verkündigt und damit den Zorn König Ahabs und Königin Jesabels erregte. Gottes Botschaft lautete: »Gehe weg von hinnen, und wende dich gegen Morgen, und verbirg dich am Bach Krith, der gegen den Jordan fließt; und sollst vom Bach trinken, und ich habe den Raben geboten, dass sie dich daselbst sollen versorgen.« Wie die Bibel weiter erzählt, brachten ihm die Raben »Brot und Fleisch«. (Brachten sie ihm Nahrung, weil sie gehört hatten, dass er entdeckt hatte, wo sie an einem toten Tier fraßen? Wenn das zutrifft, wäre das eine wichtige Lektion für uns, unsere Vernunft zu gebrauchen, um die Natur richtig zu interpretieren.) William Shakespeare, der Tradition seiner Zeit treu, stellte den Raben als Symbol des Bösen und der Zerstörung dar. In Macbeth kündigt der Rabe »krächzend den bösen Eintritt« an, in Othello fliegt er »über das verdorbene Haus«. In Deutschland nannte
man einen Bösewicht, der gehängt werden sollte, ein »Rabenaas«, die Mutter, die ihre Kinder vernachlässigte, war eine »Rabenmutter«. Im Mittleren Osten fürchtete man Raben vielleicht weniger als Omen des Todes, doch sie hatten auch keinen guten Ruf. In jüdischen Legenden machen sich Raben höchst unbeliebt, weil sie mehrfach gegen das Paarungsverbot auf der Arche verstoßen. Der Rabe war auch der erste Späher, der ausgeschickt wurde, um nach Land zu suchen. Er kam jedoch nicht zurück, vermutlich weil er im Wasser Kadaver entdeckt hatte, die man fressen konnte. Nach E.A. Armstrong in seinem Buch The Folklore of Birds (1970) ist die Tradition, Vögel auszuschicken, um Land zu entdecken, bei Seeleuten sehr alt. Die Babylonier benutzten Raben, und der römische Naturforscher Plinius der Ältere behauptet, dass die Seeleute von Taprobane (Sri Lanka) Raben auf ihren Schiffen hatten und ihren Kurs bestimmten, indem sie ihnen folgten. Auch die Wikinger benutzten Raben. 874 fuhr Floki, ein norwegischer Entdecker, aus, um eine große Insel im Westen zu finden, die etwa zehn Jahre zuvor von einem Schweden namens Gardar entdeckt worden war. Nach der Floki-Saga nahm er drei Raben mit. Der erste, den er ausschickte, flog nach Norwegen zurück. Der zweite konnte bei seinem Rundflug kein Land entdecken und kehrte auf das Schiff zurück. Schließlich flog der dritte Rabe westwärts und kam nicht wieder, vermutlich weil er in dieser Richtung Land gefunden hatte. Ihm folgte Floki, so die Sage, und die Wikinger fanden die südöstliche Küste Islands, wo Raben bis heute verehrt werden (Außer in den Regionen, wo Eiderdaunen erwerbsmäßig gesammelt werden, weil die Raben die Eier der Enten zerstören und die Jungen töten).
Raben haben vielleicht nirgendwo sonst eine solche Präsenz wie in der Neuen Welt. In zahlreichen frühen amerikanischen Kulturen ist der Rabe sowohl eine Schöpfergottheit wie ein Volksheld. 1983 schreibt Richard K. Nelson in seinem Buch Make Prayers to the Raven über die Koyukonen, einen Athapasken-Stamm in Alaska: »An den meisten Tagen gehören Raben zu dem wilden nördlichen Land, sie flattern entschieden in Richtung unbekannter Ziele, führen – als Paare oder Trios – akrobatische Kunststücke aus und krächzen laut irgendwo in der Ferne. Sie bleiben während des nördlichen Sommers und Winters und gehen ihren dunklen Geschäften sowohl bei Hitze wie bei tiefer Kälte nach. Man trifft sie überall, in den dichten Flusswäldern oder auf der weiten Tundra und im Grasland, selbst in den Bergen der Tundra, wo sie in den Fallwinden spielen und kreisen. Was Raben auch immer sonst noch sind, sie sind tatsächlich erfolgreich. Aber wer könnte auch Schließlich besser wissen, wie man in dem Land lebt als die, die es entworfen haben?« In ihrem Buch Moose (1988) zitiert Michio Hoshino Catherine Attla, eine AthapaskenIndianerin, die über die Elchjagd erzählt: »Manchmal rufen die Leute Raben zu Hilfe. Während der Jagd sagen wir zu den Raben Tseek’aal, sits’a nohaaltee’ogh, das heißt ‚Großvater, wirf mir ein Stück zu‘. Wenn der Vogel krächzt und rollt, ist es ein Zeichen für Glück. Raben werden geschützt, weil sie beim Formen der Welt geholfen haben sollen. Darum hat auch der, der mich aufgezogen hat, mehr Geschichten über Raben erzählt
als alles andere. Er war ein Medizinmann, und er kannte die Macht der Raben. Die Menschen sprechen auch mit Raben, wenn sie ihn in den Wäldern finden, vor allem, wenn sie alleine sind. Sie sprechen mit Raben, so wie wir zu Gott beten.« Bei verschiedenen Stämmen – Tsimishian, Haida, Bella Bella, Tlingit und Kwaikiutl – im nordwestlichen Pazifik und bei den Koyukonen in Alaska ist der Rabe die Gottheit, die Erde, Mond, Sonne, Sterne und Menschen erschaffen hat. Die Rabenmythen sind Legion und kaum noch aufzuzählen. 1909 veröffentlichte der Smithsonian-Ethnologe John R. Swanton 28 davon in Tlingit Myths and Texts, nachdem er 1904 vier Monate bei den Tlingit-Indianern in Sitka und Wrangall an der Nordwestküste Alaskas geforscht hatte. Wenn auch der Rabe in den alten amerikanischen Mythologien nie böse war, so war er doch häufig ein Halunke. Raben sollen zum Beispiel die Mücken erschaffen haben, um die Menschen zu ärgern. In den Legenden der Inuit schufen die Raben das Licht, indem sie glitzernde Silberstückchen in den Himmel warfen, und die Milchstrasse markiert die Spur dieses Glimmers. Für den Rabengott sind die Menschen Teil einer Menagerie, die er zu seinem Vergnügen erschaffen hat. Er hat die Menschen zunächst aus Felsgestein gebildet, doch das machte sie zu dauerhaft, also nahm er Staub, damit sie sterblich wurden, wie sie es bis heute geblieben sind. In der ursprünglich vollkommenen Welt, die er erschuf, wuchs Fett auf Bäumen, und die Flüsse strömten auf- wie abwärts. Doch das machte alles zu bequem für die Menschen. Also machte der Rabengott aus dem Fett schwammige Pilze und ließ die Flüsse nur noch abwärts fließen. Dazu schuf er in
seiner Rolle als Unglücksbringer, Clown und Gott zugleich ein Sortiment verschiedener Schwierigkeiten für den Menschen. Die Schamanen der Koyukonen wie die der südlicheren Stämme rufen immer noch die Macht des Raben an, um Krankheiten zu vertreiben, indem sie sein Krächzen nachahmen, ihre Arme wie Flügel ausbreiten und auf beiden Füssen hüpfen. Nordamerikanische Indianer, Chinesen, Griechen, die Bewohner Sibiriens und Skandinaviens glaubten in alten Zeiten, dass die Raben das Wetter kontrollieren oder beeinflussen konnten. Als ich kürzlich bei einer Kanufahrt im nordwestlichen Alaska, den Naotak flussabwärts, mit zwei Eskimo-Parkrangern über den Dauerregen sprach, erklärten sie mir, dass es regnet, wenn jemand einen Raben tötet. (So unglaublich es auch klingt, ich fand am nächsten Tag einen toten Raben in der Nähe einer Trapperhütte. Der Vogel war seit mindestens einer Woche tot. Es gab allerdings keine Anzeichen dafür, dass jemand ihn getötet hatte.) Die alten Mythen und Legenden sind nicht nur esoterische Kuriositäten. Sie bestimmen Einstellungen, die wiederum die Verbreitung der Vögel betreffen, und ich glaube, dass sie sogar ihr Verhalten, Futter zu teilen, das später diskutiert werden soll, betreffen könnten. Wo der Rabe ein Gott ist, erfreut er sich eines glücklichen Lebens mit den Menschen. Unter den Koyukonen und bei anderen nördlichen Stämmen ist es ein Tabu, Raben zu töten, und wird ein Rabe in einer Falle gefangen, muss er lebend freigelassen werden, während der Trapper ihm erzählt, dass er gar nicht gefangen werden sollte. Dieses Tabu
scheint alt zu sein. Henry B. Collins hat während seiner archäologischen Ausgrabungen in Kap Kialegak im äußersten Südwesten der St. Lawrence-Insel, die seit 900 bewohnt ist, die Überreste von 45 Vogelarten entdeckt, die von den Eskimos getötet worden waren. Er schreibt: »Das Fehlen von Rabenknochen zeigt, dass der Rabe in alten Zeiten, wie heute, von den Eskimos als heiliges Tier betrachtet und niemals getötet wurde.« Raben versammeln sich überall im Norden in oder um Eskimodörfer, und in Städten wie Yellowknife und Inuvik sammeln sie Abfälle, stehlen Lebensmittel, die unbeaufsichtigt auf offenen Lastwagen liegen, oder das Futter der Schlittenhunde. In Island, wo die alte nordische Rabenverehrung noch weiterlebt, sind die Vögel ganz zahm. In Teilen der westlichen USA hat sich der Rabe an die Menschen, wie an fast alles andere, gewöhnt. Im Osten der USA allerdings ist der Rabe immer noch ein Symbol der Wildnis; in großen Gebieten Europas ist er fast ausgerottet – durch vergiftete Köder, Schiessen und Zerstören der Nester. Ein Pionier der Rabenforschung in Deutschland, Johannes Gothe, berichtet, dass allein im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin zwischen 1834 und 1875 nachweislich 10.440 Raben geschossen wurden. Eine ähnliche Verfolgung kam mit den Einwanderern in die Neue Welt. Nach E.H. Furbush in Birds of Massachusetts and the Other New England States (1927) wurden Raben bald nach der europäischen Besiedlung des Ostens »bekannt dafür, kranke Schafe und neugeborene Lämmer zu töten. Die Siedler führten ständig Krieg gegen sie«. Die englischen und deutschen Siedler hassten und fürchteten die Vögel und schrieben den Tod eines kranken Schafes wohl nur zu gern einem Raben zu, vor allem, wenn Raben
bei dem Kadaver waren. Die Verfolgung ging im Westen weiter. In seinem Buch Hunting and Trading on the Great Plains: 1859-1875 schreibt James R. Mead über die (damals oft fatale) Verbindung zwischen Raben, fleischfressenden Raubtieren und ihrer Beute. Er berichtet, wie im Herbst 1859 der Häuptling Shingawassa von den Kaw (Kansas)-Indianern mit seinem Stamm zwischen den Holzstapeln hinter seiner Ranch campierte. Sie blieben dort den ganzen Winter und tauschten und handelten Waren (Kaffee, Zucker, Mehl und Tabak): »Unsere Methode, Wölfe zu töten, bestand darin, zwei oder drei alte Büffelbullen zu erschießen... Wir würden sie eine Nacht liegenlassen, um die Wölfe anzulocken. In der nächsten Nacht würden wir, knapp vor der Dämmerung, dorthin gehen und vergiftete Köder um den Kadaver auslegen, jeden mit einem Dreißigstel Dram Strychnin . Wir taten dies nach Sonnenuntergang wegen der Tausenden von Raben, die mit dem Büffel zu leben schienen und ausschließlich dort zu finden waren, wo es Büffel gab. Sie würden zurückkommen und die Köder fressen, wenn wir sie vor der Dämmerung auslegten, so dass wir, statt die Wölfe zu töten, nur ein Feld voll toter Raben finden würden.« James R. Mead fährt fort: »Diese Raben nisten nicht in diesem Teil des Landes, zumindest sah ich auf meinen Reisen nie Nester. Büffel, graue Wölfe und Raben, Gefährten im Leben, vermischten ihre Knochen, wenn der schnelle Tod sie einholte. Die Büffel wurden
von den Kugeln der Jäger getötet, die Wölfe mit Strychnin wegen ihrer Felle und die Raben, weil sie von den vergifteten Kadavern fraßen, so dass praktisch alle zur selben Zeit ausstarben.« Die Verfolgung von Krähen und Raben geht bis in die Gegenwart. Krähen sind Sündenböcke für Missernten und werden deswegen wie Ungeziefer vertilgt. (Ein Kommilitone an der University of Maine finanzierte sein Studium mit der Arbeit beim Fish & Wildlife Department im nördlichen Maine. Seine Aufgabe war das Töten von Raben, die Kartoffeln fraßen und angeblich Krankheiten verbreiteten.) Für den Durchschnittsbürger, der sieben Dollar für eine Jagdlizenz bezahlt, besteht zwischen Krähen und Raben kein Unterschied. Wie wir »Krähen« behandeln, zeigt ein Ereignis an einem Krähenschlafplatz (Raben rasten gelegentlich mit Krähen und anderen Corviden) im Illinois der vierziger Jahre. Die Bäume, auf denen die Vögel nachts schliefen, wurden mit tausend Handgranaten bestückt; als sie nachts detonierten, war der Boden mit einhunderttausend toten und sterbenden Vögeln bedeckt. In den sechziger Jahren konnte Bert Popowskis Varmint and Crow Hunter’s Bible den Jägern immer noch empfehlen, »die tote Saison zu überbrücken« und Krähen »als Ziele zu benutzen«. 1972 wurden bei einer Änderung der Migratory Bird Treaty Act Raben und Krähen aufgenommen, aber die meisten Staaten der USA führen »Krähen« als legal jagdbare Vögel. Allerdings gibt es Unterschiede zu anderen jagdbaren Vögeln: Kein Limit für die Schusszahl, die Jagd ist nicht nur im Herbst, sondern auch im Frühjahr frei, wenn sie ihre Jungen füttern. Eine Broschüre, die eines der staatlichen Departments of Wildlife
Conservation herausgegeben hat, gibt spezielle Empfehlungen für das Schiessen von Krähen an einem bekannten Schlafplatz. (Ehrlich ist die Broschüre zumindest darin, dass Jagd nicht auf dem Titel steht.) Der Leser wird darauf hingewiesen, dass die Schusszahl bei Krähen nicht begrenzt ist. Die Schiesszeiten sind: »Tageslicht bis zur Dunkelheit, täglich. Die beste Zeit sind der frühe Morgen und der Spätnachmittag.« Zwei weitere nützliche Hinweise: »Um gut zu schießen, finde man am besten die Fluglinie« und »Blechstücke und Blechbüchsen können 200 Meter entfernt von der der Fluglinie gegenüberliegenden Seite aufgehängt werden, um die Vögel in den Hinterhalt zu locken«. Verschiedene Lockrufe, die man gebrauchen oder nicht gebrauchen soll, werden ebenfalls beschrieben. Ein Artikel in der Zeitschrift Fur-Fish-Game vom Januar 1985 gibt nicht vor, dass das Schiessen von Krähen irgendeinen sinnvollen Zweck erfüllt. Er rät dem Schiessenden nur, »tote Krähen an einem vom Landbesitzer bezeichneten Ort abzulegen. Lassen Sie sie nicht in einem Haufen auf dem Feld oder hinter der Scheune liegen«. Der Artikel schließt damit, dass Krähen-»Jagd« eine »sichere Kur gegen Hüttenkoller ist«. Inkonsequenterweise ist es illegal, sich am Nest einer Krähe zu schaffen zu machen, und jeder Forscher, der sie studieren will, braucht verschiedene Genehmigungen. Sich eine Krähe als Haustier zu halten ist streng verboten. (Warum? Man kann von einer lebenden Krähe viel lernen und nur wenig von tausend toten.) Warum muss man als Rechtsbrecher Gewissensbisse bekommen, wenn man so mehr über ein Tier erfährt und damit auch etwas für das ökologische Bewusstsein tut? Sowohl Raben wie auch Krähen wurden im Osten der Vereinigten Staaten verfolgt,
doch die Zahl der Raben ist in letzter Zeit stark zurückgegangen, während die der Krähen stark zunahm. Das liegt vielleicht zum Teil daran, dass die jährlich wiederbenutzten Nester (oder Nistplätze) der Raben leicht zu finden und zu zerstören sind. Aber es gibt noch andere Gründe. Früher waren Raben in ganz Amerika zu finden, doch mit dem Verschwinden von Büffeln und Wölfen verschwand auch der Rabe. Vergiftete Köder taten das Ihre. Die Grundnahrung der Raben, den Büffel, gab es nicht mehr, während die Grundnahrung der Krähen, hauptsächlich aus der Landwirtschaft, zunahm. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Rabe aus fast ganz Neuengland verschwunden. Henry David Thoreau erwähnt den Vogel nicht in den Berichten über seine drei Reisen nach Maine, und 1872 beobachtete Edward A. Samuels in Birds of New England and Adjacent States, dass der Rabe »in Neuengland extrem selten ist. Aber er zieht seine Jungen gelegentlich auf der Insel Grand Menan auf, abseits der nordöstlichen Küste von Maine, auf unzugänglichen Klippen«. 1903 schrieb der Ornithologe Thomas Nuttall: »In den letzten Jahren hat der Rabe Neuengland fast völlig verlassen.« Einige Zeit später schloss Arthur Cleveland Bent, dass »der Rabe in den meisten Gebieten der Vereinigten Staaten unüblich oder selten« ist, nur die Neuengland-Staaten spielten »eine Sonderrolle«. Ähnlich schreibt Walter B. Barrows 1912, das der Rabe in Michigan ein scheuer Vogel sei, »der verschwindet, wenn die Besiedlung fortschreitet«. So war es nicht immer. Raben in großer Zahl gab es sogar in der Londoner Innenstadt. Sie fungierten als Müllmänner der Stadt, und im 17. Jahrhundert warnte eine Rabenschar
die Wachen Karls II. vor einem Überfall Oliver Cromwells. Ich wollte mehr über die Londoner Raben erfahren und schrieb an den Tower of London, weil ich wusste, dass dort noch Raben gehalten werden. Die Antwort von John Wilmington Bem, dem Yeoman Raven Master im Tower, vom 14. Februar 1989 ist hier in Auszügen wiedergegeben: »Es war zur Zeit Karls II., dass, einer Tradition entsprechend, Raben im Tower gehalten und ordentlich versorgt wurden. Davor gab es überall in dieser Gegend Raben, vor allem in Bermondsey, und nach dem großen Brand von 1666 taten sie sich an all den Leichen gütlich, denn die Behörden kamen mit den Aufräumungsarbeiten nicht recht voran. Sie vermehrten sich so, dass sie den Einwohnern lästig wurden, die beim König nachsuchten, alle zu beseitigen. Ein Wahrsager erklärte dem König jedoch, dass England ein großes Unglück überkommen und der Palast zu Staub zerfallen würde, wenn er alle Raben aus dem Tower entferne. Der König, der das Schicksal nicht versuchen wollte, beschloss, sechs Raben zu halten und einen Wärter zu ernennen, dessen derzeitiger Nachfolger ich jetzt bin, in der Hoffnung, dass mir noch viele nachfolgen werden. Wenn ein Rabe stirbt, wird er im Burggraben in der Nähe von Traitor’s Gate begraben, und sein Name wird festgehalten. Wenn wir einmal keine Raben zu Gast haben, rufe ich alle möglichen Leute an, ob es vielleicht irgendwo einen lahmen Vogel gibt oder einen, der als Haustier aufgezogen wurde und dort nicht mehr gehalten werden kann. Gwylum, unser letzter Neuzugang, kam aus dem Welsh-Mountain-Zoo. Ich stutze sie, indem ich an einer Schwinge die Schwungfeder beschneide.
Unsere normale Ausstattung mit Raben, wie sie von König Karl II. überliefert worden sein soll, beträgt sechs, doch von Zeit zu Zeit haben wir mit Genehmigung des Governor auch zwei Gastraben. Jeder Rabe braucht eine ganze Menge Platz, da sie ja nicht fliegen können und die ganze Zeit auf dem Boden herumhüpfen. Also sind sechs bis acht eine vernünftige Menge. Zurzeit haben wir Acht: Rhys, Charlie, Hughin, Larry, Hardy, Gwylum, Katie und Cedric. Letztes Jahr hatten wir zum ersten Mal drei Pärchen, was unsägliche Probleme brachte, weil sie sehr aggressiv wurden. Sie dürfen aus ihren Käfigen, sobald es hell geworden ist, und bekommen ihre Tagesration, die aus gut zerhacktem Fleisch, Hundekuchen und Küchenabfällen besteht. Sie sind leicht überfüttert, was sie gelehrig macht, und so ärgern sie sich auch nicht so schnell über die Besucher. Sie werden ins Bett gebracht, wenn es dunkel ist, jeder hat sein eigenes Abteil mit Stroh zum Warmhalten und mit Jalousien an den Türen, damit das Licht nicht hereinkommt. Sie kommen, wenn ich pfeife; wenn ich jedoch nicht hier bin, finden andere Leute es schwierig, sie zurück in den Käfig zu locken. Jeder Rabe hat seine individuellen Eigenschaften, einige sind bösartig, andere haben es gern, wenn man sie knuddelt oder mit ihnen schmust. Sie lieben Zuwendung, aber ich muss sehr vorsichtig sein, einen zu bevorzugen, weil sie eifersüchtig werden! Raben brüten nicht eigentlich im Tower. Sie haben sich gepaart und Eier gelegt, doch die Eier wurden immer nach ein paar Tagen zerstört. Möglicherweise sind sie durch die Besucher gestört und haben zu wenig Privatsphäre. Wir haben hier auch oft Bauarbeiten, was sie ebenfalls abhalten könnte. Wir werden es vielleicht dieses Jahr
noch einmal versuchen und die Eier, falls es welche gibt, selbst ausbrüten, so dass die Jungen im Tower geboren werden, das wollen wir jedenfalls versuchen.« Raben mögen sich bei vielen Menschen in Großbritannien beliebt gemacht haben, doch bald nach der Zeit Karls II. wurden sie offensichtlich trotzdem verfolgt. Robert Smith, der sich 1786 in der 3. Auflage seines Buches Universal Directory for Destroying Rats, and Other Kinds of Foor fouted and Winged Varmin selbst als »ehemaligen Rattenfänger von London« vorstellt, berichtet von seinen Tricks, Raben zu fangen, und behauptet: »Ich habe große Mengen an einem Tag gefangen.« Raben waren damals zutraulich. In dem Dorf Selborne, nur fünfzig Meilen südwestlich von London, nistete ein Rabenpaar jahrelang auf einer uralten Eiche, die als »der Rabenbaum« bekannt wurde. Reverend Gilbert White, der durch seine genauen Naturbeobachtungen in The Natural History of Selborne (1. Auflage 1788) berühmt wurde, schrieb auch über sie. Die Raben nisteten hoch oben auf einem hervorragenden Ast der Eiche; Generationen von Dorfjungen versuchten, an das luftige Nest zu kommen, doch keiner konnte bis zu dem Ast vordringen, und so bauten die Raben Jahr für Jahr »in völliger Sicherheit Nest auf Nest«. Schließlich wurde die Eiche zum Bau einer Brücke in London gefällt. White schreibt: »Die Säge wurde an der dicksten Stelle angesetzt, in die Öffnung Keile getrieben, das Holz ächzte unter den schweren Schlägen des Holzhammers oder Schlegels, der Baum neigte sich langsam der Erde zu, doch das [Raben]Muttertier blieb sitzen. Als der Baum Schließlich nachgab, flog der Vogel aus
seinem Nest, und obwohl ihre mütterliche Liebe ein besseres Los verdient hätte, wurde sie von den Zweigen erschlagen und fiel tot auf den Boden.« Obwohl Raben offensichtlich nicht mehr geschützt waren, wurde das Dekret des Königs, Raben zu halten, buchstabengetreu befolgt. Wie wir gehört haben, werden noch immer sechs bis acht Raben (als Gefangene) im Tower von London gehalten, doch der Geist des Dekrets wurde eindeutig verletzt. Es gibt in und um London keine freien wilden Raben mehr. Aber es gibt überall in der Welt Krähen und andere Corviden in Städten. In den fünfziger Jahren spazierten im Winter auf einmal Raben durch die Strassen der Städte in der Prärie von Sasketchewan. In Yellowknife im Yukon-Territorium sind sie willkommene Vögel der Stadt. In Kanada finden sie jetzt sogar offizielle Anerkennung. Die Bill No. 12 der 26. Gesetzgebenden Versammlung des Yukon-Territoriums verabschiedete am 14. 6. 1985 die Raven Act, die den Raben zum offiziellen Vogel des Territoriums machte. (Es war das Verdienst der »Rabendame«, »P.J.« Johnson, deren Petition von 1500 »Rabenfanatikern« unterzeichnet worden war.) Kein anderer Vogel unserer Welt hat eine größere Verbreitung oder zeigt mehr Anpassungsfähigkeit als der Rabe. Er ist in der Gesellschaft von Eisbären und ihrer Beute in der hohen Arktis ebenso zu Hause wie im Gefolge der Wolfsrudel in der kanadischen Taiga, fängt bei 50 Grad Eidechsen im Death Valley und fliegt über die höchsten Gipfel in Tibet oder in Nord- und Mittelamerika. Ich habe in Flagstaff, Arizona, Raben in die Mülltonnen hinter Dunkin’ Donuts hüpfen sehen, Raben suchen im Flug nach überfahrenen Tieren an den Autobahnen in Maine und in der Mojave-Wüste. Ich
habe ein Rabennest auf einem Felsen im Truelove Lowland oberhalb des Polarkreises gesichtet, auf den Hochhäusern von Los Angeles und neben dem Kirchturm von St. Mary in Flagstaff über einem Parkplatz, auf Pappeln in den Grand Tetons, auf Telegrafenmasten in New Mexico, auf Kiefern in Maine und auf bröckligem Fels nur wenige Fuß über dem Wasser des Naotok in Alaska. Kürzlich wurden Raben sogar beim Nisten auf Fernstrassenüberführungen und Reklametafeln gesichtet. Raben sind überall zu Hause. Sie haben nur einen Feind: den Menschen. Trotz der verhältnismäßig neuen Verfolgung hat der Rabe ein dramatisches Comeback in Neuengland wie in vielen anderen Gebieten. Wahrscheinlich vergrößert sich sein Bereich noch weiter. Raben kommen seit 3o Jahren nach Zentral- und West-Maine, offensichtlich folgten sie den einfallenden Kojoten auf dem Fuß. Vor 196o gab es nur vereinzelt Berichte über Raben in Vermont, doch seit 1972 haben sie dramatisch zugenommen und sind jetzt in großen Teilen von Vermont, Maine und New Hampshire zu finden. Zweifellos werden sie sich in den nächsten Jahrzehnten nach Süden ausbreiten. Im Osten sind sie jedoch noch sehr scheue Vögel und selten in Stadtnähe zu finden. Sie brüten in dichten Wäldern und fliegen sofort weg, wenn sich jemand nähert. Es ist sehr schwer, sie kennen zulernen. Meine Bekanntschaft mit diesem schwer fassbaren Vogel begann, als meine Familie am Ende des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlinge in einer Einzimmerhütte mitten in einem deutschen Naturschutzgebiet lebte. Spätestens dort begann meine Liebe zu Raben. Ich war noch keine zehn Jahre, und ich hatte kaum Spielzeug, aber die beste Unterhaltung
und Begleitung, die ein Junge haben kann – eine zahme Krähe. Ich hatte sie aus einem Nest geholt, und seitdem habe ich immer Krähen oder Raben als Haustiere gehabt. So wie manche Leute einen Hund oder eine Katze haben müssen, brauche ich einen Corviden. Zu dieser Zeit, zwischen 1944 und 1950, war das Leben für uns ein einziges Abenteuer. Meine Schwester Marianne und ich gingen über einen Sandweg durch dichten Fichtenwald in die Dorfschule. Wir hatten Angst vor Hirschen und Wildschweinen, und als wir einmal tiefes Krächzen hörten und schwarze Vögel aus dem Dickicht auffliegen sahen, machte das die Sache nicht besser. Wir erzählten es natürlich unseren Eltern, und mein Vater wusste, was wir gesehen hatten. Es war wie bei Elias in der Wildnis: Die Raben brachten uns tatsächlich Nahrung, aber nur, weil wir die Botschaft verstanden, die da lautete: »Hier gibt es Futter.« Es war ein Wildschwein. Gebraten war es das Köstlichste, was wir seit langem gegessen hatten. Ich habe dann bis in die späten fünfziger Jahre keine Raben mehr gesehen, erst wieder in derselben Gegend im westlichen Maine, die das Zentrum der in diesem Buch beschriebenen Beobachtungen ist. Ich war zusammen mit Phil unterwegs, einem der besten Waldkenner und Fischer, die ich je getroffen habe; er tat sein Bestes, um mich zu einem echten »Mainer« zu erziehen. Ich weiß nicht, ob er mit dem Erfolg zufrieden war, aber er hatte großen Einfluss auf mich. An diesem besonderen Tag waren wir bei unserer üblichen Herbstbeschäftigung, der Jagd auf Rotwild. Bei diesen Ausflügen geschah meist nichts Aufregendes – wir schienen nie ein Reh zu schießen –, aber wir hatten unsere
Augen und Ohren weit offen. Diesmal wurde ich mit dem Krächzen eines Raben belohnt – und dann sah ich ihn über den Bergkamm fliegen, Richtung Mount Tumbledown. Raben in diesen Wäldern? Ich war wie elektrisiert. Ob es hier auch ein Nest gab? Ich behielt die Frage im Hinterkopf, weil ich auch ein leidenschaftlicher Eiersammler war, und ich hatte noch nie das Nest eines Raben gesehen. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, mit welcher Spannung ich ein paar Jahre später hochklettern würde, um in ein Rabennest zu blicken und die Eier zu sehen, vermutlich wie bei den meisten anderen Corviden grünlich mit schwarzen und grauen Flecken. Zu dieser Zeit arbeitete ich in der Küche von Camp Kawanhee am Ufer des Lake Webb zu Füssen des Mount Tumbledown und spülte für 15 Dollar die Woche Geschirr. Jeden Junimorgen hörte ich in der Dämmerung das rauhe Betteln der jungen Raben, die hinter ihren Eltern bei deren Beutezügen das Seeufer entlangflogen. Ich suchte in den großen Kiefern um den See nach einem Nest, fand aber keines, jahrelang nicht. Aber ich vergaß die Raben nicht und dachte weiter über sie nach. Nisteten sie nur auf unzugänglichen Felsen oben am Mount Blue oder Mount Bald? Oder zogen sie die Balsamtannen an den Bachufern vor? Ende März, etwa zehn Jahre später, stolperte ich Schließlich über ein Nest. Der Schnee lag noch meterhoch, und der Harsch trug mich nur zum Teil, während ich zum anderen Ufer von Hills Pond stapfte. Der Frühling kündigte sich schon an. An diesem Tag prallte er regelrecht auf mich – der laute durchdringende Ruf eines Raben. So nah hatte ich noch nie einen Raben gehört. Das Krächzen war so mächtig, dass es den ganzen Wald
erfüllte und alle anderen Geräusche überlagerte. Die Bedeutung war mir klar: In der Nähe war ein Nest. Ich suchte in der Nähe des Weihers und ging dann einen niedrigen Grat zwischen den Bergen entlang. Auf der einen Seite standen Rotfichten, durchmischt mit Kiefern und ein paar Weißbirken. Wenn man in einer der Kiefern ein Nest hatte, konnte man den gesamten gefrorenen See überblicken. Der Blick von dort auf die Hänge des Mount Bald ließ erkennen, wie der Laubwald in Nadelwald überging und dann oben in kahlen Fels. Vielleicht konnte man sogar bis zum Lake Webb hinunterschauen. Auf der anderen Seite sah man weit bis zum Tal der Alder, mit dem Mount Blue in der Ferne. Und hier, auf einer der Kiefern, fand ich das Nest. Inzwischen habe ich sechzehn weitere Nester in Zentral-Maine und in Vermont gesehen. Drei waren auf Felsen, dreizehn auf Kiefern. Interessanterweise fand Gothe 1961 bei seinen detaillierten Forschungen über die Wahl der Nester in Norddeutschland, dass von 73 benutzten Nestern 71 auf alten Buchen und nur eines auf einer Kiefer angelegt waren, obwohl es dort große Areale mit Kiefern und anderen Nadelbäumen gab. Es gibt Buchenwälder in Zentral-Maine, aber meines Wissens hat man dort nie ein Rabennest auf einer Buche gefunden. Da die Raben auch auf und sogar in verlassenen Gebäuden, auf Telegrafen- und Hochspannungsleitungen und auf Kirchtürmen nisten, ist ihre regional bedingte Nestwahl verwirrend. Sie hat vermutlich mit Tradition zu tun. Etwa eine Woche später flog das Vogelweibchen aus dem Nest, als ich näher kam. Jetzt wusste ich, dass im Nest Eier waren. Kurz zuvor hatte ein heftiger Schneesturm getobt, und die Wälder sahen winterlich aus. Im Mai sah und hörte ich dann die großen
schwarzen Jungen am Rand des Nestes. Im folgenden Jahr kam ich im Februar, doch das Nest war nicht mehr da. Es war während der Winterstürme weggefegt worden. Die grau gewordenen Zweigenden der angehäuften Hölzchen verrieten mir, dass das heruntergefallene Nest alt war. (in dieser Gegend brechen die Raben sämtliche Zweige für ihre Nester von den Bäumen, meistens von Pappeln.) Als ich einen Monat später wiederkam, fand ich frisch gebrochene Zweige im Schnee, fast zwei Zentimeter dick, und im Baum ein neues Nest. Es war in derselben Kiefer wiedererbaut worden, an genau derselben Stelle. Ich habe dies inzwischen wiederholt bei anderen Raben gesehen; ein Jahr lag jeweils dazwischen, in dem das Nest an einer anderen Stelle in der Nähe gewesen sein kann. Das Paar von Hills Pond kam in den folgenden Jahren zurück und baute ein Nest etwa eine halbe Meile entfernt. Aus natürlichen Gründen hatte es zweimal keinen Bruterfolg. Dieses Rabenpaar sollte eine zentrale Rolle bei meinen späteren Studien spielen. Obwohl ich ursprünglich ein Nest finden wollte, um ein Gelege Rabeneier zu bekommen, habe ich niemals eines genommen. Meine Eiersammlerphase war vorbei. Ich behielt ein paar Schalen, aber was blieb, war das Wesentliche – das Interesse für Verhalten und Ökologie der Vögel. Es gelang mir, das Nest um seiner selbst willen zu betrachten, und ich hoffte nur, dass nichts das Paar stören würde und sie nicht wegzögen. Das Verhalten bei der Nahrungssuche, wie Tiere ihren Unterhalt bestreiten, das scheint mir einer der Kardinalpunkte des Lebens zu sein. Ein Tier ist nur erfolgreich, solange es sich seine Ressourcen in seiner Umwelt beschaffen und mehr daraus machen kann. Dazu
gehört natürlich eine gleich bleibende interne Umwelt; das Tier muss, statt eine Ressource für andere Lebewesen zu werden, sich reproduzieren (das heißt die schwer erworbenen Ressourcen dazu verwenden, sich fortzupflanzen). Viele der letzteren Funktionen sind sporadisch oder saisonbedingt, doch die lebenserhaltenden Ressourcen sind ein nahezu ständiges Ziel. Hummeln haben eine phantastische Kombination von Verhaltensweisen entwickelt, um das Gleichgewicht der Energie im Sommer zu erhalten, selbst wenn es überall Blumen gibt. Um wie viel phantastischer mochten diese Raben sein, da sie hier überwinterten, auch wenn es nur wenig regelmäßiges Futter gab? Wenn alle Tiere gleich wären und genau dasselbe täten, würden sie als Objekte wissenschaftlicher Forschung bald langweilig. Die Grundprinzipien laufen oft darauf hinaus, eher einfach zu sein, und wenn man sie einmal erkannt hat, verlieren sie ihren Reiz. Sie sind nur noch ein Teil der Voraussetzungen über das Wirken der Natur, mit denen man arbeitet. Je allgemeiner das Prinzip ist, um so eher wird es langweilig. Die Vielfalt ist aufregend. Und die Natur ist unendlich komplizierter, als der menschliche Verstand gerade erst beginnt wahrzunehmen. Raben sind so aufregend, weil viele Komponenten ihres Verhaltens zwar ähnlich, aber doch »elastisch« sind, das heißt, bei den verschiedenen Arten modifiziert oder unterschiedlich zusammengesetzt werden, um in ganz neuen Strategien zu enden, die alle denselben allgemeinen Prinzipien der Nahrungsökonomie bei unterschiedlicher Verteilung der Ressourcen dienen. Die Verteilung der Ressourcen lenkt oft die sozialen Systeme. Eines der faszinierendsten
und bekanntesten Beispiele ist der Buschblauhäher, Aphelocoma coerulescens, den die Zoologen Gien E. Woolfenden von der University of South Florida in Tampa und Woolfenden und John W. Fitzpatrick vom Field Museum in Chicago erforscht haben. Florida ist für einen Vogel ein hübscher Platz zum Leben, weil dort das ganze Jahr erträgliches Wetter ist und es kaum plötzliche Veränderungen der Umwelt gibt, die ein Aussterben oder Lücken verursachen. Grund und Boden sind trotzdem knapp. Ein junger Häher in Florida, der in niedrigen Zwergeichen lebt, hat wenig Chancen, ein anderes freies Plätzchen zu finden, wenn er sein Heim verlässt. Stattdessen bleibt er häufig bei seinen Eltern, macht sich bei der Verteidigung des Territoriums nützlich und hilft, kommende Generationen aufzuziehen. So kann man in der Regel andere Vögel neben dem Elternpaar bei der Bewachung des Nestes sehen. Einer könnte später sogar das Glück haben, das Territorium zu erben. Seltsamerweise hat sich dieses gemeinschaftliche Brüten bei Mitgliedern derselben, in Kalifornien lebenden Spezies nicht entwickelt. Wie Jerram L. Brown von der State University von New York in Albany gezeigt hat, entstand dort eine ganz andere Spezies, der Mexikanische Blauhäher, A. ultramarina. Russell Balda und seine Partner von der Northern Arizona University in Flagstaff fanden ein gegensätzliches soziales System beim Nacktschnabelhäher, Gymnorhinus cyanocephalus. Diese Häher spezialisieren sich auf Kiefernsamen, zum Beispiel der Pinus edulis. Wie viele andere Pflanzen, die wertvolle, nahrhafte Samen haben, hat diese Kiefer eine Hunger-und-Völlerei-Strategie entwickelt, die sicherstellt, dass einige Samen der Vernichtung durch die Samenfresser entgehen. Wenn in irgendeinem beliebigen Wald
die Bäume ein paar Jahre lang keine Samen produzieren, bleibt die Zahl samenfreßender Arten in dem Gebiet niedrig; wenn die Kiefern plötzlich eine Rekordernte produzieren, befriedigen sie den Appetit vor Ort, und es bleiben noch Samen für neue Bäume übrig. Da er von einer Ressource lebt, die evolutionsbedingt der Befriedigung lokaler Bedürfnisse dient, steht dieser Nacktschnabelhäher einer spezialisierteren Umwelt gegenüber als manch anderer Vogel, dessen Ernährungsmöglichkeiten von der Menge Land abhängen, das er zur Verfügung hat. Wenn vor Ort reichlich Nahrung zur Verfügung steht, brauchen Vögel kein großes eigenes Territorium. Umgekehrt liegt das Problem darin, den lokalen Grenzen zu entfliehen und über große Entfernungen reiche Futtergebiete zu finden. Nacktschnabelhäher brüten in lockeren Kolonien in solch nahrhaften Gegenden. Das ermöglicht es ihnen auch, einige Vorteile, die das Gruppenleben bietet, zu genießen. Zusammen können sie mächtige Raubvögel, wie Bussarde, vertreiben, und sie können als Gruppe auf Futtersuche gehen, wobei sie das Bewachen der Jungen einigen wenigen Babysittern überlassen. Es ist möglich, Informationen über futterreiche Gegenden weiterzugeben, weil man dadurch nichts verliert, und da die Gruppe eine soziale Einheit ist, könnten die Beteiligten auch Freunde und Verwandte sein. Wenn sie gruppenweise auf Futtersuche gehen, haben die Vögel zudem mehr Augen, um Gefahren zu entdecken. Bestimmte Verhaltensweisen ebenso wie das soziale System können bei den Corviden allein wegen der Verteilung der Ressourcen verändert werden. Futterverstecken ist ein Beispiel. Es ist eine gute Möglichkeit, Überschuss, der nicht auf einmal aufgefressen
werden kann, nützlich anzulegen. Wie eine Eule, die einen Hasen fängt, mehr als eine Mahlzeit daraus machen kann, verstecken Krähen übrig gebliebenes Fleisch, wenn sie auf einen Riesenleckerbissen stoßen. Für die meisten Krähen ist das kein wesentlicher oder zentraler Teil ihrer Lebensstrategie, sondern lediglich etwas, das sie bei passender Gelegenheit machen. Bei den verschiedenen Arten kommt dem Verstecken je nach ihrer Umwelt mehr oder weniger Bedeutung zu, und es kann sich evolutionär ändern. Verstecken wird noch vorteilhafter, wenn es sich dabei um Futter handelt, das nicht so leicht verdirbt. Die Konzentration auf solches Futter wächst mit der Technik des Versteckens, und beides verstärkt sich gegenseitig. Es gibt zumindest drei verschiedene Arten von Corviden, für die Verstecken der Schlüssel zum Überleben ist. Eine ist der Kanadische Unglückshäher, Perisoreus canadensis oder »Whiskey-Jack«, ein manchmal lächerlich zahmer Vogel, der in der Taiga und vorwiegend in Nadelwäldern in Nordamerika lebt (obwohl ich ihn auch im Weidendickicht an Flussufern in der arktischen Tundra nisten gesehen habe). Der Kanadische Unglückshäher nistet im späten Winter, noch lange bevor der manchmal hohe Schnee geschmolzen ist. Er braucht am meisten Nahrung, wenn er seine Jungen aufzieht, dann also, wenn die Umwelt am wenigsten anzubieten hat. Allerdings wird die Kälte seines Territoriums zum Vorteil. Das Futter verdirbt nicht. Dazu hat der Vogel vergrößerte Speicheldrüsen entwickelt, die einen dicklichen Speichel produzieren, mit dem er das Futter verklebt und dort versteckt, wo der Schnee es nicht zudecken kann. Der Kiefernhäher, Nucifraga columbiana, hat eine ähnliche Lösung gefunden, um
den Energieengpass im Winter und beim Brüten zu überleben. Offensichtlich stammt fast sein ganzes Futter für das spätwinterliche Brüten aus versteckten Vorräten. Der Vogel hat einen speziellen Kehlsack entwickelt, in dem er bis zu 95 Kiefernsamen stapeln und bis 22 Kilometer weit zu seinen Vorratslagern an Südhängen tragen kann. Kiefernhäher sind überwiegend Gebirgsvögel. Im Winter kann es in den Bergen windig sein, und es ist nicht leicht, Kiefernsamen auf die Zweige zu kleben. Stattdessen sucht der Vogel sein Futter im Herbst in der Ebene, fliegt dann in die Berge, wobei er die Aufwinde als »Fahrstuhl« benutzt, und deponiert die Samen in windigen Gebieten, wo er sie leicht ausgraben kann, wenn er sie Monate später braucht. Die erstaunliche Fähigkeit der Kiefernhäher, Tausende verschiedener Verstecke im Kopf zu behalten, ist eine ganz besondere Eigenschaft, für die die Naturforscher sich schon lange interessieren und die gerade jetzt von Russell Balda an der Northern Arizona University und von Alan Kamil an der University of Massachusetts genauer erforscht wird. Auch die Nacktschnabelhäher haben, wie nicht anders zu erwarten, ihre Verstecktaktik verbessert. Ihre Kiefernsamen werden dicht an Baumstümpfen gelagert, wo die Sonne den Schnee schneller schmelzen lässt; dort holen die Vögel sie den ganzen Winter hindurch bis zum Beginn des Frühlings. Sie sind jedoch nicht gänzlich von ihren Verstecken abhängig. Nacktschnabelhäher haben schmale Flügel, was sie zu guten Fliegern über große Entfernungen macht, ein weiterer Mechanismus, der ihnen hilft, einen Versorgungsengpass bei ihrem Lieblingsfutter zu vermeiden. Es gibt viele andere Adaptionen, die es den Corviden ermöglichen zu leben, sich
fortzupflanzen und ihre Jungen zu ernähren. Nachdem ich mich mit diesen Hintergründen, die aus früheren Forschungen stammen, vertraut gemacht hatte, wurden Raben für mich noch aufregender. Wenn sie sich tatsächlich auf Kadaver spezialisieren, ist dies eine einzigartige Art von Nahrung mit einer eher extremen Geometrie von Verteilung und Überfluss . Wenn es einen Corviden mit einzigartigem Anpassungsverhalten gab, das es ihm ermöglichte, von dieser Ressource zu leben, dann musste es der Rabe sein. Doch das war nicht eigentlich der Hintergrund, der mich zum Studium der Raben führte – er war nur der Treibstoff. Der Funke, der mein Interesse anfeuerte und zum Anfang dieser Forschungen wurde, zündete im Oktober 1984 bei meinem Freisemester von der University of Vermont, als ich eine Rabenschar in Maine beobachtete, ganz in der Nähe, wo ich in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder Raben gesehen hatte. Einige der nächsten Kapitel sind das Tagebuch, das ich seit damals führe, andere sind Resümees der wissenschaftlichen Literatur, Ideen und Forschungsergebnisse.
Raben an einem Elch Staunend hört’ dies rauhe Klingen ich dem Schnabel sich entringen, ob die Antwort schon nicht eben sinnvoll und bedeutungsschwer... Edgar Allan Poe, Der Rabe 28. OKTOBER 1984. Wie zahllose andere eiszeitlich geformte Berghänge im westlichen Maine hat Gammon Ridge eine steinübersäte Spitze, die mit weichen Mooskissen bewachsen ist. Im Schatten der dunkelgrünen, fast schwarzen Fichten ist das Moos leuchtend grün. Hügelabwärts lagern Weisswedelhirsche, mit dem Blick auf Roteichen, Rot- und Zuckerahorn und darunter den Buchenwald. Pfade, die Generationen von Wild benutzt haben, sind in den steilen Hang wie eingezeichnet. Die weiche Rinde der großen Buchen ist von den Krallen der Schwarzbären zerkratzt, bei vielen Bäumen sind die obersten Zweige abgebrochen und wie Reisig zusammengezogen, so dass sie unordentlichen Falkenhorsten gleichen. Es ist auch das Werk der Bären, die auf die Bäume klettern, die Zweige zu sich heranziehen und von den unreifen Bucheckern naschen, bevor sie herunterfallen. Die jungen Rotahorne im Moor zeigen lange vertikale Furchen – hier haben Elche die Rinde mit Aufwärtsbewegungen ihrer scharfen Zähne abgeknabbert. Im Spätherbst sieht man an den kleinen Bäumen und im Unterholz die Schürfspuren von Wild, und die brünftigen Rehböcke hinterlassen ihre Hufabdrücke und zerstapfen
den Boden entlang der Pfade. In den Jahren, wenn die Buchen Früchte tragen, durchwühlen Bären die Laubhaufen unter den Bäumen. Horden von Blauhähern, Abendkernbeisser, Backenhörnchen, Rote Eichhörnchen, Mäuse und sogar Spechte futtern die restlichen Bucheckern. (Seltsamerweise scheinen weder Krähen noch Raben davon zu fressen.) Wenn der erste Schnee gefallen ist, finden sich überall die Spuren von Fischmardern, Bären und Kojoten in der weichen weißen Landschaft unter den grauen Buchenstämmen, und sie führen weiter zu den schwarzgrünen Fichten. Jetzt, im späten Oktober, sind die bunten Blätter fast alle gefallen, die Zugvögel sind fort geflogen, und es ist ruhig im Wald. Doch die Ruhe wird hier und da von einem herumschwirrenden Eichhörnchen unterbrochen, dem Krächzen einer Krähe, dem Schrei eines Blauhähers und, wenn man Glück hat, dem Krächzen eines Raben. Das tief tönende »quork, quork, quork« des Raben gebietet Achtung. Die Rufe können über eine Meile weit gehört werden. Und wenn man sie hört, stellt man ihn sich vor, sieht ihn vielleicht sogar, irgendwo in der Ferne – einen großen schwarzen Vogel, der leicht zu den Höhen aufschwebt, wie ein schwarzer Blitz in ein Tal hineinschießt und sich mit müheloser Grazie wieder zum nächsten Bergkamm emporschwingt. Dies sind die nördlichen Wälder, und der Rabe ist ihr Symbol. Ich liebe diese Wälder, und mein Interesse wird immer wieder wie eine Magnetnadel dorthin gezogen, wo irgendetwas auf Raben hinweist. Der feuchte neblige Morgen lässt das Moos leuchten. Das kürzlich gefallene Laub wird braun und riecht nussig. Die weichen Blätter dämpfen meine Schritte, während ich mit wachen Sinnen durch den Wald wandere.
Da – das sind Rabenrufe! Sie sind vielleicht eine halbe Meile entfernt auf der anderen Seite von Gammon Ridge im neuen Forstgebiet. Ich gehe sofort in die Richtung, wie von einer unwiderstehlichen Macht angezogen. Es gibt keinerlei Anlass. Ich muss gehen. Aus früherer Erfahrung weiß ich bereits, dass die Vögel bei einem Tierkadaver sind. Die Frage ist nur — was haben sie diesmal gefunden? Während ich mit dem Abstieg vom Kamm beginne, fliegt einer der großen Vögel auf, seine schweren Flügelschläge zerreißen die Luft. Noch einer, und noch einer – und dann stieben fünfzehn oder mehr von demselben Platz unter den Birken vor mir hoch. Dann verschwinden sie wie schwarze Gespenster im Nebel zwischen den Birkenstämmen. Es wird wieder still. Die Raben hatten von den Resten eines Elchs gefressen (den ein Wilderer liegengelassen und ganz mit Zweigen und Holzscheiten bedeckt hatte). Das übrig gebliebene Fleisch ist noch frisch. Ich schiebe die Zweige zur Seite, schneide ein paar Stücke Fleisch ab, mache ein kleines Feuer am Rand des Fichtenwaldes und bereite mir ein einfaches Mahl. Ich warte darauf, die Vögel wieder zu sehen. Es gibt kein größeres Vergnügen, als unter Fichten gebratenen Elch zu essen und dabei Raben zu beobachten. Ich habe Zeit, und ich lausche. Nach einer halben Stunde kommen nur vier oder fünf Raben in die Gegend zurück, bleiben aber weit entfernt. Doch sie rufen. Als ich genauer hinhöre, bemerke ich endlose Variationen über ihr »Grund-Quork« – Quorks, Quarks, Quiecks. Ein Ruf kann kurz und abgekürzt sein, lang und gleichmäßig oder lang an- und abschwellend. Die Rufe können einzeln kommen oder als
zusammenhängende Folge zwei- bis sechsmal. Jedes Mal, bei jedem einzelnen Vogel, ist jede Folge der Quorks gleich, und gewöhnlich ist bei aufeinander folgenden Serien die Zahl gleich. Abgesehen von dem »Quork« und seinen Variationen und Kombinationen, gibt es andere, deutlichere Rufe. Manchmal ist es eine schnelle Folge von scheppernden Klopfgeräuschen, die sich anhören wie ein Stück Metall, das an eine Fahrradspeiche schlägt. Bei einigen Vögeln haben diese Geräusche einen glockenreinen Klang oder erinnern an ein Xylophon. Bei anderen klingen sie hohl oder hölzern. Die meisten dieser Folgen von trommelähnlichen Geräuschen dauern etwa eine Sekunde und werden mit einem stumpfen »thunk« oder »pop« beendet. Gelegentlich ist die Sequenz langsamer, länger als eine Sekunde und endet nicht mit einem »thunk«. Es gibt Varianten, die wie Lippenschnalzen klingen oder wie das Hämmern eines Spechts. Es fällt schwer zu glauben, dass es Vögel und gerade Raben sind, die diese Geräusche machen. Meist macht ein Rabe ein einziges lautes »pop«. Ein anderer sitzt eine halbe Stunde in der Nähe oben in einer Fichte und trillert ununterbrochen einen weichen melodischen Sing-Sang. Was bedeuten all diese Töne? Ich hatte schon früher die verschiedensten Rabenrufe gehört, doch jetzt bemerke ich einen, den ich zuvor nie gehört habe, außer bei einem toten Wild, und dieser Ton jetzt war noch auffallender als die Trommel- oder Klopfgeräusche. Er war sehr laut und hoch, wie die Geräusche, die die Jungen machen, wenn sie hungrig sind und nach Futter rufen. Mir fehlen die Worte, um diesen Ton genau zu beschreiben, ich nenne ihn einfach einen »Schrei«. Viele Schreie sind zu hören. Der Festschmaus, obwohl groß, würde kurz
und die Zeit bis zum nächsten vielleicht lang sein. Ich überlege, dass die Vögel sich so ruhig wie möglich verhalten müssten, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Mitbewerber (andere Raben und auch Aasfresser wie mich) auf ihr kostbares Mahl aufmerksam zu machen. Wie hatten mindestens fünfzehn Raben den gut versteckten Elch in weniger als vier Tagen gefunden? Warum kämpfen sie nicht darum, bis ein Sieger übrig blieb, wie es den konventionellen ökologischen Theorien entspricht, die behaupten, dass Tiere egoistisch handeln? Ich war verblüfft, denn ich sah ein Paradox. Um diese Jahreszeit hatte ich Raben nur einzeln oder paarweise fliegen sehen, was hieß, dass sie Einzelgänger und vermutlich ohne die Hilfe von Freunden oder Verwandten waren — die übliche Erklärung für Teilen. (Raben werden spät im Mai flügge und wandern den Sommer hindurch in Familiengruppen.) Darüber hinaus sind Raben hier nicht häufig, und statistisch ist es eher unwahrscheinlich, dass nur einer an irgendeinem Kadaver innerhalb mehrerer Tage vorbeifliegt. Es schien mir fast unerklärlich, dass gerade sie (und warum eigentlich nicht die hier sehr viel häufigeren Krähen oder Blauhäher), unabhängig voneinander über denselben Elchkadaver gestolpert waren. Konnten sie vielleicht miteinander kommunizieren? Und wenn ja, warum? Geier versammeln sich auch in großen Mengen um einen Kadaver. Aber bei Geiern sind es viele hundert Augenpaare, die einen Kadaver lokalisieren. Geier suchen von großer Höhe aus dem Himmel, sie nutzen die warmen Fallwinde. Wenn ein Geier in den Ebenen Afrikas ein totes Tier entdeckt, fliegt er zum Fressen herunter. Andere Geier, die in der
Nähe sind, folgen dem ersten, immer mehr und mehr schließen sich an, bis ein Geierwirbel aus allen Richtungen zusammenkommt und bösartig um den Kadaver kämpft. Ich erinnere mich an Geier in Afrika, die ihr Geschäft ohne akustische Botschaften erledigten. Ich weiß, dass die Situation der Raben anders ist. Obwohl sie gelegentlich in großer Höhe fliegen, patrouillieren sie, indem sie dicht an den Baumspitzen entlang fliegen; Außer bei den Paaren und Familien im Sommer sind sie nicht auf Blickkontakt untereinander eingestellt. Ein hoch in der Luft gleitender Geier kann sich nicht unsichtbar machen, und wegen der vielen konkurrierenden Aasfresser muss er schnell und direkt zu dem von ihm entdeckten Kadaver herab stoßen. Doch ein Rabe in diesen Wäldern kann still und verborgen, fast unsichtbar bleiben. Er muss nicht verraten, wo er Nahrung gefunden hat. Könnten diese Raben, indem sie nicht ruhig blieben, vielleicht versuchen, ihr Fressen zu teilen, indem sie die Hungrigen herbeiriefen? Die Vorstellung, dass Raben, die seltene und einzelgängerische Vögel sind, eine wechselseitige Zusammenarbeit bei der Nahrungssuche entwickeln könnten, schien mir auf den ersten Blick zu phantastisch, um sie ernsthaft in Betracht zu ziehen. Kooperation hätte sich nicht entwickelt, wenn es keinen Nutzen für die beteiligten Tiere gegeben hätte. Warum sollte ein Rabe anderen zeigen, wo Futter zu finden war? Was gewinnt er dabei? Da Elche oder Kadaver von anderen Tieren in diesen Wäldern selten waren, überlegte ich mir, dass ich als einsamer Aasfresser hier bald verhungern würde. Ich hatte das Fleisch nur deshalb gefunden, weil andere es vor mir entdeckt und angezeigt hatten. In der
besten aller möglichen Welten wäre es für alle Beteiligten vorteilhaft, wenn eine große Zahl von Individuen unabhängig voneinander sucht und sich periodisch an einem vorbestimmten Platz trifft; jeder, der wertvolles Futter gefunden hatte, könnte dann die anderen dorthin führen. Doch wie konnte sich so etwas entwickeln? Als ich klein war, hatte ich Angst vor der Dunkelheit. Nun schien mir diese Frage wie die Dunkelheit zu sein und machte mich nervös. Evolution ist ein Mechanismus zum Weitergeben der Gene eines Individuums, zusammen mit den sekundär mitgetragenen Genen der Spezies. Die Interessen der Gruppe können bedient werden, so wie wir inzwischen bessere Autos zu unserem Nutzen entwickelt haben; doch die Kräfte, die das System antreiben, sind nicht immer zum Besten der Gruppe. Es kommt darauf an, was auf dem Markt, der mit konkurrierenden Automodellen gut bestückt ist, verkauft wird. Wenn nur einige Raben zum Nutzen der anderen teilten, ständen sie im Wettstreit mit »Betrügern«, die von den Vorteilen nur profitierten, selbst aber keine Zeit und Energie investierten. Die kühle Logik der Evolutionstheorie sagt voraus, dass die Betrüger sich vermehren und ihre Gene bevorzugt oder zu Lasten der Teilenden weitergegeben würden. Viele Beispiele von Teilen in der Natur beruhen auf Verwandtenhilfe (Sippenselektion), und die der Gruppe gemeinsamen Gene verwischen die Unterschiede zwischen Gruppe und Individuum. Könnten diese etwa fünfzehn Raben vor mir eine Familie sein? Das war unwahrscheinlich, denn Raben haben nur vier bis sechs Junge, die sich, soweit ich wusste, im Herbst auf Wanderschaft machten. Es musste etwas anderes sein. Die Teilenden waren sich wohl fremd. Was ich
überlegte und was ich hier sah, war eigentlich unmöglich; weil es überhaupt nicht zusammenpasste, ahnte ich, dass ich hinter etwas Großem her war. Es gibt kein praktikables Modell, in das diese Beobachtung passt. Wenn ich zeigen kann, dass Raben schreien, wenn sie Nahrung finden, und dass andere dann unterschiedslos angeschwärmt kommen, wäre dies völlig neu und unerwartet. Ich könnte meine Entdeckung sicher in Science veröffentlichen, das Ergebnis hätte ich wohl in etwa einer Woche. Ich renne durch den Wald zurück zum Camp und hole ein paar alte Teppichfetzen, um einen getarnten Unterstand zu bauen, in dem ich für die Raben völlig unsichtbar wäre. Ich fürchte, dass sie mich im Gebüsch sehen können. Den Tarnbau errichte ich in einer Senke etwa zehn Meter von dem Kadaver entfernt, und ich bedecke ihn dicht mit Zweigen. Dort verbringe ich den ganzen Nachmittag bis zur Dämmerung auf feuchtem Boden. Kein Rabe kommt in die Nähe des Köders. 29. OKTOBER. Ich bin bei Morgengrauen zurück, doch die Überreste des Elchs sind verschwunden. Ein Etwas hat sie fortgeschleppt. Bärenspuren! Die Haltbarkeit von Fleisch in diesen Wäldern ist noch kürzer, als ich dachte. Ich folge trotzdem den Schleifspuren und finde die Reste des Kadavers etwa 50 Meter höher am Hang. Nirgendwo sind Raben, und ich schleife einen Teil des Kadavers an einen anderen Ort, etwa 30 Meter westlich von seinem ursprünglichen Platz. Ich hoffe, dass der Bär mit dem, was ich zurücklasse, zufrieden sein wird. Wie werden die Raben reagieren, wenn sie ihr »neues« Fleisch finden, wenn ich es vor ihnen einen Tag verberge und dann aufdecke?
31. OKTOBER. Noch vor Morgengrauen stolpere ich etwa eine Meile durch den dunklen Wald. Die ersten Blauhäher schreien, und die Kernbeisser singen, als ich zum Köder komme und Zweige, Gestrüpp und den alten grünen Teppich entferne. Dann klettere ich auf den Grat und richte mich im Moos unter einer Fichte ein. Werden die Raben, die dieses »neue« Futter entdecken, die Nachricht verbreiten? 6.o6 Uhr. Es wird hell. Eine Schar Fichtenzeisige fliegt vorbei und flötet mit seinen feinen dünnen Stimmen. Ein Purpurfink singt. Ich höre Schwarzkopfmeisen, Goldhähnchen mit rotem Scheitelstreif und einen beschopften Specht. Kein Rabe ist zu sehen oder zu hören. 7.36 Uhr. Zwei Raben nähern sich, ein dritter folgt dichtauf. Sie schwingen sich zu dem Fleisch herab. Kein Ton. 7.41 Uhr. Noch zwei Raben kommen, ein weiterer dicht dahinter. Ich höre mehrere erstickte Quorks. Vielleicht Grüsse, aber sicher keine Nachrichten. 7.43 Uhr. Die ersten drei Raben müssten inzwischen längst gesättigt sein. Tatsächlich hat einer mit Fressen aufgehört und »schreit« nun laut in der Nähe des Köders. Die anderen, die noch um das Fleisch versammelt sind, sind ruhig. Der rufende Vogel hockt allein in einem Baum über dem Kadaver. Seine Schreie sind durchsetzt mit wilden Jodlern, und das laute Getöse geht unentwegt mit ohrenbetäubender Phonstärke weiter. Die Jodler erinnern mich an das Trompeten eines Kanadischen Kranichs, und die »Schreie« klingen wie das Jaulen eines Hundes, dessen Schwanz in der Tür eingeklemmt ist. Diese Töne sind anders als die, die Raben normalerweise von sich geben, wenn sie nicht an
einem Kadaver sind. 7.48 Uhr. Ein anderes Rabenpaar und dann noch ein einzelner kommen. Doch Raben sind nicht die einzigen Vögel. Jetzt kreist oben ein Rotschwanzbussard, die Raben scheinen ihn zu ignorieren und umgekehrt. Als nächstes kommt ein Hühnerhabicht, der mehr Interesse zeigt. Er verjagt mehrere Raben, die sich, sobald er sich nähert, in der Luft über ihren Rücken drehen. Man spaßt nicht mit dem Schnabel eines Raben, und der Hühnerhabicht besteht nicht auf seinem Angriff. Schnell fliegen ein oder zwei Raben hoch und verjagen den Habicht, der nonchalant talabwärts flattert. Meine heutigen Beobachtungen bringen mir wenig Erkenntnis. Es sieht so aus, als ob mein Aufsatz für Science warten muss.
Raben als Jäger und Aasfresser Ich hätte gerne meine ganze Zeit hier im Wald verbracht und Raben beobachtet. Doch dann hätte ich vielleicht eine begrenzte und schiefe Sicht von den Vögeln erhalten. Um eine weitere Perspektive zu bekommen, muss man die Tiere mit den kollektiven Augen anderer sehen, die sie an anderen Orten und zu anderen Zeiten beobachtet haben. Und es gibt nur einen Ort, wo man diese breite Perspektive erhält: zwischen den Mauern einer wissenschaftlichen Bibliothek. Das ist für mich der mühseligste und schwierigste Teil bei jedem Projekt. Ich hatte bereits festgestellt, dass Raben toten Elch mögen. Aber war das ungewöhnlich oder typisch? Wovon ernähren sie sich sonst? Im Verlauf dieser Arbeit habe ich über 400 Veröffentlichungen gelesen, ich suchte nach Informationen, die definitiv erhellend für meine Fragen zu Raben waren. Wenn Sie Geduld haben, begleiten Sie mich jetzt bei meinen Streifzügen durch die Bibliothek. Wenn nicht – überschlagen Sie einfach dieses Kapitel und lesen beim nächsten weiter, in dem wir in die spätherbstlichen Wälder von Maine zurückkehren. In Make Prayers to the Raven schreibt Richard K. Nelson, was ihm ein alter Koyukone erzählte: »Weißt du, ein Rabe jagt nicht selbst. Er kriegt sein Fressen auf die faule Tour, guckt einfach nach allem, was er finden kann, das schon tot ist. Es ist die alte Geschichte, er narrt alle und kommt immer leicht dazu. Das einzige, was Raben töten, sind
Schwarzfische in Eislöchern; sonst habe ich nie gehört, dass er für sich etwas getötet hätte.« In Alaska oder in Maine kann ein Rabe mitten im Winter tatsächlich totes Fleisch auf die »faule Tour« bekommen, aber das schließt nicht aus, dass er auch auf andere Weise Nahrung findet. Es wäre müßig zu versuchen, die verschiedenen Arten der Nahrung von Raben aufzuzählen. Anhand einiger der verfügbaren Quellen ist Folgendes eine leidlich genaue Zusammenfassung: Alle toten Tiere, die er finden kann, alle lebenden, die er töten kann, Früchte und Körner, wenn sie zur Verfügung stehen. Ein Rabe kann Blaubeeren picken, einem Rudel Wölfe folgen und fressen, was sie übriglassen, oder mindestens 285 Mormonenheuschreckeneier in seinem Magen haben. Raben sind ein vertrauter Anblick auf Müllhalden, und manchmal räubern sie sogar in Fast-FoodMülltonnen mitten in der Stadt. Von primärem Interesse ist weniger das, was der Rabe frisst, sondern die verschiedenen Arten, wie er zu seinem Fressen kommt. Viele Vögel sind evolutionär so angelegt, dass sie sich von einer spezifischen Ressource in einer spezifischen Weise ernähren. Der Pholbe zum Beispiel sitzt auf einem hervorspringenden Ast und fängt nur die Insekten, die vorbeifliegen. Der Rotaugenvireowürger sucht nach Raupen unter den Blättern von Laubbäumen. Grundrötel drehen gefallene Blätter um und fressen die darunter lebenden Insekten. Es gibt Braunbrustwaldsänger, die nach Raupen am Ende von Fichtenzweigen suchen, und der Amerikanische Waldbaumläufer sucht seine Nahrung unter loser Borke, indem er auf Baumstämme hüpft. Die Spezialisierung ist endlos. Doch der Rabe unterscheidet sich, indem er ein Hansdampf in
allen Gassen ist, er kann aber auch in gar nicht so wenigen Bereichen ein Meister sein. Raben sind schnell dabei, neue Nahrungsressourcen auszubeuten. Auf dem Mount Denali (Mount McKinley) in Alaska sind sie kürzlich von den Bergsteigern zur Plage erklärt worden. Bergsteiger vergraben häufig Lebensmittel im Schnee, wenn sie 2000 oder 3000 Meter Höhe erreicht haben, um sie dann beim Abstieg zur Verfügung zu haben. Diese Verstecke werden gewöhnlich durch eine grüne Bambusstange mit einer sieben Quadratzentimeter großen roten Flagge markiert. Ralph Baldwin, ein Bergsteiger aus Alaska, erzählte mir, dass er Raben »mindestens einen Meter tief« graben sah, um an dieses Essen zu kommen, das in Pappschachteln und Plastikbeuteln verpackt ist. Ich habe keine Ahnung, woher diese Gewohnheit kommt. Vielleicht ist einmal ein weniger tiefes Versteck bei Tauwetter freigelegt oder von einem futtersuchenden Säugetier entdeckt worden, das sich in den tiefer liegenden Schneefeldern verirrt hatte. Nach ein oder zwei derart lohnenden Funden hätten die Raben zwischen Futter und der ganz spezifischen Markierung der Bergsteiger assoziieren können. Eine Assoziation dürfte reichen. Zum Beispiel hat Konrad Lorenz beschrieben, wie er unbeabsichtigt seinen Lieblingsraben Roah mit Futter belohnte, nachdem er mit einem Stück Wäsche von der Wäscheleine ankam. Danach beging der Rabe wiederholt Überfälle auf die Wäscheleinen der Nachbarn und brachte Lorenz nasse Unterwäsche, in der Hoffnung, Futter zu bekommen. Der Unterschied zwischen dem Raben von Lorenz und denen von Denali besteht lediglich darin, dass letztere zumindest wohl ein zweites Mal belohnt wurden. Wie viele andere Corviden können Raben Insekten und andere Kleintiere jagen. Viel
von seiner Nahrung wurde aus dem Auswurf von Unverdautem bestimmt, das dieser Vogel – wie Falken, Eulen, Würger und einige andere Vögel – auswürgt. Die Analyse der Speiballen demonstriert, dass Raben fast alles fressen. Doch obwohl die Gewölle zeigen, was die Vögel fressen, geben sie leider kaum Hinweise auf die Mengen: Ein Rabe, der eine Maus verspeist hat, wird am nächsten Tag ein Gewölle mit unverdaulichen Knochen und Fell ausscheiden. Doch ein Vogel, der einen Elchbullen auf einmal verspeist, würde die 70 000mal größere Nahrungsmenge vielleicht auch nur in einem einzigen Speiballen auswürgen, denn Raben fressen Fell und Knochen der Elche nicht. Obwohl bei den Gewölleüberresten wahrscheinlich das Ausmaß des Jagens von Raben überschätzt wird – im Gegensatz zum Verwerten großer Tierkadaver –, zeigen die Gewölle, dass Raben eine große Menge kleiner Nagetiere fressen, die sie vermutlich lebend fangen. Stanley Temples Analyse von 684 Gewöllen eines Rabenschlafplatzes in Umiat, Alaska, zeigt, dass Nagetiere eine wichtige Beute ihrer Raubzüge waren. Die Gewölle zeigten auch Überreste von Karibus (der vorrangigen Nahrung von Wölfen) und Schneehühnern (der Grundnahrung von Gerfalken), was zu der Annahme führt, dass Raben Aasfresser sind. Meines Wissens ist nichts darüber veröffentlicht, ob Raben tatsächlich Nagetiere fangen, aber Frank Mallory berichtete 1977, dass er einen Raben beobachtete, der offensichtlich versuchte, Wiesenwühlmäuse (Microtus pennsylvanicus) zu fangen. Ich habe Raben beim Fangen und Fressen von kurzschwänzigen Spitzmäusen (Blarina brevicauda) gesehen, die sich durch den Schnee buddelten, um von demselben Fleisch, das schon die Vögel benutzt hatten, zu fressen. Ein Rabenpaar in England soll
»fast ausschließlich« von Maulwürfen gelebt haben. Ein Artikel von John Johnson in der Los Angeles Times vom 14. 11. 1988 beschreibt, wie Raben offensichtlich die gefährdete Gattung der Wüstenschildkröten in der Mojave-Wüste dezimierten, indem sie die Jungen fraßen. Rabenvölker sind in den letzten zwanzig Jahren in Südkalifornien um 328 Prozent gewachsen, offensichtlich dank der Abfälle und anderer Nahrungsquellen, die die steigende Bevölkerungszahl mit sich bringt. Raben können beträchtlich größere Tiere fangen. Der Mageninhalt von achtzehn adulten Raben und 66 Nestlingen beim Lake-Malheur-Reservoir im südöstlichen Oregon im Juni 1934 zeigte Kaninchenreste in 43 von 84 Mägen. Die meisten der Kaninchen schienen Junge zu sein, nur etwa ein Drittel ausgewachsen, was auf Räuberei der Raben schließen lässt. Ein Rabe brach sogar in ein Hühnerhaus in Memramcook, New Brunswick, ein und tötete eine »kranke Henne«, ein anderer zog eine Taube aus ihrem Klippennest. Zweifellos sind gefangene Tiere eine leichte Beute für Raben, da sogar von einer Kornweihe, die zusammen mit einem Raben in einem Käfig war, am nächsten Tag nur noch die »Beinknochen und die größeren Federn« übrig waren. Ein neuerer Bericht schreibt von einem Rabenpaar, das ein Möwenpaar (Dreizehenmöwen) bei Zwielicht in der Nähe von Chagnon Bay, Alaska , angriff. Der berühmte holländische Verhaltensforscher Niko Tinbergen schrieb in Tierbeobachtungen zwischen Arktis und Afrika: »Sie jagten Schneehühner im Fluge und offensichtlich nicht ganz selten erfolgreich. Im übrigen wussten sie auch die Speisereste der Grönlandfalken zu finden.« Er sagt nicht, warum es »offensichtlich« war, dass sie Schneehühner töteten.
Raben werden seit langem von Hirten gehasst, weil sie die Augen der neugeborenen Lämmer aushacken. Roland Ross berichtete 1925, dass auf der Insel Catalina in Kalifornien »die Weiden der jungen Lämmer ständig von bewaffneten Männern bewacht wurden«. Zweifellos hacken Raben die Augen toter Lämmer aus, sie können sogar lebende Tiere angreifen. Robert Nowsad schreibt in seinem unveröffentlichten »Final Report on the 1968-1973 Canadian Reindeer Project« des Canadian Wildlife Service: »Raben, die man normalerweise für Aasfresser hält, wurden beobachtet, als sie neugeborene Rentierkitze töteten. In den meisten Fällen war das Kitz vom Muttertier verlassen worden, oder es war krank und schwach und einem Angriff hilflos ausgesetzt. Man sah Raben regelrecht zusammenarbeiten, um Kuh und Kitz voneinander zu trennen und damit das Kitz zu einer leichten Beute zu machen. Von Jahr zu Jahr verschieden waren zwei oder drei Dutzend Raben da, wenn die Tiere zur Welt kamen. 1971 wurden 15 Prozent der Todesfälle Raben zugeschrieben... Die Raben folgten der Herde das ganze Jahr hindurch, und sie waren nur selten nicht in der Nachbarschaft der Rentiere zu sehen.« Es gibt noch andere Berichte über Raben, die lebende Schafe und Rentiere angriffen. Raben können besonders effektiv als Jäger von größerer Beute sein, wenn sie paarweise angreifen. Zum Beispiel beschreibt Chris Maser vom Puget Sound Natural History Museum ein Rabenpaar, das wilde Felsentauben jagte: »Etwa Zoo Felsentauben (Columbia livia) hausten jahrelang im Succor Creek
Cafion, Malheur Co., Oregon. Mindestens ein Rabenpaar (Corvus corax) wohnt im Cafion. Über eine Periode von zwei Tagen sah ich Raben auf Gruppen von Tauben zufliegen und in sie hineinstoßen. Die Tauben hockten auf Vorsprüngen an der Vorderseite der Felsen. Sie wurden durch diese Manöver aufgescheucht, blieben aber weiter dicht bei den Felsen und wurden von den Raben nicht verfolgt. Um 19.45 Uhr am 14. 5. 1975 scheuchte ein Rabe eine Gruppe von Tauben von einem vorspringenden Felsen auf; eine verließ ihre Gruppe und flog 400 Meter durch den Cafion, dicht von beiden Raben verfolgt. Die Taube landete auf einem kleinen Vorsprung am Boden unter dem schmalen Schirm einer Erle (Alnus sp.). Beide Raben flogen in die Baumkrone über der Taube und scheuchten sie wieder auf. Sie zwangen sie in das Flüsschen, wo sie in der Uferströmung landete. Die Raben landeten am Ufer, der eine flussaufwärts, der andere flussabwärts von der Taube, und jagten sie hin und her, bis einer sie mit einem harten Schlag auf den Kopf tötete. Ohne sie loszulassen, zog der Rabe die Taube aus dem Wasser, und beide Raben zerhackten und fraßen sie. Ich fand mehrere ähnliche Häufchen mit Taubenfedern entlang der Wände des Canons und schloss daraus, dass dies die Beute der Raben war. Am 20. 5. 1975 verscheuchten Sam Shaver und ich ein Rabenpaar von einem frisch getöteten Steinhuhn (Alectorisgraeca) am Dry Creek, Malheur Co., Oregon. Der Augenschein ließ ebenfalls auf Tötung durch Raben schließen.« Ähnliche Beobachtungen von zwei Raben, die als Team arbeiten, machte 1879 auch
der Ornithologe Ludwig Kumlien aus Wisconsin, den Arthur Cleveland Bent zitiert, um »die Findigkeit der Raben« darzustellen. Bent erklärt, dass Kumlien »bei mehreren Gelegenheiten Zeuge war, wie Raben eine junge Robbe fingen, die in der Sonne vor ihrem Loch lag. Das erste Manöver der Raben bestand darin, vergnüglich über der Robbe in der Luft zu segeln, mit jedem Kreis etwas tiefer, bis Schließlich einer von ihnen direkt in das Loch der Robbe stieß und ihr damit den Rückzug vom Wasser aus abschnitt. Sein Gefährte griff dann die Robbe an und versuchte, sie so weit wie möglich von dem Loch wegzutreiben. Der angreifende Rabe schien die Robbe mit seinem kräftigen Schnabel oben auf den Kopf zu schlagen und so den zarten Schädel zu zerbrechen«. Zweifellos würden Raben eher auf »die leichte Tour« zu ihrem Fleisch kommen, wenn sie es von anderen raubten. Richard K. Nelson berichtet von einem Koyukonen, der einen Otter beim Fischfangen beobachtete. Als der Otter einen Fisch auf das Eis zog, stieß ein Rabe herab und raubte dem Otter seine Beute. Von Raben wird auch berichtet, dass sie Gerfalken und Eulen die Beute wegschnappen, und ich habe öfter beobachtet, wie sie Jagd machen und sich ihr Futter von Silbermöwen, Krähen und ihren eigenen Artgenossen organisieren. Francis Zirrer, der wie ein Eremit tief in den Wäldern von Wisconsin mit einer Hauskatze lebt, pflegte in der Nähe seiner Hütte bei Dämmerung ein Rabenpaar zu sehen, das offensichtlich auf die Rückkehr der Katze von ihren
nächtlichen Raubzügen wartete. Die Vögel schossen zu der Katze herab, die ihre Beute fallen ließ, und verschwanden dann mit ihrer Jagdtrophäe. Die Jagd auf lebende und das Rauben von frisch getöteter Beute erfordert mehr Raffinesse und Mut als die »faule Tour«, von Kadavern zu fressen. Das Problem liegt darin, dass Kadaver verstreut, selten und im Revier eines Raben nicht immer verfügbar sind. Es scheint klar zu sein, dass Raben, vor allem, wenn sie zu zweit sind, imstande sind, zu jagen. Aber das heißt nicht, dass alle Raben ihren Lebensunterhalt durch Jagd bestreiten. Die Fähigkeiten zur Futtersuche sind komplex und werden bei vielen Vögeln nur durch Alter und Erfahrung erworben. Hier in den nördlichen Wäldern können sich vielleicht nur die älteren erfahrenen Raben, und zwar paarweise, durch Jagen und andere Beutetaktiken erhalten oder ihre Nahrung ergänzen. Fleischfressende Tiere brauchen große Mengen Fleisch, aber sie fressen es auch schnell. Ein Rudel von sechs bis sieben Wölfen kann ein Wild in Stunden auffressen. Doch der kanadische Wolfforscher Robert Stevenson erzählte mir, dass ein von Wölfen getöteter Elch oft zwei Tage lang liegengelassen wird, mit noch etwa einem Drittel des Fleisches. Ein anderer kanadischer Naturforscher, Ludwig N. Carbyn, berichtet, dass Wölfe im Riding Mountain National Park, Manitoba, 40 bis 50 Prozent der verfügbaren Elch- und Wapitikadaver liegenlassen. Auch andere Beobachter haben festgestellt, dass Wölfe 4o bis 50 Prozent des Fleisches übriglassen; es ist weniger, wenn es schwierig ist, Wild zu töten, und mehr, wenn tiefer Schnee liegt und das Töten leicht ist. Um die reichen Fleischquellen zu nutzen, nachdem ein Tier getötet wurde, folgen
die Raben entweder einer möglichen Beute und warten, bis sie getötet wird, oder sie folgen den Raubtieren, bis sie getötet haben. Es ist bekannt, dass Raben wandernden Karibuherden folgen, und der kanadische Karibuforscher Frank Miller erzählte mir, dass sie pro Tag 25 bis 30 Meilen wandern. Auch Wölfe folgen den Herden, und da häufig Tiere getötet werden, ist es sicher leichter und wirtschaftlicher, derart massierter Beute als den eigentlichen Räubern zu folgen. Wenn die Beute verstreut ist, folgen die Raben den Raubtieren direkt. Der berühmte Wolfforscher L. David Mech von der University of Minnesota hatte viel Kontakt mit Raben während seiner klassisch gewordenen Studien über wilde Wölfe. 1970 schrieb er in seinem Buch The Wolf. »In vielen Gegenden, einschließlich Isle Royale und Minnesota, folgen Raben gewöhnlich den Wolfsrudeln, warten, bis sie ein Tier getötet haben, und fressen dann davon, sobald die Wölfe fort sind.« Wenn sie den Wölfen folgen, »fliegen sie ihnen voraus, landen in Bäumen, warten dort, bis das Rudel vorbei ist, und wiederholen dann das Ganze. Im Winter schien auf Isle Royale die Ernährung eines Rabentrupps völlig abhängig von den Wölfen. In Minnesota sind die meisten frisch getöteten Tiere von zwei oder drei Dutzend Raben bedeckt, falls nicht die Wölfe noch davon fressen«. Audrey J. Magoun, die Aasfresser im Sommer auf der North Slope der östlichen Brooks Range in Alaska für ihre Magisterarbeit erforschte, erlebte ebenfalls eindrucksvolle Beweise, dass Raben Wölfen folgen. Sie hatte elf große Säugetierkadaver besorgt, und keiner wurde in weniger als 30 Stunden aufgesucht. Allerdings entdeckte sie einen Kadaver, der »wahrscheinlich in weniger als zwei Stunden nach der Tötung durch die
Wölfe« bereits von Raben besucht war. Sie schreibt: »Während ich durch mein Forschungsgebiet streifte, kam nur einmal ein Rabe für einen Moment näher, und das war, als ich einen Hund bei mir hatte; er sah einem Wolf sehr ähnlich. Ein Rabe folgte uns fast eine Meile lang, er landete häufig vor uns in der Tundra und wartete, bis wir aufgeschlossen hatten. Es sieht so aus, als sei es vorteilhaft für Raben, engen Kontakt mit Wölfen zu halten, vor allem im Winter, wenn es in der Arktis nur kurz hell ist.« Es scheint noch einen weiteren Vorteil für Raben zu geben, Wölfen zu folgen: Im Notfall fressen sie auch deren Exkremente. Raben, die gelernt haben, dass Wölfe der Weg zu einem Essensbon sind, haben auch gelernt, zu den richtigen Folgerungen über sie zu kommen. Im Rahmen einer Studie über die Vokalisation der Wölfe im Superior National Forest in Minnesota hat Fred Harrington vom Department of Psychology der Mount St. Vincent University, Halifax, Nova Scotia, das Heulen der Wölfe nachgeahmt, und dies ermöglichte es ihm, den mit einem Funkhalsband ausgestatteten Wölfen Antworten zu entlocken. Zu seiner Überraschung bekam er auch Antwort von Raben: »Am 25. Oktober 1972 entdeckte ich vier Wölfe bei einem toten Weisswedelhirsch (Odocoileus virginianus). Zwischen zwölf und zwanzig Raben hockten in den Bäumen direkt über dem Platz. Ich heulte um 17.36 Uhr, und während die Wölfe antworteten, riefen auch viele Raben und flogen bis zu fünf Metern von ihren Ästen hin und her. Als ich 20 Minuten später wieder
heulte, antworteten die Wölfe nicht, doch die Raben flogen in einem Zickzackmuster 200 Meter auf mich zu und drehten 30 Meter vor mir scharf ab.« Er beschreibt sechs andere Vorfälle, wo sein Geheul Raben anzog. »In sämtlichen Fällen änderten die Raben (die ich in der Entfernung fliegen sah) abrupt ihren Kurs, kamen näher und schienen etwas zu suchen (Zickzackflug, unentschiedenes Hin und Her), es machte den Eindruck, dass sie versuchten, mich zu finden.« Harrington zeigt, dass Wölfe häufig spontan bei einem erlegten Tier und nach der Jagd heulen, während sie im Sommer meist nur in ihrem Revier heulen. »Obwohl ich das ganze Jahr über heulte, kamen die meisten Antworten von Raben im Herbst und Winter.« Ähnlich beschreibt ein Pionier der Wolfforschung, Durward L. Allen, wie er beobachtete, als Prinz Maximilian 1833 in der Nähe der Missouri-Mündung weilte, dass sowohl Wölfe wie Raben sich sofort beim Geräusch einer Flinte versammelten. Ein deutscher Soldat, der während des Zweiten Weltkriegs in Lappland stationiert war, berichtete ebenfalls, dass Raben »in rentierreichen Gebieten auf einen Gewehrschuss hin regelmäßig zur Stelle« waren. Viele Jäger in Maine behaupten, dass Raben von Schüssen angezogen werden. Doch ich bezweifle, dass Raben den Unterschied zwischen einem Schuss mit der Schrotflinte auf Rauhfusshühner und einem erfolgreichen Gewehrschuss (die meisten sind nicht erfolgreich) auf Wild unterscheiden können. Ich
jedenfalls habe nie einen Raben als Reaktion auf einen Schuss in Maine auftauchen sehen, obwohl die Raben oft so schnell frische Eingeweide finden, dass man leicht glauben könnte, sie hören ihn. L. David Mech vermutet auch, dass Raben Wölfen nachspüren können. Es wäre sicher vorteilhaft für sie, wenn sie es könnten, weil sie gewöhnlich beim Kadaver bleiben, wenn die Wölfe ihn verlassen, und auch nicht nachts unterwegs sind wie die Wölfe. Soweit ich weiß, gibt es keinen direkten Beweis, dass Raben den Spuren von Raubtieren folgen. Es ist immerhin möglich, dass sie es können, denn im Sommer fliegen sie häufig auf menschlichen Spuren, das heißt, sie fliegen direkt über den Autobahnen hin und her und suchen nach überfahrenen Tieren. Das Geheimnis, wie Raben überleben können, wenn sie während des dunklen Winters noch oberhalb des Polarkreises bleiben, hat wahrscheinlich auch etwas mit fleischfressenden Tieren zu tun. Niko Tinbergen berichtet, dass ihm die Eskimos in Grönland erzählten, wie Raben den »jagenden Eisbären aufs Packeis« folgten und. »die Reste der von ihnen erlegten Robben« verzehrten. Raben verbünden sich auch mit Grizzlybären in Alaska und im Yellowstone Park, wenn diese Tiere töten. Und sie verbünden sich mit dem Menschen, dem ultimativen Fleischfresser. Schließlich gibt es einen indirekten Beweis für die Rolle des Raben als Aasfresser in der Geschichte der Evolution. Anders als Krähen und Häher haben die Raben lange schmale Flügel, wie sie für viele Zugvögel charakteristisch sind. Selbst wenn der Rabe kein Zugvogel ist, scheint er doch für Langstrecken ausgestattet zu sein. Diese Fähigkeit
wäre höchst nützlich, um weit verstreute Kadaver zu finden. Die großen Schnäbel der Raben (7,5-9,5 Zentimeter) sind gut geeignet, um das Fleisch von den Knochen zu trennen und um in Spalten zwischen den Knochen zu picken. Ihre beträchtliche Körpermasse verbessert nicht nur ihre Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit anderen Vögeln an der Beute, sondern dient auch als Reserve gegen Hunger, wenn die Futtergelegenheiten selten sind. Dass die beträchtliche Körpergröße sich als Reaktion auf die Ernährung mit Aas herausgebildet hat, wird nicht nur bei den Corviden angenommen, sondern auch bei Geiern (Cathartidae) und den ausgestorbenen Teratornithidae, zu denen die größten fliegenden Vögel der Welt gehörten. Die größte bekannte Art, Argentavis magnificens, wog 175 Pfund, die Flügel hatten eine Spannbreite von sechs bis acht Metern. Die Überreste von über Zoo Exemplaren von Teratornis merriami in den Asphaltschichten von Rancho La Brea, Kalifornien, lassen vermuten, dass die Vögel in sickerndem Öl gefangen wurden, während sie von den Kadavern ähnlich gefangener Tiere fraßen. Aus einer Analyse der funktionellen Morphologie des Teratorn-Schädels wurde geschlossen, dass diese Vögel keine Aasfresser sind, weil sie unfähig gewesen sein sollen, Fleisch vom Kadaver zu reißen, wie es Geier tun. Trotzdem vermute ich, dass sie eng mit Wölfen in Verbindung standen, mit Säbelzahntigern oder anderen Kadaveröffnern, so wie heute die Raben. Ich schließe aus meiner Lektüre, dass Raben anpassungsfähig sind und viele Dinge tun können, aber trotzdem hochspezialisierte Aasfresser sind. Angesichts ihrer Intelligenz
und Beweglichkeit dürfte ihr Verhalten allerdings kompliziert sein, und es könnte schwierig werden, den Mechanismus ihrer Spezialisierung vorauszusagen oder herauszufinden.
Herbeirufen von Kadaveröffnern? ... und ließ die Gedanken fliehen, reihte wilde Theorien, Phantasie an Phantasien... wie dies grimme, ominöse Wesen zu verstehen wär’, wenn es krächzte »nimmermehr«. Edgar Allan Poe, Der Rabe In meinem ersten Forschungsjahr und vor allem in den Jahren danach, als ich kein Freisemester mehr hatte und zu meiner Lehrtätigkeit an der University of Vermont, zu meiner Familie und in die Bibliothek zurückkehren musste, war ich gezwungen, immer wieder einen zeitweiligen Waffenstillstand zwischen den Raben und mir zu erklären. Als ich das erste Mal nach einer Abwesenheit von zehn Tagen wieder nach Maine zurückkehrte, war ich immer noch voller Fragen. 10. NOVEMBER 1984. Was kann das Schreien bedeuten? Es muss eine Funktion haben. Wie können intelligente Vögel es ignorieren? Wenn ich nur beweisen könnte, dass die Schreie der Raben tatsächlich andere anziehen! Es wäre ideal, wenn man die Töne der Raben beim Fressen aufnehmen und das Band, wenn kein Futter da war, abspielen könnte, um zu sehen, ob es die Raben meilenweit anziehen würde. Das Problem ist nur, dass Tage oder Wochen vergehen könnten, bevor »meilenweit« Raben da sind, um einen solchen Ruf zu hören.
Diesmal komme ich mit einem geliehenen Kassettenrecorder, Richtmikrofon, Parabolreflektor und einem Lautsprecher, der eindrucksvolle 70 Dezibel auf eine Entfernung von 8o Meter wiedergeben kann. Alles was ich brauche, ist ein neuer Elch. Doch die Raben sind sicher nicht wählerisch. Ein Freund hat gerade ein Schwein geschlachtet, und die gespendeten Innereien müssten es auch tun. Vierzig Pfund Innereien vom Schwein sollten als Leckerbissen gut genug sein, um jeden Raben großmütig werden zu lassen. Hat ein Rabe sie gefunden, werde ich seine Schreie aufnehmen, um sie später abzuspielen. Es müsste einfach sein. Doch wie lange muss ich in meinem Versteck ausharren, bis ein Rabe kommt? Einen Tag? Eine Woche? Vielleicht bin ich verrückt, Raben zu erforschen. »Raben«, sagte der Mentor eines mit mir befreundeten Professors, der damals noch Student mit den ersten akademischen Würden und schon damals Rabenfreak war, »sind smarter, als Sie es sind, und es wird Jahre dauern, sie auszutricksen, um dann vielleicht mit sinnvollen Ergebnissen aufzuwarten.« Diese Bemerkung war einigermaßen spöttisch, und mein Freund zeichnete sich inzwischen in seiner Sparte aus, indem er statt dessen die Wege der Raupen ergründete. Würde ich genug Charakterstärke besitzen, um in einem feuchten Unterstand auf dem Bauch zu liegen und in nicht enden wollenden Tagen diese Schweineabfälle zu beobachten? Ich bin skeptisch. Doch möglicherweise würden Raben noch immer in diesem Gebiet mit den Elchresten patrouillieren. Solche Überlegungen sind meine Begleiter, als ich die Innereien in meinen Rucksack packe und meilenweit durch den Wald schleppe, dann den steilen Hang hinauf und wieder abwärts dorthin, wo der tote
Elch lag. Es ist nicht mehr viel davon übrig. Jede Fleischfaser ist von Fell und Rippen abgenagt. Allerdings sind die Vögel nicht bis zu den etlichen Pfunden Fleisch im Kopf vorgedrungen, den kein fleischfressendes Raubtier gehäutet oder aufgerissen hat. Nur das vorstehende Auge ist ausgepickt. Ich breite die Innereien am Boden aus und gehe mit dem Recorder in mein altes Versteck unter den Fichten. Die graue Dämmerung schwindet. Unter dem dunstigen Himmel werden die schwarzen Mooskissen leuchtend grün. Nebelschwaden ziehen vorbei. Die Stunden schleppen sich dahin. Gegen Mittag erscheinen zwei große schwarze Vögel wie aus dem Nichts. Sie schießen zwischen die Birkenstämme und kommen nahe bei dem Fleisch herab. Sie krächzen wenige Male sehr sanft, fast flüsternd. Dann ist es wieder völlig still. Minuten. Eine halbe Stunde. Das plötzliche »swuusch, swuusch, swuusch« von starken Flügelschlägen zerreißt die Luft. Die zwei Raben fliegen auf, krächzen ein paar Mal, treffen sich dann mit einem dritten. Alle drei schaukeln über den Hängen, herauf und herunter, sanft mit dem Aufwind steigend, dann wieder mit angezogenen Flügeln herabstürzend. In etwa einer Minute sind sie eine Meile weit weg. Was war das? Sind sie fort, um ihre Freunde zu holen? Weitere Stunden vergehen, ich bibbere. Warum kommen keine neuen Raben? Haben sie einen anderen Kadaver gefunden? Ich packe die Innereien wieder ein und kehre
zurück, um meine halbfertige Hütte als Tarnung zu benutzen. 11. NOVEMBER. In der Dämmerung knie ich schon, den Blick nach Osten gerichtet, und spähe durch einen Spalt zwischen den Balken. Meine Augen sind auf die Innereien, Meter vor der Hütte am Ende einer Lichtung, fixiert. Die Stunden wollen nicht vergehen. 75 Ich sehe keine Raben, ich höre keine Raben. Gegen Mittag verlasse ich die Hütte und gehe ins Camp Kaflunk, um mich bei einer Büchse Bohnen und einer Tasse Kaffee aufzuwärmen. Ich weiß nicht, ob es die Perversität der Raben war, ihre Schlauheit oder mein Pech. Denn nachdem ich weggegangen war und gerade Feuer gemacht hatte, ertönte der Ruf eines Raben am Köder. Lektion Nummer eins: Man darf keine Minute fortgehen, sonst findet man nicht heraus, was wirklich passiert. Als ich vorsichtig durch den Wald zurückpirsche, komme ich noch gerade rechtzeitig, um einen Raben auf der Spitze einer Tanne in der Nähe des Köders zu sehen. Er produziert immer noch eine seltsame Mischung von eigenartigen Geräuschen, und es gelingt mir, einige seiner phantastischen Töne aufzuzeichnen, bevor er fortfliegt. Später am Nachmittag sehe ich drei Raben in der Gegend. Sie fliegen über die Lichtung und den Köder und hocken in den umstehenden Bäumen, doch keiner von ihnen kommt zum Fressen herunter. Auch schreien sie nicht. Warum sind sie jetzt still? Sind sie nicht hungrig? Es ist mitten in der Jagdzeit. Vierzehn erlegte Bären und acht Weisswedelhirsche wurden bisher bei der örtlichen Forstverwaltung registriert. Die Eingeweide dieser Tiere,
dazu die der angeschossenen, die später starben und nicht offiziell gezählt wurden, sind vermutlich überall im Wald verstreut. 12. NOVEMBER. Der Tag fängt schlecht an. Ich höre schon das Krächzen eines Raben, bevor ich um 6.3o Uhr aus meiner Hütte bin. Vielleicht war er schon bei dem Köder und würde den Rest des Tages nicht zurückkommen. Das wird das Warten nur noch schwerer machen. Lektion Nummer zwei: Zum rechtzeitigen Beobachten früh aufstehen! 6.45 Uhr. Ich lege mich neben meinen Kassettenrecorder und blinzle wieder durch die nicht abgedichteten Balken. Doch ich höre nur Blauhäher. Um 8.15 Uhr kommen zwei Krähen. Nachdem sie über dem Köder hin- und hergesaust sind, landen sie auf den Bäumen und begutachten 33 Minuten lang die Situation. Dann fliegt eine, vielleicht mutiger als die andere, zu dem Köder herunter, geht direkt auf ihn zu und reißt Fettstückchen ab. Die andere beobachtet sie von ihrem Ast. Die Krähe fliegt fort in den Wald, weißes Fett hängt aus ihrem Schnabel, wahrscheinlich will sie das Futter verstecken. Die andere schließt sich bald an; während der folgenden zweieinhalb Stunden arbeiten sie stetig, es sind insgesamt 44 verschiedene Verstecktouren. Sie nehmen kein Fleisch, nur das weiße Fett. Sie sind die ganze Zeit still und setzen wahrscheinlich einen Rekord im Krähen-Schweigen. Offensichtlich haben diese höchst sozialen Vögel nicht die Absicht zu teilen, während sie sich still mit ihrer Beute davonmachen. Die Raben haben inzwischen den Köder nicht vergessen. Um 8.55 Uhr fliegt einer vorbei, schweigend bis auf das laute Flügelschlagen, wenn er tief über der Lichtung
fliegt. Sein Schnabel ist nach unten gerichtet wie bei einem Scherenschnabel, sein Kopf schießt in schnellen prüfenden Bewegungen nach rechts und links. Ich bin von dem glitzernden Schimmer seiner Federn beeindruckt, sie sehen wie poliertes Metall aus. Doch der Vogel fliegt nicht lange genug, um bewundert zu werden. Er stößt zu einer der Krähen am Köder herab und verjagt sie talabwärts. Ein Rabe kehrt um 9.14 Uhr zurück und dann wieder um 10.37 Uhr. Jedes Mal fliegt er nur einfach über die Lichtung, als ob er die Innereien wieder und wieder prüfen wollte. Ich vermute, dass es derselbe Vogel ist, weil er jedes Mal näher kommt. Um 11.12 Uhr landet er Schließlich am Boden in der Nähe des Köders, während ein zweiter, der diesmal mitgekommen ist, nebenan in einem Ahorn hockt. Der Rabe bei dem Köder hüpft mit einigen wenigen nervösen Bewegungen auf und nieder, bevor er einen Lappen Fleisch abreißt. Ohne ihn zu fressen, fliegt er mit einer faustgroßen Portion in die Wälder. In wenigen Minuten kommt er zurück. In den nächsten S3 Minuten unternehmen er und sein Gefährte insgesamt acht weitere Flüge und bringen weitere Portionen fort. Wie die beiden Krähen bleiben beide Raben ganz still, während sie fressen und/oder ihr Versteck versorgen. Diese Raben enttäuschen mich, weil sie sich nicht entsprechend meiner Hypothese verhalten: Sie rekrutieren nicht. Sollte ich aufstehen und weggehen – eingestehen, dass meine Idee falsch war, und den Artikel in Science vergessen? Es gibt keinen schnelleren Weg zur wissenschaftlichen Nichtigkeit, als an Ideen zu kleben, die dem Augenschein widersprechen. Ich habe gerade etwas dem Augenschein widersprechen sehen.
Ein oder zwei Raben kommen mehrmals am Nachmittag zurück, als ob sie prüfen wollten, ob der Köder noch da wäre. Aber sie kommen nicht zum Fressen herunter, um weiteres Fleisch zu verstecken oder um zu rufen. Es sind in der Regel zwei Vögel, und sie krächzen gelegentlich, doch nur während des Fluges, als ob sie untereinander Kontakt hielten. Werden sie morgen anfangen, mit den Nachbarn zu teilen? Vielleicht rufen sie andere erst herbei, nachdem sie genügend Überschuss für sich oder einen Gefährten weggeschafft haben. 13. NOVEMBER. An diesem vierten Morgen bin ich etwas früher da, um 6.2o Uhr, in der Hoffnung, den Raben zuvorzukommen. Es gelingt mir. Um 6.44 Uhr kommen zwei, sie fliegen in dichter Formation, gefolgt von einem dritten. Von meinem engen Quartier aus kann ich sie nicht die ganze Zeit sehen, aber in der nächsten halben Stunde höre ich zweimal ein leises sanftes »quork«. Einer oder alle drei hocken in der Nähe. Um 7.24 Uhr sitzen zwei Raben auf einem alten Rotahorn über dem Köder. Einer putzt sich etwa 20 Minuten, während der andere in alle Richtungen blickt. Um 7.33 Uhr fliegen dann alle drei talabwärts zurück. Wie zuvor scheint es, dass sie weder zum Fressen noch zum Verstecken oder zum Herbeirufen anderer kamen. Ich habe jetzt eine andere Hypothese: Vielleicht ist das Schreien der Raben kein Ruf, das Mahl mit anderen Raben zu teilen, sondern soll andere Raubtiere (zum Beispiel Kojoten und Bären) herbeilocken, die den Kadaver öffnen! Und andere Raben kommen auf diese Botschaft hin dazu. Die Schweineinnereien liegen ausgebreitet da. Es bestand
keine Notwendigkeit, nach Hilfe zu rufen, um das Fleisch aufzureißen. In den nächsten Tagen und Wochen wird der erste Schnee fallen, gewöhnlich sind das gut zwei Meter. Viel Wild wird sich an den Winterweideplätzen versammeln, und das Futter wird knapp werden. Die Schwachen, Alten und Kranken werden Hungers sterben. Diese Tiere, wie die von Raubtieren getöteten, werden den Raben das Überleben im Winter ermöglichen. Fleischfresser leben nicht nur von dem, was sie selbst getötet haben. Sie sind wie Lumpensammler, fressen die geschwächten und toten Tiere, deren Fleisch sich während des Winters gut hält. Die Raben könnten dank ihrer Kontrolle des Luftraumes vielleicht tote Tiere für die Fleischfresser lokalisieren und die lebenden Kadaveröffner herbeirufen. Als ökologische Belohnung könnten sie sich dann von den durch die Fleischfresser geöffneten Tieren ernähren. Später erfuhr ich, dass Frank C. Craighead jr. in seinem 1979 erschienenen Buch Track of the Grizzly während seiner Forschungen über die Yellowstone-Grizzlybären dieselben Überlegungen anstellte. Er schrieb: »Wir stellten häufig fest, dass Raben und Elstern an einem Kadaver fraßen, nachdem die Bären satt geworden waren. Die Raben erschienen regelmäßig auf dem Schauplatz, noch bevor ihn die Grizzlybären entdeckt hatten. Sie würden über ihm kreisen, dann landen, und der erste, der sich näherte, würde die Augen fressen, an die man leicht herankam. Danach war es für die Raben fast unmöglich, an mehr zu kommen, bevor der Kadaver aufgerissen war.
Nachdem ein Rabe einen Elchkadaver in Marians Heimatgebiet entdeckt hatte, flog er fort; es dauerte nicht lange, bis sich eine immer größer werdende Versammlung schwarzer Vögel einfand. Ich neige zu der Annahme, dass sie irgendwie sowohl den Kojoten wie den Bären Kadaver anzeigen.« Die Botschaft eines Raben an Fleischfresser könnte leicht von anderen Raben genutzt werden und zu (unbeabsichtigter) Rekrutierung führen. Wenn dieser Gedanke richtig ist, müssten die Raben bei großen Kadavern mit unzugänglichem (also »nicht geöffnetem«) Fleisch laut schreien; wenn das Fleisch leicht zu verzehren ist wie diese Schweineinnereien, müssten sie ruhig bleiben. Ich wäre überrascht, wenn Kojoten und andere Raubtiere nicht auf Laute reagierten, die verlässlich und spezifisch mit Futter zu assoziieren sind, so wie die Rabenschreie. Wenn nicht, müsste Pawlow sich im Grabe herumdrehen. Es gibt einen berühmten Präzedenzfall beim Afrikanischen Honiganzeiger, einem kleinen Vogel, der sich auf die Ernährung durch Honigwaben und Bienenlarven spezialisiert hat. Die Honigbienen leben in hohlen Bäumen (und manchmal auf dem Boden), in die der Vogel mit seinem schwachen Schnabel (obwohl mit dem Specht verwandt) nicht eindringen kann. Wenn er einen Bienenstock gefunden hat, lockt der Honiganzeiger einen Honigdachs oder einen menschlichen Bienenjäger mit lautem Tschurren herbei und führt diese Räuber zu dem Bienenbaum. Die Raubtiere öffnen den Stock, und der kleine Vogel frisst später das, was sie übriggelassen haben. Meine vier Tage mit den Schweineinnereien waren nicht gerade ein rauschender Erfolg.
Statt einer Antwort habe ich jetzt eine neue Hypothese. Ich kann es kaum erwarten, ein weiteres Experiment zu starten — die Raben mit einem ganzen frischen Kadaver zu versorgen. Wenn meine neue Hypothese richtig ist, werden die Raben, die diesen Kadaver entdecken, so lange schreien, bis ein Kojote oder Bär kommt. Auch andere Raben werden kommen. 21. NOVEMBER. Ich war acht Tage in Vermont, um eine Ziege zu organisieren und zu kaufen. Sie kostete mich 6o Dollar, ein sehr niedriger Preis, wenn man vor einer wichtigen Entdeckung steht. Diese alpine Toggenburger Ziege ist so groß wie ein durchschnittliches Wild in Maine (15o Pfund) und ähnelt mit ihrem braunen Rücken, dem weißen Bauch und dem kurzen weißen Schwanz einer Hirschkuh. »Das tut’s«, könnte man sagen. Die Leute glotzen, als ich nach Maine fahre und an einem Schnellrestaurant halte — mitten in der Jagdsaison mit einer Ziege auf dem Autodach. Es ist schon dunkel, als es mir endlich gelingt, die Ziege zu der Lichtung vor meiner Hütte zu schleifen. Ein Bär hat inzwischen die Reste der Schweineinnereien beseitigt, in dem weichen Boden findet man überall das große abgeflachte Halbrund seiner Spuren. In Erwartung der Dämmerung schlafe ich kaum. Ich stelle mir wieder und wieder vor, wie ein Rabe majestätisch vom Wald hereinsegelt, bei der Ziege landet, laut schreit und bald von anderen Gesellschaft bekommt. Die Szene spielt sich immer wieder in meinem Kopf ab – und dann schrecke ich plötzlich bei dem Gedanken hoch, dass ein Bär noch vor dem Morgen den Kadaver beseitigen könnte. Ich kann es nicht riskieren, dass ein
Bär mir mein Vergnügen raubt, und ich stolpere hinaus in die Finsternis und schleife die Ziege 400 Meter zurück zu mir in die Hütte. 22. NOVEMBER. Es ist nicht nur der Geruch der Ziege, der mich vor Tagesanbruch weckt. Es ist auch der Duft des Sieges. Alle meine Gedanken sagen mir voraus, dass ein Rabe den Kadaver finden wird, wenn ich nur lange genug warte, und dass die Raben schreien werden. Doch Voraussagen sind billig und Beobachtungen um 5.3o Uhr bei Minusgraden teuer. Die Temperatur in der Hütte sank in der Nacht auf minus zehn Grad. Die Ziege ist steif, und es ist noch schwieriger, sie dorthin zurückzuschleifen, wo ich sie nur wenige Stunden zuvor geholt hatte. Diese Aufgabe fällt besonders schwer mit leerem Magen und ohne Kaffee. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn ich sehe schon den ersten hellen Schimmer am Horizont. Ich kann es mir unter keinen Umständen erlauben, heute von einem Raben gesehen zu werden. Denn wenn mich einer sieht und nicht schreit, habe ich eine Ausrede. Jetzt wird der Himmel im Osten orangefarben. Alles glitzert weiß vor Kälte. Meine Füße schmerzen vom Frost. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr. Aus der Richtung von Hills Pond kommt, niedrig über den Tannen, ein Rabe mit flüssigen, mächtigen Flügelschlägen. Er landet auf einem Baum direkt neben der Ziege. Eine Minute später fliegt er herab, landet keine zwei Meter von der 6o-Dollar-Ziege entfernt, läuft auf sie hinauf, pickt schnell einmal hinein und fliegt fort – so schweigend, wie er gekommen
war. In dieser Sekunde fliegen etliche meiner Hoffnungen und Erwartungen mit ihm davon. Ich bin vollkommen verwirrt. Ich weiß, dass Raben bei Futter schreien. Sicherlich sind diese Schreie nicht für anderegedacht, die Konkurrenten beim Fressen sein könnten! Das wäre widernatürlich. Meine plausiblere Hypothese hatte so gut ausgesehen, war so völlig stimmig mit dem, was man voraussagen konnte. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken oder probieren soll. Aber es ist wohl immer Raum für individuelle Varianten. 28. NOVEMBER. Ich bin zurück und will einen weiteren Versuch mit der Ziege wagen, nachdem sie ein paar Tage in der Hütte gelegen hat. Den ganzen Morgen nichts. Um 13.10 Uhr fliegen zwei Raben schweigend vorüber. Aus der Entfernung höre ich Schließlich »quork, quork, quork, quork«, den mutmaßlichen Kontaktruf. Die anderen Vögel antworten mit nur zwei Quorks, in tieferem Ton. Ich fange an, die unterschiedlichen Rufe zu erkennen. Ich denke, dass es dieselben Tiere sind, die hier vor Wochen bei den Schweineinnereien waren. Nur eines wird klar: Der nicht geöffnete Ziegenkadaver ist für die Vögel von geringem Interesse. Könnte meine Lieblingshypothese richtig sein und die Ergebnisse nur deswegen negativ, weil die Vögel nicht hungrig sind? Vielleicht entspricht ihr Verhalten dem der Menschen, die sagen würden: »Warum sollte ich mir wegen dieser alten Ziege die Mühe machen zu schreien, wo ich doch genug Futter versteckt habe, auf das ich sofort zurückgreifen kann, und Außerdem weiß ich von vielen Innereien, die hier überall im
Wald herumliegen?« Ich muss es noch einmal nach der Jagdsaison versuchen, mit derselben Ziege. In der tiefgekühlten Hütte wird sie sich gut halten. In der Zwischenzeit werde ich nach Vermont zurückgehen und eine Zeitlang Krähen beobachten. Manchmal kann man eine Menge über den selektiven Druck in der Evolution erfahren, wenn man eng verwandte Arten studiert, die jeweils für eine andere Nische ausgestattet sind. Es ist sehr ähnlich wie bei physiologischen Experimenten, wenn man die Wirkungen verschiedener Variablen beobachtet. Der heimische Blauhäher und die Amerikanische Krähe haben ihre eigenen, ganz spezifischen Adaptionen bei der Futtersuche, mit denen sie den Winter überstehen können. In dem schon etliche Zentimeter hohen Schnee graben die Blauhäher immer noch nach ihren vor Wochen versteckten Eicheln. Bei einem hiesigen Krähenschlafplatz beobachte ich Tausende von Vögeln, die in der Morgendämmerung aufbrechen und am Abend zurückkehren. Als ich dort ausgewürgte Speiballen öffne, entdecke ich Samen, die beweisen, dass sich die Vögel mitten im Dezember vorwiegend von den weißen Beeren der Blumenhartriegelrispen, von wildem Wein und (zu meiner Überraschung) von Sumach ernähren. In allen 26o Gewöllen, die ich analysiere, finde ich kein einziges Haar, keine Feder, keine Knochen oder Stücke von Insectenkutikula (Kutikula = dünnes Häutchen über der äußersten Zellschicht.) Es scheint, dass die Krähen sich im Winter auf eine vorwiegend vegetarische Nahrung umstellen. Im Gegensatz dazu enthalten die zwei Rabengewölle, die ich später unter
einem Rabenschlafplatz in Maine finde, vorwiegend Haare und Knochen. Doch Raben fressen die Knochen von Elchen und anderem Wild nicht so, wie sie die viel kleineren Mäuseknochen fressen. Da sie nicht angepasst sind, im Winter von großen Tierkadavern zu leben, zeigen weder Krähen noch Häher dasselbe Verhalten an Kadavern wie Raben. Sie rekrutieren auch nicht. Häher sind regelrecht kriegerisch. Einer (oder ein Paar) duldet niemand anderen, wenn er irgendwo einen Haufen Futter findet. (Obwohl eine gewisse Zahl von Vögeln an festen Wildfütterungsplätzen nach und nach lernen könnte, einander zu tolerieren.) Wenn Raben rekrutieren, ist ihr Verhalten etwas Besonderes und keine allgemeine Eigenschaft der Corviden. 20. DEZEMBER. Es ist fünf Tage vor Weihnachten, und viel hat sich nicht verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Hills Pond ist von einer dicken Eisschicht bedeckt und liegt wie der ganze Wald unter einer dichten Schneedecke. Noch wird das Wild nicht schwach vor Hunger sein, und daher ist es wohl eine karge Zeit für Räuber und Lumpensammler. Wird es auch die Zeit sein, in der die Raben am meisten geneigt sind, ihre Funde durch Rekrutieren zu teilen? Oder werden sie weniger teilen? Ich prophezeie, dass sie jetzt rekrutieren werden, wenn das Teilen der Nahrung tatsächlich ein evolutionär entwickeltes Verhalten ist, um das Überleben bei knappen und verstreuten Fressgelegenheiten zu ermöglichen. Ich hoffe abermals, einen Schlüssel zu finden, wann und warum die Raben schreien. Ich habe immer noch die Ziege vom vorigen Monat.
Außerdem habe ich zwei weitere Ziegen mitgebracht. Sie sind noch nicht steif gefroren, werden es aber bald sein, wenn ich sie nicht mit in meinen Schlafsack nehme, und bei dieser Aussicht schüttelt es mich. Ich beginne deswegen schnell mit meinen Experimenten, weil ich noch nicht weiß, ob Raben gefrorenes Fleisch fressen oder nicht. Die braune Toggenburger Ziege sieht nach einem Monat in der Hütte unverändert aus, und ich ziehe sie in die Mitte der Lichtung. Sie müsste ein leichtes Ziel für jeden vorbeifliegenden Raben sein. Ich verstreue auch ein paar Fleischstücke etwa 5o Schritte von der Ziege entfernt, um herauszufinden, was die Raben vorziehen. Ich warte einen Tag. Nichts. Am zweiten Tag kommt ein Rabenpaar. Endlich etwas Aufregung. Sie fressen schnell die Fleischstücke, schenken der Ziege aber offenbar keine Beachtung! Auch in den beiden folgenden Tagen kein Interesse. Ich kombiniere abermals, dass sie für einen nicht geöffneten Kadaver keine Verwendung haben. Aber dass sie wieder nicht nach Hilfe schreien, sollte ausreichen, um meine Hypothese zu zerstören, dass ihr Schreien Fleischfresser herbeirufen soll, die den Kadaver öffnen oder ausgraben. Gut, ein loses Ende hat jetzt einen Knoten. Doch daraus folgt ein anderer Gedanke: Kann es möglich sein, dass diese Tiere Elch oder Rotwild wollen und bei ihrer Erkundung letztes Mal festgestellt haben, dass meine Ziege nur ein schlechter Ersatz ist? Die Frage ist zu wichtig, um unbeantwortet zu bleiben. Ich muss diese Ziege anderen, mutmaßlich naiven Raben vorsetzen, an einem anderen Platz, und sehen, ob das Ergebnis dasselbe ist. Ich .zerre die Ziege die halbe Meile zurück zur Straße, packe sie in meinen
Jeep und schleife sie dann über eine einsame Landstraße einige Meilen weiter auf ein anderes Feld. Da ich schon früher herausgefunden hatte, dass sich Raben keinem parkenden Fahrzeug nähern (obwohl sie fließenden Autoverkehr zu ignorieren scheinen), verberge ich mich in den dichten Zweigen unter der Spitze einer hohen Kiefer an der Straße, um mit der neuen Beobachtungsrunde zu beginnen. Wie gewöhnlich warte ich nach ein paar Stunden unruhig auf eine Abwechslung in der Monotonie. Sie kommt. Ein Wagen mit drei Männern fährt vorbei, bremst und wendet. Ein Mann guckt aus dem Fenster auf die Ziege im Feld. Ein anderer steigt aus und läuft über das Feld auf den Kadaver zu. Als er näher kommt, schreit er zurück: »Ein großes Wild – eine Hirschkuh.« Ich bin begeistert. Wenn Menschen sich narren lassen, würde wohl ein Rabe das Aas, das er fressen könnte, auch nicht kritischer betrachten. Der Mann im Auto denkt an Wilderer und will wissen, ob sie ein Einschussloch hat. Der andere rollt die Ziege auf die Seite. »Steif gefroren«, erklärt er. »Ich kann keinen Einschuss finden.« Dann muss er das Euter gesehen haben. »Es ist eine Ziege!« In diesem Moment kann ich mich nicht länger beherrschen und fange an zu kichern. Als der Mann mich oben im Baum sieht, brüllt er: »Was zum Teufel tun Sie da?« – »Ich beobachte Raben.« Als er wieder ins Auto steigt und die Tür zuschlägt, höre ich noch: »Ein Perverser oben in einem Baum, der Raben beobachtet...« Ich lehne mich wieder zurück in den kalten Wind zwischen den Zweigen, ein glücklicher »Perverser«, erwärmt von einem weiteren winzigen Detail, das helfen könnte, das Rätsel zu lösen. Es scheint fast sicher, dass das Schreien nicht zum Herbeirufen von Aasfressern dient.
Ich kann versuchen, diese Theorie später genauer zu widerlegen. In der Zwischenzeit sollte ich mich jedoch besser anderen Themen widmen, die eher zu wirklichen Antworten führen könnten. Wo anfangen? Bis jetzt macht nichts Sinn, aber fast alles könnte relevant sein. Jeder Aspekt des Nahrungsverhaltens kann mit der ganzen übrigen Biologie des Tieres in einem stimmigen System verbunden werden. Irgendwo muss es einen roten Faden geben. Dieser Faden ist noch nicht sichtbar, und all seine ungeklärten losen Enden erinnern mich an ein unaufgeräumtes Zimmer, in dem nebeneinander Teile eines Schatzes und eine Menge Plunder liegen. Wenn man den Schatz richtig herausfindet und zusammensetzt, entpuppt er sich als eine raffiniert funktionierende Uhr, doch ich kann die überall verstreuten Bestandteile nicht zusammensetzen. Schlimmer, ich kann nicht zwischen dem Plunder und den Teilen der Uhr unterscheiden. Ich muss wissen, wie die Uhr arbeitet, bevor ich die einzelnen Stücke aufsammeln und dann versuchen kann, sie einzupassen. Meine Fähigkeit, so viel Zeit mit Beobachten zu verbringen, steht in direktem Verhältnis zu meiner Aufregung über dieses Problem und meinem Wissen, dass eine »Uhr« da ist, die gefunden werden kann. Jedes Detail, jede Nuance meiner Beobachtungen kann Bedeutung bekommen, wieder und wieder vergleiche ich das, was ich sehe, mit dem, was ich zu sehen erwarte. Ein Kollege, mit dem ich über meine Methoden bei der Rabenforschung sprach, meinte, dass ich mich für ein Stipendium bewerben müsse, um Geld zu bekommen und meine Beobachtungen rationalisieren zu können, vielleicht mit der Installation von
Videokameras als Ersatz für meine Präsenz. Zweifellos würde mit solch wissenschaftlicher Verbrämung auch die Arbeit »wissenschaftlicher« aussehen, doch es würde mich zum Sklaven der Ausstattung machen. Ich würde mir auch den Blick auf die gesamte Dimension des Verhaltens nehmen, für die eine solche Ausstattung nicht konzipiert ist. Sie sieht nur das, wofür man sie programmiert oder eingestellt hat. Es gibt noch immer keinen Ersatz für die direkte Beobachtung, vor allem, wenn man nicht weiß, was die relevanten Variablen sind.
Eine selbstsüchtige Herde? Dieses zu erraten, saß ich wortlos vor dem Tier, doch fraß sich mir sein Blick ins tiefste Innre nun, als ob er Feuer wär’... Edgar Allan Poe, Der Rabe Nachdem ich wieder zurück in Vermont war, spielte ich meine Rabenschreie über einen Lautsprecher am offenen Fenster ab, um die Ausrüstung zu testen. War der Lautsprecher stark genug? Ich konnte ihn noch eine halbe Meile die Strasse abwärts hören. Die Schreie trugen gut, und ich dachte mir, dass es Spaß machen würde, sie in Maine auszuprobieren. Doch ich musste feststellen, dass das Experiment schon hier funktionierte! Als ich zum Haus zurückging, blickte ich nach oben. Ein Rabe flog direkt über dem Haus und drehte seinen Kopf hin und her! Ich hatte noch nie einen Raben in der Nähe unseres Hauses in Vermont gesehen. War der Vogel wegen des Tonbands hier, das seit mehreren Minuten lief? Der Rabe flog weiter, aber als ich in das Haus trat, hörte ich das vertraute »quork, quork, quork, quork«. Es wurde von einem zweiten, weiter entfernten Raben mit einem tieferen »quork, quork« beantwortet. Offensichtlich hatte der erste Rabe nur einen Erkundungsflug gemacht, er kam jetzt mit einem zweiten zurück. Als einer von ihnen auf dem Zuckerahorn direkt neben dem Haus landete, wurde mir klar, dass das
Auftauchen dieser Vögel kein Zufall war. Die Tonbandaufzeichnung der Rabenschreie aus Maine hatte einen fremden Vogel angelockt. Ich war euphorisch. Mein erstes Gefühl musste richtig gewesen sein. Vögel an einer wichtigen Futterquelle riefen andere herbei, die Fremde sein konnten! Aber man kann keine Schlüsse aus interessanten Anekdoten ziehen, wie verführerisch sie auch sein mögen. JANUAR UND FEBRUAR 1985. Es wird immer faszinierender, und ich werde immer begieriger, bald schlüssige Ergebnisse zu bekommen, damit ich eine Pause einlegen kann. Es ist jetzt ein Wettrennen, und der Endspurt ist in Sicht. Vielleicht hörte ich keine Schreie bei den Ködern, weil mein Futterangebot zu klein war? Die Kerosinlampe erhellt die Hütte nur schwach, während ich nach einem langen Wintertag meine Notizen niederschreibe. Es war ein kalter Tag und kein sehr ereignisreicher. In mehreren Stunden werde ich wieder eine neue eisige Dämmerung sehen und wie immer auf Raben warten. Früher im Januar hatte ich an zwei verschiedenen Stellen überfahrene Kaninchen ausgelegt. Ich wollte herausbekommen, ob das Schreien und Rekrutieren im Zusammenhang mit der zu teilenden Fleischmenge stand. Die mageren Körper der Kaninchen schienen als Beute eher zu mickrig für einen Raben zu sein, um sie teilen zu wollen. Wie ich es vorausgesehen hatte, verhielten sich die beiden Raben, die die zwei Kaninchen fanden, fast identisch. Sie kamen herab, um zu fressen, mehrere Stunden,
nachdem sie sie überflogen hatten, und blieben schweigend bei ihrem Fraß. Dies waren keine sehr überzeugenden Ergebnisse, weil das Ausbleiben von Rekrutierung auch Zeitmangel gewesen sein könnte. Beide Raben blieben den ganzen Tag bei den Kaninchen. Und ein Tag mag vielleicht nicht ausreichen, um zu rekrutieren. So wenig, wenn überhaupt, war wirklich getestet. FRÜHER MÄRZ. Um wirklich herauszufinden, ob das Rekrutieren von der Größe des angebotenen Futters abhängt, müsste ich für einen Riesenhappen sorgen. Mit Hilfe eines Jägers, des lokalen Jagdhüters und eines Farmers organisierte ich drei gehäutete 30 bis 50 Pfund schwere Biberkadaver, einen 175 Pfund schweren Weisswedelhirsch und eine 50-Pfund-Ziege. Ich bin wieder einmal überzeugt, dass Forschung wirklich Schwerstarbeit ist und dass Feldforschung auch körperliche Belastung ist, gewöhnlich unbezahlte. Alles zum Vergnügen — stimmt’s? Auf jeden Fall besteht im Moment mein Vergnügen darin, unter großer Anstrengung Kadaver eine halbe Meile durch tiefen Schnee zu ziehen, zu dem Platz, den ich von meiner Hütte aus beobachten kann. Doch wie immer ist es noch viel schwieriger, ungezählte Tage auf das, was kommen soll, zu warten. Man denkt, Zeit ist Leben, und überlegt, ob man wirklich alle Zeit dieser Welt hat. 9. MÄRZ 1985. Es ist nicht viel passiert. Nur ein Krähenpaar kam kurz vorbei.
Io. MÄRZ. Ich wache nachts bei scharfem kaltem Nordwind auf, der dicke Graupelregen geht in Schnee über. Als es Tag wird, fällt der Schnee so dicht, dass ich die eingeschneiten Kadaverhaufen unten auf den Felsvorsprüngen kaum noch erkennen kann. Immer wieder fege ich den Schnee ab. Stunden vergehen. Vielleicht wird heute ein Rabe die Kadaver finden und schreien. Da ist er — ein großer schwarzer Vogel! Er taucht zwischen den Zweigen durch, landet neben den vielen Kadavern, hüpft auf und ab und rückwärts in dem Tanz, den Raben, wie ich inzwischen gesehen habe, immer aufführen, wenn sie einen Kadaver finden und bevor einer von ihnen zu fressen anfängt. In wenigen Minuten reißt und schlingt der Vogel. Dann fliegt er fort, Fettstücke hängen aus seinem Schnabel. Er macht fünf Flüge zu Verstecken, in Abständen von etwa zehn Minuten. Die ganze Zeit ist der Rabe völlig still! Das ist nicht das, was ich erwartet, vorhergesagt und erhofft hatte. Ist es möglich, dass er wegen des vielen Schnees nicht merkt, wie riesig dieses Festmahl mit fünf Kadavern ist? War der Lärm beim Elch und bei anderen großen Fleischhaufen eine Verirrung? Nein. Jede Beobachtung ist bedeutungsvoll. Jede hat ihren Sinn. Eines ist offensichtlich: Es gibt keine Entdecker- und keine Rekrutierungsschreie. Vielleicht ist meine Rekrutierungshypothese nun endgültig und gänzlich widerlegt. Ich bin niedergeschlagen. Mir bleibt nichts weiter übrig, als zu packen und die 200 Meilen nach Hause zu fahren, zurück zu Komfort und Zivilisation. Nur um ganz überzeugt zu sein, dass es kein Rekrutieren gibt, lasse ich dieses Mal alles Fleisch, wo es ist. Während der langen Fahrt auf den eisigen schneeverwehten Strassen steigt in
mir der Verdacht hoch, dass dies das Ende meiner Experimente ist. Habe ich eine Menge Zeit verschwendet, oder ist es noch immer möglich, dass der Entdecker sich erst völlig satt frisst und dann rekrutiert? Vier Tage später bietet mir ein Doktorand, Steve Smith, freundlicherweise an, nach Maine zu fahren und nach den Fleischhaufen zu sehen. Zu meiner größten Verwirrung berichtet er nach seiner Rückkehr, dass er nur abgefressene Skelette gefunden hätte! Als er zuerst hinkam, hockten ein Dutzend oder mehr Raben in den Bäumen, und andere in der Nachbarschaft schrien laut. Doch offensichtlich müssen sehr viel mehr dagewesen sein. Ein Dutzend Raben kann nicht mehrere hundert Pfund Fleisch in vier Tagen fressen, es musste rekrutiert worden sein. Mir fehlt ein großes Stück des Bildes. Bis jetzt hatte ich gedacht, dass das »Schreien« Vögel anzog, die zufällig gerade in der Nähe vorbeiflogen. Aber jeder, der nur ein bisschen Zeit in diesen Wäldern verbracht hat, weiß, dass Raben selten »in der Nähe« sind. Etwas anderes musste passiert sein. Vielleicht holen die Vögel ihre Kumpane aus weit größeren Entfernungen, als der Klang ihrer Stimmen reicht. Wenn ein Vogel wirklich rekrutieren wollte, gäbe es nichts Besseres, als Gefolgsleute auf einem gemeinsamen Schlafplatz zu sammeln. Haben die Raben hier einen gemeinsamen Schlafplatz? Eine der verschiedenen möglichen Funktionen eines gemeinsamen Schlafplatzes ist die eines »Informationszentrums«, an dem die erfolglosen Futtersucher sich den erfolgreichen anschließen. In den vielen, bisher über Vögel gemachten Studien gehörte zu jedem erwiesenen Informationstransfer auch das Stehlen von Information. Die Vögel
sitzen vermutlich nicht herum und erzählen, wohin sie am nächsten Tag fliegen werden. Information kann unwissentlich gegeben werden. Zum Beispiel könnte man die schmutzigen Brustfedern oder die vollen Kröpfe der erfolgreichen Raben sehen, und wer keinen Erfolg bei der Nahrungssuche hatte, könnte auch durch andere Hinweise in ihrem Verhalten veranlasst werden, ihnen am nächsten Tag zu folgen. Die Erfolgreichen könnten ihr Wissen auch durch ihre Aufregung oder ihren Eifer verraten, wenn sie schon früh in der Morgendämmerung wegfliegen wollen. Die Information über einen Platz mit Futter könnte also zunächst zufällig sein, die Signale dann immer spezifischer und das Dechiffrieren der Botschaft immer genauer werden, so dass sich eine wirkliche Kommunikation entwickelt, vorausgesetzt sie ist zum gegenseitigen Nutzen. Ein solches Kommunikationssystem hat sich bei Honigbienen entwickelt, allein aus den beabsichtigten Bewegungen vor Verlassen des Bienenstocks. Diese Bewegungen haben sich immer konkreter und stereotyper entwickelt, bis sie zum »Tanz« wurden, zu einem symbolischen Flug, der Informationen über den tatsächlichen Flug zum Futter gibt. Der Bienenstock als Informationszentrum hilft den Bienen, von schnell verderblicher Nahrung zu profitieren. Vielleicht markiert der Schrei der Raben den genauen Ort eines Kadavers, so wie die Duftmarke, die Bienen hinterlassen, einen blühenden Baum genau lokalisiert. Bei der Entdeckung der Nahrungsquelle zu schreien wäre vergeudete Zeit und Mühe, wenn die möglichen Gefolgsleute, einige Meilen entfernt, nicht vor der Nacht kontaktiert werden könnten. Könnte das die Erklärung sein, warum ein Rabe, der Futter entdeckt, nicht schreit?
Wenn die Analogie zu den Bienen richtig ist, dann schreien Raben nur, wenn sie wissen, dass ihre Verwandten nahe genug sind, um sie zu hören. Wie jedoch können Einzelgänger, wie Raben es sind, die meilenweit voneinander entfernt nisten, Verwandte in der Nähe haben? 30. MÄRZ. Der Winter ist fast vorüber. Wenn ich diesmal den Raben ein Riesenfestmahl hinlege, will ich lange genug bleiben, um den Prozess der Rekrutierung zu beobachten. Es ist meine letzte Chance in diesem Jahr. Bald wird der Schnee schmelzen und der Frühling kommen; die Raben werden zu einer Ernährung mit Insekten, Fröschen und anderer kleiner Beute übergehen, so dass eine Rekrutierung nicht mehr zu erwarten ist. Mein Angebot besteht diesmal aus zwei aufgeschnittenen Holsteinkälbern (schwarzweißes Niederungsrind). Zusammen wiegen sie fast 400 Pfund. Eines lege ich etwa 70 Meter nördlich von der Hütte aus, das andere nur knapp drei Meter dahinter. (Es stellte sich heraus, dass die relative Position nützliche Informationen gab.) In der ersten Morgendämmerung erscheint eine Gruppe von acht Krähen und krächzt laut. Zweifellos ist es ein Trupp heimkehrender Zugvögel. Sie inspizieren die Kälber kurz und fliegen weiter. Um 8.10 Uhr fliegt ein Rabe vorbei und ruft kurz. Eineinhalb Stunden später fliegt ein Rabe dichter heran, er ruft häufiger und schreit in Abständen von wenigen Minuten. Drei Stunden später wird das Schreien fortgesetzt, und zwei oder mehr Raben sind während des ganzen Nachmittags immer wieder da. Am späten
Nachmittag sehe ich vier von ihnen gleichzeitig vorüberfliegen. Im nahen Wald könnten mehr sein. Das Schreien geht weiter. Dann ist es still. Plötzlich wird das Schweigen von einem hohen Klopfton unterbrochen, der wie von einer metallenen Trommel klingt. Ist es ein Späher, der das Signal »alles in Ordnung« gibt? Das Trommeln geht mit Unterbrechungen weiter, und ich sehe einen Raben (nicht den »Trommler«), der sich zu Fuß verstohlen über den Schnee nähert. Dreimal kommt er beinahe bis zu einem der Kälber, hüpft auf und ab, fliegt nervös hoch, nur um in ein paar Sekunden wiederzukommen. Einer der anderen Raben macht weiter die Klopfgeräusche. Doch keiner berührt die Kälber. Ein Krähenpaar ist weniger zurückhaltend. Die beiden machen siebzehn Besuche, um zu fressen, und reißen Fleisch zum Verstecken ab. Fast unverändert ruft eine der beiden laut von einem Baum herab, während die andere schweigend vom Kadaver an der Hütte frisst. Der weiter entfernte Kadaver wurde kein einziges Mal von einem der Vögel besucht. Was geschah mit den acht Krähen? 31. MÄRZ. Wieder kommt eine Gruppe von acht Krähen gegen 6.00 Uhr. Doch dieses Mal bleiben sie den ganzen Tag. Sie fressen ausschließlich an dem näher gelegenen Kadaver bis 8.30 Uhr. Sie gehen als Gruppe zum Kadaver und sind friedlich miteinander. Später an diesem Tag fressen sie manchmal einzeln oder in kleineren Gruppen, und jetzt gehen sie auch gleichermaßen an beide Kadaver. Ein Rabe hatte schon in der Morgendämmerung aus dem Wald gerufen, um 5.15
Uhr; andere hörte ich den ganzen Morgen. Einer sauste um 10.10 Uhr über den Köder. Um 11.30 Uhr sehe ich fünf, um 11.50 Uhr mindestens sechs. Um 11.58 Uhr landen vier Raben und gehen vorsichtig, Seite an Seite zu dem näher gelegenen Kadaver. Eng aneinander geduckt kommen sie zögernd näher, mit ausgestreckten Hälsen, bis einer in das Kalb pickt. Sofort springen alle auf und fliegen hoch. Innerhalb von 15 Sekunden gruppieren sie sich abermals für dieses Manöver, und dieses Mal fliegen fünf weitere herbei und schließen sich an. In der Umgebung sind noch mehr. Ich höre weiter Klopfgeräusche aus dem nahen Wald. Sie klingen wie Buschtrommeln, und ich spüre, wie gespannt die Atmosphäre ist. Die Raben haben Angst vor dem Köder, doch die Krähen haben den ganzen Vormittag davon gefuttert und scheinen jetzt völlig teilnahmslos. Kein Rabe möchte der erste am Kadaver sein. Einer allerdings hüpft immer wieder auf und ab, er spielt im Schnee neben dem Kadaver den Hampelmann. Ein Tier, das durch die Evolution auf Kadaver, die es aus der Luft jagt, spezialisiert ist, müsste gleichermaßen von toten wie schlafenden Körpern angezogen werden. Doch müsste es dann die Fähigkeit haben, die lebenden von den toten zu unterscheiden. Vielleicht soll das Hampelmann-Manöver das verständliche Unbehagen eines Raben ausdrücken, der sich einem unbekannten pelzigen Wesen nähert; aber es gibt keinen Grund, warum dies so deutlich ausgedrückt wird, falls damit nicht eine bestimmte Funktion verbunden ist, die einem lebenden Tier eine Reaktion entlocken soll, die dem sich nähernden Vogel verrät, dass es vielleicht nicht gut ist, weiter heranzukommen. Oder könnte ein Sich tot
stellen sich evolutionär als Jagdstrategie entwickelt haben, wenn sich ein Kadaverspezialist, der selbst zur Beute werden könnte, einem anderen nähert (vorsichtig oder nicht)? Dem Hüpfer schließt sich bald ein halbes Dutzend anderer an. Plötzlich beginnen neun nach vorne zu gehen. Genauso plötzlich fliegen sie als Gruppe fort. In wenigen Sekunden sind sie zurück. Der erste zögert immer weniger, bald ist eine Gruppe von Raben fast ununterbrochen auf dem Kadaver. Das Fressen beginnt schließlich um 12.05 Uhr. Um 13.45 Uhr ist die große Fresswut vorüber. Ich sehe zwölf Raben gleichzeitig fliegen, die Vögel zerstreuen sich in verschiedene Richtungen. Diese Beobachtungen unterstützen die » Selbstsüchtige-Herde«-Theorie, die der britische Zoologe W.D. Hamilton von der University of Michigan 1971 erstmals aufstellte, als Erklärung dafür, warum Tiere sich in Mengen versammeln. Ein Risiko wird umso kleiner, je größer die Menge ist, in der man sich befindet. Vielleicht rekrutieren die Raben, weil sie Angst vor etwas am oder in der Nähe des Köders haben – etwa lauernde Raubtiere –, um so genügend Gefährten zu haben und das individuelle Risiko beim Fressen zu minimieren. Doch wovor haben so große mächtige Vögel Angst? Blauhäher und Krähen hätten viel mehr Grund, selbstsüchtige »Herden« beim Fressen zu bilden. Die Theorie besagt auch, dass die Rekrutierung stattfinden muss, bevor das Fressen beginnt. Wenn sich die Beute als sicher erwiesen hat, müsste sie aufhören. Wir werden sehen. Ich hatte schon früher über den Mechanismus der Rekrutierung nachgedacht. Folgen
naive Futtersuchende erfolgreichen Raben von ihrem Schlafplatz zu einem Kadaver, weil sie ihre Schlafgenossen genau betrachtet, ihren Atem gerochen, ihre vollen Kröpfe und ihre verschmutzten Federn bemerkt haben? Jetzt weiß ich, dass nichts davon zutrifft. Es scheint, dass die wesentliche Rekrutierung stattfindet, lange bevor irgendjemand gefressen hat. Keiner der Rekrutierenden trüge verräterische Zeichen eines voraus genommenen Mahles. Also war es ihr Verhalten, das die anderen hierher brachte. Der Unterschied im Verhalten von Krähen und Raben bei diesem glückhaften Experiment ist lehrreich. Da beide Gruppen zur selben Zeit, im selben Gebiet, an demselben Köder waren, war es ein ideales »kontrolliertes« Naturexperiment von der Art, die man kaum wiederholen kann. Den ganzen Tag hockten sehr viel weniger Raben an dem zweiten, fast identischen Kadaver, der sich nur drei Meter hinter dem näher gelegenen, von dem sie fraßen, befand. Sie landeten oft in seiner Nähe, strengten sich jedoch an, ihn zu umgehen, wenn sie auf ihrem Weg zu dem anderen, wie es mir schien, identischen Kadaver, zu nah herankamen. Sie hatten eineinhalb Tage gebraucht, um zu entscheiden, dass einer in Ordnung war, und sie blieben nur bei diesem. Dass der andere gleichartig war, machte keinen Unterschied. Anders als die Krähen schienen die Raben ein Bedürfnis nach Gesellschaft zu verspüren, bevor sie es wagten, von diesem für sie seltsamen Köder zu fressen. Kein Rabe fraß alleine, zumindest nicht an diesem Tag. Doch warum flog der Rabe, den ich vor zwei Wochen sah, so kühn allein heran? Hatten die Vögel mehr Angst, weil sie keine Holsteinkälber kannten?
Krähen und Raben fraßen nie gemeinsam, aber sie hockten oft eng beieinander in den Bäumen in der Nähe des Köders. Während die Raben bei dem näher gelegenen Kalb waren, fraßen die Krähen von dem zweiten. Ging ein Rabe an das zweite Kalb heran, sprangen die Krähen weg, ohne verjagt zu werden. Die Raben dominierten eindeutig über die Krähen, machten aber keinen sichtbaren Versuch, sie zu stören. Es gab noch einen anderen wichtigen Unterschied. Der Kadaver war von einem Raben entdeckt worden, und die Zahl der Raben stieg kontinuierlich eineinhalb Tage lang an, bis die Vögel genug Vertrauen hatten, um zu kommen und zu fressen. Als jedoch ein Krähenpaar den Kadaver entdeckte, blieb nur dieses eine Paar und fraß, und als acht Krähen da waren, geschah dies nur, weil die acht ursprünglich als Gruppe gekommen waren. Steht die fehlende Rekrutierung bei Krähen in Zusammenhang mit der Tatsache, dass Krähen Fruchtfresser sind, die nur gelegentlich Kadaver fressen, wenn keine andere Nahrung vorhanden ist? Ein Vogel, der von Beeren und wirbellosen Kleintieren lebt, muss sich nicht vor einer »Beute«, die ihn angreifen könnte, in acht nehmen. Einer, der sich jedoch von großen Tieren ernährt, muss sich absichern, dass das, was er anpickt, nicht mehr lebendig ist und zurückschlägt, von lauernden Raubtieren umgeben oder eine Falle ist. Vielleicht ist das Teilen ihrer Nahrung eine Art Handel. Ein erfolgreicher Jäger könnte einem hungrigen Raben sagen: »Ich zeige dir, wo es etwas Gutes zu essen gibt, aber nur weil ich von dir erwarte, dass du das Risiko übernimmst und nachsiehst, ob alles in Ordnung ist.« Es schien mir bedeutungsvoll, dass die Rekrutierungsschreie erfolgten, bevor das Fressen
begann. Aber ich wusste jetzt auch, dass es reichlich Schreien (und Rekrutieren) gab, nachdem das Fressen begonnen hatte und die Raben nicht länger Furcht vor der Beute zeigten. Die Evolution einer Funktion für einen Zweck schließt nicht aus, dass diese Funktion geändert, abgewandelt und für etwas anderes zweckentfremdet wird. Vogelfedern zum Beispiel können sich ursprünglich aus Schuppen als Schutzschild gegen Sonne oder als Isolierung gegen Hitze oder Kälte entwickelt haben. Es war dann möglich, sie weiter zu verändern, als Instrumente zum Fliegen, als Werkzeuge für sexuelle und andere Signale und, beim Flughuhn wie bei Raben, um Wasser für die Jungen zu transportieren. Ähnlich könnte das ursprünglich »egoistische« Rekrutierungsverhalten der Raben zum gegenseitigen Teilen seltener Futterquellen geführt haben. Denkbar ist, dass das Nahrungsteilen der Raben jetzt eine doppelte Funktion haben könnte. Je mehr ich sehe und überlege, umso trüber scheint das Wasser zu werden. Ich hatte das Gegenteil erhofft. 1. APRIL. Es hat die ganze Nacht geschneit. Am Morgen lagen 15 Zentimeter Schnee, und in der Dämmerung waren schon sechs Raben und acht Krähen eingetroffen. Rabenpaare hockten auf den verschneiten Fichtenzweigen nahe beim Köder, sie schnäbelten miteinander und machten weiche, zufriedene Geräusche. Krähen und Raben flogen mehrmals über die eingeschneiten Kadaver. Ein Rabe landet bei dem näher gelegenen Kadaver, springt nervös auf und ab und
fliegt weg, nachdem er mit seinem geschlossenen Schnabel ein paar Mal hin- und hergeschlagen und Schnee weggefegt hat. Gegen 6.0o Uhr sind alle Raben fort. Ein oder zwei kommen während des ganzen Tages gelegentlich vorbei, wie um zu prüfen, ob das Fleisch wieder verfügbar ist. Ich bin versucht, die Kadaver freizuschaufeln, aber dies ist eine normale Situation, die man für Experimente ausnutzen sollte. Die Raben scheinen von der Nahrungssuche motiviert zu sein, sonst wären sie nicht hier. Es ist eine Bedingung, deren man bei Feldforschung nie sicher sein kann. Jetzt kann ich es sehen: Werden sie ihr Fressen ausgraben? Werden sie schreien, vielleicht, um Kojoten herbeizurufen, die das Freischaufeln für sie erledigen? Kann ich sie zurückrufen, indem ich die Schreie abspiele? Die Antworten auf die beiden ersten Fragen sind negativ, auf die letzte positiv. Ich bin wie neu belebt. Bei sechs verschiedenen Gelegenheiten, als ich einen Raben im Wald hörte, ließ ich das Band mit Rabenschreien laufen. Nach vier dieser Ausstrahlungen erschienen ein oder zwei Raben innerhalb von 15 Sekunden, obwohl ich 15 Minuten vor diesem Test kontrolliert hatte, dass keine Raben in Sicht waren. Dies ist ein entscheidender Beweis, dass die Schreie am Köder dazu dienen, andere anzulocken. Es macht meine unbeantworteten Fragen nur noch aufregender. Die Angst der Vögel vor der Beute und die Rekrutierung sind beide ein sehr bizarres Verhalten. Sie hängen vermutlich irgendwie zusammen. Das Experiment stimmt diesmal mit der Theorie von der selbstsüchtigen Herde überein. Doch ich bin noch nicht überzeugt, dass dies die einzige Erklärung ist, denn wenn sie das wäre, müssten Schreie
und Rekrutierung schnell aufhören, wenn das Fressen beginnt., Das ist nicht der Fall. Irgend etwas sehr Seltsames und Aufregendes geschieht.
Ein Corviden-Vergleich 31. OKTOBER 1985. DONNERSTAG. An diesem Wochenende beginnt in Maine die Jagdsaison. Die Raben werden von den Resten der Jäger noch nicht satt sein; es ist die richtige Zeit, meine Studien für einen weiteren Winter wiederaufzunehmen. Freudig mache ich mich auf den Weg nach Kaflunk. Auf halbem Weg halte ich in St. Johnsbury, Vermont, bei Anthony’s Diner, zu dem inzwischen traditionellen Kaffee und Holzfäller-Burger. Wenn jemand mich fragte, was ich tue und warum, könnte ich nur unpräzise Antworten geben. Für mich ist das Paradox rein und schön, wie die Raben selbst, etwas Wirkliches und Bewunderungswürdiges. Die Raben schreien laut »Futter«, wenn sie schweigen sollten – wie ich auf Grund aller egoistischen evolutionären Gründe von ihnen erwartet hatte. Warum tun sie es kund? Es gibt sehr verschiedene, widersprüchliche Beobachtungen, doch ich bin sicher, dass sie sich alle zu einer kohärenten Geschichte oder zu einem Überlebensmechanismus zusammenfügen. Ich bezweifle, dass ich eine dieser Beobachtungen verstehen kann, bevor ich nicht ein Bild von allen habe. Bis jetzt habe ich immer noch neun Hypothesen. Keine Theorien, nur Hypothesen. Es würde ein ganzes Leben brauchen, diese Liste von Hypothesen genauestens durchzutesten, jede für sich. Und am Ende hätte ich immer noch keine Antwort. Ich muss mich also auf mein Gefühl verlassen– aber ich muss arbeiten, um das richtige zu erwischen.
Jeder neue Ausflug ist aufregend, weil ich versuche, ein Experiment zu arrangieren, um eine dieser verschiedenen Ideen zu testen. Aber es sind keine eigentlichen Tests, nur Versuche zur Annäherung an die allgemeinen Merkmale, Versuche, dem Zufall auf die Sprünge zu helfen, so dass ich später zu den relevanten Ideen kommen kann. Die meisten meiner Ideen werden sich als falsch herausstellen, so dass es keinen Grund gibt, sie alle formell und detailliert aufzuzählen, denn ich werde eine nach der anderen widerlegen. Der Fokus wird langsam schärfer werden, wenn ich die Spreu vom Weizen scheide. Nur die Antwort bleibt von Interesse, wenn alles gesagt und getan ist. Zur schärferen Einstellung des Fokus wird es ironischerweise auch gehören, das Verhalten anderer verwandter Vögel, wie Krähen oder Blauhäher, zu erforschen und zu dokumentieren. Die vergleichende Methode unterscheidet sich nicht sehr von der experimentellen. Physiologische Experimente sollen Fragen durch unmittelbare Beobachtung verschiedener Variablen beantworten. Die vergleichende Methode beantwortet Fragen durch Beobachtung der Ergebnisse von Variablen, die es seit Millionen von Jahren gibt. Die Blätter sind alle gefallen. Sie sind jetzt braun, doch am Morgen mit weißem Frost überzogen. Ich schlafe tief in meiner Hütte in Maine und träume vom nächsten Tag; ich werde Waldmurmeltier-, Grauhörnchen-, Skunk- und Katzenkadaver auslegen, die ich den Sommer hindurch gesammelt (und eingefroren) habe. 1. NOVEMBER. Es ist noch dunkel, und ich bin schon durch Rabenrufe wach geworden!
Verschiedene Vögel fliegen über Kaflunk und stoßen kurze hohe Schreie aus, die anders als die gewöhnlichen Quorks sind. Diese Schreie zeigen Erregung an. Die Vögel fliegen zu einem Kadaver! Ich fühle es. Selbst ich kann es verstehen und fühle mich rekrutiert. Im Nu bin ich auf und aus der Tür, um die Flugrichtung der Rufenden festzustellen. Zehn Minuten später bin ich in derselben Richtung auf dem Weg durch den Wald. Eine halbe Meile waldeinwärts vor mir höre ich schon die inzwischen vertrauten Geräusche. Da – die Schreie! Ist es Rotwild oder ein Elch? Ich treffe sie unten am Alder-Fluss. Etwa ein Dutzend fliegt auf und verschwindet in den dichten Wäldern. Als ich durch die Tannenzweige auf den Fluss blicke, sehe ich die lauernde Gestalt eines Kojoten und die monströse Masse eines toten Weisswedelhirsche. (Sein Geweih war das größte, das ich je gesehen habe, und es ist jetzt eine offiziell registrierte Maine-Geweih-Trophäe, die ich als Erinnerung an die Raben behalten habe.) Die aus dem Wasser ragenden Felsen im Flussbett sind über und über mit weißem Rabenkot bespritzt. Viel Fleisch ist nicht mehr übrig. Alles ist sauber weggepickt worden. Kojoten und Vögel müssen hier schon seit ein paar Tagen futtern. Der Hirsch ist offensichtlich einem Wilderer entkommen (die Jagdsaison hat noch nicht begonnen), wurde stattdessen von den Raben gefressen und verhalf mir zu einer guten Gelegenheit für ein Experiment. Ich werde jetzt testen, ob die Zurückhaltung, die ich im März bei dem Kalbskadaver beobachtet hatte, tatsächlich durch das unbekannte Futter verursacht war. Bestimmt sind alle diese Raben mit Wild vertraut.
Skelett und Geweih sind noch zusammen, und ich schleppe die Hirschreste hinter mir her an den Rand der Lichtung bei der Holzhütte. Wenn die Raben ihr Fressen an der erwarteten Stelle vermissen, sollten sie es wohl an dem neuen Platz entdecken. Wie werden sie sich verhalten, wenn sie ein Fressen wieder finden, das ihnen nicht nur vertraut ist, sondern bereits von ihnen benutzt wurde? Jetzt kommt wieder der Teil, der besonders langweilig und anstrengend sein kann: Warten und Beobachten. Ich fange mittags mit dieser Aufgabe an. Wie immer ist es schwer, denn ich kann sonst nichts tun, etwa lesen. Man kann keine Raben vorbeifliegen sehen, wenn die Augen abgelenkt sind. Den ganzen Nachmittag passiert nichts. Es ist eine Erleichterung, dass ich in der Dämmerung zum Camp gehen, Feuer machen und mich bei einem Buch entspannen kann. Morgen sollte es anders sein. 2. NOVEMBER. Bis 15.00 Uhr nachmittags bleiben die Hirschreste unentdeckt. Kein Rabe, keine Krähe, kein Häher zu sehen. Um drei Uhr entscheide ich mich, meine Trumpfkarte auszuspielen. Ich richte den Lautsprecher meines tragbaren Tonbandgeräts aus dem Fenster der Hütte und spiele die Rabenschreie vom letzten Jahr ab. Innerhalb von zehn Sekunden fliegt ein Rabe direkt auf mich zu! Ich stelle das Band sofort ab. Der Rabe hockt sich direkt neben mich in die Weißbirke, nachdem er das Feld einmal überkreist hat. Dieser Vogel ist offensichtlich aufgeregt. Er sträubt seine Federn, schwenkt seinen Schnabel in die Richtung des Kadavers, macht dazu klickende Geräusche (Schnappen mit dem Schnabel?) und murmelt kaum hörbar. Nach 15 Minuten fliegt er
fort, ohne einen einzigen »Schrei« oder Krächzer ausgestoßen zu haben. Ist er ein Egoist, der das Fleisch für sich selbst behalten will? Nach fünf Minuten höre ich ein schnelles hohes »quieck«, unmissverständlich ein Schrei, erst entfernt, dann näher. Ein halbes Dutzend Raben kreist plötzlich umher, noch mehr sind unterwegs! Und mehr, immer mehr und noch mehr! Nach 15 Minuten zähle ich 29 Raben in den Bäumen um den Kadaver. Ich platze vor Spannung und höre eine plötzliche, unglaubliche Kakophonie – Schreie, Krächzen und andere verrückte Geräusche, während die Vögel umherschwirren. Überraschung und Aufregung rauben mir fast den Atem. Diese Vögel müssen von dem einen, den ich herbeigerufen hatte, rekrutiert worden sein. Hat er die anderen aus der Nähe des Platzes, wo das Wild vor zwei Tagen lag, geholt? Vielleicht hatten sie sich an einem nahen Schlafplatz versammelt. Man könnte widersprechen, dies sei keine richtige Rekrutierung. Aber wie soll man beabsichtigte Rekrutierung demonstrieren, ohne die Raben direkt auf »rabensisch« zu fragen: »Was denkst du dir dabei, wenn dein Verhalten andere dazu bringt, sich am Fressen zu beteiligen? Ist es das, was du gewollt hast?« Doch diese Frage stelle ich nicht. Ich versuche das instinktive Verhalten zu erklären. Ich befasse mich mit den Auswirkungen dieses Verhaltens oder damit, wie es beeinflusst wird. Sieht man, wie jemand vor einer Schar Kinder auf und ab hüpft, hört man dazu seltsame wilde Schreie, die etwa klingen wie »Bonbons, Bonbons«, und sieht man dann, wie die Kinder angelaufen kommen – muss dann noch extra gesagt werden: »Hallo, Kinder, hier sind Bonbons auf dem Ladentisch. Kommt und bedient euch«? Der Sinn ergibt sich aus der
Wirkung auf den Beobachter. Bei anderen Versuchen hatte ich nur jeweils einen Kadaver herbeigeschafft. Doch diesmal hatte ich Kadaver von überfahrenen Katzen, Skunks, Waldmurmeltieren und Grauhörnchen in der Umgebung ausgelegt, um ein größeres Netz für mögliche Entdeckungen auszuwerfen und die Wahl zwischen den Kadavern zu prüfen. Würden diese andersartigen Köder jetzt alle in Minuten verzehrt sein? Nein! Alle 29 Raben handeln so, als ob sie sogar vor dem Bock, von dem sie vermutlich noch vor kurzem gefressen hatten, Angst hätten. Sie scheinen den Skunk und die Katze, die nahebei liegen, zu ignorieren, doch gelegentlich fliegen sie um den Hirsch herum oder kreisen unentschlossen darüber. Plötzlich höre ich eine Menge aufgeregter Schreie, und eine ganze Schar fliegt in Richtung des Grauhörnchens. Einige Minuten später kommen aufgeregte Schreie aus der Richtung des Waldmurmeltieres, und ein Teil der Vögel fliegt in diese Richtung. Das Schreien bei dem Bock geht weiter. Was für eine Aufregung (und nicht alles klingt friedlich) – doch kein Rabe landet auf einem der Kadaver. Als es dämmert, fliegen die Vögel nach und nach fort. Keiner hat hier gefressen. 3. NOVEMBER. Natürlich liege ich schon vor Tagesanbruch auf der Lauer. Wie erwartet, kommen die Raben mit der Dämmerung – zuerst fünf oder sechs, dann mindestens 35 fast auf einmal. Ich sitze stundenlang, beobachte und nehme die aufgeregten Stimmen auf. Aber während des gesamten Vormittags fliegt keiner der Raben zum Fressen herunter. Sie kommen und gehen, um endlich am Nachmittag zu fressen. Ich wäre gerne
noch einen weiteren Tag geblieben, doch muss ich alles Fleisch wieder einsammeln und wegen anderer Verpflichtungen nach Vermont zurückfahren, nach einem der aufregendsten Wochenenden, die ich jemals bei Feldforschungen verbracht habe. Es war nicht so sehr die Fremdheit der Kadaver als der neue Ort, der die Raben beunruhigte. Sie rekrutieren – da gibt es keinen Zweifel mehr. Darüber hinaus ist jetzt klarer denn je geworden, dass zum Rekrutieren noch ein anderer Mechanismus, der über größere Entfernungen wirkt, gehört – obwohl die Rufe, die Raben bei einer Futterquelle machen, mächtige Anziehungskraft haben. Die Rufe markieren die genaue Position des Fressens, doch für eine weiträumige Rekrutierung machen die Vögel etwas anderes; es schließt einen Späher ein, der die Rekrutierten aufmerksam macht und hinführt. Was immer sie auch tun, das zum schnellen Aufbau einer Vogelmenge bei einer Futterquelle führt, es ist beabsichtigt. Doch was ist die Absicht? Wenn das Risiko geteilt werden soll– was für ein Risiko gibt es bei einem vertrauten Wild? Raben lieben Gesellschaft, bevor sie von einem unbekannten Köder fressen. Vielleicht rekrutieren sie, um Gesellschaft zu haben. Doch die Tatsache, dass sie nicht auf dem Kadaver landeten, von dem viele von ihnen kurz zuvor gefressen hatten, selbst nachdem vierzig Raben herbeigeholt worden waren, ist seltsam. Sie hatten vermutlich keine Angst vor mir oder der Hütte, weil sie direkt neben mir gehockt und dabei weggesehen hatten. Sie hatten keinerlei Angst vor dem größten Falken wie auch nicht vor dem Hühnerhabicht oder dem Rotschwanzbussard gezeigt, denn sie hatten sich ihnen häufig genähert. Sie kümmerten sich nicht um Hunde oder Kojoten und nicht um ein Reh, das nah an ihrer
Futterstelle vorbeiging. Ah! Jetzt habe ich es wohl. Sie fürchten Fallen oder lauernde Raubtiere unten beim Köder! Wenn das stimmt, gehen sie vielleicht ohne Zögern an einen Köder hoch oben in den Bäumen. 15. NOVEMBER. Ich bin zurück, um die Raben wählen zu lassen – zwischen einem Berg von Schlachthausabfällen auf einem verwitterten Brett in dem alten Birnbaum am Rand der Lichtung unterhalb des Camps und einer gleich großen Menge von Fleischabfällen unter dem Baum. Mein Wecker klingelt um 5.30 Uhr. Ich springe aus dem Bett, mache die Kerosinlampe an, zertrümmere das Eis im Waschtrog, um mein Gesicht zu waschen, und mache mir einen Kaffee. Draußen (und drinnen) ist es minus 25 Grad, kalt für den Winteranfang. Um 6.00 Uhr bin ich in meinem Versteck, das heißt im Rohbau meiner unfertigen Holzhütte, eine Viertelmeile unterhalb von Kaflunk. Mein Blick geht zum östlichen Horizont, der jetzt hellorangefarben ist. Der Himmel darüber ist dunkelblau, grün an den Seiten und geht im Westen in dunkles Blauschwarz über. Man sieht noch die letzten Sterne. Eine Schar kleiner Finken zwitschert schon aufgeregt, während sie in der grauen Dämmerung von den Kätzchen der Weissbirken frisst und die Hülsen im Schnee verstreut wie Pfeffer auf einem weißen Tischtuch. Schon um 6.30 Uhr sind meine Zehenspitzen und Finger taub vor Kälte. Die Wolken am östlichen Himmel leuchten, er färbt sich jetzt rosa wie die Plastikflamingos, die in so vielen Vorgärten in Maine stehen.
Um 6.50 Uhr taucht die Sonne am Horizont auf, ihre Strahlen erreichen den Schnee und lassen den Reif auf dem Gras schmelzen. Überall schimmern Tausende von Lichtflecken. Die Schatten auf dem Schnee sind blau. Langsam, fast unmerklich ändert sich das himmlische Farbenspiel und wiederholt sich am westlichen Himmel. Kein Vogel findet meine Köder. Den ganzen Tag lang nicht. 16. NOVEMBER. Heute ist hier mehr los. Um 7.45 Uhr kommt ein Blauhäher vorbei und fliegt, ohne einen Augenblick zu zögern, direkt zu dem Köder auf dem Brett im Birnbaum. Er frisst etwa fünf Minuten und ruft dann laut. Ein anderer Häher antwortet, ein Duett von sechs Rufen und Gegenrufen folgt, bis der zweite Häher zum Baumköder kommt. Sie fressen Seite an Seite. Die beiden sind offensichtlich ein Paar. Den Rest des Tages kommen und gehen sie zusammen, verbringen viel Zeit miteinander, tragen Fettund Fleischfetzen fort, um sie im benachbarten Wald zu verstecken. Insgesamt machen sie an diesem Tag 127 Versteckflüge und beschränken sich dabei auf das Fleisch im Baum. Beide Häher waren den ganzen Tag schweigsam. Abgesehen von dem Duett, das der Entdeckung folgte, rief einer der beiden (bei sechs Gelegenheiten), kurz bevor er das Gebiet verließ – er war schon nicht mehr am Köder. Offenbar sollte ihm der andere folgen. Tatsächlich verließ der andere Vogel nach zwei oder drei Rufen aus dem Wald sein Mahl, und sie flogen gemeinsam fort. Angesichts dessen scheint es mir, dass diese sehr spärlich auftretenden Rufe nicht dazu gedacht sind, andere zum Köder zu locken,
obwohl Häher die Fähigkeit haben, eine »Follow-Me«-Botschaft zu geben und zu verstehen. Es ist möglich, dass unbeteiligte Zuhörer lauschen. Doch diese Vögel zeigten, dass hier für mögliche Lauscher nichts zu holen war. Nachdem sie 37 Minuten lang Fleisch versteckt hatten, erschien ein dritter Häher, der sofort angegriffen wurde. Derselbe (oder ein anderer) Vogel erschien noch fünfmal. Jedes Mal wurde er von einem oder von beiden Vögeln gleichzeitig verjagt. Manchmal jagten beide den Neuling fünf Minuten lang ununterbrochen und verfolgten ihn mindestens 50 Meter. Offensichtlich hatten die beiden ihren Claim abgesteckt und verteidigten ihn sehr wirkungsvoll für sich selbst, obwohl sie vorsichtshalber Proviant in den Bäumen über ein Gebiet von mindestens 4000 Quadratmetern versteckten. Diese Aggressivität unterstreicht die Einzigartigkeit des Teilens bei Raben. Gegen Mittag, um 11.31 Uhr, erscheint ein Krähenpaar. Sie krächzen drei- oder viermal, hocken drei Minuten in einem Baum in der Nähe des Köders und fliegen wieder fort. Sie kommen heute nicht zurück. Ein Teil der Krähen sind Zugvögel, ich habe Schwärme von über 1000 sowohl im Herbst wie im Frühjahr in Vermont gesehen. Gewöhnlich fliegen sie in kleinen Gruppen, ein oder mehrere Dutzend, und stoppen zum Fressen, bevor sie wieder weiterfliegen. Die Krähen, die hier überwintern, scheinen als Paare zusammenzubleiben wie diese beiden. Vermutlich sind es adulte Tiere, die sich hier besser ernähren können als die jungen, die zum Wandern gezwungen sind.
17. NOVEMBER. Um 7. 18 Uhr fliegt endlich. ein Rabe über die Lichtung. Es scheint, als ob er die Köder nicht sähe, doch ein Rabe kann so offensichtliche Ziele im Schnee und auf einem Baum kaum ignorieren. Der Vogel macht eine kleine Drehung, schweigend, bevor er weiterfliegt. Er kommt an diesem Tag viermal wieder, jedes Mal niedriger fliegend. Offensichtlich schätzt er die Situation auch von einem Baum im umliegenden Wald aus ein. Etwa zehn Minuten lang höre ich aus dem Wald ein seltsames Knurren, Bellen, Jaulen und Grunzen wie von einem Hund. Ein erfahrener Förster sollte wissen, dass Töne, die er nicht identifizieren kann, möglicherweise von einem Raben stammen. Ich wusste nicht, was ich da für Töne hörte, bis ein einzelner heiserer Krächzer dazwischen es verriet. Warum verbarg sich der Vogel? War keiner der Köder akzeptabel? 18. NOVEMBER. Raben, so scheint es, sind Sklaven der Gewohnheit. Wie ich es erwartet hatte, war der Rabe in der Dämmerung da. Aber auch ein anderer. Anders als gestern hocken jetzt beide sehr auffällig in den Zweigen einer Pappel nördlich vom Köder, und nach nur drei Minuten schwingt sich einer herab und landet direkt daneben. Beim Köder am Boden! Der Vogel bleibt zwei Minuten am Boden, fliegt dann auf und hockt sich in einen kleinen Zuckerahorn direkt neben die Weissbirke südlich des Köders, um sich dem ersten anzuschließen, der gerade dorthin geflogen war. Ich erwähne dieses spezifische Sitzen auf dem Baum, weil in der Regel den ganzen Tag lang einer, manchmal zwei Raben insgesamt elfmal zurückkehrten. Wenn sie nah genug zum Landen waren (also nicht nur vorbeiflogen), benutzten sie wieder dieselben
Plätze. Dass verschiedene Vögel die beiden selben Plätze in diesem großen Waldgebiet benutzten, schien sehr unwahrscheinlich, und mein Verdacht, dass es dieselben Vögel waren, wurde durch die Tatsache bestärkt, dass sie in der Regel zuerst den nördlichen Platz benutzten, dann über den Köder kurvten oder in seiner Nähe landeten (zweimal) und sich schließlich auf den südlichen Platz setzten. Danach (viermal) flogen sie schnurstracks in etwa 30 Grad östlich auf den Mount Bald zu. Das ist die Richtung nach Hills Pond, wo jedes Frühjahr ein Paar nistet. Die Raben zögern zwar, scheinen jedoch keine große Angst vor dem Köder zu haben, vielleicht weniger aus Vorsicht, sondern einfach, weil sie keinen Hunger haben. Ein Vogel ist schon in der Dämmerung neben dem Köder gelandet, und um 13.30 Uhr landet wieder einer. Vor und nach der Landung höre ich die Klopfgeräusche, die ich schon früher gehört hatte, wenn die Vögel frassen oder gerade mit Fressen begannen. Warum ist dieser einsame Vogel bei der Beute gelandet, ohne zu fressen, während der andere Wache stand? Ich hatte vorausgesagt, nach der Hypothese von der selbstsüchtigen Herde, dass sich, wie im letzten März, kein Vogel dem Kadaver nähern würde, bis sich eine kritische Anzahl versammelt hätte. Ich habe mich wieder geirrt. Diese Vögel kommen alleine herab, und ich prophezeie jetzt, dass sie nicht rekrutieren werden. Sie müssen jetzt nicht mehr teilen, nachdem sie keine Angst vor dem Futter haben. Um 15.39 Uhr, kurz bevor es dunkel wird, kommen sechs Raben und kreisen tief über der Lichtung, offensichtlich zu einer schnellen Erkundung. Rekrutierung? Habe ich mich abermals geirrt? Ich bin mir überhaupt nicht sicher, was die Raben als nächstes tun
werden – außer dass sie am nächsten Morgen wieder auftauchen werden. Und dann werden sie bestimmt mit Fressen beginnen. 19. NOVEMBER. Irrtum! Der Morgen graut. Das Paar kommt allein, fliegt direkt von Osten ein und hockt dann nebeneinander auf seinem alten Platz in der Pappel. Sie sind still. Doch nach 17 Minuten höre ich einen dritten Raben in der Ferne. Einer der beiden Raben quorkt laut und fliegt in Richtung der Töne. Auch der andere fliegt fort. Um 7.40 Uhr kommt ein Rabe schweigend und allein. Nach zehn Minuten fliegt er zum Köder herunter und pickt an ihm, hüpft auf und ab in der Art des Tanzes, den ich bei einem neuen Köder erwartet hatte. Er pickt und springt weiter, pickt und springt, springt dann weniger und pickt mehr. Seltsam. Die Raben, die ich hier vorher gesehen hatte, haben sich fast unbekümmert verhalten. Es sieht nicht danach aus, als ob dieser Vogel daran interessiert ist, etwas herauszureißen. Doch nach acht Minuten pickt er sich schließlich einen Fetzen und fliegt fort, um ihn zu verstecken. Danach geht er an die Arbeit und versteckt mehr. Er versteckt seine Beute in Bäumen und auf dem Boden, 6o Meter bis fast 800 Meter von dem Köder entfernt. Er ist schweigend bei seiner Arbeit, und ich kann keinen anderen Raben sehen. Nach der fünfzehnten Versteckaktion fliegt er plötzlich hinunter ins Tal. Jetzt höre ich ihn schreien. Rekrutiert er? Ich kann ihn zurückkommen sehen, ein schwarzer Punkt in der Ferne, eine Viertelmeile hinter ihm ein anderer Vogel, der direkt auf die Beute zuhält. Doch der zweite Vogel sieht seltsam hell aus, nicht schwarz wie ein Rabe – es ist
ein Rotschwanzbussard! Der Rabe und der Bussard landen beide im Baum neben dem Köder und scheinen sich gegenseitig kaum zu beachten. Hat der Rabe den Bussard in der Ferne fliegen gesehen und irrtümlich für einen Raben gehalten? Der Rabe fängt mit Verstecken an, völlig unbeeindruckt von der Gegenwart des Bussards, der nach nur fünf Minuten fortfliegt. Nach dem neunzehnten (und letzten) Versteckflug besucht der Rabe zwei der zuvor gemachten Verstecke, als ob er sein Gedächtnis prüfen wollte. Dann fliegt er fort in die Ferne. Wieder ruft er. Ich höre, wie die Rufe schwächer werden. Rekrutiert er wieder? Innerhalb von zwei oder drei Minuten kommen zwei Raben herbei. Ein Vogel schwebt über der Beute, er wirkt ängstlich, beginnt jedoch bald zu fressen und fängt dann an, laut zu rufen, fünf Minuten lang. Er fliegt weg und ruft beim Fliegen weiter, kommt zwei Minuten später zurück und ruft weitere zwölf Minuten. Inzwischen hat der andere Vogel schweigend gefressen und versteckt. Zwölf Minuten später höre ich lautes aufgeregtes Quorken: Drei Raben kreisen und fliegen bald wieder fort. Vier Tage ununterbrochenen Beobachtens sind vorüber. Ich hatte gehofft, dass die Raben, ohne zu zögern, den Köder im Baum annehmen würden und mir so helfen könnten, zwischen zwei Hypothesen zu differenzieren. Sie waren nicht so hilfreich. Eindeutig ist, dass sie den Baumköder nicht bevorzugen. Ebenso vor die Wahl gestellt, blieben die Blauhäher dagegen im Baum und vermieden das Futter am Boden, sogar noch bevor Raben in der Nähe waren. Wie es scheint, haben die Blauhäher einen Ruf, der einem Gefährten »Komm her« oder »Folge mir« sagt. Aber sie brauchen ihn nicht,
um andere zu rekrutieren. Stattdessen verfolgen sie Eindringlinge energisch. Warum sollten sich Raben so anders verhalten und andere tolerieren oder sogar herbeiholen? Um die Konfusion noch zu vergrößern, erhielt ich einen Brief von Kathy Bricker, die als Naturfotografin in Michigan gearbeitet und selbst Raben beobachtet hatte, während sie an einem Biberkadaver wartete, um Wölfe zu filmen. Ihre Beobachtungen ließen mich daran zweifeln, dass Raben überhaupt teilen. Sie schrieb: »Vierzehn Raben um 11 Uhr (gestern sieben gesehen). Eine Menge Kämpfe folgte – das war kein freundliches Spiel. Sie hacken sich bösartig gegenseitig auf die Köpfe; ich sah einen, der mit seinem Fuß das Bein eines anderen umklammerte; die beiden so Verklammerten standen sich mit offenen Schnäbeln gegenüber, lösten sich schließlich voneinander und flogen, sich gegenseitig jagend, fort. Wenn sie mit flatternden Flügeln aufeinanderstoßen, schlagen sie mit den scharfen Klauen ihrer Füße zu. Ich sah einen, der von dem Stoss auf die Seite geworfen worden war, er war sofort von anderen Raben umgeben, die in der Nähe waren. Offensichtlich ist nichts so aufregend wie ein Kampf oder wohl nichts so köstlich wie Rabenfleisch. Besagtes Mahl richtete sich auf und flog schleunigst fort.« Diese Beobachtungen waren für mich etwas beunruhigend, denn wenn Raben Nahrung teilen, brauchten sie nicht darum zu kämpfen. Ich weiß nicht, was ich – wenn überhaupt – daraus schließen soll. Teilen sie die Information nur für die Lokalisierung des Futters und streiten sich dann mit denen, die kommen? Das macht keinen Sinn.
Was ist akzeptable Evidenz? Eine Frau aus New Orleans hatte den Artikel im Audubon-Magazin gelesen, den ich geschrieben hatte, nachdem ich gerade anfing herauszufinden, ob und warum Raben teilen. Sie schrieb mir: » Ich hatte nicht so viel Mühe wie Sie, um herauszufinden, dass Raben teilen. Ich sehe sie immer an meiner Futterstelle – sie füttern sich sogar gegenseitig.« Es gibt in New Orleans keine Raben und auch anderswo in Louisiana nicht. Was sie sah, waren vielleicht unterschiedlich große schwarze Vögel (Krähen? Stare?), die sich gegenseitig fütterten (wahrscheinlich ihre Nachkommenschaft, mit der sie umherzogen). Generell wird persönliche Interpretation gern mit Beobachtung vermischt. Es ist ein schwieriges Unterfangen, verlässliche Beobachtungen über Raben zu bekommen, weil es so viele Legenden und Anekdoten über sie gibt, dass es schwer ist, sie davon losgelöst zu betrachten. Ein Trapper in den nördlichen Wäldern dürfte da eher unbelastet sein. Ich hatte einen Artikel über einen schreibenden Trapper in der Nähe von Nenana, Alaska, gelesen und dachte, dass er mit Raben im Norden vertraut sei. In einem Brief stellte ich ihm die Frage, ob er Scharen von Raben an Kadavern gesehen hätte. Ich erklärte auch den Grund meines Interesses. Erstens, antwortete er, wüsste »jeder«, den er kenne, dass Raben ihr Futter teilen. Er war überrascht über die Unwissenheit weltfremder Schreibtischforscher, die überhaupt eine solche Frage stellten. Er war auch frustriert, weil es Biologen gab, die nicht glaubten, was Leute wie er, die ihr Leben im Wald verbracht
hatten, wussten. Raben »kannten« zum Beispiel die zerstörerische Kraft seines Gewehrs und blieben außer Reichweite. Trotzdem waren sie »schlau genug«, Fisch, den er für seine Hunde auf Gestellen aufbewahrte, zu stiebitzen. Sie taten dies durch Postieren einer »24-Stunden-Wache« an seiner Hütte. (Ich überlegte, wie er das von Vögeln, die auf eine Gelegenheit zu fressen warteten, unterscheiden konnte.) Sobald er aufgestanden war, kam ein Rabe, um nach ihm zu sehen und »das Wort zu verbreiten« (das heißt, er flog weg und/oder rief). Er behauptete, dass ein Rabe ihm den ganzen Tag »folgte« (das heißt, er sah gelegentlich einen Raben). Dieser machte dann »Rückmeldung« an die anderen, so dass alle wegfliegen konnten, bevor er von seiner Tagesarbeit als Trapper zurückkehrte (das heißt, er sah mehrere Raben zusammen wegfliegen und keinen vor der Tür der Hütte, als er zurückkam). Viele der Vögel »klauten« (frassen von?) seinem Fischgestell, und seine Äußerung, dass sie bei den Raben im Umkreis »das Wort weitertragen«, heißt, dass derjenige, der das Futter entdeckt, ruft und dass dieser Ruf von allen Vögeln in der Umgebung gehört wird, die dann ihrerseits rufen, in einem immer größer werdenden Kreis der Kommunikation. (Ein interessanter Gedanke.) Für ihn war es kein Geheimnis, warum die Vögel dies taten: »Klatsch«. »Es scheint offensichtlich«, fährt er fort, »dass die Vögel aufgeregt werden, und sie können ihre Aufregung einfach nicht für sich behalten und lassen es andere wissen.« (Von sehr schwächlichem Charakter, diese unaufhörlich quasselnden Vögel.) Und warum sollten sie sich so eindeutig aufregen? Auch dies war »offensichtlich«: »Weil es das Beste für ihre Art ist.« Diese Standardantwort erklärt nichts,
ist ebenso vage wie »Gott« erschuf die Welt, wenn man es wirklich nicht weiß. Es verstörte mich zu sehen, wie jemand so leicht den Unterschied zwischen Beobachtung und Interpretation verwischte und dann noch so weit ging, zahlreiche Schlüsse daraus zu ziehen, die er für selbstverständlich hielt – ohne den leisesten Schimmer eines Beweises auch nur für einen von ihnen zu haben. Als ich sehr jung war und nicht »sah«, was für die Erwachsenen offensichtlich war, glaubte ich häufig, dass ich dumm und ungeeignet für die Wissenschaft wäre. Nun denke ich manchmal, dass dies der Grund ist, warum ich Fortschritte mache. Die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erfinden, ist kein Gewinn, wenn die Entdeckung der Wahrheit ein Ziel ist. Da gibt es die Leute, die glauben, dass Wissenschaft zur Gänze daraus besteht, alternative Hypothesen auszuscheiden – als ob nach Eliminierung aller alternativen Ansichten die übrig gebliebene die richtige ist. Das Problem liegt darin, dass man nicht an alle möglichen Hypothesen denken kann, die die Natur vorsehen mag. Mehr noch, man muss beweisen, welches die vernünftigste ist. Doch jede Theorie kann, bei begrenztem Datenmaterial, vernünftig sein. Ein Körnchen Wahrheit ist zumindest in der Vorstellung, dass eine Variable die andere beeinflusst. Wenn man lange und entschieden genug beobachtet, wird man eine Auswirkung auf fast jede Variable finden, die zu prüfen man gewählt hat. Doch ich suche nach den großen Wirkungen, den zentralen Fragen. Um sie zu finden, muss ich die kleinen nahezu ignorieren. Ich muss imstande sein auszusieben, was für die Frage unwichtig oder nicht relevant ist, und mich auf die primären Motive konzentrieren, um genügend Fakten herauszudestillieren,
die sich – vorausgesetzt sie sind erwiesen – zu etwas zusammenfügen. Sich einer Frage »blind« zu nähern, um zur Wahrheit zu gelangen, fordert auch Sigmund Freud 1912 in einem Vortrag vor Ärzten, die sich für die Aufdeckung des Unbewussten bei Patienten interessierten: »... diese Technik... besteht einfach darin, sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche gleichschwebende Aufmerksamkeit... entgegenzubringen. Man... vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Material auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen.« Dann gibt es die Sünde der Unterlassung, die sich in fast allen wissenschaftlichen Veröffentlichungen findet. Im Zeitalter der Überfütterung mit Information gibt es eine Grenze, über wie viel Schreib- und Sprechzeit seiner Kollegen man verfügen kann, die sich alle bemühen, auf dem laufenden zu bleiben. Wer als Wissenschaftler so glücklich ist, über Zeit und Mittel zum Studium seines Themas zu verfügen, muss sich durch den dichten Nebel der Details kämpfen und zum Kern kommen. Man liefert das Minimum
an Information – gerade genug, um auf den Punkt zu kommen. Als Ergebnis wird oder kann nur ein unvollkommenes (und oft einseitiges) Teil eines beliebigen Arguments präsentiert werden. Probleme entstehen, wenn die Wahrnehmung anderer sich um genau dieselben Details dreht, denen man sich vielleicht gewidmet hat. Diejenigen, die den sprichwörtlichen Elefanten am Schwanz gepackt haben, könnten denken, dass man uninformiert ist oder schlimmer noch, versucht, die Wahrheit zu umgehen oder zu vertuschen, wenn man nur über den Kopf redet. Es befriedigt mich deshalb, ein Buch zu schreiben, weil ich mehr Gedanken, all die Fülle und Komplexität der Details bringen und den ganzen »Elefanten« damit lebendig und interessant machen kann und, wie ich hoffe, auch wirklicher. Tiere zu verstehen ist eine ungeheure intellektuelle Herausforderung. Denn sie sind nicht nur intellektuelle Konzepte, sondern real: Man kann sie anfassen, riechen, hören, beobachten, nah an sie herankommen. Und wenn man das tut, wird man schnell die Rätsel sehen, die zu noch mehr Beobachtungen führen, die nach und nach zu Konzepten zusammenwachsen. Theorie ist wie die Konstruktion eines Gerüstes um den Organismus herum, dessen Plan und Bau man so besser beobachten kann. Doch wenn der Organismus erklärt ist, hat das Gerüst kaum noch Bedeutung. Es gibt verschiedene Sehweisen, und manche Menschen haben eine bessere »Nase« als andere, um das Wesen der Dinge zu bestimmen. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war es allgemein anerkannt, dass Konrad Lorenz mehr als jeder andere über das Verhalten von Tieren wusste. Das machte es leicht. Wenn er sagte, dass Raben
einen angeborenen Ruf haben, den sie benutzen, wenn sie wollen, dass andere ihnen folgen, wurde das allgemein als Tatsache auf der Basis seiner Autorität akzeptiert. So ist es nicht mehr. Es geht jetzt nicht nur darum, die Wahrheit zu sehen und zu demonstrieren, sondern sie entsprechend dem allgemein gültigen, wissenschaftlich abgesicherten Standard zu beweisen. Ich habe in dieser Untersuchung viele gültige Beobachtungen, die jedoch noch zu widersprüchlich sind, um eine akzeptable Evidenz für eine bestimmte Idee oder Hypothese zu sein.
Verwirrung im frühen Winter Thanksgiving-Wochenende. Während ich in der Dämmerung an Hills Pond vorbei zur Hütte fahre (letzte Nacht war ich fort), sehe ich zwei Raben die Kiefern am See verlassen, dort, wo letztes Jahr das Nest war. Also schlafen sie hier. Wahrscheinlich ist es dasselbe Vogelpaar, das aus dieser Richtung kam, um von dem Fleisch zu fressen, das ich vor zwei Wochen dort gelassen hatte. Die zwei Vögel fliegen etwa eine halbe Meile zusammen und trennen sich dann. Ich gehe zur Hütte hinauf, um die so Pfund Fleischabfälle (2o Pfund davon sind gehacktes Nierenfett) zu inspizieren, die ich in der Dämmerung des Vorabends ausgelegt hatte. Jetzt um 7.30 Uhr ist es schon ganz hell, und ich sehe oder höre keine Vögel. Das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet, denn jetzt am Ende der Jagdsaison haben sie vermutlich anderswo genug Futter; also schlage ich mich in die Wälder. Dieser Spaziergang ist ein Luxus, den ich mir in der nächsten Zeit wohl nicht mehr leisten kann. Der Neuschnee der beiden letzten Tage knirscht leicht unter meinen Füssen. Ich verfolge die Spuren eines Rehs, die sich jedoch bald zwischen zahllosen anderen Spuren verlieren. Die Eichen- und Buchenwälder bei Houghton Ledges sind wie ein Scheunenhof zertrampelt, vielbenutzte Pfade führen zu dem festgefrorenen Moor weiter unten. Überall sind Spuren von Wild, aber kein Tier ist zu sehen. Ich sehe keine Bärenspuren, sie halten vermutlich Winterschlaf. Aber es gibt viele Kojotenspuren. Die Nachrichten im Schnee verraten auch die Wege von Mäusen, Eichhörnchen, Kaninchen, Wieseln,
Fischmardern und Kragenhühnern. Um 9.20 Uhr bin ich mindestens eine Meile nördlich des Köders und finde sogar noch mehr Spuren. Plötzlich werde ich durch den hohen, aufgeregten Ruf eines Raben, etwa eine halbe Meile nördlich von mir, alarmiert. Ich bleibe stehen, um zu lauschen, und höre noch mehr Raben rufen, dann sehe ich vier vorüberfliegen, direkt in südlicher Richtung – zu meinem Köder bei der Hütte! Tatsächlich – nach wenigen Minuten höre ich das aufgeregte Rufen von Vögeln, die zu einem guten Futter fliegen, die kurzen, schnellen Quorks und gelegentlich ein hohes Quieck. Kein Zweifel: Raben sind unterwegs zu einem Köder, vermutlich meinem, und ich beeile mich zurückzukehren. Ich brauche 40 Minuten, um wieder zur Hütte zu kommen. Die Raben sind nicht nur schon einige Zeit hier gewesen, auch etwa die Hälfte des Nierenfetts ist schon weg. Diese Vögel hatten offensichtlich keine Angst zu landen und sofort mit dem Fressen zu beginnen. Ich bin überrascht und völlig verwirrt. Zufällig bin ich über ein Nierenstückchen, etwa eine halbe Meile von dem Köder entfernt, gestolpert, das von einem kleinen Schneehäufchen bedeckt war. Ein Versteck. Die Spur des Raben im Schnee verrät es. Ich gehe in die Hütte und beobachte. Die Raben scheinen mich nicht zu bemerken. Nach einer Minute sind sie bereits wieder bei dem Fleisch. Immerhin acht Vögel sind gleichzeitig beim Fressen, doch es ist unmöglich, festzustellen, wie viele insgesamt hier sind, denn es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Die großen Vögel arbeiten in scheinbar perfekter Harmonie Seite an Seite an dem Fleisch. Ab und zu springt einer
auf – es sieht fast wie aggressive Interaktion oder deren Folge aus, aber ich glaube nicht, dass es das ist; ich denke, es ist nur Nervosität. Die Geräusche, die bekannten nasalen Quorks, viel Schreien und Klopfen, sind Musik für meine Ohren. Ein Vogel fliegt sogar umher, in Kreisen von etwa einer Meile, und stößt hohe Quorks aus. Wie bei allen bisherigen Experimenten ist das Ergebnis überraschend. Doch es schürt frühere Vermutungen. Vielleicht lag die lange Verzögerung beim Fressen, die ich vorher beobachtet hatte, daran, dass der Köder nicht verlockend genug war. Hier haben sie Nierenfett! Das schnelle Rekrutieren bei einem besonderen Leckerbissen unterstützt die Hypothese vom Teilen. Es ist auch klar, dass am nächsten Tag nichts mehr übrig sein wird, wenn die Vögel das Fett weiterhin so schnell fortschleppen. Doch bis jetzt rufen sie mit unverminderter Kraft weiter. Ohne zu zögern, fliegen die Vögel zu dem Futter herab, und sie sind immer noch laut. Das sieht nicht nach Selbstsüchtige-Herde-Verhalten aus. Während ich in den Wald zurückkehre, etwa eine Meile von dem Futter weg, höre ich immer noch die Vögel am Köder und auch die, die in der unmittelbaren Nachbarschaft herumfliegen oder meilenweit entfernt sind. Wenn ich den Geräuschen der Vögel eine Emotion unterlegen sollte, würde ich es eine Mischung aus Aufregung und Glück nennen. Sie scheinen ausgelassen und durch nichts zu bremsen. Wäre ich ein hungriger Rabe und träfe einen so »glücklichen« Vogel, folgte ich ihm egal wohin und würde bald zu einem Festmahl geführt werden. Ich zweifle, ob diese Vögel weniger tun. Bei einer so
geräuschvollen Darbietung bezweifle ich, dass auch nur einer dieser schnell und weit fliegenden Vögel innerhalb eines Gebietes von 16o Quadratkilometern nicht bald auf dieses Futter aufmerksam wird. 12. DEZEMBER 1985. Es wird am Nachmittag schon um 16.30 Uhr dunkel, und ich schaffe es bis zu dem Hügel in Maine nicht vor 19.00 Uhr. Die Sterne leuchten hell gegen den dunklen mondlosen Himmel. Fünfzehn Zentimeter Neuschnee markieren die Silhouetten der Bäume, doch wie viel Schnee am Boden liegt, merke ich gar nicht, als ich mit dem schweren Kassettengerät über der Schulter den Berg hinaufstapfe, den großen Parabollautsprecher und das Mikrofon in der einen Hand, einen Beutel mit Lebensmitteln in der anderen. Plötzlich rutsche ich an einem besonders steilen Stück über einer zugefrorenen Quelle aus. Meine geliehene Ausrüstung geht dahin mit dem Kassettenrecorder, der auf das Eis kracht und die Batterien ausspuckt. Tut mir leid, Dave! Ich fürchte, das Gerät ist kaputt. Und ich habe keine Taschenlampe dabei. Doch mein Graben mit bloßen Händen bei minus vier Grad wird belohnt. Ich finde alle Batterien wieder. So weit, so gut. Dann muss der Köder heraufgetragen werden. Diesmal habe ich 400 Pfund Nierenfett mitgebracht, die ich in den Schlachthöfen von Vermont eingesammelt habe. Bei Nierenfett hatten sie letztes Mal »sofort« rekrutiert, also musste ich für sie Nierenfett im Überfluss besorgen. Es muss alles hochgeschafft und bis zur Morgendämmerung an seinem Platz sein. Ich trage jeweils 100 Pfund auf einmal in Mehlsäcken auf dem Rücken.
Es wird mühselig den steilen Hang durch den Wald hinauf, über das Eisstück. Jemand ist vor mir durch den Schnee gegangen. War es ein heimkehrender Jäger, der die Hütte im Herbst entdeckt hatte? Ich hatte einen Zettel auf den Tisch gelegt: »Fühlen Sie sich wie zu Hause, aber verlassen Sie die Hütte so, wie Sie sie vorgefunden haben. Danke.« Als ich letztes Mal fortging, beschwerte ich den Zettel mit einer 12Unzen-Büchse Meister Bräu. Die Büchse ist noch da, und eine andere steht daneben, eine Coors-Büchse. Frisch gewaschenes Geschirr glänzt im Becken. Der Kassettenrecorder funktioniert noch. Bis elf Uhr ist alles Nierenfett oben. Zufrieden krieche ich in meinen Schlafsack und decke mich noch mit zwei Decken und einem gegerbten Fell zu. Als ich im Morgengrauen aufwache, beträgt die Temperatur in der Hütte minus 12 Grad, draußen sind es minus 12,5 Grad. Die Sonne geht bunt leuchtend über dem Schnee auf. Doch bald ziehen von Osten Wolkenstreifen in den stillen Himmel. Ein Wetterumschwung kündigt sich an. Vielleicht wird es wieder schneien. Der Schnee auf den Bäumen ist festgefroren. Nichts bewegt sich an den 400 Pfund Nierenfett. Ich habe einen ausgestopften Raben aus dem Museum neben den Köder gesetzt, in der Hoffnung, die Vögel noch schneller herbeizulocken. Alles schweigt. Stunden vergehen. Dann, es ist fast zehn Uhr, landet eine einsame Krähe in einer Balsamtanne über dem Fetthaufen. Sie krächzt dreimal, bleibt 13 Minuten lang schweigend sitzen und fliegt dann fort. Eine halbe Stunde später entdeckt ein einsamer Blauhäher den Köder. Er ruft auch dreimal, bleibt dann schweigend abseits.
14. DEZEMBER. Samstag. Weiter Stille, mit Ausnahme eines neuen Tones – dem kaum hörbaren Flüstern fallender Schneeflocken. Seit dem gestrigen Spätnachmittag schneit es, die ganze Nacht hindurch und weiter am Morgen. Mehr als 30 Zentimeter sind bereits gefallen. Die weiß eingehüllten Nadelbäume zeichnen sich gegen den grauen Himmel ab, der Schnee hat sie in dicke Klumpen verwandelt, jeder Zweig lastet schwer auf dem darunterliegenden. Immer noch rieseln die Flocken sanft herab, manche bleiben auf den Zweigen, der Rest sinkt auf den Waldboden. Die ständige Abwärtsbewegung des Schleiers von Schneeflocken hypnotisiert mich. Wie können die Raben jetzt Futter finden? Am Nachmittag steigt die Außentemperatur, und die Wärme des Feuers in der Hütte lässt etwas Schnee auf dem Dach schmelzen. Bald entsteht eine Reihe Eiszapfen am Dachsims, die vor dem Fenster herunterwächst. Die Zapfen werden etwa 6o Zentimeter lang und hören dann auf zu wachsen. Wind ist aufgekommen, und innerhalb von zwei Stunden fällt die Temperatur von minus 6 auf minus 15 Grad. Der Wetterumschwung hatte sich durch ein sanftes Seufzen des Windes zwischen den Bäumen angekündigt, doch bald höre ich ein tiefes Stöhnen, das zu lautem Sausen wird, zu steigenden und fallenden Heultönen. Der Sturm brüllt und jault, reißt Schneekissen fort, verteilt sie und wirbelt sie wie Blätter durch die Bäume. Nackte Kiefernzweige flackern wie schwarze Flammen, die Föhren nicken, die Birken schwanken und schlagen mit ihren dünnen schwarzen Ästen um sich. Der Wind wirbelt in den Kamin, der Rauch kann nicht mehr abziehen, und schnell füllt sich die Hütte mit beißendem Qualm. Das zwingt mich, die
dicken, noch brennenden Holzscheite aus dem Ofen zu ziehen und draußen in den Schnee zu werfen. Ich hasse das, bei Temperaturen unter Null, und noch mehr, wenn es mitten in der Nacht passiert. Ich kann nichts tun, als fest in meinen Schlafsack eingewickelt am Fenster zu bleiben und weiterzubeobachten. Meine Aufmerksamkeit darf während eines Experimentes nicht abschweifen. In der Dämmerung um 16.3o Uhr hat die Kälte mich endgültig lethargisch gemacht, und ich gehe schlafen, mit Thermounterwäsche, einem dicken Pullover, zwei Hemden und Wollstrümpfen. Mein Schlafsack auf dem Boden ist mit zwei Decken bedeckt. Doch ich bleibe wach vor Kälte, die Temperatur sinkt weiter. Bevor es ganz dunkel wird, sagt mir das Thermometer, dass es in der Hütte minus 26 Grad sind. Ich lausche dem Heulen des Windes und spüre seine eisige Kraft selbst in der Hütte. Wie kann ein Vogel da draußen am Leben bleiben, überlege ich. Es ist erstaunlich genug, dass die Samenfresser sich warm halten können, doch was ist mit den Insektenfressern, Meisen, Kleibern, Amerikanischen Waldbaumläufern und Goldhähnchen? Es ist ein Wunder. Die Raben müssten sehr hungrig sein – zum einen hat der Schnee das Futter zugedeckt, zum anderen müssen sie wegen der Kälte mehr fressen. 15. DEZEMBER. Sonntag. Die Sterne am Morgenhimmel leuchten hell, die Wolken sind verschwunden, die Luft ist totenstill. In der Dämmerung höre ich einen Abendkernbeisser, das ist alles. Um 7.05 Uhr kommt ein Rabenpaar, wie erwartet. Doch es fliegt nicht zum Fressen herunter und verschwindet nach acht Minuten. Es kommt
heute fünfmal wieder. Es scheint nicht besonders aufgeregt zu sein, und es geht nicht zum Köder herab. Warum? Seltsam. Vor zwei Wochen, als man, verglichen mit heute, nicht von Futterknappheit sprechen konnte, hatte eine große Anzahl bereits wenige Stunden nach Entdeckung des Nierenfetts gefressen. Ist es möglich, dass sie irgendwie meine Anwesenheit in der Hütte bemerkt haben? Wenn das so wäre, müssten sie zu einem weiter entfernt liegenden Futter gehen. Das muss ich sofort testen, also deponiere ich einen zweiten Nierenfetthaufen im Wald, noch einmal so weit von der Hütte entfernt, und setze den ausgestopften Raben obenauf. 16. DEZEMBER. Montagmorgen, 9.01 Uhr. Ein Ereignis: Ein einzelner Rabe entdeckt den zweiten Futterhaufen. Dieser Vogel handelt so, als ob er aufgeregt wäre, fliegt umher und gibt viele Minuten lang hohe Krächzer von sich. Um 9.16 Uhr höre ich seine Rufe in der Ferne verhallen. Im Gegensatz zu vielen anderen Raben ist dieser Vogel extrovertiert und nicht vorsichtig. Ich sage voraus, dass er rekrutieren wird. So ist es. Um 11.05 Uhr höre ich Rabenrufe aus dem Wald. Mehrere Vögel sind in der Nachbarschaft. Es ist eine gute Gelegenheit, die Macht der Rekrutierungsrufe zu testen, also spiele ich zehn Sekunden lang mein Tonband ab. Zauberei! Innerhalb von 15 Sekunden kreisen fünf Raben direkt über der Hütte! Doch die Vögel bleiben nicht beim Köder, sie kehren in den Wald zurück, als ob sie sich verstecken wollten. Ich spiele das Band noch dreimal in den nächsten beiden Stunden, als ich keine Raben in der Nähe sehe, und jedes Mal werden Raben angezogen. Warum kommen sie nicht zum Fressen
herunter? Was zum Teufel passiert jetzt? Der ausgestopfte Rabe auf dem Köder funktioniert nicht als Lockvogel. Endlich kommt ein Vogel herunter, aber nicht zum Fressen, sondern um die Attrappe zu picken. Seltsam. Sehr seltsam. Könnte es sein, dass sie immer noch Angst vor mir in der Hütte haben? Während einer Pause, in der ich keine Raben sehe oder höre, springe ich heraus und setze einen Fleischhaufen noch weiter in den Wald hinein. Als ich eine Stunde später nachsehe, zeigen die Spuren im Schnee zu meiner Überraschung, dass hier ein Rabe nicht nur gelandet ist, sondern auch gefressen hat! Und kein Lockvogel war da, um ihn anzuziehen. Vielleicht habe ich sie doch abgehalten. Bei näherem Nachdenken, wenn ich meine früheren Vogelbeobachtungen analysiere, kann ich nicht glauben, dass sie Angst vor mir in der Hütte haben. Ich gehe so selten bei Tageslicht herein oder heraus und nur dann, wenn keine Raben in der Nähe sind. Vielleicht ziehen sie den dichten Wald dem Rand des Feldes vor? Wenn so etwas eine Rolle spielt – und ich es nicht weiß –, kann ich wohl kaum beginnen, relevante Antworten auf meine Experimente zu finden. VOR WEIHNACHTEN. Ich hielt bei einem Schafzüchter in Hinesburg, Vermont, wo ich vor etwa einer Woche zwei tote Schafe auf der Weide gesehen hatte. Sie waren in der Vorwoche von Kojoten getötet worden, sagte der Farmer und fügte hinzu: »Kojoten fressen ein Schaf in einer Nacht kahl und lassen nichts als Hufe und Knochen übrig.« Mag sein. Ich habe gelernt, sehr vorsichtig gegenüber solchen Aussagen zu sein, denn
die Aussage allein ist keine akzeptable Evidenz. Vor kurzem hielt ich bei der Müllhalde von Bethel/Maine und beobachtete das ungewöhnlichste Schauspiel, das ich je gesehen hatte. Etwa fünfzig Raben frassen zwischen Silber- und Mantelmöwen. Ich fragte einen der Einwohner, der gerade einen Lastwagen auslud, ob er hier schon zuvor einmal so viele Raben gesehen hätte. » Sicher. Sie sind das ganze Jahr hier.« Und als ich fortging, fügte er noch hinzu: » Wir nennen sie »Seemöwen.« Wenige Tage später, am 24. Dezember, fuhr ich nach Maine und schleppte zwei Schafe hoch. (Diesmal waren keine schwarzen »Seemöwen« an der Bethel-Müllhalde, als ich vorbeifuhr.) Der tiefe Schnee machte den Weg bergauf reichlich anstrengend. Ich häutete eines der Schafe, schnitt es auf und ließ es tief im Wald und nicht am Feldrand, mindestens 150 Meter unterhalb der Holzhütte. Das andere brachte ich als Reserve hinauf nach Kaflunk. Ich deckte es mit einem alten Teppich zu, damit es die Kojoten nicht auffressen könnten, und fuhr wieder zurück, um den Weihnachtsabend mit der Familie zu verbringen. Ich war froh, dass ich spät nach der Weihnachtsfeier zurückkommen konnte. Es war eine kalte, stockdunkle Nacht. Meine Familie hatte erklärt: »Gott sei Dank müssen wir da heute Nacht nicht mehr hinaufklettern.« Die körperliche Anstrengung wurde für mich mehr als kompensiert durch den Gedanken, dass ich am nächsten Morgen etwas über Raben erfahren könnte. Diesmal möchte ich nicht von Kaflunk aus beobachten, obwohl das warme Feuer dort eine große Versuchung ist. Ich bin immer noch nicht sicher, ob die Vögel letztes
Mal das Fressen verweigerten, weil sie Angst vor der Hütte hatten. Oder konnten sie riechen, dass ich dort war? Um diese erste Möglichkeit zu testen, hatte ich Fleisch weniger als fünf Meter von der Hütte entfernt ausgelegt. Das war jetzt verschwunden, und als ich den Neuschnee wegschob, fand ich auf dem alten Schnee darunter eine Fülle von Rabenkot verstreut – akzeptable Evidenz, dass die Raben hier gefressen hatten. Also scheinen sie doch keine Angst vor der Hütte zu haben, doch ich glaube immer noch nicht, dass das stimmt. 25. DEZEMBER. Der Morgen ist sehr neblig, und ich beginne meine Wache gegen sieben Uhr, als es hell wird. Durch den dichten Nebel höre ich die Quorks von zwei Raben, danach aufgeregte, hohe, seltsam klingende Rufe. Dann ist es völlig still. Der Nebel steigt, und es fängt an zu regnen. Ein Rabe fliegt während dieser Sintflut vorbei, kurvt über dem Schaf und segelt in einem Zwei-Meilen-Umkreis darüber, wobei er mit hohen Quorks ruft. Wird er andere herbeiholen? Eine halbe Stunde später wird der Regen zu einem Schneesturm, einem besonders schweren. In einer weiteren halben Stunde wird das Schaf völlig eingeschneit sein. Es hat jetzt keinen Zweck zu beobachten, so bedecke ich es wieder mit dem Teppich und kehre nach Kaflunk zurück. Und dort, direkt vor der Türstufe, sind in meinen eigenen Fußspuren frische Rabenspuren! Der menschliche Geruch um diese Hütte hat den Vogel nicht abgehalten. Zwei meiner Sorgen sind fast verschwunden. Vielleicht war es der Rauch aus dem Kamin, der sie letztes Mal abgehalten hat? Ich muss ohne Feuer auskommen, bis ich das herausgefunden habe.
26. DEZEMBER. In der Nacht war es sehr kalt. Die Temperatur in der Hütte fiel auf minus 23 Grad. Ich verkroch mich ganz tief in meinen Schlafsack, als ob ich überwintern wollte. Die Kälte ließ die Uhr langsamer gehen, mindestens um eine halbe Stunde, und so wachte ich erst um 7..10 Uhr auf, als es schon hell war. Ich war beunruhigt, denn eines meiner geplanten Experimente sollte zeigen, ob dem massenweisen Erscheinen von Raben individuelle Entdecker vorausgehen. Da ein Entdecker schweigend vorbeifliegen kann, muss ich ständig auf der Lauer sein. Zehn fehlende Sekunden können ein Experiment von zwei Wochen verderben. Dies ist ein Fehler, und ich bin wütend auf mich selbst. Doch ich bin in wenigen Minuten angezogen und renne durch den Schnee, um das Schaf aufzudecken. An diesem Tag flog dreimal ein Rabe vorüber. Obwohl das Schaf tief im Wald liegt, machte er keinen Versuch zu fressen. Statt dessen pickte er eine halbe Stunde an dem vertrockneten alten Wildskelett herum, das mitten in der Lichtung aus dem Schnee ragte, direkt vor der Hütte. Dies beweist etwas: Die Vögel haben nicht gezögert, herunterzukommen und von dem Schaf zu fressen, weil ich in der entfernten Hütte war (gewöhnlich beobachte ich durch Ritzen in den noch nicht abgedichteten Außenwänden oder durch einen Spion im Fenster). Haben sie Angst vor dem Köder? Aber warum? Am späten Vormittag überwältigt mich schließlich die Kälte. Ich haste nach Kaflunk hinauf, um Feuer und einen heißen Kaffee zu machen. Eine Überraschung erwartet
mich. Vier Raben fliegen hoch, rund um die Hütte sind Spuren. Die Vögel sind tatsächlich bis auf einen Meter an die Hütte herangekommen. Sie waren still gewesen. Ich werde jetzt gut Holz auflegen, damit eine dicke Rauchfahne aus dem Kamin kommt. Wird das die Vögel abhalten zurückzukommen? Als ich am Abend heimkehre, nachdem ich ein prächtiges Feuer hinterlassen habe, finde ich keine neuen Rabenspuren um das Camp. Ich schließe also durch Eliminieren, dass es der Rauch sein muss, der die Vögel abhält. Ich bin zufrieden mit mir als Detektiv, aber nicht mit den Schlussfolgerungen. 27. DEZEMBER. Um 7.15 Uhr fliegt ein Rabe vorüber. Er ist aufgeregt und macht hohe Quorks. Der Schafskadaver vor Kaflunk ist entdeckt worden. Der Rabe fliegt in großen Kreisen mehrmals über das Tal, auf den Mount Bald und Garnmon Bridge zu, ununterbrochen ertönen seine hohen Quorks. Keine Schreie. Seltsam. Er frisst nicht. Keine anderen Vögel kommen. Ich glaube, dass diese Tage nichts bringen, mit einer Ausnahme – ich habe herausgefunden, dass die Vögel tatsächlich Angst vor »seltsamen« Ködern haben. 28. DEZEMBER. Der vierte Tag. Keine Raben in der Dämmerung. Ich mache Feuer und überlege, ob ich noch einen Tag dranhängen soll, als ich um 9.16 Uhr in der Ferne hohe Quorks höre. Wenig später kreisen zwei Raben in der Nähe. Dann beginnt der Lärm. Zuerst hört man insgesamt 46 hohe Triller. Dies ist höchst ungewöhnlich. Um 9.24
Uhr beginnt ein Rabe von dem Schaf zu fressen, ein zweiter schließt sich ihm unmittelbar an. Beide sind still, bis sie um 9.47 Uhr mit Fressen aufhören. Aus dem Wald höre ich bald drei weitere Triller und dann siebzehn hohe Schreie. Warum schließen sich diese Vögel nicht dem Fressen der zwei an? Später sitzt einer der beiden Vögel in der großen Birke, die nahe bei der Hütte steht, und singt mit wilder Hingabe — es ist eine Mischung aus Grunzen, Stöhnen, Gurgeln, Seufzen, Kreischen, Schreien und Krächzen mit allen Zwischentönen. Nach einer halben Stunde höre ich dieses Repertoire nicht mehr, nur gelegentliche Schreie. Und ich höre an diesem Morgen keine Klopfgeräusche. Ich fühle, dass jetzt etwas geschehen wird und dass ich bleiben muss, um es herauszufinden. Wieder einmal sind diese Beobachtungen nicht nur unergründlich, sie scheinen auch allen meinen Hypothesen zu widersprechen! Beobachten. Träumen. Staunen. Dort, zwischen den Fichten am Waldrand, etwa so Meter entfernt, steht, stockstill und den Blick auf mich gerichtet – ein Kojote! Er sieht aus wie ein hellbrauner deutscher Schäferhund. Er guckt mehrere Minuten lang und verschwindet dann im Wald. Ein Rabe kreist oben und krächzt energisch. Ich kann nicht feststellen, ob der Kojote von den Rabenschreien oder dem Geruch des Fleisches angezogen wurde. (1ch prüfte später den Schnee um das andere, nicht beobachtete Schaf, an dem keine Raben frassen – der Kojote war nicht dagewesen.) Es könnte die Raben teuer zu stehen kommen, wenn sie mit ihrem Lärm in der Nähe des Futters räuberische Säugetiere anziehen. Allerdings – während der letzten sechs Wochen gab es hier sechs Schneestürme, und jeder hätte den Köder zudecken können.
Ein Kojote würde sich auch durch den tiefsten Schnee nicht abschrecken lassen. Er würde das Fleisch ausgraben. Raben könnten das vermutlich nicht. Es scheint mir logisch, dass die Raben Kojoten brauchen, um Beute zu töten, zu öffnen und freizulegen. Ich nehme an, dass Raben in diesen Winterwäldern auf fleischfressende Raubtiere angewiesen sind. 29. DEZEMBER. Schon in der Dämmerung kann ich hohe Quorks hören. Vier Raben erscheinen gleichzeitig, und jetzt höre ich drei Serien von Klopfgeräuschen aus dem Wald. Dann ist es ruhig. Nach 23 Minuten kommen zwei Raben zusammen herab, zwei weitere folgen ihnen schnell. Es gibt eine Menge Schreie, aber diesmal keine Triller. Nach einer Woche im Wald bin ich nicht klüger geworden. Manchmal rekrutieren sie, manchmal nicht. Wie viele Variablen gibt es?
Sind Raben Falken oder Tauben? Es mag müßig sein, sich darüber Gedanken zu machen, ob einzelne Vögel oder Gruppen das Futter entdecken, oder darüber, welche verschiedenen Vögel zu welcher Zeit an einer Futterstelle sind, wie lang sie bleiben, ob sie zurückkommen oder nicht, ob sie rufen, kämpfen oder auch nicht. Doch die Antworten sind relevant für die wichtigeren Fragen, ob Teilen zusätzlich zum Rekrutieren erfolgt oder nicht und welche Mechanismen möglicherweise die Evolution des Teilens bewirken. Es geht um das Thema, ob bei einem Köder versammelte Raben eine soziale Gruppe sind. Wenn dies so ist, müssen die Theorien, dass Vögel nur ihren Verwandten (Sippenselektion) oder denen, die ihnen helfen (reziproker Altruismus), helfen, näher geprüft werden. Falls die Vögel keine sozialen Bindungen eingehen, dann sind beide Theorien strittig, und andere verdienen stattdessen unsere Aufmerksamkeit. Es ist jedenfalls möglich, dass ein Rabe, der weder Freunde noch Verwandte besitzt, durch Kooperation Vorteile hat. Ein Weg, dieses Problem anzugehen, wäre der Vergleich mit dem »Gefangenendilemma«. Diese Entscheidungstheorie von Spieltheoretikern und Politologen konstruiert eine hypothetische Situation, in der zwei angeklagte Kriminelle, die sich nie wieder treffen werden, ein Geheimnis über ein von ihnen begangenes Verbrechen teilen. Jeder bekommt einmal die Möglichkeit, zu gestehen und den anderen zu belasten, mit der Chance einer leichteren Strafe für sich selbst und einer schwereren für den Beschuldigten. Wenn keiner der beiden redet, könnten sie möglicherweise beide
frei ausgehen. Soll einer dem anderen vertrauen und auf die Freilassung hoffen? Oder sollte er »petzen« und auf ein für ihn günstiges Urteil spekulieren? Analog auf den Fall der Raben angewandt, begünstigt »singen« den anderen und wird zum Gegenteil von »petzen«? Treffen sich zwei Raben, könnte der eine sich entschließen, dem anderen mitzuteilen, wo ein Kadaver ist, in der Hoffnung, dass dieser andere sich mit einem Kadaver, den er kennt oder finden wird, revanchiert. Durch Teilen würde jeder langfristig zu mehr Futter kommen, während das Schweigen den sofortigen Vorteil hat, den Kadaver für sich allein zu behalten. Man muss natürlich im Verhaltensmuster oder der »Strategie« von Raben und anderen Tieren nicht irgendwelche Gedanken, Planungen oder Bewusstsein voraussetzen. Das Verhalten könnte bewusst oder geplant sein, aber es könnte auch eine rationale Reaktion nachahmen, weil Tiere, die so reagieren, sich zahlreicher fortgepflanzt haben als solche mit alternativen Reaktionen. Das endgültige Ergebnis beruht auf mathematischer Wahrscheinlichkeit, doch wir sehen nur das Ergebnis und müssen die Gleichung, die es zustande brachte, lösen. Wo ein Verhaltensprogramm mit einem anderen im Wettstreit steht, ist nach Meinung einiger Theoretiker langfristig Verrat die einzige Lösung für das Dilemma des Gefangenen. Die Situation ändert sich, wenn wir Population versus Individuum als die Einheit betrachten, der wir dienen oder von der wir Gutes erhoffen. In einer Welt mit sehr wenigen Kadavern oder anderen Leckerbissen, die leicht unter einer gewissen Zahl von Individuen zu teilen sind, wäre es für jeden einzelnen Raben von Vorteil, wenn alle
Raben auf »Nettsein« und Teilen programmiert wären. Tatsächlich wäre es nicht schwer, nett zu sein, wenn die Kadaver ohnehin von fleischfressenden Raubtieren weggefressen würden. Aus der Perspektive der Population würde es für Raben enorm viel Sinn machen zu teilen; mit welcher Begründung sollte man also annehmen, dass die Evolution die Individuen nicht dafür gemacht hat? John Maynard Smith, ein Verhaltensforscher an der University of Sussex, formalisierte dieses Argument 1974 mit der berühmten Analogie »Taube-Falke« in seiner Theorie über evolutionär stabile Strategien. Nach dieser Analogie kann ein Tier entweder ein »Falke« (definiert als einer, der stets Beschädigungskämpfe führt, bis er entweder gewinnt oder ernsthaft verletzt wird) oder eine »Taube« (einer, der nur Kommentkämpfe führt und sich zurückzieht, wenn sein Gegner ernsthaft zuschlägt) sein. Die Bewerber, die um das Futter streiten (oder um etwas anderes), kennen die Strategie des anderen vorher nicht, Falken und Tauben sehen gleich aus. Das Individuum sollte offensichtlich ein Falke sein, wenn die Chancen, eine Taube zu treffen, groß sind, denn die Gefahr von Vergeltung wäre gering. Wenn dagegen die Wahrscheinlichkeit, einen Falken zu treffen, groß ist, wäre es das Beste, eine Taube zu sein, um wahrscheinliche Verletzungen zu vermeiden. Da der relative Wert jeder Strategie von der Häufigkeit der Begegnungen abhängt, können weder Falke noch Taube lange für sich existieren. Gibt es zum Beispiel viele Tauben, werden die Falken große Vorteile genießen, weil sie sich selten beim Angriff verletzen und ihre Gegner gewöhnlich unterliegen. Gibt es umgekehrt viele Falken, treffen sie häufig aufeinander und werden oft getötet oder verletzt; Tauben, die sich
nicht unbedingt vor ihresgleichen, aber gewöhnlich vor Falken ducken, haben den Vorteil, bei einer Begegnung nicht getötet oder verletzt zu werden. Deswegen ist langfristig die evolutionär stabile Strategie eine »rationale« (mathematische) Strategie, neben der es keine andere Strategie gibt, die dem, der sie anwendet, eine größere Fitness im Sinne Darwins verleiht – eine Strategie, die das Bestehen beider Verhaltensweisen in der Population erlaubt, und zwar in einer Häufigkeitsverteilung, in der Kosten (Verletzung oder Tod) und Nutzen (Lohn aus dem Gewinn eines Wettkampfs) einen Kompromiss erreichen, der letztendlich die Fortpflanzung maximiert. Wie im Gefangenendilemma treffen in der Tauben-Falken-Analogie von John Maynard Smith die zwei Individuen nur einmal aufeinander. Langfristige Folgen sind nicht zu bedenken, keiner der potentiellen Partner weiß vorher, ob das Individuum, das er treffen wird, ein Falke oder eine Taube sein wird. Wenn ein Protagonist weiß, dass er einer Taube gegenübersteht oder stehen wird, sollte er sich immer als Falke verhalten, so wie ein Rabe, der einem Nicht-Reziprokator (= einer, der nicht zu Gegendiensten bereit ist), begegnet, nie teilen sollte. Die Frage, ob Raben Falken oder Tauben sind (also Nichtteilende oder Kooperierende), könnte ganz anders geklärt werden, wenn die Tiere regelmäßig interagierten, sich gegenseitig erkennen und erinnern könnten, wie der andere sich früher verhalten hat. Dass Raben einander als Individuen erkennen können und ein langes Gedächtnis haben, ist kein Streitpunkt. Viele Vögel, vor allem Corviden, haben bewiesen, dass sie einander erkennen können und ein gutes Gedächtnis haben. Wenn sich also, wie angedeutet, Raben in Banden oder Gruppen zusammenschließen,
sind zumindest die Vorbedingungen für reziprokes Verhalten erfüllt, denn einer könnte für eine gewährte Gunst eine Gegenleistung bekommen. Robert M. Axelrod, Politologe an der University of Michigan, schrieb 1984 ein Buch über gegenseitige, nicht verwandtschaftlich bedingte Mechanismen des Teilens, Die Evolution der Kooperation. Er untersuchte die Ergebnisse, die aus verschiedenen hypothetischen Strategien, die Wettbewerber benutzen könnten, entstehen, und testete dann die Strategien, nicht mittels Evolution, wie es normalerweise in der Natur geschieht, sondern durch Computergefechte, in denen eine Strategie mit der anderen konfrontiert werden konnte. Der Computer würde den Überlebenden bestimmen oder die »beste« Strategie, die bei dieser Selektion siegte. Er testete fünfzehn Strategien, die verschiedene Spieltheoretiker vorgelegt hatten, und nachdem sich ein »Überlebender« gezeigt hatte, kündigte er einen zweiten Wettstreit in Fachzeitschriften und Computermagazinen an und berichtete den Mitspielern von den Ergebnissen der ersten Runde. Der bisherige Sieger wurde mit 63 weiteren Programmen herausgefordert, und die Computer machten einen zweiten Durchlauf. Die siegreiche Verhaltensstrategie, vorgelegt von Anatol Rappoport von der University of Toronto, war folgende: (Anfangs) automatisch kooperieren (teilen), im Zweifelsfall dem anderen den Vorteil geben und dann immer den letzten Schritt des anderen nachmachen. In dieser tit-for-tat-Strategie (wie du mir, so ich dir) brütet Kooperation sich selbst aus. Es ist weder eine Falken- noch eine Taubenstrategie. Es ist beides. Obwohl ein täubisches Individuum bei der ersten Begegnung in Bedrängnis kommen könnte,
wird es von demselben Falken nie zweimal geschädigt. Die Botschaft heißt, dass »Nettsein« weit erfolgreicher ist, als »gemein« zu sein. Entsprechend der Computersimulation der »gemeinsten« gegen die »netteste« aller möglichen Strategien, sind die Netten am erfolgreichsten, wenn sie prompt Vergeltung üben, aber sich nicht zu lange (nachtragend) erinnern, und wenn sie nie versuchen, Vorteile zu erlangen, indem sie den anderen austricksen. Verhalten sich so die Raben? Vielleicht. Doch das Ganze funktioniert nur, wenn sie 1. wiederholt als Individuen interagieren, 2. einer den anderen identifiziert und sie 3. ein langes Gedächtnis haben, das mindestens so weit zurückgeht, als das Individuum einem potentiellen Reziprokator einen Kadaver zeigte. Das scheint viel gefordert, sogar für einen Raben. Ein Problem (zumindest für mich) mit Reziprozität und tit-fortat als Mechanismen für das Teilen von Kadavern bei Raben liegt darin, dass die Gelegenheiten zum Austausch eher selten vorkommen, weil Kadaver so rar sind. Selbst wenn Raben Gruppen bilden, kann es mehr als ein Jahr dauern, bis ein Rabe, der einen Gegendienst erweisen möchte, einen Kadaver findet. Die seltene Gelegenheit des Austausches macht die Unsicherheit, genetische Reziprokatoren von Nicht-Reziprokatoren auf Eins-zu-Eins-Basis zu unterscheiden, noch größer. Es gäbe eine Möglichkeit, wenn verwandte Vögel (die sich gegenseitig kennen können oder nicht) zusammenblieben. Bei solcher Genarithmetik ist es fast gleich, ob man Verwandten oder sich selbst hilft. Doch Raben brüten einsam (siehe die späteren Kapitel), und die Jungen verstreuen sich. Nach allem, was ich bisher beobachtet habe, scheinen bei Raben langfristige Verbindungen zwischen Verwandten
ziemlich unwahrscheinlich. Kooperation ist ein sehr unsicheres Konzept. Es hängt vom Ausmaß der Population der potentiell kooperierenden oder »netten« Individuen ab, die man einbezieht, und von der Verzögerung oder Ungewissheit, die bei Gegenleistungen tolerabel sind. Dies ist so vage, dass ich mit mathematischem Zahlenmaterial – präzisem oder anderem – bei der Bestimmung des Gleichgewichts, welcher Situation auch immer, skeptisch umgehe. Raben könnten vielleicht eine »hoffnungsvolle Reziprozität« besitzen ohne die komplexen Voraussetzungen direkter Reziprozität. Dieses Modell basiert auf der Beobachtung menschlichen Verhaltens. Ich habe festgestellt, dass mich völlig fremde Autofahrer in relativ dünn besiedelten Regionen anblinken, wenn die Polizei ihre Radarfalle an einem geraden Autobahnabschnitt aufgestellt hat. In der Nähe der Städte warnt keiner. Ich meinerseits blinke auch andere Autofahrer an. Vielleicht bin ich »nett«, weil es nichts kostet und der Vorteil, gleichgesinnte Leute zu warnen, groß ist (das heißt, man behält seinen Führerschein und verliert ihn nicht). Dies lässt sich vielleicht auf Raben anwenden. Wenn ein Rabe fast nichts aufgibt, wenn er ein besonders gutes Futter teilt und dadurch nur eine kleine Chance erhält, dass sich ein anderer Vogel revanchiert, wenn er wiederum hungrig ist, dann mag diese schiefe Kosten-NutzenRegel die Entwicklung von Teilen fördern oder erleichtern. Die Größe einer Gemeinschaft oder »Gruppe«, aus der der Reziprokator kommen kann, ist dazu weniger eine Sache des Verwandtschaftsgrades als eine Frage der äußeren Bedrohung. Die USA und die UdSSR wären sofort Freunde und Partner, wenn akute Gefahr von Fremden aus dem All
drohen würde. (Wie steht es mit der Gefahr der Überbevölkerung und den Umweltschäden? Ist diese Bedrohung nicht groß genug?) Doch solche Bedrohungen sind jenseits der Erfahrungen und der natürlichen Selektion. Eine Drohung einigt nur, wenn sie richtig wahrgenommen wird. Sind Raben intelligent genug, um zu erkennen, dass eine gemeinsame Bedrohung durch Hunger mit Kooperation bewältigt werden kann? Diese Möglichkeit darf nicht außer acht gelassen werden. Aber ohne andere Evidenz und nur mit den begrenzten Möglichkeiten eines Lebens würde ich die plausibelste (oder leichteste) Hypothese zuerst erforschen und die am wenigsten wahrscheinliche zuletzt. Also sind die Hypothesen von Sippenselektion und reziprokem Altruismus noch nicht ausgeschieden, doch sie scheinen vage. Aber keine der anderen plausiblen Ideen, mit denen ich aufwarten kann, hat viel für sich. Gibt es also etwas völlig Unerwartetes bei Raben?
Die Intelligenz der Raben Von den altnordischen Sagen, wo Raben als Boten der Götter galten, und den Ureinwohnern Amerikas, die den Raben als allwissenden Gauner und Gott verehrten, bis zu Konrad Lorenz hielt man den Raben für den intelligentesten Vogel der Welt. Die Vorstellung von der Intelligenz (also bewusster Voraussicht oder Einsicht) des Raben im Vergleich zu der anderer Vögel wird von W. A. Montevecchi zusammengefasst, einem Verhaltensforscher, der Raben in einer Kolonie Silbermöwen, über die er forschte, beobachtet hat. Er erzählte mir, dass die Möwen, verglichen mit den Raben, sich wie »Gemüse« verhielten. Doch trotz der vorherrschenden Übereinstimmung gibt es überraschenderweise wenig objektive Beweise, dank derer man die Intelligenz der Raben mit der anderer Corviden vergleichen könnte. Nach Durchsicht der Literatur finde ich bestätigt, dass bisher kein Beweis der besonderen Intelligenz der Raben vorgelegt wurde. Tatsächlich sind viele der überlieferten Anekdoten, die diese Intelligenz zeigen sollen, nur aussagefähig, wenn man Intelligenz schon voraussetzt. Die Alten hielten Raben für allwissend. Thukydides schreibt ihnen sogar den Scharfsinn zu, keine durch eine Seuche gestorbenen Tiere zu fressen. (Er sagt nicht, ob aus anderen Gründen gestorbene Tiere ebenfalls nicht sofort gefressen werden.) Ähnliches schrieb der große römische Naturforscher Plinius als Beispiel für die große Erfindungsgabe des Raben nieder: Ein Rabe sah Wasser auf dem Boden einer enghalsigen Vase, und um daran zu kommen, warf er Kieselsteine in die Vase, bis der Wasserspiegel stieg und er
trinken konnte. Wenn der Vogel wirklich wusste, was er tat, könnte man dieses Vorgehen tatsächlich intelligent nennen. Aber es scheint auch möglich, dass der Vogel einfach in der Nähe liegende Gegenstände im Krug versteckte. Er trank, als dann das Wasser wunderbarerweise in Reichweite war. Würde er auch schwimmende Objekte hineinwerfen? Oder Steine, wenn er nicht durstig wäre? Thukydides lebte im 5. Jahrhundert v. Chr. Etwa 2400 Jahre sind vergangen, und meines Erachtens muss der simple Beweis für diese Aussage immer noch erbracht werden. Die Intelligenz der Raben wird gemeinhin angenommen, wenn Raben im »Team« arbeiten. P.J. Johnson aus Whitehorse, Yukon Territory, der in einer erfolgreichen Kampagne den Raben zum Vogel des Territoriums machte, schrieb mir: »Es ist spannend, [den Raben] zuzusehen, wie sie die Huskys beklauen. Oft arbeiten ein oder mehrere Raben zusammen. Einer lenkt die Aufmerksamkeit des Hundes ab, indem er sich genau dorthin setzt, wo er ihn am Ende seiner Hundeleine ärgern kann. Dies funktioniert als wunderbare Ablenkung, während der Partnerrabe sich vergnügt auf das Fressen des Hundes stürzt und sich satt isst.« Ähnliche Geschichten von Raben versus Huskys und viele andere Tiere sind Legion. Doch damit wird weder bewiesen noch widerlegt, dass Raben bewusst und gezielt zusammenarbeiten, planen und bestimmte Strategien ausführen. Mehrere Raben können sich einfach versammeln, nur weil sie zufällig das gleiche Futter sehen. Vielleicht lenkt ein Vogel tatsächlich das Raubtier ab, doch ohne die bewusste Absicht abzulenken. Einer oder mehrere andere nutzen dann die sich bietende Gelegenheit. Keines dieser Beispiele ist akzeptable Evidenz zum Beweis der
Intelligenz. Ein veröffentlichtes Beispiel für angenommenes »überlegtes Verhalten« betrifft einen Raben auf Mäusejagd. Der Vogel saß über einem schneebedeckten Platz, »glitt dann langsam herunter, sprang beim Landen sofort mehrmals umher und behielt die Schwingen dabei über seinem Kopf«. Nach diesem kurzen Springmanöver kehrte er sofort auf seinen Sitz zurück und studierte den Platz, von dem er gerade gekommen war. Dies tat er mehrmals ohne offensichtlichen Erfolg, bevor er wegflog. Trotzdem hatte das Springen mehrere Wühlmaustunnel zerstört, und »man konnte nur schließen, dass dieses spezielle Vorgehen ein bewusster Versuch war, Mäuse aus ihren unterirdischen Verstecken zu verjagen«. Es gibt natürlich eine andere, plausiblere Erklärung. Wie ich gezeigt habe, springen Raben routinemäßig in der dargestellten Art über fast jedem unbekannten Objekt oder über einem Köder, und dies ohne Bezug auf Schnee oder Tunnel im Schnee oder zu verscheuchende Beute. Der Ornithologe Thomas Nuttall beobachtete, dass Raben Nüsse und Schalentiere mit in die Luft nehmen und auf Felsen fallen lassen und dass dies »Tatsachen sind, die glaubwürdige Männer beobachtet haben«. Aber ist dieses Verhalten der besonderen Schlauheit der Raben zuzuschreiben? Dieses Phänomen ist auch für Vögel wie Krähen und Möwen gut dokumentiert, die weniger intelligent sind. Bent beschreibt Raben, die mit Tannenzapfen und anderen Objekten spielen, sie fallen lassen und dann spielerisch jagen. Vielleicht pickt ein Vogel ursprünglich einen Gegenstand auf, von dem bekannt ist, dass er Futter enthält, und
lässt ihn dann fallen – weil er frustriert ist oder weil es ihm zu lästig ist, ihn zu tragen. Mit Glück kann das Objekt eine Felskante treffen und der Vogel dann entdecken, dass wunderbarerweise Futter herauskommt. Vögel sind bekannt für ihr gutes Gedächtnis, und solche Ergebnisse können sicher die Erinnerung stärken, ohne dass Intelligenz dazu nötig ist. Natürlich ist es durchaus möglich, dass eine Spezies den ganzen Versuchs-undIrrtums-Prozess durch direkte Einsicht oder Intelligenz abkürzen kann. Die Bedeutung des Wissens durch die Einsicht, dass man die Schale aus einer gewissen Höhe auf einen harten Felsen werfen muss, damit die Schale aufbricht, ist offensichtlich. Aber ob ein bestimmtes Verhalten auf Intelligenz beruht oder nicht, das kann daraus nicht abgeleitet werden. Zwei einzelne Beobachtungen von Raben, die Gegenstände auf menschliche Nesteindringlinge und auf brütende Vögel werfen, sind als Gebrauch von Werkzeug betrachtet worden. Doch Corviden hämmern in der Regel auf Gegenständen in ihrer Nähe herum, wenn sie frustriert oder wütend sind, und lose Teile und Stückchen könnten dabei ganz einfach dem Gesetz der Schwerkraft gehorchen. In einem Beispiel, das vorgibt, den intelligenten Einsatz von Steinen durch Raben zu zeigen, lockerte ein Rabe auf der Spitze einer Klippe Felsstücke mit seinem Schnabel. Die Brocken fielen auf die Eindringlinge, die zu dem darunterliegenden Nest kletterten. Dieses Verhalten stimmt völlig mit dem überein, was nach meinen Beobachtungen Raben in Vermont und Maine routinemäßig tun, wenn ich mich ihren Nestern in Bäumen nähere. (Bei einigen Nestern sind beide Eltern still und fliegen fort, wenn sich ein Mensch nähert,
bei anderen fliegen beide herum und rufen; in wieder anderen bleibt nur das Männchen, um Zorn und Frustration über die menschlichen Eindringlinge auszudrücken.) Bei einem Nest in Maine, wo das Weibchen routinemäßig fortfliegt, wenn man sich nähert, scheint das Männchen vor Wut zum Berserker zu werden. Bei mehreren Gelegenheiten, in denen ich während der letzten drei Jahre diesem Nest näher kam, war es immer dieselbe Reaktion. Das Männchen macht rauhe zornige Krächzer, stößt noch andere Alarmrufe aus und hackt mit ungeheurer Kraft auf den Ast, auf dem es gerade sitzt. Während es zornig knurrend weiterruft, schnappt es nach allen Zweigen in seiner Nähe und bricht sie ab. Es regnet also nur so Zweige und Blätter, doch ohne Bezug auf die Position des Eindringlings. Dank der vielen Bäume gibt es ausreichend Sitzplätze für Raben, und bis jetzt wurde noch niemand von den herabfallenden Zweigen getroffen. Wenn man auf den Nistbaum klettert und die Kraft dieser Reaktion spürt, kann man sich über die Stärke und Entschlossenheit des Vogels nicht täuschen. Doch man hat nicht das Gefühl, dass dies mit dem Kopf geschieht, sondern der Eindruck drängt sich auf, dass hier ein Besessener handelt. Jedem Protest der Jungen (als wir sie markierten) folgten verstärkte Angriffe auf jeden Zweig in Reichweite des väterlichen Schnabels. Das ist kein Hinweis auf bewussten Gebrauch von Werkzeug – vermutlich kommt das dem Vogel genauso wenig in den Sinn wie einem Rasenden, der aus Wut oder Schmerz seine Einrichtung zertrümmert. Wenn dieser Rabe auf einem Felsen und nicht auf Bäumen nisten könnte, würde er seinen Zorn zweifellos an dem Stein zu seinen Füssen auslassen. Da muss man keine Strategie voraussetzen.
Viele Deutungen des Rabenverhaltens sind von der Voraussetzung seiner Intelligenz eingefärbt. Der Zoologe Donald Griffin trägt einen bezwingenden und kaum widersprochenen Fall von bewusster Nutzanwendung vor, und die detaillierten Beobachtungen des deutschen Verhaltensforschers Eberhard Gwinner zeigen, auf wie verschiedene Weise Raben ihre Jungen vor extrem heißen und kalten Temperaturen schützen; das sieht sehr danach aus, als ob die Vögel wissen, was sie tun. Doch in der bisher vorliegenden Literatur scheint die Intelligenz des Raben bisher wenig erforscht. Seine Vettern, die Häher und Krähen, haben allerdings hohe Noten für Intelligenz erhalten. Zum Beispiel benutzte die Sundkrähe, C. caurinus, ein Stöckchen, um die Schale einer Erdnuss zu knacken. Ähnlich sind gewöhnliche Blauhäher, Cyanocitta cristata, geschickt in der Benutzung von Werkzeug, um an Futter zu kommen. Eine Neukaledonische Krähe, C. manaduloides, benutzte einen Zweig, um in einen hohlen Stengel zu bohren. Gefangene Saatkrähen, C. frugilegus, waren imstande, die richtigen Löcher zu verstopfen, um Trinkwasser zu erhalten. Doch vielleicht sind Gebrauch von »Werkzeug« und »Intelligenz« etwas dehnbare Begriffe. Es gibt auch Berichte über Krähen, die Autos als »Nussknacker« benutzen, und von Hähern, die die Zweige, auf die sie Körner zum Ausklopfen legen, als »Amboss« verwenden. Eine kritische Studie über die Amerikanische Krähe, C. brachyrhynchos, entdeckte bei Laboratoriumsexperimenten diesen Vogel jedoch nicht als Genie. Er zeigte vielmehr ein Verhalten, das »vergleichbar mit dem von Tauben, Ratten und Affen« war. Diese Tests hätte ich allerdings auch nicht besser geschafft. Mein persönlicher Eindruck ist, dass Raben tatsächlich sehr intelligent
sind, weil viele ihrer Handlungen Bewusstheit vermuten lassen. Doch Eindrücke sind keine Evidenz. Die folgenden beiden Anekdoten scheinen mit den Begriffen von bloßem Lernen oder blinden Reiz-Reaktions-Mechanismen schwer zu erklären. Die erste handelt von einem Rabenpaar, das ich beim Vertilgen eines großen Stück Nierenfetts aufscheuchte. Die gewöhnliche Prozedur von Raben, Krähen, Blauhähern, Spechten, Meisen und Tannenhähern ist es, mundgerechte Portionen zu nehmen, indem sie heraushängende Streifen oder Fetzen abreißen. Einer der Raben dagegen, den ich an einem großen gefrorenen Stück Nierenfett beobachtete, hatte an einer Stelle eine sieben Zentimeter lange und mehr als einen Zentimeter tiefe Furche herausziseliert. Mit mehr Zeit hätte er auf diese Art sicherlich ein viel größeres Stück als mit bloßem Picken bekommen. Das wegzupicken, was sofort erreichbar ist, reicht allen anderen bisher erforschten Vögeln völlig aus. Warum also nicht den Raben? Man könnte sagen, dass der Vogel es leichter fand, Happen aus einer Rille zu holen. Doch das ist eine fragwürdige Erklärung, wenn kleine Fettstückchen lose am Rand der Rille hängen. Hat der Vogel bewusst geplant, ein größeres Stück zu bekommen? Die zweite Anekdote dreht sich um das Versteckverhalten von zwei frei lebenden Rabenpaaren. Zunächst hackte ein einzelner Vogel (später begleitet von seinem Gefährten) Fleischstückchen von einem gefrorenen Kadaver und stapelte sie auf einen Haufen direkt neben sich, etwas was ich bei keinem anderen Vogel gesehen habe. Nachdem der Rabe einen Haufen von fast 40 Kubikzentimetern angehäuft hatte, füllte
er seinen Kehlsack mit noch mehr Fleisch von dem Kadaver, nahm dann alle Stücke von seinem Fleischhaufen in den Schnabel und flog mit seiner Beute davon. Derselbe Vogel oder sein Gefährte wiederholte diese Prozedur achtmal innerhalb der nächsten Stunde. (Beide waren zusammen an dem Kadaver, und keiner nahm das Fleisch des anderen.) Einmal kam ein dritter Vogel, während einer von dem Paar seinen Fleischhaufen baute, ließ sich in der Nähe nieder und beobachtete, wie das Paar Fleisch holte. Schließlich flog er hinab und spazierte um den Kadaver herum, bis er direkt hinter einen der beiden anderen kam, der gerade alleine arbeitete; er ging vorsichtig weiter und schnappte sich den Fleischhaufen. Als später mehrere Raben von demselben Kadaver frassen, habe ich nie wieder beobachtet, dass einer einen Haufen mit Fleisch anlegte, das er vorher abgerissen hatte. Tony Angell zitiert eine ähnliche Beobachtung in seinem 1979 erschienenen Buch Ravens, Crows, Magpies, and Jays. Ein zahmer Rabe wurde mit Crackern gefüttert, und nachdem er seine Ration gefressen hatte, flog er nicht mit jedem einzelnen Stück fort, sondern nahm eins nach dem anderen, bis ein halbes Dutzend voll war, und legte die Kekse nebeneinander auf einen Haufen in eine Schneeverwehung. Er konnte dann den ganzen Haufen auf einmal packen und flog damit fort. Rick Knight von der Colorado State University erzählte mir, dass er solches Verhalten im Januar 1988 auch bei einem Paar adulter Raben im Grand Cafion beobachtet habe. Er und sein Freund versorgten die Raben mit Ritz-Crackern, die die Vögel sofort stapelten und in Haufen von drei oder vier in ihren Schnäbeln abtransportierten.
Ich behaupte nicht, dass Tiere, selbst Raben, nicht programmiert werden können, Nahrung zurückzulegen, um sie später zur Verfügung zu haben oder Futter zu stapeln, bevor sie es wegtragen. Trotzdem scheint es unwahrscheinlich, dass Raben ganz spezifisch genetisch programmiert sind, kleine Fleischhaufen anzulegen, um das Verstecken zu erleichtern oder größere Fleischstücke herauszumeisseln, damit sie pro Versteckflug mehr mitnehmen können. Wenn es ein genetisches Programm ist, dann müssten es Meisen, Tannenhäher, Krähen, Spechte und Blauhäher ebenso entwickelt haben. Da sie jedoch Fleischhaufen nicht gegen Raben verteidigen können, sollten sie mehr Grund haben, ein solches Verhalten zu entwickeln als Hilfsmittel, das Beste aus dem begrenzten Zeitraum zu machen, den sie an einer reichen Futterquelle erwarten können. Es scheint, dass Raben ein für Vögel ungewöhnliches Bewusstsein dessen haben, was sowohl die Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen wie die voraussehbaren Handlungen ihrer Partner und Konkurrenten betrifft.
Kurzer Prozess mit zwei Schafen Ich kam vorbei an deinem alten Haus und sah zwei Raben auf dem Dach. Der eine sagt zum andern, ach: »Wohin geh’n wir zum Essen aus?« Dort an der Birke, weißt du schon, liegt ein erschlagner Ritter tot, kein Sterblicher weiß was davon, bis auf sein Liebchen, Falk und Hund. Anonym, aus einer alten schottischen Ballade 2. JANUAR 1986. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, warum die beiden letzten Male so wenig rekrutiert wurde. Vielleicht gibt es schon genug Evidenz, um es zu erklären, aber ich sehe sie nicht. Vielleicht sind Raben so schlau und ihre Reaktionen so komplex, dass ich sie nie begreifen werde, es sei denn, ich könnte einzelne Vögel selbst verstehen. Natürlich hoffe ich und suche nach allgemeinen Regeln, doch sie können verborgen bleiben, bevor ich nicht Individuen oder Klassen von Individuen identifizieren kann. Rekrutierung habe ich am meisten im Herbst gesehen. Und die größte Menge Raben zusammen sah ich auf einer Müllhalde im Winter. Aha! Jetzt habe ich es wohl. Im Herbst sind die Vögel noch verstreut, doch während des Winters versammeln sie sich dort, wo
es regelmäßig Futter gibt, zum Beispiel auf Müllhalden. Also werden es draußen in den Wäldern immer weniger. Deswegen haben die wenigen Vögel draußen kein Glück, wenn sie versuchen zu rekrutieren. Das ist einer der Gründe, weswegen ich heute nach Maine fahre, nämlich um mich zu vergewissern, dass nicht mehr als die vier Raben, die ich letzte Woche sah, zu dem Schafkadaver gekommen sind. Man kann nie sicher sein. Als ich in Bethel an der Müllhalde vorbeikomme, ist es 14.15 Uhr. Seltsam – kein einziger Rabe ist zu sehen. Letzte Woche waren es wahrscheinlich an die hundert. Ich klettere den Hügel hinauf und gehe zuerst zu der Holzhütte. Das Schaf draußen auf dem Feld ist unberührt. Keine Spuren von Raben oder Kojoten. Aber während ich den Weg weiter hinaufsteige, höre ich Raben an dem Schaf bei Kaflunk! Ich ziehe mich schnell in den Wald zurück, um bis zur Dämmerung zu warten, damit ich die Hütte unbeobachtet betreten kann. Doch welche Überraschung erwartet mich bei der Ankunft! Nichts außer ein paar nackten Knochen, Fell und dem festgefrorenen Mageninhalt ist übriggeblieben. Auf 5o Meter im Umkreis ist der Schnee von Rabenspuren aufgewühlt. Waren Hunderte hier? Zumindest mehrere Dutzend. Wieder muss eine Idee gestrichen werden. Es waren massenhaft Raben hier, und es ist mitten im Winter. 3. JANUAR. Ein schwerer Schneesturm weckt mich auf. Ein Rabe kommt, macht eine lange Serie von Quorks und landet dann, um an den kahlen Schafsknochen zu picken. Wenige Minuten später vernehme ich die kurzen abgehackten Quorks, die ich bisher
nur gehört hatte, wenn mehrere Raben zusammen zu einem Köder fliegen. Ist es ein »Follow-Me«-Signal? Die Töne kommen näher, vier Raben flattern und kreisen über der Lichtung. Alles ist ruhig. Nach wenigen Minuten kommen vier Raben herunter und picken an den Knochen. Nachdem sie fort sind, schneide ich ein fünf Zentimeter großes Loch in die Plastikplane am Rand eines der Fenster und stelle dahinter meine Kamera auf einem Stativ auf. Als später ein Rabe kommt, krächzt er nicht, sondern macht statt dessen Klopfgeräusche. Kein Vogel kommt herunter. War der Ruf eine Warnung? Es kommen des öfteren an diesem Tag Vögel vorbei, doch keiner von ihnen landet in der Nähe des Köders. Der Schneesturm weht unvermindert weiter. Nach wenigen Stunden ist von den Resten des alten Schafes nichts mehr zu sehen, und auch nichts von dem neuen, das ich letzte Nacht 18 Meter von dem alten entfernt ausgelegt hatte. Schnee, der ihr Futter zudeckt, muss für die Raben eine ernste Herausforderung sein. Bis jetzt wurde jeder von mir ausgelegte Köder mehrmals vom Schnee zugedeckt, und ich musste sie immer wieder freifegen, damit die Vögel das Fleisch finden konnten. Ein Kojote in der Nähe wäre praktisch, um Kadaver auszugraben, wenn sie eingeschneit sind, was wohl immer nach einigen Tagen passiert. Aber wenn das Rekrutierungsverhalten deshalb entwickelt wurde, müssten die Raben jetzt, da es schneit, mehr schreien und nicht weniger. In Vermont habe ich ein einzelnes Paar an einem Köder arbeiten gesehen, den ich in Sichtweite meines Schlafzimmerfensters ausgelegt hatte. Die Vögel kommen jeden
Morgen gegen 7.30 Uhr, bleiben etwa eineinhalb Stunden und kehren am frühen Nachmittag zu einem weiteren Besuch zurück. Der von mir vorbereitete Köder ist ein großes Stück Nierenfett, vorwiegend in Streifen von 5 bis 15 Zentimeter. Die zwei Vögel hätten ein Stück in wenigen Minuten fressen und dann fortfliegen können. Stattdessen picken und picken sie und verbringen Minuten auf dem Haufen, bevor sie schließlich mit einem Stück, vermutlich zum Verstecken, fortfliegen und dann zurückkommen, um dasselbe zu wiederholen. Mir scheint, dass das ständige Picken das Fleisch freihält. Aber es könnte schneien, wenn die Raben nicht da sind, und dann würde das Fleisch unter dem Schnee verschwinden. Je mehr Vögel anwesend sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass immer etwas Nierenfett zu picken da ist. Hat sich Rekrutierung deswegen entwickelt? Wenn ja, dann hätten die Raben bei dem Elch im Herbst nicht rekrutieren dürfen oder nicht dann, wenn es nicht schneit. Auch diese Idee ist nicht haltbar. 4. JANUAR. In der Nacht hörte es auf zu schneien, Wind kam auf. Wie gewöhnlich erwache ich in beißendem blauem Rauch, der aus dem Kamin qualmt. Es ist wieder einmal Zeit, die glimmenden Scheite in den Schnee zu werfen. Es ist minus 18 Grad in der Hütte. Der Wind heult wild unter dem sternübersäten dunkelblauen Himmel, während ich das Schaf freischaufle und zurückhaste, um am Coleman-Herd etwas Schnee für den Kaffee zu schmelzen. (1ch will tagsüber kein Feuer machen, weil der Rauch die Raben beunruhigen könnte.) Ich hoffe auf diesen Morgen. Alle Vorräte der Raben, selbst wenn sie Verstecke und andere Quellen haben, sind
vermutlich zugeschneit. Sie müssen hier herkommen. Tatsächlich landen um 7.33 Uhr zwei in der Birke beim Köder, drei weitere fliegen vorüber. Nur einer stoppt. Zwölf Minuten lang macht der einsame Rabe ächzende Geräusche, schnappt mit seinem Schnabel, krächzt leise und trillert laut. Diesen Gesang habe ich schon früher gehört. Er bedeutet, dass andere in der Nähe sind und dass sie vermutlich bald mit Fressen beginnen. Verbergen sie sich im Wald? Plötzlich, nach fünf Minuten, sind sechs bis acht Raben da. Um 8.16 Uhr sind drei bei dem Schaf, dann fünf. In der nächsten Stunde ist ein ständiges Kommen und Gehen, drei bis fünf fressen immer gleichzeitig. Deutlich mehr sind es um 9.30 Uhr. Um 11.00 Uhr sehe ich meist zehn bis fünfzehn gleichzeitig. Um 11.30 Uhr sind es mindestens 23 geworden! Am Nachmittag verziehen sie sich nach und nach, und gegen 15.30 Uhr, als es dämmert, sind nur noch zehn übrig. Um 16.00 Uhr sind alle fort. Nun kann ich die Hütte verlassen und mir den Schaden besehen. Das neue Schaf ist zu mindestens drei Vierteln aufgefressen. Überall im Wald sehe ich die Spuren im Schnee, wo sie gelandet sind, um Fleisch zu verstecken, dass sie mit etwa zwei Zentimeter Schnee bedeckt haben. Viele dieser Verstecke wurden später von Kojoten gefunden. Doch die Raben könnten die Kojoten brauchen, um verschneite Kadaver aufzuspüren. Ich hatte schon früher einmal getestet, ob Raben im Schnee vergrabenes Fleisch an einer anderen als der erwarteten Stelle finden oder wieder finden konnten. Zwei Knochen von frischem Schweinekotelett, ein gerade getötetes Rotes Eichhörnchen, ein Haufen tiefgefrorener Schafsinnereien und eine überfahrene Katze wurden unter fünf bis zehn Zentimeter
hohem Neuschnee an verschiedenen Stellen vergraben, ein oder zwei Meter von dem Platz entfernt, an dem mehr als zwanzig Raben das Schaf gefressen hatten. Dann nahm ich das Schaf weg. Es schneite ein bisschen, als die Vögel zurückkamen, und mehrere von ihnen fingen an, in den Schnee zu picken und seitwärts schaufelnde Bewegungen mit dem Schnabel zu machen, genau dort, wo das Schaf gewesen war. Zufällig traf ein Vogel auf eine Katzenpfote, und die ganze Katze wurde herausgezogen und gefressen. Keiner der anderen versteckten Köder wurde in den nächsten beiden Tagen gefunden, und die Raben flogen fort. Später vergrub ich drei Lammkeulen im lockeren Schnee unweit des Platzes, wo die Vögel an fast kahlen Rotwildknochen pickten. Keiner dieser Köder wurde in den beiden Wochen, in denen sie dort lagen, gefunden. Diese Ergebnisse schließen nicht die Möglichkeit aus, dass Raben riechen können, doch sie zeigen, dass im Winter Futter, das nicht zu sehen ist, vermutlich nicht durch den Geruch gefunden wird. Außer wenn Raben schon wissen, wo etwas liegt, und deshalb graben, steht ein Futter nicht zur Verfügung, solange es nicht von anderen Tieren ausgegraben wird. 5. JANUAR. Es sind etwa minus 18 Grad, und es schneit stark, aber ich bin näher am Himmel, als ich es je wieder sein werde. Die Zweige der Balsamtannen biegen sich unter glitzerndem Pulverschnee. Alle Geräusche sind wie erstickt, außer denen von etwa vierzig Raben. Das Schreien und Knattern, begleitet von dem gleichmäßigen Rhythmus der hämmernden Schnäbel auf dem festgefrorenen Fleisch, ist Musik in meinen Ohren. Das
einzige »Fenster« meiner Hütte ist heute Morgen das 135-Millimeter-Objektiv meiner Kamera. Der Schafskadaver, einen Meter vor der Hütte, füllt fast gänzlich den Sucher, allüberall und drum herum sind Raben. Ich sehe die Schneeflocken auf ihren glänzenden schwarzen Rücken. Es ist ein wunderschöner Anblick. Jetzt bin ich ihnen endlich nah, was bisher unmöglich schien. Die Vögel fühlen sich wohl. Nach dem Fressen rollen einige wie glückliche Hunde auf dem Rücken im Schnee oder liegen auf dem Bauch, wirbeln und kicken Schnee. Einige fahren auf der Brust Schlitten und schieben sich dabei mit den Beinen vorwärts. Sie nehmen ein Schneebad, etwas das ich bei anderen Vögeln noch nie beobachtet habe. Sie wirken wie Kinder, die in frischgefallenem Schnee toben, und ich bin sicher, dass sie es zum Vergnügen tun. Ich heize den Holzofen ein, nur um zu sehen, was passiert, wenn sie den Rauch sehen. Das Feuer brennt, es qualmt ungeheuer, und es passiert absolut nichts! Ich kann keine Änderung im Verhalten der Raben feststellen. Jetzt werde ich es tagsüber warm haben, bisher für mich ein Riesenluxus, und ich werde mir Koteletts braten können. Die Vögel brauchten keine zwei Tage, um den Schafskadaver mit seinem steinhart gefrorenen Fleisch in ein sauber abgefressenes Skelett zu verwandeln. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Wäre das Fleisch weich gewesen, wären sie zweifellos noch schneller damit fertig geworden. Raben können sehr aggressiv sein. Frank C. Craighead jr. schreibt in Track of the Grizzly: »Nicht weit entfernt von den fressenden Bären erregte ein sich bewegender schwarzer
Fleck im Schnee unsere Aufmerksamkeit. Bei näherer Betrachtung konnten wir vier Raben identifizieren, einer flatterte hilflos im Schnee, während die anderen wütend auf ihn einhackten. Er schien nicht fliegen zu können. Die drei anderen hacken ihn bestimmt zu Tode, überlegte ich. Als wir näher kamen, flogen sie – wenn auch zögernd – fort.« Meine Vögel waren verhältnismäßig friedlich, obwohl eine Menge Fleisch zu verteidigen war. Aggressive Begegnungen (die ich auf die große Zahl zurückführte) an besonderen Futterstellen beschränkten sich auf ein schnelles Ziehen einer Flügel- oder Schwanzfeder, nur selten gab es eine Verfolgungsjagd. Kämpfe schienen eine Sache der Dichte zu sein. Als nur fünf Vögel bei dem Kadaver waren, gab es kaum eine aggressive Begegnung, bei zehn Vögeln waren es drei in einer Minute. Was für ein Kontrast zu den Blauhähern, die ich früher sah, die im Umkreis von 5o Metern keinen anderen an ihrem Futter duldeten. Und was für ein Gegensatz zu Krähen, die überhaupt keine aggressiven Interaktionen zeigten.
Eine Kuh Lass mit meinem Schmerze mich allein! — Hinweg dich scher! Friß nicht länger mir am Leben! Pack dich! Fort! Hinweg dich scher! Sprach der Rabe, »nimmermehr«. Edgar Allan Poe, Der Rabe Wie bekomme ich genug Fleisch, um hungrige Raben anzulocken? Ich fahre herum und besuche Milchfarmen, früher oder später finde ich irgendetwas, gewöhnlich ein Kalb. Ich ging in den Stall von Bernie Gaudette in Hinesburg, Vermont, wo sie gerade mit dem Morgenmelken fertig geworden waren. Nein, sie hätten keine Kälber, die gerade gestorben waren. Aber dann zeigte er auf eine Box, in der eine riesige Holsteinkuh mit heraushängender Zunge lag. 1300 oder 1400 Pfund Fleisch! Wie konnte ich bloß ein solches Vieh aus dem Stall heraus und den Berg hinaufbringen, 200 Meilen weit und im tiefsten Schnee? »Vielen Dank, ich glaube, damit komme ich nicht zurecht.« Zehn Meilen später führte ich auf der Straße ein strenges Selbstgespräch. »Möchtest du viel Fleisch oder nicht?« Das will ich. »Dann keine Ausreden. Wenn es dir Ernst ist, wirst du einen Weg finden.« Also kehrte ich um und sagte zu Bernie: »Ich werde sie morgen holen.« In Biologie II lernt man nicht, wie man eine Kuh zerteilt, doch ich machte gute Fortschritte mit meinem geschärften Klappmesser, während Bernie sprachlos zusah.
Einige Dutzend 60 bis 70 Pfund-Stücke Kuhfleisch dürften ein gefundenes Fressen für die Raben sein. Die Fahrt nach Maine ist immer angenehm. Ich genieße sie, weil ich mir bereits vorstelle und überlege, was ich tun werde und wie die Raben reagieren. Sie dauert in der Regel etwa fünf Stunden, doch diesmal etwas länger, denn der Jeep war mit Kuhstücken rundum voll gepackt, und auf dem Dach lag ein Kalb. Behufte Beine staken aus den Fenstern. Um zwei Uhr nachmittags ging ich zum Fuß meines Hügels, wo ich Dana Eames traf, der mit seinem Snowmobil gekommen war. Es hätte mindestens drei Tage gedauert, alles zu Fuß hinaufzuschleppen, aber er ist vor der Dunkelheit fertig und berechnet mir nur 20 Dollar. Ich könnte nicht glücklicher sein, so wie ich jetzt am Ofen sitze und an morgen denke. Ich habe tatsächlich einen Kalbskadaver und das ganze Fleisch einer sehr großen Kuh hier oben bei mir. Die einzige Frage ist, wie ich dieses Fleisch am sinnvollsten nutzen kann. Zunächst ist mein Plan, es an die alte Stelle direkt neben dem Schafsskelett zu legen, welche die Raben schon kennen. Sie fürchten den Platz mehr als den Kadaver, richtig? Wenn Rekrutieren ein Selbstsüchtige-Herde-Phänomen ist, dann sollten sie nicht rekrutieren, denn das Risiko ist klein. Sie wissen schon, dass dieser Platz sicher ist. Wenn andererseits Rekrutieren dem Teilen des Reichtums dient, dann müsste dieses Riesenfestmahl zu mehr Rekrutierung führen denn je. Es ist bisher mein großzügigstes Fleischangebot, und ich erwarte Rekrutierung wie nie zuvor. Ein Rabe, der hier rekrutiert, opfert kaum Fleisch. Er kann nur langfristig Dank ernten, wenn die anderen, mit denen
er teilt, sich in Zukunft ähnlich verhalten. 17. JANUAR 1986. Was für ein herrliches Morgenrot! Rot, Orange, Gelb gehen im Osten in Blau über, ein leuchtender Kontrast zu dem schwarzen Wald im weißen Schnee. Es ist noch nicht überall hell, und eine Meise pickt schon an etwas, das für mich wie ein sehr kahles Schafsskelett aussieht, vor kurzem noch das Mahl von fast vierzig Raben. Kein Zeichen von einem Raben an diesem Morgen. Nach ein paar Stunden Beobachtung verlasse ich die Hütte und gehe in den Wald, um nach Spuren im Schnee zu suchen, wo die Vögel vielleicht früher versteckte Beute geholt haben. Der Wald ist verlassen. Nach vier Stunden schweren Stapfens finde ich keine einzige Spur eines Raben im Neuschnee der drei letzten Tage. Die Raben sind nicht zurückgekehrt, um von ihren Verstecken zu fressen. Stattdessen haben Kojoten die Runde gemacht. Als ich ihren Spuren folge, finde ich sieben Rabenverstecke, die sie aufgegraben haben. Warum legen sie ein Versteck an und kommen dann nicht zurück, um das Fleisch zu holen? 18. JANUAR. Um 8.30 Uhr fressen ein Blauhäher und mehrere Meisen an der Kuh. Sie sind ziemlich ruhig, vor allem der Blauhäher, der den ganzen Morgen keinen Pieps von sich gibt. 9.15 Uhr. Endlich hat ein Rabe die Kuh gefunden! Die Flügelschläge des großen Vogels rauschen so laut durch die Luft, dass ich sie deutlich in der Hütte hören kann. In fünf Minuten kreist er dreimal über der Kuh und macht insgesamt 45 sehr tiefe, rauhe,
langgezogene Quorks. Keine Schreie. Ich höre, wie die Quorks in der Ferne schwächer werden. Dieser Vogel funkt regelrecht, aber nicht mit Schreien. Eine halbe Stunde später sehe ich zwei Raben, einer stößt während des Fluges eine schnelle Folge von hohen, kurzen Rufen aus. Danach zeigt sich kein Vogel. Doch ich erwarte viele morgen früh. Kurz vor der Dämmerung genehmige ich mir selbst einen Spaziergang im warmen Schein der Abendsonne. Es ist warm, die Temperatur ist seltsamerweise auf fünf Grad über Null gestiegen. Der Schnee ist weich und angetaut. Ich nehme einen wunderbaren Duft wahr. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich verbinde ihn mit Vorfrühling. Die Spuren meiner gestrigen Wanderung verwischen sich, und in meinen Fußspuren finden sich Tausende von winzigen schwarzen Punkten. Es sind Schneeflöhe, Callembola. Am ersten warmen Tag nach Temperaturen weit unter Null sind sie wie durch ein Wunder millionenfach auf dem noch über einen Meter hohen Schnee erschienen! Sie müssen von den Bäumen herabgehüpft sein, sie können sich nicht durch die dicke Schneeschicht hochgearbeitet haben. Ist dies das unsichtbare Nahrungsangebot, das die Goldhähnchen futtern, wenn sie auf den Zweigen vermeintlich nach nichts picken? 19. JANUAR. Es dämmert. Keine Raben. Es wird Tag. Immer noch keine Raben. Später kommt einer alleine vorbei. Er kehrt heute sechsmal wieder, so oft höre ich zumindest etwas. Gegen Mittag gibt er zum ersten Mal Klopfgeräusche von sich. Was bedeuten sie? Warum gibt es keine Schreie? Am Nachmittag bleibt es ruhig. 20. JANUAR. Um 7.06 Uhr ist es kaum hell. Die Wolken hängen noch schwer, denn es
hat die ganze Nacht geregnet. Ein Rabe kommt. »Er war schwärzer als schwärzestes Pech / flog tief im Regen, und seine Federn waren nicht naß«, beschrieb Samuel Taylor Coleridge einst den Vogel. Ein Adulter. Einjährige Junge haben matte Federn, und die Schwingen und Schwanzfedern sind bräunlich. Um 9. 10 Uhr nimmt ein einsamer Rabe Kontakt mit dem Köder auf und bleibt bis 13.03 Uhr in der Nachbarschaft, dabei schweigt er die ganze Zeit. Während dieser drei Stunden und 53 Minuten macht er zehn Ausflüge zu dem Köder, frisst dabei jedesmal und fliegt mit dem Schnabel voller Fleisch fort. Als er zum letzten Mal zurückkam, fraß er überhaupt nicht, sondern saß nur in der Birke über dem Kadaver und putzte sein Gefieder. Als er schließlich fortflog, vermutete ich, daß er heute nicht wiederkommen würde, und so war es. Nun gut, wenn er morgen andere herbringt, werde ich wissen, daß er zum Teilen rekrutiert hat und nicht wegen der Hypothese von der selbstsüchtigen Herde, da er das Fleisch offensichtlich für sicher genug zum Fressen hält. Er scheint sich durchaus wohl bei seinem Futter zu fühlen. Keine Spur von Furcht. Den ganzen gestrigen Tag und heute sind die Meisen, zwei Blauhäher und ein Kappenkleiber weiter am Werk. Man sollte meinen, der winzige Kleiber will die ganze Kuh fressen, so verwegen verteidigt er den Kadaver gegen jede Meise, die sich nähert. Als einmal ein Rabe weggeflogen war, rannte ich hinaus und stellte meinen ausgestopften Raben fünf Meter von der Kuh entfernt auf. Als der lebendige Rabe zurückkam, putzte er sich fünf Minuten lang unbekümmert im Baum oberhalb der Attrappe. Dann flog er hinab, inspizierte das Ding methodisch und flog wieder hinauf,
um sich weiterzuputzen. Dieser Rabe sieht immer geschmeidig und strahlend aus. Sein Rachen scheint dunkel zu sein. Deswegen ist er ein Adulter. 21. JANUAR. Morgendämmerung. Der meiste Schnee ist im warmen Regen weggeschmolzen. Das ständige Geprassel auf dem Dach der Hütte macht schläfrig, doch ich werde durch lautes Krächzen geweckt – die Raben sind zurückgekehrt. Ich sehe zwei am Fenster vorbeifliegen. Aber den ganzen Tag lang kommt keiner zum Fressen! Vielleicht haben sie anderswo Futter. Etwas Besseres als eine Kuh? Sechs Tage sind vergangen. Meine Geduld ist fast aufgebraucht. Außerdem kann ich nicht länger bleiben. Die Pflicht ruft mich zurück. Es scheint eine verschwendete Woche gewesen zu sein. Ich bin verunsichert, weil meine Voraussagen wieder einmal so völlig erschüttert wurden. Was um Himmels willen geht hier vor? Die ungefressene Kuh, die seit dem 16. Januar auf dem Hügel liegt, beschäftigt meine Phantasie. Vielleicht fressen Riesenmengen von Raben daran oder nur zwei. Nur zwei hieße, dass die Vögel nicht wirklich teilen. Wenn andererseits viele gekommen sind, dann wurde rekrutiert, nachdem der Köder als sicher galt, und das spräche für die Teilende- und damit gegen die Selbstsüchtige-Herde-Theorie. Vierhundert Meilen zu fahren, um zu sehen, was los ist, ist nichts gegen all das, was ich schon in das Kuhexperiment investiert habe. Nicht hinzufahren ist wie Aufgeben nach 95 Meilen in einem 100-Meilen-Rennen.
24. JANUAR. Wie gewöhnlich ist es schon dunkel, als ich zum Camp komme. Es ist fast Vollmond, als ich hinaufsteige, auf festgefrorenem Schnee diesmal, auf dem leicht zu gehen ist. Die Temperatur ist auf minus 26 Grad gefallen. Obwohl ich ein Feuer in dem kleinen Holzofen mache, wird es in der Hütte nicht warm genug, um mit bloßen Händen ein Buch halten zu können. Ich versuche, mich neben den Ofen zu setzen und zu lesen, doch auch das ist nicht möglich. Nach kurzer Zeit habe ich nur noch den einen Gedanken – tief in den Schlafsack zu kriechen und bis morgen Winterschlaf zu halten. 25. JANUAR. Die Dämmerung ist unheimlich still, und so bleibt es den ganzen Morgen. Kein einziger Rabe erscheint! Nach acht Tagen zeigt die Kuh kaum Zeichen von Picken. Selbst das Fett ist noch unberührt bis auf ein paar kleine Kratzer. Ich hätte alles erwartet, aber das nicht. Sofort sucht mein Gehirn nach einer Erklärung. Sind die Vögel jetzt, mitten im Winter, vielleicht zur Küste gezogen oder gewandert? Nein. Ich kontrolliere die kleine städtische Müllhalde, für Raben nur fünf Flugmeilen entfernt – etwa zwanzig Raben sind dort, sie sitzen faul auf den Bäumen und am Boden, als ich prüfend vorbeifahre. Als Tatsache bleibt, dass zwei Vögel das Fleisch gefunden haben und mindestens einer gierig gefressen hat. Hat das Ausbleiben einer Versammlung etwas mit dem lang anhaltenden Klopfen zu tun, das ich letzte Woche hörte, als zwei Vögel kamen und
nicht fraßen? Vielleicht war der Köder zu groß und zu erschreckend für den zweiten Vogel, und er überzeugte den ersten, die Finger davon zu lassen. Ich brüte über meinen Daten und glaube, ein Muster zu erkennen, nach dem Tiere, die den Raben vertraut scheinen wie Wild oder Kaninchen, ohne viel Zögern aufgesucht werden, und schwarzweiße Holsteinkälber mindestens zwei Tage lang nicht erkundet werden. Vielleicht war eine riesige, in Stücke geschnittene Kuh zu viel, um ihre Scheu zu überwinden. Aber nein – das kann nicht stimmen, ein oder zwei Raben haben gefressen! 1. FEBRUAR. Auch letzte Woche ist das Fleisch kaum berührt worden. Die Spuren im Schnee zeigen, dass wieder nur ein oder zwei Raben gefressen haben. Die Kojoten sind in respektvoller Entfernung geblieben und streichen durch den nahen Wald. Ich habe ein völliges Blackout, warum dieser riesige Fleischhaufen nicht mehr Raben angelockt hat, weil es jetzt klar ist, dass die Vögel keine Angst davor haben. Haben sie wieder (oder immer noch) anderswo besseres Futter? 2. FEBRUAR. Die Nacht war sehr kalt, ich bibberte vor Frost und konnte kaum schlafen. Man konnte die Kälte hören, die Bäume krachten vor Frost wie Gewehrschüsse in der sonst stillen Nacht. Der Morgen ist herrlich. Der Himmel von klarem Blau, die Meisen singen. Auch ich fühle einen Umschwung. Die Raben müssten sich sehr bald zum Nisten bereit machen. Ein zweiter Winter mit ihnen ist fast vorüber. Doch ich bin verwirrter als zuvor – und vor
zwei Jahren dachte ich, dass ich zwei oder drei Wochenenden zum Beobachten brauche und dann die Antwort habe! Je verwirrender es wird, um so mehr fühle ich mich hineingezogen. Ich kann jetzt nicht aufhören. Anmerkung: Als ich einen Monat später zurückkam, war kein Fetzen Fleisch von der Kuh übrig. Rabenkot war überall verstreut, und der Schnee bildete ein einziges Muster an Tausenden von frischen Fußabdrücken. Ich vermute, dass mindestens mehrere Dutzend Vögel kürzlich hier gewesen sein müssen. Sie sind alle fort bis auf einen. Dieser Einsame war geblieben und pickte an den gut abgefressenen Knochen.
Loner Und der Rabe rührt’ sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer auf der bleichen Pallas-Büste überm Türsims wie vorher; und in seinen Augenhöhlen eines Dämons Träume schwelen, und das Licht wirft seinen scheelen Schatten auf den Estrich schwer... Edgar Allan Poe, Der Rabe Der einsame Vogel versuchte, sich von den fast ganz abgefressenen Knochen, die eine Vogelschar übriggelassen hatte, zu ernähren. Aus irgendeinem Grund blieb er (wegen seines großen Schnabels halte ich ihn für ein Männchen), als der Rest fortflog, um anderswo Futter zu finden. Er blieb wegen ein paar Resten. Doch mit der Zeit fand er immer weniger Futter und wurde zunehmend schwächer, bis er nicht mehr fortfliegen konnte, um anderswo zu suchen oder anderen Raben zu folgen. Als ich ihn das erste Mal sah (man konnte ihn an einigen beschädigten Schwanzfedern erkennen), spazierte er direkt vor meiner Nase am Fenster der Hütte vorbei. Das überraschte uns beide. Er flog auf, doch eher schwach. Am Nachmittag war er zurück, machte hohe Triller in einem kleinen Baum direkt über dem neuen Kadaver, den ich mitgebracht hatte. Nach vierzig lauten Trillern machte er schnappende Geräusche mit seinem Schnabel, weiche Seufzer, Stöhner und Krächzer. Dann hüpfte er hinunter und
ging vorsichtig auf den Köder zu. Um dorthin zu kommen, musste er durch eine kleine Senke, wo er mich und das Hüttenfenster nicht sehen konnte. Er versuchte es zwölfmal, bevor er mutig genug war, hindurch und zu dem Kadaver zu gelangen. Er packte ein Stück Fett und flog dann fort. Eine Woche später war er immer noch allein (Ich hatte das Fleisch in der Zwischenzeit weggetan), aber er war deutlich schwächer. Diesmal sah ich ihn in den Wald hüpfen, als ich zu den kahlen Knochen kam, und er verschwand, kaum, dass ich in Sicht war. Ein Rabe, der forthüpfte? Seltsam! Mein Interesse war geweckt, und ich verfolgte ihn auf Schneeschuhen. Er hüpfte in die niedrigen Zweige einer Fichte, ich kletterte ihm nach, was ihn aufzuregen schien. Er hackte wütend auf seinem Zweig herum. Ich kletterte ihm weiter nach, und als ich ihm an der Tannenspitze näher kam, flog er kraftlos ins Tal hinab. Ich erwartete nicht, ihn wieder zu sehen. Doch am nächsten Tag war er zurück und pickte an denselben nackten Knochen herum. Diesmal kam ich aus der anderen Richtung, und diesmal gelang es ihm nicht, einen Baum zu erreichen, und ich packte ihn nach einem energischen Wettrennen. Ich steckte ihn in einen Pappkarton und machte den Deckel zu – nachdem er Butter aus meiner Hand gefressen hatte und nachdem er mich auch in die Hand gebissen und mir eine Ohrfeige versetzt hatte – und hielt ihn ständig fest, als ich ihn zurück nach Kaflunk brachte. Er zitterte, als ich ihn fing. War es Kälte oder Angst? Es würde wohl einiger Fürsorge bedürfen, bis er wieder gesund gepflegt wäre, also
nahm ich ihn mit nach Vermont und steckte ihn in einen improvisierten Drahtkäfig, den ich auf den Küchentisch stellte. Nach sechsstündiger Gefangenschaft in einem Pappkarton reagierte er nicht aufgeregt, als er in den Käfig kam. Er blickte umher und hüpfte unbekümmert auf eine Stange. Er sah durchaus nicht schwach aus, wahrscheinlich war er schon durch sein erstes richtiges Fressen etwas gestärkt. Ich bot ihm ein Hühnerbein an. Er zögerte, spazierte dann seine Stange entlang, nahm es mir direkt aus der Hand, hüpfte auf den Boden des Käfigs und fing an, Stücke abzureißen und zu fressen. Als er fertig war, hüpfte er auf seine Stange. zurück. Ich hielt ihm ein Pommes frites hin. Er ging die Stange entlang bis zum Gitter, nahm es mir aus der Hand und fraß es, als ob er schon immer Pommes frites gekannt und geschätzt hätte. Er fraß auch ein Stück Käse, rührte sich jedoch nicht, als ich ihm Orangenschnitze anbot. Woher weiß er, dass Käse und Pommes frites gut zu fressen sind und Orangen nicht? Während der ganzen Zeit schwatzt mein kleiner Sohn Stuart und beobachtet den Raben beim Fressen. Der Rabe ignoriert sowohl Stuart als auch die Katze, die neben dem Käfig sitzt, aber mich verliert er nicht aus den Augen. Dieser Vogel verwirrt mich völlig. Die Katze ignorieren? Ist er an mir so interessiert, weil er schon weiß, dass ich sein neuer Essensbon bin? Von Beginn an wirkt er vollkommen kontrolliert und entspannt. Nicht die Spur von Panik! Ein handaufgezogener Vogel könnte nicht gelassener sein. Nach einer Stunde schüttelt er sich, reibt seinen Schnabel an der Stange, putzt sich und dreht mir den Rücken zu, während ich Stuart vorlese. Er ist jetzt keine zwei Meter von
mir entfernt. Er gähnt, schließt halb die Augen, als ob er schlafen wollte, schubbert seinen Schnabel noch mehr, pickt gelassen an seiner Stange und hüpft für einen anderen Snack herab. Die ganze Zeit blickt er in einer Art und Weise umher, die ich nachdenklich nennen möchte. Jetzt putzt er sich wieder, plustert das Gefieder, schüttelt und dreht sich und studiert gelangweilt den Boden seines Käfigs. Kann dies wirklich ein wilder Vogel sein – von derselben Art, wie ich sie heute auf dem Eis des Androscoggin-Flusses sah, die, mehr als eine halbe Meile entfernt, aufflogen, als ich hielt, um den dunklen Fleck in der Ferne zu studieren? Kann er zur selben Art gehören wie der Vogel, der schleunigst von einem Kadaver fortfliegt, wenn ich in der Hütte einen Löffel fallen lasse, dessen Schnabel sich vor Angst öffnet, wenn er sich einem Kalbskadaver nähert, den er schon volle drei Tage studiert hat? Hier ist ein Exemplar jener Art, die für ihre große Scheu allem Neuen gegenüber bekannt ist. Oskar und Magdalena Heinroth, die berühmten deutschen Ornithologen vom Berliner Zoo, beschrieben in ihrem 1926 erschienenen Buch Die Vögel Mitteleuropas, wie sehr sie sich über zwei zahme Raben wunderten, die stundenlang in ihrem Käfig umherflatterten und völlig erschöpft waren, nachdem jemand 100 Meter weiter eine Fahne herausgehängt hatte. Was konnte »neuer« sein, als plötzlich in einem Drahtkäfig auf einem Küchentisch zu sitzen, in Gesellschaft eines Mannes, eines Kindes und einer Katze? Ich war versucht anzunehmen, dass mein Rabe ein Haustier gewesen war. Doch nur Stunden zuvor hatte er verzweifelt versucht zu entkommen, sobald er mich nur erblickte. (1ch fing später noch einen anderen Raben an einer Müllgrube, der auch
nach Stunden zahm wirkte. Dieser Vogel verfiel physisch schnell, und als es mir nach einem Monat klar wurde, dass er nicht überlebensfähig war, tötete ich ihn, um sein Leiden zu beenden. Bei der Autopsie fanden sich Schrotkugeln in seinem Körper. Andere, gesunde Raben, in einem dunklen Raum freigelassen, hatten auch keine Angst und fraßen in Minutenschnelle aus meiner Hand. Die Zahmheit von Loner war nicht einzigartig.) Ich hatte schon festgestellt, dass Raben tage- und wochenlang von einer Futterstelle fernbleiben können, wenn sie nur die kleinste Störung in der Nähe sehen. Und nun, da plötzlich alles neu ist, agiert dieser Vogel, als ob alles normal wäre! Ich weiß nicht, wie sie die Umwelt wahrnehmen. Ich kann nur vermuten, dass sie sie nicht absolut sehen, sondern als Ausgangspunkt von Akzeptiertem. Wenn alles anders ist, greifen Vergleiche nicht mehr, und fast alles kann akzeptiert werden. Wenn ich es so überlege – nehmen die Menschen die Welt nicht ähnlich wahr? Noch vieles andere bei diesem besonderen Raben verwirrt mich. Er wirkt munter, weit entfernt von meinem Bild eines fast verhungerten Tieres. Er wirkt in seinem Käfig durchaus kräftig und rüstig. Trotzdem sind seine Flugmuskeln, vielleicht durch den Hunger, atrophiert; er kann gut hüpfen – so schnell, wie ich durch Schnee rennen kann. Seine Schwingen scheinen nicht beschädigt zu sein, denn er zeigt keine Anzeichen von Unbeholfenheit. Er kann fliegen, aber nur so, wie ein Mensch läuft, dessen Knie weich geworden sind, nachdem er gegen die Wand gerannt ist. Seine Neugier ist augenfällig. Er untersucht alles, was ich ihm hinhalte. Eine Brotkruste
mit Erdnußbutter? Er kommt, probiert, lässt sie fallen und verdreht den Kopf, um zuzusehen, wie sie auf den Boden fällt. Wäre ich so neugierig, wenn ich hungrig und eingesperrt wäre? Vor allem seine Ruhe verwirrt mich. Er handelt, als ob er nichts in der Welt fürchtet. Er dreht seinen Kopf, aber unbekümmert. Kein einziges Mal fliegt er gegen das Drahtgitter. Er hüpft von einer Stange auf die andere, wenn er herauf oder herunter möchte. Er macht mich glücklich. Am Tag nach seiner Gefangennahme sitzt der Rabe ruhig in seinem Käfig, aber er vermisst nichts. Seine braunen Augen rollen und schnellen in diese oder jene Richtung, herauf zu einer Fliege, die an der Decke krabbelt, herunter auf die vorbeischleichende Katze, zu mir herüber, während ich Futter zubereite. Ab und zu unterbreche ich meine Arbeit und spreche zu ihm. Er scheint sich noch mehr zu entspannen und antwortet mit weichen schmatzenden Geräuschen. Steakabfälle, ein totes Backenhörnchen (frisch aus meiner Kühltruhe), eine Eulenfeder und Brot liegen auf dem Boden seines Käfigs, 30 Zentimeter unter seiner Stange. Gelegentlich sieht er nach unten und betrachtet sie. Wenn ich etwas hochhalte – Schokoladeneis auf einem Löffel, ein Stück Brot, einen Klacks Erdnußbutter –, kommt er seitlich auf seiner Stange entlang und probiert es vorsichtig. Er nimmt winzige Bissen in seine Schnabelspitze, schiebt sie hin und her, dann schluckt er sie oder spuckt sie aus. Er schluckt Eis, Blaubeeren, Fett und Pommes frites, er spuckt Brot aus (das er gestern
fraß), Katzenfutter aus Thunfisch und Orangen. Er wird wählerischer in seinem Geschmack, aber das Backenhörnchen begeistert ihn. Er hackt darauf herum und reißt die hinteren Teile Stück für Stück ab. Es rutscht aus seinen Fängen und fällt herunter. Eigenartigerweise holt er es nicht vom Boden zurück, nimmt es jedoch von mir, als ich es ihm gebe. Er kommt sogar, um mir die Eulenfeder aus der Hand zu nehmen, spielt ein paar Sekunden damit und wirft sie dann fort. Er trinkt Wasser aus einem Löffel, den ich ihm hinhalte, doch wenn der Löffel voll Schnee ist, kommt er noch eifriger und frisst einen Schnabelvoll nach dem anderen. Eisstücke werden ganz heruntergeschluckt. Im April ist er draußen in einer Freivoliere. Er kommt, etwa 1,50 Meter über mir, herbeigeflogen, wenn ich den geräumigen Käfig betrete und ihm Futter bringe. Hier draußen frisst er mir nicht aus der Hand, doch er nähert sich, um es von dem mir gegenüberliegenden Zweig zu picken. Er fliegt kraftvoll durch den Käfig und ist immer ruhig. Er bekommt kein Eis mehr, aber er liebt tote Tiere. Ohne zu zögern, nähert er sich sofort einer toten Taube. Einmal fraß er ein ganzes Grauhörnchen, wenn auch mit Problemen: Er kam nicht durch das Fell. Seine Lösung war, es durch das Maul zu häuten. Das Ergebnis war eine saubere Grauhörnchenhaut mit dem Fell innen. Er hat eindeutige Beweise seiner Gesundheit gegeben. Sein Kot, ausgeschleudert in einer Sucroselösung in der Laboratoriumszentrifuge, zeigte keine schwimmenden
Parasiteneier auf der Oberfläche. Ein Malariaspezialist prüfte sein Blut: keine Blutparasiten. Wahrscheinlich war sein Problem tatsächlich der Hunger, wie ich ursprünglich vermutet hatte. Sein Verhalten fasziniert mich noch immer, weil es mir hilft, das Verhalten der wilden Vögel zu verstehen. Zum Beispiel die Sprache des Gefieders. Wenn er Angst vor mir hat und zurückweicht, legt er seine Kopffedern glatt nach hinten. (Es ist seltsam, wie Vögel, die den Raben draußen im Feld unterlegen sind und die vor Futter zurückweichen, aufgerichtete Federn und geplusterte, fluffy, Köpfe haben.) Doch jetzt fühlt er sich in meiner Gegenwart häufig wohl genug, um sein Gefieder zu sträuben und sich zu schütteln. Heute, am 21. April 1986, fange ich ihn mit einem Moskitonetz, wickle ihn in eine Jacke und beringe ein Bein mit einem Metallring des U.S. Fish and Wildlife Service und außerdem mit einem grünen Plastikband der National Band & Tag Company. Das Band ist etwa einen Zentimeter weit und einmal um sich selbst geschlungen. Ich denke nicht, dass man es abkriegen kann. Loner ist sofort zornig und beißt und pickt ständig an dem Band herum. Ich gehe fort, und als ich zwei Stunden später wiederkomme, ist sein rechtes Bein blutig, die Haut in Fetzen, der Knochen liegt frei – und das Bändchen ist ab! Den Aluminiumring duldet er. Ich hatte ursprünglich gedacht, es würde reichen, wilde Vögel mit bunten Plastikbändern zu markieren, weil man die Farben mit dem Fernrohr besser erkennen kann. Wie viel Mühe hätte ich verschwendet, wenn ich diesen Plan nicht vorher getestet hätte, der so absolut sicher schien. Jetzt weiß ich, daß ich
wilde Vögel nicht mehr mit Plastikbändern markieren darf. (1ch habe Junge mit denselben Bändern markiert, und sie haben sie ignoriert. Trotzdem haben viele Vogeleltern die Bänder aus dem Nest geworfen, zusammen mit den so markierten Jungen.) Loner »singt« nun täglich in seinem Käfig. Ein singender Rabe trillert und kreischt, schreit und trällert, sein verbales Repertoire ist sehr groß. Ich lasse den Raben am 10. Juli 1986 frei. Er hörte völlig mit dem Singen auf, blieb aber in der Nähe des Hauses und war gesellig mit den Raben, die ich damals in den anderen Volieren hielt (siehe nächstes Kapitel). Am 20. Juli ließ ich auch andere zahme Raben frei, und er schloß mit ihnen Freundschaft, vor allem mit einem. Die beiden flogen zusammen fort, und am 28. Juli begegnete er einigen Leuten beim Picknick im Little River State Park in Waterbury, Vermont. Er muss noch ziemlich zahm gewesen sein, denn sie konnten die Nummer auf seinem Aluminiumring lesen, was mir der U.S. Fish and Wildlife Service Monate später berichtete. Offenbar hat er, wie andere Raben, gelernt, was er nicht fürchten muss: Menschen. Wenn Sie also einen Raben treffen, der Pommes frites, Ben&Jerry-Schokoladeneis und überfahrene Backenhörnchen frisst, schauen Sie nach, ob er einen Aluminiumring hat. Wenn es die U.S. Band Nr. 706-21301 ist, rufen Sie mich bitte an. Ich würde gerne von den neuesten Abenteuern eines guten alten Freundes erfahren.
Zahme Vögel aus dem Nest Das höchste Ziel der Verhaltensforschung ist es, Lebewesen in ihrer natürlichen Umgebung zu verstehen. Das ist nicht immer eine einfache Aufgabe, vor allem nicht bei scheuen und frei lebenden Tieren. Man muss in der Regel Kompromisse machen, zuerst in dem einen, dann in einem anderen Punkt, bis man schließlich eine ausgewogene und vollständigere Perspektive erhält. Kein einzelner Versuch kann alle Fragen beantworten, weil jeder seine Grenzen und Fehler hat. Aber man kann durch mehrfachen Anlauf einen genaueren allgemeinen Überblick bekommen und jedes Mal das Beste daraus machen. Ich fühlte, dass ich das Rabenproblem erst dann wirklich verstehen oder erkennen könnte, wenn ich das Tier begriffen hätte oder ihm näher gekommen wäre. Und ich wusste, dass ich Raben nie verstehen würde, wenn ich sie nur aus der Ferne bei Feldforschungen betrachtete; dies galt genauso, wenn ich sie nur in einem Käfig in meinem Wohnzimmer beobachtete, vor allem, wenn ich nichts von ihrer Vorgeschichte wüsste. Hängt die offensichtliche Angst der Raben vor Ködern, die ich in der Natur beobachtete, damit zusammen, dass sie einmal gefangen wurden oder zusahen, wie andere gefangen wurden? (Eine Idee, die mir ein anderer Krähenforscher als »offensichtlichen« Grund nennt.) Wenn dem so ist, müssten handaufgezogene Vögel weniger zögern, bevor sie fressen. Dies wäre ein sauberer Weg, um die Hypothese von der selbstsüchtigen Herde zu testen: Es dürfte keine Rekrutierung geben, wenn der
Köder als sicher gilt. Es gab noch andere Gründe, warum ich mit handaufgezogenen Raben arbeiten wollte. Die zahme Krähe meiner Kindheit im Gedächtnis, erwartete ich, dass zahme Raben mir folgten. Und ich kam auf die Idee, eine Gruppe von Raben in einer großen Freivoliere zu halten, einen von ihnen freizulassen und zu einem delikaten Wildkadaver zu leiten. Würde er dann seine Gefährten rekrutieren? Und wenn ja, wie? Außerdem könnte ich testen, ob vorzugsweise Verwandte rekrutiert werden oder nicht, indem ich eine Voliere mit Brüdern und Schwestern und eine mit einander fremden Vögeln bestückte. Abgesehen von spezifischen Fragen, zu denen zahme Vögel Aspekte liefern könnten, die man bei der Feldforschung nicht erkennt – ich spüre, dass der wirkliche Wert in den nicht vorhergesehenen Einsichten liegen könnte, die man oft erhält, wenn man vorher nicht beackerten Boden erforscht. Darüber hinaus hatte ich einen persönlichen, atavistischen Grund, anderes »Blut« kennen zu lernen, ein – wenn auch gänzlich anderes – warmblütiges »Tier« wie mich selbst; und das gelingt nur, wenn man Individuen kennen lernt. Forschung in ihrer Mehrzahl bezieht notwendigerweise die Population als Ganzes ein, sammelt dazu Daten und analysiert den Organismus auf Armeslänge mit Graphiken, Statistiken und Kurven mit x- und y-Koordinaten. Allgemeine Ergebnisse erscheinen als Durchschnittswerte und Abweichungen vom Mittelwert. Doch wie gründlich sie auch sein mag, etwas sehr Wichtiges entdeckt eine solche Untersuchung nie – individuelle Unterschiede. Dieses Individuelle, vielleicht sogar »Persönlichkeit«, ist mehr als eine Variation um den Mittelwert herum. Und es gehört zumindest bei einigen Tierarten
ebenso zur Realität wie die kollektiven Umrisse ihrer Schnäbel oder das kollektive Funktionieren ihrer Eingeweide. Größtenteils werden individuelle Unterschiede allerdings als lästige Variablen betrachtet, die man besser minimiert, weil sie »stimmigen« oder »Durchschnitts«-Ergebnissen im Weg stehen. Wenn ich dasselbe Territorium aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig durchquere, um seinen Lebensrhythmus zu finden, mag man mir das als »weitschweifig« vorwerfen. Doch das Spektrum der Möglichkeiten in der Biologie ist oft groß, und wenn man nicht gerade besonderes Glück hat, muss man zumindest die vielen Möglichkeiten oberflächlich durchgehen, bevor man mit einiger Sicherheit auf etwas Solides, Lebendes und Relevantes zusteuert. Mit solchen unausgesprochenen Hintergedanken besorgte ich mir die nötigen bundesstaatlichen und einzelstaatlichen Genehmigungen. Im Mai 1986 holte ich junge Raben aus zwei Nestern zu dem Zweck, »Rekrutieren experimentell zu testen«. Als sie noch klein waren, hielt ich sie in strohgefüllten Eimern, die ich zwischen meinem Haus und meinem Büro in Burlington, Vermont, transportieren konnte. Sie mussten fast jede Stunde gefüttert werden, und sie fraßen gierig alle überfahrenen Tiere, die ich aufsammelte und für sie klein hackte. Ich ergänzte diese Nahrung mit Hunde- und Katzenfutter aus Dosen, rohen Eiern und Hüttenkäse, Insekten, wenn ich sie bekommen konnte, und anderer Nahrung in kleinen Mengen. Ganz allgemein bekamen sie jede Art von Fressen oder Futter bald über und würgten es aus, wenn sie es zu oft und lange erhielten. Gegen Ende Mai, als sie soweit waren, das Nest verlassen zu können, steckte ich sie
in große Freivolieren, die ich neben dem Haus gebaut hatte. Sie weckten mich jeden Morgen gegen Sonnenaufgang mit ihren durchdringenden lauten Rufen nach Futter. Eine Brut, die Dixfielder, bestand aus zwei Jungen, Theo und Thor (später Snoopy), die andere aus drei, den Weldern (Ralph, Ro und Rave). Als ich sie holte, bettelten die noch nackten und blinden Jungen als Reaktion auf jede Störung, indem sie ihre Hälse hochstreckten und sperrten ohne Bezug auf die Richtung oder Quelle der Störung. Bevor sie flügge wurden, konnte ich die einzelnen Individuen nicht unterscheiden und behandelte sie alle gleich. (Nachdem sie flügge geworden waren, konnte ich sie leicht unterscheiden, sowohl durch ihr Verhalten wie durch ihr Aussehen, zum Beispiel die Form des Schnabels und die Größe.) Die zwei Gruppen wurden in verschiedenen Volieren gehalten; viele der detaillierten Beobachtungen wurden zweimal täglich (eine halbe bis zwei Stunden) durch ein Fenster meines Hauses gemacht, an das eines der großen Vogelhäuser angrenzte. Verschiedene Charaktere zeigten sich bei den Weldern, noch bevor sie flügge geworden waren. Mitte Mai, als die Jungen alle gleich groß waren und das volle Gefieder hatten, blieben Ro und Rave noch friedlich in ihrem Nest, während Ralph sich fast ununterbrochen mit Strecken, Flügelschlagen und Picken an den Ästen seines rekonstruierten Rabennestes beschäftigte. Er verbrachte viel Zeit, sich aufmerksam umzusehen. Sobald er das Nest verlassen hatte, entwickelte er die Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit auf meine Arme und Schultern oder auf die anderer Leute zu springen;
er schien auf Knöpfe und Ohrringe zu picken und an jedem losen Kleidungsstück zu zerren. Trotzdem erlaubte er mir nicht, ihn zu berühren. Keiner der fünf anderen Vögel landete jemals auf nur irgendjemandem. Ralph war der unternehmungslustigste der drei, der einzige, der regelmäßig in die Fenster meines Hauses lugte und versuchte hineinzukommen. Er war der erste, der einen neuen Schlafplatz benutzte (den später alle benutzten), ein Bad in der dafür hergerichteten Schüssel nahm und ein Insekt fing; er beschimpfte eine Schildkröte, die in den Käfig gesetzt worden war, pickte an einem Topf, näherte sich einem Fremden, benutzte einen neuen Nistbaum und tötete einen kleinen Frosch. Eindeutig war er immer der erste, der neues Futter, das auf dem Boden ausgelegt war, inspizierte; konsequenterweise hatte er immer Gefolgsleute. Ich habe keine einzige Aktion gesehen, die Ro oder Rave initiiert hätten. Ralph war der »Initiator« oder der Führer, und Ro und Rave folgten ihm; sie kamen zum Fressen nur herunter, wenn Ralph dort zuerst gewesen war. Einmal zum Beispiel breitete ich eine Handvoll gekochten Reis auf dem Boden der Voliere aus. Alle drei Vögel nahmen ihn einen ganzen Tag lang nicht zur Kenntnis. Am zweiten Tag nahm ich etwas von diesem Reis und hielt ihn Ralph hin. Als Chef-Rabenhalter war ich offenbar der »Übervogel« und damit Initiator für Ralph, der den Reis eifrig aus meiner Hand fraß. Er hüpfte dann herab, um den Reis vom Boden zu picken, und es verging keine Minute, bis Ro und Rave sich anschlossen. Dieses Verhaltensmuster wiederholte sich mit kleinen Tierkadavern und jeder neuen Nahrung, die ich brachte. Thor von den Dixfieldern vertraute mir ebenfalls, und ich war ihr Führer. Weder Thor
noch Theo pickten an einem überfahrenen Vogel, der einen Tag lang auf dem Boden der Voliere lag. Als ich den Vogel hochhielt, kam Thor, wie gewöhnlich der Führer, sofort zu mir geflogen und pickte daran. Er pickte weiter, als ich ihn wieder auf den Boden legte. Theo kam sofort dazu und fraß auch davon. Dieselbe Reihenfolge im Verhalten wurde bei diesen beiden Vögeln wiederholt beobachtet, so wie ich sie wieder und wieder bei Ralph von den Weldern gesehen habe. Kurz bevor er flügge wurde, beschrieb ich Ro als »langsamsten, langweiligsten und am wenigsten unternehmungslustigen« der drei aus dieser Brut. Drei Monate später, jetzt in erwachsener Gestalt (mit Ausnahme der Flügel- und Schwanzfedern), bleibt diese Feststellung unverändert. Anders als Ralph zeigt er offensichtlich keine Neugier bei neuen Gegenständen oder neuem Futter in der Voliere. Keiner der anderen Vögel verband sich mit ihm, und keiner folgte ihm, als die Vögel später freigelassen wurden. Andere haben die großen Unterschiede im Verhalten verschiedener gefangener Raben festgehalten. Eberhard Gwinner beobachtete in Deutschland große Unterschiede im Spielverhalten der Jungvögel und beim Nestbau. Bei einem Paar baute das Männchen fast das ganze rohe Nest, während das Weibchen die Innenausfütterung besorgte. Bei einem anderen Paar war es umgekehrt, ein drittes arbeitete durchgehend gleichmäßig, und bei einem weiteren Paar beteiligte sich das Männchen fast überhaupt nicht am Nestbau. Die Dixfielder hatten ebenfalls verblüffend unterschiedliche Charaktere. Drei Monate nach dem Flüggewerden waren beide zahm und fraßen mir aus der Hand, doch Thor
war der einzige aus beiden Nestern, der mir erlaubte, ihn anzufassen. Er saß dann ruhig da, offensichtlich vergnügt, schloss seine Augen und machte sanfte, gurrende, nasale und zufriedene Geräusche, während ich mit meinen Fingern nach Belieben durch seine Federn an Kopf, Hals, Rücken, Brust und Bauch fuhr, so lange wie er wollte. Allerdings setzte er sich nie auf mich. Thor war der Anführer der Dixfielder und wie Ralph von den Weldern der kühnste, lebhafteste und neugierigste der Brut. Er war mit seinem Nestgefährten Theo im Käfig und später mit Ro. Thor war immer der erste, der jedes seltsame Objekt in der Voliere inspizierte, einschließlich Erdnüsse, Getreide, Körner, verschiedene Insekten, tote Vögel und Säugetiere, Geschirr, Werkzeuge, Blumen, Regenwürmer, Reptilien, Amphibien, Obst, bunte Ringe, Holzstücke, Spielzeug, Silber. Theo war eindeutig auch an diesen Objekten interessiert, aber er betrachtete sie aus hoher Warte, bis Thor sie berührt hatte. Ro dagegen schien völlig uninteressiert, wie er es schon war, als er bei seiner eigenen Brut lebte, er bewegte kaum den Kopf, außer wenn es verräterisch große Gegenstände waren (ein toter Waschbär und so weiter). Ließ Thor ein Objekt liegen, ohne davon zu fressen, bemühte sich Theo niemals herunter, um es zu prüfen. Sie (1ch hielt sie für ein Weibchen, weil sie kleiner als Thor war) interessierte sich für die Objekte nur so lange, wie Thor Interesse zeigte. Wenn Thor zu fressen anfing, kam Theo dazu oder schloß sich ihm innerhalb von ein oder zwei Minuten an. Zur Abwechslung verfolgte Theo Thor und versuchte, ihm Bissen direkt aus dem Schnabel zu ziehen, obwohl gleichartiges Futter im Käfig zur Verfügung stand. War das Futter neuartig, interessierte sie sich nur
für jeweils die Stücke, von denen Thor fraß, selbst wenn sie sich anstrengen musste, um ein paar Bissen zu bekommen. Wenn ich Thor ein Blatt hinhielt, versuchte sie, es ihm wegzunehmen. Fraß er Schnee, fraß sie ihn auch, aber nur aus seinem Schnabel. Ein pelziges Tier in der Größe eines Grauhörnchens würde von Thor beim ersten Mal nicht angerührt werden, bevor er es nicht einige Minuten oder Stunden examiniert hätte, zuerst oben von seinem Platz, dann näher am Boden. Er würde sich vorsichtig nähern und picken, sich zurückziehen, wieder picken und so weiter mehrere Minuten lang, genau wie die frei lebenden Vögel, die ich in Maine beobachtet hatte. Theo würde sich dem Grauhörnchen nicht nähern, ehe nicht Thor davon gefressen hatte. Einmal zeigte Ro keine Vorsicht. Er näherte sich direkt, ohne zu zögern. In Sekunden landete er wie ein Falke oben auf einem Eichhörnchen und fing an, die Eingeweide herauszuziehen. Doch er fraß nur kurz. Thor und Theo sahen beide zu, in weniger als einer Minute sprang Thor herunter, packte Ro am Schwanz, zog ihn langsam fort, sprang dann auf ihn und pickte ihn. Ro zog sich auf seinen Schlafplatz zurück. Thor fraß nun alleine, aber bald versuchte Theo, sich anzuschließen. Auch sie wurde zurückgescheucht, aber nicht angegriffen. Fünfundzwanzig Minuten lang hatte Thor das Eichhörnchen für sich, während Theo versuchte, etwas abzubekommen. Bevor ich die Beobachtung beendete, wurde sie 21mal nacheinander weggestoßen. Nach einer halben Stunde begann Thor, Pausen einzulegen, um Fleisch zu verstecken. Seine Proteste gegen Theos Einmischung wurden nachlässiger, und bald fraßen beide Vögel nebeneinander. Ro mischte sich nicht ein, beobachtete jedoch weiter von seinem
Platz aus. Nachdem Thor und Theo satt waren, sorgte ich für einen überfahrenen Vogel. Ro, das nicht umstrittene Fleisch sehend, kam sofort von seinem Ast und fing an, gierig zu fressen, aber Thor und Theo kamen auch. Ro war beiden gegenüber aggressiv, inzwischen satt gefressen, hüpften beide eilig zur Seite. Ich glaube jedoch, dass es weniger Unterwerfung als Unlust war, sich mit ihm anzulegen. Später am selben Morgen gab ich den Vögeln einen frisch gekochten Maiskolben. Wie gewöhnlich war es Thor, der Anführer, der das seltsame und für ihn furchterregende Ding untersuchte, er pickte, sprang, pickte und so weiter, bis er mit Fressen begann. Theo, die wie gewöhnlich aus der Entfernung zugesehen hatte, versuchte sofort, sich anzuschließen, nachdem Thor die ersten Bissen genommen hatte. Doch Thor verjagte Theo energisch fünfzehnmal hintereinander. Also fraß Theo die Reste des Eichhörnchens. Ro blieb an seinem Platz. Ich wollte Thor überfüttern und brachte drei weitere Maiskolben. Jetzt bekam Ro auch seine Chance beim Mais. Jedes Mal wenn Theo und Thor ihm näher kamen, vertrieb er sie. Offensichtlich aus Hunger schätzte er den Mais mehr, während die anderen, satt wie sie waren, weniger Wert darauf legten. Diese Beobachtungen nur eines Tages zeigen, dass Fressen für Raben eine soziale Tätigkeit ist. Thor, der Führer, der alle merkwürdigen Objekte prüfte, war eindeutig der dominante Vogel. Er konnte von den anderen nehmen, was er wollte und wann er es wollte. Aber er hatte nicht den Tick, »Sieger« zu sein. Wie ein scheinbar unterwürfiges Individuum ging er den beiden anderen schnell aus dem Weg, um einen Kampf zu
vermeiden, bei dem wenig zu gewinnen war. Nur Ralph und Thor, die beiden Dominanten, zeigten offenkundig Mut. Doch anfangs hatten sogar diese Vögel Angst vor allem Neuen in ihren jeweiligen Käfigen. Die Angst zeigte sich am stärksten bei großen Gegenständen — einem toten Waldmurmeltier, einem Stuhl — und als die Vögel noch jung waren. Sie reagierten, indem sie wild durch die Voliere flogen und gegen den Draht stießen. Weniger erschreckende Gegenstände wie ein Wasserkessel oder ein totes Eichhörnchen konnten einen Vogel veranlassen, sich auf seinen Platz zurückzuziehen, während der andere das Ding von einer näheren Stelle aus beobachtete. Gelegentlich hüpfte der Führer auf den Boden, um den Gegenstand genauer zu betrachten. Genauso hatte ich es draußen bei den wilden Raben am Kadaver beobachtet. Der Führer näherte sich dem Objekt nach und nach, sprang zurück, kam wieder näher, bis er schließlich nah genug war, um es mit seinem Schnabel zu streifen. Nach mehreren Annäherungen und Pickern nahm er das Objekt auf (falls es klein genug war) und ließ es schnell bei der Sprungbewegung fallen. Das Objekt wurde in die Luft geworfen, und der Vogel schrie laut, zornig und rauh. Nach gewöhnlich mehrfachem Picken und Werfen erforschte der Vogel das Ding noch näher und begann dann, entweder zu fressen oder es von nun an völlig zu ignorieren. Ich beobachtete dieses Verhalten regelmäßig, als ich zum ersten Mal einen Löffel brachte, eine haarige Raupe, einen kleinen Frosch, einen Zweig Goldrute, eine Handvoll grüne Weinreben, eine Handvoll Haferflocken, einen Knochen vom Schweinekotelett und natürlich bei jedem pelzigen oder gefiederten Tier. Der Knochen, die Haferflocken,
Blumen, Raupe und Reben verursachten keine Aufregung, als sie sie zum zweiten Mal sahen, aber auf den lebenden Frosch, die toten Vögel und Säugetiere erfolgte bei weiteren Begegnungen dieselbe Reaktion, wenn auch in abgeschwächter Form. Unbelebte und/oder nicht essbare Objekte wurden später völlig ignoriert. Den meisten Insekten – eine Libelle, Schmetterlinge, große Käfer, weiche Raupen, Heuschrecken, Wespen und Fliegen – näherten sie sich schnell, sie wurden ohne Zögern gefressen, selbst wenn sie sie zum ersten Mal sahen. Ich schließe, dass die übertriebene Scheu an Ködern (Neophobie), die ich draußen gesehen habe, angeboren ist. Die Raben müssen nicht lernen, Kadavern aus dem Weg zu gehen, sie haben schon einen gesunden Respekt vor ihnen. Die »Hampelmann-Manöver«, mit denen sie neue Situationen erkunden, können kein Versuch sein, Fallen außer Gefecht zu setzen, damit das Fressen beginnen kann, wie verschiedene Leute gemeint haben. Die Raben fürchten etwas, mit dem sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, weniger als etwas, das neu für sie ist. Meine Studien haben auch gezeigt, dass es viele individuelle Idiosynkrasien beim Verhalten gibt und dass Raben Dominanzhierarchien innerhalb der Gruppe haben, die wahrscheinlich einen hohen Status mit Mut oder Tatkraft verbinden. Ich lernte viel von den gefangenen Raben, was später von Bedeutung werden sollte, aber ein Experiment, das ich vorhatte, konnte nicht gemacht werden. Ich hatte erwartet, dass die Raben nach ihrer Freilassung blieben. Anders als die Krähen, die ich früher hatte, haben diese Vögel eine starke Neigung zu wandern. Nach wenigen Tagen zerstreuten sie sich, und ich hatte Schwierigkeiten, drei von ihnen wieder einzufangen.
Da ich für den größten Teil ihres bisherigen Lebens ein Vater für sie gewesen war, nehme ich an, dass die elterlichen Bindungen leicht gelöst werden. (Spätere Feldforschungen zeigten dasselbe.) Dies war für mich ein Hinweis, dass ich bei der Erforschung der Mechanismen und Gründe für das Rekrutieren die übliche Erklärung durch Sippenselektion aufgeben sollte. Eine völlig unerwartete Entdeckung war die Farbe der Rachenhöhle. Im Januar, als Theo und Thor ohne Rivalen zusammenwohnten, änderte sie sich von hellrosa zu schwarz. Alle anderen gleichaltrigen Vögel behielten ihre rosa Zungen und rosa Rachen. Dies ist eine bedeutsame Beobachtung, die näher erforscht zu werden verdient, denn mehrere Veröffentlichungen haben kürzlich darauf hingewiesen, dass die Rachenfarbe ein Indikator für das Alter ist: die Jungen haben rosa, die Altvögel schwarze Rachen. Was bei Theo und Thor anders war — sie hatten keine ernsthaften Rivalen und balzten einander ständig, Tag für Tag, an. Viele Vögel ändern die Farbe des Rachens unter hormonellem Einfluss, wenn die Brutzeit beginnt, in der die Vögel bekanntlich sehr empfänglich für psychologische Reize sind. Ein anderer, einzelner Rabe, den ein Bekannter aufzog, änderte seine Rachenfarbe vorzeitig im ersten Herbst von rosa zu schwarz. Die bekannte Rangordnung bei Raben, wie sie Eberhard Gwinner entschlüsselte, kann zur physiologischen Unterdrückung der Reife bei rangtiefen Vögeln führen. Dies heißt, dass dominanter Status durch Wirken des endokrinen Systems Brutprivilegien bringt, wie es von geselligen Insekten bekannt ist.
Eine andere Hypothese 20. OKTOBER 1986. Meine dritte Saison der Rabenbeobachtung beginnt. Heute ist mein erster Ausflug ins Studiengebiet. Zuerst möchte ich herausfinden, ob Raben da sind, und dann, ob sie noch rekrutieren. Ich muss es wieder sehen, live, um dieses immer noch unglaubliche und unerklärliche Wunder wirklich vor mir zu sehen und meine Energie aufzuladen, damit ich nach Erklärungen suchen kann. Wie gewöhnlich, wenn ich zum ersten Mal nach Maine komme, frage ich bei Mike Pratt, dem lokalen Wildhüter, ob er wider Erwarten ein totes Tier zur Verfügung hat. Er hat. Zwei tote Elche (eine Kuh und ein Kalb) wurden vor etwa zehn Tagen am Ausfluss des Sees gefunden. Erschossen und liegengelassen. Killer auf freiem Fuß. Er erklärt mir den Weg, über eine versteckte Forststraße, zu dem Platz in einer Lichtung, wo sie jetzt liegen. Ich fahre zwischen jungen Erlen und durch große Schlaglöcher auf der Forststraße, um nach den Elchen zu sehen, und schaue überall nach Raben. Aber kein Rabe zeigt den Platz an, stattdessen leitet mich der Gestank. Das Kalb, das ein Trapper aufgeschnitten hatte, um etwas Fleisch zu nehmen, ist schon gänzlich von Raben aufgefressen. Nur das Fell und die sauber abgepickten Knochen liegen noch da. Die Kuh dagegen ist aufgebläht, bis auf die ausgepickten Augen jedoch intakt. Weiße Kotspuren laufen an allen Seiten des Rückens herab und zeigen, dass die Raben sie als Rastplatz benutzt haben. Ihr vorderes Ende hat sich in eine riesige wimmelnde Madenmasse
aufgelöst, nachdem die Schmeißfliegen durch den Kopf hineingekommen sind. Wenn Raben die Wahl haben, mögen sie eindeutig weder Maden noch verrottetes Fleisch. Doch die hinteren Teile sind noch nicht verdorben, ich schlitze das Fell auf und ziehe es ab, um ein Stück rotes, unverdorbenes Fleisch freizulegen. Werden die Raben kommen, nachdem das Fleisch freigelegt ist? Ich fahre um drei Uhr weg, zwei Stunden bevor es dunkel wird, eine Stunde lang habe ich in dieser Gegend keinen einzigen Raben gesehen oder gehört. 21. OKTOBER. Als ich am Morgen zu dem Elch zurückkomme, fressen dort schon fünf Raben. Dies sind die klaren Ergebnisse eines ungeplanten Experiments, die zeigen, dass Carnivoren/Aasfresser (1n diesem Fall – ich, weil ich an ihrer Stelle den Kadaver öffnete) für Raben im Wettstreit mit Bakterien und Fliegen um dieselbe Nahrungsquelle nötig sind. Es kommt selten vor, dass man einen Elchkadaver oder wenigstens Teile davon zur Verfügung hat. Bis zur Abenddämmerung haben wir, mein Neffe Charlie ist diesmal dabei , einen Unterstand aus jungen Tannenbäumen und Zweigen zusammengebastelt. Wir ziehen den Elch mit dem Jeep etwa 15 Meter vor unser Versteck, von dem aus wir morgen früh mit unseren Wachen beginnen wollen. 22. OKTOBER. Ich lasse mich auf den Bündeln von Tannenzweigen nieder, die wir in unseren Bau gebracht haben, und höre nach wenigen Minuten Raben in dem Gebiet. Aber erst zwei Stunden später kommt der erste Vogel zum Fressen herunter. Nach
zwei Minuten schließen sich vier andere an. Danach schwankt die Zahl der Vögel, die für den Rest des Tages am Kadaver fressen, zwischen fünf und fast zwanzig. (Es waren so viele, die dicht gedrängt auf dem Hinterteil, von dem sie fraßen, hockten, dass es schwierig war, die genaue Zahl festzustellen.) Die Vögel kommen und gehen ununterbrochen, und fast keiner fliegt fort, ohne ein großes Stück rotes Fleisch, von dem Teile aus dem Schnabel heraushängen, in seinen Kehlsack gestopft zu haben. Bei durchschnittlich 7,1 anwesenden Vögeln während einer Neun-Minuten-Zählung gab es je dreizehn Ankünfte und Abflüge, jeder mit einer Fleischladung. In dieser Dichte geht der Verkehr den ganzen Tag. Am Ende des Tages ist etwa ein Drittel des Fleisches vom Hinterteil abgefressen. Während die Raben sich nach und nach vorarbeiten, sind die Maden am Vorderteil des Elchs noch unter sich, doch sie bewegen sich langsam nach hinten. Es gibt Berichte, dass Raben die Maden an Kadavern fressen, aber diese tun es nicht. An diesem Tag gibt es keine ernsthaften Kämpfe zwischen den Raben. Gelegentlich schreit einer, wenn er ganz offensichtlich von einem dominanten Vogel im Getümmel zur Seite gedrängt wird. Aber der Platz reicht für viele Raben, und als zehn Vögel da waren, sah ich innerhalb von zehn Minuten nur einen kleinen Streit. Anstelle von Kämpfen beobachte ich Balzen. In den Bäumen oberhalb des Elchs sitzen Vogelpaare, die weiche gurrende und maunzende Geräusche machen. (1ch weiß jetzt, dass das nicht unbedingt Adulte sein müssen, denn meine gefangenen Jungen fingen schon im Spätsommer mit Balzen an.) Gelegentlich sträubt einer der beiden das Gefieder, rückt näher an den
anderen und macht eine Art Verbeugung. Der sichtbare Teil dieser Darbietung ist bei verschiedenen Raben gleich, doch die Geräusche sind oft individuell unterschiedlich. Bei einem Vogel geht es: » (ein Schnapper)-quork«, »schnapp-quork«, bei einem anderen »(ein Quietscher)-schnapp«, oder »(ein Schnappen-Grunzen)« oder »ein SchnapperSchluckauf« und so weiter. Bei einigen der Balgereien, die sich entwickelten, ging es offensichtlich nicht nur um das Futter. Dreimal sah ich einen Vogel in dem Baum über mir in Imponierstellung vor einem anderen; als ein dritter Vogel näher kam, griff der erste ihn an. Bei drei anderen Gelegenheiten verfolgte ich ausgedehnte Luftjagden, bei denen viel und hoch gekrächzt wurde. Mindestens sechsmal flogen alle Vögel plötzlich fort, als ob sie über irgendetwas beunruhigt wären (1ch habe nie herausbekommen, was es war). Fünfmal registriere ich, dass der Vogel, der zuerst zum Fressen herunterkommt und die anderen führt, entweder schreit oder eine eher langsame Folge von drei Klopfern macht. Diese Klopfgeräusche sind anders als das schnelle Klopfen, ein xylophonähnlicher Ton mit vielen kurzen Signalen pro Sekunde, der in großer Höhe beginnt, dann die Tonleiter absteigt, um nach etwa zwei Sekunden mit einem abrupten kleinen »thunk« zu enden. Während er die »knock, knock, knock«-Geräusche macht, zeigt der Rabe Imponierverhalten mit Körper und Gefieder, wie es für dominante balzende Vögel beschrieben wird. Wenn er das tut, sehe ich immer ein Publikum von anderen Vögeln in der Nähe, das darauf zu warten scheint, herunterzufliegen. Warum warten sie? Ich weiß es nicht, bin aber bald überzeugt, daß meine Interpretation des Klopfens falsch war. Es
ist wahrscheinlich Teil eines werbenden oder dominanten Imponierverhaltens. Vielleicht hörte ich es in der Nähe von Futterstellen, nachdem die Raben sie verlassen hatten, nicht weil sie vor Gefahr warnen wollten, sondern weil sie müßig herumsaßen und nicht fraßen, also Zeit für Imponierspiele hatten. Die meisten Singvögel balzen im Frühling, also kann man jetzt, im späten Oktober, Balzverhalten ausschließen. Doch Raben brüten im Winter! Die jungen Männchen könnten auf der Suche nach einem Weibchen und nach einem passenden Revier sein, rechtzeitig vor dem Herbst, um die Eier bis März auszubrüten. Die Beobachtungen beim Elch sind für mich ein unerwarteter Gewinn. Ich hatte auch meine eigenen Köder mitgebracht, 200 Pfund Schweine- und Kuhinnereien, in Schlachthäusern gesammelt, dazu 200 Pfund Maiskörner. Charlie und ich verteilten Fleisch und Mais auf sieben verschiedenen Haufen entlang der alten, nicht benutzten Forststraßen im Wald. Gäbe es unterschiedliches Verhalten bei zwei verschiedenen Arten von Ködern? Würden die Vögel sich gleichmäßig auf die verschiedenen Haufen aufteilen, oder würden sie sich zusammenballen? Wie lange würde es dauern, bis sie die Köder finden? Es ist diesmal ein ganz anderes Experiment, und es könnte deshalb zu unbekannten und nicht vorhersehbaren Ergebnissen führen. Die Ergebnisse von den Maishaufen waren einfach: Kein einziger Rabe fraß von ihnen. Obwohl im Westen der Vereinigten Staaten Raben mit Getreide überwintern können, rührten die Raben es an dem Platz, wo der Elch gelegen hatte, nicht einmal an. (War er zu hart und zu trocken? Meine zahmen Raben liebten frischen Mais.) Ein Maishaufen
wurde von einem Rotkehlchen aufgesucht, ein anderer von mehreren Kragenhühnern, ein weiterer von zwei Krähen und einem Reh. Unerwarteterweise lieferten die Fleischhaufen, die zwischen denen mit Mais verteilt waren, höchst aufregende und komplexe Ergebnisse. Es zeigten sich zwei Muster: Entweder gab es viel und sehr schnelle Rekrutierung – oder gar keine! Drei der Fleischhaufen, die aufgesucht wurden, lockten nie mehr als zwei Raben an, und die, schien es, verjagten andere Vögel. An dem Fleischhaufen bei der Hütte beobachteten wir zwei Raben, die in der Dämmerung lautlos mit Fressen begannen. Dann sahen wir einen dritten Raben in der Umgebung, nachdem wir die rauhen, kratzigen Rufe gehört hatten, die Vögel beim Kämpfen machen. Am nächsten Tag waren noch immer nur zwei Vögel an diesem Haufen. Bei einem anderen, fast identischen Fleischhaufen, nicht mehr als eine Meile entfernt, fanden sich dagegen innerhalb eines Tages 25 Vögel zusammen. Zwei weitere Fleischhaufen zogen in der gleichen Zeit mindestens je fünfzehn Vögel an, auch innerhalb eines Tages. Es ist also eindeutig nicht die Größe des Futterangebots, die das Kriterium für das Rekrutieren ist. Werden identische Fleischhaufen entweder verteidigt, oder wird rekrutiert? Dies ist absurd, stimmt aber mit den bisherigen Daten überein. Ich schätze solche Unwägbarkeiten nicht, weil ich konstante und einleuchtende Ergebnisse haben möchte. Aber ich kann nicht umhin, wegen der seltsamen Beobachtungen beunruhigt zu sein: Ich muss etwas sehr Wichtiges übersehen haben, und danach muss ich jetzt suchen.
4. bis 9. NOVEMBER. Der experimentelle Vergleich von Raben an Fleischhaufen mit solchen an Körnerhaufen ist der bisher aufregendste gewesen, doch die Ergebnisse sind alles andere als geplant. Ich sehe etwas völlig Unerwartetes. Vage Vermutungen und Spekulationen schießen mir durch den Kopf, doch wegen der weit reichenden Folgen darf ich mich nicht darauf einlassen. Ich will jetzt das ungeplante Experiment von voriger Woche ernsthaft wiederholen und diesmal vierzehn Futterstationen nur mit Fleisch anlegen. Alle Köder liegen innerhalb meines Forschungsareals, in dem ich Probleme hatte, mehr als zwei Vögel mit einer Kuh anzulocken. Wenn jetzt viele Raben zu einem der vierzehn Köder kommen, kann es kaum deswegen sein, weil es ein besonderer Platz ist. Es hat gerade geschneit, und ich kann jetzt Spuren sehen. Ich hätte keine bessere Zeit auswählen können, um die Ergebnisse dieses Experiments zu überwachen. Gegen Abend haben die Raben bereits zwei Fleischhaufen entdeckt, und an dem einen hat sich zur Dämmerung bereits fast ein Dutzend Vögel versammelt. Am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch sind bis zu dreißig Raben an diesem Haufen zu finden, während zwölf andere identische Fleischhaufen nicht aufgesucht werden. Es ist eindeutig nicht die Angst vor dem Futter oder seine Lage, die dazu führen, dass Köder nicht aufgesucht werden. Außerdem, wenn Vögel unabhängig voneinander nach Futterstellen suchen und dorthin kommen, hätten sie eine fast gleiche Chance, jeden beliebigen der anderen zwölf Haufen zu finden. Zweifellos gibt es Ballungen bei der Verteilung von Raben an Futterstellen. Das ist so klar, dass ich es mit keiner Statistik beweisen muss.
Mehr Überzeugungsarbeit hieße, die Leute für dumm zu halten; die nicht sehen können. Aber dieses Experiment liefert noch eine weitere instruktive Lektion. Einmal gab es bei vier Ködern, die je zwei Raben anzogen, vier Tage lang keine Rekrutierung! Warum fand sich dann bei den anderen Ködern fast sofort eine zunehmende Zahl von Vögeln ein? Die vielen Köder, die ich diesmal ausgelegt hatte, lagen an verlassenen Forststraßen, und die Vögel begannen bereits zwei oder drei Stunden nach der Entdeckung des Futters zu fressen! In den beiden zurückliegenden Wintern hatten sich die Raben über das Futter in der Nähe meiner Hütte weder so schnell hergemacht noch rekrutiert. Das Zögern der Tiere, mit dem Fressen zu beginnen, hat mich immer sehr verwirrt, denn ein Raubtier hätte das Fleisch binnen Stunden wegschaffen können. Um es vorsichtig auszudrücken: Eine so langsame Reaktion auf so gute Nahrung schien mir ein Zeichen schlechter Anpassung. Beim Vergleich dieser Beobachtungen mit denen an meinen gefangenen Vögeln komme ich auf meine ursprüngliche Hypothese zurück. Vielleicht hatten die Raben doch Angst vor der Hütte, und es dauerte länger, bis ein Führer auftauchte, der zu dem Köder hinunterging. Danach jedenfalls war der Rest immer plötzlich furchtlos. Doch dies erklärt noch immer nicht das Nichtrekrutieren bei Futter, von dem gefressen wird! Ich hatte früher konstatiert, dass bei der Hütte nie kurz nach der Entdeckung eines Köders rekrutiert wurde. Doch nahezu unterschiedslos wurde gelegentlich rekrutiert, vorausgesetzt, die Zeit war lang (Tage oder Wochen) und der Köder groß genug. Jetzt
sehe ich es anders. Zwei Dinge passieren vielleicht gleichzeitig: In der einen Situation wird sofort rekrutiert, in der anderen (zur selben Zeit, im selben Gebiet und mit derselben Sorte von Köder) wird nicht rekrutiert. Der Unterschied muss bei den Vögeln selbst liegen. Könnten die Nichtrekrutierenden »verheiratete« Paare sein, die jahraus, jahrein im selben Revier bleiben wie das Paar von Hills Pond, das in der Nähe meiner Hütte nistet? Meine jungen Vögel blieben nicht lange in ihrem »heimatlichen« Revier bei meinem Haus. Vielleicht sind die Rekrutierenden vagabundierende Junge und NochNicht-Adulte, die sich nicht an ein Futter trauen, an dem ein Paar frisst? Doch das Revier eines Raben umfasst meist viele Quadratkilometer. Findet ein wandernder junger Vogel einen Kadaver, wird es vermutlich immer im Revier irgendeines adulten Raben sein, und wenn dieser einsame »Späher« ihn als erster findet, wird er vielleicht sehr schnell rekrutieren, um dem Revierhalter zuvorzukommen, der womöglich bereits da ist oder bestimmt bald kommen wird. Ist Rekrutieren deswegen so dramatisch schnell – wenn es geschieht? Natürlich ist ein Rabenpaar nicht ununterbrochen an irgendeiner Nahrungsquelle. Das entscheidende und sehr schöne ungeplante Experiment, das ich machte, ohne zu wissen, was es bedeutete, lief folgendermaßen ab: Da ich für viele Köder in einem Gebiet sorgte, machte ich es dem verteidigenden Paar unmöglich, überall gleichzeitig zu sein. Die vagabundierende Menge konnte ohne Widerstand von einem Futter zum anderen schweifen, während das Paar damit beschäftigt war, irgendeinen anderen Haufen zu verteidigen. Es ist eine saubere Hypothese, die mit den Ergebnissen
übereinstimmt. Doch wie alle anderen ist sie müßig, bevor ich nicht sichere Daten habe, die beweisen, dass es wirklich jugendliche Wanderer und erwachsene Ortsansässige gibt und dass sie sich unterschiedlich an Futterstellen verhalten. Wenn man nur bei der Feldforschung Individuen identifizieren könnte! Mit Raben, fürchte ich, ist es wohl unmöglich. Ich habe von mehreren ergebnislosen Versuchen anderer Forscher gehört, Raben zu fangen und zu markieren. Ich muss mich vermutlich auf umfangreiche Beobachtungen verlassen, um zu indirekten Einsichten zu kommen.
Adulte Reviervögel und wandernde Junge Bei adulten Krähen und den verwandten Arten gibt es fast überall dauerhafte Paarbildung. Das dominante, generell größere Männchen ist verantwortlich und allein imstande, ein permanentes Revier zu halten. Die Jungen werden von beiden Eltern gefüttert und bleiben bei ihnen während einer Periode der Abhängigkeit, die von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten nach dem Flüggewerden reicht. Wenn sie das Revier ihrer Geburt verlassen, verbünden sich die Jungen oft mit anderen Jungen; für den Raben, C. corax, werden sehr häufig die Neuhollandkrähe, C. coronoides, die Kapkrähe, C. capensis, die Aaskrähe, C. corone, und sogar die Elster, pica pica, in der Literatur als Gefährten auf Futtersuche erwähnt. Jedes adulte Rabenpaar, das eine »permanente« Bindung eingegangen ist, wohnt das Jahr hindurch in seinem Revier oder seiner Domäne. Das Paar schläft nachts sehr dicht beim Nest, das oft ausgebessert und dann Jahr für Jahr wiederbenutzt wird. Das Revier wird das ganze Jahr hindurch gegen andere Raben verteidigt, im Gegensatz zur Verteidigung gegen andere fliegende Feinde, die jahreszeitlich schwankt und auf das unmittelbare Nestgebiet beschränkt ist. Es gibt eine beträchtliche Flexibilität im Verhalten und vielleicht auch Subtilitäten bei der Revierverteidigung. Der deutsche Rabenforscher Johannes Gothe sah, wie ein Paar ein Trio von Fremden aus seinem Revier geleitete (also nicht direkt angriff), indem es an seiner Seite flog. Territoriales Verhalten könnte also nicht immer leicht zu ergründen sein, aber es zeigt sich indirekt in den Abständen zwischen benachbarten Nestern.
Gothe hat fast alle Rabenbrutplätze in Mecklenburg erfasst, seit Raben in den vierziger Jahren (offensichtlich aus Skandinavien über das benachbarte Schleswig-Holstein) dorthin einwanderten. Als die Rabenpopulation sich 1956 stabilisierte, gab es 73 besetzte Brutplätze. Auf etwa 1800 Quadratkilometern Buchenwaldbiotop gab es 37 Brutplätze, was eine durchschnittliche Reviergröße von 49 Quadratkilometer pro Paar ergibt. Diese hohe Population war nicht durch graduelle geographische Ausdehnung der Spezies in diesem Gebiet zustande gekommen , sondern offensichtlich durch mehrere Einwanderungswellen. Gothe vermutet, dass Rabenpaaren »ein mehr oder weniger weites Schema des Lebensraumes angeboren« ist, ohne Verteidigung spezifischer Grenzen, wenn die Populationsdichte niedrig ist, dass sie jedoch Grenzen immer mehr definieren und verteidigen, wenn der verfügbare Raum übersättigt wird. Neuere Studien in England von M. Marquiss und I. Newton vom Institute of Terrestrial Ecology in Schottland und von D.A. Ratcliffe, J.E. Davis, P.E. Davis, P.J. Ewins und J.N. Dymond von der British Nature Conservancy unterstützen Gothes Schlußfolgerungen und zeigen, dass die Brutdichte auch stark von der Nahrungsversorgung bestimmt wird. Die weltweit höchste Dichte scheint sich für Raben im zentralen Wales zu finden, wo wegen der etwas künstlichen Situation übermäßig vieler Schafskadaver Territorien auf nur zwei Quadratmeilen reduziert sind. Im nördlichen Wales ist die Dichte der Rabenpopulation durch die Zunahme von Schafskadavern seit den fünfziger Jahren angewachsen, bis eine Brutdichte von 3,7 Quadratmeilen pro Paar erreicht war. Vor und nach der Zunahme waren die Brutreviere, wie in Deutschland, eher regelmäßig als
zufällig verteilt, was wieder für Gothes Idee einer aktiven Raumaufteilung spricht. Im südlichen und zentralen Schottland wie in Nordengland führte verbesserte Nutztierhaltung zu weniger Schafskadavern auf den Weiden; die Aufforstung, die die Weiden weniger offen lässt, hat gleichzeitig seit 196o mit fast 50 Prozent zum Niedergang der Rabenpopulation geführt. In Virginia fanden Robert G. Hooper und Kollegen des U. S. Forest Service auf über elf Quadratmeilen nur ein Rabenrevier. Küsten scheinen für reichliches Futter zu sorgen, und an der Küste von Shetland lebt eine dichte Population in gleichmäßig verteilten Nestern auf Klippen. Aus England wird von fünfzehn Rabenpaaren auf nur 17 Küstenmeilen in Devon und Cornwall berichtet, mit einem Maximum von drei Paaren in einem nur 1000 Meter langen felsigen Gebiet. Hier können die Vogelreviere so zusammengerückt sein, weil es vor Ort reichlich Nahrung gibt oder weil die Futterreviere von den Nistplätzen getrennt wurden. Im Allgemeinen scheint eine Strecke von 1,2 Meilen die kürzeste Entfernung zu sein, die Raben zwischen ihren Nestern tolerieren. Die flügge gewordenen Jungen bleiben zunächst in der Nähe des Nistplatzes, folgen dann ihren Eltern etwa drei Wochen lang, nach denen es offenbar eine gegenseitige Entfremdung zwischen Eltern und Jungen gibt. Die Jungen gehen freiwillig fort und kommen nie zurück, während neue Junge aus anderen Gebieten kommen und ihren Platz einnehmen können. Gegen Ende des Sommers, wenn die Jungen zu wandern anfangen, kehren die Eltern zu ihrem alten Schlafplatz am Nest zurück. In Nordeuropa hat man festgestellt, daß einzelne Junge bis zu 310 Meilen weit im Herbst und Winter ihres ersten Lebensjahres ziehen.
Die meisten Rabenforscher stimmen überein, dass die Jungen wandernde Schwärme oder Trupps bilden. Die Evidenz dafür ist, dass 1. große Gruppen von Raben sogar zur Brutzeit beobachtet wurden, und 2. dass die Vögel erst brüten, wenn sie drei oder vier Jahre alt sind. Trotzdem überlegen D. T. Holyoak und D. A. Ratcliffe, ob die Schwärme nicht eher der nichtbrütende »Überschuß« der Population sind und keine so wesentliche und ausgeprägte soziale Phase im Lebensplan der Raben. Die Literatur macht wenig oder keinen Unterschied zwischen Pseudoschwärmen von Individuen, die zufällig bei einer Nahrungsquelle zusammenkommen, weil sie gerade da ist, und zusammengehörenden Gruppen oder Schwärmen, die auf Nahrungssuche fliegen. Für meine Forschungen ist dieser Unterschied entscheidend. Wenn die Versammlungen der Raben beim Futter das Ergebnis nomadischer Schwärme sind, die dieses Futter als Gruppe gefunden haben, dann ist Rekrutieren eine akademische Frage. Gothe zitiert zahlreiche Beispiele von Schwärmen oder Trupps von Raben, deren Zahl in Nordeuropa zwischen etwa 25 und fast 400 schwankt. Aber niemand hat festgestellt, ob diese Gruppierungen zusammengehörende Schwärme sind oder nicht, ob die einzelnen tatsächlich wie angenommene Junge sind oder ob es sich um Zufallsansammlungen handelt. Weder bestreite (noch akzeptiere) ich die verbreitete Annahme, dass junge Raben wandernde Schwärme bilden – es wurde noch nie ein Schwarm verfolgt, um diese Annahme zu erhärten. Ich möchte nur zwischen der Annahme und der Evidenz unterscheiden, was den Raben, C. corax, betrifft. Aus einigen Blickwinkeln ist es höchst
plausibel, dass die Annahme richtig ist, doch die Kluft zwischen dem höchst Plausiblen und dem Tatsächlichen ist oft riesig. Nach Prüfung der Literatur über die Hypothese von den wandernden Schwärmen der Jungen glaube ich, dass sie mehr auf plausibler Annahme als auf empirischer Evidenz beruht. Es mag tatsächlich wandernde Schwärme geben, aber nicht alle Ansammlungen von Raben sind notwendigerweise Schwärme, nicht alle Schwärme müssen wandern, und nicht alle Mitglieder von Schwärmen müssen Junge sein. Die Hauptquelle für die Idee der wandernden Schwärme junger Raben kommt aus naturgeschichtlichen Beobachtungen in Europa. Das Argument, dass Junge sich Schwärmen anschließen, stammt von eher zufälligen Sichtungen dieser Vogelgruppen auf Müllplätzen und an anderen Nahrungsquellen. In der Biologie setzt der Terminus »Schwarm« eine kohärente Gruppe wie die der Honigbienen voraus, von denen dieser Begriff stammt. Der Schwarm ist eine soziale Einheit, die zusammenbleibt. Das Wort kann nicht auf eine Gruppe von Bienen angewandt werden, die um eine gute Futterquelle versammelt ist, egal wie viele einzelne Tiere beteiligt sind. Der Unterschied, angewandt auf Raben, zwischen einem Schwarm und einer Ansammlung ist deswegen entscheidend zum Verständnis des Problems. Es gibt keine Evidenz, dass ein Rabenschwarm an einer Futterquelle analog einem Bienenschwarm wäre. Es könnten sich einfach Individuen unabhängig voneinander zusammenfinden. Rolf Hauri, ein Schweizer Pionier in Rabenfragen, rügt Scheven und Schmidt wegen
ihrer Annahme, dass die geselligen Schwärme aus Jungen bestehen. Er betont, dass man die Vögel, um sie wirklich als Junge bestimmen zu können (durch Details der Rachenund Gefiederfarbe), selbst in der Hand haben müsse. Dem stimme ich zu. Aber seine Begründung, warum sie Junge seien, ist ein Umkehrschluss: Er sagt, sie seien jung, weil die Adulten in ihren Revieren blieben, während die Jungen im Spätsommer ihre Eltern verließen und wahrscheinlich nicht brüteten, bevor sie drei Jahre alt sind. Im Englischen spricht man eher von flocks als von swarms (Schwärmen), aber flock ist nicht genau definiert. Trotzdem gibt es eine starke Evidenz, dass Raben manchmal gesellig sind und sich gelegentlich in Massen bewegen . Die Muster oder die Gründe für diese Massenbewegungen sind bislang völlig unbekannt und nicht voraussagbar, aber sie sind so dramatisch, dass es keinen Zweifel über ihre Existenz gibt. Gruppen von Raben wurden in Situationen beobachtet, die in scheinbar keinerlei Zusammenhang mit Nahrung oder Nistplätzen standen. Clayton M. White und Merle Tanner-White von der Brigham Young University in Provo, Utah, beschreiben eine Ansammlung von über 1000 Raben am Mittag des 11. April 1982 in der Nähe von Monticello, Utah. Ein anderer Biologe aus dem Westen, Terry Root, sah 1981 einmal »über 2000 Raben«, gegen 15.00 Uhr, die in großer Höhe am Rand der Sandia Mountains in New Mexico flogen – ein Vorfall, den er niemandem erzählte, »weil mir niemand glauben würde«, vielleicht weil ein solcher Anblick seltener ist als Berichte über UFOs. Es scheint zweifelhaft, dass sich so viele Vögel zum Fressen versammeln. Gothe berichtet, dass er mehrere Schwärme auf Transit in südwestlicher
Richtung, wohl von Skandinavien nach Deutschland, gesehen habe. Ein offensichtlich ähnliches Phänomen wurde in der Nähe von Petoskey im nördlichen Michigan von Kathy Bricker beobachtet, einer Biologin und Naturfotografin. An einem Mittag im frühen Dezember sah sie, wie sich etwa 150 Raben versammelten, von denen einige paarweise segelten und dann in den nahen Wald hinunterflogen. Dort war weder eine Nahrungsquelle noch ein Schlafplatz bekannt. Die Vögel waren am nächsten Tag fort und wurden nicht wieder gesehen. Es gibt vereinzelt andere Berichte von Rabengruppen, die offensichtlich zusammen unterwegs sind. George T. Austin berichtet in seinem ausführlichen Überblick über Raben an den Straßen der Mojave-Wüste von vierzig Raben, die er am 27. Februar 1968 um 6.15 Uhr sah. Fünf Stunden später waren sie fort. R. Hewson beobachtete bei mehreren Gelegenheiten in Wales, wie Raben »aus allen Richtungen« auftauchten und sich zum Balzflug zusammenschlossen. Am 25. November 1942 beobachtete er um 15.00 Uhr drei bis vier fliegende Paare, 20 Minuten später waren es 25 Vögel. Im frühen Februar beobachtete ich einmal in Maine dreizehn Raben, von denen zwölf paarweise flogen und einer allein. Fünfzehn Minuten später schlossen sich zehn weitere Raben von einer bekannten Futterstelle der lautstarken Gruppe an, die dann aus meinem Blickfeld verschwand. Ich hatte das Glück, einen anderen Massenflug zu erleben, und zwar in Hahnheide, einem Naturschutzgebiet, 40 Kilometer von Hamburg entfernt. Am 27. August 1988 gegen 13.00 Uhr hörte ich die Luftjagdrufe eines Raben, und als ich aufsah, erblickte ich drei Vögel in einem wechselnden Flugbild, zwei flogen gewöhnlich dicht beieinander,
der dritte folgte in ein bis zwei Meter Abstand. Fünfzehn Minuten später sah ich sieben Vögel, davon sechs als Paare. Als das Geschehen sich fortsetzte, kamen mehr und mehr Vögel, bis ich ein oder zwei Dutzend gleichzeitig sah, die in enger Formation, paarweise, in Dreier- und Vierergruppen flogen. Etwa zwei Stunden später näherte sich eine lange, lockere Reihe von 40 bis 5o Raben, die von Norden in mehr als 300 Meter Höhe einflogen. Sie bildeten eine gerade Linie, ohne zu kreisen oder Sturzflüge zu machen. Dann verschwanden sie in südöstlicher Richtung außer Sicht, zusammen mit den Neuangekommenen, doch etwa 20 Minuten später sah ich Vögel von Norden kommen. Es waren 55 gleichzeitig, die mit Segeln und Flugakrobatik begannen und dann nach und nach in derselben Richtung wie die anderen abzogen. Bernd Friz, der Chef von Hahnheide, versicherte mir, dass nur zwei Rabenpaare in der Gegend nisten, er kannte keinen lokalen Schlafplatz und hatte hier niemals einen ähnlichen Flug gesehen, obwohl er einmal im frühen Winter 150 Raben gesehen hatte, die etwa 30 Kilometer ostwärts flogen. Ich schließe daraus: Obwohl einige Daten darauf hinweisen, dass Raben unabhängig als Individuen handeln, zeigen andere Beobachtungen, dass es eine starke gegenseitige Anziehung gibt und manchmal das Wandern in Gruppen. Mehr kann nicht über die Bewegung der Trupps ausgesagt werden, weil sie bislang nie verfolgt wurden, und sie wurden auch nicht regelmäßig genug beobachtet, um ein gültiges Bewegungsmuster zu entdecken. Es gibt jedoch Gründe für die Annahme, dass einige der Vögel, die zusammen fliegen, auch nachts gemeinsam rasten, und beides kann große Konsequenzen
für meine Fragen, ob, wie und warum sie teilen, haben.
Gemeinsame Schlafplätze Weißkopfseeadler, Blutschnabelwetzer, Raben, Rotschulterstärlinge und Flughunde sind gänzlich unterschiedliche Tiere, aber sie besitzen zumindest ein gemeinsames Verhaltensmerkmal: Sie haben manchmal (die meisten Arten nur außerhalb der Brutzeit) gemeinsame Schlafplätze. Individuen oder Gruppen fliegen allmorgendlich von dort weg und kommen jeden Abend zurück. Zu einem gemeinsamen Schlafplatz können zehn Vögel gehören, doch gewöhnlich sind es sehr viel mehr. Auf dem berühmten Krähenschlafplatz von Fort Cobb in Oklahoma hat man »mindestens acht Millionen« Vögel zur Spitzenzeit im Januar geschätzt. An einem anderen Schlafplatz im mittleren Kansas sollen es bis zu zehn Millionen sein. Doch Richard Weffesten, ein Angestellter von Fish and Game, räumt ein: »Ich weiß nicht mit Sicherheit, wie viele dort sind, doch wenn man an einen Schlafplatz dieser Größe kommt, haben ein paar Nullen mehr oder weniger keine Bedeutung. Es übersteigt jegliches Fassungsvermögen, egal, wie man es beziffert.« Die evolutionäre oder adaptive Bedeutung der gemeinsamen Schlafplätze geht auch über das Fassungsvermögen hinaus. Sie ist immer noch ein Thema wissenschaftlicher Kontroversen, vor allem, was Raben betrifft. Ich sah einmal einen großen Krähenschlafplatz mit einer Million Vögel oder mehr in einem Wald in der Umgebung Münchens. Ich wollte die Raben sehen, die es — einem norddeutschen Biologiestudenten zufolge — überall in München geben sollte. Als ich ankam, sah ich fast überall in den Vororten Saatkrähen (C. frugilegus). Etwa eine Stunde
vor Einbruch der Dunkelheit flog eine endlose »Autobahn« dieser Krähen direkt über den Hauptbahnhof in der Mitte der Stadt, in der Nähe des Zoologischen Instituts, wo ich gerade eine Vorlesung hielt. Sie flogen alle nach Westen in derselben Spur, über und zwischen hohen Häusern, und als es eine Stunde später dunkel wurde, kamen sie immer noch vorbei. Mir wurde gesagt, dass sie jeden Winter aus Polen und anderen Ostbloccstaaten in die Stadt kämen. (Ein ähnliches Phänomen zeigt sich jeden Winter in Berlin und Wien.) Die Krähen flogen zu ihrem Schlafplatz in einem Fichtenwäldchen am Rand der Stadt, der Aubinger Lohe. Ein Freund brachte mich dorthin, er hatte sie »seit mindestens 3o Jahren« sich dort versammeln sehen. Als wir in der Dämmerung ankamen, war kein Vogel in Sicht! Wir wollten gerade wegfahren, als eine dicke Vogelwolke erschien (sie hatten sich vermutlich anderswo versammelt, an einem Zwischenplatz). Die Wolke kreiste, legte sich in die Kurve, stürzte herab, stieg wieder auf und wirbelte umher. Es müssen Zehntausende gewesen sein. Nach ihren Rufen erkannte ich, dass es eine Mischung aus drei Krähenarten war: Saatkrähen (C. frugilegus), Rabenkrähen (C. corone) und Dohlen (C. monedula). Es war ein furchterregender Anblick. Dann kam noch eine Wolke, und noch eine. Die großen Wolken flogen voneinander unabhängig umher, manchmal kollidierten sie beinahe und schwenkten dann rechtzeitig ab. Bald waren es Hunderttausende. Es wurde dunkel, und die vielen Vögel machten es noch dunkler. Es war, als ob man am Boden eines Fasses wäre, in das Tinte geschüttet wurde, die nach allen Richtungen spritzte. Plötzlich flogen alle hinab in die schwarzen Fichten, und immer
noch mehr kamen hinzu. Es hätte eine Million sein können oder zwei, oder drei, ich hatte keine Ahnung. Aber es waren keine Raben. Hier in Neuengland gibt es keine Krähenschlafplätze von solch spektakulären Dimensionen. Trotzdem sind die Hunderttausende von »schwarzen Vögeln«, die sich in der Nähe von Burlington, Vermont, versammeln, höchst eindrucksvoll. Bevor ich von diesem Schlafplatz wusste, war ich schon mehrfach, schreckensstarr, am Rand der Autobahn stehen geblieben, um zu beobachten, wie Tausende und aber Tausende von schwatzenden Vögeln über mir in den späten Herbstabend flogen, alle Richtung Norden. Es war eine bunt gemischte Menge von Zugvögeln – Rotschulterstärlinge, Kuhstärlinge, Purpurrotschwänze und Stare, alles entweder einzeln oder semisozial lebende Vogelarten, verbunden in einer endlosen, geräuschvollen, schwarzen, wogenden Kette, die sich von Horizont zu Horizont spannte, so weit das Auge reichte. Ich folgte ihrer unsichtbaren Himmelsstraße bis zu ihrem Schlafplatz in einem großen verschilften Sumpfgebiet. Hier kamen weitere ähnliche Himmelsstraßen zusammen, nicht nur aus dem Norden, sondern ebenso aus anderen Richtungen. In der Dämmerung wogte die schwarze Masse wie eine riesige schwarze Wolke, aus deren Rändern sich immer wieder lange Ketten lösten. Schließlich landete die lärmende Menge in den fernen Wäldern und Feldern, wo sie herumwuselten wie eine Phalanx von Ameisen. Wenn es später winterlich wird und alles tief verschneit ist, lösen sich diese Schlafplätze auf, und die Vögel versammeln sich vermutlich weiter südlich. Alle Krähen der Gattung Corvus versammeln sich wahrscheinlich während mehrerer
Saisons oder Teilen ihres Lebens an Schlafplätzen. Obwohl sich an den meisten Corvidenschlafplätzen nur eine Art aufhält, können gelegentlich auch unterschiedliche dort sein. Die Rabenforscher Rolf Hauri aus Längenbühl in der Schweiz und W. A. Cadman aus Wales berichten von Raben, Rabenkrähen (C. Corone) und Dohlen (C. monedula) auf gemeinsamen Plätzen in der Schweiz und in Wales. Der britische Generalmajor H.P.W. Hutson beobachtete einen gemeinsamen Schlafplatz von Raben, Gabelweihen und Staren im Irak. (1n Amerika ist nichts über gemischte Schlafplätze bekannt.) Die geographische Lage einiger größerer Krähenplätze ist seit Jahrhunderten bekannt. Im Gegensatz dazu sind die Schlafplätze von mehreren tausend, ja bis zu zehntausend, die ich in Chittenden County in der Nähe von Burlington gesehen habe, immer nur temporär. Die Vögel bleiben auf dem jeweiligen Platz nur etwas länger als einen Monat. Ich vermute, dass es eine positive, sich selbst verstärkende Rückwirkung zwischen der Größe eines Schlafplatzes und der Dauer seiner Benutzung gibt. In der Nacht wird ein großer Uhu (Ohreule) wie ein »Todesengel« durch den Krähenplatz schweben – so formuliert es John Madson. Wenn eine Eule einen speziellen Platz entdeckt, kann das Bleiben für die Vögel gefährlich werden. Selbstverständlich ist ein Platz mit Hunderttausenden oder Millionen für einen einzelnen Vogel immer noch relativ sicher. Selbst wenn eine Eule in einer Nacht zehn Vögel töten würde, betrüge die Wahrscheinlichkeit, auf einem Platz mit acht Millionen Vögeln getötet zu werden, i zu 800 000. Das Risiko ist tatsächlich klein, und es ist immer noch günstiger, als auf einen weniger bevölkerten Platz zu ziehen.
Je größer der Platz, umso kleiner ist das Risiko eines räuberischen Überfalls für das einzelne Tier. Aber es gibt eine Grenze, wie viele Mäuler in einem Gebiet gefüttert werden können. Unerfahrene Vögel könnten bessere Nahrungsquellen finden, wenn sie von einem Schlafplatz aus erfahrenen Suchern folgen, doch auch dieser Vorteil ist begrenzt. Wenn das am Schlafplatz vorhandene Futter aufgebraucht ist, ist es besser, wegzufliegen und selbst zu suchen oder sich anderswo einem kleineren Schlafplatz anzuschließen. Da es reichlich Literatur darüber gibt, dass diese gemeinschaftlichen Schlafplätze als Informationszentren dienen, an denen erfolglose Futtersuchende den erfolgreichen folgen, nutzte ich den nahen Krähenplatz in Burlington, um festzustellen, ob von einer Krähe entdecktes Futter schnell viele nachziehen würde. Ich bot ihnen auf dem städtischen Golfplatz, eine halbe Meile von dem Schlafplatz entfernt, einen aufgeschnittenen Ziegenkadaver an. Zwei oder drei Krähen kamen zum Fressen, aber das war alles während einer Woche (1m Dezember 1984), in der ich täglich nachprüfte. Eine Wiederholung des Experiments im nächsten Jahr erbrachte dasselbe Ergebnis. Vielleicht schmeckte den Vögeln die Ziege nicht? Ich wiederholte das Experiment mit Haufen von getrocknetem Mais. Kein Unterschied. Krähenschlafplätze mögen vielleicht irgendwie als Informationszentren dienen, doch diese kurzen Experimente lieferten keinen Hinweis darauf. Wenige Vögel zeigen eine solche Vielfalt in ihrem Rastverhalten wie Raben. Die Mehrzahl der veröffentlichten Berichte ist anekdotisch, also ist die Bedeutung der
verschiedenen Verhaltensweisen unklar, wenn daraus auch einige Einblicke gewonnen werden können. Die bisher detaillierteste und systematischste Information über gemeinschaftliche Schlafplätze von Raben ist das Ergebnis der unabsichtlichen Einrichtung eines Platzes durch Menschen — eine 500-Kilowatt-Stromleitung über ein langes baumloses Gebiet in der Nähe des Snake River in Idaho und Oregon. Die bei weitem größten, bisher bekannt gewordenen Rabenschlafplätze – mit über 2000 Raben – fanden sich auf den Hochspannungsmasten entlang der Leitung. Die Vögel hinterließen beträchtliche Mengen Kot auf den Isolatoren, was mehrere 100 000-Dollar-Kurzschlüsse verursachte. Dieses Problem regte eine intensive Studie unter Leitung des Naturforschers Leonard S. Young über Schlafplätze von Raben an, die von der Pacific Power and Light Company und dem amerikanischen Innenministerium unterstützt wurde. Young und seine Mitarbeiter besprühten die Raben mit Farbe, markierten sie mit farbigen Bändern und statteten sie mit kleinen Sendern aus; ein Jahr lang hielten sie die verschiedenen Schlafplätze entlang der 38o Meilen langen Leitung fest. Sie entdeckten erstaunlicherweise, dass die Individuen sich von Platz zu Platz bewegten und dass jeder der sieben Schlafplätze an der Leitung offensichtlich ein Eigenleben hatte. Die Raben, anders als andere Vögel, kamen das ganze Jahr hindurch an den Plätzen zusammen, einige Plätze waren jedoch typische Winter-, Herbst- oder Sommerschlafplätze. Allgemein nahm die Belegung der Plätze im August und September stark zu, wenn der alljährliche Nachwuchs sich anschloss, der niedrigste Stand war im Frühjahr. Innerhalb dieses
jahreszeitlich vorhersagbaren Musters gab es beträchtliche individuelle Variationen. Zum Beispiel waren am Marsing-Schlafplatz im April ein paar hundert Vögel; während er im Juni und Juli ganz unbesetzt war, fanden sich im Oktober tausend oder mehr Vögel ein. Am Initial Point jedoch, etwa 50 Meilen entfernt, waren im Juni und Juli mehr als tausend Raben und nur ein paar hundert im Oktober. Die unterschiedliche Besetzung eines jeden Schlafplatzes erfolgte allmählich. Am Initial Point stieg 1985 die Zahl von März bis Juli um durchschnittlich 200 Vögel. Dieses Verhalten der Raben erinnert an ähnliches Verhalten bei Taumelkäfern, die nachts auf Futtersuche sind und sich tagsüber in Mengen von bis zu 100.000 versammeln. Daniel F. Vogt und ich haben einmal Hunderte dieser Käfer am Lake Itasca, Minnesota, markiert und herausgefunden, dass sie sich auf Futtersuche über die Seeoberfläche verteilten, aber gegen Morgen andere Käfer aufsuchten und ihnen folgten, bis es am Tag wieder zu einer Mengenansammlung kam, wenn auch nicht in der Größenordnung wie am Morgen. Trotzdem waren täglich Mengen an demselben Platz versammelt, weil einige Käfer in der Nähe blieben und als Fokus dienten, der andere anzog. Sowohl bei Käfern und Krähen, wie möglicherweise auch bei Raben, dient das Zusammenkommen der Sicherheit vor einer größeren Zahl von Raubtieren. Diesen Vorteil kann man ableiten, ohne soziale Bindungen anzunehmen oder zu erfinden. Die Bedeutung der Besetzung von Rabenschlafplätzen bleibt unbekannt. Die vorliegenden Daten lassen vermuten, dass Individuen oder möglicherweise kleine Gruppen umherziehen, wahrscheinlich auf Nahrungssuche, und sich anderen an
passenden lokalen Schlafplätzen anschließen. Wenn es in einem Gebiet Nahrung gibt, bleiben die wandernden Raben vermutlich, um dies auszunutzen, und schließen sich dann jeder Schlafgemeinschaft an, die sie finden. Wenn die vorhandene Nahrung zu Ende geht, sind die Individuen gezwungen, anderswo zu suchen. Ich denke, dass die ungewöhnlich großen Schlafplätze in Idaho dort von der das ganze Jahr hindurch reichlich vorhandenen Nahrung ermöglicht werden: Heuschrecken und Nagetiere im Sommer, die Überreste der Getreideernte auf den riesigen Feldern im Herbst und Winter. Mögliche Schwankungen in der Besetzung der Plätze spiegeln die jahreszeitlichen Veränderungen der Futterversorgung wider, die von Ort zu Ort verschieden ist. Über den westlichen Raben, C. corax sinuatus, gibt es wenige Berichte. J.E. Cushing jr. berichtet von einem Schlafplatz mit etwa 200 Vögeln, die sich seit mindestens neun Jahren im Herbst und Winter in der Nähe von Tomales Bay, Kalifornien, versammeln. Richard B. Stiehl (Portland State University) fand während seiner Dissertation über Raben einen Schlafplatz mit mehreren hundert Raben in der Nähe von Malheur Lake, Oregon, der »seit mindestens 10 bis 15 Jahren, wahrscheinlich über 30 Jahren« benutzt wurde. Dieser Platz baute sich ab Mitte Oktober auf, eine Spitzenbelegung mit 836 Vögeln wurde am 4. Januar 1977 beobachtet. Die Vögel kamen und gingen über 27 Meilen in nördlicher und südlicher Richtung. Andere Rabenschlafplätze sind wesentlich kleiner. Stanley A. Temple berichtet von einem Platz mit zehn Raben in den Dachsparren eines aufgegebenen Hangars in der verlassenen Stadt Umiat in der arktischen Senke in Alaska. Er wurde alljährlich von
November bis Mitte März benutzt. Verschiedene Autoren in England und im kontinentalen Europa berichten von Schlafplätzen mit 27 bis 70 Raben. Die Rabenschlafplätze im Osten Amerikas sind auch relativ klein. Vincent J. Lucid und Richard Connor vom Virginia Polytechnic Institute fanden am 6. Januar 1973 einen Platz mit 106 Raben am Mountain Lake, Virginia, der »als größte Ansammlung und einziger bekannter, gemeinschaftlicher Rabenschlafplatz in den südlichen Appalachian Mountains« galt. Der Ornithologe Frank Oatman aus Vermont erzählte mir, dass er am 8. Dezember 1974 fünfzehn bis achtzehn Raben auf einem Schlafplatz in der Nähe von Greensboro, Vermont, gesehen habe. Vier Tage später waren dort 55 Vögel, nach weiteren zwei Tagen hatte sich die Zahl fast verdoppelt. Die etwa hundert Raben verschwanden dann am nächsten Tag und wurden nie wieder gesehen. Zu jedem Schlafplatz können Vögel aus einem großen Gebiet kommen. Richard B. Stiehl verfolgte einzelne Raben von dem Platz am Malheur Lake, Oregon, an dem er geforscht hatte, bis 300 Meilen nordwestlich. Wenn wir diese Entfernung als Radius eines kreisförmigen Futtergebiets annehmen, dann ist das Minimumareal, das die Vögel von diesem einen Schlafplatz aus abdecken können, etwa 282 600 Quadratmeilen groß. An jedem beliebigen Tag gibt es beträchtliche Bewegung. Da Stiehl beutesuchende Vögel bis zu 28 Meilen nördlich und südlich des Platzes verfolgte, können wir 56 Meilen als Durchmesser für den Futterbereich eines Schlafplatzes annehmen. Er umschließt also 2460 Quadratmeilen. Der Naturforscher Skip Ambrose aus Alaska erzählte mir, daß mit einem Sender ausgestattete Raben in Fairbanks täglich regelmäßig einen 8o-Meilen-
Rundflug machen, wenn sie zwischen ihrem Schlafplatz und einer stadtnahen Müllhalde hin- und herpendeln, was es auch als möglich erscheinen lässt, dass Raben ein noch größeres Einzugsgebiet bei der Futtersuche von einem Schlafplatz aus haben können, als es Stiehls Angaben annehmen lassen. Adulte reviertreue Standvögel bleiben das ganze Jahr hindurch in ihrem Revier, zumindest, wenn sie es können, und es sieht nicht danach aus, dass die Benutzer der Schlafplätze adulte Tiere sind. Allerdings berichtet Stiehl von einigen lokal brütenden Adulten, die ihr Revier in Oregon verlassen hatten, vermutlich, um sich gemeinschaftlichen Schlafplätzen anzuschließen. Darüber hinaus sind offensichtlich viele Vögel, die an den Schlafplätzen ein und aus fliegen, Paare. Sind die Schlafgefährten Junge oder Adulte? Es gibt keine direkte Evidenz. Ich wusste bereits, dass es viele Gründe gab, warum das von mir beobachtete Rekrutieren nicht allein durch das Versammeln von Reviervögeln zu erklären war, die sich zufällig in der Nähe des Köders befanden. Ich wusste auch: Wenn ich beweisen könnte, dass Raben von oder mittels eines Schlafplatzes rekrutieren, wäre es eine neue Erkenntnis. Dass die Schlafplätze der Vögel als Informationszentrum dienen, von dem aus die Vögel anderen folgen, die wissen, wo Nahrung ist, ist eine beliebte Theorie. Doch unerfahrene Vögel könnten auch jedem Vogel, der gerade wegfliegt, folgen, weil sie glauben, dass der Wegfliegende weiß, wo Nahrung ist. Dies wäre allerdings eine Art Diebstahl von Information, das genaue Gegenteil der aktiven Rekrutierung, an die ich dachte. Die Literatur vermutet
(beweist es jedoch nicht), daß die Schlafgenossen Jungvögel sind; meine Beobachtungen könnten darauf hinweisen, daß die Scharen der Futterfresser von den Schlafplätzen kamen. Wenn beide Voraussetzungen richtig wären, gäbe dies ein weiteres Stück Evidenz, um meine wachsende Vermutung zu unterstützen, daß nur Junge rekrutieren, um sich der ihr Revier verteidigenden Paare zu erwehren.
Kommen sie von einem Schlafplatz? 25. NOVEMBER 1986. Thanksgiving-Wochenende. Statt eines Truthahns schleppe ich 500 Pfund Rindfleisch und ein 120-Pfund-Kalb auf die Hütte. Ich muss wieder einmal sehen, was passiert, wenn Köder entdeckt werden und von wem: Trupps oder Individuen. Eine brüchige Eisschicht auf 30 Zentimetern Schnee erschwert das Gehen. Doch um zehn Uhr ist alles Fleisch oben und in einzelnen Haufen im Wald verteilt. Ich werde jetzt mit neuen Augen beobachten. Mike, der Wildhüter, erzählte mir von einem weiteren, durch Wilderer getöteten Elch und einem überfahrenen Reh. Als ich den Elch inspiziere, stelle ich fest, dass seit dem letzten Schnee vor vier Tagen viele Raben dort waren; das Skelett ist sauber abgepickt, und die Raben sind fort. Keine Spuren von Säugetieren. Der Kalbskadaver, den ich letztes Mal nur drei oder vier Meilen entfernt ausgelegt hatte, ist dagegen noch unberührt. Auch von dem Wildkadaver wurde nicht gefressen. Er soll der Köder für meinen nächsten Ausflug sein. Gegen 11.20 Uhr wird mein großer Fleischhaufen entdeckt. Ein einzelner Rabe fliegt vorbei und schlägt mit seinen Schwingen wie in einem plötzlichen Bremsmanöver rückwärts. Er kreist einmal, gibt eine Reihe von hohen kurzen »Yips« von sich, kreist noch ein paar Mal und verschwindet als Fleck in der Ferne vor dem Mount Bald. Später gibt es noch drei Vorbeiflüge von einem einzelnen Raben.
26. NOVEMBER. Um 7.00 Uhr kommt ein Rabe, der ganz still ist. Er ist um 11.00 Uhr wieder da, setzt sich und macht eine Serie von etwa zehn der typischen tiefen Quorks. In der Zwischenzeit haben auch ein Blauhäher- und ein Krähenpaar das Fleisch entdeckt. Am Nachmittag schüttet es, nichts fliegt. Die ganze Nacht gießt und pladdert es weiter. 27. NOVEMBER. Ein Rabe ist bereits in der Nähe, als es noch dunkel ist, um 6.30 Uhr. Ich höre wieder die leisen, fast unbekümmerten Quorks, aber diesmal auch ein neues Geräusch: hohle Rufe wie von einem Gong. Um 11.15 Uhr kommt wieder ein einzelner Rabe, der tiefe lange Quorks macht. Heute ist Thanksgiving, und ich unterbreche, um mit Freunden, die ein paar Meilen die Straße hinab wohnen, zu essen. Als ich drei Stunden später zurückkomme, es ist 14.21 Uhr, höre ich beim Hinaufgehen Raben. Es klingt wie aufgeregtes Gackern. Ein Kampf? Fünf Raben fliegen fort, als ich komme. Allerdings zeigt der Schnee nur die Spuren von zwei Raben, die sich dem Fleisch auf etwa 6o Zentimeter genähert haben. Es wurde nicht gefressen. Ich hatte erwartet, dass sie im Verlauf einer halben Stunde zurückkommen würden, aber den ganzen Tag tauchte kein Rabe auf. Sicher werden sie morgen wiederkommen. 28. NOVEMBER. Die nächste Morgendämmerung. Nichts. Etwa eine dreiviertel Stunde später, um 7.15 Uhr, fliegt ein einzelner Rabe gelassen über den Köder. Wieder höre ich die hohlen, gongähnlichen Rufe. Der Vogel geht nicht näher an den Köder heran. Es ist bestimmt der, der bereits zuvor hier war.
Um 7.30 Uhr fliegt ein Rabe umher und scheint die Sache näher zu betrachten. Er bleibt 32 Minuten und ruft fast ununterbrochen. Er ist eindeutig aufgeregt und macht kurze, hohe Quorks. Als ich glaube, dass er fort ist, wage ich schnell den Weg zum Klohäuschen, aber gerade in dem Moment kommt er zurück; ich robbe auf allen vieren durch den Schnee zur Hintertür der Hütte. Der Vogel hat mich nicht gesehen. Er bleibt zehn Minuten auf einem Ast direkt über dem Köder hocken, fliegt zum Boden und hüpft in etwa 6o Zentimeter Entfernung vor dem Köder herum, berührt ihn jedoch nicht. Bevor er in die Ferne fliegt, macht er eine Serie von sechs bis acht Klopfgeräuschen, die mit einem »thunk« enden. Eine halbe Stunde später höre ich in der Ferne hohe Quorks, vielleicht eine Meile entfernt, und dann die hohlen, gongähnlichen Rufe. Um 9.55 Uhr fliegt ein Rabe kurz vorbei; er ist nicht aufgeregt und macht nur tiefe Quorks und eine Klopfserie. Nur ein kurzer Kontrollflug? Zwei Krähen und zwei Blauhäher fressen. Bis zum Mittag kommt kein anderer Rabe, und am Nachmittag mache ich dann einen Spaziergang durch den Wald. Da – ein Rabenpaar fliegt schweigend über mir. Sie streichen so tief über die Bäume, dass die Flügelspitzen gelegentlich einen Zweig berühren. Sie sind etwa i00 Meter auseinander, und ihre Köpfe zucken unaufhörlich in alle Richtungen, während sie das Terrain unter sich zu prüfen scheinen. 8. DEZEMBER. Ich komme erst spät in der Nacht zum Camp. Es ist ruhig, nur die Bäume knacken ab und an in der Kälte, es klingt wie ferne Gewehrschüsse. Man kann
die Sterne noch sehen, doch leichter Nebel zieht auf. Er könnte Sturm bedeuten. Die Kadaver und alles Fleisch, das ich letztes Mal draußen liegengelassen hatte, sind noch immer unberührt! Ich sehe fast keinen Beweis für Fressen, aber einige frische Rabenspuren. Ein oder zwei Raben müssen heute beim Köder gewesen sein. 9. DEZEMBER. Ich erwache mit dem ersten Tageslicht gegen 6.3o Uhr. Das Wetter ist umgeschlagen, es beginnt zu schneien. Ich habe nicht gut geschlafen. Die eisige Kälte geht mir in die Knochen, vor allem in die Füße. Um 6.45 Uhr habe ich Feuer gemacht und heißen Kaffee getrunken. Das belebt mich. Gleich werde ich noch lebendiger: Genau um 6.46 Uhr fliegt ein wilder Rabenzug von Nordwesten ein. Es sind insgesamt zwanzig! Sie sind still, einige lassen sich in den Bäumen um den Köder herum nieder. Andere kreisen in der Nähe und stoßen in den Wald hinab. Erst 25 Minuten später höre ich die ersten Schreie. Wie schon oft in der Vergangenheit scheint es seltsamerweise nur einen Chefschreier zu geben. Innerhalb von einer Minute kommen die ersten Raben zum Fressen herunter. Fünf Minuten später sind alle zwanzig unten. Von jetzt an bis zum Ende des Tages fügt sich alles zu einem Muster zusammen: Den ganzen Tag lang schneit es stark. Die Sicht ist schlecht, ich kann an der anderen Seite der Lichtung kaum den Wald erkennen, doch immer mehr Vögel kommen. In der Mitte des Nachmittags sind es vierzig, wahrscheinlich mehr. Wegen der tiefen Temperaturen[18 bis 22 Minusgrade) ist das Muskelfleisch steinhart und wird nicht beachtet. Bis jetzt
werden nur das viel weichere Fett, Lunge und Leber gepickt. Ich sah nur drei Vögel mit Fleisch im Schnabel auf Versteckflug. Offensichtlich verstecken die Vögel nicht, wenn es nur festgefrorenes Fleisch gibt. Sie verstecken gewöhnlich frisches Fleisch, das sie leicht abreißen können, und jetzt verstecken sie nur Fett (das nie ganz fest friert). Fett zu verstecken braucht nichts mit besserer Lagerfähigkeit zu tun zu haben, wie eine Veröffentlichung über das Futterverstecken bei Raben meint. Heute verbringen die Vögel die meiste Zeit direkt auf dem Köder. Aber sie flogen neunzehnmal alle auf einmal auf und zerstreuten sich danach in allen Richtungen. Wenn sie zurückkommen, kommen sie vorwiegend (1m Verhältnis 35 zu 9) einzeln oder paarweise. Jedesmal, kurz bevor und während sie sich wieder ans Fressen machen, höre ich viele hohe Schreie. Wieder scheinen nur einer oder zwei zu schreien. Die anderen sind still. Der Rufer schreit mindestens vierzigmal, bevor eine neue Futterrunde beginnt. Danach ist alles hübsch ruhig. Es gibt ein paar Triller, das xylophonähnliche Klopfen mit dem »thunk« am Ende höre ich nur zweimal. Einmal hörte ich die Gongtöne, wie langsame einzelne Schläge auf eine hohle Buschtrommel (einmal pro Sekunde, etwa zehnmal). Die meisten Abflüge in der Gruppe standen, wie ich sehen konnte, mit nichts in Verbindung. Aber etwas war interessant. Zwei Krähen waren da, die nie fraßen, wenn der ganze Pulk Raben fraß. Um 9.06 Uhr krächzte eine der Krähen mehrmals laut. Alle Raben verließen den Köder, eine Anzahl flog gen Nordwesten hoch, dorthin, wo die Krähe gerufen hatte, und kreiste dann hinunter in den Wald. Sie haben einen Kojoten
gesehen, überlegte ich. Und schon zwei Minuten später erschien er bei dem Köder, doch wirkte er nervös und trottete gleich wieder weg. (Wahrscheinlich roch er meinen Urin, den ich hier freigiebig verspritzte, um sie abzuhalten, so bleiben sie gewöhnlich mindestens eine Woche fort.) Die Raben in den Bäumen am Kadaver ignorierten ihn völlig. Die Krähe rief später noch zweimal, doch diese Krächzer wirkten für meine Ohren etwas länger und nicht ganz so hoch. Die Raben fraßen weiter. Heute war auch eine gute Gelegenheit, drei verschiedene Corviden an demselben Futter zu beobachten — Blauhäher, Krähen und Raben. Jedes Mal wenn die Raben fortflogen, kamen die Blauhäher (1m Verhältnis eins zu vier) innerhalb von 10 bis etwa 30 Sekunden herab, um zu fressen. Zwei bis zehn Minuten danach erschienen die beiden Krähen, und die Häher verschwanden. Schließlich kamen die Raben zurück, und dann gingen die Krähen. Wenn nur drei oder vier Raben mit Fressen anfangen, fliegen die Krähen hoch, setzen sich in die umliegenden Bäume und warten, dass die Raben gehen. Manchmal fressen die Häher noch, wenn die Krähen schon da sind, doch generell gehen die drei Arten sich bei dem Köder aus dem Weg. Heute habe ich allerdings kein einziges Mal einen Vogel der einen Gattung den einer anderen verjagen sehen. Die Raben beherrschen den Köder, doch lassen sie die anderen heran, vielleicht, weil sie sie so leicht verscheuchen können. Untereinander sind die Raben nicht tolerant. Ich sah dreimal den Beginn agonistischer Auseinandersetzungen in den Bäumen: Ein Rabe näherte sich aggressiv einem anderen, der aufgeregt und laut keifte. Ich sah auch zehn sehr energische Luftjagden. Einmal
jagte ein Vogel einen anderen fünfzehnmal um die Lichtung! In den meisten Fällen verließ der gejagte Vogel das Gebiet. Was bedeuten diese Jagden? Ist es Spiel? Ist es Partnerjagd? Oder will man Rivalen am Futter loswerden? Handelt es sich um die im Revier lebenden Paare, die versuchen, vorbeifliegende Junge zu vertreiben? Die Vögel versammeln sich nicht nur zum Fressen, trotz ihrer Kämpfe sozialisieren sie. Zweimal sah ich einen Vogel auf dem Boden des Feldes, weit weg vom Köder, zu dem ein anderer und dann ein dritter kam, bis es schließlich ein Grüppchen von sechs war. Es gab keine andere Anziehung als die gegenseitige. Diese Vögel stritten nie. Um 14.50 Uhr verlassen alle Raben plötzlich den Köder, schweigend, wie auf Kommando fliegen sie über den Hügel in derselben Richtung, aus der die zwanzig am Morgen gekommen waren. Es gab keine stimmlichen Signale. Fünf weitere kommen etwa eine Minute später vorbei und landen in den Bäumen. Sie gehen nicht zum Köder herab. Nachdem sie ein paar grunzende, gurgelnde Töne von sich gegeben haben, fliegen auch sie nach Nordwesten. Ein Rabe bleibt! Er singt und kommt herab, um den Köder zu erforschen, aber er frisst nicht. Er sitzt über dem Köder, trillert etwa zwanzigmal und macht gurgelnde Geräusche. Ein anderer Vogel kommt näher und antwortet mit einigen wenigen Quorks. Um 15.04 Uhr fliegen schließlich beide (das Revierpaar?) zusammen Richtung Osten fort. Bisher hatte ich den ganzen Nachmittag noch kein Trillern gehört, die Schreie hatten überwogen. Trillern kann also kein Signal zum Fressen sein.
10. DEZEMBER. Heute Morgen bin ich schon vor der Dämmerung in der Spitze einer Fichte und lauere mit weit offenen Augen und Ohren, um die Raben zum Köder kommen zu sehen. Werden sie alle aus derselben Richtung kommen? Werden sie als Trupp fliegen? Welche Töne werden sie von sich geben? Um 7.00 Uhr höre ich aufgeregte, kurze, oft wiederholte Rufe, etwa eineinhalb Meilen entfernt, und innerhalb einer Minute kreist ein halbes Dutzend Raben tief über dem Köder und trillert aufgeregt. Doch weder das aufgeschnittene Reh noch das Kalb am anderen Ende des Feldes ziehen sie an. Haben sie Angst vor dem Fleisch, das sie gestern fraßen? (1ch habe es neu arrangiert, nachdem ich den Schnee weggeschippt und das Eis abgekratzt hatte.) Um 11.30 Uhr, vier Stunden und 20 Minuten später als gestern, fangen sie mit Fressen an. Heute kommen nicht mehr als neunzehn Vögel, obwohl gestern abend über vierzig fortflogen. Also auf diese Art wird die Menge an einem Köder reguliert: Wird es zu voll und gibt es zunehmend Kämpfe und/oder anderswo besseres Futter, kommen einige rekrutierte Vögel einfach nicht wieder. Sicher war das Picken gestern bei der Fülle schwer. Heute scheint übermäßig viel gekämpft zu werden. Es gibt etliche Jagden in offensichtlich aggressiver Absicht (ein Vogel versuchte eindeutig, einen anderen zu beißen, den er einholte). Das war kein Spiel. Es gibt Kämpfe am Futter. An einer Stelle sehe ich zwei Paare fast gleichzeitig anfliegen und in den Bäumen landen, gleich danach ist eine Jagd, und es sieht so aus, als ob auf einen Vogel gehackt würde. Es wird warm. Die Temperatur steigt auf null Grad. Das Fleisch ist nicht länger steinhart. Und heute verstecken die Vögel wieder ununterbrochen.
Am Nachmittag sehe ich nach zwei alten Ködern, die ich am 4. November ausgelegt hatte. Das Kalb, jetzt unter Eis und Schnee begraben, ist immer noch unberührt; an dem Fleischhaufen bei dem alten Rabennest fressen wie zuvor nur zwei Vögel. Während ich durch den Wald am Mount Blue gehe und auf dem Boden nach abgerissenen Zweigen suche, die verraten, wo die Vögel vielleicht geschlafen haben, höre ich die aufgeregten langen Quorks eines Raben. Sie klingen fast zornig, doch gleichzeitig ist Überraschung und Aufregung herauszuhören. Dort ist etwas! Ich laufe den Rufen nach und sehe gerade noch einen Raben fortfliegen. Ein anderer ruft in der Nähe. Dort, im dichten Gebüsch, umgeben von frischen Kojotenspuren (aber keiner Rabenspur) liegt ein Wildkadaver! Er ist mit Eis überzogen und von Schnee bedeckt, und ein Kojote hat ihn an Kopf und Hals etwas ausgegraben. Auf meinem Weg zurück durch den Wald treffe ich zwei Bekannte, Danny Proctor und seinen Vater, die von der Kaninchenjagd kommen. »Habt ihr kürzlich Raben gesehen?« – »Ja«, sagt Danny, »vor zwei Wochen, als es dunkel wurde, ließen sich etwa vierzig Raben in den Fichten in der Nähe meines Hauses nieder.« Ein Schlafplatz! Genau das, was ich suche. »Es war ein wirklich ungewöhnlicher Anblick«, fuhr er fort. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Also ging ich am nächsten Abend wieder hin, aber sie waren nicht da.« Der eine Schlafplatz, den ich vor zwei Jahren entdeckt hatte, wurde auch nur weniger als eine Woche benutzt. 11. DEZEMBER. Ich stehe noch im Dunkeln um 5.30 Uhr auf, heize schnell den Ofen
an, um Kaffee und Grießbrei zu machen, und spurte schon um 6.2o Uhr durch den Wald zu der Aussichtsfichte, die ich mir ausgesucht habe. Um 6.3o Uhr bin ich bis zur Spitze geklettert. Keine Minute zu früh! Um 6.3 8 Uhr höre ich in etwa einer Meile Entfernung die kurzen, rollenden schnellen Quorks und sehe gleich danach einen locker ausschwingenden Trupp von zehn Raben an mir vorbeizischen, direkt auf den Fleischhaufen zu. Es ist noch fast dunkel. Ohne Taschenlampe kann ich das Zifferblatt meiner Armbanduhr nicht erkennen und weiß nicht, wie spät es ist. Die Vögel sind still, als sie dicht an das Fleisch herankommen. Sie sehen wunderschön aus, so schlank und geschmeidig, wenn man sie von einer Baumspitze aus betrachtet. Innerhalb von i6 Minuten kommen andere Gruppen angeflogen – sechs, vier, siebzehn, dazu zwei Paare. Jeder größeren Gruppe gehen Rufe voraus, die ich aus etwa einer Meile Entfernung höre. Bis 7.09 Uhr sind zwei einzelne Vögel und eine Dreiergruppe herbeigeflogen. Alle 46 kommen aus derselben Richtung, alle zu derselben Stelle. Es besteht kein Zweifel, dass sie von einem gemeinsamen Schlafplatz gestartet sind. Ich bin in Hochstimmung, denn ich habe etwas gelernt. Das Rekrutieren kann nicht mit einer vokalen Aussendung erklärt werden, die in alle Richtungen ausstrahlt, um andere aufmerksam zu machen, und die in einem immer größeren Kreis weitergegeben wird, wie eine Hypothese vermutet. Wenn dem so wäre, müssten Vögel aus allen Richtungen anfliegen, und sie würden nicht vor Tagesanbruch kommen, bevor hier etwas los ist. Aus meiner Fichte oben auf dem Hügel kann ich die weiße Spitze des Mount Washington sehen, den Rauch aus der Rumford-Papierfabrik und endlose Wälder. Da die Städte in den Tälern
liegen, sieht man sie gar nicht. Man blickt nur auf bewaldete Hügel. Es ist, als ob einem die Welt gehöre. Alles scheint nah und wäre noch näher, wenn man wie ein Rabe darübersegeln könnte. Kein Wunder, dass die Raben auf ihrer Futtersuche in der Höhe der Baumspitzen fliegen: Ich jedoch kann den weißen Boden unter mir durch die dicken Zweige nicht erkennen. Heute sehe ich keine Jagden und nur wenige Kämpfe. Die Zahl der Raben, die gleichzeitig am Fleisch sind, schwankt zwischen 20 und 37. Wie gewöhnlich tun die Krähen nichts anderes, als eng beieinander auf den Bäumen zu hocken, während die Raben fressen. Ich zeige mich ihnen, und sie krächzen, lange bevor die Raben mich vielleicht bemerken könnten. Und wieder, wie beim Kojotenalarm, fliegen die Raben sofort weg. Später krächzen die Krähen noch sechsmal ohne offensichtlichen Grund, und die Raben tun, als ob sie nichts hörten. Offensichtlich erkennen sie Unterschiede bei den Krähenrufen, die für mich eher gleich klingen. Sind es Rabenpaare? So gut es ging, habe ich versucht, bei ihrer Ankunft, bevor sie sich verteilten, zu registrieren , ob sie einzeln oder gruppenweise kommen. Siebenundneunzigmal zählte ich etwas, das nach Einzelwesen, siebzehnmal, was nach zusammenfliegenden Paaren aussah. Weitere fünfzehn oder mehr hockten in den Bäumen. Ich sah nichts, was darauf hindeutete, dass sie paarweise sitzen, wie es die beiden Krähen gewöhnlich tun. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob diese Zahlen relevant sind. Vielleicht ist es im März anders. Es ist gut, jetzt diese Zahlen zu haben, falls sie im Zusammenhang mit anderen Beobachtungen später wichtig werden
sollten. 12. DEZEMBER. Ich hocke wieder oben in meiner Fichte und entspanne mich in der Dunkelheit des frühen Morgens, als ich aufgeregtes Rabengeschnatter aus der Richtung von Houghton Ledges höre. Es ist ein ununterbrochenes, tumultartiges Getöse aus Trillern, tiefen Quorks, klopfenden und gurgelnden Tönen, weichen nasalen »unks«, Schreien und dazu fast allem anderen aus dem musikalischen Rabenrepertoire. Der Radau kommt aus der Dunkelheit, und nach etwa einer weiteren Minute streichen die großen schwarzen Vögel in Baumhöhe über die schwarzen Silhouetten der Fichtenspitzen. Der Trupp wird von sieben angeführt, die eng zusammen fliegen, ihnen folgt in etwa 100 Metern eine Gruppe von rund vierzig. Sie fliegen so dicht zusammen, dass ich nicht genau zählen kann. Doch die Zahl gleicht der von gestern zur gleichen Zeit, und die Vögel kommen wieder aus derselben Richtung. Ich glaube, dies war einer der aufregendsten Augenblicke, die ich je erlebt habe – die Zeit, die Atmosphäre, die Töne und der Anblick dieser Vögel, dazu die Gewissheit, ein weiteres Puzzleteil gefunden zu haben. Am Köder sind die Vögel außerordentlich scheu. Postieren Raben Wächter? Ich habe nie einen Beweis dafür gefunden. Doch sie reagieren sehr aufmerksam auf andere, selbst auf Krähen. Eine Krähe sitzt allein in einem Baum, während die Raben fressen. Sie krächzt, aber kein Rabe zeigt sich beunruhigt. Ein Experiment in Wiederholung läuft ab. Ich spähe zur Rückseite der Hütte, damit die Krähe mich sieht und die Raben nicht. Die
Krähe fliegt fort – schweigend. Innerhalb einer Sekunde stieben alle Raben auf und sind blitzartig fort. Ich bin verwirrt über die Art, wie die Raben die Krähe als Wächter benutzen, um fortzufliegen, aber nie (nach meiner Erfahrung), um an den Köder heranzugehen. Weder das Krächzen noch das Fortfliegen der Krähe sind an sich ein Signal, doch sehr subtile Nuancen des einen oder des anderen, die ich nicht erkennen kann; müssen für die Raben einen Unterschied machen. Wenn sie die Signale einer anderen Spezies entziffern können – wie kann ich da je hoffen, ihre wahrscheinlich noch raffiniertere Kommunikation untereinander zu verstehen? Als heute zehn Vögel da waren, gab es acht agonistische Interaktionen für etwa je vier Minuten, und vierzehn, als dreizehn Vögel da waren. Das ist achtmal mehr als gestern, bei gleicher Vogeldichte, und die Fleischmenge ist nur halbiert! Ich wette, dass morgen weniger kommen. Heute bekomme ich auch einige neue Erkenntnisse über das Rufen. Um mit der Verschiedenartigkeit der Rufe während eines Gruppenflugs zu beginnen: Die Triller werden nicht nur während der Entdeckung des Futters gemacht. Ich hörte Trillern und xylophonähnliches Klopfen von zwei offensichtlich im Flug miteinander spielenden Vögeln, kurz bevor die Raben das Gebiet verließen. Sind es Balztöne? Das Trillern ist möglicherweise ein männlicher, nachdrücklicher Ruf. Ich hörte ihn von meinem zahmen Männchen. Wenn er in Gesellschaft eines Weibchens war und ich einen neuen Tierkadaver brachte, rückte er näher an sie heran und trillerte, als ob er für das gute Futter gelobt werden wollte. Ich hörte es manchmal auch, wenn kein Kadaver da
war und er vor ihr balzte. Er trillerte auch mich an, wenn ich besonders verlockendes Futter brachte. Derselbe Ton ist bei frei lebenden Raben zu hören, wenn sich die Männchen den Weibchen oder offensichtlichen Rivalen nähern. Er signalisiert deutlich einen hohen Grad von Erregung. Die semantische Bedeutung scheint zu sein: »Schau, super!«, was sich entweder auf einen selbst oder auf das, was man anbringt beziehungsweise für sich in Anspruch nimmt, bezieht. Jetzt arbeite ich seit fünf Tagen ununterbrochen an diesem Rabenprojekt, vier davon lange vor Tagesanbruch, und die Arbeit geht nach der Dunkelheit noch zwei bis drei Stunden ebenso intensiv weiter, wenn ich die Daten durchgehe. Es ist schwer, so viele Experimente zu machen und zu versuchen, allen Spuren zu folgen, weil ich immer noch nicht genau weiß, was wirklich wichtig ist, was sich ändern wird und warum. Wenn ich etwas versäume, das spüre ich, könnte dies genau die entscheidende Beobachtung sein. Je länger man also beobachtet, um so mehr bekommt jeder Tag zusätzliche Bedeutung, weil sich die Daten immer auf das Vorangegangene beziehen. Je mehr Hintergrund man hat, um so bedeutungsträchtiger wird jede neue Beobachtung. Doch die Intensität und das Übermaß an Information erschöpften mich. Ich denke, es ist am besten, morgen wegzufahren, nachdem ich gesehen habe, was in der Frühe am Köder geschieht. 13. DEZEMBER. Mein Wecker funktioniert nicht, und ich wache mit einem Ruck auf. Es ist schon 5.20 Uhr. Die Hauptaufgabe dieses Tages — zu sehen, was heute Morgen
von wo anfliegt – lässt mich schleunigst aus dem Bett in die Kälte springen; ich ziehe mich rasch an und renne durch den Wald zu meiner Fichte. Kein Kaffee. Ich bin außer Atem, als ich hochklettere und mich noch im Dunkeln in der Baumspitze niederlasse. Es muss etwa minus 18 Grad sein, und es ist windig. Der Baum schwankt. Der Himmel im Westen ist noch dunkel, ich sehe Sterne. Im Osten wird er langsam gelb, lachsfarben und rot. Ich prophezeie, dass heute nicht viele Vögel kommen werden. Sie werden vermutlich anfangen, zu dem neuen Köder zu gehen, den ich auf der anderen Seite des Hügels ausgelegt habe. Die Vögel kommen mindestens fünf Minuten zu spät. Der erste erscheint um 6.48 Uhr, insgesamt kommen nur elf. Nichts von einem aufgeregten Tumult wie gestern. Stattdessen scheinen diese elf Vögel, die in Gruppen zu vier Paaren und drei einzelnen kommen, fast herumzutrödeln. Einige von ihnen spielen im Flug, statt wie gestern direkt pfeilschnell herzufliegen, sie machen Sturzflüge und Loopings. Sie rufen kaum. Ich verlasse meinen Baum, taue mich mit Kaffee auf und prüfe den neuen Köder auf der anderen Seite des Hügels. Dort sind um 10.00 Uhr acht fressende Vögel. An dem alten, jetzt kleineren Fleischhaufen, eine halbe Meile entfernt, der dort seit zwei Wochen liegt, sind es noch immer lediglich zwei Vögel. Die beiden anderen neuen Köder, das Kalb und das Wild, bleiben unbenutzt, obwohl viele Vögel sie gesehen haben. Ein Muster zeichnet sich ab. Die Vögel jagen individuell nach Nahrung. Nachts versammeln sie sich am Schlafplatz. Und von dort fliegen in der Dämmerung Gruppen
ab, um an den besten Futterstellen zu fressen. Ist ein großes Fleischstück eindeutig das Beste, dann gehen die meisten oder alle dorthin. Wird die Fleischmenge an einem Platz weniger, nehmen aggressive Begegnungen zu und einzelne beginnen an anderen, weniger überfüllten Plätzen zu fressen. Zur Erweiterung schließe ich hier einige zusätzliche Überlegungen und Gedanken an. Wie in den letzten Kapiteln gezeigt wird, sind viele der Vögel an den Ködern nicht sesshaft. Sie ziehen als Individuen von Köder zu Köder, weniger als Horde oder Trupp. Wenn die Futtervorräte an allen beliebigen Plätzen nachlassen, werden die Individuen, die das wenigste Futter abbekommen (die Rangniedrigen), wahrscheinlich auch diejenigen sein, die am ehesten fortziehen und nach anderer Nahrung und anderen Schlafplätzen suchen. Vögel können Schlafplätze aufsuchen, sowohl um Sicherheit in der Menge zu finden als auch um zu Futterstellen geführt zu werden. Die Benutzer bestehender Schlafplätze können durch Mitteilung der Lage des Schlafplatzes mehr Vögel rekrutieren und dadurch Risiken wie nächtliche Raubüberfälle minimieren. Stiehl beschreibt Flüge von vielen Raben, die zusammen in der Nähe eines Schlafplatzes schwebten, und überlegt, ob sie den Standort des Schlafplatzes anzeigen, damit er größer werden kann. Lucid, Connor und ich haben Raben segeln und akrobatische Kunststücke machen sehen, bevor sie zum Schlafplatz herabflogen. Und ich habe abends Schreie und Triller am Schlafplatz gehört, die sehr ähnlich klangen wie die an den Ködern. Raben scheinen mindestens drei Möglichkeiten zu besitzen, andere Raben an den Schlafplatz zu locken: Schreie wie am
Köder, Ermutigung zu folgen und das Senden visueller und akustischer Signale aus großer Höhe. Bis auf einen hatten von den zehn Rabenschlafplätzen, die ich in Maine und anderen Teilen Neuenglands gesehen habe oder von denen mir berichtet wurde, nur wenige Vögel (weniger als fünfzig), und sie bestanden nur eine bis sechs Nächte. (Die einzige Ausnahme ist ein Schlafplatz in Strong, Maine, der strategisch zwischen drei Müllhalden liegt, an denen die Vögel fressen, wenn sie keine Kadaver im Wald nutzen.) Wie können die offensichtlich großen Unterschiede zwischen den Rabenschlafplätzen (vor allem die zwischen westlichen und östlichen Raben) in Übereinstimmung gebracht werden? Ich denke, daß es mit den Nahrungsquellen zu tun hat. Ein Hinweis, wie Schlafplätze und Fressen zusammenhängen könnten, ist aus den folgenden drei Beobachtungsreihen abzuleiten: 1. Bei mehreren Gelegenheiten sah ich, wie ein gemeinschaftlicher Schlafplatz in der Nähe (1nnerhalb einer halben Meile) einer guten Futterstelle entstand, nachdem dort das Fressen in der Gruppe beginnt. 2. Die Zahl der Vögel an den Schlafplätzen und die bei dem nahen Futter tagsüber ist in etwa gleich. 3. Geht ein Köder zur Neige, entwickeln sich Kämpfe, die Zahl der Vögel sinkt, und der Schlafplatz in der Nähe löst sich auf. Wir können nun alle diese Beobachtungen in einem einfachen Modell zusammenfassen. Erstens sind die Schlafplätze im Osten sehr kurzlebig und an schnell
wechselnden Plätzen, weil das den von den Raben genutzten Kadavern entspricht. Im Westen folgen die Vögel vermutlich auch der vorhandenen Nahrung, doch sie hängt von der jeweiligen regionalen Landwirtschaft ab und weniger vom zufälligen Auftauchen von Kadavern. Die Nahrung ist auch reichlicher und erschöpft sich nicht so schnell. Darum nimmt die Zahl der Vögel an jedem beliebigen Ort kontinuierlich zu oder lässt entsprechend nach, je nachdem, ob viele Heuschrecken oder Nagetiere da sind oder ob die Getreideernte größer oder kleiner ist. Dieses Verhältnis zwischen der Verteilung von Nahrung und Schlafplätzen erklärt auch das anscheinend unterschiedliche soziale System, von dem einige europäische Wissenschaftler, vor allem in der Schweiz, berichten. Die Europäer forschten an großen, permanenten Müllhalden, und wahrscheinlich gab es als Alternative weniger Kadaver in den Wäldern. Daher hatten die Raben weniger Gründe, irgendeine Futterstelle zu verlassen. Obwohl ich Kadaver oder Fleischhaufen häufig an derselben Stelle auslegte, stellten meine Studien eine natürliche Situation her. Gewöhnlich entfernte ich den Köder oder ließ zu, daß er aufgefressen wurde, das heißt, daß Kämpfe vorkamen und alle, bis auf die dominanten Vögel, fortfliegen mussten.
Einen Raben fangen und markieren, auch zwei oder mehr Ah, ich kann’s genau bestimmen: im Dezember war’s, dem grimmen, und der Kohlen matt Verglimmen schuf ein Geisterlicht so leer. Brünstig wünscht’ ich mir den Morgen; – hatt’ umsonst versucht zu borgen von den Büchern Trost dem Sorgen, ob... Lenor’, die ich verloren, bei den Engeln selig wär’... Edgar Allan Poe, Der Rabe Ein guter Freund und Kollege ist begeistert von meinen bisherigen Ergebnissen bei den Raben. Aber er ist so tollkühn, zu sagen: »Bernd, du musst deine Vögel markieren, damit du sie identifizieren kannst.« Bei meinen Studien an Hummeln und Wasserkäfern hatte ich einzelne Tiere markiert, um etwas zu entdecken, das ich sonst nicht entdeckt hätte. Aber Raben fangen? Ich fühlte mich schon außerordentlich glücklich, ihnen überhaupt nah genug gekommen zu sein, um sie zu sehen. Der Biologe Lenny Young aus Idahoe hatte mich schon vor diesem Problem gewarnt. Er hatte sich mit allen möglichen Leckerbissen bemüht, Raben in Fallen zu bekommen – aufgeschnittenes Wild, Gabelantilopen, Kühe, Kaninchen, Fasane und Kartoffelchips. Er erhielt wochenlang keine Reaktion. Der Schwarzbärenforscher Craig McLaughlin vom Maine Department of Fisheries and Wildlife erzählte mir auch, dass Raben, obwohl sie 50 Pfund Fleisch von einem Köder in einem Tag verputzen können, »keinen Köder anrühren, wenn man eine
schwarze Feder hinlegt oder einen toten schwarzen Vogel, etwa einen Kormoran mit dem Kopf unter seinen Flügeln«. Bei mir waren sie auch ohne solche Requisiten fortgeblieben, aber es gibt keinen Zweifel, dass sie fressen; das einzige Problem ist ihre ständige Vorsicht. Würden sie in eine Falle gehen? Ich beschäftigte mich wochenlang mit diesem Problem, ehe ich zu der Überzeugung kam, dass die Raben gefangen werden mussten. Blieb nur noch die Frage, wie, wann und wie viele. 23. DEZEMBER 1986. Verschiedene Möglichkeiten waren in Betracht gezogen worden – Kanonennetze, eine in der Ferne wirkende Spray-Markierung und Fußfallen. Ich richte mich darauf ein, es mit einer großen Falle zum Hineingehen zu versuchen, die versteckt im Wald aufgestellt wird. Ich bessere die Voliere aus, in der meine Eule Bubo eingesperrt wurde, wenn Besucher auf den Hügel kamen. Der Käfig ist aus feinmaschigem Draht und 3,70 x 3,70 x 2,10 Meter groß. Eine ganze Seite dient als Fallentür. Die Tür kann man mit einer Stange schließen, und wenn zwanzig bis dreißig Raben im Käfig fressen, werde ich sie von meinem Versteck aus bedienen, und sie wird zuschlagen. Ich möchte viele Vögel auf einmal fangen, um aussagefähige Daten zu erhalten. Und die Falle sollte am besten beim ersten Mal funktionieren, weil ich nicht mit einer zweiten Chance rechnen kann. Ich habe den Mechanismus mehrfach ausprobiert: Die Tür schloss sich immer mustergültig. Jetzt brauche ich nur Geduld und drücke alle Daumen, dass die bestellten Sender und die farbigen Schwingenmarkierungen bald eintreffen. Seltsam –
vor einem Jahr hielt ich es für völlig unmöglich, diese Vögel zu fangen und zu markieren. Heute vertraue ich darauf, dass ich innerhalb eines Monats den Draht schließe und mindestens zwanzig Vögel fange! Der Schnee liegt über 30 Zentimeter hoch. Es ist tatsächlich tiefster Winter, und die Raubtiere sind wahrscheinlich hungrig. Ein Hermelin ist glücklicher als die anderen. Es hat mein 500-Pfund-Fleischversteck unter dem tiefen Schnee gefunden und gräbt rundherum. Als ich mich nähere, taucht das kleine weiße Gesicht mit den pechschwarzen Augen aus einem Schneeloch auf. Das Hermelin steht auf seinen Hinterbeinen und blickt mich mit hängenden Vorderpfoten an. Dann flitzt es fort. Ich laufe ihm aus Spaß nach, um herauszufinden, wie leicht man einem Hermelin im Schnee folgen kann. Es ist nicht einfach, und ich kehre zurück. Das Hermelin scheint sich nicht um diese Jagd zu kümmern. Nach einer Minute hüpft es zurück. Es ist makellos weiß, noch weißer als der Schnee, doch als es direkt vor meinen Füßen vorbei, sehe ich, daß sein Fell hinten einen zitronengelben Rand hat. Die Schwanzspitze ist so pechschwarz wie die Augen. Es verschwindet in einem der Löcher, wahrscheinlich, um weiter von den 500 Pfund Fleisch zu schmausen. 25. DEZEMBER. Ich wache kurz nach 3.00 Uhr auf. Regentropfen prasseln auf das Dach. Heute scheint es überhaupt nicht hell zu werden. Es bleibt dunkel, der Regen fällt kübelweise und verwandelt sich schnell in Eis. Alle Bäume sind weiß überzogen, und um zehn biegen sich die Birken unter der frostigen Last. Zwischen den Böen lässt der Wind
das Eis klirren und knistern. Die Vögel schweigen. Plötzlich über Nacht ist ihr ganzes Futter vom Eis eingeschlossen. Es könnte für sie eine Katastrophe werden. Für mich ist es nur lästig: Ich kann Weihnachten nicht mit meiner Familie verbringen. Auf diesem Glatteis kann man nicht fahren. Ein Rabe kommt um 11.10 Uhr kurz vorbei. Er hockt sich in den Rotahorn in der Nähe der sauber abgefressenen Rinderschädel, die jetzt mit mehr als zwei Zentimeter Eis überzogen sind. Er plustert die Federn, ruft ein paar Mal und fliegt fort. Er ignoriert die drei Fleischhaufen neben und in der Falle. 31. DEZEMBER. Ein knisternd klarer blauer Tag. Ein Chickadee-Meisenmännchen ruft die ersten »dieh-dähs« des Frühlings, und eine Krähe (vermutlich ein Weibchen) macht eine Reihe von Klopfgeräuschen. Die Fahrt nach Maine war ereignislos, auf den 200 Meilen sah ich keinen einzigen Raben. Gewöhnlich sehe ich einen, manchmal sogar zwei. Ich bin nicht sicher, auf was ich mich diesmal konzentrieren soll. Das Wichtigste ist, die Falle zu prüfen, sicherzustellen, dass der Köder noch darin ist, und zu sehen, ob die Raben dort fressen. Darüber hinaus will ich auf mein Glück vertrauen. Man kann nie so genau planen, weil man nicht weiß, was kommen wird. Fortschritte hängen oft mehr davon ab, wie gut man auf eine Situation eingehen kann, als davon, wie gut man sie kontrolliert. Vor allem, wenn die Kontrolle schwierig ist. Etwa zwanzig Raben fliegen auf, als ich mich der Falle nähere. Sie haben fast alles
Fleisch außerhalb gefressen und sogar mit Fressen direkt hinter der Tür angefangen. Ich denke, sie sind schon so gut wie gefangen! Es ist jetzt wesentlich, die Falle regelmäßig mit Fleisch zu bestücken, bis alles bereit ist, sie zuschnappen zu lassen. Entkommen die Raben, würde für Monate keiner mehr in der Gegend sein. Doch das Rabentreiben muss warten: Ich habe noch immer nicht die bestellten Sender und die anderen Materialien und Hilfsmittel, die zum Markieren der Vögel nötig sind. 1. JANUAR 1987. Die lange Mitternachtsparty mit Freunden und Studenten, die gestern auf die Hütte gekommen waren, entschuldigt nicht, dass ich heute länger schlafe. Erst um 6.00 Uhr wanke ich aus dem Bett, um meine Morgenwache auf der Fichtenspitze zu beginnen. Ich erwarte, dass die meisten Vögel aus derselben Richtung wie letztes Mal kommen, werden. Im Osten vor mir zeigt sich die Morgendämmerung. Sie sieht wie ein Riesenfeuer am Horizont aus. Zuerst hellrot, direkt über den schwarzen Fichtenspitzen, dann orange über dem Rot, dann Gelb und Gelb, das in helles Blau und schließlich in dunkles, fast schwarzes Blau hinter mir übergeht. Die Farben sind rein und leuchtend, dabei gleichzeitig weich und warm. Ich habe den besten Platz, um das Panorama zu genießen, aber es ist heute nicht das Flugfeld der Raben. Tatsächlich scheinen fast alle Raben aus anderen Richtungen als letztes Mal zu kommen, obwohl ich nicht sicher sein kann, wo sie abflogen. Ich hatte sie aus Nordosten erwartet und meine Augen in dieser Richtung fixiert. Auf einmal waren viele Vögel in meinem Rücken.
2. JANUAR. Gestern war es den ganzen Tag und die Nacht so ruhig, dass ich hören konnte, wie ein Zweig auf den harten, eisig glitzernden Waldboden fiel. Der Himmel war klar, abends sah man die Sterne, doch dünne Nebelschleier zogen herein, das sichere Anzeichen für Sturm. Nach wenigen Stunden Schlaf bin ich wieder auf, diesmal zeitig genug, um Feuer zu machen, mich bei einem Kaffee aufzuwärmen und vor der Dämmerung oben auf der Fichte zu sein. Der Baum heute ist besser gewählt als gestern. Er ermöglicht Blicke in alle Richtungen, und diesmal bin ich aufmerksamer. Kein Stern ist zu sehen, und der Himmel wird selbst am Morgen kaum heller. Windstöße bringen meine luftige Hühnerstange hoch über dem Wald zum Schwanken, und ein paar winzige Schneeflocken huschen vorbei. Gegen sieben werden es mehr, und die leichten Windstöße verwandeln sich in sturmartige Böen. Ich zittere so stark, daß der Baum nicht nur davon schwankt, sondern noch mit mir zittert. Ich bin fast an der Spitze, unter meinen Füßen beträgt der Durchmesser des Stammes nur etwa 7 Zentimeter, fast kann ich die Spitze des etwa 30 Meter hohen Baumes fassen. Ich mache mir zwar keine Sorgen, daß der Baum meine 16o Pfund nicht tragen kann, befürchte allerdings, daß ich von der Kälte steif werde und zu schwach, mich mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen noch Notizen zu machen. Doch ich bin entschlossen zu bleiben, denn die Raben kommen gerade an. Außerdem liebe ich die Aussicht, die Berge auf allen Seiten und das weite Panorama über den dunklen Fichten, die mit hellen Birken und den schwarzen Skeletten der Ahorne gemischt sind, dazu der Sonnenaufgang. Wie
Erasmus sagte: »Die höchste Form des Segens ist es, mit einem bestimmten Grad von Wahn zu leben.« Heute Morgen fehlen alle Farben. Von meinem Ausguck bietet sich eine ungeheure majestätische Szene. Die Landschaft scheint wie leblos mit Ausnahme der Raben, die nun herbeifliegen, wie schwarze Pfeile auf ihr Ziel. Sie kommen, insgesamt 41, aus vier verschiedenen Richtungen, jede Gruppe aus einer anderen, zu einem anderen Zeitpunkt, über eine Stunde verteilt. Zwei Paare kommen in großer Höhe, wohl über 300 Meter, später als alle anderen. Fliegen sie von weit her? Paare sollen in »Territorien« leben. Offensichtlich haben sie keine streng verteidigten Grenzen. Vielleicht fliegen sie so hoch, um nicht entdeckt zu werden. Als sie sich ihrem Ziel nähern, falten sie ihre Flügel und schießen direkt herunter, drehen und kreisen immer wieder und ziehen hoch, kurz bevor sie die Bäume streifen. Sie legen sich scharf in die Kurve und landen langsam kreisend beim Köder. Ich habe etwas erfahren, was sonst Monate mühsamer Arbeit mit individuell markierten Vögeln gekostet hätte. Ich weiß jetzt, dass die Vögel, an welchem Köder auch immer, nicht alle von einem Schlafplatz sind. Sie können von mindestens vier verschiedenen Plätzen kommen. Die an einem Köder fressenden Gruppen setzen sich nicht unbedingt aus einer zusammengehörigen Schar zusammen. Dies ist eine wichtige Information, wenn man die Evolution des Teilens erforschen will. Die wenigen Schneeflocken und der Wind sind der Anfang eines Blizzards. Der Wind wird immer stärker, er brüllt und pfeift durch die Bäume, und der Schnee wirbelt nur so
umher. Die Raben verstecken auch diesmal wenig, wenn überhaupt. Das Fleisch ist fest gefroren, und sie sind zufrieden, wenn sie gerade genug zum Fressen abreißen oder abhacken können. Wie zuvor kommen und gehen sie in Wellen, entweder frisst jeweils eine Gruppe oder keiner. Gegen Mittag sind es nicht mehr als fünfzehn Vögel, dann werden es immer weniger. Einer nach dem anderen verschwinden sie im Sturm, werden hochgehoben, fast geworfen, und ziehen in die Ferne, viele von ihnen in Richtung Hills Pond, von wo heute morgen eine Schwadron kam. Jetzt ist es seit vielen Stunden dunkel. Der Wind heult und fegt weiter, manchmal rüttelt er an der Hütte. (1ch »lebe« nicht mehr im Camp Kaflunk, sondern in der Holzhütte, die ich in der Nähe gebaut und bei der alljährlichen Schafs-Grillparty letzten Herbst Camp Believe It getauft habe.) Der Schnee klopft leise wie Sand, der gegen ein Fenster weht. Mein Feuer brennt warm, und ich bin froh, dass kein Rauch aus dem Schornstein zieht, doch zwei Meter vom Ofen entfernt sind es gerade vier Grad. Gestern Nacht baute ich mir mit Brettern aus einem leeren Regal eine Liege und legte darauf eine Matratze und eine Decke, direkt gegenüber dem Ofen. Ein guter Platz, um zu entspannen und dem Sturm zu lauschen. 7. JANUAR. Als ich am Nachmittag nach Maine fuhr, um nach der Falle zu sehen, erblickte ich keinen einzigen Raben. Aber viele sind dort gewesen. Das meiste von den 500 Pfund Fleisch ist weg, und Rabenspuren (aber keine von Kojoten) haben im Umkreis
von etwa 6o Metern um den Käfig den Boden zerfurcht. Tausende sich überschneidende Vogelspuren haben den sonst lockeren Schnee festgestampft und das Weiß in schmutziges Grau verwandelt. Ich habe lange überlegt, welche »Experimente« ich in den wenigen folgenden Tagen machen will. Schließlich entscheide ich mich, dass es Priorität haben muss, die Vögel in die Falle zu locken. In der Zwischenzeit kann ich weiter Vögel zählen, ihre Ankunftszeit und Richtung am Morgen, um abschließend zu dokumentieren, dass die Vögel von einem oder mehreren gemeinsamen Schlafplätzen kommen. 8. JANUAR. Um 6.30 Uhr bin ich gerade oben in meiner Fichte angekommen und sehe gleich schwarze Silhouetten im Gegenlicht vorbeischießen. So früh habe ich sie noch nie gesehen. Dreiunddreißig sind um 6.43 Uhr angekommen, um 6.54 Uhr sind es fünfzig. Fast alle kommen aus Südosten, einer Richtung, aus der bisher nur wenige kamen. Ein neuer Schlafplatz. Sie machen fast keinen Lärm, nichts von dem rauhen Jubilieren, das ich letztes Mal hörte, als alle an dem voll gedeckten Tisch erschienen. Es ist wenig Futter hier, und um 7.00 Uhr haben sich die meisten schon in alle Richtungen zerstreut. Nur etwa fünfzehn bleiben noch zum Fressen. Um 9.30 Uhr fülle ich das nahezu aufgefressene Futter am Käfig nach, zehn Minuten später fressen zwei Raben von dem weichen, nicht gefrorenen Fleisch und scheuchen mehrmals andere Vögel fort, die sich dazugesellen
wollen. Dann gibt es eine Menge juveniler Schreie von einem Vogel im nahen Wald, obwohl die beiden fressenden Vögel völlig still sind. Raben von überall her fangen an, sich zu versammeln, und gegen 10.50 Uhr sind fünfzehn bis zwanzig Vögel zum Köder herabgeflogen. Ich muss mir jetzt Gedanken über den Nachschub von Fleisch machen und fahre zum Schlachthaus in Readfield. Den Jeep voll mit rund 600 Pfund Fleischabfällen, kehre ich zurück. Für heute sind die Raben mit Fressen fertig, fünfzehn von ihnen segeln und kreisen hoch über dem Hügel, kommen ab und zu im Sturzflug herunter, rollen und schwirren in Zweier- und Dreiergruppen abwärts. Dann fliegen sie wieder hoch und wiederholen dasselbe Spiel. 9. JANUAR. Gestern Nachmittag schleppte ich einen reichlich bemessenen neuen Fleischhaufen herauf, zeitig genug, damit die Raben ihr morgiges Fressen sehen können, denn ich erwarte heute morgen viele Vögel. Der Anblick, wie tatsächlich fünfzig von ihnen in einem großen Trupp ankommen, ist äußerst aufregend. Ich kann sie wieder schon aus mindestens einer Meile Entfernung hören. Sie schweigen nicht, wie letztes Mal, als das Fleisch fast aufgebraucht war. Wie früher, wenn sie frisches Fleisch erwarteten, flogen sie geräuschvoll ihrem Ziel entgegen. Verraten sich diejenigen, die von dem Fleisch wissen, durch ihre Emotionen? Fangen sie zu rufen an, schon bevor sie den Schlafplatz verlassen, und folgen dann andere? Das wäre die einfachste Erklärung, um aktives Rekrutieren vom Schlafplatz aus zu erklären.
Nur zwei kommen aus Südwesten, also aus der Richtung von Hills Pond, wo das Paar nistet. Am Nachmittag gönne ich mir ein kurzes Nickerchen, begleitet von Rabenmusik im Hintergrund. Es kann nichts Schöneres geben. Das viele frühe Aufstehen hat mich ermüdet, und ich muss jetzt Kräfte sammeln, um nachts noch mehr Fleisch heraufzuschleppen. Es ist eine kalte, klare und windstille Nacht. Der Halbmond beleuchtet den Schnee wie eine Laterne. Alles wirft scharfe Schatten. Der Schnee knirscht unter meinen Füßen, er liegt so hoch, dass das Laufen mühsam ist. Doch ich muss nicht nur laufen, ich muss eine halbe Meile lang einen Schlitten bergauf ziehen, bei einer Steigung von 30 bis 40 Grad, jedes Mal mit 100 Pfund Fleisch beladen. Nach der dritten Fuhre bin ich schweißgebadet. Alle vier Schichten, die ich übereinander anhabe, sind triefnaß. Doch als ich fertig bin und mich des Luxus trockener Kleidung und eines kalten Biers am Feuer erfreue, habe ich die tröstliche Gewissheit, dass der Käfig für eine weitere Woche gut versorgt ist. Ich bin meinem Ziel, farbig markierte, mit Sendern ausgestattete Vögel zu haben, ein Stück näher gekommen. 10. JANUAR. Es macht süchtig, um 5.30 Uhr aufzustehen und auf Bäume zu klettern, um die Sonne aufgehen zu sehen. Es ist Magie in diesen Morgen. Letzte Nacht wachte ich um 2.30 Uhr vom Jaulen eines Kojoten auf Jetzt höre ich, nördlich in Richtung Mount Blue, ein prächtiges Kojotenkonzert. Es klingt, als ob Dutzende von ihnen sich zum Heulen, Jaulen und Bellen zusammengefunden hätten. Während es noch dunkel ist,
höre ich auch Finken. Sie scheinen jedes Mal zu rufen, wenn sie fliegen, und heute Morgen fliegen sie im Dunkeln. Zweifellos halten ihre Rufe den Schwarm zusammen, und sie beginnen früh mit der Futtersuche, um genügend Energien zum Überdauern der Nacht zu haben. Um 7.00 Uhr kommen endlich fünf Raben und setzen sich in die Bäume. Dann erscheint ein weiterer Rabe, der sehr tiefe und nachdrückliche Quorks macht, und alle fliegen fort. Später fliegen diese oder andere Raben nur vorbei. Offensichtlich hat einer das neue Futter, das ich in der Nacht ausgelegt habe, gefunden, später höre ich Schreie. Danach beginnen die Vögel, sich am Köder zu versammeln. Ich kann mich entspannen. Sie sind immer noch hier, und sie werden gefangen werden. Bevor ich gehe, mache ich einen Spaziergang durch den Wald. Der Schnee ist tief, und bis auf die Raben ist es still. In allen Richtungen, ein oder zwei Meilen von dem Köder entfernt, kann man ihre »Gesänge« hören, mit allen Abstufungen ihres stimmlichen Repertoires bis auf eines: Die juvenilen Schreie, die bei dem Köder vorherrschen, fehlen. Nach eineinhalb Stunden sehe ich mindestens sechs Paare in Richtung Köder vorbeifliegen, eine ganze Menge flog auch in die andere Richtung. Viele Beobachter haben berichtet, dass Raben in Trupps sich zu Paaren verbinden. Das ist seltsam, denn Paare sind territorial. Bei einem Paar, das vorüberflog, sah ich den einen Vogel etwas über dem anderen fliegen und Geräusche machen, die sich wie eine Mischung aus laufendem Wasser und zartem Klopfen anhörten. Der untere Vogel war still, aber er schien sich mit Flugakrobatik zu produzieren, flog kopfüber abwärts, drehte und wendete
sich beim Weiterfliegen. Diese Vögel sehen und hören sich so an, als ob sie spielten und sozialisierten und ihre Spielwiese sich meilenweit um den Köder herum ausdehnte. Als nächstes gehe ich zu dem Kalbskadaver unten am See, etwa zehn Meilen von hier, wo ich früher ein Rabenpaar gesehen hatte. Vor einigen Wochen war das Kalb völlig eingeschneit, doch heute liegt das Fleisch frei, ein Kojote hat es ausgegraben. Mit Sicherheit sind Raben in der Nähe, ich kann jedoch nur zwei sehen. Gegen elf Uhr fängt es leise an zu schneien, nach einer Stunde ist dichter Schneefall. Wie gewöhnlich habe ich mit der Heimfahrt bis zur letzten Minute gewartet, und jetzt kann sich nicht einmal mehr mein Jeep mit Allradantrieb durch den Schnee wühlen; ich muss also wenden und zurückkehren. Trotzdem fühle ich mich glücklich, als ich wieder bergauf zu den Raben gehe. Etwa 25 von ihnen fliegen vom Köder auf, in den Schneesturm hinein. Ich überlege sofort, dass dies eine gute Möglichkeit wäre, um zu prüfen, ob Raben vielleicht doch andere zu Hilfe rufen, um das Fleisch auszugraben. Wenn das so wäre, müssten sie es eher jetzt tun als sonst – wenn es also nicht schneit. Zum Glück habe ich gestern ein einstündiges Tonband aufgenommen, kann die Rufe zählen und sie mit denen von heute vergleichen. Nach einer Stunde habe ich 520 Vokalisierungen in der Umgebung gezählt. Gestern waren es dagegen 1625 in 40 Minuten an demselben Köder, aber mit weniger Vögeln. Auch fliegen heute alle gegen 14.45 Uhr fort, als es immer noch stark schneit, während sie gestern bis 15.30 Uhr blieben. Ich denke, ich kann die Idee, dass sie bei dem Köder bleiben, um zu verhindern, dass der Schnee sich anhäuft, vorläufig ablegen und
auch die, dass sie andere zum Ausgraben des Futters zu Hilfe holen. 11. JANUAR. Der Schnee von gestern scheint heute harmlos. Es war nur die Ruhe vor dem Sturm! Nachts kam der Blizzard von Norden. Er klang wie das Donnern einer riesigen Brandung, und die Hütte bebte. Als ich aufstehe, ist das Wasser in den Töpfen auf dem Ofen gefroren. Selbst meine Kleidung neben dem Bett liegt unter Bergen von Schnee, weil der Blizzard horizontal durch alle Ritzen hereinweht. Man weiß, dass der Winter richtig angefangen hat, wenn es in einer Hütte schneit, die man für gut isoliert gehalten hat. Trotzdem fühlt man sich drinnen in der kleinen bequemen Kapsel behaglich, verglichen mit dem Tumult draußen. Wie können die winzigen Finken, die ich gestern morgen in der Dunkelheit hörte, hier draußen überleben? Was passiert mit den noch kleineren Goldhähnchen, den Waldbaumläufern und den Meisen? Wo schlafen die Raben in einer Nacht wie dieser? Wie können sie sich überhaupt an den Ästen festhalten? Auch in Alaska vertrauen Raben im Winter nicht auf die eindrucksvollen physiologischen oder isolierenden Adaptionen , sondern auf beständige Wärmeproduktion. Bei diesem kalten Wind müssen sie, wenn sie sich zitternd warm halten, eine Menge Energie verbrauchen, und sie werden heute hungrig sein. Sie werden früh kommen. Doch alles Futter liegt unter hohem Schnee vergraben. Was werden sie jetzt tun? Ich könnte es für sie freischaufeln, doch heute morgen will ich es eingeschneit lassen. Es wird ein guter Test sein, um zu sehen, ob sie selbst daran kommen. Also klettere ich aufeinen Baum, um wie gewöhnlich zu beobachten. Doch der dichte,
horizontal treibende Schnee macht es schwer, überhaupt etwas zu sehen. Ich fange bald an, schrecklich zu bibbern, und erinnere mich an einen Artikel mit der Überschrift: »Hypothermie: Ein schneller Tod.« Um am Leben zu bleiben, rät er: »Drücken Sie Ihre Arme fest an die Seite, und ziehen Sie Ihre Knie an.« Kein sehr guter Rat, wenn man oben in einem Baum sitzt! Der Blizzard hielt die Raben jedenfalls nicht ab und mich genauso wenig. Ich machte einige interessante Beobachtungen. Diesmal kommen sie nicht in einer oder mehreren Gruppen, sondern einzeln oder zu zweit, über zwei Stunden verteilt. Sie fliegen hoch über den Bäumen und kommen im Sturzflug direkt zum Köder herunter. Achtunddreißig von 61 kamen paarweise – eine beträchtliche Anzahl. Wieder gefragt: Warum sind sie gepaart? Nur siebzehn kamen allein. Obwohl ich annehme, dass die meisten von ihnen Junge sind, möchte ich es gerne genau wissen. Niemand hat solche Daten. Und ich misstraue Spekulationen – davon habe ich selbst mehr als genug produziert. Nur etwa zwei Pfund vom Fleisch, das vom Wind freigefegt wurde, sind im Schnee zu erkennen, und um 7.40 Uhr fliegen alle Vögel wieder fort. Gegraben wird nicht. Wegen des starken Sturms klammere ich mich heute nicht an die Spitze der schwankenden Fichte. Um 8.45 Uhr springe ich aus den Zweigen direkt in den Tiefschnee und krieche zum Köder. (Man kann nicht laufen, wenn man bei jedem Schritt bis zur Hüfte einsinkt.) Etwa 25 Vögel fliegen auf. Demnach waren etwa 35 Vögel weggeflogen, nachdem sie den Platz inspiziert hatten. So gut wie keine Grabespuren sind zu erkennen. Sowohl das schneebedeckte Fleisch im Käfig wie zwei andere Fleischhaufen auf dem
Feld wurden völlig ignoriert. Sie fraßen nur von dem kleinen freigelegten Stück Fleisch. Das heißt nicht, dass sie nicht graben können, ich habe gesehen, wie sie es tun. Wissen sie, dass der Schnee hoch liegt? Vielleicht werden sie erst andere Futterplätze prüfen, bevor sie gegebenenfalls zurückkommen. Ich liebe Sturm. Dieser ist einer der besten, den ich je erlebt habe, und dazu machen ihn die Raben zu einem unvergleichlichen Erlebnis. Der ungewöhnlichen Situation verdanke ich neue Perspektiven über »Gruppen«-Flüge zu Ködern, das Wieder finden von Ködern und über die Regulation von Vogelanzahlen. 15. JANUAR. Dies scheint wie ein Feldzug zu werden, und ich bin der General, der jede Einzelheit plant. Das Ergebnis dieser Runde wird den Umfang meiner Forschungen in den nächsten Jahren bestimmen. Wenn ich »Glück« habe, also alles richtig geplant habe, werde ich Montagmorgen viele Raben fangen. Ein kleiner, unvorhergesehener Fehler könnte alles zunichte machen. Wenn ich zum Beispiel fälschlicherweise ein Seil und keinen Draht nähme, um die Verbindung zum Schließen der Tür zu bedienen, könnte das ganze Unternehmen scheitern. Wenn das Seil sich nur etwas dehnte, könnte das zu einer Verzögerung von einer halben Sekunde führen, genau in dem Moment, in dem die Vögel gewarnt sind und bevor die Tür zufällt. Bei ihrem schnellen Reaktionsvermögen könnten sie dann noch fliehen. Es gibt Hunderte solcher Details. Zuerst ging es um das Beschaffen der Genehmigungen. Ich sprach mit Danny Bystrack vom Office of Migratory Bird Management in Maryland, um meine Beringungserlaubnis
auf farbige Marken und Sender auszuweiten. Das Beringen musste auch mit der Research Division des Maine Department of Fish and Game des State of Maine koordiniert werden, die George Matula in Bangor leitet. Die Bundesbehörde erzählte mir von jemandem in Maine, der eine Erlaubnis, Raben farbig zu markieren, erhalten hatte, aber beim Nachprüfen mit William Krohn vom Department of Wildlife Management der University of Maine erfuhr ich, dass der Plan fallengelassen wurde. (Der Projektleiter konnte keinen einzigen Raben fangen.) Wenn zwei Forscher bei denselben Vögeln dieselbe Markierung benutzen, gäbe es Probleme. Dies gilt auch für Funkfrequenzen. Es wäre ärgerlich, einen Raben über Funk aufzuspüren und später zu erfahren, dass das empfangene Signal von jemand anderen kommt, der mit anderen Raben oder Schwarzbären arbeitet. Also klärte ich auch, welche Frequenzen zur Verfügung standen. Dann ging es darum, die richtigen Sender mit den richtigen Frequenzen zu bekommen und Empfänger für diese Frequenzen auszuleihen. Moira Ingle und John Persons beim Wildlife Department der University of Vermont beendeten gerade ihre Magisterarbeiten, für die sie jeweils Füchse und Kojoten mit Sendern ausgestattet hatten, und ich erfuhr, dass ihre Empfänger jetzt verfügbar wären. Ich hatte Glück – so war es. Ich erarbeitete mir eine kompatible Frequenz und telefonierte mit Telonics, der Gesellschaft in Mesa, Arizona. Dort sprach ich mit Bill Burger, der äußerst hilfsbereit war und versprach, die Bestellung zu beschleunigen. Er würde alles per Expreß am 13. Januar schicken (1ch bekam es am 12. Januar.) Noch vor der Bestellung hatte ich ausführlich mit Lenny Young vom Idaho Bureau of Land Management Office des Innenministeriums gesprochen; er
ist einer der zwei Leute auf der Welt, die mit Sendern ausgestattete Raben haben. Er sagte mir, welche Länge, nicke und Beschichtung die Antennen benötigten. Jetzt habe ich die Sender. Wie kann man sie an den Vögeln befestigen? Die Anbringung auf dem Rücken wurde vorgeschlagen, mit zwei Stückchen Nylonrohr, die mit Zahnseide zusammengenäht und mit Spezialkleber versiegelt werden sollten, damit sie sich nicht auflöten. Wieder ein Einkaufsausflug. Lenny schickte mir Zeichnungen, wie man die Vögel mit dem Sender ausrüstete. Ich studierte jedes einzelne Detail, das ich vielleicht übersehen hätte. Glücklicherweise hatte ich einen toten Raben in der Tiefkühltruhe. Ich versuchte bei ihm, den Sender zu befestigen. Die Röhrchen waren etwa zwei Zentimeter zu kurz . So etwas draußen bei der Feldforschung festzustellen ist nicht gut. Ein weiteres Telefongespräch und eine weitere Exrpreßsendung am nächsten Morgen mit weiterem Material. Die Schildchen für die Flügelmarken waren das nächste. Mein Vogelberingungshandbuch listete ein halbes Dutzend Firmen auf, die farbiges Plastik produzieren, aus dem man Vogelmarkierungen in verschiedenen Formen schneiden kann. David Capen vom Wildlife Department der University of Vermont, der in Utah mit Ibissen gearbeitet hatte, schlug Herculite vor. Ich rief die Firma in New York an, was zu einem langen Gespräch mit dem Verkaufsleiter führte; Tim Pelton schickte mir kostenlos einen Stapel mit weißer, gelber, orangeroter und blauer Plastikfolie per Eilboten. Doch wie sollte man sie befestigen? Wieder brachte ein langes Telefonat mit Lenny Young in Idaho die Antwort. Lenny sagte mir, welche Sorte Nieten ich nehmen
sollte, wie und wo man sie an den Flügeln anbringt. Farbmarkierungen an sich geben keine Informationen über einzelne Vögel, solange man keine Nummern darauf malt. Doch welche Farbe hält dauerhaft auf Herculite? Weitere Anrufe. Es ist Vinyl screen ink, hergestellt von der Nazder-KC in Chicago, Illinois. Keine Antwort unter der angegebenen Nummer. Ich stürze in die Stadt, finde aber in keinem der Geschäfte für Zeichenbedarf Vinyl screen ink. Wieder ein Anruf bei Lenny – ja, er schickt morgen wieder ein Luftpostpäckchen und packt die Farbe hinein. In der Zwischenzeit muss ich ein Gerät zum Nieten, eine Ahle, einen Tuschpinsel, ein dunkles Taschentuch, eine Rolle Isolierband, Chirurgenscheren, 30 Jutebeutel, ein Netz zum Fangen der Raben (nur für den Notfall), mehrere Paar dicke Handschuhe, ein Lineal, eine Arterienklemme, eine Taschenlampe und eine Waage zum Wiegen der Vögel besorgen. Dies könnte auch eine einmalige Chance sein, das Geschlecht der Vögel, mit denen man es zu tun hat, festzustellen. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Nat Wheelright, einem Ornithologen am Bowdoin College, wo ich kürzlich ein Seminar gehalten hatte – man sollte das Geschlecht der Vögel durch Aufschneiden feststellen können. Ich rief ihn an, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Es klang ganz einfach, man musste nachher nicht einmal nähen – nur ein kleiner Schnitt von einem Zentimeter, ein Blick auf die Geschlechtsdrüsen, bestimmen und den Vogel wieder fliegen lassen. Ich hatte bereits das Geschlecht von Tausenden toter Vögel bestimmt. Kleinen. Bei Raben wäre es ein Kinderspiel. Doch ich sollte es besser vorher ausprobieren, da ich bei lebenden Vögeln
nur einen winzigen Schnitt machen könnte. Ich würde an Tauben üben. Mir fiel ein Freund ein, der schon lange die Tauben loswerden wollte, die seine Scheune verdreckten. Ich kaufte einen Sechserpack Bier, lud mich selbst zum Abendessen ein und brachte meine Zweiundzwanziger-Flinte mit. Er hielt die Taschenlampe und ich das Gewehr – das Taubenproblem war schnell gelöst. Am nächsten Morgen versuchten eine Doktorandin, Litia DiDomenico, und ich unser Glück bei der Geschlechtsbestimmung toter Tauben. Man legt den Vogel auf den Rücken und macht einen Ein-Zentimeter-Schnitt unten bei der letzten Rippe. Das klingt ganz einfach. Wir bestimmten immerhin das Geschlecht einer Taube, aber erst, nachdem wir sie in Stücke gerissen hatten. Was haben Tauben besonderes an sich, daß ihr Geschlecht so schwer zu bestimmen ist? Irgendwie bekamen wir die Beine nie aus dem Weg, um an die letzte Rippe heranzukommen, falls wir sie überhaupt fanden. Sie hatten zu viel Flugmuskulatur. Auch zu viele Federn waren im Weg. Ich benötigte viele gute Hilfskräfte, um das Unternehmen zu bewältigen. Wie findet man kompetente und eifrige Hilfen? Man gibt eine Party. Ich hängte eine Notiz für die höheren Semester aus und lud sie zum ersten jährlichen »Riesen-Rabentreiben« in Maine ein. Wir würden uns im Zoologiebüro in Vermont am Samstagmittag treffen, um bei Dunkelheit im Camp Believe It zu sein. Ich betonte, dass es wichtig sei, im Dunkeln anzukommen, damit die Raben nicht gestört würden. Wir würden uns alle nachts in der Hütte treffen und uns auf den kommenden Morgen vorbereiten, wenn ich die Falle zuschnappen lassen würde. Das wäre es, wenn alles planmäßig verliefe.
Vieles hätte schon vorher schief gehen können. Haben die Kojoten letzte Woche das ganze Fleisch aufgefressen? Hat der viele Schnee es den Kojoten leichtgemacht, Wild zu töten, und die Raben wären anderswo oder nicht hungrig genug, um in die Falle zu gehen? Werden überhaupt Raben das ein? Werden sie in die Falle gehen? Werden sie... »Wenn das funktioniert, wird es eine Premiere in der Biologie sein«, kommentierte ein Kollege. Doch ich hatte gute Pläne gemacht. 18. JANUAR. Nur um absolut sicher zu sein und nichts dem Zufall zu überlassen, rief ich Charlie in Bowdoin an und bat ihn, auf den Hügel zu fahren, nach dem Köder zu sehen und ihn mit neuen Kadavern aufzufüllen. Er fuhr Freitagnachmittag hinauf und rief an, um mir mitzuteilen, dass es dort wie nach »einem Massaker« ausgesehen hätte. Knochen und Fellstückchen waren überall weit verstreut, und der ganze Schnee war mit Tausenden von Rabenspuren zertrampelt. Keine Kojotenspuren. Nur Raben. Die Vögel hatten sämtliche 500 Pfund Fleisch, die ich heraufgeschleppt hatte, aufgefressen! Charlie ließ weitere 200 Pfund dort. Hätte er das nicht getan, da bin ich sicher, wären die Raben fort gewesen, um an einem Elch in Penobscot County, vielleicht sogar oben in Aroostock zu fressen. Wir hatten geplant, am Samstag zu kommen. Doch ich wollte sicherstellen, dass Fleisch da war – und Vögel. Also fuhr ich einen Tag früher. Als ich nachts ankam, war fast jeder Fetzen Fleisch, den Charlie und sein Freund heraufgebracht hatten, weg. Ich legte weitere 150 Pfund aus und wartete in der Morgendämmerung in einem Baum, um zu sehen,
ob irgendwelche Vögel kämen. Keiner erschien vor 7.00 Uhr. Doch der Köder wirkte Wunder. Etwa dreißig Raben kamen aus Nordwesten, dann neunzehn weitere aus Südosten. Später kam ich nicht mehr nach mit den Neuankömmlingen, doch um drei Uhr nachmittags waren es mindestens siebzig. Es fing an zu schneien. Sie flogen früh weg. Die Vögel ständig zu ködern, um sie zu fangen, ist auch Teil eines Experiments. Ich möchte erfahren, wie viele Vögel sich an einer beinahe grenzenlosen Futterstelle versammeln, wie es diese bislang gewesen ist. Als Ergebnis zeigt sich bereits, dass die hier fressenden Vögel kein exklusiver Club sind. Wieder und wieder schließen sich andere an, bis sie, sehr wahrscheinlich durch Wettbewerb bei verminderten Ressourcen, ausgeschlossen werden. Es ist eindeutig keine Sippenversammlung. Und selbst jetzt gibt es hier einen harten Wettbewerb um die schwindenden Ressourcen – Ressourcen, die langsam meine Besorgungsmöglichkeiten übersteigen. Ein »unendlicher« Fleischhaufen bei diesen gierigen Raben ist jenseits meiner Möglichkeiten. Ein Zusammenhang zwischen Vogelmenge und Futter ist bereits deutlich erkennbar – überschüssige Vögel fliegen vorbei und prüfen, aber sie machen sich nicht die Mühe zu landen, um dort zu fressen. Doch der Hauptgrund für dieses üppige Füttern war natürlich der Versuch, die Vögel daran zu gewöhnen, in den Drahtverhau zu gehen. Wie die Menschen zögern sie nicht, sich tollkühn zu verhalten, vorausgesetzt, andere tun es auch. Wenn eine Gruppe in die Falle geht, folgen ihr die anderen, als wenn dies der einzige Platz auf der Welt wäre. Ich sitze versteckt im Unterstand, von wo ich auch den Draht betätigen werde, und
sie gehen immer noch in den Käfig. Die Falle ist »sicher«. Nachdem es letzte Nacht dunkel geworden war, löste ich probeweise den Draht aus, der die Türe schließt, nur um völlig sicher zu sein, dass er funktioniert. Er funktioniert. Alle Utensilien liegen parat. Alle Schritte sind eingeübt. Abend. Es schneit jetzt stark. Ich bin niedergeschlagen. Heute Nacht erwartete ich zwei Autoladungen mit Studenten aus Vermont und eine von der Brown University. Eine riesige » Rabenparty« sollte steigen, um für das große Ereignis in der Morgendämmerung vorbereitet zu sein. Es ist unmöglich, dass ich es alleine schaffe, mit den etwa zwanzig Raben fertig zu werden, die ich morgen fangen will. Das darf doch jetzt nicht passieren! Keiner kommt. Warum? Sie werden sich herausreden, es sei wegen des Schneesturms unmöglich gewesen. Doch was mich betrifft, so gilt das nicht als Entschuldigung. Sie dürften eben nicht mehr als 3o Stundenkilometer fahren. Wenn man Ausreden sucht, etwas nicht zu tun, findet man immer irgendeinen Grund. Ich habe auch keine Entschuldigung für mich. Ich habe etwas übersehen – den Notplan für Schneestürme. 19. JANUAR. In düsterer Stimmung saß ich stundenlang in der sturmumtosten Hütte. Doch plötzlich lichtete sich der dunkle Schleier: Menschliche Stimmen waren zu hören. Ich stürzte nach draußen und sah auf dem Weg, der durch die Bäume hinaufführt, im immer noch dichtfallenden Schnee fünf Taschenlampen blinken. Wenig später war die treue und tapfere Schar da, beladen mit Schlafsäcken, Bier und Brot. Nachdem der
Schnee aus Bärten und Rucksäcken geschüttelt war, versammelten wir uns um das Feuer. Welche Erleichterung, hier zu sein, bei diesem Schneesturm mitten im Wald. Voll aufgeregter Erwartung, waren wir bald in Hochstimmung. Ich hatte bereits alle Werkzeuge und Materialien für die morgendliche Arbeit auf dem Tisch ausgelegt, wir prüften alles und überlegten genau, was jeder morgen tun sollte. Ich würde vor Tagesanbruch aufstehen, Feuer machen, Kaffee kochen und dann draußen im Unterstand warten. Die anderen wurden angewiesen, am Boden zu liegen und unter gar keinen Umständen aus den Fenstern zu gucken (die mit Teerpappe abgedichtet waren), weil die Raben niemanden, nirgends, sehen sollten. Die Mannschaft sollte in Aktion treten, sobald sie die Falltür zuschnappen hörte, nachdem ich den Draht gezogen hatte. »Zwanzig Raben, ha?« fragte eines der höheren Semester. Er lächelte – und sah skeptisch aus. »Yup, mindestens zwanzig«, antwortete ich. Der Sturm hörte kurz vor Mitternacht auf, und ich ging noch einmal hinaus zur Falle, um den Schnee vom Fleisch zu fegen. Es war nicht mehr viel übrig, und es war alles fest gefroren. Ich überlegte, ob ich noch einen Sack mit frischem Fleisch aus der Hütte holen sollte, doch ich entschied mich dagegen, weil ich glaubte, dass die Zahl der Vögel, die in der Dämmerung kämen, nicht von dem vorhandenen Fleisch abhing, sondern von dem, was sie erwarteten. Die Zahl der morgen früh einfliegenden Raben stand wahrscheinlich schon fest. Die Frage war nur, wie viele sich in der Falle einfinden würden. Ich begann zu rechnen: Das Fleisch in der Falle ist hart, ein Vogel wird einige Zeit brauchen, bis er genug gefressen hat, satt ist und den Käfig verlässt. Wenn ich jetzt weiche Fleischstücke
hineinlege, könnten sie sie schneller abreißen, es gäbe also mehr Verkehr in und außerhalb des Käfigs, doch wenige Raben gleichzeitig drinnen. Wie viele werden hineingehen, wenn nur weniger als zehn Pfund Fleisch zur Verfügung stehen? Wahrscheinlich weniger, als wenn ich ein reichliches Mahl zur Verfügung stelle. Ich komme zu dem Schluss, dass es die beste Strategie ist, nur das gefrorene Fleisch im Käfig zu lassen. Es klart auf, und der Mondschein hält mich wach. Als der Wecker schließlich um 5.30 Uhr klingelt, bin ich mit einem Ruck auf. Auch Wolfe Wagman, einer der Studenten, ist wach, auch er spürt die Aufregung. Er macht richtigen Kaffee im Gegensatz zu meinem sonstigen Pulvergetränk, und wir unterhalten uns noch ein bisschen am Feuer. Dann laufe ich hinaus, furche im Dunklen meinen Weg durch den Schnee und setze mich in den schneebedeckten Unterstand. Ich prüfe, ob der Draht fest gespannt ist, im Schnee kniend, strenge ich mich an, den Käfig durch mein Guckloch zu sehen. Es ist still, aber ich muss nicht lange warten. Sie kommen früh. Gegen 6.3o Uhr vernehme ich die weichen nasalen Grunzer anfliegender Raben. Dann höre ich das herrliche Flügelrauschen in der Luft, während sie herabkommen und in den Bäumen landen. Dann die lauten Schreie. Mein Unterstand ist hinten mit einer grünen Persenning abgedeckt, damit kein Vogel Lichtflecken durch den Bau hindurch sehen kann, die mich verraten könnten, wenn ich mich bewege. Aber ich bewege mich nicht. Mit den oben und rundherum dicht übereinander gelegten Fichten- und Tannenzweigen, jetzt mit frischem Schnee bedeckt, würde niemand, nicht einmal ein Rabe vermuten, dass dies ein Unterstand ist, auch nicht wenn sie direkt vorbeispazierten.
Als ich durch die Gucklöcher blicke, sehe ich die dunklen Gestalten in der grauen Dämmerung umherfliegen. Sie kommen durch die Bäume, immer näher, und sie gehen auf dem Schnee. Es sind mehr Schreie, diesmal näher. Ein Vogel hockt über mir, sieht direkt zum Köder und schreit, als ob er ihn bäte, ihm direkt in den Schnabel zu springen. Doch der Köder bleibt, wo er ist, und der Vogel fliegt schließlich herab. Ich kann ihn jetzt sehen und andere Raben, die gerade in die Falle gehen. Mein Herz fängt an zu klopfen. Wann soll ich den Draht auslösen? Tue ich es jetzt, bekomme ich mindestens zehn. Nur einen zu haben wäre schon eine unvergessliche Erfahrung. Doch ich brauche mindestens zwanzig, um zu aussagefähigen Ergebnissen zu kommen. Die Raben kämpfen jetzt im Käfig um die abgepickten Stücke. Werden viele schnell weggehen? Ich setze mich steif zurecht, um bereit zu sein, den Draht zu betätigen. Ein Rabe in einem nahen Baum macht sehr schnelle, zusammenhängende, aufgeregte Rufe. Im selben Augenblick sind die Vögel, die im Käfig und alle anderen draußen, in die Bäume geflohen. Überall sind die schweren Flügelschläge zu hören, und nach einer weiteren Sekunde sind alle Raben fort. Doch noch ist nichts verloren. Nach zwei Minuten höre ich die Schreie wieder, von allen Seiten fliegen Raben ein. Durch das feste Geflecht von Zweigen und Schnee kann ich sehen, wie sie wieder in den Käfig gehen. Sie stürzen herbei, und keiner fliegt in die andere Richtung. Erst ist es ein beständiger Strom, dann wird es ein Rinnsal. Jetzt ist der Moment gekommen, doch ich habe fast Angst, am Draht zu ziehen. Werden sie alle wieder fortfliegen, wenn ich hochlange und am Draht fummle? Was
passiert, wenn die Falle funktioniert und ich mehr als zwanzig große, falkenähnliche Vögel mit 8 bis 9 Zentimeter langen Schnäbeln fange? Pandämonium. Ich erwarte nicht weniger, greife hoch und löse den Mechanismus aus. Die Tür knallt zu, und ich höre einen erstickten Aufschrei aus der Hütte. (Die Mannschaft drinnen hatte aus Gucklöchern zugesehen.) Doch von den Raben ist nichts zu hören. Ich blicke aus meinem Loch. Die Raben fliegen wild in der Falle herum, es müssen fast vierzig sein. Dies ist vermutlich der aufregendste Moment meiner wissenschaftlichen Laufbahn, weil ich jetzt die Möglichkeit habe, Daten zur Lösung des verwirrenden Rätsels zu bekommen, das mich bisher mehr Zeit und Aufwand gekostet hat als alle anderen Forschungsvorhaben. Die Mannschaft stürzt aus der Hütte, und innerhalb einer Minute schreiten wir zur Tat. Wenn ich oder mein Assistent Steve Smith in den Käfig gehen, fliegen die Vögel in die hinterste Ecke und ballen sich zu einer schwarzen wogenden Masse zusammen. Alle sind gefügig, nur wenn man sie anpackt, hacken sie. Wir fangen einen nach dem anderen mit den Händen, stecken jeden in einen Jutesack, geben die Säcke heraus und tragen dann 43 gefüllte Säcke in einen abgedunkelten Raum der Hütte. Wir arbeiten den ganzen Tag, um die 43 Raben wie am Fließband zu präparieren. Sie werden zuerst gewogen, dann werden Schnabel und Flügelbreite gemessen, die Rachenfarbe notiert, die Marke am Flügel angebracht und die Raben dann mit dem Aluminiumband der U. S. Fish and Wildlife beringt, schließlich lassen wir sie alle nacheinander frei. (Alle Raben sind jetzt vom linken Flügel. Nicht aus Jux. Es hat praktische
Bedeutung für das Kodieren, falls wir das Experiment nächstes Jahr wiederholen und dann dieselbe Farbkombination, diesmal aber auf dem rechten Flügel, anbringen.) Die markierten Raben fliegen mit schnellen Flügelschlägen fort, verstreuen flüssige Exkremente, schütteln ihre Köpfe, blicken in alle Richtungen zurück und schweigen. Die Anbringung der beiden Sender – die Befestigung richtig hinzukriegen und sie gleich mit Zahnseide zu nähen – ist komplizierter. Wir hoffen, es richtig gemacht zu haben. Zwei Sender waren alles, was ich mir leisten konnte, und wir brachten einen bei einem adulten, den anderen bei einem jungen Raben an. Die so ausgerüsteten Vögel werden allerdings nicht der Hauptteil meiner Studien sein. Sie sind nur ein Test. Die voraussichtlich wichtigen Daten werden von den farblich markierten Vögeln kommen. (1ch versuche häufig, einen Probelauf für weitere Forschungen in mein Hauptexperiment einzubauen.) Wir arbeiten viele Stunden, und nur wenige denken an Essen, mit Ausnahme von Jim Marden. Er hat Schweinekoteletts mitgebracht, und gegen 13.00 Uhr machte er uns die Freude, sie zu braten. Inzwischen sind mindestens drei der hüpfenden Säcke leer geworden, die gefangenen Raben haben sich befreit. Sie finden sich nun in einer seltsamen Welt sprechender, lachender, arbeitender Menschen und werden zur Plage. Zuerst versuchen wir, sie einzufangen, doch ohne Erfolg. Aber dann werden sie ruhig, und wir lassen sie allein. Einer hockt lässig auf einem Holzscheit vor dem Ofen, an dem Jim die Koteletts brät. Zwei entwischen in den Raum, in dem das Holz gestapelt ist. Zwischendurch essen wir die Schweinekoteletts, und Jim bietet einem der ausgerissenen Vögel in der Holzkammer einen Knochen an. Es ist nur zum Spaß, aber zu
seiner großen Überraschung nimmt der Rabe den Knochen und fängt an, daran zu picken. Noch überraschender – sein Gefährte versucht, den Knochen zu stehlen. Der Streit entwickelt sich vor unseren Augen. Dieser unglaubliche Anblick überzeugt mich, dass ich wilde Vögel fangen und halten könnte, um sie in der Gefangenschaft zu studieren. Vielleicht könnte ich eines Tages einen riesigen Käfig bauen... Die Vögel, die an der Tür freigelassen werden, sind keine anonymen Raben mehr. Sie fliegen über den Schnee als Rot # 8 (R 8) oder Blau # 2 (B 2), oder Weiß # 6 (W 6). Die meisten (dreißig) sind rot, die Kodierung für Vögel, die im letzten März geboren wurden. Die Blauen (sieben) sind die Jungen aus dem Jahr davor. Der Rest, die Weißen (nur sechs) sind Adulte, die mindestens drei Jahre alt sind und wahrscheinlich brüten können. Hier ist zum ersten Mal der direkte Beweis, dass Trupps von Raben, Corvus corax, vorwiegend aus nicht brütenden Tieren bestehen. Es sollte ein festes und wichtiges Teil für mein Puzzle sein. Als wir die Nieten auf den Schwingen befestigen, benutzen wir sicherheitshalber noch einen besonders starken Klebstoff. Ein schwedischer Student fragt mich, welchen Klebstoff ich bei den Hummeln verwendet hätte während meiner Forschungen hier an diesem Platz vor etwa zehn Jahren. Es stellte sich heraus, dass wir beide dasselbe Harz benutzt hatten, was aber nicht sehr wirksam war. Jetzt nimmt er Superkleber und sagt in seinem schwedischen Akzent: »Dieses Zeug ist guuut!« Wir lachen beide. In der Wissenschaft kommt man leicht zu internationaler Verständigung. Wissenschaftler haben dieselben Standards – und sie entstehen nicht durch Glauben,
sondern aus dem, was am besten funktioniert. Aus Notwendigkeit bildet sich so eine universelle Einheit. Und Einheit schafft guten Willen. Anmerkung: Ein Rabe, Rot # 11, U.S. Band No. 706-21322, der bei diesem ersten Rabenexperiment am 19. Januar 1987 markiert wurde, wurde im frühen April 1988 in Edmunston, New Brunswick, Kanada gefunden, Luftlinie 220 Meilen nördlich vom Forschungsgebiet. (Der Vogel war von einem Wolf in einem großen Freiluftgehege gebissen worden.) Rot # 11 ist jetzt in einem Zookäfig in St. Jacques, Kanada. Ein anderer, Rot # 14, U.S. Band No. 706-21326, wurde im November 1988 von einem Trapper in Eustis, Maine, nur 40 Luftmeilen nördlich von hier gefangen. Ein Adulter, W 4, zeigte sich zwei Jahre später fast täglich im Forschungsgebiet, vier andere Vögel, R 7, R 21, R 26 und B 2, wurden zwei Jahre später nur ein- oder zweimal gesehen.
Balz und Imponierverhalten Den richtigen Gefährten zu finden und zu gewinnen ist ein wichtiges Ereignis, dem manche Tiere beträchtliche Energie und erfinderischen Sachverstand widmen. Bei vielen, vor allem tropischen Vögeln bewerten die Weibchen die Qualitäten des Männchens und seine Eignung für die zukünftige Nachkommenschaft anhand einiger nutzloser Eigenschaften: zum Beispiel die Fähigkeit, längere Zeit verrückte und umständliche Bewegungen auszuführen, ohne das Fressen zu unterbrechen; eine Menge Lärm zu machen; helle, bunte, aber funktionell nutzlose Federn zu besitzen oder die Zeit mit Balzen zu verbringen, während andere auf Futtersuche sind. Solche Charakteristika sind ein indirektes Maß für genetische Qualität, weil sie Kraft bedeuten können, die die Nachkommenschaft erben würde. Ein Weibchen kann bei der Wahl des Männchens (oder umgekehrt) dessen Verhalten direkt für sich oder ihre Jungen nutzen und nicht nur darauf spekulieren, dass hinter der momentanen Extravaganz Substanz oder ein hoffnungsvolles Versprechen für die Zukunft liegt. Einige Weibchen können ohne männliche Hilfe eine Familie aufziehen, doch ein weiblicher Rabe ist von seinem Männchen extrem abhängig, was seine Ernährung für alljährlich mehr als einen Monat betrifft. Wie bei Vögeln zu erwarten, die sich darauf verlassen, daß sie und ihre Jungen von ihrem Gefährten gefüttert werden, hat die Evolution in das Balzverhalten Sicherungen eingebaut, die dem Weibchen helfen festzustellen, ob ihr Anbeter ein guter Ernährer sein wird oder nicht. Das geschieht
durch einen sehr »cleveren« Zeitvertreib. Während der Balz spielt das Weibchen ein hilfloses, gerade ausgeschlüpftes Junges und imitiert sowohl sein Verhalten wie seine bettelnde Stimme. Das evolutionäre Prinzip ist es nun, daß das Männchen, das sie bei dieser infantilen Imitation versorgt, wahrscheinlich auch später für sie und die Jungen sorgen kann. Es ist nicht nur ein Test, denn die Weibchen vieler verschiedener Arten müssen gefüttert werden, und an diesem Punkt des evolutionären Spiels kann kein Elternpaar Junge produzieren, wenn nicht das Männchen seine Gefährtin füttert. Ob ein Männchen tatsächlich für seine Nachkommen sorgen kann oder nicht, hängt von vielen, eng miteinander verbundenen Komponenten ab – seiner Stärke, der Qualität seines Territoriums , seiner Dominanz und bei Raben vermutlich auch vom Rekrutierungsverhalten! Es ist fast nichts darüber bekannt, auf welcher Grundlage Raben ihre Gefährten wählen. Wir können nur intelligente Vermutungen anstellen, die auf der gut entwickelten Theorie über Partnerwahl bei anderen Vögeln beruhen. Sicher ist jedoch, dass die Wahl zum Teil, zumindest im unmittelbaren Sinn, im Zusammenhang mit dem Imponierverhalten steht, das den Partner anziehen soll. Bei vielen Vögeln kann man Männchen und Weibchen leicht unterscheiden, durch Gefieder, Stimme und Verhalten. Bei Raben sehen beide Geschlechter gleich aus (Männchen tendieren dazu, größer zu sein als Weibchen, aber es gibt Überschneidungen); für unsere unverständigen Augen und Ohren scheinen Töne und Verhalten fast identisch. Trotzdem muss es Unterschiede geben, und ich werde versuchen, einige verwirrende und wenig bekannte Details der Balz, soweit sie sich auf Raben beziehen, darzustellen.
Die Balzzeremonien der Raben sind in Frank Coombs’ und Derek Goodwins’ Buch über Corviden beschrieben und illustriert worden, doch ihre Informationen beruhen weitgehend auf den Beobachtungen eines Paares durch Konrad Lorenz aus dem Jahr 1932. Die deutsche Ausgabe des Buches von Lorenz ist mit Fotos illustriert, die englische mit Zeichnungen nach diesen Fotografien. Die andere Studie über das Balzverhalten der Raben, Grundlage für alle Lehrbuchbeschreibungen, ist das 1964 veröffentlichte klassische Werk von Eberhard Gwinner, »Untersuchungen über das Ausdrucks- und Sozialverhalten des Kolkraben (Corvus corax) in Gefangenschaft«. Gwinner arbeitete mit achtzehn Raben, die er in verschiedenen getrennten Gruppen oder Sozietäten hielt. Jede Gruppe bildete eine Rangordnung, angeführt von einem dominanten Männchen, dem die Weibchen vor den Subdominanten den Vorzug gaben. In der Gefangenschaft brüteten die Vögel und zogen ihre Jungen auf, und durch diese Studien erhalten wir einen ungewöhnlich detaillierten Einblick in Sozialverhalten und Familienleben der Raben. Die bekannten Naturwissenschaftler, die Raben beobachtet haben – Oskar und Magdalena Heinroth, Gustav Kramer, Konrad Lorenz, Gothe und Gwinner – sagen alle, dass die Dominanz des männlichen Raben durch sein Imponierverhalten etabliert, bestärkt und aufrechterhalten wird. In der mutmaßlich ersten Phase dieses Verhaltens steht das Männchen groß da, mit gerecktem Hals und hoch aufweisendem Schnabel. Das Kopfgefieder ist angelegt, doch die »Federohren« direkt hinter und über den Augen stehen hoch; die Flügel hängen leicht ausgebreitet zur Seite. Die glänzenden
Lanzettkehlfedern sind gesträubt und durch schluckende Bewegungen betont, die Flankenfedern ausgefahren, als ob er Pluderhosen trägt, und er blinkt mit den weißen Nickhäuten über seinen dunkelbraunen Augen. Er stolziert steif umher in betont langsamer Manier. Das Weibchen verhält sich ähnlich, außer dass ihre »Hosen« und Halsfedern weniger ausgeprägt sind. Das Imponierverhalten soll sich bis zum »Dickkopf« steigern, bei dem das Männchen alle seine Kopffedern so plustert, dass man die Ohren nicht mehr sehen kann. Männchen zeigen das ganze Jahr hindurch Imponierverhalten. Lorenz und Gwinner schreiben ihm dieselbe Bedeutung zu: Es demonstriert und erhält die Überlegenheit durch Herausforderung von Rivalen, unterdrückt ähnliches Verhalten bei anderen und beeindruckt das andere Geschlecht. Es suggeriert Machomacht wie Wagemut und ist eine Herausforderung für andere Vögel und für die meisten menschlichen Beobachter. Gwinners Davida zum Beispiel, ein auf Menschen geprägtes Weibchen, umbalzte ihn jedes Mal, wenn er große schwere Gegenstände am Käfig vorbeischleppte oder mit Hammer oder Beil arbeitete, also Bewegungen von »Wucht und Gespanntheit« zeigte, wie sie für imponierende Raben typisch sind. (Vermutlich ist ein ähnliches Verhalten bei Weibchen nur für Rivalen und nicht für das andere Geschlecht gedacht.) Doch männliche Raben haben noch ein völlig anderes Verhalten. Sie machen tiefe verbeugende Bewegungen vor dem Weibchen, dabei bleibt das Kopfgefieder gesträubt, die Ohren sind nicht zu sehen, und der Schnabel zeigt eher nach unten als nach oben. Sowohl Lorenz wie Gwinner halten das für eine Eskalation des Imponierverhaltens. Kann
das sein? Mir scheint eine andere Erklärung wahrscheinlicher. Beim Imponierverhalten sind die Vögel beider Geschlechter in übertrieben großer, hochgereckter Haltung. Das kann ich nicht zusammenbringen mit Eskalation bei einer Verbeugungszeremonie, in der die Vögel ihre Köpfe senken. Beide Geschlechter balzen mit ihrem Kopfgefieder, bis zum Maximum gesträubt, beugen sich nach vorne und nach unten, während sie gleichzeitig die Flügel seitwärts spreizen. Während der Schnabel zum Boden gerichtet ist, stößt das Männchen, offensichtlich unter großer Anstrengung, gutturale »tjo-gagh« Rufe aus; das Weibchen macht »rru-rra« oder Klopfrufe. Die Heinroths sahen ihr gefangenes Männchen bei der Verbeugungszeremonie mit voll gesträubtem Kopfgefieder bei einem fremden Weibchen, doch beim Drohen stand er aufrecht, mit gesenktem Kopfgefieder, und betonte seine erhobenen Federohren. Gothes Beobachtungen stimmen mit meinen und denen anderer Forscher überein, dass Drohgebärden durch aufrechte Haltung, Federohren, dicht zusammengedrückte Federn, erhobenen Schnabel und starren Blick charakterisiert sind. Nach diesen Beispielen scheint es mir jedoch sehr viel wahrscheinlicher, daß die veränderten Haltungen von aufgerichteten »Ohren« zum Dickkopf und dann zum Beugen keine Eskalation sind, sondern eine veränderte Motivation von Aggression zu sexuellem Interesse. Vielleicht ist die Demonstration von Stärke für das Männchen als Gelegenheit zum Balzen nötig, könnte aber für sich allein keine Herzen gewinnen. Wenn dies richtig ist, dann müssten verpaarte Vögel in der Gegenwart von Eindringlingen, die sie ausschließen möchten, nie bis zum Dickkopf eskalieren. Und das ist es, was ich draußen bei den Ködern
beobachtete: Paare zeigten am Köder ihre Federohren nur Fremden und den Dickkopf nur untereinander. Die Paare demonstrierten durchziehenden Vögeln ihre Dominanz, weil sie wollten, dass sie fortflogen, nicht weil sie sich sexuell von ihnen angezogen fühlten. Dies bestätigte sich, als sie beim Fressen unter sich waren, dann war ihre Gefiederstellung neutral. Bei meinen Ködern (siehe nächstes Kapitel) war das Aufplustern des Kopfes ohne gleichzeitiges Balzen eindeutig eine Unterwerfungsgeste. Im sowohl von Lorenz wie von Gwinner beschriebenen Dickkopfverhalten war auch das Kopfgefieder geplustert, die Körperhaltung jedoch völlig anders – das Männchen steht groß und aufgerichtet in der typischen Imponierstellung und hat seinen Kopf nicht demütig eingezogen. Vielleicht beinhaltet der geplusterte Kopf zwei Signale, den Dickkopf, der sagt: »Ich bin beeindruckt und dir gegenüber nicht aggressiv, aber ich dominiere über die anderen, also bin ich ein würdiger Partner.« Lorenz und Gwinner nehmen eine dritte Eskalation des männlichen Imponierverhaltens an, bei der das Dickkopf-Männchen eine fast horizontale Stellung einnimmt, extreme Beuge- oder Würgebewegungen macht, beim Ducken ruft, seinen Schwanz ausfächert und die Nickhäute über seine Augen zieht. Obwohl dies wahrscheinlich tatsächlich eine Eskalation des Dickkopfverhaltens ist, scheint es mir eine Haltung zu sein, in der eher maximale Unterwerfung gegenüber einem Freier und weniger eine maximale Dominanz ausgedrückt wird. (1ch sah dasselbe oder ein sehr ähnliches Verhalten bei Weibchen, die mit Männchen balzten). Die gegenüber der Gruppe
ausgedrückte Dominanz ist verschwunden, und die Unterwerfung vor einem bestimmten Wesen aus der Gruppe wird betont. Ich beobachtete bei den Ködern, dass rangtiefe Vögel fast krochen und ihre geplusterten Köpfe in einer mehr oder weniger starren Weise in der Gegenwart von Ranghohen einzogen. Bei direkten Konfrontationen werden noch andere spezifische Verhaltensweisen benutzt, und sie haben in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen. Das infantile Betteln zum Beispiel, währenddessen der Vogel teilweise wie ein Nestling tief geduckt ist, ruft und die Flügel schnell bewegt (manchmal auch den Schwanz), wird vom Weibchen vor und während der einundzwanzigtägigen Inkubationszeit und bis zu zwei Wochen danach ausgeübt, wenn sie von dem Männchen gefüttert wird. Eine ähnliche Bettelvorstellung wird auch als Beschwichtigungsverhalten bei einer Konfrontation gebraucht. Sie entwickelt sich zu einem tiefen Ducken ohne Öffnen des Schnabels und bettelnde Geräusche, was die Aufforderung des Weibchens zur Kopulation simuliert, doch beide Geschlechter benutzen dasselbe Verhalten, um die Macht eines Überlegenen anzuerkennen. Wieder bedeutet Bücken oder Ducken Unterwerfung oder Respekt, doch keine Dominanz. Bei den meisten Tieren wird Balzen als unmittelbares Vorspiel zur Paarung angesehen (von Menschen). Das mag für Rotkehlchen oder Grasmücken zutreffen, die nicht viel Zeit zu verlieren haben, wenn sie sich zu Beginn des kurzen Sommers an ihren Brutplätzen treffen. Doch ich vermute, dass die Situation bei Raben, die keine Zugvögel sind, anders ist und daß sie sich kontinuierlich und langjährig mit ihren Artgenossen verbinden
könnten, bevor sie sich paaren. Bei ihnen könnte das Balzen per se der Höhepunkt einer langen Entwicklung sein , wie manchmal bei Menschen. Der Beau , den die Teenagerschönheit bevorzugt, ist nicht unbedingt der Mann mit der tiefsten Verbeugung und dem breitesten Lächeln. Vielleicht hängt sein Sex-Appeal auch davon ab, wie gut er tanzt oder Baseball spielt oder ob er Designerjeans trägt und einflussreiche Freunde hat. Taxieren sich die Vögel gegenseitig, bevor sie überhaupt mit ihrem Liebesspiel beginnen? Mehrere Möglichkeiten bieten sich an. Da sind einmal die akrobatischen Flugkunststücke des Raben. Die Vögel wählen meist Aufwinde, mit denen sie 300 oder 600 Meter steigen und dann Rollen und andere Manöver während der Sturzflüge abwärts ausführen. Dirk van Vuren von der University of Kansas hat dieses Verhalten auf der Insel Santa Cruz bei Santa Barbara, Kalifornien, systematisch beobachtet und festgestellt, dass 95 Prozent der Rollen halbe Rollen waren. Während einer Halbrolle winkelt der Rabe einen Flügel eng an den Lauf, rollt schnell auf den Rücken, beugt den anderen Lauf und dreht sich in die andere Richtung, um dann beide Schwingen auszubreiten. Diese halben Rollen werden nach beiden Seiten gemacht, und manchmal trudeln die Vögel in beiden Richtungen hin und her. Drei Prozent der Rollen waren volle Rollen, die mit ausgebreiteten Schwingen langsam und sicher ausgeführt wurden. Ein Prozent waren Doppelrollen, in denen zwei volle Rollen direkt und ohne Unterbrechung aufeinander folgten. Zweimal sah van Vuren einen »umgekehrten Immelmann-Salto«: Der Rabe machte eine halbe Innendrehung auf dem Rücken, auf die aufrechtes Gleiten
in der entgegengesetzten Richtung folgte. Zweiundsechzig Prozent der Rollen wurden zwei- bis elfmal hintereinander ausgeführt, nur durch kurzes Gleiten, etwa ein bis drei Sekunden lang, unterbrochen. Ein Rabenartist bot »eine Sequenz von sechs halben Rollen, zwei vollen und zwei Doppelrollen«. Jede Rolle wurde gewöhnlich stimmlich angekündigt. Bei einigen paarweise ausgeführten Flügen ergriffen die Partner kurz die Läufe des anderen, sie konnten auch Gegenstände zurück- oder weitergeben. Viele dieser Flugkunststücke werden in großer Höhe ausgeführt, doch Zirrer beschreibt Beobachtungen in der Nähe seiner Hütte in den Wäldern von Wisconsin, nach denen Raben die Form einer Pfeilspitze annehmen, mit teilweise geöffneten Flügeln, und tollkühne Sturzflüge direkt zum Boden machen. Kurz davor halten sie ein, indem sie die Flügel ausbreiten und wieder hochziehen, um dasselbe Manöver mehrfach zu wiederholen, begleitet von »krächzenden, schnalzenden und gurgelnden Tönen«. Gothe beschreibt vier verschiedene Arten des Fluges, von denen er annimmt, dass sie zum Paarungsverhalten gehören. Das »Auf-den-Rücken-Werfen« entspricht dem von Emeis und van Vuren beschriebenen Rollen. Allerdings erklärt Gothe, dass diese Flüge fast das ganze Jahr hindurch stattfinden, doch selten im Mai und gar nicht im Juli und August, während van Vuren sie ganzjährig beobachtete. Die begleitenden Laute schlossen hohe »grüh«- und klingelnde »klong«- oder »djong«-Rufe ein. Gothe vermutet, dass Rollen nicht unbedingt mit »Sturzflügen« zu tun hat, wie sie in großer Höhe kreisend von einem Paar ausgeführt werden; etwas anderes ist es, wenn zwei Vögel dies als vermeintliches Paar ausführen, wie ich es gewöhnlich bei juvenilen Trupps beobachtet
habe. Gothe beschreibt auch »Schleifenfliegen«, bei dem zusammengehörende Paare in Kreisen oder Schleifen von Januar bis Mai hoch über ihrem Territorium fliegen und einer der Vögel dabei in schneller Folge »rrok« ruft, was der Partner (vermutlich das Weibchen) mit hoher Stimme beantwortet. Beim »Gleit- und Wellenfliegen« fliegt das Paar direkt über den Baumspitzen, das Männchen dicht über dem Weibchen oder vorneweg, das Kopfgefieder ist geplustert, und er macht »rru-rra«-Rufe. Welche Funktion hat dieses Verhalten? Van Vuren stellte fest, dass es im Winter, Frühling und Herbst gleich häufig war, und verwarf daher die Hypothese, dass es mit der Balz zu tun hat, weil das Brüten der Raben jahreszeitlich genau festgelegt ist. Das Verhalten schien nichts mit der Zahl anderer Raben (von eins bis fünf) zu tun zu haben, mit denen die rollenden Vögel in Verbindung standen, also verwarf er auch die Hypothese vom Rollen als »Sozialverhalten« und entschied sich, dass »Spiel« die wahrscheinlichste Ursache sei. Doch obwohl Brüten saisonal ist, wird das ganze Jahr hindurch gebalzt, und bei solchen Flugvorführungen scheinen oft juvenile Paare beteiligt zu sein. Also könnte dieses Verhalten nicht nur zur Verstärkung bestehender Paarbindungen dienen, sondern auch um bei einzelnen Vögeln die Befähigung zur Partnerschaft festzustellen. Unabhängig von der Jahreszeit finden viele dieser Schauflüge von Vogelpaaren sowohl dann statt, wenn nur wenige Raben in der Nähe sind, als auch, wenn es Mengen von vierzig oder mehr sind. Am 19. Dezember 1984 beobachtete ich an einem Schlafplatz in Maine bei den Segel- und Flugkunststücken von elf Vögeln, dass fünf Zweiergruppen eng nebeneinander parallel flogen. Am 21. März 1985 sah ich in Vermont vier »Paare«
bei einem Flug, der auch fünf einzelne einschloss. Es waren eindeutig keine zusammengehörenden Paare, weil die Weibchen im März brüten. Während der Flugmanöver waren die beiden Vögel der offensichtlichen Paare oft so dicht beieinander, dass es fast unmöglich war, sie auseinander zuhalten. Da fast alle Beobachter, die dieses Flugverhalten von Rabentrupps beschrieben haben, von »Paaren« berichten und da wir jetzt wissen, dass Rabentrupps vorwiegend aus nicht brütenden Jungen bestehen, ist es fast sicher, dass es keine adulten Paare im konventionellen Sinn sind – es sind die »Teenager« unter den Raben. Neben der Flugakrobatik gibt es bei Raben noch andere »nutzlose« Verhaltensweisen. Gwinner beschreibt zahlreiche Variationen von Spielen bei seinen Käfigraben, einschließlich eines »Schlitterspiels« auf einer glatten Hartfaserplatte; sie tragen Gegenstände mit den Zehen und hängen sich kopfunter an Schnabel oder Zehen auf. Die manchmal komplexen motorischen Verhaltensmuster, die ein Vogel entwickelte, wurden oft von seinen Käfiggefährten imitiert, die daraufhin von den Ranghohen angegriffen wurden. Ähnlich sah Richard Elliot bei seinen Feldstudien einen Raben mit aufgeplustertem Kehlgefieder, wie ein Vogel beim Liebesspiel. Es war offensichtlich ein Männchen, das sich gegenüber einem anderen Vogel produzierte, der an einem oder beiden Zehen oder an seinem Schnabel hing. Ein dritter Vogel versuchte, ihn zu imitieren. Elliot vermutet, dass dieses Verhalten das Balzen bei Männchen ist. Wenn es sich tatsächlich um eine Form des Imponierverhaltens handelt, könnte es erklären, warum Gwinners hängende Raben regelmäßig von ihren Käfiggefährten angegriffen wurden;
andere Freier würden gewinnen, wenn sie die Konkurrenz ausschalten oder die Tricks besser ausführen könnten. Interessanterweise ist Hängen ein gut bekanntes zentrales Kennzeichen der Balz, über das bei den nahen Verwandten der Raben, den Paradiesvögeln, viel geforscht wurde. Der intensive Wettbewerb zwischen diesen Männchen um die Weibchen hat zu spektakulären optischen, akustischen und akrobatischen Hängekunststücken geführt, die zu den größten Wundern der Vogelwelt zählen. Das Herumkaspern der Raben bei ihren Versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen als Vorspiel zur Balz, kann manchmal komisch sein, vor allem, wenn es vor dem falschen Objekt stattfindet, was vorkommt, wenn die Tiere ohne Kontakt zu Artgenossen aufgezogen werden. Zumindest ist das meine Diagnose bei einer Reihe Verhaltensweisen von Edgar, einem gefangenen Raben, den Catherine A. Hurlbutt aus Denver, Colorado, hielt. Ms. Hurlbutt schrieb mir, dass es ihr nach beträchtlichen Anstrengungen (siebzehn Jahre lang, seit 1972) gelungen sei, Edgar dazu zu bringen, »Nevermore (»Nimmermehr«) klar auszusprechen. Doch ihre ganze Arbeit schien umsonst, als ein Machoveteran aus Vietnam sich im Haus einmietete. Edgar folgte (und folgt noch) diesem Mann wie ein Schoßhund und ignoriert seine frühere Herrin völlig. Er folgte ihm nicht nur, er produzierte ihm gegenüber zum ersten Mal eine Vielfalt von Tricks: »Er« rollte auf seinen Rücken und packte dabei gleichzeitig irgendwelche Gegenstände mit seinen Zehen, er wickelte Löffel, Wäscheklammern und andere Gegenstände in Papier, beugte sich
schließlich sogar vor ihm und ließ seinen Schwanz vibrieren (das weibliche Reizsignal bei der Balz). Ms. Hurlbutt befürchtete, dass sie den Kontakt zu ihrem Vogel verloren hatte. Doch da Gwinners gefangene Weibchen nicht nur von den Macho-Rabenmännchen angezogen wurden, sondern auch von Männern, die übertrieben kraftvoll agierten, vermute ich, dass Edgar tatsächlich Edgarina ist. In der freien Natur hat ein Rabe natürlich viel mehr Möglichkeiten, Freier zu beeindrucken. Da Raben in Dauerehe leben und alt werden können (die Raben im Tower werden gewöhnlich 20 bis 25 Jahre alt, einer, Jim Crow, erreichte sogar das hohe Alter von 44), sind beide Partner vermutlich sehr wählerisch bei der Partnerwahl. Es muss einen Weg geben, mit dem die Vögel sich auf einer relevanten Grundlage abschätzen. Bei Raben ohne Partner wird das ganze Jahr hindurch gebalzt, die Jungen beginnen damit im Spätsommer ihres ersten Jahres, obwohl sie erst drei oder vier Jahre später mit Brüten beginnen. Bei einer sehr langen Balzzeit und intensivem Wettbewerb muss ein Freier sich selbst bemerkbar machen. Er oder sie müssen noch mehr tun, da der potentielle Gefährte Eigenschaften schätzt, die bei der Aufzucht der Jungen nützlich sind. Könnte das Zeigen eines guten Kadavers Teil der Balz sein? Ein Rabe könnte durch Glück und Zufall einen Kadaver finden, doch ein verlässlicher Indikator für überragende Kraft und die Fähigkeit, Beute zu finden, wäre das Flugverhalten. Paarweiser Parallelflug könnte Vergnügen sein, aber dadurch scheiden faule Vögel und schlechte Flieger aus. Andererseits könnten es auch Übungsflüge sein, mit denen man für spätere kritische Begegnungen trainiert.
Die allgemeine Erklärung für diese Flüge mit akrobatischen Rollen und »rrock«-Rufen ist Spiel. Zweifellos werden die Vögel durch das unmittelbare Vergnügen motiviert. Doch Spiel ist keine Erklärung aus evolutionärer Sicht, es hat eine Funktion. Vielleicht ist das soziale Spiel der Raben dem Tanzen der Teenager vergleichbar, bei dem sie sich kennenlernen. Raben-»Rrock«-and-Roll könnte eine andere Version von »Twist again« sein.
Individuen 23. JANUAR 1987. Ein heftiger Schneesturm war vorhergesagt, also verließ ich Vermont gestern Nachmittag so früh wie möglich, in der Hoffnung, ihn zu umgehen. Natürlich erwischte er mich doch, wie ich es schon geahnt hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich fast besessen. Ich musste fahren und die markierten Vögel beobachten. Über 50 Zentimeter Schnee waren angesagt, und schon nach der Hälfte des Weges, in der Nähe der White Mountains in New Hampshire, war es fast unmöglich, die Straße zu sehen, doch dank Allradantrieb kroch ich langsam Richtung Maine. Nachdem ich in der Nacht den Hügel bewältigt hatte, zog ich Schneeschuhe an, um zum Camp hinaufzugehen. Es war eisig kalt, und der Wind blies so stark, dass meine Hände in den wenigen Sekunden taub wurden, die ich benötigte, um ohne Handschuhe die Bindung an den Schneeschuhen einzustellen. Ohne Schneeschuhe konnte ich überhaupt nicht laufen. Es machte mich zufriedener als sonst, dies doch geschafft zu haben und nachts in das große Weiß hinauszugehen. Es ist noch dunkel am nächsten Morgen, als ich im Schnee buddle, dort, wo die Köder vor drei Tagen liegengelassen wurden. Die Raben waren zurückgekommen, denn zwei der 50-Pfund-Fleischhaufen sind weg. Die Vögel waren auch wieder in der Falle gewesen und hatten dort die Reste des Fleisches vertilgt. Mit beträchtlicher Mühe gelang es mir, die beiden anderen 50-Pfund-Fleischhaufen zu lokalisieren und auszugraben, die schon seit drei Schneestürmen zugedeckt waren. Kein Rabe hatte versucht, sie
aufzugraben, obwohl Dutzende von Vögeln sie gesehen hatten, bevor sie vom Schnee zugedeckt wurden. Hier ist ein weiterer Beweis, dass die Raben das Fleisch nicht durch den Geruch finden, ausgenommen mit Hilfe der Kojoten. Sie müssen das Futter sehen oder sich irgendwie erinnern, wo sie schon gefressen haben, bevor sie sich ans Freischaufeln machen. Um 8.00 Uhr fliegt ein Vogel über das freiliegende Fleisch, landet in den Bäumen nebenan und trillert etwa eine halbe Stunde ununterbrochen. Dieses Trillern und Klopfen, bevor das Fressen beginnt, muss irgendetwas bedeuten. Ich sehe einen zweiten Vogel einfliegen und höre dann mehrere Klopfserien. Trillert, im Zusammenhang mit einem frisch entdeckten Kadaver, das Männchen, und klopft das Weibchen, um die Entdeckung für sich in Anspruch zu nehmen, beziehungsweise die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Nach wenigen Minuten sehe ich einen der von uns markierten Vögel, Rot 0 (R 0), bekanntlich ein Jungvogel. Zusammen mit einem unmarkierten Vogel fliegt er als erster herab. Der Unmarkierte geht auf den einen Fleischhaufen zu und läuft dann zwischen beiden hin und her, pickt an einem, beugt sich nieder, plustert seinen Kopf und macht seltsame Geräusche gegenüber den anderen Raben, die rundum in der Nähe auf dem Boden sitzen. Er macht auch eine Serie von Klopfgeräuschen, wie sie für Weibchen typisch sind. R 0 dagegen stolziert wie ein adultes Männchen herum, stellt die Ohren hoch, plustert das Kehlgefieder, senkt die Flankenfedern, die jetzt wie Pluderhosen aussehen, und lässt die leicht ausgebreiteten Schwingen hängen. Rundum sind nur drei bis vier andere
Vögel, und keiner hat mit Fressen begonnen. Es wirkt wie Herumlungern, als ob sie kein Interesse am Fressen haben, sondern aus anderen Gründen bleiben. Balzen sie? R 0 ist ein junger Vogel, doch unter dem Einfluss eines anderen Jungen, R 26, der jetzt auftaucht, schlägt er mit seinem Schnabel durch die Luft. Wenn die Raben »Hörner« oder »Ohren« aufrichten, bedeutet das Überlegenheit, Stärke, und nachdem dies unter seinen Genossen klargestellt ist, befasst R o sich mit seinem eigentlichen Objekt: R 26, das junge, wahrscheinlich allein stehende Weibchen. Vermutlich beeindruckt diese Machtdemonstration andere Raben und könnte das Recht, weiter zu balzen, sichern. Und R o nimmt dieses Recht wahr. Er zieht mit Unterbrechungen seine Hörner ein, plustert Kopf und Hals voll auf und beugt sich demütig vor ihr, zweifellos flüstert er süße stereotype Nichtigkeiten und signalisiert seine Bewunderung durch Blinken mit den Nickhäuten über seinen braunen Augen. Sie ist allerdings noch nicht bereit für seine Annäherungen und zieht sich zurück. Er folgt ihr und wird mehrfach abgewiesen. Also waren die »Paare«, die ich bisher in der Menge gesehen hatte, wohl keine zusammengehörigen Adulten, und das Balzen, das ich bei den Jungen in meinem Käfig sah, keine Verirrung. Jungvögel balzen auch in der Freiheit. Die Vögel fliegen alle fort, 51 Minuten lang ist es sehr still. Plötzlich erscheinen zwölf beim Köder, einige machen die Hampelmannsprünge. Einer geht hinauf und nimmt einen Bissen, dann gehen alle, nur um nach einer Minute wiederzukommen und dann wieder zu gehen. Sechsunddreißig Minuten später versammeln sie sich schließlich um den Köder, jetzt fressen etwa 35 Vögel gleichzeitig. R 0 und R 26 waren nicht unter den
ersten Fressern, schlossen sich jedoch später an. Es sind nie mehr als fünf oder sechs markierte Vögel gleichzeitig hier, bei insgesamt 35 bis 40 fressenden Vögeln. Da wir 41 Vögel an den Schwingen markiert haben (und zwei mit Sendern) und nur ein Achtel oder ein Siebtel der hier anwesenden Vögel markiert sind, könnten die markierten Vögel aus einer Gesamtmenge von 41 X 7 = 287 Vögeln kommen! (Die Zahl ist höher, wenn es keine geschlossene Population ist. Dies stimmt mit den anderen Daten über Vögel überein, die von verschiedenen Schlafplätzen kommen.) Kein Wunder, dass Hunderte Pfunde von Fleisch nach wenigen Tagen weg sind. Insgesamt kommen an diesem Tag acht verschiedene markierte Junge und zwei markierte Adulte (ein Paar). Es ist kein Wunder, dass dieses Fressen sehr bald auf das erste Rabentreiben folgte. Wir fingen nur Vögel aus dem Sample, das gegen 7.00 Uhr kam. Die meisten anderen kamen später und wussten möglicherweise nichts über den Fang. Sie gehen jetzt sorglos in die Falle und werden den anderen berichten, dass sie »sicher« sei. Drei adulte Paare erscheinen. Paare sind leicht auszumachen, denn jetzt, kurz vor der Nistzeit, bleiben sie immer eng beieinander und gehen paarweise. Beide stolzieren mit gesträubten Köpfen umher, mit hochgerichtetem Schnabel und Federohren, während bei anderen das Kopfgefieder glatt herunterhängt. Der kleinere Rabe mit weniger ausgeprägten Machozügen (das Weibchen) folgt oft dem ersten und putzt ihm gelegentlich das Gefieder. Häufig berühren sich die Schnäbel. Die drei Paare waren W i und W 4; ein Paar, dessen Männchen ein verkrüppeltes Bein (die Zehen waren
eingewachsen) und dessen Gefährtin einen weißen Kotflecken auf dem Rücken hat, sowie ein weiteres Paar ohne besondere Kennzeichen. Im Gegensatz zu den Adulten haben alle acht markierten Jungen aufgeplusterte runde Köpfe, zumindest nach Beginn des Fressens. Ihre Hälse sind gewöhnlich eingezogen, zum Hochstellen des Schnabels werden sie nicht angehoben. Sie wirken schwach und unterwürfig. Dies bezieht sich jetzt auch auf R o, der wie ein adultes balzendes Männchen gewirkt hatte, als keine Adulten in der Nähe waren. Wenn die Adulten nicht da sind, glätten die nicht balzenden Jungen ihr Kopfgefieder und sehen eher wie Krähen aus. Ich bin verwirrt über die ganze Körper- und Gefiedersprache, weil sie starke soziale Hierarchien anzeigt, die wahrscheinlich für das Rekrutieren relevant sind. Ich sehe den ganzen Tag nicht, dass R 0 sich wieder R 26 anschließt. 24. JANUAR. In der Nacht lege ich Fleisch in die Falle und überlege, ob die Raben wieder hineingehen werden. Sie tun es – sogar bevorzugt vor dem frisch ausgegrabenen Fleischhaufen im Feld, von dem sie gestern gefressen hatten! Man bricht schwer mit alten Gewohnheiten. Ende des Experiments. Ich bedecke das Fleisch in der Falle und lege etwa 30 Pfund frisches Fleisch auf den Haufen, von dem sie gestern fraßen. Da die Vögel vorübergehend gestört wurden, nutze ich gleich die Gelegenheit, draußen vor der Hütte zu sein, und sehe nach dem anderen 100-Pfund-Fleischhaufen, der seit letzter Woche auf der anderen Seite des Berges liegt. Ich sehe dort einen
einzelnen unmarkierten Raben. Ist es der Reviervogel? Der Fleischhaufen liegt nah bei einem alljährlich benutzten Nest. Heute kommen W 1 und W 4 wieder, doch nicht die beiden anderen Paare, zumindest nicht am Nachmittag. Ich sehe fünf derselben markierten Jungen wie gestern und auch fünf neue. Ein weiterer Neuling ist der zwei Jahre alte B 7, der nicht anders als die anderen Jungen agiert. Die Vögel bleiben etwa eine Stunde aus, nachdem ich wieder in die Hütte zurückgekehrt bin. Alles ist still. Dann sehe ich einen Vogel vorbeifliegen, der sehr tiefe, hallende Quorks von sich gibt. Ich sehe einen Raben einen markierten jungen (rot) jagen. Noch mehr lange Quorks. Sechs Minuten später sind Schreie zu hören, und innerhalb einer Minute strömen etwa dreißig Raben herbei und gehen an den Köder. Zwei Adulte sind zuerst dort, und sie picken einige Junge. Nach ein paar weiteren Minuten sind es über fünfzig Vögel, und die Adulten hören auf, die anderen anzugehen, obwohl sie immer noch steif herumstolzieren, mit gespreizten Flügeln und Federohren. W 1 und W 4 kommen erst, nachdem die anderen schon eine Stunde gefressen haben, ebenso B 7. Verschiedene Vögel, die wir nicht markiert hatten, können leicht durch einzelne weiße Flecken (Kotmarkierungen) auf dem Rücken identifiziert werden. Ich sehe auch einen einbeinigen Vogel, der gestern nicht hier war, doch der schwanzlose Vogel, der gestern auch da war, ist nicht dabei. Von einer Stunde zur anderen wechseln die erkennbaren Vögel sehr schnell, was zeigt, dass dies nicht ein zusammengehörender »Schwarm« ist, und das verhilft mir zu einem weiteren passenden Teil im Puzzle.
Ich verbringe lange Zeit mit der Beobachtung eines unmarkierten adulten Paares. Beide haben ständig Federohren, wodurch sie sich leicht von den Jungen unterscheiden lassen, aber nicht untereinander. Einer hält seinen Kopf gebeugt, bewegungslos, während der andere ihn sorgfältig putzt. Gelegentlich berühren sie sich mit den Schnäbeln. Ein sehr liebevolles Paar. Sie sind sich ständig nahe. Wenn ein Junges näher kommt, wird es angegriffen. Doch normalerweise werden die Jungen ignoriert, und das Paar macht weiter – einer frisst, einer putzt das Gefieder. Um 15.20 Uhr fliegt die Gruppe fort, nachdem sie träge in der Mitte des Feldes gehockt hatte. Ein Vogel mit einer weißen Markierung (ein Adulter, doch ich kann die Nummer nicht erkennen) bleibt auf einer Pappel am Rand des Feldes sitzen, nachdem die anderen weg sind. Später sehe ich auf einmal drei Vögel jagend vorbeizischen. Die drei, von denen manchmal zwei zusammen fliegen, trudeln in Sturzflügen durch die Luft bis hin zu Hills Pond, kommen über den Köder zurück und verschwinden über den westlichen Bergkamm aus der Sicht. Ich höre die kurzen aufgeregten »ka, ka, kas«, die ich schon so oft während der letzten zwei Jahre hörte, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Ihr Sinn ist Aggression. Ich sehe viermal, dass der jagende Vogel die weiße Markierung hat – ein Adulter. Einer der beiden Jagenden kommt jetzt zurück und landet wieder auf der Pappel in der Nähe des Köders, auf der ein Adulter gehockt hatte, nachdem alle Jungen fort waren. Er hat voll aufgerichtete Federohren und große Pluderhosen und macht eine Serie langer, tiefer Quorks. Ja – das Revierpaar verteidigt sein Fleisch! Das bestätigen
diese Beobachtungen. Ein anderes Teil des Puzzles fällt an seinen Platz. 25. JANUAR. Dies ist mein dritter Tag ununterbrochenen Beobachtens mit dem Fernglas von der Morgen- bis zur Abenddämmerung, um zu sehen, wer auftaucht. Ich kann keine Pause machen, weil ich keinen der markierten Vögel übersehen will. Ich sehe wieder Jagden, der jagende Vogel hat eine weiße Markierung auf der Schwinge wie gestern. Das ist phantastisch! Ständige Beobachtung zwei Tage hintereinander! R 0 und R 26 sind auch zurück. Doch sie kommen und gehen unabhängig und beachten sich gegenseitig nicht, soweit ich es erkennen kann. Entweder hatten sie nie eine Beziehung, oder sie ging kaputt. Schließlich zeigt sich einer der wenigen alleinstehenden Adulten. Bis jetzt waren alle Adulten, die ich sah, zusammengehörende Paare, und ich hatte gedacht, dass es eine spezifisch adulte Körperhaltung gäbe. Doch dieser einzelne Adulte sieht aus, benimmt sich und sträubt sein Gefieder wie die unterwürfigen Jungen. Und die Federstellung und das Verhalten des balzenden Jungen ist nicht von dem der dominanten gepaarten Adulten zu unterscheiden. Also ist die Federstellung nicht nur ein Charakteristikum des Alters. Sie gibt Auskunft über Status und Absichten, die in Zusammenhang mit dem Alter stehen, was aber nichts mit Altern zu tun hat, das heißt, dass Älterwerden allein die Vögel nicht veranlasst, ihre Federstellung zu ändern. Zuvor nicht gesehene markierte Vögel kommen weiterhin vorbei, viele markierte, die da waren, kommen nicht zurück. Ich staune immer wieder, wie stark die Fluktuation
dieser fressenden Menge ist. Von einem Tag zum anderen sind es oft gänzlich verschiedene Vögel, sogar von einer Stunde zur nächsten. Das hätte ich nie ohne die Markierung festgestellt. Jetzt kann ich guten Gewissens die Hypothesen verwerfen, die auf verwandtschaftlichem Teilen oder gegenseitigem Altruismus beruhen, weil dies hier zumindest keine sozial zusammengehörige Gruppe ist. Am ersten Beobachtungstag erkannte ich zwölf Individuen. Am zweiten Tag waren acht neue da, vier der zwölf vom Vortag kamen nicht wieder. Jetzt, am dritten Tag, sind es wieder fünf neue, und vier von den siebzehn, die ich gestern sah, kamen nicht wieder. Anders gesagt, mit Ausnahme der Paare kommen die Vögel unabhängig voneinander. Sie schreien, während sie zum Fressen herunterkommen, was andere herbeiruft, die zufällig gerade in der Gegend sind. Wenn es dunkel geworden ist, gehe ich jeden Abend durch den Wald aufwärts zum York Hill, wo ich mit meinem Empfänger auf eine große Fichte steige, um die beiden mit Sender ausgestatteten Vögel zu orten. Dann fahre ich nach Center Hill in der Nähe des Mount Blue und zu einigen anderen hochgelegenen Punkten, um das Signal genauer lokalisieren zu können. Heute versuche ich einmal mehr, auf Empfang zu gehen. Ich höre das »piep, piep, piep« des Adulten aus fast jeder Position, die ich ausprobiere. Wie vorher trianguliere ich auf dem Platz mit den Kiefern. Der Vogel bewegt sich jede Nacht rund 3o Meter um sein altes Nest. Es ist wie Magie, zu wissen, dass der Adulte getrennt von denen bleibt, die zu den gemeinsamen Schlafplätzen gehen, die, wie ich nun weiß, von den Nichtbrütenden (vor allem Jungen) benutzt werden, auch wenn sie oft
paarweise fliegen. Ich bekomme nie ein Signal von dem Jungen, er ist fort. Dies stimmt mit den Daten der Farbmarkierungen überein. Die Jungen ziehen umher und bleiben nicht einmal einem Schlafplatz treu. 30. JANUAR. An diesem Tag kommt kein Rabe zu dem freigelegten Fleisch! Statt dessen versammeln sich etwa vierzig in der Nähe des Apfelbaums, unter dem ich vor zwei Wochen einen Fleischhaufen ausgelegt hatte. Nur ein winziges Stück Fleisch schaut aus dem Schnee, aber sie haben gegraben und graben rundherum weiter. Die Kämpfe sind verwegen – vier antagonistische Interaktionen pro Minute. Dann wird mein neuer Fleischhaufen entdeckt, ein Vogel trillert in der Nähe. Ich lege noch mehr Fleisch näher bei der Hütte aus, und ein Rabe spaziert auch daraufherum und trillert. Doch noch immer frisst keiner von dem neuen Fleisch. Und kein Vogel trillert an dem abgefressenen Fleischhaufen, bei dem viele versammelt sind. Am Abend prüfe ich den Fleischhaufen auf der anderen Seite des Berges. Diesmal schneit es stark, und ich wate hüfttief durch den Schnee. Nach vielem Graben finde ich schließlich die Überreste des Fleisches. Doch es sind tatsächlich nur Überreste. Haben dieselben Raben auf beiden Seiten des Berges gefressen? 31. JANUAR. Es hat die ganze Nacht geschneit, und immer noch tobt der Sturm. Ich liebe es, mit den Schneeschuhen durch den tiefen Schnee zu laufen, wenn die Flocken auf mich fallen, und dann in der Dunkelheit über die kleinen, noch nicht geräumten
Straßen zu gleiten. Der Unterstand, den ich letzte Woche gebaut habe, als ich das Fleisch auslegte, ist ein großer Haufen aus Fichtenzweigen, die jetzt schon mit Schnee bedeckt sind. Ich krieche hinein und hocke mich hin. Nach wenigen Minuten kommt ein Rabenpaar, dann viele einzelne Raben, einer nach dem anderen in schneller Folge. Die Paare sind Adulte, und sie agieren sehr besitzergreifend, sie springen und picken auf die Jungen, bis sie stark dezimiert sind. Ein Paar nistet jedes Jahr nur eine halbe Meile von hier. Ich sehe zwei vertraute Vögel: B 1 und R 15. Letzteren sah ich erst gestern bei dem Fleisch an der Hütte auf der anderen Seite des Berges. Es wird immer deutlicher, dass die Vögel sich frei zwischen verschiedenen Ködern bewegen, und dies unabhängig voneinander. Vielleicht hat jeder Vogel mehrere Köder unter Beobachtung, was die für mich rätselhaften Abwesenheiten an einzelnen Ködern erklärt. Vielleicht fliegen sie umher, vergleichen verschiedene Futterstellen und stellen fest, dass die eine überfüllt, die andere von Kojoten besetzt, eine weitere mit Schnee bedeckt ist und so weiter. Als ich zur Hütte zurückkomme, fressen die Vögel von dem neuen Köder, den ich gestern dagelassen hatte (der alte lag tief unter Schnee). Als ich mich nähere, fliegen alle weg. Wie immer sind sie still, keiner macht einen Warnruf, als ich näher komme, wie man es bei Verwandten annehmen könnte. Eine Stunde später höre ich jedoch häufige Schreie, schließlich fliegen sie um 10.00 Uhr wieder zum Fressen herunter. Ein großes Aufgebot junger Raben nähert sich dem Köder. Nach dem ersten Kontakt trillern und
schreien sie, als ob sie Verstärkung herbeiholen wollten. Innerhalb von Sekunden sind es etwa vierzig Vögel. Und das Fressen beginnt. Die Schreie der Jungen vor dem Fressen sind mir inzwischen so vertraut, dass ich oft vergesse, sie zu notieren. Was täglich passiert, nimmt man kaum noch wahr. Doch deswegen ist es nicht weniger bezeichnend, vielleicht sogar mehr. Den ganzen Nachmittag lang sind unter den vierzig durchschnittlich etwa vier markierte Vögel, einige besonders vertraute darunter: R 26, R 4 und sogar R 15, der vorher auf der anderen Seite des Berges war (B 3 kam nicht von dort herüber). Ich sehe sogar drei neue markierte Vögel, die ich vorher noch nicht bemerkt hatte. Sie müssen anderswo gefressen haben. Gegen Mittag fliegen die Vögel fort, und als sie zurückkommen, führt sie einjunger, rot markiert, an. Sein Kopfgefieder liegt glatt an, nachdem die Gruppe zu fressen begonnen hat. Ein Paar schließt sich an. Als zunächst nur wenige Vögel da sind, sind sie sehr aggressiv, doch nachdem sich über zwanzig Junge versammelt haben, geben es die Adulten auf anzugreifen und fressen auch. Landete ein Adulter zuerst, folgten ihm die Jungen unmittelbar, er griff sie dann an und konnte sie etwa eine Minute abhalten. Jetzt kann ich sehen, dass die Adulten, obwohl sie Anführer sein könnten (sie haben weniger Angst vor fremden Ködern als die Jungen), davon keinen Vorteil haben, weil ihr Beispiel nur die Jungen anzieht, die glauben, dass dieser Köder sicher ist. Die Jungen müssen ihre Furcht vor dem Köder gegen ihre Furcht vor den Adulten abwägen. Es ist also kein Wunder, dass die Adulten gewöhnlich erst zum Fressen herunterkommen,
wenn die Jungen schon angefangen haben, zumindest dann, wenn sie wissen, dass viele Junge da sind. Sie »müssten« nur dann zuerst herunterkommen, wenn so wenige Junge da sind, dass sie verjagt werden können. Bis Mittag schneit es stark. 5. FEBRUAR. Die Tage werden länger, doch noch immer ist es tiefer Winter. In der letzten Nacht flackerte Nordlicht am Himmel. Heute ist er etwas wolkenverhangen, und die Mondsichel hat einen Hof Sie wirft wenig Licht, während ich mit meinen Lasten auf den Schneeschuhen hinaufgleite. Dreimal muss ich den Weg wiederholen, jedes Mal mit 75 Pfund Fleisch im Beutel über der Schulter. Das alles ist natürlich unbezahlte Extraarbeit. Es ist Vergnügen. Was ich tue, wird keine größere Bedeutung für den Lauf der Welt haben. Also sollte es besser Spaß machen. Gegen Mitternacht bin ich schließlich mit meinen Aktivitäten fertig und dankbar, in das kalte, aber bequeme Bett zu kriechen. Ein Kojote heult aus Richtung Gammon Ridge. Im Allgemeinen klingt es wie von einem Hund in der Nachbarschaft. Aber hier draußen hört es sich wild und exotisch an, elementar und schön. Für meine Anstrengungen werde ich überreich belohnt. Doch diese Dinge, die ich erfahre, wären keine Belohnung ohne die ganze Mühe. 6. FEBRUAR. Ich möchte heute die Daten für die Tabellen (siehe Anhang) fertig stellen. Ich will zeigen, wie die einzelnen markierten Vögel kommen und gehen. Die Graphik
soll die Tatsache illustrieren, dass die Vögel an jedem einzelnen Köder nicht jeden Tag in derselben Anzahl sind, mit Ausnahme der adulten Revierpaare, die täglich nicht nur einmal, sondern mehrmals kommen oder auch den ganzen Tag bleiben. Gleichzeitig dient das nach oben geschleppte Fleisch der Köder dazu, eine zweite Ladung Vögel zum Markieren zu fangen. Letzte Nacht hat es leicht geschneit. Ich muss aufstehen, bevor die Vögel kommen und den Schnee von dem letzte Nacht ausgelegten Fleisch wegfegen. Ich möchte nicht, dass sie in der Dämmerung vorbeifliegen, nichts sehen und zur nächsten Futterstation weiterfliegen, die ein Kojote schon vorbereitet hat. Die Vögel kommen spät. Sie fangen erst nach B.15 Uhr mit Fressen an. Wie gewöhnlich ist vor dem Fressen ein Vogel da, der als »Schreier« fungiert. Diesmal sehe ich ihn. Er hockt in der großen Birke und blickt jedes Mal, wenn er schreit, direkt auf den Köder. Er sieht einem meiner gefangenenjungen sehr ähnlich, wenn dieser um Futter bettelte, und klingt auch so. Ich glaube, dass dieser Ruf vom Betteln abzuleiten ist. Bevor die Vögel flügge werden, betteln sie nur bei ihren Eltern. Später konzentrieren sie sich auf die Atzung, die die Eltern bringen. Meine jungen gefangenen Raben würden auf das Futter blicken und es anbetteln (wenn ich es fallen ließ), als ob es ihnen in den Schnabel springen würde. Später lernten sie, selbst daran zu picken. Das Schreien beim Futter hat sich wahrscheinlich als Erweiterung dieses Verhaltens entwickelt, aber es dient als Botschaft für andere, weil die Evolution sie gelehrt hat zu erkennen, was es bedeutet. Die Vögel haben sich im Laufe der Evolution wahrscheinlich nicht dazu entwickelt, stumm
zu bleiben, weil ihre Rufe ihnen helfen, Futter in ihren eigenen Schlund zu bekommen. Ursprünglich rief man die Eltern herbei, die einen fütterten, jetzt, da sie alleine fressen, bringt es Gefährten. Das Endergebnis ist dasselbe — Futter im Bauch als Ergebnis von Rufen, ausgelöst durch die Frustration, Futter zu sehen und nicht zu bekommen. Während die Jungen fressen, taucht ein Paar unmarkierter Adulter auf und schlägt mit hocherhobenen Schnäbeln hin und her durch die Luft. Die Jungen ducken, plustern sich auf und stoßen Beschwichtigungsschreie aus. Einige legen sich sogar auf die Seite, als die Adulten herankommen, und einer rollt sich auf den Rücken wie ein Hündchen vor seinem Herrn. Die adulten Reviervögel W 1 und W 4 kommen ebenfalls. Zwischen ihnen und den anderen Adulten sind keine Interaktionen zu sehen, zumindest nicht am Boden. Vielleicht ist in dieser großen Gruppe allen alles erlaubt. Vielleicht bietet eine große Gruppe den Adulten eines Reviers die Chance, ein anderes zu betreten und dort zu fressen. 7. FEBRUAR. Nachts schneit es leicht. Ich mache die Köder in der Morgendämmerung vom Schnee frei, doch erst um 9.30 Uhr beginnt das Fressen. Wie gewöhnlich sind W 1 und W 4 da, und ich bemerke einen anderen bekannten Adulten, W 3. Wie zuvor ist er alleine und handelt und wirkt wie einjunger. Nicht nur das, mehrmals springt er vor Jungen weg und wird von ihnen bedroht. Hat er einen niedrigen Status, weil er keine Gefährtin hat, oder hat er keine, weil er einen niedrigen Status hat? Heute klart der Himmel auf, und es wird sehr warm. Der Schnee ist wieder mit kleinen
schwarzen Flecken gesprenkelt, Sprungschwänze. Sobald es nicht mehr friert, hüpfen sie überall herum, viele springen direkt aus den Bäumen, wo sie offensichtlich den Winter verbringen. Das Fleisch taut in der Sonne ein bisschen auf, und die Raben können wieder Stückchen abreißen, die sie zum Verstecken wegschaffen. In diesem Winter hat kein Kojote direkt von dem Fleisch gefressen, vielleicht weil ich das Fleisch mit Urin markiert hatte. Die Wälder rundum sind mit ihren Spuren gemustert. Sie fressen von den Verstecken der Raben – da wissen sie offensichtlich, dass es sicheres Futter ist, weil es nicht mehr nach Mensch richte. Die Raben fliegen heute früh fort, und ich habe die seltene Gelegenheit zu einem Spaziergang durch den Wald. Ich klettere auf meine Wächterfichte, um einige Fotos von der Landschaft zu machen – und entdecke eine Überraschung. In der Ferne, etwa eineinhalb Meilen in der Richtung, aus der morgens die meisten Vögel kommen, sehe ich Raben segeln und kreisen. Sie fliegen so hoch, dass ich nur kleine schwarze Flecken erkennen kann, die Zweier- und Dreiergruppen bilden, die sich dann kopfüber in schwindelerregenden, torkelnden Sturzflügen hinabstürzen. Es sieht nach einem Riesenspaß aus. Während des Fluges rufen sie ununterbrochen. Ich höre viele Klopfgeräusche. Es sind die typisch weiblichen Töne. Balz. Ich bin fasziniert und beobachte minutenlang, wie sie erneut aufwärts kreisen, immer wieder über Houghton Ledges, und dann wieder abwärts trudeln. Sie müssen ein weithin sicht- und hörbares Ziel sein, nicht nur für mich, sondern auch für andere Raben. Sicher!
Ich sehe Raben, die den Köder gerade verlassen haben, hochfliegen und sich direkt dieser umherkreisenden Versammlung anschließen. Die Zahl nimmt schnell zu. Um 14.52 Uhr sehe ich dreizehn Vögel. Um 15.07 Uhr sind es 23, drei weitere sind auf dem Weg zu der Gruppe. Versammeln sie sich, um zu ihrem Schlafplatz zu fliegen? Ich purzle fast aus meinem Baum, ziehe die Schneeschuhe an und gleite in ihrer Richtung fort. Unglücklicherweise sind keine Raben mehr zu sehen, als ich ankomme. Ich durchforsche das Gebiet meilenweit, trotte hinauf zu den Buchenhängen, durch die Fichten an der Spitze der Berge und wieder hinab zu den Balsamtannen im Tal. Jedes Mal, wenn ich zum Lauschen stehen bleibe, höre ich nur mein Herz vor Anstrengung klopfen. Es ist wieder eine dieser Nächte, in der man dankbar ist, aus seinen schweißtriefenden Sachen und in ein trockenes Bett zu kommen. Doch erst einmal erwarte ich Charlie und seinen Freund Steve aus Bowdoin, dazu zwei Studenten der University of Vermont – die Mannschaft, die mir morgen früh beim zweiten Rabentreiben helfen will. 8. FEBRUAR. Letzte Nacht zog ich das Fleisch einen Meter weiter in die Falle hinein. Doch an diesem Morgen scheint es überhaupt nicht zu existieren. Um 6.30 Uhr bin ich in meinem Unterstand, doch vor 6.52 Uhr kommt kein Vogel, und dann sind es nur zwei. Sie antworten einander, und einer macht viele Klopfer. Es ist das markierte Revierpaar. Die Sonne schickt ihre Strahlen durch ein paar winzige Löcher im Gezweig des
Unterstands. Doch ich bibbere in meinem Bau, zunächst nur gelegentlich, um acht Uhr dann heftig. Dabei ist es heute nicht kalt, minus zehn Grad. Immer noch keine Schar. Haben alle Herumziehenden das Gebiet verlassen und das Revierpaar allein gelassen? Ging es bei diesem Treffen der segelnden Raben gestern Nachmittag darum? Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen der Studenten, die den langen Weg hergekommen sind um ein aufregendes Rabentreiben zu erleben, und nun ungeduldig in der Hütte warten. Ich richte mich darauf ein, länger auszuharren – bis neun Uhr! 8.30 Uhr: Ich höre Raben in der Nähe. Einer, einjunger mit seinem rosa Rachen, hockt mir gegenüber direkt über dem Köder. Er blickt hinunter und ruft laut. Sein Ton und sein Verhalten drücken Zorn aus. Er ist durchaus nicht glücklich, dass das Fleisch im Käfig ist, aus dem es nicht weggeht. Er fliegt fort. Zehn Minuten später landet ein Rabe auf meinem Unterstand, und ich höre die schweren Flügelschläge von anderen, hier ein weiches Quorken, dort ein Klopfen. Sie kommen näher. Jetzt hüpft einer in den Schnee. Ein anderer schließt sich an. Die beiden gehen zur Tür, blicken hinein, fliegen auf und fort, wie auch die, die sich in den Bäumen versammelt hatten. Zehn Minuten später kommen sie zurück, noch mehr folgen, und jetzt gehen sie über die Schwelle. Etwa zehn sind im Käfig. Soll ich den Draht betätigen? Ich denke, dass noch ein paar mehr kommen werden, wenn ich ein bisschen warte. Ich zittere immer stärker, kann kaum noch richtig sehen und muss aufpassen, dass ich mich nicht an die Wände des Unterstands lehne, der von meinem Zittern vibrieren würde. Ruhig bleiben, sage ich zu mir selbst. Warten. Geduld haben. Sind sie auch tief genug
drin? Wie viele? Kein Grund zur Sorge. Wuuschsch... ein gewaltiges Flügelgeknatter, und alle sind fort. Einer erschrickt, und alle fliegen weg. Wieder warten. Ich weiß, dass sie zurückkommen werden, nachdem sie einmal hier waren. Und sie kommen, nach zwanzig Minuten. Inzwischen haben die Studenten abwechselnd durch das Fernglas geblickt, das an dem Loch in der Zeitungspapierabdeckung des Fensters angebracht ist. Charlie sagt, dass sie, als sie endlich das Zuschnappen der Tür hörten, sofort hochsprangen und nach draußen rannten, um die Schneeschuhe anzuziehen. Der Fang besteht diesmal aus vierzehn Vögeln. Einer davon ist ein Veteran aus dem Rabentreiben vom 19. Januar, als 43 gefangen wurden. Und wer ist es? Kaum zu glauben, es ist die Nummer 13. R 13 schien der vorsichtigste in der Schar der markierten Vögel, der letzte, von dem ich erwartet hätte, dass er sich in dieser Gegend wieder zeigt. Bis Mittag haben wir alle Raben markiert und wieder freigelassen. Als der Himmel sich verdunkelt und es kälter wird, fahren wir zurück. Bevor wir Vermont erreichen, kommen wir in einen Blizzard. Doch das Wetter ist jetzt egal. Ich bin in Hochstimmung. Wieder ein langes Wochenende mit aufregenden Fortschritten. Jetzt kann ich eine andere Graphik fertig stellen: Die Altersverteilung des fressenden Trupps. Von 56 Vögeln sind sechs, also 10,7 Prozent, Adulte, neun oder 16,1 Prozent Subadulte, und 41 oder 73,2 Prozent Junge. Es gibt keine verfügbaren Daten, wie bei einer Zufallsstichprobe der gesamten Rabenpopulation der Altersdurchschnitt wäre. Ich vermute, dass er ähnlich wie bei anderen langlebigen, spätbrütenden Vögeln, wie bei Silbermöwen und
Blauhähern ist, wo die drei Jahre alten und älteren Adulten mindestens 6o Prozent der Population ausmachen. Mindestens 90 Prozent der in Trupps fressenden Vögel sind Nichtbrütende. Ich schließe daraus, dass die Vögel, die zu einer Futterquelle rekrutiert werden, tatsächlich ein spezielles Segment der Population sind. Dies ist wichtig zu wissen. Es ist schwer herauszubekommen, warum oder wie die Vögel sich versammeln, wenn man nicht nachweisen kann, wer sich versammelt. Auf dem Rückweg halten wir bei Anthony’s Diner in Saint Johnsbury, um die Ereignisse durchzusprechen und zu verdauen. Wir wundern uns, wie man sich überhaupt noch für alle die weltlichen und oft künstlichen Dinge interessieren kann, die so viele Menschen völlig in Beschlag nehmen, wenn die Natur so aufregend und so nah ist. Wir stellen fest, dass die Aufregung hart erarbeitet werden muss. Es erfordert endlose Energie und Durchhaltevermögen. Manchmal muss man sehr viel investieren, bevor man das Einzigartige und Interessante schätzen lernen kann. Wir versuchen dann, unser Handeln zu rechtfertigen und eine »nützliche« Anwendung daraus zu ziehen. Tatsächlich jedoch machen wir es, weil es ein Vergnügen ist. Natur ist Unterhaltung – die größte Show auf der Welt. Das ist keine Trivialität, denn was ist Leben, wenn es kein Vergnügen ist? Helfen, das Leben interessanter zu machen, das, denke ich, ist der größte Beitrag, den wir einbringen können.
Frühlingsüberraschungen Während der zurückliegenden Monate habe ich die Experimente des letzten Jahres wiederholt und gleichzeitig Köder ausgelegt. Diesmal allerdings verteilte ich sie über einen Radius von 33 Meilen. Aus den Spuren im Neuschnee konnte ich erkennen, dass vier der zehn Köder an einem Tag entdeckt wurden. Alle wurden innerhalb drei Tagen gefunden, und dann wurde einer nach dem anderen der 30-Pfund-Fleischhaufen von Scharen aufgefressen. Kojoten und ein Fuchs hatten zuvor an zwei der Köder gefressen, was ihr vorzeitiges Aufgefressenwerden durch die Raben verzögerte, weil diese deswegen vermutlich eine Weile abgehalten wurden. Markierte Vögel, einschließlich B 3 und R 34, tauchten an dem am weitesten entfernten Köder auf, Luftlinie 20 Meilen von der Markierungsstelle. Wenn wir 20 Meilen als Radius des Gebiets zum Futtersuchen annehmen, würde das Gebiet 1256 Quadratmeilen umfassen. Das Verhältnis von markierten zu unmarkierten Vögeln war bei dem weiter entfernt liegenden Köder dasselbe wie an der Hütte. Das heißt, dass dieselbe Vogelpopulation an beiden Plätzen war. Die Scharen oder Trupps bei verschiedenen Ködern sind keine unterschiedlichen. Das bedeutet, daß Rekrutieren keine Form des Schutzes eines Trupps gegen einen anderen ist. Wie schon früher wurde an einigen Ködern sofort rekrutiert, während andere mehrere Tage lang nur von ein oder zwei Vögeln aufgesucht wurden. Die Ergebnisse stimmen endlich miteinander überein. Es könnte verlockend sein, die Geschichte hier abzuschließen: Volia, eine Hypothese, die
mit den Tatsachen übereinstimmt. Aber dies ist biologische Feldforschung und keine Angelegenheit mathematischer Beweise. In der Physik wird dies, wenn es funktioniert, als korrekt betrachtet. Doch die Evolution behilft sich mit Organismen, die höchst unterschiedlich und improvisiert arbeiten, und alle Hypothesen sind nur Möglichkeiten. Ich hatte eine Menge stimmiger Hypothesen gehabt, doch sie hielten weiteren Beobachtungen nicht stand. Auch jetzt muss ich skeptisch bleiben. Die Hauptlast bei der Wissenschaft besteht darin, für Beweise zu sorgen, die intelligente andere Leute überzeugen. 13. MÄRZ 1987. Viel erwarte ich nicht, es gibt keinen Anlass. Kein großes entscheidendes Experiment wurde vorbereitet. Gegen 5.30 Uhr wird es gerade hell, zwei Raben kommen. In der Dämmerung sehe ich, daß zumindest einer von ihnen eine weiße Flügelmarkierung hat, also ist es wahrscheinlich das Paar von Hills Pond, das die ganze Zeit hier war. Keiner geht an den Köder. Das Fleisch liegt schon seit letzter Woche hier, und man könnte denken, dass die beiden direkt zum Fressen herunterkommen. Am Haufen ist zu erkennen, dass kürzlich viele Raben davon gefressen haben. Andere kommen, doch noch immer kein Fressen. Ich sehe Jagden und höre die vertrauten, kurzen Stakkato-Jagdrufe. Um 7.40 Uhr kommen schließlich fünf Vögel zum Fressen herunter, aber sie agieren sehr nervös. Unter ihnen befindet sich ein unmarkierter Rabe mit Federohren, vor dem einer der anderen flach auf dem Boden liegt und beschwichtigende Schreie ausstößt. Der Federohrige stößt einen Herumstehenden und
hackt weiter auf das Fleisch ein. Dann stößt er auch noch einige andere, die ihm folgen. Ein dominanter Junger? Schließlich fressen alle und fliegen dann fort. Um 8.55 Uhr kommen die Vögel wieder, schweigend. Diesmal sind zwei dominant agierende Adulte (unmarkiert) dabei. Die Jungen ducken sich wie vorher. Doch diese Adulten scheinen besorgt. Sind sie widerrechtlich im Revier von W 1 und W 4? Dann taucht plötzlich ein Adulter auf, der wirklich wie ein Macho aussieht. Er hat dicke Pluderhosen und hoch aufgerichtete Federohren, nach seiner übertriebenen Größe und großspurigen Haltung ist es offensichtlich ein Männchen. Bei ihm ist W 4, das Weibchen. Es ist das Paar von Hills Pond, das Revierpaar. Alle anderen Vögel fliegen jetzt fort, und das Paar beginnt alle, die noch herumlungern, zu verjagen. Bis 11.07 Uhr sehe ich acht Luftjagden, alle in der Nähe des Haufens. Kein Vogel kommt zum Fressen herab, obwohl ich weiß, dass Raben in unmittelbarer Nähe sind. Bis Mittag (als ich weggehe) kann ich im Wald ihr Klopfen hören, Quorks und gelegentlich einen juvenilen Schrei. Doch kein Vogel geht näher an den Köder. Ist einiges von dem bizarren »Widerstreben« der Raben vor dem Fressen kein Anstoßnehmen, sondern das Ergebnis physischer Vertreibung durch die Adulten? Es hat viele Hinweise gegeben, mich darauf vorzubereiten. Doch jetzt habe ich ein Aha-Erlebnis, das ein großes, passendes Stück für mein Puzzle liefert. Von dem Köder wurde schon gefressen, also können sie weder vor ihm noch vor dem Platz Angst haben. Es sind die adulten Reviervögel, die sie fürchten! Aus meinen Käfigexperimenten weiß ich, dass Adulte mutig sind und dass man ihnen folgt. Vielleicht bewachen sie das Fleisch hier nicht nur, indem sie andere fortjagen,
sondern auch indem sie den Jungen kein »Sicherheitszertifikat« geben. Wenn ein mutiger Jungvogel endlich herunterkommt, wird er mit Sicherheit gejagt werden. Also bringt er Verstärkung. Dann hat er eine Chance. Kommen sie darum alle zusammen herab? Wenn diese Idee richtig ist, könnte es ein Dilemma beim Rekrutierungsspiel geben. Ruhige Junge könnten sich heranmogeln, wenn die Reviervögel nicht da sind, vorausgesetzt, sie wissen schon, dass der Kadaver zum Fressen geeignet ist. Doch wenn sie schreien, sollten sie besser sicher sein, dass Verstärkung in der Nähe ist, weil die Rufe die Reviervögel alarmieren. Diese wenigen Vögel waren bestimmt sehr ruhig vor und während des Fressens. Wussten sie, dass es in der Nähe keine weitere Verstärkung gab? Ich erinnere mich, dass vor dem Fressen viel geschrien wurde, wenn über vierzig Vögel hier waren, so als ob sie den Trupp zum Einsatz versammelten. Adulte Reviervögel würden natürlich nie mit Schreien auf Futter aufmerksam machen. Und ich habe bisher auch noch keinen so etwas tun sehen. Wie ich schon gesagt habe – man muss seine Experimente genauestens vorbereiten. Was ich hier »vorbereitet« habe, sind vier oder fünf Junge, die herumlungern, die fressen wollen, aber nicht genug Mumm haben, es zu tun. Jetzt wäre es Zeit, meinen Lautsprecher zu holen und die juvenilen Schreie zu spielen, die zum Essen läuten. Wenn meine Annahme richtig ist, hätten sie jetzt gerne Gesellschaft. Ich sende die Schreie zweimal, und jedes Mal tauchen innerhalb einer Minute nicht nur einer, sondern vier sehr eifrige Vögel aus dem Wald auf, sie kreisen tief über der
Hütte und drehen ihre Köpfe wie verrückt hin und her. ( Während einer fünfzehnminütigen Kontrollzeit vor jedem Versuch sehe ich keinen Vogel.) Es wirkt wie Zauberei. Jetzt ist auch die Gelegenheit, zur Kontrolle einen anderen Ruf zu versuchen. Ich spiele Zwei-Minuten-Folgen mit langen hohen Quorks, insgesamt achtzehnmal. Nur einmal fliegt etwas in der Nähe – fünf Minuten nach dem Ruf. Es war ein Paar, das vorbeiflog. Ist der Ruf vielleicht eine territoriale Nachricht? Ja! Dies ist der Ruf, den ich von den Adulten auf oder bei dem Köder höre. Natürlich, das ist es! Der Ruf dient dazu, die Jungen fernzuhalten. Gegen Mittag halte ich es vor Aufregung kaum noch aus. Ich muss etwas tun, rennen, springen, schreien, auf Bäume klettern. Schon lange hatte ich vermutet, was vorging, hatte mir jedoch nicht erlaubt, es zu glauben, weil ich so viele andere »glaubwürdige« Hypothesen hatte, die sich alle in Luft aufgelöst hatten. Doch nun habe ich eine ungewöhnlich lange Folge stimmiger Beobachtungen. Das aufregende dabei ist, daß all die verschiedenen Beobachtungen nun alle in demselben Szenario zusammenkommen. Ich gestatte es mir, aus meinem Gefängnis in der Hütte auszureißen. Bevor ich weggehe, glätte ich den Schnee beim Köder, damit ich erfahre, ob während meiner Abwesenheit Vögel gekommen sind. Zuerst fahre ich zum Köder Nr. 10, hinter der kleinen Stadt Madrid, etwa 25 Meilen entfernt. Hier verraten die Spuren, dass im Verlauf der letzten zwei Tage mindestens vierzig Raben da waren und das Paar überwältigt haben müssen. Nachdem ich den Köder aufgefüllt habe, finde ich wieder nur das Paar. Sie sind eifrig dabei, große Stücke
von dem neuen Fleisch zu verstecken. In der Umgebung sind viele frische Kojotenspuren. Ich hinterlasse meine Visitenkarte, ein schmutziges Hemd, unter einem der Büsche in der Nähe des Köders. Vielleicht hält der Geruch die Kojoten ab, und ich kann weiter beobachten, wie die Raben agieren. Dreiunddreißig Meilen südlich, in der Nähe von Dixfield, wurde der Köder zweimal an nur einem Tag weggeputzt. Am neuen Köder ist diesmal keine einzige Spur. Offensichtlich kommen die Vögel nicht bei einem Köder zusammen, indem sie zufällig herumfliegen. Die Interaktion zwischen Raben und Krähen war auch interessant. Heute waren es zwei Krähenpaare, nicht wie sonst eines. Sie hatten offensichtlich keine Angst vor den Raben. Tatsächlich näherten sich zwei Krähen der einen Seite des Köders, während die Raben an der anderen Seite fraßen. Sie waren nur ein bisschen nervös. Die Raben taten inzwischen so, als ob die Krähen nicht existierten. Sie zeigten keine Zeichen von Aggression oder beabsichtigter Aggression, weder untereinander noch gegenüber den Krähen. Der Eindruck drängte sich auf, daß Krähen, verglichen mit Raben, sehr friedliche Tiere sind. Die Raben teilen wegen ihrer Aggression! Wären sie nicht aggressiv, hätte sich der Mechanismus des Teilens und Rekrutierens wahrscheinlich nicht entwickelt. Ich vermute, dass ihre Spezialisierung auf Kadaver sich ebenfalls nicht entwickelt hätte, wenn einzelne sich nur unregelmäßig davon ernähren konnten. Wie viele Glückstreffer fallen einem wohl an einem Tag in den Schoß? Ich zog noch zwei weitere. Nachdem ich von zwei weiter entfernt liegenden Ködern zurückkam,
machte ich mich endlich mit den Schneeschuhen auf einen Ausflug durch den Wald. Es schneite ein bisschen. Da der Schnee hart war, brach ich nicht ein, und es war nicht einmal kalt. Die Bedingungen für eine Exkursion durch die Wälder waren ideal, über das Moor, bergauf und bergab. Ich wollte mich vor allem austoben. Doch ich nutzte die Gelegenheit, um nach Rabennestern zu sehen. In der Nähe des Baches hatte ich in der Dämmerung mehrfach Raben gehört. Schläft dort das Revierpaar? Wenn ja, dann haben sie hier vielleicht auch ihr Nest. Ich höre einen Raben in der Gegend, und obwohl ich ihn durch den dichten Wald nicht sehen kann, laufe ich in Richtung der Rufe. Der Vogel bleibt nicht an einer Stelle, denn ich laufe einige Meilen. Dann höre ich etwas anderes, das ich von Raben und anderen Corviden kenne– die juvenilen Bettelrufe des Weibchens im Nest. Sie hat wahrscheinlich gerade das futterbringende Männchen gesehen, und ihre Schreie klingen denen der Jungen, die auch anzeigen »Hier gibt es Futter«, sehr ähnlich. Das Nest sieht riesig aus. Es ist direkt unter einem Dach von lebenden Zweigen, hoch oben in einer Weymouthkiefer. Der Schnee darunter ist mit dicken, frisch abgehackten Espenzweigen übersät. Ich gehe schnell weiter, um die Vögel nicht zu stören. (Später finde ich Büschel von Nestausfütterungsmaterial überall im Schnee verstreut, aber keine Spuren. Wurde das Nest von einigen jungen umherziehenden Raben zerstört?) 14. MÄRZ. Noch ein großer Tag, und wieder war keines der Ereignisse vorauszusehen. Da ich die Vögel von gestern früh erwarte, stehe ich vor der Dämmerung auf. In der
Nacht hat es leichtes Schneegestöber gegeben, es sind etwa minus 7 Grad. Kein Lüftchen weht, nirgends ist ein Rabe zu hören, nichts von einer Krähe oder einem Häher. Um 6.02 Uhr fliegt endlich ein einsamer Rabe vorbei. Als er das frische Fleisch sieht, das ich freigeschaufelt hatte, stoppt er und macht fast einen Purzelbaum in der Luft. Doch es dauert nur eine Sekunde. Der Vogel fliegt weiter, schweigend. Aus seiner Überraschung schließe ich, daß er ein Neuling ist, ein Durchziehender. Um 8.03 Uhr brechen hinten aus dem Wald die rauhen Rufe vieler Krähen. Zwölf Minuten später sind schon dreizehn von ihnen bei dem Köder. Sie kommen als Gruppe, und sie brauchen nicht lange, um anzufangen. Sie scheinen aufgeregt zu sein und krächzen ständig, während sie Fleisch verstecken, doch anders als eine typische Rabenschar schubsen oder stoßen sie sich nicht gegenseitig. Beim Fressen sind sie eng beieinander, berühren sich fast. Ich bin froh, dass ich so geistesgegenwärtig bin, meine Stoppuhr einzustellen, so bekomme ich eine Zahl und nicht nur eine Impression. Es stimmt: In 15 Minuten, bei fünf bis dreizehn Vögeln gleichzeitig an oder um den Köder, gibt es keine einzige agonistische Interaktion. Das scheint sie in eine Klasse über die Raben zu stellen, was freundlichen Umgang untereinander betrifft. Noch dazu, anders als bei den Raben, plustert am Köder keine ihr Kopfgefieder. Ich sehe nur eine Krähe, die ruhig und alleine auf einem Baum hockt und sich plustert. Sie können es also. Sie benutzen es nur nicht als Haltung beim Köder. Ich sehe keine dominanten Vögel und keine, die sich unterordnen. Raben kommen später, doch sie bleiben im nahen Wald, als ob sie Angst hätten, zum
Fressen herunterzukommen. Ich kann sie nicht zählen, doch ich vermute, dass es etliche sind. Dreimal fliegen alle Krähen hoch, als ob sie Furcht vor dem großen schwarzen Vogel hätten, wenn ein Rabe vorüberfliegt. Die Interaktion zwischen Krähen und Raben könnte wie die zwischen »stärkeren« und »schwächeren« Vögeln aussehen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Wenn die Krähen im späten April Eier ausbrüten, sieht es anders aus. Dann schikanieren sie energisch die Raben, die in die Nähe ihres Nestes kommen. Raben fliegen oft relativ niedrig und suchen dabei am Boden Nahrung; nicht selten fliegen dann Krähen hoch über den Raben und stürzen auf ihn herab. Der Rabe ist zur Verteidigung gezwungen und dreht sich in der Luft, um Füße und Schnabel zu zeigen. Während die Krähe vorbeischwingt, richtet sich der Rabe sofort wieder auf, und die Krähe steigt zum nächsten Stoß hoch. Verlässt der Rabe eilig das Revier der Krähe, kommt er gleich in das einer anderen und wird so ununterbrochen attackiert, während er auf der Suche nach Vogeleiern und anderen Frühlingsdelikatessen über Land fliegt. Die Raben in der näheren Umgebung klingen aufgeregt, aber sie kommen den ganzen Tag lang nicht zum Fressen. Sie haben sicherlich keine Angst vor den Krähen. Und wenn sie Angst vor dem Köder haben sollten – die Krähen haben bewiesen, dass er sicher ist. Doch die Krähen locken sie nicht herbei. Würde es ein anderer Rabe tun? Um 10.00 Uhr stelle ich meinen ausgestopften Raben beim Köder auf. Kein Unterschied, soweit ich das beurteilen kann. Die Raben fliegen weiterhin vorbei, sitzen in der Nähe, doch sie kommen nicht näher an den Köder. Kommen sie heute morgen nicht, weil sie die Adulten
fürchten, die sie gestern verjagt haben, oder sind sie satt? Vielleicht sind die Adulten in der Nähe, und ich kann sie nur nicht sehen beziehungsweise erkennen. Um 13.00 Uhr beschließe ich, dass jetzt wohl nichts mehr passiert, und mache mich auf einen Spaziergang in den Wald. Ich folge frischen Spuren, hier lief ein Rabe durch den Neuschnee, der ein Stück Rinde aus einer abgestorbenen Esche gerissen hat. Zwanzig Minuten später habe ich das Nest lokalisiert. Es ist auch in einer Weymouthkiefer, auch neu, und knapp i 5 Meter von dem Baum mit dem Nest entfernt, aus dem ich letztes Jahr die Jungen für meine Käfigstudien holte. Ein Paar hatte sich hier des Exklusivrechts an einem von mir ausgelegten Köder erfreut, während andere Köder von vielen Raben überrannt wurden. Da der Vogel jetzt sein Nest ausstopft, erwarte ich, dass sie in drei bis vier Tagen mit dem Eierlegen beginnen wird. Dazu vier oder fünf Tage, um vier bis fünf Eier zu legen, 22 Tage, um sie auszubrüten, und die Jungen würden in etwa einem Monat ausschlüpfen, Mitte April. Am Boden wird noch hoher Schnee sein. Um 15.30 Uhr komme ich zur Hütte zurück, hundemüde von dem langen Treck auf Schneeschuhen. Doch ich bin glücklich und aufgeregt, ein weiteres Nest gefunden zu haben. Ich werde die Jungen im Mai markieren und versuchen, die veröffentlichten Berichte zu bestätigen, nach denen die an einem Ort aufgezogenen Jungen sich im Winter zerstreuen. Als ich zurückkomme, fängt es an zu schneien, und ich habe gerade noch Zeit, die Spuren bei dem ausgestopften Raben und dem Köder zu prüfen. Es war nicht viel geschehen. Ein Rabe ist im Schnee gelandet und nach zwei, drei Hopsern wieder
fortgeflogen. Heute sah ich hier viele Raben kreisen. So nah hatte ich sie so früh am Tag noch nie gesehen. Lungern sie herum, weil sie darauf warten, mit Fressen anfangen zu können? 15. MÄRZ. Der dritte Tag. Immer noch hocken etwa fünf Raben in Erwartung einer großen Tagesration herum und wagen sich noch immer nicht an den Köder heran, obwohl einige jetzt im Schnee der Lichtung landen. Der junge R 26 ist unter ihnen, anscheinend recht freundlich mit einem anderen (unmarkiert), der eine adulte, großspurige Haltung zur Schau trägt (also ein dominanter Vogel). Ist R 26 nicht derselbe Vogel, der vor einem Monat die Avancen von R o zurückwies? Ja! Ich höre aus dem nahen Wald etwas, das sich nach aggressiven Interaktionen anhört. Hält ein adultes Paar sie noch immer in Schach? Versuchen sie, Unterstützung zu rekrutieren? Sind sie deshalb gestern hier herumgekreist – ein Manöver, das ein Ziel aufzeigen sollte. Um andere zurück in das Gebiet zu bringen? 21. MÄRZ. Frühlingsanfang. An diesem Tag kommen die ersten Rotschulterstärlinge zurück nach Burlington, Vermont, und wenn man Glück hat, hört man den ersten Frühlingsvogel, die Wanderdrossel, singen. Am Tag ihrer Rückkehr singt sie auch, um die Grenzen ihres Territoriums festzulegen. Doch hier in meinem Forschungsgebiet in Maine liegt noch hoher Schnee, und es schneit wieder. Der große Fleischhaufen, der während der ganzen letzten Woche fast unberührt
blieb, ist von den Raben in den vergangenen Tagen völlig aufgeputzt worden. Das Feld vor der Hütte ist gänzlich von ihren Spuren zertrampelt, und als ich am späten Nachmittag kurz vor der Dämmerung den Weg heraufkomme, fliegen sechs Raben fort. Nur einer von ihnen hat eine Markierung, eine rote. Ich lege 40 Pfund frisches Fleisch aus. 22. MÄRZ. Bis zu zwanzig Raben sind den ganzen Morgen hier, doch nur einer ist markiert. Der vertraute alte R 26. Dieser Jungvogel und andere verstecken ununterbrochen das weiche, nicht gefrorene Fleisch. Sicher sind die meisten markierten Vögel fort, die Mehrheit in diesem Gebiet ist jetzt neu. Warum ist R 26 geblieben? Er ist eindeutig ein sehr dominanter Vogel unter den Jungen. Interessanterweise registriere ich heute Morgen, dass über eine Stunde vor und nach Beginn des Fressens die Vögel (darunter R 26) keinen einzigen Ruf und keinen Triller von sich geben. Sie schweigen, und keiner hat einen geplusterten Kopf. Liegt es daran, dass heute keine adulten Reviervögel hier sind? Gegen 7.00 Uhr sehe ich allerdings einen geplusterten Adulten unter ihnen, der auf die Vögel rechts und links von sich hackt. Jetzt sehe ich zum ersten Mal, wie die Vögel sich aufplustern, wenn der Adulte sich nähert. Es gibt keinen Zweifel mehr, dass die struppig eingezogenen Köpfe Unterwerfung und niedrigen Status bedeuten – vielleicht ein Ausdruck von Respekt in Gegenwart der dominanten Reviervögel? Ich habe inzwischen ein neues Band mit juvenilen Schreien mitgebracht, und nachdem ich den Köder zugedeckt habe und keine Raben in der Nähe sehe, spiele ich es sechsmal.
Innerhalb einer Minute kommen Vögel und kreisen um die Hütte, sie sind offensichtlich sehr interessiert. Die Zahl der Vögel, die (gewöhnlich innerhalb von 10 Sekunden) während der sechs aufeinander folgenden Versuche kommen, beträgt 4, 2, 2, 1, 1, 0. Es scheint, als ob sie schnell auf Falschmeldungen reagierten. Bei den letzten drei Versuchen decke ich das Fleisch auf, aber die Vögel landen noch nicht, sie sind an der Gesellschaft interessiert, mit der sie fressen. Sie wissen schon von dem Köder. Die Ergebnisse von heute bestätigen noch einmal, was ich schon festgestellt hatte: Dass die Schreie rekrutieren und dass die Adulten dominieren. Doch es ist immer wieder aufregend, es unter etwas veränderten Bedingungen zu sehen. 1. APRIL. Letzte Nacht hörte ich den ersten einsamen Frosch unten im Teich. In ein oder zwei Wochen wird ihr Chor ohrenbetäubend sein. Hier in Vermont blühen die Krokusse. Die Krähen bauen ihre Nester, und die ersten Rotahorne fangen an zu blühen. In den Tälern ist der meiste Schnee geschmolzen. Kanadagänse ziehen nach Norden. Und in Maine brüten die Raben seit einer oder zwei Wochen ihre Eier aus. In Maine folgten Überschwemmungen auf wilde Schneestürme. Der auf die Stürme folgende warme Sturzregen ließ den Schnee schnell schmelzen. Die Flüsse traten über die Ufer, rissen Brücken weg und überfluteten die Straßen. 17. APRIL. 6.30 Uhr. Ein Rabe mit hoch aufgerichteten Federohren quorkt schon tief
und rauh von der Spitze eines Rotahorns. Der Kadaver wurde entdeckt. Ein anderer Rabe, den ich an seinem ausgefransten Schwanz erkennen kann, fliegt vorbei und landet schweigend im Wald. Der erste Vogel fliegt hoch , und bald höre ich viele Verteidigungsschreie. Fransenschwanz duckt sich zu einer Beschwichtigungsgeste und vibriert mit dem ausgebreiteten Schwanz in der weiblichen Kopulationsstellung (die beide Geschlechter benutzen). Der Rabe mit den hochgestellten Federohren kennt keine Gnade, er nähert sich Fransenschwanz wieder, der weitere Beschwichtigungsschreie von sich gibt und wegfliegt, nur um auf der anderen Seite des Hügels weiter gejagt zu werden. (Dieselbe duckende Kopulationsstellung mit vibrierendem Schwanz begegnete mir bei meinem zahmen dominanten Männchen, nachdem ich ein paar Tage fort gewesen war. Es gab sie auch bei dem rangtiefen Weibchen dem Männchen gegenüber, nachdem es mehrfach versucht hatte, das Weibchen von dem guten Futter, das sie fressen wollte, zu verjagen.) Um 7.00 Uhr kommt schweigend ein Rabe, landet schnell zum Fressen und reißt mit wölfischer Gier einige Fleischfetzen ab, die er zum Verstecken fortbringt. Er kommt schnell zurück, reißt mehr Fleisch ab. Er macht tiefe, territoriale Quorks, während er noch am Fleisch ist, als zwei andere Raben kommen und vorbeifliegen. Sie landen in einem nahen Baum, der Rufer, der »Besitzer« des Fleisches, fliegt zu ihnen hoch. Einer der Neuankömmlinge fliegt fort . Der andere bleibt und absolviert die Beschwichtigungsrituale des Dukkens und Schwanzvibrierens. Es nützt nichts. Der Aggressor richtet seine »Ohren« auf, senkt die Flankenfedern (Hosen), steht groß
aufgerichtet, plustert das Kehlgefieder und rückt wieder vor. Der Beschwichtiger fliegt ein kurzes Stück weiter, nachdem er einen Protestruf von sich gegeben hat. Dieses Spiel wird achtmal wiederholt, bevor der Beschwichtiger die Stätte verlässt. Kurz danach kommt ein Rotschwanzbussard. Aus dem Wald flattern vier Raben hoch. Wo hatten sie sich versteckt? Bis jetzt wusste ich nicht, dass sie dort waren. Zwanzig Minuten später fliegt ein einzelner Rabe kurz vorbei und macht lange, anund abschwellende territoriale Quorks. Um 11.20 Uhr, lange nachdem er fort ist, kommt Fransenschwanz wieder, allein. Kein anderer Rabe ist in der Nähe, und jetzt frisst er. Danach gehe ich auch, diesmal sehr zufrieden.
Am Nest Ein Freund, der von meinem Interesse an Raben wusste, erzählte mir, dass er vor einigen Jahren im Frühjahr Raben in einem abgelegenen Granitsteinbruch bei Adamant, Vermont, gehört und auf dem Grund des Steinbruchs einen Haufen alter Zweige gesehen habe, wahrscheinlich die Überreste eines heruntergefallenen Rabenhorstes. Adamant liegt weniger als eine Autostunde von meiner Wohnung entfernt, und so fuhr ich im frühen April hin, um nachzuforschen. Wohl seit mehr als einem Jahrhundert wird hier kein Granit mehr gewonnen. Es ist jetzt eine scheinbar natürliche Felswand mitten im Wald, und unten ein großer Steinhaufen mit einem wassergefüllten Loch. Von der Felswand hat man einen weiten Blick über eine schöne Sumpfwiese mit einem riesigen Biberbau in der Mitte. Weiter hinten am Rand des Schilfs liegt ein bukolischer Bauernhof vor bewaldeten Hügeln. Kaum war ich im Wald in der Nähe der Felswand, als ich das oft wiederholte schnelle »rrack, rrack, rrack« eines der Raben höre, der mit schnellen flachen Flügelschlägen und geplustertem Kopfgefieder durch den Wald fliegt. Dies ist das Verhalten, das leichte Aufregung zeigt, wenn jemand in die Nähe eines Nestes kommt. Es ist für mich immer spannend, ein Rabennest zu finden. Die Vögel haben eine enge Bindung an ihre Nester, und wenn man eines gefunden hat, besteht auch eine Möglichkeit, den Vögeln näher zu kommen. Dieser Horst war, wie alle Rabennester an Felsen, unter einem Überhang versteckt. Es war außerdem etwa sechs Meter über
schroffem Felsgestein. Was es so außergewöhnlich machte, war, dass ich hineinsehen konnte, ohne über die vorspringende Kante oben an der einen Seite der Felswand hochzuklettern. Es waren fünf Eier im Nest. Ich machte mich sofort daran, umgefallene Baumstämme und frische Fichtenzweige im Wald zu sammeln und einen Unterstand oben auf der Felswand zu bauen. Als ich fertig war, hatte ich einen phantastischen Blick auf das Nest aus weniger als zehn Metern Entfernung. (1ch sollte später herausfinden, dass es nah genug war, um einen Raben total mit einem 400mm-Objektiv zu sehen. Doch das natürliche Amphitheater des Felsens und der große Überhang über dem Nest nahmen so viel Licht weg, dass ich keine guten Fotos machen konnte.) Ich ging fort, damit die Vögel sich an den Unterstand gewöhnen konnten, der für sie nur ein neuer Haufen von Zweigen war; doch ich war begierig, zurückzukehren. 18. APRIL. Der Wald, prunkend mit den ersten Frühlingsblumen, ist direkt hinter meinem Rücken. Der Froschtümpel liegt direkt gegenüber. Ich bin in einem Unterstand, der aus totem Holz und Tannenzweigen zusammengeschustert ist, und beobachte den Rabenhorst auf dem Felsen, der auf das Moor blickt. Der Frühling ist hier noch nicht richtig angekommen, doch die Frösche haben ihr Laichen schon fast erledigt. Einige quaken immer noch wie wildgewordene Enten direkt unter mir. Vor zwei Tagen hatten wir einen großen Schneesturm. Ich hoffe, dass es der letzte in dieser Saison sein wird. Das Eis ist auf den meisten, aber noch nicht allen Teichen
und Seen geschmolzen, also ist der Frühling nah. Die Frösche können sich nicht irren. Während ich den Laubwald auf den Hügeln auf der anderen Seite des Bibertümpels betrachte, sehe ich einen schwachen roten Schimmer. Die Knospen des Rotahorns schwellen, und ihre Farbe kontrastiert mit dem Mausgrau der Äste und Zweige. Heute scheint die Sonne durch die Zweige, sie schmilzt den kürzlich gefallenen Schnee, unter dem das braune Laub auf dem Waldboden zum Vorschein kommt, das sich jetzt mit den leuchtendweißen Blüten und safrangelben Staubfäden der Blutwurz schmückt. Die rosa Claytonien sind auch aufgeblüht. Und es gibt einzelne Kissen mit zarten Leberblümchen, weiß, rosa oder hellblau. Vier junge Raben sind im Nest, in der Altersfolge von etwa fünf bis acht Tagen. (Ein Ei entwickelt sich in der Regel nicht.) Bei dem ältesten beginnen gerade die Spitzen der Schwungfedern aus den Follikeln zu sprießen. Alle haben sie noch weißgerandete Schnäbel und nackte rosa Haut, die den »Vier-Uhr-Schatten« dunkler Stoppeln zeigt, die bald als winzige Federkiele sprießen werden. Die Augen sind meist geschlossen, doch sie zappeln viel herum, als ob sie nicht sehr gut schlafen würden. Einer der Winzlinge hat seinen hellrosa Rachen fast immer offen und seine Augen geschlossen. Die Köpfe schlenkern umeinander und stoßen gegen den Rand des Nestes, einer streckt gelegentlich seinen Hals hoch und schnappt, als ob er Atzung erwarte. Vielleicht träumt er. Wenn sie nicht umherkrabbeln, kauern sie zusammen, die Hälse übereinander geschlungen, dabei hebt und senkt sich das Häufchen in einem Atem. Wie andere Rabenhorste, die ich in Neuengland gesehen habe, ist dieser auf einer
Basis von Pappelzweigen gebaut, die frisch von den Bäumen gebrochen wurden. Man kann das frische gelbliche Holz am Ende der Zweige erkennen, einige von ihnen sind fast zwei Zentimeter dick. Um solche Zweige zu brechen, muss ein Vogel schon groß sein. Die tiefe Nestmulde ist mit Rindenstreifen und Fellstücken von Wild ausgepolstert. Als ich vor wenig mehr als zwei Wochen in dieses Nest schaute, sah ich fünf grünliche Eier, unterschiedlich schwarz und weiß gesprenkelt. Wie viele Felsenhorste wird dieser durch einen Felsüberhang vor den Elementen, wie neulich etwa der Schneesturm, geschützt. Jetzt höre ich das Rauschen schwerer Flügelschläge eines großen Vogels — eine Sekunde später landet ein Rabe direkt auf dem Nestrand. Die Jungen reagieren kaum. Das überrascht mich. Ich hatte erwartet, dass sie wie ein Kistenteufelchen hochschnellen und heftig betteln. Das Gefieder des Adulten schimmert in dunklem metallischem Blau, sehr glatt und glänzend, wie ein riesiger Tautropfen in der Sonne. Das ist durchaus nicht das verbreitete Bild eines struppigen schwarzen Raben. Er neigt seinen Kopf zur Seite und wirft einen kurzen prüfenden Blick auf die Jungen. Dann pickt er vorsichtig Stück für Stück des weißen Kots auf, den die Jungen am Rand des Nestes hinterlassen haben. Jedes Stück wird geschluckt. Jetzt macht der Adulte etwas Seltsames. An der einen Seite der Felswand läuft Wasser herab und in das Nest, dessen Mulde nass wird. Der Vogel pickt etwa 20 Minuten lang in dem Nest herum, als ob er das Wasser abfließen lassen wolle. Dann steht er still und hoch über den Jungen, die von unten an seinem Brustgefieder picken. Auch jetzt betteln
sie nicht. Der Rabe plustert sein Brustgefieder und lässt sich sanft nieder, um die Jungen zu hudern. Eine halbe Stunde später erhebt er sich plötzlich, schwingt sich aus dem Nest und gleitet mit langsamen Flügelschlägen über das Moor. In weniger als einer halben Stunde ist dieser Rabe oder sein Gefährte wieder zurück. Seine Kehle ist verdickt. Wie zuvor landet er auf dem Nest, und wieder kommt keine Reaktion von den Jungen, zumindest nicht, bis dieses Elternteil einen kurzen grunzenden Laut von sich gibt. Sofort brechen die vier in heisere Schreie aus, während ihre Hälse hochschießen, vier hellrote offene Mäuler schwanken auf langen dürren Hälsen hin und her wie roter Mohn im Wind. Der Rabe steckt seinen Schnabel in ein oder zwei der klaffenden Schlünde, würgt Atzung heraus, verlässt im Bruchteil von Sekunden das Nest und fliegt in die Ferne. 6. MAI. Ich bin wieder in meiner Pygmäenhütte aus immergrünen Zweigen an der Felswand über dem Rabennest. Die vier Jungen sind jetzt schon mit mattschwarzen Federchen bedeckt. Zwei von ihnen blicken mit hellblauen Augen munter über den Rand des Nestes. (Die Adulten haben dunkelbraune Augen.) Die zwei anderen haben ihre Augen geschlossen. Alle sind schön in die Nestmulde eingekuschelt. Ab und zu zappeln und rempeln sie gegeneinander, doch sie bleiben still. Unten am Rand der Felswand ragen die Steinbrocken aus den Eis- und Schneeresten, mit leuchtendgrünem Moos bedeckt. Winzige braune Zaunkönige und Pieperwaldsänger zwitschern ihre lauten, flüssigen und dabei sehr unterschiedlichen Gesänge, die von den Wänden widerhallen.
Draußen im Moor quakt der Zirpfrosch, zwischen seinem ständigen Getöse höre ich das laut hallende, hämmernde »ker-thunk« einer Rohrdommel. Für ständige Hintergrundmusik sorgen die unentwegt jodelnden und schnatternden Rotschulterstärlinge, die trillernden Sumpfspatzen und die Melodien der WeißkehlAmmerfinken und Singammern. Kein Rabe ist zu sehen, meine Ohren hören sich mehr und mehr in die Umgebung ein. Im nahen Wald vernehme ich die verschiedenen Tonhöhen und Frequenzen der trommelnden Haarspechte und Dunenspechte. Ich höre Chikadeemeisen mit ihren klagenden Zwei-Ton-Balzrufen, das Näseln des Kappenkleibers und die hohen, schrillen, wiederholten »tsiets« der Baumläufer-Waldsänger. Es gibt den müßigen Refrain eines Blaukopfvireo und die schnelle und laute Kaskade eines singenden Töpfervogels, das Gurren einer Trauertaube, das aufgeregte Stakkato eines Goldspechts, den Gesang einer Wanderdrossel und das Krächzen einer Krähe. Insgesamt entdecke ich 21 verschiedene Vogelstimmen in nur zehn Minuten. In zwei Wochen wird die Zahl sich vermutlich verdoppeln. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Vogelstimmen unterscheiden. Das ist zweifellos kein evolutionärer Zufall. Je mehr sich eine Art von der anderen unterscheidet, umso leichter ist es, sie aus dieser Kakophonie herauszufinden. Und das gilt zweifellos für die, denen diese Töne gelten, wie für mich, den müßigen Zuhörer. Jeder Gesang ist ein Signal. Als solches muss es einzigartig sein. Die jungen Raben scheinen jetzt unruhig zu sein. Einer steckt sein Hinterteil hoch und über den Rand des Nestes hinaus, wedelt mit dem Schwanzstumpf und entleert
seine weiße Flüssigkeit. Unglücklicherweise haben nicht alle Jungen den Vorteil eines schnell verfügbaren Nestrandes. Der überhängende Felsen verhindert es. Einer gähnt und zeigt seinen hellrosa Rachen, ein anderer reckt sich und würgt ein helles Gewölle heraus, das unten in die Nestmulde rollt. Ein Trauermantel fliegt vorbei, landet auf dem Felsen direkt unter dem Nest, leckt von der sicher an Mineralien reichen Flüssigkeit. Er fliegt hinauf zum Nest, wo einer der Jungen nach ihm schnappt, ihn aber nicht erwischt. Eine Hummelkönigin dröhnt dumpf um meinen Unterstand auf der Suche nach einem Mäusenest, in dem sie ihre Kolonie gründen kann. Schließlich kommt eines der Rabeneltern zurück und landet auf dem Felsvorsprung direkt unter dem Nest. Von dort hüpft es zum Nestrand hinauf. Die Jungen sperren und betteln mit ihren flehenden rauhen Stimmen und werden schnell geatzt. Das stimmliche Signal der Eltern zum Sperren wird nicht mehr gebraucht oder nicht mehr gegeben. Nach ein oder zwei Sekunden ist alles wieder ruhig. Die Jungen lassen sich zurückfallen wie ein Haufen schlaffer Lumpen und strecken ihre Hälse über den Nestrand. Die Adulte (es ist das Weibchen, wie ich bald feststellen werde) bleibt. Sie beugt sich nieder und knabbert mit ihrem großen dicken Schnabel sanft zwischen den Federn auf dem Kopf eines der Jungen. Sie fährt damit fort bis zum Schnabelansatz des Nestlings, dann putzt sie zärtlich die winzigen Federn um das Auge. Der kleine Rabe scheint diese Behandlung angenehm zu finden, denn er hört mit der Zappelei auf, schließt die Augen und gibt leise sanfte Töne des Behagens von sich. Nach zehn Minuten greift sie über ihn
und beginnt mit dem nächsten, putzt dann die beiden anderen ebenso methodisch. Alles zusammengerechnet arbeitet sie etwa eine halbe Stunde an ihnen, dann höre ich Flügelschläge . Sie hört abrupt auf und verlässt das Nest . Ihr Gefährte ist zurückgekommen. Er fliegt direkt auf das Nest, und alle sperren und betteln. In zwei Sekunden hat er seinen dick geschwollenen Kehlsack entladen. Jetzt beginnt er, eines der Jungen zu putzen, doch er scheint nicht mit dem Herzen dabei zu sein, er hört nach etwa zehn Sekunden auf und blickt sie mit seitwärts geneigtem Kopf an. Sein wacher Blick schweift von einem zum anderen. Ich nehme an, dass dies das Männchen ist, weil es der größere Vogel ist, mit einem längeren, dickeren Schnabel. Die weichen seidigen Federn seitlich am Kopf sehen aus, als ob sie zurückgekämmt wären, und sie bilden einen Kamm auf dem Hinterkopf, wo sie zusammenkommen. Auch seine Haltung ist anders (zumindest bei dieser Gelegenheit). Das Weibchen hat die Flügel immer anliegen, was sie schlank und schmuck aussehen lässt. Doch er lässt seine Flügel leicht hängen und breitet sie an den Schultern auseinander. Er wirft seinen Jungen noch einen Blick zu, stößt sich vom Nest ab, fliegt in leichtem Schwung schnell abwärts und landet auf einer nahen Pappel. Das Weibchen kehrt jetzt zum Nest zurück und beginnt gleich wieder mit dem Putzen. Dieses Mal arbeitet sie ohne Unterbrechung 28 Minuten lang. Ihre Federn sehen stahlblau wie ein Flintenlauf aus. Jede Feder ist klar konturiert, im Gegensatz zu denen der Jungen, die grau, wirr und durcheinander sind. Inzwischen kommt das Männchen von der Pappel zurück und hockt auf einem sonnigen Felsvorsprung nah beim Nest. Ein Bild ganz in
Schwarz und Weiß, wenn das Sonnenlicht sich in seinen glatten Federn spiegelt. Er beginnt bald, in den vielfältigsten Tönen zu rufen, und seine Gefährtin verlässt das Nest, um sich dicht neben ihn zu setzen. Zusammen machen beide weiche, zarte, quäkende und murmelnde Laute, während einer die Augen schließt, seinen Kopf senkt und seinen voll geplusterten Nacken dem anderen hinhält, um geputzt zu werden. Jetzt reicht einer langsam herüber und schnappt nach dem Schnabel des anderen, und so stehen sie, Seite an Seite, und halten sich schweigend die Schnäbel, jeweils mehrere Minuten. Nachdem eine halbe Stunde lang Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden (es ist für mich schwer, nicht zu vermenschlichen), macht das Weibchen ein paar schnelle, kurze Quorks und fliegt jetzt zum dritten Mal zu den Jungen zurück. Sie putzt alle noch einmal, diesmal 32 Minuten lang. Inzwischen verlässt das Männchen seinen Platz auf dem Vorsprung, kreist über der Felswand und macht mehrere Serien kurzer, schneller Rufe, fliegt dann nach Südwesten, derselben Richtung, in der sie ständig zum Futtersuchen unterwegs sind. Aus dieser Richtung ruft kurz eine Krähe, sie signalisiert, dass der Rabe vorbeigeflogen ist. Das Weibchen scheint den Ruf ihres Gefährten zu ignorieren und fährt mit dem Putzen der Jungen fort. Oben segelt ein Breitschwingenbussard und ruft, doch sie schenkt ihm offensichtlich keine Beachtung. 7. MAI. Der Laubwald zeigt jetzt rote und grüne Tupfer vor grauem und braunen Hintergrund. Der Rotahorn blüht, und aus den Knospen der Pappeln platzen erbsengrüne
Blätter. Hier bei der Hütte in Maine inspizieren Baumschwalben eine meiner Volieren. Die frühen Grasmücken (Baumläufer- und Nashvillewaldsänger) zwitschern kräftig. Einen einzelnen Gesangston höre ich von schwarzkehligen grünen Baumwaldsängern. Der Weißkehl-Ammerfink singt am Morgen und sogar noch, wenn es dunkel geworden ist. Ich höre einen Purpurfinken. Ein Abendkernbeißer-Paar hält kurz auf der Birke neben der Hütte. In der Ferne höre ich gelegentlich Blauhäher, Kuhstärlinge, Goldhähnchen und Spechte. Am Abend balzen Waldschnepfen auf dem kahlen Feld vor der Hütte, die ersten Einsiedlerdrosseln singen in weiter entfernten Wäldern. Große schwarzblaue Schmarotzerfliegen jagen sich, nachdem sie auf den Balken der Hütte gesessen haben. Die lästigen Mücken sind noch nicht da. Ich erwarte sie in weniger als einer Woche. Man kann nicht umhin, beeindruckt zu sein von der plötzlichen Aktivität all dieser Vögel, die so lange fort waren. Ich staune über das Wunder ihrer Rückkehr. Doch mein Hauptziel an diesem Wochenende in Maine sind die Raben. Wenn die Jungen im Nest von Adamant, Vermont, ein Hinweis sind, dann ist es Zeit, die Jungen in den drei Nestern hier im Revier in der Nähe meines Studienplatzes in Maine zu markieren. Je mehr lokale Vögel ich identifiziere, desto größer wird im nächsten Winter mein Lernpensum sein. Das Nest oben in der Kiefer bei der Grahams Farm ist das erste in meinem Kalender. Dort fand ich letztes Jahr den einzelnen Jungvogel, der die ungewöhnlich harten späten Schneestürme überlebt hatte. Er wurde markiert (Y 1) und von mehreren Beobachtern während des folgenden Sommers in diesem Gebiet gesehen. Dieses Jahr ist das Nest 6o Meter von seinem Vorjahresplatz entfernt, doch nur etwa 15 Meter von dort, wo es
sich vor zwei Jahren befand. (Das Nest bei Hills Pond dagegen, das im Herbst fortgeweht worden war, wurde im Frühling an genau derselben Stelle im selben Baum wiederaufgebaut. Ein Jahr später war es 400 Meter entfernt, auf der anderen Seite des Teichs.) Dieses Jahr liegt das Nest wieder mindestens 30 Meter hoch, dicht unter der Spitze einer Weymouthkiefer, die die anderen überragt. Die Äste beginnen erst nach etwa 20 Metern, und es ist kein Vergnügen, auf dieses Monstrum zu steigen, weil ich Steigeisen über meinen Schuhen brauche. Ich fühle mich nicht gerade wohl, als ich versuche, meinen Fuß in der rissigen Rinde zu verankern, und sie werden mein Gewicht nur halten, wenn der Winkel richtig ist. Ich tendiere dazu, den Stamm zu umarmen, doch das lässt die Steigeisen rutschen und meine Füße baumeln, besonders wenn ich höher komme und müder werde. Einer von dem Paar machte tiefe territoriale Quorks, noch bevor ich mit Klettern beginne, und sofort höre ich seinen Gefährten mit denselben Rufen antworten. Wie im letzten Jahr verlässt der zweite Vogel schnell die Szene, während der erste noch wilder und entschlossener wird, als ich höher steige. Er macht jetzt schrille Stakkato-Rufe, landet, wie im Vorjahr, auf den Zweigen rundum und kommt mir auf fast fünf Meter nah, als ich mich dem Nest nähere. Er lässt seinen Zorn aus, indem er auf Äste einschlägt und Zweige abbricht. Ich blicke den fallenden Zweigen nach, die Spitze der Kiefer schwankt im Wind, und der Boden sieht sehr weit entfernt aus. Ich bin angespannt und zittere vor Anstrengung und Furcht. Doch ich habe es bis oben geschafft. Als ich mich unterhalb der massiven Plattform aus Zweigen um den Stamm
herumhangele, bricht der Adulte, der geblieben ist, zornig schreiend in einen Wutanfall aus. Nun fallen auch die Jungen im Nest in die Schreie ein. Sie machen lange, rauhe, jaulende Rufe wie eine Meute knurrender Hunde. Als ich schließlich über den Rand des Nestes blicken kann, stehen alle vier fast ausgewachsenen Jungen auf, scharen sich in der hintersten Ecke zusammen und erheben ihre Stimmen zu einem neuen Crescendo. Ich ziehe jetzt an dem Seil, das an meinem Gürtel befestigt ist, und hole den Werkzeugsack vom Boden hoch. Dann greife ich einen der heftig um sich schlagenden Nestlinge nach dem anderen und stecke jeden in einen schwarzen Beutel. Überraschenderweise picken sie nicht nach mir und sind vorübergehend still, während ich sie an der Leine zum Boden herablasse. Nachdem ich wieder heruntergeklettert bin, merke ich, dass die Anstrengung größer war als erwartet. Zehn Minuten lang sind meine Hände so schwach, dass ich kaum einen Bleistift halten kann. Doch während ich auf dem Baum war und sie dringend brauchte, ließen sie mich nicht im Stich. Mit der Mannschaft der Helfer – Alice, Denise und Jesse –, die gekommen waren, um die Kletterpartie mit anzusehen, gelingt es uns dann, die gelben Flügelmarkierungen anzubringen. Es ist ein heftiger Kampf. Diese Vögel sind nicht kooperativ. Jede Bewegung, die einer von uns macht, ist für sie eine Bedrohung. Sie sind dem Feind begegnet, und es ist der Mensch. Ein Elternteil hat es ihnen vermittelt, und bis jetzt bestätigt es ihre Erfahrung. Ich war physisch außerstande, noch einmal hochzuklettern und die Jungen
zurückzubringen. Stattdessen baute ich ein nachgemachtes Rabennest in einem nahen Baum, auf den ich noch klettern konnte, und legte die Jungen dort hinein. Ich wusste, dass die Eltern für ihre bald flüggen Jungen sorgen würden, egal wo sie waren. Und tatsächlich – als wir fortgingen, kam einer der Adulten schon angeflogen, um sie zu füttern. Beim zweiten Nest war alles anders. Ich fand es erst vor zwei Wochen, etwa eine Meile entfernt, dort, wo ich früher verschiedentlich Raben gesehen hatte. Wenn man einmal weiß, wo ein Rabenpaar lebt, kann man auch sein Nest finden. Ich bezweifle, dass die Nester anderer Vögel leichter zu finden sind, wenn man einmal angefangen hat, wie ein Rabe zu denken. Dieses Nest war auch in einer großen Weymouthkiefer, doch sie hatte Äste, wofür ich ungeheuer dankbar war. Wie bei dem ersten Nest waren beide Eltern fort, als wir ankamen. Doch ich war kaum auf der Baumspitze, als ein Rabe mit übervollem Kehlsack mit Atzung für die Jungen vorbeiflog. Er rief ein paar Mal, und sein Gefährte kam fast sofort. Sie machten ihre territorialen Quorks, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sehr aufgeregt waren. Beide Vögel blieben in einiger Entfernung von uns und vom Nest. Werden die Jungen auch weniger aufgeregt sein? Als ich bis fast zum Nest geklettert bin, spreche ich ganz sanft mit den Jungen wie zu einem Baby, eine Vorsichtsmaßnahme, um sie zu beruhigen, bevor ich überhaupt in das Nest schaue. Als ich jetzt zum ersten Mal über den Rand des Nestes blicke, ducken sich die Jungen (etwa gleich alt wie in dem vorigen Nest). Sie sind ein bisschen ängstlich, aber es gibt
keine Panik. Keines springt hoch und jault. Ich rede weiter zu ihnen und nehme nach und nach alle vier heraus und stecke sie in Beutel. Sie kämpfen nicht. Die Eltern rufen weiter, doch nur aus der Ferne. Ich höre keinen der rauhen zornigen Rufe wie von dem vorigen Paar. Nachdem ich die Brut zum Boden herabgelassen habe und selbst langsam heruntergestiegen bin, nehmen wir den ersten Nestling aus dem Beutel. Er macht einen leisen, klagenden Ton. Ist es eine zögernde Bitte nach Atzung? Unglaublich, das Junge plustert und schüttelt sich und fängt dann sorglos an, sich zu putzen! Es gibt nichts Einnehmenderes als eine geplusterte junge Krähe oder einen Raben, die sich wohl fühlen und freundlich sind. Wir unterbrechen nur zögernd die Toilette, um Beinring und Flügelmarkierung anzubringen. Wir sind kaum damit fertig und setzen den Vogel ab – da macht er weiter wie vorher, als ob nichts passiert wäre. So geht es bis zum vierten, und dann sitzen vier voll gefiederte junge Raben zwischen uns vier Menschen, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre. Jeder verliebt sich auf der Stelle in diese so vertrauensvollen Vögel, und wir wundern uns über den Unterschied zum vorigen Fang, bei dem wir wirklich froh waren, als es vorbei war. Ich beende nur ungern unsere kleine Party, aber ich muss. Ich stecke alle wieder in den Beutel, klettere hoch und setze sie in ihr Nest zurück. Sie richten sich häuslich ein und machen mit dem Putzen weiter; als wir nur wenige Meter entfernt sind, haben sich die Eltern schon wieder beim Nest eingefunden. Der dritte Horst ist auf einem Felsen, nicht weit von dem nahen Dixfield, und ich bin froh, überhaupt dorthin zu kommen.
Ein Jahr zuvor hatte ich mich diesem Nest genähert, indem ich einen dünnen Baum gegen den Fels gelehnt hatte und hochgerutscht war. Diesmal habe ich genügend Hilfskräfte, um eine Leiter durch den Wald und den Berg hinauf zu tragen. Beide Eltern schlagen Alarm, als wir uns nähern. Wie gewöhnlich hören wir zuerst die tiefen territorialen Quorks, die dann ersetzt werden durch höhere, aufgeregte wiederholte Rufe, verbunden mit raschen Schwingenschlägen und gesträubten Köpfen, als wir kurz davor sind. Alles in allem lag die Stärke der elterlichen Reaktion etwa in der Mitte zwischen der bei den beiden vorigen Nestern. Ich spreche wieder sanft mit den Jungen und bin ganz vorsichtig, aber sie haben weiter Angst und stecken ihre Köpfe tief zwischen die Schultern. Wir arbeiten am Grund des Felsens, so daß die Eltern uns und die Jungen sehen können. Die Rufe der Eltern verstummen nach und nach, doch während wir ruhig weiterarbeiten, bleiben die Jungen geduckt auf dem Boden um uns sitzen. Wir hören jetzt die »thunk«-Rufe, von denen ich früher angenommen hatte, sie wären ein Okay-Signal, das mitteilte, dass alles in Ordnung sei. Beruhigt der eine Vogel den anderen? Wir hören sogar noch mehr »thunk«-Rufe, als wir fortgehen, und ich erinnere mich jetzt, diesen Ruf gehört zu haben, als wir andere Nester verließen. 15. MAI. Dies verspricht ein schöner sonniger Tag zu werden, und so bin ich noch einmal gekommen, um den Felsenhorst bei Adamant, Vermont, zu beobachten. Um 8.00 Uhr verhüllt der Nebel noch große Teile des Moors, aber er löst sich schnell auf. Die
Zuckerahorne gegenüber haben ihr Grau in Gelb verwandelt und sich mit Quasten geschmückt. Im Ried schnattern ein oder zwei Sumpfschnepfen auf den Grasbüscheln, eine andere schwingt sich in die Luft. Die Rohrdommel hämmert geräuschvoll vor sich hin, und die Rotschulterstärlinge sind weiter bei ihrem Jodel- und Schnatterkonzert. Auch alle anderen Vögel, die ich letztes Mal hörte, singen. Der Zaunkönig ist wieder dicht beim Felsen, und seine Stimme hallt wie die eines Opernsängers von den Wänden zurück. Über mir ertönt jetzt eine neue Stimme – das melodiöse, langsame Pfeifen eines Rosenbrustknackers. Es ist ein herrlicher Gesang. Ein Chikadeemeisenpaar in der Nähe macht sanfte schluchzende Geräusche, das Paar macht sich bereit, sein Nest zu bauen. In der Ferne höre ich eine Blauhäherversammlung. Dies ist die Jahreszeit, in der sich diese sonst einzelgängerischen Vögel manchmal versammeln, wahrscheinlich zum Sozialisieren und um einen Partner zu finden, wenn man noch keinen hat. Ich habe schon bis zu dreißig zusammen gesehen, doch niemals beim Fressen im Winter. Sie können sich also versammeln, tun es jedoch nicht angesichts einer guten Futterquelle. Die jungen Raben sind jetzt fast noch stärker unter dem einwärts geneigten Überhang eingeklemmt. Trotzdem, ein Junges hat die Nestmulde verlassen und hockt auf dem Rand. Es ist ständig aktiv, steht hoch aufgerichtet und streckt den rechten Flügel nach unten, zieht ihn wieder ein, streckt dann den anderen. Dann duckt es sich und streckt beide Flügel, indem es sie hebt. Es putzt seinen Schwanz, dann erst einen Flügel, dann den anderen. Jetzt pickt es an den Zweigen des Nestes, dann auf den Schnabel seines Nestgefährten.
Die drei anderen sind im Vergleich dazu direkt apathisch. Doch einer von ihnen erwacht für etwa eine halbe Stunde und scheint verzweifelt (und erfolglos) zu versuchen, über die Rücken der anderen zu klettern, um zum Rand des Nestes zu kommen. Ist mit dem Nest etwas nicht in Ordnung? Das Rabenpaar kommt um 9.42 Uhr zurück, in zwei Minuten haben sie drei Nestbesuche gemacht. Als sie zum Nest fliegen, rufen die Jungen rauh und klagend, während sie ihre Schnäbel öffnen; die Eltern lassen eine weiße Masse aus ihren Kehlsäcken hineinfallen und fliegen schnell wieder fort. Die ganze Transaktion dauert etwa eine Sekunde. Heute werden die Jungen nicht geputzt. Dabei brauchen sie es diesmal wirklich! Ihr Gefieder ist stark verschmutzt. Der Nebel löst sich auf. Die Sumpfschnepfen schweigen. Gelegentlich quakt ein einsamer Zirpfrosch, dem sich dann schnell der Chor der anderen anschließt. Es gibt auch noch andere Frösche. So hört man ab und zu einen grünen Frosch quaken, den dann seine Artgenossen begleiten. Das Rabenpaar ruht sich in der Nachbarschaft des Nestes aus; einer macht um 10.11 Uhr mehrere Serien von vier aufeinander folgenden, schnellen hohen Rufen. Der zweite Vogel fliegt zu dem Rufenden herüber. Beide machen leise Grunzgeräusche und fliegen dann fort. Zweiundzwanzig Minuten später sind sie zurück, doch diesmal atzt nur einer die Jungen im Nest. Dieser Vogel gibt den Jungen, was er mitgebracht hat, pickt dann ein Stück Kot aus dem Nest, frisst es jedoch nicht wie sonst, sondern steckt es in den offenen
Schnabel eines der Jungen, der es, ohne zu zögern, hinunterschluckt. (Wenn die Jungen größer werden und beträchtlich größere Mengen Futter verbrauchen, fressen die Adulten den Kot nicht mehr und entfernen ihn auch nicht mehr.) Eine weitere halbe Stunde vergeht im Nu, so gut werde ich von dem vielstimmigen Vogelkonzert und von dem Herumgekasper der Jungen unterhalten. Der auf der Nestkante putzt sich noch immer. Ein Adulter nähert sich, ich höre die Flügelschläge, als er in der Nähe landet. Die beiden Winzlinge im Nest wachen auf und rufen bettelnd. Der Adulte fliegt zum Nest, atzt sie und fliegt schnell wieder fort, um auf der nahen Pappel zu landen. Dort macht er mehrere Serien von Quorks. Die Quorks einer jeden Serie sind identisch. Doch die Rufe sind ganz unterschiedlich. Ich unterscheide zumindest fünf. Einige sind anders als die, die ich bei anderen Nestern gehört habe, andere klingen ähnlich. Der Vogel fliegt herab, um die Jungen zu atzen, innerhalb einer Minute folgen zwei weitere Fütterungen. Da ich kein Futter in Schnabel oder Kehle sehe, schließe ich, dass er jedes Mal würgt, wenn er fortfliegt, und dann zurückkommt, um den Kloß, der hochgekommen ist, abzuladen. Nach vier Fütterungen sind die Nestlinge ruhig, die Eltern setzen sich nebeneinander auf den obersten Ast ihrer Lieblingspappel neben der Felswand. Sie schmusen und machen zarte Grunz- und Quietschgeräusche. Nach etwa fünf Minuten macht einer der beiden eine Serie von weichen nasalen Quorks und fliegt abrupt fort. Der andere bleibt und putzt sich. Er putzt sich über eine halbe Stunde lang. Dann blickt er prüfend mehrere Minuten
lang in alle Richtungen, bis sein Kopf endlich zur Ruhe kommt. Um 11.52 Uhr springt er plötzlich auf und verlässt den Baum. Er fliegt umher, kreist müßig ein paar Mal über der Felswand, bevor er fortfliegt und zahllose Serien mit mindestens vier verschiedenen Arten von Quorks macht. 22. MAI. In der vergangenen Woche hatten wir sturzflutartigen Regen und warme Temperaturen. Der Wald zeigt sich unvermittelt in allen Schattierungen von Grün. Die Apfelbäume hüllen sich in rosa Blüten, und die Wiesen leuchten als gelber Teppich von Löwenzahn. Ich halte an einem kleinen Forellenbach, der durch eine dieser gelben Wiesen plätschert, und gehe zu einer Kieferngruppe, die mir ein idealer Platz für ein Krähennest zu sein scheint. Doch bevor ich dorthin komme, entdecke ich in einem Büschel frisch gesprossenen Grases einen Rotschulterstärling beim Nestbau. Ein Königssatrap mit seinem Schnabel voll Heu fliegt ganz nah vorbei in die Astgabel einer toten Ulme. Das erste Krähennest, das ich finde, ist leer. Seltsam. Krähen sollten jetzt kleine Junge haben. Das zweite Nest gibt dann die Antwort auf das Rätsel: Es war erst das Galadiner und ist jetzt der Schlafplatz eines Waschbären. Das Tier schnarcht mit geschlossenen Augen vor sich hin, den Kopf zur Seite. Die Adamant-Raben sind nicht in der Nähe, als ich zu ihrem Nest komme, und als ich hineinblicke, ist es ein trübseliger Anblick. Seit dem Sturzregen rinnt noch mehr Wasser aus den Felsspalten, und das Nest ist ein triefender Morast geworden. Der Fels mag die Vögel vor Schnee und Raubtieren geschützt haben, doch seine Lage war alles andere
als ideal. Im Modder des Nestes liegen drei tote Junge. Das vierte sitzt wie sonst auf dem Rand des Nestes. Es putzt und streckt sich, übt kraftvoll seine Schwingen und scheint gesund. Es hüpft sogar auf die Toten und dann aus dem Nest auf den Vorsprung. Es erforscht den Felsen und hüpft dann zurück auf den Rand des Nestes. In der Nähe quorkt ein Rabe. Der junge Vogel hebt seine Schwingen, lässt sie vibrieren und ruft nach Futter. In Sekundenschnelle landet das Weibchen am Nest und würgt einen Kloß mit Nahrung in den bettelnden roten Schlund. Das Junge ist sofort wieder ruhig, er war nicht sehr hungrig. Die Adulte bleibt noch und pickt mehrere Maden von den toten Jungen ab, fängt eine Schmeißfliege mit lautem Schnabelschnappen, hockt dann 15 Minuten ruhig auf der Kante des Nestes und starrt auf die toten Jungen herab. Schließlich fliegt sie auf, um sich dem Gefährten auf ihrem Lieblingsplatz auf der Pappel gegenüber der Höhle anzuschließen. Die zwei hocken mehrere Minuten dicht beieinander und machen ihre üblichen Töne des Wohlbehagens, doch sie unterbricht bald die Intimitäten, um zum Felsen zurückzufliegen. Diesmal landet sie auf einer Kante unter einem zweiten Felsüberhang, der etwa drei Meter über und rechts vom Nest ist. Ich hatte gerade selbst dorthin geschaut und überlegt, warum die Vögel nicht diesen Platz oberhalb für ihr Nest gewählt hatten. Vielleicht fällt der Fels hier zu steil ab, um ein Nest zu verankern, doch ich bemerke vier Pappelzweige darauf. Sie nimmt einen davon auf und spielt mehr als fünf Minuten damit, als ob sie die Möglichkeiten ausprobieren wolle, ihn in ein imaginäres Nest zu stecken. Wieder und wieder drückt sie das Hölzchen auf den Boden und packt es mit
ihrem Schnabel, als ob sie versuchen wollte, es hineinzudrücken. Dann fliegt sie fort auf den Boden, wo sie drei weitere Zweige mit dem Schnabel aufpickt und damit hochfliegt. Das Ganze ist Zeitverschwendung, denn ich weiß, daß sie in dieser Saison nicht noch einmal brüten wird, das heißt nicht kann. Sie hat ein Junges, das bis Ende Juli von seinen Eltern abhängig bleiben wird. Jetzt ist es zu spät zum Brüten und zu früh, um das Junge allein zu lassen. Ich überlege, ob der Rabe sich vage bewußt ist oder nicht, daß der gewählte Nistplatz schlecht war, und ob er aus dieser unklaren Ahnung heraus jetzt ausprobiert, was vielleicht die bessere Wahl gewesen wäre. Im nächsten Jahr werden wir es wissen.* * Als ich am 19. Februar des folgenden Winters an den Platz zurückkam, fand ich frische Rabenspuren und frisch abgebrochene Zweige im Schnee in der Nähe der Spitze der Felswand. Mehrere neue Zweige waren auf den Überhang gelegt, aber mit dem Nestbau war noch nicht begonnen worden. Als ich am 10. März wiederkam, war das alte Nest völlig neu gebaut worden. Es war komplett ausgepolstert und bereit für die neuen Eier. (Sechs Eier wurden gelegt, fünf Junge schlüpften am 2. April aus.) Obwohl die Vögel das alte Nest wiederhergestellt hatten, hatten sie einen mutigen, wenn nicht verrückten Versuch gemacht, auf dem abschüssigen Stück zu nisten. Direkt darunter war ein großer Haufen frischer Zweige für den Grundbau – 1375 Stück, um genau zu sein –, genug für mindestens vier Nester. Offensichtlich hatten die Vögel diese Stelle unbedingt nutzen wollen, aber es hatte gedauert, bis sie gemerkt
hatten, dass die Zweige hier nicht verankert werden konnten.
Rabenrufe In einem Artikel für International Wildlife beschreibt Fred Bruemmer 1984 zwei Raben, die er in Alaska gesehen hat, die heiser krächzten, während sie über die winterliche Tundra flogen. Bruemmer wandte sich an seinen Begleiter, einen alten Inuk, und fragte: »Was haben sie gesagt?« Der Inuk lächelte: »Tulugak [der weise Rabe] sagt >Tuktu tavani! Tuktu tavani! [Die Karibus sind da! Die Karibus sind da!]« Schon immer und wohl noch bevor sich das Rabenpaar Hugin und Munin auf Odins Schultern niederließ, um ihm die Neuigkeiten aus der Welt zu erzählen, haben die verschiedenen Laute des Raben die Menschen besonders interessiert. Ein Vogel, der alles weiß und alles erzählen könnte, muss angehört werden, obwohl, wie Edgar Allan Poe zu entnehmen ist, der Vogel seine Geheimnisse nicht immer enthüllen will. Trotzdem hat es nie an Leuten gefehlt, die vorgaben, ihn zu verstehen. Der Ornithologe Thomas Nuttall bemerkte 1903, dass »alle Handlungen dieses dunklen Vogels, alle Umstände seines Fluges und all die verschiedenen Intonationen seiner misstönenden Stimme, von denen nicht weniger als 64 festgestellt wurden, ihre eigene Bedeutung haben; und es gab immer Hochstapler, die sich dieser Intelligenz bedienten, wie Leute, die naiv genug waren, ihnen zu glauben«. Es gibt wahrscheinlich nichts über den Raben, Corvus corax (die lateinische Bezeichnung ist vom griechischen korax, Krächzer, abgeleitet), das mehr kommentiert, studiert und beschrieben wurde als seine Stimme. Doch ich bin überzeugt, dass es nichts
gibt, über das wir weniger wissen. Was wir tatsächlich wissen, ist bestenfalls minimal. Der Versuch, die unglaublichen Rufe, die ich von den Maine-Raben hörte, mit der wissenschaftlichen Literatur zu vergleichen, war eine reichlich frustrierende Erfahrung. Einige dieser Studien arbeiten mit objektiven Sonagrammen, doch auch diese helfen wenig. Eleanor D. Brown entdeckte 1985, dass verschiedene soziale Gruppen von Krähen ein unterschiedliches Repertoire an Tönen haben. Könnte es regional deutlich verschiedene Rabendialekte geben? Oder haben die Vögel nur ein paar Standardrufe, und improvisieren sie sonst? Es ist eines, die verschiedenen Vokalisierungen zu erkennen, und ein anderes, ihre Bedeutung zu entziffern. Bis jetzt haben wir nicht einmal mit ersterem große Fortschritte gemacht. Einer der ersten, der Klangspektrogramme von Rabenrufen machte und ihre Bedeutung erforschte, war der deutsche Zoologe Eberhard Gwinner, der mit verschiedenen Gruppen zahmer Käfigraben arbeitete. Er schreibt, dass seine Raben ein sehr umfangreiches Lautrepertoire hatten, das schwierig zu klassifizieren war, zum Teil weil die Vögel Töne erlernten und es »starke individuelle Veränderlichkeit« gab. In seiner Veröffentlichung gibt Gwinner Klangspektrogramme für einige deutlich unterscheidbare Rufe. Sie schließen ein kurzes »rapp« oder »krapp« ein, den Flugruf, dann den lauten »rüh«-Ruf oder Standortruf hungriger Jungvögel, die damit die Adulten herbeirufen, und der auch als Nestlock und Legeruf des Weibchens benutzt wird, um den Gefährten zu rufen. Die lauten »krah«-Rufe ertönen, wenn Raben ihr Futter verteidigen; außerdem wird das »kra«, das Gwinner für den typischen Rabenruf hält, in echten oder
eingebildeten Feindsituationen benutzt. Dies ist vermutlich der Ruf, der in der englischen Literatur oft als »pruk«, »kruk«, »quork« oder »croak« beschreiben wird. Die »gro«oder Kontaktlaute werden nur benutzt, wenn ein anderer Vogel schon in der Nähe ist. Dann gibt es weiche, jaulende Rufe (Winsellaute), eine Variante der »gro«-Rufe, zu hören bei den Intimitäten verpaarter oder befreundeter Vögel. Gwinner beschreibt auch mehrere Rufe beim Imponierverhalten und ein klapperndes mechanisches Geräusch, das er für eine Imitation des Storchenrufes hält, obwohl es vor allem die Weibchen benutzen. Die nächsten (unveröffentlichten) Studien waren 1972 die Dissertation von Jane L. Dorn über Raben in Wyoming und 1974 die Schriften von Roderick N. Brown über Raben in Alaska. Brown beschrieb über 30 Kategorien von Rufen, eingeschlossen Nestlings-»kaah«, juveniles »kaah«, antagonistisches »kaaa«, »kruk«, »krrk«, »nuk« und »kwulkulkul«. Er gibt von jeder Klangkategorie Spektrogramme. Wie ich es sehe, sind jedoch manchmal mehr Variationen innerhalb einer Klangkategorie als zwischen ihnen. Ich erkenne wenige von diesen Rufen wieder und habe Probleme, sie in Übereinstimmung sowohl mit meinen Sonagrammen aus Maine sowie mit anderen Sonagrammen zu bringen. Kürzlich hat Richard N. Conner vom Virginia Polytechnic Institute achtzehn verschiedene Ruf-Typen von Raben im südwestlichen Virginia aufgenommen. »Caw, ähnlich wie Jaulen, Weinen, Rasseln, cawlup, Stakkato, caw, awk, cluck, kow, glockenähnlich, ku-uk-kuk, ko-pick, awk-up, woo-oowoo, uvulär, o-ot, puddle und ke-
aw.« Die Rufe, die ich dann in Sonagrammen veröffentlichte, weil sie für das spezifische Verhalten der Vögel an den Ködern in Maine wichtig waren, waren »quork«, »yell« (Schreien), »trill((Trillern) und »knocking(«Klopfen). Beim Vergleich der Beschreibungen der Rabentöne mit den Sonagrammen scheint mein »quork« Gwinners »kra« zu sein, Conners »caw« und wahrscheinlich Browns »alert kaww«. Mein »yell« ist vermutlich Gwinners »rüh«, Browns »juveniles kaah« und Dorns »ky«, doch ich kann keinen vergleichbaren Laut in Conners Arbeit finden. Mein »trill« ist ebenfalls in keinem der anderen Werke zu identifizieren. Mein Klopfgeräusch schließlich, das Gwinner für eine Storchimitation hält, ist wohl Browns »kwulkulkul« und Conners »rattle(«obwohl sein Sonagramm eine rasselnde Frequenz von 30 Hertz oder Zyklen pro Sekunde zeigt, während meines nur halb soviel hat). 1945 beschreibt Francis Zirrer den deutlichen Ruf als »lauten, metallischen, glockenähnlichen Ton, mit leichten Hammerschlägen auf schwerem Zinn gut nachzuahmen«. Die mechanischen Rassel- oder Klopfrufe findet man häufig bei den Weibchen vieler Corviden beim Balz- oder Imponierverhalten, wie es Derek Goodwin in Crows of the World beschrieben hat. Das »yell« klingt für mich sehr ähnlich wie der Schrei, den die Jungen machen, wenn sie gefüttert werden wollen . Roderick Brown hörte diese Rufe von eifrig umherblickenden Vögeln mit geplustertem Kopfgefieder (»wahrscheinlich um Wärme zu speichern«). Er denkt, dass sie als Anregung zum Fressen bei den Adulten dienen und den untergeordneten Status des Rufers erkennen lassen, wodurch sich das
Aggressionspotential mindere. (1ch hörte sie von dominanten Jungen, und meine Interpretation ist entschieden anders als die von Brown.) Die Quorks, die Gwinner für einen Feindruf bei Bedrohung hält, scheinen das zu sein, was der australische Corviden-Spezialist Jan Rowley als Standortruf bezeichnet. Roderick N. Brown beobachtete ihn beim Imponierverhalten dominanter Männchen und meint, dass er andere alarmieren soll, weil andere häufig »ohne offensichtlichen Grund« wegflogen, wenn einer der dominanten Vögel ihn hören ließ. Michel Andrieux hat ein Sonagramm mit »Warnrufen« von Raben zusammengestellt, doch ich bin außerstande, es mit den Tönen, die ich gehört oder veröffentlicht gesehen habe, in Übereinstimmung zu bringen. Tony Angell beschreibt außerdem »Wächter«-Raben, die ein warnendes »kaa« von sich geben. Doch in fünf Beobachtungsjahren habe ich keinen Beweis dafür gefunden, dass Raben Wächter aufstellen. Es gibt viele Nuancen beim Quork, und ich vermute, dass es individuelle Unterschiede gibt, mit denen die ortsansässigen Vögel ihre Nachbarn erkennen. Doch es mag andererseits spezifische Rufe mit bislang unbekannter Bedeutung geben, die sich auf das Territorium beziehen. Nachahmung ist eine weitere Quelle für Variationen bei den Rufen. Gwinners verschiedene Gruppen von Käfigraben entwickelten gruppenspezifische Dialekte. Zusätzlich dienten individualspezifische Rufe (oft die Imitation anderer Töne wie Hundebellen oder Gänserufe) den Raben als »Namen«. Wenn zum Beispiel der Gefährte eines Raben weggenommen wurde, rief der verstörte Partner nach ihm, indem er den
individualspezifischen Ruf des vermissten Partners nachahmte. Eine ähnliche Ton-ObjektVerbindung zeigte sich bei Gwinners Rabe Wotan, der häufig mit »komm« ans Gitter gelockt worden war, um gefüttert zu werden. Für den Raben bedeutete dies nicht »komm«, sondern »Futter«, und der Vogel rief später »komm«, wenn er seine Gefährtin füttern wollte. Die Fähigkeit der Raben zu »sprechen«, also menschliche Worte nachzuahmen, ist vermutlich mit dem Rufen des Namens eines geliebten Wesens zu verbinden. Die Vögel lernen die Stimmen ihnen Nahestehender nachzuahmen. Allein aufgezogene Raben, die nur mit ihrem menschlichen Besitzer Kontakt haben und nicht mit anderen Raben, lernen es, die Stimme dieses Menschen zu imitieren. In der freien Natur ahmen Raben nur selten andere Vogelarten nach. Zu den weiteren, scheinbar angeborenen Rufen gehört ein weiches »kort«, das am Nest gerufen wird und die noch blinden und offensichtlich schlafenden Nestlinge sofort ihr Maul aufsperren lässt. Ein oft wiederholtes »rrack« in der Nähe des Nestes veranlasst die Jungen, sich in die Nestmulde zu ducken. Der Ruf ist offensichtlich eine Warnmeldung, die von anderen Rufen deutlich unterschieden werden kann. Vögel sind vor allem emotionale Wesen, und ihre Reaktionen auf emotionale Anstöße sind vermutlich viel direkter als unsere, da menschliche Reaktionen durch Vernunft gemäßigt werden. Emotionen sind »primitiver« als Vernunft, und ich meine, dass viele Tiere ganz ähnliche Emotionen wie wir haben, dass sie jedoch stärker davon abhängig sind. Vokalisierung ist eine der Hauptartikulationen von Emotion, aber es gibt a priori
keinen Grund zu der Annahme, dass ein Rabe, der sich traurig fühlt, auch einen Ton macht, der für unsere Ohren traurig klingt. Er könnte ebenso gut glücklich klingen. Viele Tiere machen willkürliche Töne, die wie ein Code spezifische Bedeutungen haben. So sind zum Beispiel die Paarungsrufe verschiedener Grashüpfer, Zikaden oder Vögel sehr ausgeprägt, haben aber für unsere Ohren keinen emotionalen Inhalt. Ähnlich lassen manche Rufe eines Sperlings, einer Taube oder Grasmücke für uns wenig Sinn erkennen, solange wir sie nicht intellektuell interpretieren. Es überrascht mich daher, dass viele Rabenrufe manchmal Emotionen zeigen, die ich als »Säugetier«, für das sie nicht bestimmt sind, nachempfinden kann. Wenn ein Rabenpaar miteinander intim ist, macht es gurrende Geräusche, die weich und zärtlich klingen. In einer Situation, in der ich einen Raben zornig erwarte, gibt er rauhe, tiefe Rufe von sich, die für meine Ohren Zorn ausdrücken. Ich glaube auch, dass ich aus der Stimme und Körpersprache spüren kann, wenn ein Rabe überrascht, glücklich, tollkühn oder angeberisch ist. Diese Spannbreite der Gefühle kann ich bei einem Sperling oder Falken nicht identifizieren. Sowohl Konrad Lorenz wie Tony Angell beschreiben die Aufforderung, sich dem Flug anzuschließen, die ihre Lieblingsraben Roah beziehungsweise Macaw geben. Nach Lorenz fliegt der Rabe, der ein Familienmitglied zum Mitmachen einlädt, von hinten mit ziemlicher Geschwindigkeit dicht über seinen Besitzer, wackelt im Vorbeiflug mit seinem Schwanz und ruft ein sonores, aber hartmetallisches »rackrackrack«. (Roah versuchte auch, Lorenz von Plätzen, die der Vogel mied, fortzulocken, doch anstelle der »rackrackrack«-Rufe imitierte er seinen eigenen Namen.) Über die Zusammenhänge
solchen Verhaltens ist bei freilebenden Raben nichts bekannt. Nelson zitiert allerdings einen Koyukonen-Jäger: »Wenn ein Rabe Menschen auf der Jagd sieht, hilft er ihnen manchmal, Wild zu finden. Er fliegt voraus, dann auf ein Tier zu, das von oben sichtbar ist, und ruft ggaaggaggaagga (Tier - Tier). Er tut dies, um seinen Teil von der Beute zu bekommen, von dem, was der Jäger zurücklässt.« Jäger sehen auch einen Raben seine Flügel einziehen und eine Rolle am Himmel machen, um zu zeigen, wo Bären oder Elche stehen. Sind dies Ammenmärchen oder Tatsachen? Ein Trapper/Jäger aus Nenana, Alaska, mit dem ich lange über Raben sprach, berichtete unaufgefordert, dass er solches Verhalten gesehen habe. (1ch hatte es ihm gegenüber nicht erwähnt.) Er erzählte mir, dass ein Rabe, nachdem er sich nach rechts und links geneigt und seinen Schwanz ausgebreitet hatte, im Sturzflug über einer Stelle im Wald hinunterflog und dabei einen besonderen Ruf ausstieß. Nachdem der Rabe dieses Manöver wiederholt hatte, gewann der Mann »den entschiedenen Eindruck, dass der Rabe versuchte, mir etwas zu zeigen«. Er folgte ihm und entdeckte einen Elch! Glücklicher Zufall? Leiten die Raben Wölfe und andere »gefährliche« Tiere, damit sie für sie jagen? Es ist möglich, obwohl ich persönlich skeptisch bin. Ich verdächtigte diesen Trapper, dass er mehr bei Lorenz als in der Natur studiert haben könnte, und als ich ihn Monate später in einem anderen Zusammenhang fragte, stellte sich heraus: »Ja, ich habe alles von Lorenz gelesen!« Ich wünschte von Herzen, daß er es nicht getan hätte; als Wissenschaftler kann ich komplexen Beobachtungen, die in ein vorher bestehendes Schema eingepasst werden, nicht trauen. Der Inhalt stimmiger wiederholbarer
Beobachtungen an sich muss die Form oder die Idee schaffen.* * Als das Buch in Druck ging, erhielt ich einen Brief von Paul Sherman, einem bekannten Verhaltensforscher an der Cornell University, der mir über eine Beobachtung berichtete, die er gerade in Idaho gemacht hatte (während er über Bodeneichhörnchen forschte). Sherman ist ein geschulter Beobachter, der keine Erwartungen in das Verhalten von Raben projiziert. Er schreibt: »Mein Forschungsareal ist eine große Viehranch, und vor zwei Nächten starb eine junge Kuh. Der Viehzüchter legte den Kadaver für die Kojoten auf die Weide. Als ich am nächsten Morgen zu meinem Studienplatz ging, blieb ich stehen, um den Kadaver mit dem Fernglas zu betrachten. Er lag gut 1000 Meter entfernt, auf welligem, offenem Grund. Als ich das Fernglas einstellte, bemerkte ich etwa zwei Meter von dem Kadaver einen Raben. Während ich beobachtete, flog er schweigend hoch und direkt auf mich zu. Ich nahm das Fernglas herunter und sah hin. Der Rabe flog über meinen Kopf, und als er direkt über mir war, machte er verschiedene kehlige >croaksc. Der Vogel kreiste zweimal über mir und glitt dann langsam Richtung Kadaver zurück. Ich wartete, und der Rabe kehrte zurück, er wiederholte sein Kreisen und Krächzen. Dann segelte er wieder Richtung Kadaver ab, flog diesmal bis dorthin und landete. Nachdem er gelandet war, blickte der Vogel mehrmals zu mir zurück. (Ich war zu weit entfernt, um zu hören, ob er nochmals rief oder nicht).
Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass dieser Vogel mich auf den Kadaver hinweisen wollte. Es schien mir auch, als ob er mir in groben Zügen den Weg dorthin weisen wollte. Es waren keine anderen Raben in Sicht, und ich hatte einen weiten Blick in alle Richtungen, da es eine große offene Weide war.« Bisher gibt es keine kritischen Untersuchungen, die diese sehr interessanten Anekdoten unterstützen oder widerlegen. Lorenz, der keine Evidenz dafür liefert, behauptet, dass dieses Verhalten für andere Raben, die folgen sollen, gilt. Wenn der Trapper und der Koyukonen Jäger richtig berichteten, gilt es jedoch für gefährliche Raubtiere. Kann der Vogel dasselbe Verhalten in zwei völlig verschiedenen Zusammenhängen und zu völlig verschiedenen Zwecken benutzen? Ob die Raben Jäger leiten oder nicht, ihnen folgen oder beides – was sie sagen und wie, ist ein faszinierendes Geheimnis, das völlig unerforscht bleibt. Raben singen auch wie viele andere Corviden. Arthur Cleveland Bent schreibt: »Mehr als jeder andere Vogel, den ich kenne, führt der Rabe stundenlang Selbstgespräche, ein seltsam gurgelndes, stark modulierendes Gerede«. Francis Zirrer nennt den Gesang ein »weiches musikalisches Geträller«, »ein höchst bemerkenswertes Durcheinander, ein Mischmasch sehr angenehmer Geräusche«. Er hörte die Vögel im Herbst oft unisono singen, während sie auf den höchsten Bäumen hockten; das weiche, langgezogene musikalische Geträller enthielt »Lispeln, Krächzen, Summen und Rülpsen«, in einem Refrain, der etwa wie »spor-spreespruck-spor-per-rick-rur-ruck« klang. Diesen Gesang hört man gewöhnlich von Mitte August bis in den Spätherbst.
Wir haben kaum begonnen, die Sprache der Raben zu verstehen. Ihr Wörterbuch enthält bisher nur wenige »Wörter«. Vielleicht ist unsere Analyse zu grobkörnig, um die Bedeutung zu erahnen. Unsere Forschung gleicht der von Wesen von einem anderen Stern, die Sonagramme der menschlichen Stimme bei verschiedenen Situationen aufnehmen – Essen, Spielen, Lieben, Kämpfen und so weiter. Bestimmte erkennbare Unterschiede in Häufigkeit, Intonation und Lautstärke werden mit Empfindungen und Gefühlen in Zusammenhang gebracht. Doch menschliche Töne bedeuten viel mehr und vielleicht auch die der Raben.
Die Reviervögel behalten alles 2. NOVEMBER 1987. Die Blätter sind alle gefallen, und schon zweimal hat es stark geschneit. Jetzt allerdings ist es wieder warm, kein Wind weht, und nachts tröpfelt der Regen. Die Feuchtigkeit lässt das frisch gefallene, gerade braun gewordene Laub nach Nüssen riechen. Leuchtendgrüne Mooskissen schmücken die Felsen und den Boden unter den Fichten und Tannen. An einigen der wilden Apfelbäume hängen noch ein paar gelbliche Früchte wie vereinzelte Dekorationsstücke. Doch in den Überresten eines alten Obstgartens unterhalb des Camps sind kaum noch Äpfel übrig. Die Bären haben sie gefressen. Sie sind dafür auf die Bäume geklettert, und da sie nicht an das Ende der Äste kommen, biegen sie die Zweige, bis sie brechen. An den abgebrochenen Zweigen der so zurechtgestutzten Bäume hängen noch tote Blätter. Alle anderen sind herabgefallen. Dies ist der Anfang der vierten winterlichen Rabensaison. Ich mache einen großen Rundgang hinauf bis Gammon Ridge, um mich wieder einzugewöhnen. Dieses Jahr hat keine einzige Roteiche oder Buche Früchte getragen. (1m darauf folgenden Jahr hatten die Buchen eine der größten Ernten, an die ich mich überhaupt erinnern kann. Die Blauhäher versteckten ständig Bucheckern, doch ich sah weder Raben noch Krähen davon fressen.) Gewöhnlich sieht man an den Buchen frische Spuren von Bärenkrallen, ihre Äste sind wie die der Apfelbäume abgebrochen, und der Boden ist durchwühlt von Bären und Rotwild, die nach Bucheckern gegraben haben. Dieses Jahr nicht,
nirgendwo. Es sind auch keine Eichhörnchen auf den Hügeln. Doch unten in den Tälern, wo die Balsamtannen wachsen, gab es wohl eine Bevölkerungsexplosion bei den roten Eichhörnchen, so viele habe ich noch nie gesehen. Sie ernten Tannenzapfen, sausen in allen Richtungen herum, und hier und da sieht man, wie sie sich gegenseitig jagen. Ein Paar lief mir fast über die Füße. Auch Chikadeemeisen scheint es im Überfluss zu geben. Ich treffe eine Schar nach der anderen, es sind jeweils ein Dutzend oder mehr, begleitet von Dunenspechten , Paaren von Kleibern , Goldhähnchen und gelegentlich Waldbaumläufern. Ich höre einen Haubenschwanzspecht. Im Laubwald gibt es Riesenscharen von Finken – Birkenzeisige, Fichtenzeisige, Stieglitzgoldfinken und Abendkernbeißer. Zuerst höre und dann sehe ich zwei Raben, die zusammen über Center Hill fliegen. Der eine macht die üblichen tiefen Quorks, der andere kürzere, schnellere. Plötzlich kreisen sie abwärts auf die Bäume zu: Heraus kommt ein dritter Rabe. Er war still, hat sich wahrscheinlich versteckt. Die zwei verstärken die Kraft ihrer Quorks und schießen hügelabwärts dem dritten nach. Ich kann die Jagd etwa eine halbe Meile weit mit bloßem Auge verfolgen. Ein Rabe ist aktiver, versucht näher zu kommen, der zweite des Paares scheint zufrieden, mithalten zu können. Ich habe oft Gruppen von drei Raben zusammen fliegen sehen. Wäre ich nicht hier gewesen, um den Anfang zu sehen, und ohne den Hintergrund von drei Jahren Feldforschung, hätte ich eine »Gruppe« von drei Raben gesehen. Wieder eine Sache von Interpretation versus Beobachtung.
3. NOVEMBER 1987. Um 7.58 Uhr kommt ein einzelner Rabe müßig vorbeigeflogen. Er stoppt plötzlich, macht eine leichte Drehung, als ob er etwas genau nachprüfen wolle, und fliegt dann weiter, schweigend wie vorher, er will wohl nicht verraten, dass er etwas gesehen hat. Ich weiß, dass er einen 30-Pfund-Fleischhaufen gesehen hat, den ich am Rand des Waldes bei dem Apfelbaum, etwa I00 Meter vom Camp entfernt, hingelegt habe. Der zweite Fleischhaufen, den Weg etwas abwärts und außer Sicht von hier, wird auch heute entdeckt, aber hier ist die Reaktion ganz anders. Ich bin durch fast ununterbrochenes lautes Quorken aufmerksam geworden. Und es ist nur Quorken, keine Schreie, keine Triller. Die Reviervögel sind gewöhnlich schweigend bei ihrem Fleisch. Doch heute höre ich das tremolierende Quorken eines Vogels, der zu dem Hills-PondPaar gehört, und die tieferen, kratzenden Rufe eines Vogels von dem Grahams-FarmPaar. Der Fleischhaufen liegt zwischen beiden Nestern, aber näher zum Hills-Pond-Gebiet. Als ich um 13.30 Uhr hinuntergehe, um zu sehen, was dort los ist, ist nur das Hills-PondPaar direkt beim Köder, mehrere Pfund Fleisch sind schon weg. Gelegentlich höre ich auch die Klopfgeräusche, die vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, von den Weibchen gemacht werden. Ich habe das Quorken während der letzten vier Jahre allmorgendlich im Spätsommer in der Nähe des Nistgebietes gehört. Jetzt glaube ich, daß Quorken oder eine Variation davon der Revierruf ist. Ich bin hier Zeuge von vermutlich einem Wettstreit, bei dem jedes Paar dem anderen gegenüber behauptet, daß dieses Futter in seinem Territorium sei.
4. NOVEMBER. Kurz vor der Dämmerung kommt ein Rabe, der still bleibt, zum Fleischhaufen beim Camp. Auch an dem Haufen unterhalb, an dem gestern die beiden Paare waren, ist alles ruhig. Ich gehe schnell hinunter und verberge mich im dichten Fichtenwald auf dem Hügel darüber. Um 6.3o Uhr höre ich die Hills-Pond-Vögel von links kommen, aus Richtung Hills Pond, und wenige Sekunden danach kommt der Rabe mit der tiefen Stimme von rechts, der Richtung von der Grahams-Farm. Ich sehe sie nicht, weil sie nicht bis zum Fleisch fliegen. Bald werden ihre Stimmen schwächer, eine Jagd beginnt. Dann höre ich, nah im Wald, einige »chunks«. Ist einer geblieben? Der Rufklingt wie eine verkürzte Version des weiblichen Klopfrufes oder vielleicht wie das, was ich früher für das Okay-Signal gehalten habe, wenn ich einen Nistplatz verlassen hatte. Um 7.10 Uhr sehe ich einen Raben aggressiv vor einem anderen umherfliegen, der auf einem Ast sitzt. Neues Quorken. Weiterhin keine Schreie und kein Trillern. Das Quorken, die akustische Gebietsmarkierung, geht um 8.2o Uhr immer noch weiter. Fleisch wird nicht gefressen. Um 15.00 Uhr höre ich plötzlich die Grahams-Farm-Vögel beim Köder. Durch die dicken Zweige kann ich gerade noch einen anderen Raben bemerken, der sich vom Mount Bald her auf das Fleisch herabstürzt und hohe Quorks macht. Bald ist es still, doch als ich den Köder vor dem Weggehen prüfe, sehe ich dort keine Vögel.
5. NOVE MBE R. Donnerstag. Große Aufregung! Vier Raben kommen in der Dämmerung an, einer von ihnen macht schnelle, ununterbrochene Quorks (nicht die langen lauten Revierrufe). Alle kreisen über dem Fleisch und lassen sich im nahen Wald nieder. Bald höre ich juvenile Schreie. Doch innerhalb von zwei Minuten vernehme ich auch die ersten territorialen Quorks, als das Hills-Pond-Paar eintrifft. Die Vögel verschwinden schnell aus meinem Blickfeld, doch ich höre einen aufgeregten Ruf, der bedeutet, daß einer der Adulten einen der vier Neuankömmlinge aggressiv herausfordert. Uni 6.25 Uhr zeigen sich die vier wieder, fliegen sehr dicht über dem Köder und hocken in den nahen Bäumen. Einer, und nur einer wie gewöhnlich, macht die juvenilen Schreie. Ich kann den rosa Rachen des Vogels sehen. Das Hills-Pond-Paar sitzt nahebei in demselben Baum wie im letzten Winter. Jetzt, wie seltsam, fliegen die Neuankömmlinge zu ihm herüb er, als ob sie angezogen würden. Hocken sie sich so nah zu ihre, um zu erfahren, was der Feind vorhat? Wollen sie wissen, ob es Freunde sind? Auf jeden Fall gibt es eine Antwort: Zweimal macht einer des Paares einen Ausfall auf die Vögel, die sich nähern. Das Opfer ruft aufgeregt und fliegt fort. Um 6.45 Uhr .fliegen die Neuankömmlinge fort, einer nach dem anderen. Doch nach zehn Minuten sind die Jungen für einen weiteren schnellen Überflug zurück. Das HillsPond-Paar lässt wieder seine entschiedenen territorialen Quorks hören, und dann fliegen alle für den Rest des Tages fort. Ich weiß, dass dies keine Jungen sind, die zu dem Paar gehören, da es wie die meisten anderen keinen Bruterfolg hatte. Das Hills-Pond-Paar fliegt zu dem anderen Fleischhaufen herab. Jetzt höre ich eine
Menge Quorken und Klopfen. Dann ist alles still. Ich pirsche hinab durch den Wald und finde die alte W 4 und ihren Gefährten beim Fressen (W I, der frühere Gefährte, wurde schon längst durch ein neues Männchen ersetzt). Keine anderen Vögel sind in der Nachbarschaft. Also haben sie sich schließlich den Köder gesichert. Das Grahams-Farm-Paar wurde von diesem tiefer gelegenen Haufen vertrieben, die vier Jungen von dem oberen ferngehalten. Ich denke, dass ich sie zwingen kann, sich mehr für den Fleischhaufen hier oben zu interessieren, wo die Jungen immer noch versuchen zu fressen, und bringe alles Fleisch hinauf. Vierzig Minuten später höre ich das typische Quorken des Hills-Pond-Paares von unten, wo das Fleisch war. Sie sind zurück. Als Begleitmusik gibt es kurze schnelle Quorks (das Weibchen?). Und einen dritten Ruf – eine abgehackte Folge von kurzen schnellen Quorks, die ich vorher noch nicht gehört habe. Ich nehme an, dass es etwas mit der Überraschung und Aufregung zu tun hat, weil das Fleisch fort ist. Die vier Vögel, die am Morgen kamen, schienen ungewöhnlich begierig zu fressen, doch das Revierpaar war fast sofort da. Ich prophezeie, dass die vier in der nächsten Morgendämmerung zurückkommen werden, dann mit Verstärkung. Und dann werden sie fressen. 6. NOVEMBER. Ich wache vor der Dämmerung auf und blicke nach draußen – um Schnee zu sehen! Der Boden ist bedeckt, und es schneit immer noch. Als ich ein Streichholz in der Dunkelheit anzünde, stelle ich fest, dass es draußen minus sechs und
drinnen 10 Grad sind. Mein neuer Ofen und die Schicht Werg, mit der die Balken der Hütte im Sommer abgedichtet wurden, haben sich bewährt. Ich mache Feuer, trinke Kaffee und gehe hinaus, um den Schnee vom Fleisch zu fegen. Um sechs Uhr ziehen dunkle Wolken durch die graue Dämmerung. Ich blicke neugierig aus dem Fenster. 6. 10 Uhr. Sie müssten jetzt da sein. Jede Minute. Aufgeregt warte ich auf die Menge. Nichts. 6.14 Uhr. Ah! W 4 kommt von Hills Pond herauf. Sie ist still und hockt sich allein hin. Sie sitzt auf derselben Esche, die das Paar gewöhnlich im letzten Winter benutzte. Nach fünf Minuten macht sie ein paar der hohen, gongähnlichen Quorks. Ein zweiter Rabe fliegt vorbei, schweigend. Er segelt ziemlich hoch und gibt kein Anzeichen, dass er etwas gesehen hat. Es ist nicht der Gefährte von W 4, denn er hat einen auffällig gespaltenen Schwanz. Ich habe ihn bisher nicht gesehen, zumindest nicht kürzlich. Spaltschwanz muss entweder das Fleisch oder den wartenden Reviervogel gesehen haben. Gegen 6.32 Uhr macht W 4 einige ihrer typischen Klopfgeräusche. Spaltschwanz kommt vorbei, und W 4 fliegt auf, um ihn zu jagen. Ich höre aufgeregte Rufe in der Ferne, als sie aus meinem Blickfeld verschwinden. Doch Spaltschwanz kommt zu einem weiteren Überflug um 6.44 Uhr zurück, schweigend wie zuvor. Zwei Stunden lang sehe und höre ich keine Raben, doch zumindest höre ich juvenile Schreie aus dem Wald. Hat Spaltschwanz sich dort versteckt? Sofort danach höre ich aufgeregte Schreie, rollende, rauhe zornige Quorks, und dann erscheint das Hills-PondPaar, W 4 und ihr neuer Gefährte, zum Fressen am Köder, und sie tragen Fettstückchen
zum Verstecken fort. Wie ich es jetzt vorausgesagt hätte – sie sind ganz still. Zwei Stunden später verstecken die beiden immer noch, weiter allein. Was bedeutungsvoller ist, sie sind immer noch still. Kein anderer Vogel ist in die Nähe gekommen. Heute höre ich keinen erkennbaren Standort-Quork des Paares. Das Grahams-FarmPaar wurde gestern vertrieben. Und heute der einzelne Durchziehende. Spaltschwanz hielt nicht an, oder wenn er es tat, wurde er fortgejagt. Selbst die vier herumstromernden einzelnen, die gestern als Gruppe hier waren, sind weitergezogen. Die Reviervögel haben ihr Fleisch erfolgreich verteidigt, und ich bin sehr glücklich, diesen Vorgang gesehen zu haben. 26. NOVEMBER. Heute ist Thanksgiving, und ich fahre wieder hinaus nach Maine. Ich scheine keinen Sturm zu verpassen; genau jetzt fahre ich in den bisher dicksten Schneesturm dieses Jahres. Er fing gestern Nacht in Maine an, und als ich am Spätnachmittag auf dem Hügel ankomme , schneit es immer noch heftig . Fünfundzwanzig Zentimeter Pulverschnee haben sich schon angehäuft. Die Tannenund Fichtenzweige biegen sich unter dicken weißen Schneekissen und sehen wie spitze Kirchtürme aus. Das Dunkelgrün unter dem Weiß wirkt schwarz und tot, der Himmel ist grau und mit Millionen weißer Flecken gemustert, die langsam niederschweben. Die nahen Hügel zeigen sich noch in dunklem Grau, die fernen sind kaum zu sehen. Während der langen Fahrt stelle ich mir die großen schwarzen Silhouetten eines Rabenpaares vor, das tief über den ragenden Wipfeln der Fichten und Tannen fliegt, aber kein Rabe
ist zu sehen. Werden viele zu meiner Begrüßung auf dem Hügel sein? Als ich zur Hütte hinaufgehe, höre ich nur den Schnee unter meinen Füßen knirschen und gelegentlich das hohe »tsie-tsie« eines Goldhähnchens. Es sind keine Raben da. Ich schaufle den neuen Schnee dort weg, wo ich am 9. November den Fleischhaufen als Teil des Experiments liegengelassen hatte. (Dies ist nicht charakteristisch, denn außer für spezifische Experimente sammle ich gewöhnlich alles Fleisch ein, wenn ich gehe, denn ich möchte keine ständige Futterstelle unterhalten, was auch höchst unnatürlich wäre.) Was ich finde, wird mir eine Menge darüber erzählen, was hier in den letzten drei Wochen vor sich ging: Ob das Paar sein Fleisch erfolgreich verteidigte oder ob es verdrängt wurde. Welche Überraschung! Das Fleisch ist nach 21 Tagen noch da. Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, als ich das Fleisch zum ersten Mal auslegte, hätte ich vermutet, wie ich es vor Jahren tat, dass es in diesem Gebiet keine anderen Raben gibt, doch ich hatte tatsächlich mindestens sieben andere gesehen, und alle zeigten großes Interesse an diesem Köder. Ich bin mehr und mehr von meiner Hypothese überzeugt. Ich kann es nur noch nicht sicher beweisen (außer wenn ich das Paar genau in dem Moment, wenn andere Raben hier sind, fange, was sehr schwierig ist), weil ich es nicht mit abstrakten mathematischen Formeln, sondern mit intelligenten, sehr flexiblen Tieren zu tun habe. Zu jedem Zeitpunkt ist das Verhalten der Raben von vielen Komponenten beeinflusst, und ich kann nicht sicher sein, um was es sich alles handelt. Das Beste, was ich tun kann, ist beobachten, wieder und wieder beobachten, unter denselben Bedingungen und unter so vielen
anderen denkbaren Bedingungen wie möglich, bis Übereinstimmung, eine innere Stimmigkeit oder beides zu erkennen ist. Wenn man viele Beobachtungen hat, erscheinen einige darunter oft völlig unverständlich und scheinbar widersprüchlich, doch wenn man später das sie verbindende einheitliche Muster findet, sieht man Schönheit! Je mehr Beobachtungen in dieses Muster eingehen, um so größer ist die Schönheit. Ich habe eindeutig das Gefühl, dass das Muster, gerade weil es schön ist, wahr ist. Ich habe gehört, dass es sich fast buchstäblich genauso in der Mathematik verhält. Doch bei diesen Vögeln muss ich erst absolut sicher sein, dass es wahr ist, bevor ich mir erlauben kann, die Schönheit zu fühlen. 27. NOVEMBER. Ich erwache in einer rosaroten Dämmerung unter kristallklarem Himmel mit Temperaturen um minus zwölf Grad. Ich stürze hinaus, um das Fleisch freizufegen. Um 6.38 Uhr fliegt ein Rabe vorüber, dann ein zweiter. Das Hills-Pond-Paar ist gekommen. Während ihrer Morgeninspektion quorken sie ein paar Mal, um Eindringlinge abzuhalten, dann fliegen sie talabwärts zum Teich zurück. Während der nächsten drei Stunden sehe ich nur die allgegenwärtigen Blauhäher. Bei ihren häufigen Ausflügen zu dem neuen Fleischhaufen haben sie keinen Ton von sich gegeben. Um 9.45 Uhr sehe ich plötzlich mehrere Raben. Ich kann sie nicht zählen, weil sie in der nächsten halben Stunde nur kurz kreisen, hinter den Bäumen verschwinden, zurückkehren, wieder kreisen und wieder im Wald verschwinden. Einer fliegt zu einem Baum, auf dem ein anderer gelandet ist, der nun fortfliegt, der zweite fliegt zu einem
anderen sitzenden Vogel weiter, der auch wegfliegt. Zwei kreisen zusammenüber dem Köder. Ich höre eine Folge von tiefen Quorks und eine mit Klopfgeräuschen, keine juvenilen Schreie und kein Trillern. Keiner der Vögel, die um 9.45 Uhr kamen, war markiert, aber wegen der tiefen Quorks vermute ich, dass das Grahams-Farm-Paar darunter ist. Doch zwischen 12.08 und 12.37 Uhr sehe ich das Hills-Pond-Paar. (W 1 ist tatsächlich fort oder hat seine Markierung verloren.) Sie überfliegen mehrmals den Platz, immer schweigend, wahrscheinlich weil die anderen Vögel fort sind. Um 12.37 Uhr fliegt das Weibchen (W 4) allein fort; während sie in der Ferne verschwindet, macht sie im Flug Klopfgeräusche. Um 14.55 Uhr fliegt ein einzelner unmarkierter Vogel zu einer kurzen Erkundung vorbei, und dann kommt den ganzen Tag kein Rabe mehr. Nachmittags heizt das Feuer im Holzofen die Hütte, Schwärme von Fliegen erwachen aus ihrem Winterschlaf und wimmeln an den Fenstern. Ich lasse Wolken von ihnen heraus, sie fliegen über die Lichtung und fallen in den Schnee oder auf die Birkenstämme bei der Hütte. Die Blauhäher lassen den Köder im Stich, um Fliegen zu fangen. Ein Raubwürger kommt und schaut von der Spitze eines Ahorns aus zu. Ich beobachte, wie er ein Gewölle auswürgt, das ich später hole (es war nicht von einem Eulengewölle zu unterscheiden, 2,5 X 1,2 Zentimeter groß und enthielt Knochen und Mäusefell). Ich hatte vorher einen Würger Meisen jagen sehen, und alle Meisen fliegen jetzt schweigend fort. Stattdessen jagt der Würger Fliegen. Jedes Mal, wenn ich einen Schwarm hinauslasse, fängt er eine oder zwei in der Luft.
Ich glaube nicht, dass die Raben ausgeblieben sind, weil sie mich gesehen haben. Aber ich werde es herausfinden. Nach der Dämmerung fahre ich fort, um Charlie und seine Familie zu besuchen und am nächsten Tag Wild zu jagen. Vielleicht kommen die Raben dann zum Fressen herunter. 28. NOVEMBER. Fünf von uns stehen um 4.30 Uhr auf, um auf die letzte Hirschjagd des Jahres zu gehen. Es ist in diesem Jahr auch meine erste. Nach starkem Kaffee, Toast und Rühreiern fahren wir dorthin, wo es viele Wildspuren gibt. Nach einer halben Meile Marsch durch die Dunkelheit nehmen wir unsere Position ein und warten auf den Sonnenaufgang, bibbernd und ganz konzentriert. Wir sind zu gespannt, um Hunger zu spüren, wir denken nicht einmal an Essen, bevor wir, nachdem es dunkel geworden ist, wieder zurückkommen. Wie gewöhnlich trifft keiner von uns ein Wild. Einige hörten hier und da ein Knacken, und irgendeiner ahnte etwas Braunes. Meistens sahen wir Spuren von Fuchs, Fischmarder, Wiesel und Kojoten, aber auch genug Wildspuren, um zu glauben, dass hinter jedem Busch ein Hirsch wartete. Doch das Bemerkenswerteste, was ich sah, war ein Rabe. Zuerst hörte ich ihn. Er flog sehr hoch, ganz allein und machte ununterbrochen glücklich klingende, gurgelnd-quorkende Geräusche. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten, doch ich nenne es »singen«. Der Rabe fliegt weiter, und ich höre die glücklichen Töne in der Ferne verhallen. Als ich im Mondschein den Hügel hinaufzurückgehe, lese ich im Schnee. Nur Blauhäher und Krähen waren an beiden Haufen. Jetzt weiß ich, dass nicht ich es war, der die
Raben abgehalten hat. 29. NOVEMBER. Um 6.30 Uhr steht der östliche Himmel über dem Horizont in Flammen. Scharen von Finken huschen wie eine Wolke aus Pfeffer durch den Himmel, doch ich sehe keine Raben. Um 7.05 Uhr verblasst das Leuchten am Himmel, es wird hell. Zwei Krähen sind von Norden her eingeflogen und sitzen schweigend in dem Rotahorn über dem Fleisch, mit Blick zur aufgehenden Sonne. Gegen 7.50 Uhr sind die beiden Blauhäher und der Raubwürger zurück. Immer noch keine Raben, erst um 10.00 Uhr fliegt einer vorbei. Ich nehme Abschied von einer weiteren Rabenbeobachtungssitzung. 18. DEZEMBER. Etwa 30 Zentimeter Pulverschnee dämpfen meine Schritte, als ich in einem Jutesack auf dem Rücken 100 Pfund Fleisch hinaufschaffe. Die Luft ist frisch und kalt, etwa minus zehn Grad. Und es ist sehr still. Kein Lufthauch. Als ich nach dem ersten steilen Stück zu den Birken komme, finde ich ein Federbüschel im Schnee. Ein Fink. Ein Büschel? Ausgerupft? Es müssen mehr das ein. Ich mache einen Umweg durch den Wald und finde sie, vom Wind verweht, also ist es nicht heute passiert. Unter einer einzelnen Tanne finde ich die Flügel- und Schwanzfedern, ein Fichtenzeisig. Also hier wurde der Vogel gerupft, im Schutz der immergrünen Zweige. Könnte ein Rabe diesen Vogel gefangen haben? Nein, ein Rabe wäre nicht zu dieser dichten Tanne gegangen, um den Vogel zu rupfen und zu fressen. Es war ein kleiner Räuber, der das
immergrüne Dickicht schätzt, wahrscheinlich ein Sägekauz, denn die Sperber bleiben nicht über den Winter. Der Zeisig wurde vermutlich im Schlaf geschnappt. Ich gehe den Weg weiter aufwärts zu einer Gruppe großer Fichten und Tannen. Hier höre ich das hohe »tsie-tsie« eines Amerikanischen Waldbaumläufers. Der Vogel sieht wie eine braune Maus aus, als er mit ruckartigen kleinen Hopsern einen Baumstamm hinaufläuft. Es sind keine Raben da, nicht einmal Zeichen von ihnen. Kojotenspuren mäandern an und um die Stelle, wo einer der Köder war. Ich lege neues Fleisch für morgen aus. 19. DEZEMBER. Heute Morgen ist es so still, dass es fast gespenstisch ist. Kein einziger Vogel ist zu hören. Nicht der leiseste Hauch eines Lüftchens. Das einzige, was ich höre, sind die Hirschmäuse, die am frühen Morgen, ihrer aktivsten Zeit, durch die Hütte huschen. Wenn ich sie höre, weiß ich immer, dass es Zeit zum Aufstehen ist. Sie sind zuverlässiger als mein Wecker. Von Sonnenaufgang ist nichts zu sehen. Die Sterne gestern Nacht waren im Dunst, und jetzt ist von Sonne keine Spur. Der ganze weite Himmel ist grau, und ich sehe die ersten winzigen Schneeflocken langsam nach unten treiben. 8.3o Uhr. Ein einzelner Rabe kommt von Osten, macht mehrere schnelle, tiefe Quorks (nicht die längeren territorialen Quorks), stellt seine Schwingen zum Sturzflug und fliegt dann weiter, als ob er nichts gesehen hätte! Inzwischen schneit es stark. 9.10 Uhr. Ich spiele die territorialen Quorks der Raben über den Lautsprecher ab. Niemand kommt. Eine gute Entschuldigung, einen Spaziergang durch den Schneesturm
zu machen. Schneestürmen im Wald kann man schwer widerstehen. Man fühlt das Wesen der nördlichen Wälder. Ich gehe nach Norden. Im Laubwald, der bergan zieht, ist der Boden mit Samen von Weißeschen gesprenkelt. Als ich aufblicke, sehe ich einen Schwarm von achtzehn emsig fressenden Hakengimpeln. Ich hörte sie nicht, aber als ich jetzt ganz still stehe und sie beobachte, kann ich ein bisschen von ihrem anhaltenden leisen Wispern vernehmen. Nach neun Minuten fliegen die Vögel plötzlich auf und rufen laut und andauernd »chiechip« oder »chie-chip-chip«. Am Baum sind keine Samen mehr, doch im frischen Schnee liegen etwa 500 Samenhüllen. Ein weinrotes Männchen, das sich gegen den grauen Himmel und den treibenden Schnee abzeichnet, scheint zurückgelassen worden zu sein. Es ruft laut und dreht seinen Kopf in alle Richtungen. Die Schar ruft weit in der Ferne, und der Vogel fliegt direkt auf sie zu. Dient das Rufen bei diesen Vögeln dazu, die Schar zusammenzuhalten? Ist das der Grund, warum Wildgänse ständig im Flug rufen, wenn sie auf Wanderschaft sind? Es gibt in diesen Wäldern viele Weißeschen, und ich entdeckte bald eine weitere Schar Hakengimpel. Auch sie sind ruhig, mit Ausnahme der leisen Wisperrufe. Ich stoppe die Zeit, innerhalb zehn Minuten kein einziger lauter Ruf. Nach 16 Minuten folgen acht Neulinge der Schar, die während des Fluges und als sie herunterkommen, um sich den anderen im Futterbaum anzuschließen, laut rufen. Nach ihrer Ankunft sind auch sie still. Sie brechen erst in laute Rufe aus, als sie schließlich als Schwarm von fünfzehn den Platz verlassen.
Ich bemerke noch andere Schwärme. Etwa ein Dutzend Abendkernbeißer fliegt vorbei, prunkend mit leuchtendem Gelb und schwarzweiß gemusterten Schwingen. Während des Fluges machen sie ständig ihre klaren, glockenähnlichen Rufe. Die größten Scharen sind die Fichten- und Birkenzeisige, je so bis 100 Vögel sind normal. Sie wispern auch leise beim Fressen, und sobald sie auffliegen, machen sie zwei Rufe. Die Farben sind zu undeutlich, um die Birkenzeisige von den Fichtenzeisigen zu unterscheiden. Doch ihre Rufe »trr-trr« und »chiet, chiet« sind ziemlich laut. Als ich wieder in Sichtweite der Hütte bin, krächzt eine Krähe drei- oder viermal aus dem Ahorn, und ich sehe eine zweite Krähe, die sofort vom Fleisch wegfliegt. Es sind keine anderen Vögel da, und die zweite Krähe konnte mich nicht kommen sehen. 12.15 Uhr. Durch einen glücklichen Zufall beobachte ich, wie ein zweites Krähenpaar den Fleischhaufen entdeckt. Wie ich es bei einer solchen Gelegenheit erwartet habe – ich hatte es vorher nicht gesehen –, gibt es viel Gekrächze. Nur sind diese Krächzer anders, weil die Vögel nicht wegfliegen. Das Krächzen hört bald auf, und beide Paare verstecken Fleisch. Einmal sind alle vier für kurze Zeit gleichzeitig bei dem Fleisch, doch die meiste Zeit tun sie so, als ob sie sich gegenseitig ein bisschen gestört fühlen. Nach etwa einer Stunde scheinen sich beide Paare auf ein freundliches Zusammenleben geeinigt zu haben. Es wird nicht mehr gekrächzt. Schließlich ignorieren sie einander völlig. Als sie ihr Fressen und Verstecken unterbrechen, hüpft ein schweigender Blauhäher zum Futtern herab. Zwei Haarspechte lungern gelegentlich in den Bäumen beim Köder herum, aber sie sind zu ängstlich, um herunterzukommen und mit den Hähern und
Krähen zu fressen, und warten immer, bis diese fort sind. 13.48; 14.25; 14.28; 14.30 Uhr: Ein einzelner Rabe kommt noch viermal vorbei, er fliegt verstohlen dicht über den Bäumen und lässt sich gerade soviel sehen, um den Köder zu erkennen und dann wieder wegzufliegen. Jedes Mal krächzt eine Krähe, und nachdem der Rabe zum dritten Mal da war, fliegen die Krähen fort. Keiner kommt an diesem Tag zurück. Um 14.30 Uhr fängt es schon an zu dunkeln. In zwei Tagen ist der kürzeste Tag des Jahres. 20. DEZEMBER. Eine graue Dämmerung wie gestern. Ich denke, es wird wieder schneien. Ich sage auch voraus, dass heute mehrere Raben kommen werden, weil der einzelne Vogel, der gestern gekommen war, um den Köder zu prüfen, bestimmt kein Reviervogel war. Es war vermutlich derselbe Vogel, weil er nur einmal quorkte, als er beim ersten Mal in großer Höhe vorbeiflog. Bei seinen anderen Besuchen war er schon dicht über den Bäumen und immer still. Die Reviervögel von Hills Pond zeigten sich nicht. Wenn, dann wären sie aus der entgegengesetzten Richtung gekommen. Der einsame Vogel würde heute morgen Verstärkung bringen. Um 7.30 Uhr sehe ich vier Raben in der Nähe! Keiner von ihnen ist markiert! Und wie ich erwartet hatte, sind sie keineswegs ruhig. Sie machen viele kurze Quorks in schneller Folge. Ich höre auch eine Zahl »thunks«. Es gibt keine langen territorialen Quorks oder Schreie. 7.38 Uhr. Die Neulinge haben sich in ihrer Begeisterung verraten! Ich höre das Hills-
Pond-Paar quorken — die langen lauten Revierrufe. Beide Vögel kommen von Hills Pond herauf. Schade, ihr Rekrutierten, heute gibt es kein Futter! Vier sind nicht genug, um von dieser Mahlzeit etwas abzukriegen. Das Hills-Pond-Paar bleibt bis mindestens 8.45 Uhr. Zuerst rufen sie häufig und fliegen demonstrativ überall im Gebiet umher, bevor sie sich an der Spitze des Rotahorns niederlassen; ihre Federohren stehen hoch, Seite an Seite beginnen sie miteinander zu schnäbeln. Andere hocken tiefer, in den dicken Ästen desselben Baums. Einer vibriert mit seinem Schwanz in der Unterwerfungshaltung, zieht seinen Hals ein, öffnet den Schnabel und macht beschwichtigende Töne. Einer des Paares fliegt zu ihm herunter, und der Unterwürfige verschwindet. Ich vermute, dass er — ohne Erfolg — für sich geworben hat. Ein unmarkierter Vogel fliegt um 8.43 und 8.51 Uhr zum Köder. Er macht nicht die typischen Hampelmannmanöver. Von meiner Arbeit mit den Käfigraben weiß ich, dass er erfahren, vermutlich ein Adulter sein muss. Er ist um 9.08 Uhr wieder unten, ein zweiter Vogel versucht sich anzuschließen, doch es entsteht eine Balgerei, und der zweite Vogel fliegt sofort weg. Um 9.20 und 10.13 Uhr ist der unmarkierte Vogel wieder unten, frisst aber wieder wenig oder gar nicht. Das Hills-Pond-Weibchen fliegt herüber und schließt sich ihm an; er nimmt sie kaum zur Kenntnis. Das bedeutet, dass er ihr Gefährte ist, wie ich es vermutet hatte. Das Paar frisst nicht, es sieht so aus, als ob es nur sein Besitzrecht geltend machen wollte. Am Nachmittag schneit es heftig, überall nichts als Weiß. Das Hills-Pond-Paar fliegt
weg. Plötzlich kommt ein Vogel herunter und spielt den Hampelmann. Das ist also ein vorsichtiger unerfahrener Junger. Es ist auch ein Vogel, der mit diesem seltsamen Köder nicht vertraut ist. Er hat hier noch nicht gefressen. Andere schließen sich an, und drei Raben fressen schweigend im Sturm. Keiner von ihnen ist markiert. 21. DEZEMBER. Heute kommt das Hills-Pond-Paar getrennt. Das Männchen fliegt um 7.00 Uhr ein, bleibt hoch in einem Ahorn in der Nähe sitzen. Es hat die Federohren eines dominanten Reviervogels, während es seinen Kopf in allen Richtungen dreht. Es wartet nicht nur, es patrouilliert regelrecht. Es forscht nicht einfach nur auf dem Boden, dies ist eindeutig eine Bewachung und keine Scheu vor dem Köder — ich vertraue jetzt mehr auf meine Interpretationen. Um 7.41 Uhr fliegt eine Gruppe von drei unmarkierten Raben vorbei. Sie sind still und fliegen schnell außer Sicht. Das Hills-Pond-Weibchen kommt um 7.59 Uhr, und danach höre ich aus dem Wald Singsang-Töne, vermischt mit Klopfgeräuschen. Das Konzert geht bis 9.30 Uhr weiter. Zwischen 9.47 und 10.34 Uhr sehe ich acht verschiedene Überflüge von einzelnen Vögeln, und bei vier verschiedenen Gelegenheiten höre ich auch Schreie. All diese Vorbeiflüge sind kurz, stumm und niedrig, fast durch die Bäume hindurch. Diese Vögel scheinen sich verbergen zu wollen. Während der ganzen Zeit sitzt das Reviermännchen in der Esche und durchforscht das Gebiet ununterbrochen, wie schon früher am Morgen. Um 10.21 Uhr höre ich einen Verteidigungsruf aus dem Wald. Vielleicht hat einer von dem Paar einen Eindringling direkt angegriffen.
Um 10.55 Uhr fliegt das Hills-Pond-Paar gemeinsam über den Köder. Sie fliegen hoch und sehr demonstrativ, ich höre ihren deutlichen Revierruf, bevor sie Richtung Hills Pond fortfliegen. Um 11.20 Uhr landet ein Rabe in der Spitze der Fichte hinter dem Köder, plustert sein Kehlgefieder und stellt die Federohren hoch. Es muss einer von dem Paar sein. Er sitzt einige wenige Minuten, bevor er ins Tal nach Hills Pond fliegt und direkt mit einem weißen Fettstück in seinem Schnabel zurückkommt! Er frisst es in der Birke beim Köder, fliegt dann wieder talabwärts nach Hills Pond. Den Rest des Tages gibt es keine weiteren Zeichen von Raben. Kein Wunder, daß die Vögel es sich leisten können, den ganzen Tag Wache zu halten, ohne zu fressen. Sie leben von dem Fleisch, das sie früher versteckt haben. Beim Durchgehen der Ergebnisse lese ich die Ereignisse des Morgens so: Das HillsPond-Paar bleibt bis 10.55 Uhr, um das Fleisch zu bewachen, nachdem drei Eindringlinge, die in Abständen den Köder geprüft hatten, schließlich aufgaben und fortflogen. Das Männchen kam zu einer letzten Kontrolle um 11.20 Uhr zurück und flog umgehend fort, nachdem es keine Vögel vorfand. Es ist schwer für mich, die Tatsache zu akzeptieren, dass heute wegen der Störung kein einziger Rabe fraß. Ich zählte 21 Überflüge. Die Vögel waren eindeutig am Fleisch interessiert. Besteht immer noch eine winzige Möglichkeit, dass sie Angst vor dem Fleisch oder vor mir in der Hütte haben? Ich glaube es nicht, doch die entfernteste Möglichkeit macht mich nervös.
22. DEZEMBER. Die heutigen Ergebnisse waren fast mit den gestrigen identisch, doch meine zermürbende Frage ist beantwortet. Gestern warf ich drei altbackene Hot-dogBrötchen aus der vorderen Tür. Sie lagen vor der Eingangsstufe. Von dem Fleischhaufen, einige hundert Meter von der Hütte entfernt, fraß kein Rabe, doch ein Rabe spazierte heimlich an der Hütte entlang und holte die Brötchen direkt an der Eingangstür! Ein Vogel lief sogar durch den Schnee zur Hintertür, wo es nichts zu fressen gab. Es war keine schlechte Woche. Ich habe erfahren, dass drei Vögel nicht genug sind, um Zugang zum Futter eines Revierpaares zu erzwingen, dass sie es jedoch heimlich, etwa unter dem Schutz eines Schneesturms, fressen können. Ich vermute, dass hier in der Gegend nicht genug Raben zum Rekrutieren sind. Möglicherweise sind sie bei einem toten Elch in Rangeley oder sonst wo. Oder ist dies eine kleine Gruppe, die meint, dass sie eine Chance hätte, es selbst zu schaffen, ohne Mitbewerber zu rekrutieren?
Warum mutig sein? Mut bedeutet, Risiken für ein höheres Ziel einzugehen (das heißt für das soziale Wohl oder wenigstens für einen späteren Lohn). Ich will dies zumindest als grobe Definition geben, weil ich diskutieren möchte, ob einige Raben mutig sind oder nicht und warum. Es gibt wahrscheinlich keinen Mut ohne Furcht. Und wir haben in diesem Buch genug Beweise, dass Raben, vor allem junge, sehr ängstlich sind. Das heißt, sie vermeiden Risiken. Raben gelten durchaus nicht als dumm und werden, gerade weil sie Risiken vermeiden, für intelligent gehalten. Wenn man einem Raben Furcht zuschreibt, ohne ihn deswegen zu vermenschlichen (1ch will es wagen), kann man auch das Thema Mut versus Dummheit vorbringen. Im gesamten Buch haben wir gesehen, dass Raben sowohl Risiken eingehen als auch soziale oder zumindest gesellige Tiere sind. Meine zahmen Raben zeigten eine fast paranoide Angst vor jedem behaarten oder gefiederten und vor jedem neuen oder seltsamen Gegenstand; einige der Vögel vermieden diese neuen und riskanten Objekte, bis ein anderes Individuum sie genau überprüft hatte. Das interessante dabei ist, dass während der eine Vogel sie ängstlich vermied, ein anderer frech aus der Reihe tanzte und sie untersuchte, selbst nachdem ich ihn absichtlich mit den verlockendsten Delikatessen überfüttert hatte, bis er keinen weiteren Bissen mehr schlucken konnte. Ich wollte sicher sein, dass er das Risiko nicht aus Hunger einging. Die herumziehenden Vögel in der freien Natur begegnen Risiken. Gefahren können
an jedem zufälligen Kadaver lauern, und der erste Rabe dort sieht sich der Wucht einer Aggression der Verteidiger ausgesetzt. Dies lässt vermuten, dass es für mutige Raben noch einen großen sekundären Wert neben dem Fressen gibt. Doch was bedeutet das für den einzelnen? Zuallererst natürlich kommt es anderen zugute, mutige Individuen in der Nähe zu haben. Auch in unserer Gesellschaft schätzen wir Tapferkeit, weil sie uns letztendlich nützt, und wir haben uns eine Möglichkeit ausgedacht, sie zu fördern. Wir stecken den Mutigen besondere Medaillen an, so dass sie leicht identifiziert werden können, sie erhalten Belohnungen und einen höheren Rang mit den entsprechenden Vorteilen. Es wäre überraschend, wenn Mut bei einzelnen Raben nicht irgendwie erkennbar wäre und belohnt würde. Ich prüfe diese Möglichkeit im Hinblick sowohl auf Risiken wie auf Belohnungen. Zusätzlich zu der Gefahr, sich einem leblosen Körper zu nähern, der tot sein kann oder auch nicht, gibt es noch eine zweite, näher liegende Gefahr, die von den Fleischfressern, die schon von dem Kadaver fressen, ausgeht. Wie viel sollten Vögel riskieren, um von dem, was der Wolf getötet hat, zu fressen? Allgemein wird von fleischfressenden Tieren berichtet, dass sie bemerkenswert tolerant mit Raben umgehen. Richard Nelson schreibt: »Wölfe scheinen an ihrer Beute Raben kaum zu beachten. Wenn sie [die Raben] Wölfe bei einem toten Tier entdecken, landen sie fast zwischen ihnen, flattern um das Fleisch herum und beschmutzen es mit ihren Exkrementen. Schlittenhunde handeln ebenso, als ob die um sie herumhüpfenden Raben nicht
existierten. Selbst der Vielfraß soll nichts tun, um Raben zu vertreiben, die neben ihm landen und sein Futter stehlen.« Das ist das statistisch vielleicht am häufigsten verbreitete Szenario. Doch diese Art von Statistik ist nicht relevant für einen Raben, für den es reicht, einmal gefangen und getötet zu werden. Die 99,5 Prozent der Fälle, in denen ein Wolf tolerant ist, zählen kaum. In Maine werden Raben im Allgemeinen nicht von Kojoten angegriffen, aber sie könnten angegriffen werden. Dave Lidstone, ein Holzfäller in der Nähe meines Studienplatzes, fand einmal eine Stelle im Schnee, wo ein Kojote einen Raben an einem Elchkadaver getötet hatte. Trotz gegenteiliger Evidenz wird sich ein Rabe kaum einer Gefahr aussetzen und sich irgendwelchem beliebigen Fleisch nähern, das vielleicht noch nicht tot ist. Die Mehrzahl der Kadaver, zu denen Raben in der freien Natur Kontakt haben, werden von fleischfressenden Tieren beschafft, und diese großen Säugetiere –Bären, Wölfe, Kojoten und Füchse—sind gewöhnlich noch in der Nähe. Manchmal schützen sie ihr Fleisch sogar vor den Raben. Meine Studien haben gezeigt, dass Raben, wenn sie an einem Kadaver rekrutieren, das Fleisch meist sehr schnell fressen. Wenn das Raubtier, das die Beute tötete, den Kadaver nicht bewacht, muss es bald wieder auf Jagd gehen. Es ist also zu erwarten, dass fleischfressende Raubtiere ihre Beute aktiv verteidigen. Tatsächlich hat Laurel Duquette, die ihre Magisterarbeit über die »Porcupine«-Karibuherde in Alaska schrieb, Wölfe beobachtet, die »hochsprangen und nach den Raben schnappten«, als diese versuchten, sich einen Anteil an der Beute zu sichern. Jane L. Dorn sah Raben, die
an Kadavern vor Kojoten zurückwichen; wenn ein Rabe sich anschlich, um einen Bissen zu schnappen, wurde er angegriffen. Pat Balkenberg vom Alaska Department of Fish and Game erzählte mir, dass er Grizzlybären sah, die auf Kadavern schliefen, um sie zu schützen, vermutlich vor Raben. Die Bären schlugen nach den Raben und rempelten sie an, im Allgemeinen, »ohne ihnen zu schaden, da die Raben zu beweglich sind«. Ellen Hawkins beschreibt die Geschichte eines verletzten Wolfes in Minnesota, der zwei Wildkadaver verteidigen wollte: »Die Raben werden mutiger, und er [der Wolf] kann es kaum aushalten, sie an seinem Wild zu sehen. Sie kommen von den umstehenden Bäumen, auf den Kadaver, an dem er gerade nicht ist, und er muss schnell hinüber, um sie hochzujagen. Sie fliegen kurz auf, doch sie kommen gleich wieder, lassen sich auf dem anderen Tier nieder, und er muss wieder zurück.« Als der Wolf schwächer wird, überlässt er den Raben einen Kadaver und verteidigt den anderen, indem er sich darauf legt. Außerdem sah der Naturforscher R. 0. Pedersen einen Wolf, der einen Raben bei einem Elchkadaver tötete. Wie ich erwähnt habe, ist einer der von mir markierten wilden Raben jetzt im Zoo, nachdem er von einem Wolf in einem Freigehege verletzt wurde. Es ist eindeutig ein Risiko, Raubtieren an einer Beute zu nah zu kommen, sonst würden die Raben (zumindest in Maine) zusammen mit Kojoten zur gleichen Zeit an den Kadavern fressen und nicht abwechselnd. Nun kommt das Rätsel. Trotz der Risiken scheinen sich einige Raben absichtlich in Gefahr zu begeben. Die Heinroths beobachteten, dass ihr zahmes Rabenpaar gleichzeitig
extrem scheu und extrem kühn war. Zum Beispiel machte sie eine Fahne, die keine hundert Meter von ihrem Käfig entfernt herausgehängt wurde, fast wahnsinnig, und sie flatterten stundenlang in Panik gegen ein Fenster. Allerdings griffen sie Besucher und auch große Tiere im Berliner Zoo an, einschließlich Elch und Bison. Die Erklärung der Heinroths ist, dass die Vögel eine mögliche Beute »testeten«, um festzustellen, ob sie schwach war oder gefressen werden könnte. Ich verwerfe diese Hypothese aus mindestens drei Gründen: i. Die Raben waren gut gefüttert und deswegen wahrscheinlich nicht durch Hunger motiviert; 2. die Vögel wussten wahrscheinlich nicht, dass ein Bison gutes Futter ist; 3. das Verhalten zeigte sich, als sie adult waren und nicht früher. Raben müssen an den Köder herankommen, um zu fressen, und man könnte argumentieren, dass die tapfersten die hungrigsten sind. Die Naturfotografen Jim und Kathy Bricker nahmen Wölfe an Kadavern in Kanada auf, die in der Nähe eines Unterstands ausgelegt worden waren, und sahen dabei Interaktionen zwischen Raben und einem Weißkopfseeadler sowie mit einem Fuchs. Die Raben schlichen sich mehrmals von hinten an den Fuchs, der sie immer wieder wegscheuchte. Das spielte sich ab, unabhängig davon wie lange die Raben vor der Ankunft des Raubtiers gefressen hatten. Selbst nachdem die Raben gefressen hatten und der Kadaver einsam dalag, wiederholten die Raben ihre Annäherungen, wenn ein Raubtier kam. Die Brickers beobachteten, »dass die zwei Vögel, die die mutigsten waren, auch diejenigen waren, die nicht gefressen hatten, bevor die Raubtiere erschienen«. Kathy Bricker schreibt: »Ich bekomme allen Ernstes den Eindruck, dass das Herausfordern der Eindringlinge weniger aus Hunger
geschieht, als um die eigenen Rabengefährten mit Wagemut zu beeindrucken. Vielleicht sind dies Männchen, die den Weibchen ihre Ritterlichkeit demonstrieren wollen.« Ich habe mir die Filme der Brickers von den Raben und dem Seeadler beim Kadaver angesehen, und es besteht kein Zweifel, dass mutige Vögel sich aufplustern und ihre Federn sträuben, also das klassische Imponierverhalten balzender Männchen zeigen. David Bruggers vom Bell Museum der University of Minnesota sah im nördlichen Minnesota sechs Raben, die in fünf Meter Entfernung zu einem Kadaver landeten, von dem ein Rauhfußbussard fraß. »Der größte der Raben schlenderte zu dem Kadaver und dem Bussard, schlich sich vorsichtig näher, stellte dann [vermutlich ein Männchen] seine ‚Ohren‘ hoch, sträubte sein struppiges Kehlgefieder und flog langsam zu seinen Gefährten zurück, die sich nun im Halbkreis schreiend um ihn versammelten, während er anfing, würgende Geräusche zu machen, und dabei die Flügel hob und senkte. Gelegentlich hörten die kleineren Raben mit Schreien auf, dann ging er zurück zum Kadaver und wiederholte die Vorstellung.« Die ruckartigen Bewegungen sind die typischen Verbeugungen des männlichen balzenden Raben. Die Hypothese, dass Kühnheit den Status vergrößert, wird von anderen aasfressenden Corviden, der europäischen Rabenkrähe, Corvus corone, direkt gestützt. Eine Studie von Tore Slagsvold vom Zoologischen Museum in Oslo zeigte, dass es unter den Männchen einen Wettstreit gab, wenn er einen ausgestopften Uhu auf dem Boden in der Nähe der Krähen aufstellte; sie kämpften um das Privileg, ihn anzugreifen! Gewöhnlich führte eine einzelne Krähe den Angriff an und versuchte, die anderen
Herausforderer (die Plebs) zu vertreiben. Es sah aus, als ob die Krähen um das Vorrecht zu imponieren kämpften. Slagsvold stellte ausgestopfte Krähenmännchen und Krähenweibchen in der Nähe des Uhus auf, und die aktivsten unter den Krähen griffen nicht den Uhu, sondern das ausgestopfte Krähenmännchen an. In zehn von elf Fällen, in denen es ihm gelang, den aktivsten Anpöbler zu töten, stellte es sich heraus, dass es ein adultes Männchen war. Diese Ergebnisse waren schwer zu akzeptieren, weil sie allen Theorien des »Hassens« (= Anpöbeln) widersprachen. Auch hatte es bisher keine Theorie gegeben, dass Männchen ihren Status und Paarungserfolg durch demonstrative »Kühnheit« vergrößern. »Kühnheit« bei Corviden ist sehr gut bekannt, doch wird sie in der Literatur unter »Spiel«-Verhalten behandelt. Der Wolfforscher L. David Mech zum Beispiel zitiert ganz speziell das »spielerische« Verhalten des Raben: Als das Rudel [Wölfe] durch einen Hafen [auf Isle Royale, Michigan] zog, wollten einige sich länger aufhalten, und vier oder fünf Raben fingen an, sie zu belästigen. Die Vögel stürzten auf den Kopf oder Schwanz der Wölfe herab, der Wolf duckte sich und sprang den Raben nach. Manchmal jagten die Raben die Wölfe, indem sie direkt über ihren Köpfen flogen, und einmal watschelte ein Rabe auf einen liegenden Wolf, hackte in seinen Schwanz und sprang dann zur Seite, als der Wolf nach ihm schnappte. Als der Wolf zurückschlug und sich an den Raben heranpirschte, ließ ihn der Rabe bis auf 30 Zentimeter herankommen, bevor er aufflog. Dann landete er knapp hinter dem Wolf und
wiederholte das Spiel. Ich habe meine zahmen Krähen ähnlich mit einem Hund umgehen sehen, der darüber nicht erfreut war. Es wäre interessant, einmal herauszufinden, ob Corviden so agieren, wenn kein Publikum in der Nähe ist, und ob solche tollkühnen Aktionen Erfolg bei der Aufrechterhaltung oder Vergrößerung des Status und bei der Paarung haben oder nicht. Betrachten wir die Lage der Raben im Winter: In der Brutzeit muss das Männchen Kadaver organisieren, weil er das brütende Weibchen, wenn nicht ganz, so doch teilweise zu versorgen hat. Was bestimmt seine Nahrungssuche? Zunächst die Fähigkeit, ein Territorium zu beherrschen, was von der Dominanz über andere Vögel abhängt, die entweder auf das Territorium selbst oder die dortigen Futterquellen Anspruch erheben. Zweitens die Fähigkeit, Kadaver zu finden, was wiederum von scharfen Augen und kraftvollen Flügen über große Entfernungen abhängt. Drittens Mut (oder Erfahrung), sich Objekten zu nähern, die fressbar sind, ohne dass man dabei getötet wird. Alle diese Fähigkeiten wären wichtig für einen Partner, wenn man sich fortpflanzen möchte, und es scheint, dass es einen Beweis für alle diese Fähigkeiten gibt: Wenn ein Männchen einen potentiellen Partner zu einem Kadaver bringen und zeigen kann, dass er (und sie ebenso) davon fressen kann. Doch Kadaver sind selten, eine Gelegenheit für solche Demonstration bietet sich nicht immer. Also zeigt das Männchen seine Qualitäten an irgendeinem Ersatz. Ein Vogel, der einen lebenden Wolf anschleicht, wird sicher auch so mutig sein, sich einem Kadaver zu nähern. Der entscheidende Beweis seiner Stärke ist
die Nahrung, die er beschafft, und bei Raben hängt Fressen oft von Mut ab, der wiederum durch Erfahrung erworben wird. In der Rabengesellschaft trennt er die »Männer« von den »Knaben«.
Geschäftliches und Komplexes Da ich nun zurück mich wandte und mein Herz wie Feuer brannte, hört’ ich abermals ein Pochen, etwas lauter denn vorher. »Ah, gewiß«, so sprach ich bitter, »liegt’s an meinem Fenstergitter; Schaden tat ihm das Gewitter jüngst – ja, so ich’s mir erklär’; — schweig denn still, mein Herze, laß mich nachsehn, daß ich’s mir erklär’... Edgar Allan Poe, Der Rabe 9. JANUAR 1988. Bevor ich zum Camp hinauffahre, halte ich bei den Grahams, um nachzufragen: »Was gibt es Neues im Franklin-Land?« Mike kichert und sagt: »Nichts. Außer vielleicht die Kuh, die gestorben ist.« Ich gehe sofort in den Wald hinter seinem Haus, um die braune Guernsey zu finden, jetzt beinhart gefroren. Sie ist völlig unberührt, obwohl sie nur wenige hundert Meter von dem Grahams-Farm-Rabennest entfernt liegt. Nach einer Stunde mit der Axt habe ich genug Fleisch freigelegt. Jetzt können die Raben mit dem Festschmaus beginnen. Falls Raben kommen, möchte ich sehen, ob sich Markierte vom letzten Jahr zeigen und wie das Revierpaar mit den anderen umgeht. Ich muss auch mehr darüber herausbekommen, welche Vögel Fleisch verstecken und welche vokalisieren. Ich möchte fotografieren. Zu guter Letzt möchte ich auch nach Unerwartetem ausschauen, das fast immer auftaucht und einem eine andere Perspektive liefert. Es hat keinen Tag beim
Rabenbeobachten gegeben, an dem ich nicht etwas Neues gesehen hätte. Das ist es, was mich antreibt. Wie Pascal sagt: »Die perfekte Klarheit nützt dem Intellekt und schadet dem Willen.«. Ich werde noch für viele Jahre den Willen haben. 14. JANUAR. Im Gegensatz zum letzten Mal sehe ich keine Raben, als ich an der Bethel-Müllgrube vorbeifahre, und ich bin sehr neugierig, was mich bei Grahams Kuh erwartet. Wir hatten einen Rekordkälteeinbruch. Die Temperaturen sind immer noch bei minus 32 Grad, und der viele Schnee ist sehr trocken. Meine Füße werden nicht nass, also macht mir das Gehen im Schnee nichts aus, vor allem, wenn ich dabei bin, einen Trupp Raben zu sehen. Eindeutig – etwa zehn fliegen hoch, ohne Alarm zu geben, als ich mich nähere. Die Kuh ist etwa zur Hälfte aufgefressen. Brent Ybarrondo und Jim Marden, meine beiden Doktoranden aus Vermont, sind mitgekommen, um mir bei der Installation eines richtigen Heizofens (es ist Zeit!) und beim Heraufschleppen von 500 Pfund Fleisch zu helfen. Die Kälte motiviert uns, den Ofen in Rekordgeschwindigkeit aufzubauen. Er funktioniert! Wir bekommen oben in der Hütte fast backofenähnlich 15 Grad. Ein Rekord. Nur leider ist der neue Ofen mit irgendeiner schwarzen Farbe angestrichen, die unangenehme Dämpfe verströmt. So sind wir heute Nacht ein paar Stunden draußen im Schnee, unter leuchtend klarem Himmel, und braten unsere Steaks am offenen Feuer bei minus 28 Grad. Wir haben »Johnny« in einem Flachmann mitgebracht und lassen ihn herumgehen. »Er« ist draußen in der Kälte schnell alle. Und das Steak war das Beste in den vielen Jahren, die wir hier
waren. 15. JANUAR. Der Ofen ist am Morgen noch warm – das gab es noch nie. Ich frage mich, wie ich die letzten drei Winter ohne ihn überstanden habe. Um 9.10Uhr fliegt ein Rabe schweigend vorbei, um den 500-Pfund-Fleischhaufen zu inspizieren, sitzt dann ein paar Minuten in einem Baum, bevor er weiterfliegt. Drei Blauhäher, zwei Haarspechte und ein Hermelin mit schwarzer Schwanzspitze machen ihre Freßrunden. Später am Morgen prüfen wir die zwölf Köder, die im Umkreis von 33 Meilen an denselben Stellen wie letztes Jahr ausgelegt wurden. Die drei entferntesten Köder wurden von sehr vielen Raben völlig weggeputzt, nach den Spuren zu schließen, muss es vor mindestens zwei Tagen gewesen sein. Bei zwei weiteren haben die Scharen gerade angefangen zu fressen, etwa ein halbes Dutzend Vögel fliegt hoch, als wir näher kommen. Sechs wurden nur von ein oder zwei Vögeln aufgesucht. An dem Köder mit den vielen Raben haben Kojoten gefressen. Dieser Befund ergibt ein nahezu identisches Muster mit dem vom vergangenen Jahr. 21. JANUAR. Ich verlasse Vermont um 17.30 Uhr und fahre die Nacht durch, um gegen 22.00 Uhr in der Hütte zu sein. Als ich aufsteige, habe ich eine Vorahnung, dass die 500 Pfund Fleisch nicht viele Vögel angezogen haben, sonst würde ich schon Spuren auf dem Weg finden. Ich habe recht – keine einzige Rabenspur findet sich bei dem
Fleisch. Welche Enttäuschung. Es ist seltsam, wie sehr ich Raben sehen möchte, wo ein Ausbleiben doch genauso informativ ist. Es zeigt, dass die Zusammenkünfte nicht nur zufällige Zusammenkünfte sind. 22. JANUAR. Ich wache um 7.00 Uhr auf und höre zu meiner Überraschung wenige Minuten später Raben. Sie rufen mehrmals, und ich sehe acht vorbeifliegen. Nach ihrer Inspektion verschwinden sie wieder. Sie wussten eindeutig von diesem Köder. Etwa eine Minute nach diesem Vorbeiflug sehe ich, wie zwei Raben sich jagen. Dann ist alles still. Ich gehe zu dem Kuhkadaver, den ich mit Schnee bedeckt hatte. Doch die Raben haben ihn zum Teil ausgegraben und fressen, nur zwei fliegen hoch, als ich mich nähere. Ich arbeite mehr als zwei Stunden, um den Rest des Kadavers auszugraben und einen Unterstand in etwa zehn Meter Entfernung zu errichten. Er besteht aus zwölf Tännchen, die in den Schnee gesteckt sind, innen flechte ich ein Gitter aus Tannenzweigen zwischen den Stämmen. Dem Guckloch gegenüber habe ich eine zwei Meter lange Allee aus Tannen aufgesteckt, so dass mein Kameraobjektiv im Dunkeln verborgen bleibt. In zwei Tagen werde ich soweit sein, Fotos von den Raben zu bekommen und sie ganz nah zu sehen! Nachdem den ganzen Tag nichts mehr passiert, gehe ich am Spätnachmittag zu Larry Wattles, der mich mit hinauf nach Taylor Hill nimmt, wo Anne Moody lebt. Mrs. Moody hatte Peter Cross, einem Biologen aus Maine, der die Information an mich weiterleitete, berichtet, dass sie rot und weiß markierte Raben gesehen habe. Ich hatte Cross von
meinen markierten Raben erzählt. Diese Sichtungen waren besonders bedeutungsvoll, weil sie mich zu einem Schlafplatz führten, der, wie sich herausstellen sollte, ein verhältnismäßig dauerhafter Schlafplatz war. Larry Wattles, die Moodys und Clarence Nutting, ein Trapper, der auch auf dem Hügel lebt, bestätigen alle, dass der Schlafplatz seit mindestens zwei Jahren jeden Herbst für ein oder zwei Monate besteht. Er liegt 15 Luftmeilen, die die Raben ja fliegen, von meiner Hütte entfernt, und vorausgesetzt, dass sie um den Mount Blue kurven, der direkt in der Mitte liegt, stimmt die Richtung mit vielen der morgendlichen Ankünfte im letzten Frühjahr überein. Ich erfahre auch, dass die Raben nicht jede Nacht dort sind. Heute ist eine der Nächte, in denen sie fort sind. Wattles berichtet, dass sie die seltsamsten Geräusche machen, die er je gehört hat, wenn sie sich kurz vor der Dämmerung niederlassen. »Es klingt wie ein Zirkus.« Heute ist alles ruhig. Ich bin in Hochstimmung. Ich habe wieder etwas gelernt. Mit der Annahme, dass die hiesigen Schlafplätze nur temporär seien, hatte ich mich geirrt. Solche Schlafplätze sind wohl bei temporären Futterstellen, weit entfernt vom Hauptschlafplatz. (Dies wurde später mehrfach bestätigt.) Von diesem Schlafplatz gelangen die Vögel zu den Müllhalden. 23. JANUAR. Es ist eine windstille Nacht mit einer Viertelmondsichel und Unmengen von Sternen. Das Jaulen-Seufzen-Bellen eines Kojoten kommt von Gammon Ridge. Ich antworte mit meiner besten Imitation. Der Wolfkojote antwortet. Und so rufen wir hin
und her. Ich stehe früh auf, um zu sehen, ob wieder Raben zum Prüfen des Fleisches kommen. Ich mache mir keine Hoffnungen, weil ich annehme, dass die Vögel, die gestern Morgen vorbeikamen, sich direkt zu Grahams Kuh begeben, die vermutlich ihre erste Wahl ist. Und tatsächlich lässt sich kein Rabe sehen, während ich bis 9.00 Uhr beobachte, obwohl einer ruft. Die Kuh zieht alle Aktivitäten an. Als ich um 9.30 Uhr dorthin komme, fliegen etwa zehn Raben fort, Zeichen des Fressens sind zu sehen. Ich krieche in mein kaltes und enges Versteck, von wo meine einzige Aussicht nur durch das 400-Millimeter-Objektiv möglich ist. Nach etwa zwei Stunden höre ich schwere Flügelschläge. Ein Rabe landet auf einem nahen Baum und beginnt, verwirrend vielfältige Laute von sich zu geben. Doch nach nur zehn Minuten fliegt er weg. Mir wird kälter. Mein rechtes Bein ist eingeschlafen, doch gerade als ich versuche es auszustrecken, höre ich erneut Flügelschläge. Ein Rabe ist ganz nah gelandet. Dann noch einer, und noch einer — ich glaube, dass zwischen sechs und zehn angekommen sind. Sie sind ziemlich still, außer dass ich hier ein leises Gurgeln, dort einen klaren, klimpernden, wohlklingenden Ruf höre und dann plötzlich den lauten juvenilen Schrei. Ein weiterer Vogel schließt sich an. Jetzt sind sie wieder still, ich höre sie rundum picken und dazu das »Dudeln« der Vögel in den Zweigen. Ein Zweig fällt herab, ein Stück Rinde. Raben, anders als Krähen, sind unermüdliche Dudler. Ihre Schnäbel sind ständig
in Bewegung, wenn sie faulenzen. Dann fliegen alle plötzlich aus unersichtlichen Gründen fort. Eine halbe Stunde später versammelt sich wieder eine Schar. Schließlich fliegt ein Vogel herunter. Gepflegt und munter, geht er, die Federn flach am Kopf, zum Köder. Ein anderer Vogel kommt fast sofort herunter. Dieser hat einen geplusterten Kopf, also ist es nicht sein Partner. Der Flachkopf greift den Plusterkopf an. Plusterkopf springt zur Seite und verschwindet, als ob er plötzlich Angst hätte. Auch Flachkopf fliegt weg. Noch viermal versammelt sich die Gruppe, und jedes Mal höre ich Schreie, aber kein Trillern. Nur zweimal kommen zwei Vögel, und wenn nur diese beiden da sind, höre ich sowohl Klopfen wie Trillern, jedoch keine Schreie. Später sind zwei Vögel da (zumindest einer davon mit rosa Rachen), von denen einer trillert und demonstrativ männliches Imponierverhalten vor einem Weibchen zeigt (Verbeugungen und Klopfen). Ein Paar balzender Junger! Wenn Gruppen da sind, höre ich gewöhnlich die territorialen Rufe, vermutlich die Herausforderung des Revierpaares. Oft gibt es auch kraftvolle Jagden und die Verteidigungsrufe, die Raben bei agonistischen Interaktionen von sich geben, während sie in den Bäumen sitzen. Noch zweimal kommt ein einzelner flachköpfiger Vogel herunter und nähert sich dem Köder, doch keiner aus der Gruppe folgt. Zum vierten Mal fliegt ein Vogel etwa 15 Meter von dem Köder entfernt auf den Waldboden und fängt an, durch das Unterholz darauf zuzugehen. Ich höre seine Schritte im Schnee knirschen. Aber er ist noch keine zwei oder drei Meter weiter, als ich durch ein kleines Guckloch in den Zweigen sehe,
wie ein anderer Vogel herabfliegt und ihn vertreibt. Dann fliegen alle Vögel fort, und ich höre wieder die Jagdrufe in der Ferne. Nach fünf Stunden, um 14.30 Uhr, ist es wieder völlig ruhig. Kein Rabe ist in der Nähe, und meine Füße sind taub. Ich kann aufstehen und fortgehen. Es macht Spaß, in dem schweren Schnee durch den Wald zu rennen. Schließlich stehe ich außer Atem vor der Hütte, doch das kommt wohl nicht vom Laufen. Fünf Stunden Stillsitzen in der Kälte fordern ihren Tribut. Ich weiß nicht, warum sie nicht zum Fressen herunterkommen. Ich vermute, dass zwei Dinge zusammentreffen. Wenn meine Arbeit mit den zahmen jungen Raben einen Hinweis gegeben hat, dann den, dass die Jungen am meisten Angst vor Ködern hatten. Vielleicht sind sie in der Klemme: Sie würden sich gerne dem dominanten Adulten anschließen, der zeigt, dass der Köder sicher ist, aber wenn sie es tun, könnten sie angegriffen werden. Heute hätten die Adulten ein leichteres Leben gehabt, da die Jungen ja schon verscheucht worden waren, weil entweder ich oder meine Kamera ihren Verdacht erregten oder weil sie vielleicht schon an einem der anderen Fleischhaufen gefressen hatten. Wenn man Risiko und Gewinn abwägt, könnten sich umherstreifende und Reviervögel, die miteinander in Konflikt zu stehen scheinen, auf lange Sicht gegenseitig helfen. Die sehr dominanten Reviervögel können an jedem Köder fressen, den die Herumziehenden entdeckt und sie selbst vielleicht noch nicht gesehen haben – sie können nie ausgeschlossen werden. Tatsächlich könnten sie im, Schutz der Menge auch von den
Delikatessen ihrer Nachbarn naschen, von denen sie sonst, außer durch die Aktivitäten der Menge, nichts wissen würden und zu denen sie alleine keinen Zugang hätten. Und wenn die Zeiten rauher werden und die Reviervögel vielleicht ihr Territorium verlassen, haben sie die Option, sich den Zugvögeln am Schlafplatz anzuschließen. Wie ich es sehe, ist die Strategie der umherstreifenden Vögel die elementare, die Broterwerbsstrategie. Wenn man ein Reviervogel ist, der sich selbst gut versorgen kann, ist man ein reicher »Aristokrat«; aber man kann jederzeit überfallen werden und wird es vielleicht auch, doch normalerweise gibt es Sperren. Die Angreifer streben nach dieser Position. Sie haben keine andere Strategie. Sie ist stimmig: Mache A wenn möglich, wenn nicht, fahre mit B weiter. Wo so komplexe Vorgänge denkbar sind, sollten »unstimmige« Beobachtungen nicht unerwartet sein, vor allem in einem hoch entwickelten System, oder bei einem Vogel, der möglicherweise intelligent genug ist, um die Folgen abzuschätzen. 24. JANUAR. Vielleicht sind sie gestern nicht zum Fressen gekommen, weil sie mich beim Betreten des Unterstands gesehen haben. Heute will ich ihnen zuvorkommen. Ich stehe um 5.00 Uhr auf, frühstücke und gehe um 6.00 Uhr durch den Wald, beladen mit zwei in ein Tuch eingewickelten heißen Ziegelsteinen, Butterbroten und einem Holzklotz zum Daraufsitzen. Ich bemühe mich, nicht zu rennen, um nicht zu schwitzen, es wäre bei diesen Minustemperaturen lebensgefährlich, wenn ich den ganzen Tag bewegungslos in nassen Sachen herumsitze.
Um 6.3 5 Uhr richte ich mich im Luxus meines Unterstands ein, und das ist kaum zu früh. Um 6.5o Uhr höre ich die schweren Flügelschläge. Da es noch dunkel und daher risikolos ist, schiebe ich die Zweige zur Seite und sehe sechs Raben in den Bäumen um mich herum. Es können sogar mehr das ein. Sie kamen schweigend, und so bleibt es. Man hört sie nur auf die Zweige picken, ihr Gefieder schütteln und wie sie den Schnabel zum Putzen durch die Federn ziehen. Es klingt wie knisterndes Papier, als ob man die Seiten eines Buches umblättert. Um 7.09 Uhr hört man ein paar kurze, rauhe Quorks. Mehrere Vögel fliegen fort. Einige Minuten später folgt ihnen der Rest, schweigend. Sie fliegen Richtung Osten, und sehr bald höre ich Jagdrufe aus dieser Richtung. Ist es das? Warum gab es hier keine Schreie? Warum nicht das geringste Anzeichen, dass sie an den Köder wollten? 7.18 Uhr. Ein einsamer Rabe taucht auf, macht ein paar rauhe Quorks und hüpft nach weniger als fünf Minuten zum Fressen herunter. Er muss von dem Revierpaar sein. Er frisst, als ob es sonst kein Problem auf der Welt gäbe. Nach sieben Minuten höre ich etwas, was wie ein Revierruf klingt. Ein zweiter Vogel fliegt herunter und schließt sich dem ersten, ohne zu zögern, an. Der erste pickt unverdrossen weiter, und beide futtern, ohne sich überhaupt zu beachten. Definitiv ein Paar. Beide haben die »weichen« Federn von nichtimponierenden Vögeln. Sie fressen schweigend bis 7.36 Uhr. Es wirkt auf mich, als ob sie gewartet hätten, bis die juvenile Schar fort wäre. Vielleicht haben sie vorher gewacht. Ich wünsche mir zu sehen, was geschähe, wenn die Jungen jetzt zurückkämen.
7.41 Uhr. Mein Wunsch geht in Erfüllung. Zwei weitere Vögel kommen an, dann ein dritter, schließlich sind sechs beim Fressen. Ein oder zwei schreien. Mehr Vögel fliegen herbei, doch sie sitzen in den Bäumen, es sind zwanzig, vielleicht dreißig. Dann schreien drei von ihnen fast ununterbrochen von 7.44 bis 7.59 Uhr. Ich zähle etwa einen Schrei pro Sekunde. Das ergibt mindestens ein paar hundert Schreie. Die übrigen kommen immer noch nicht nach unten. Ein Rabe, ganz oben mitten auf der Kuh, droht mit Imponiergehabe – »Hosen«, Federohren und blinkende Nickhäute. Doch ich bin nicht sicher, ob es ein neuer Vogel ist oder einer von dem Paar, der jetzt sein Verhalten geändert hat. Einen Moment später fliegen alle mit Riesenflügelgeknatter hoch. Der Rest in den Bäumen fliegt mit ihnen fort. Was ist passiert? Hat einer von ihnen doch das Kameraobjektiv gesehen? Ich glaube, dass Raben besonders sensibel auf runde und glänzende Gegenstände wie das Auge eines Objektivs reagieren. Augen haben besondere Bedeutung. Gwinner beschreibt, dass sich Raben, auch wenn sie erbittert kämpfen, nie gegenseitig in die Augen picken. Bei ihren Streitereien beobachtete ich, wie sie so tun, als ob sie in die Augen picken wollten, aber es nie machen. Wenn sie allerdings ein großes totes Tier finden, picken sie ihm immer die Augen aus. Bei meinen Käfigraben war der Blickkontakt bei allen Interaktionen extrem wichtig. Wenn ich ein paar Tage weg gewesen war, scharten sie sich direkt am Fenster zusammen, um mich zu sehen, doch sobald meine Augen sich von ihnen abwandten, fanden sie eine andere Beschäftigung. Es ist 8.00 Uhr. Alles ist still. Ein rotes Eichhörnchen huscht in der Nähe, ein Specht
hämmert. Zwei Stunden lang kein Rabe. Um 10.02 Uhr höre ich plötzlich einen sehr lauten Raben aus der Ferne näher kommen. Er hockt sich nur kurz hin, gibt hohe ununterbrochene, rauhe Quorks von sich, eine endlose, eng zusammenhängende Folge, nur durch die Betonung variiert. Gelegentlich sind gurgelnd-klopfende Geräusche dazwischen. Innerhalb einer Minute fliegt er zum Fressen herab. Ich sehe seinen Rachen mehrmals durch mein Objektiv (aber ich löse heute nicht aus, weil ich Angst habe, den Vogel zu vertreiben), es ist eindeutig ein helles Rosa – ein Junger. Allerdings ist seine tiefe rauhe Stimme einem Erwachsenen angemessen. Versucht er, das Territorium zu beanspruchen? Nachdem er mit Fressen fertig ist, hüpft er in eine Baumkrone über dem Köder und fährt mit seinen lauten Vokalisierungen fort. Um 10.12 Uhr fliegt er fort. Ich kann ihn noch sechs Minuten im Flug rufen hören und sehe, wie er sich dann etwa eine halbe Meile von hier niederlässt. Die Rufe verhallen in der Ferne. Um 10.45 Uhr ist er zurück, macht nur einen kurzen Stopp, bevor er wieder seine Runden zieht. Die Reviervögel können diesen Raben kaum übersehen, er macht keinen Versuch, sich zu verstecken. Warum wird er geduldet? Ist es ihr Junges aus dem Vorjahr? Wonach ruft er? Um 13.50 Uhr fliegen zwei Raben herbei, schweigend. Ich höre sehr weiche gurgelndklopfende Töne. Nach einer Minute fliegen die Vögel fort, so schweigend wie sie kamen. Die Reviervögel bei ihrer Kontrolle? 14.10 Uhr. Ein Vogel kommt schweigend, hockt 15 Sekunden in den Bäumen und
fliegt schweigend fort. 14.46 Uhr. Ich höre wieder den bekannten lauten Raben von weitem kommen! Er verhält sich so wie die beiden vorigen Male, doch diesmal fliegt er nicht zum Fressen herunter. Um 14.56 Uhr kommt er noch einmal, hockt oben, ruft nochmals und blickt in die Runde. Wonach hält er Ausschau? Drei Minuten später fliegt er fort und ruft in der Ferne weiter, bis etwa 15.06 Uhr, als er wieder zurückkommt. Man kann ihn durch seinen Lärm schon von weitem orten. Inzwischen sind sechs Raben gekommen, schweigend. Jetzt beginne ich, Schreie zu hören, und beide Schreier haben rosa Rachen. Wo sind jetzt die Adulten? Hat diese ganze Unruhe sie nicht aufgescheucht? Die sechs gehen herunter zum Köder und fressen von 15.o6 bis 15.27 Uhr. Keiner zeigt einen gesträubten Kopf oder das adulte Imponierverhalten. Ich sehe keine agonistischen Interaktionen. Es gibt keine Jagden. Nach dem Fressen hocken sie in den Bäumen, um 15.43 Uhr fliegen sie schweigend fort, einer nach dem anderen. Es fängt an zu schneien, die Dämmerung bricht herein. Gerade als ich aus meinem Bau kriechen will, höre ich ein merkwürdiges Geräusch in den Bäumen über mir – ein Schnabelschnappen, schnell gefolgt von einem gurgelnden Schluckauf, etwa ein Dutzend Mal. Dann macht der Vogel mehrere rauhe Quorks und verschwindet in derselben Richtung wie die anderen. Es ist 16.oi Uhr. Ich habe keine Erklärung für das, was heute geschah. Warum gab es nicht mehr adulte Interaktionen hier am Köder? Zögern die Adulten, ihr unmittelbares Nistrevier zu verlassen, weil es gerade wichtiger ist, dort zu bleiben,
als hier einen spezifischen Fleischhaufen zu verteidigen? Ich hörte die rauhen, tiefen Revierrufe des Grahams-Farm-Paares mehrmals von ihrem Nistplatz, den ganzen Tag, einmal eine halbe Stunde lang fast ununterbrochen aus der Nähe ihres Kiefernwäldchens, selbst als die umherziehende Schar hier in der Nähe der Kuh war. Wenn sie alleine sind, sind diese Vögel an ihrem Nest gewöhnlich ruhig. Aus der Ferne hörte ich auch Rufe, die wie die des Hills-Pond-Paares klangen; ich war im Zweifel, ob ich individuelle Stimmvariationen oder einen spezifisch adulten Ruf gehört hatte. Imitieren sich benachbarte Vögel gegenseitig? Und wenn ja, warum? Doch was kann wohl die bizarren Unterschiede bei den umherstreifenden Jugendlichen erklären? Warum war der eine von ihnen, der ganz allein war und keine Angst zeigte, zum Köder herunterzukommen, so überaus laut, und warum kam er immer wieder, ohne zu fressen? Ich bin verwirrt, weil es so viele Komplikationen gibt, die ich noch gar nicht zu ergründen begonnen habe. Doch selbst wenn ich alle Regeln ihres Optimumverhaltens herausfinde, heißt das noch nicht, dass jedes Individuum sie befolgt. Doch schließlich – tun es die Menschen? 25. JANUAR. Heute Morgen erwarte ich, dass sie an den Köder kommen. Ich kann es kaum erwarten, wieder hinaus in meinen Unterstand zu gehen. In der Nacht hat es geschneit, und ich kehre den Schnee von der Kuh. Gegen 6.34 Uhr. Ich sitze entspannt in meinem Unterstand. Die Vögel kommen zwischen 6.45 und 6.48 Uhr. Sie kommen schweigend, mit einer
Ausnahme – ein Rabe gibt ein paar rauhe, lange Quorks von sich, als er anfliegt. Danach, bis 7.05 Uhr, hört man es nur wie Papier knistern, wenn sie ihre Schnäbel durch die Federn ziehen, und viel Federschütteln. Man könnte glauben, dass hier überall Vogelbäder sind. Es scheint, als ob sie wieder nur ihre Morgentoilette machen. Wenn sie Interesse am Futter hätten, würde ich eine Menge Schreie hören, doch ich höre nur einen Vogel sehr kurz schreien. Sind die Reviervögel auf Wache? Plötzlich macht ein Rabe ein paar tiefe weiche Grunzrufe, dann noch einer und noch einer – und alle fliegen wie gestern gen Osten fort. Ich denke, dass die kurzen, sanften, tiefen Grunzer ein »Folg-Mir«- oder Flugsignal sind, weil ich sie auch hörte, als sie sich einem Köder näherten. Sind sie zu einem anderen Köder geflogen? Fünfundvierzig Minuten lang ist alles still, dann kommen zwei sehr laute Vögel. Sie machen aufgeregte Quorks, fliegen zu einer kurzen Inspektion herum und 15 Sekunden später fort, zurück in das Grahams-Nistgebiet. Dort höre ich ein paar Triller und viele von den stereotypen Klopfgeräuschen. Um 7.58 Uhr kann man den inzwischen vertrauten » Sänger« aus der Ferne kommen hören , mit demselben Konzert schneller, zusammenhängender Quorks, Gurgler und Klopfgeräusche. Das hält er 14 Minuten lang durch, dann fliegt er Richtung Westen, von wo er gekommen war. Heute frisst er hier nicht einmal. Ich warte bis 9.00 Uhr. Nichts weiter. Diese Ergebnisse hatte ich nicht erwartet. Ich hatte nicht gedacht, dass der lärmende Jungvogel weiter allein bleibt. Und ich hatte ebenso wenig erwartet, dass so viele Vögel
zusammen auftauchten. Gibt es sowohl individuelle Vagabunden als auch kleine Gruppen von ihnen? 28. JANUAR. Vor zwei Tagen hat es etwa 30 Zentimeter geschneit, man wird alle frischen Spuren sehen können. Ja, sie haben während der letzten drei Tage reichlich von der Kuh gefressen. Beim Fleischhaufen an der Hütte sieht es ähnlich aus. Morgen werde ich endlich zu meinen Fotos kommen. Nur um sicherzugehen, stehe ich um 5.00 Uhr auf, ich will wieder vor Tagesanbruch im Unterstand sein. Dummerweise hatte ich vergessen, wie schwer es ist, sich im Tiefschnee zu bewegen. Es kommt zu einem Wettlauf im Schnee mit dem Eintreffen der Raben, während es langsam hell wird. Als ich es schließlich geschafft habe, triefe ich vor Schweiß und breche erschöpft zusammen. Doch ich bin pünktlich. In den nächsten zehn Minuten höre ich keine Rabenschwingen. Wie zuvor sitzen sie in den Bäumen und putzen sich. Dann macht einer von ihnen rauhe lange Quorks. Nicht gut. Der Vogel klingt aufgeregt. Tatsächlich, nach einer Minute fliegen alle weg. (Meinetwegen oder wegen der Quorks?) Es ist noch nicht einmal 7.00 Uhr. In den nächsten zwei Stunden wird die Kälte fast unerträglich. Ich versuche mein Bestes, mache ein paar isometrische Übungen, doch die Schmerzgrenze ist bald erreicht. Die Gruppe kommt nicht zurück; nur ein oder zwei völlig ruhige Vögel und ein Paar, das klopft, man vernimmt auch territoriale Quorks. Es ist ein Rätsel, dass sie nicht fressen. Nun, es gibt immer noch das Fleisch auf dem Feld bei der Hütte.
Wie ich gehofft hatte, sind etwa zwanzig Raben bei der Hütte, als ich dorthin komme. Einer sieht mich den Pfad heraufsteigen und macht kurze, nasale, fast grunzende Töne. Ich tue, als ob ich von der Hütte weggehe, während alle fortfliegen, bevor ich dann umkehre und eintrete. Gegen 10.30 Uhr hat einer sich dem Fleisch zweimal genähert. (1ch beobachte durch einen Riß im Teppich, der zur Verdunklung am Fenster hängt.) Nach dem zweiten Versuch, das Fleisch ist noch nicht angerührt, hockt er sich in einen Baum und singt. Um 11.35 Uhr höre ich die tiefen, rauhen Revier-Quorks, dazu die mehr singenden Hills-Pond-Quorks, und ich sehe eine Jagd auf einen weiß markierten Vogel. Der Weißmarkierte fliegt talabwärts, und innerhalb von 20 Minuten frisst ein Junger mit seinem rosa Rachen! Vier weitere kommen jetzt näher, doch der Fresser bleibt nur eine halbe Minute, sieht auf und flieht, offensichtlich beunruhigt. Alle anderen folgen sofort. Unten im Jeep habe ich 200 Pfund Fleisch in Reserve. Vielleicht ist jetzt die Zeit, es für ein kleines Experiment zu nutzen. Wenn die Raben Angst vor der Kamera haben, müssten sie an einem Fleischhaufen weiter weg fressen. In der Nacht mache ich einen zweiten Fleischhaufen, doppelt so weit von der Hütte entfernt wie der erste. Es ist anstrengend, die Last eine halbe Meile steil bergauf durch den Tiefschnee zu tragen. Nach der letzten Ladung bin ich schweißgebadet und erschöpft, schwer keuchend stürze ich in den Schnee und überlege, wie viele Verhaltensforscher solche Kraftakte im Schnee wohl wiederholen könnten. Nach diesen Strapazen muss es eines der schönsten Vergnügen sein, ins Bett zu fallen, und es gibt nichts, was ich jetzt lieber täte.
30. JANUAR. Wegen meiner Erschöpfung wache ich erst um 7.00 Uhr auf. Ich will heute sowieso in der Hütte bleiben. Eine Gruppe von acht Raben ist um 8.30 Uhr in der Nähe, und man hört viele juvenile Schreie. Niemand frisst. Ich höre auch die territorialen Quorks. Der weiß markierte Hills-Pond-Vogel ist hier und jagt ziemlich rabiat einen unmarkierten Vogel. Ein Vogel bleibt, während alle anderen fortfliegen, und sitzt über dem neuen Fleischhaufen. Dort singt er etwa zehn Minuten lang. Er hat kleine Federohren und ist nicht markiert. Von 9.45 bis 12.30 Uhr ist ein fast flachköpfiger Vogel, mit kleinen »Ohren« und einem ganz schwarzen Rachen sehr dicht bei der Hütte und den Ködern, er macht wieder und wieder die typischen hellen Klopfer. Ein adultes Weibchen. Ich bin überrascht, weil W 4 das Revierweibchen ist. Später am Morgen sehe ich, wie sich ihr ein anderer Adulter nähert, als sie die Klopfgeräusche macht, die beiden gehen sehr tolerant, wenn nicht liebevoll miteinander um. Sind zwei Paare in der Nähe dieses Köders? Warum tolerieren sie sich und auch die Jungen? Fürchten sie den Köder so sehr, daß sie nicht die ersten sein wollen, die ihn prüfen? Nach einer Folge von Klopfgeräuschen gegen io.00 Uhr fliegt sie zu dem näher gelegenen Haufen, direkt darauf, ohne zu fressen. Um 12.30 Uhr sehe ich mindestens vier Raben in der Nähe, und diese vier (der »Klopfer« ist darunter) machen mehrere Ausflüge in das Gebiet und hocken sehr nah am Köder. Nach einer halben Stunde fliegen alle fort. Drei weitere erscheinen kurz gegen 15.00 Uhr, und das ist alles an diesem Tag. Ich muss morgen bleiben, denn der ganze Aufwand, Fotografien zu machen, wäre
umsonst, wenn ich jetzt aufgebe. 31. JANUAR. Ich erwarte, dass sie heute früh kommen oder gar nicht, also stehe ich zeitig auf. Letzteres passiert, ausgenommen natürlich das Paar, doch auch hier gibt es eine Überraschung. Um 6.4o Uhr fliegt ein Rabe vorüber und zu einem hohen Aussichtspunkt auf dem Hügel. Ein anderer schließt sich 14 Minuten später an. Ich sehe sie zweimal zusammen und höre es einmal klopfen. Es ist ein Paar. Um 7.41 Uhr wird die Stille durch die typischen singenden Revier-Quorks unterbrochen. Ich hatte sie für die des Hills-Pond-Paares gehalten, doch jetzt sehe ich, wie derselbe Vogel auf einmal die tiefen rauhen Quorks macht, die ich dem Grahams-Farm-Paar zugeschrieben hatte. Offensichtlich kann ich Individuen nicht unterscheiden, aber vielleicht machen sie sich wirklich gegenseitig nach. Gleich nach dem Rufen fliegt ein Vogel talabwärts, gefolgt von einem zweiten, dann einem dritten. Darauf hört man Jagdrufe. Bis 11.30 Uhr ist alles still, nur ein oder zwei Vögel kommen vorbei, um eine Serie von singenden Revier-Quorks zu machen. Jetzt hockt ein Paar dicht beieinander im Rotahorn. Zu-erst macht einer von ihnen zahlreiche Klopfserien (1ch kann den unteren Schnabel bei jedem Klopfer herauf- und herunterklappen sehen), dann putzt er den anderen. Ich höre auch viele der weichen Koselaute. Doch zu meiner großen Überraschung stelle ich wieder fest, daß keiner der beiden markiert ist. Ich hatte immer gedacht, daß dies das
Revier von W 4 und ihrem Gefährten wäre. Vorher hatten sie hier exklusiv gefuttert und ihr Fleisch energisch verteidigt. Wo sind sie jetzt? Sind sie anderswo bei einem besseren Fleischhaufen? Haben sie aufgegeben? Um 12.06 Uhr fliegt einer von den beiden schweigend fort. Der andere macht tiefe, rauhe, aufgeregte Quorks, trillert etwa zehnmal, gefolgt von weichen, kurzen nasalen Quorks. Um 12.17 Uhr schreit er sehr nasal und fliegt talabwärts. Diese Vögel zeigten nicht das geringste Interesse an dem Fleisch. Kamen sie nur zum Sozialisieren hierher? Sicher werden heute keine Scharen kommen. Wieder keine Bilder.
Vom Käfigbauen Viele meiner Fragen werden wahrscheinlich nicht beantwortet, wenn ich diese scheuen, durch große Räume frei fliegenden Vögel nur in der freien Natur erforsche. Ich muss sie auch in einem Käfig studieren, der groß genug ist, damit sie das Verhalten, das wir erforschen wollen, entwickeln können, und dabei klein genug, dass wir es beobachten und einige der Varianten kontrollieren können. Wenn man über einem brandheißen Forschungsprojekt sitzt, kann man es nicht monatelang sich selbst überlassen und warten, ob man Unterstützung bekommt oder nicht. Stiftungen fürchten riskante (das heißt interessante) Projekte. Wenn andere nicht schon etwas Ähnliches gemacht haben, werden sie oft als uninteressant oder nicht machbar betrachtet. So kann ich nicht auf Förderungsmittel warten, um die Anlage zu bauen. Ich habe nicht einmal die 6000 Dollar, um den Maschendraht für das Riesengatter bezahlen zu können. Doch ich leihe es mir von der Universität mit dem Versprechen, es zurückzuzahlen, sobald ich das Geld bekomme. Grund und Boden sowie Hunderte von Baumstämmen für das Gerüst bekomme ich umsonst, und hoffentlich wird auch die Arbeit kostenlos sein. Um die Rabenvoliere zu bauen, habe ich eine Reihe gigantischer Rabenkäfig-Partys auf dem Hügel bei Camp Believe it geplant. Ich verschicke Einladungen an alle Leute hier aus der Gegend und bis nach Kalifornien. Jede Party wird ein großes Ereignis, und als Hauptköder bieten wir Lamm am Spieß.
Das erste dieser denkwürdigen Feste fand am 31. August 1987 statt, und meine vorrangige Aufgabe war es, ein Lamm zu organisieren. Zweitens brauchten wir einen Bulldozer, um die 133 Rollen des über 20 Meter langen und 1,20 Meter breiten Maschendrahts hochzuhieven, dazu Bauholz, Nägel, ein Fenster, ein Ofenrohr, Teerpappe und anderes Material. Weit und breit gab es in der Gegend keinen Holzhandel oder Baugeschäfte, die mehr als 30 Rollen Maschendraht auf Lager hatten. Ich sprach mit jemanden von einer Holzhandlung in East Wilton, Maine. Könnten sie den Draht in der Fabrik bestellen und mich sofort anrufen, falls es irgendwelche Probleme geben sollte? »Ja, wir bestellen ihn gleich.« – »Gut. Ich möchte 133 Rollen.« Zwei Wochen später, das magische Datum rückt näher, habe ich immer noch nichts gehört. Ich rufe nochmals an. »Ist der Draht da?« – »Nein. Wir brauchen Ihren Scheck, um die Bestellung aufzugeben.« Es war nicht leicht, der Universität so schnell einen Scheck zu entlocken, zuerst musste ich eine Rechnung von der Holzfirma vorlegen. Ob sie mir die Rechnung aus Maine noch heute per Eilboten schicken könnten? »Ja.« Die Rechnung kommt vier Tage später an, mit normaler Post. So ging es hin und her, und es wurde Freitag, knapp vor der großen Rabenkäfig-Party, als ich endlich die Zusage erhielt, dass meine Bestellung am nächsten Morgen um 9.30 Uhr zum Verladen bereit sei. Mit Danny Proctor, meinem Bulldozer-Chauffeur für 30 Dollar die Stunde, fuhr ich zum Aufladen hin. Die Lieferung war noch nicht fertig und wurde erst um 11.30 Uhr bereitgestellt – alles, was da war. Sie hatten nämlich nicht alles. Es fehlten auch etliche Kilometer Draht, die wir für die
Verbindungen brauchten. Ich merkte, dass ich sehr wenig Geduld habe. Es gelang uns schließlich, irgendwo anders Draht aufzutreiben, genug, um anzufangen. Vor Wochen hatte ich einen Weg durch den Wald zu unserer Baustelle geschlagen, und jetzt manövrierten Danny und Dalton Proctor sich hoch, den schweren Anhänger mit dem Holz und 90 Rollen Maschendraht im Schlepp. Kurz nachdem sie wegfuhren, zogen Wolken auf, und dann begann es zu regnen. Die Wettervorhersage für das große Wochenende sagte mehr Regen voraus. Es war der erste Regen seit Monaten. Inzwischen hing das gehäutete Lamm von der großen Birke vor der Hütte. Schwärme von Wespen rissen bereits Fettstückchen ab, um ihre Larven zu füttern. Doch es war kühl. Das Fleisch würde sich bis morgen halten. Ich bin schwer beschäftigt mit der Kettensäge und fälle Bäume, wir fangen an, das Gelände auf dem Hügel hinter der Hütte vorzubereiten. John Marzluff war aus Arizona hergeflogen und Alice Calaprice aus New Jersey. Beide bekamen gleich im Regen die Aufgabe, Baumstämme aus der Lichtung zu schleppen. Andere Freunde aus der näheren Umgebung, die mir schon früher geholfen hatten, waren auch jetzt wieder dabei. Elsie Morse kam von der Küste und brachte verschiedene Tüten mit köstlichen selbstgemachten Schokoladenkeksen mit, mehrere frische Brotlaibe und ihre spezielle Müslimischung zum Frühstück. Der inzwischen promovierte Schwede Ola Jennersten, damals an der Brown University, kam wieder und schleppte dieses Mal eine riesige Kiste Moosehead-Bier. Eine andere Freundin, Leona DiSotto, stiftete acht Dutzend Doughnuts, die sie gebacken hatte, ihr Mann Henry
hatte voll Arbeitseifer schon die Ärmel aufgekrempelt. Dann fielen weitere Nachbarn und drei Wagenladungen mit Studenten der University of Vermont ein. Ich machte mir ein bisschen Sorgen, dass ein Bär mitten in der Nacht kommen und das Lamm abschleppen könnte, und erschrak, als ich gegen 22.00 Uhr Schritte hörte. Es war Charlie, der noch spät kam, um gleich in der Frühe mit dabeizusein. Sein Freund Scott sollte in ein paar Stunden folgen. Ich wachte bei Tagesanbruch auf und hörte die Quorks des Raben, der immer seinen Revierruf gibt. Ich achte täglich darauf. Doch an diesem Morgen hörte ich noch einen anderen Ton: Scott taumelte in die Hütte. Er war noch nie hier gewesen und hatte in der pechschwarzen Nacht nur die Hälfte des Weges geschafft. Als er gegen Bäume lief, glaubte er, vom Weg abgekommen zu sein. Schließlich fühlte er weichen Boden unter den Füßen und legte sich hin, um dort die Nacht zu verbringen. Sein Kopf befand sich zufällig genau über einem unterirdischen Wespennest. Er lag direkt mit dem Ohr darüber und glaubte zuerst, in der Ferne Lastwagen donnern zu hören. Er änderte seine Position ein bisschen, schlief ein, wachte noch vor den Wespen auf und setzte seinen Weg fort. Ein echter Mainer. Es nieselte am Morgen, und ich konnte draußen kein Feuer machen, um Wasser für den Kaffee zu kochen. Wir aßen alle knuspriges Müsli, frische Doughnuts und Kekse und gingen dann ungeduldig an die Arbeit. Bald arbeiteten zwei Mannschaften mit Volldampf. Ola überwachte das Team, das die Beobachtungshütte in der Mitte des Käfigkomplexes aufbaute, und John Marzluff
aus Arizona, der später mit mir an dem Rabenprojekt arbeiten würde, die Errichtung der Freivoliere. Wir arbeiteten zwei Tage lang ununterbrochen. Ja, es kann gemacht werden. Ja, es wird gemacht. Es ist gut, anzufangen. Ich bin aufgeregt bei der Aussicht auf den neuen Zugang zu dem Problem, der sich mit dieser Ausstattung ergibt. Es regnet fast den ganzen Tag. Aber wir sind so intensiv bei der Arbeit, dass wir selbst bei den schwersten Güssen nur kurz unterbrechen. Charlie hält das Feuer in der großen Grube vor der Hütte am Brennen. Mittags legen wir das Lamm an einem langen Spieß über die Kohlen. Jetzt ist es Charlies neue Aufgabe, das Feuer zu kontrollieren, das Lamm zu wenden und mit unserer Mischung aus Olivenöl, Zitronensaft, Oregano, Salz und Pfeffer einzureiben. Am Abend versammelt sich die Runde, wieder munter geworden, um die Grube, und jeder schneidet sich ein Stück Lamm ab, wir öffnen die Bierbüchsen und verputzen alles. Der Himmel beginnt aufzuklaren. Die Milchstraße leuchtet als glitzernder Schweif am Himmel, und wir rücken näher an die Glut, begleitet von Billy Adams’ Gitarre. Für alle wurde es einer der schönsten Abende, an den wir uns noch lange erinnern. Bei der dritten Käfigbau-Party dieses Jahres hatten wir fast den ganzen Komplex fertig, John, seine Frau Colleen und ich vollendeten den Bau. Leute, die ihn jetzt sehen, sagen: »Ungeheuer!« Und das ist es. Eine Voliere aus 133 Rollen Maschendraht, für die 225 Ahorne gefällt werden mussten, nur um sie zu halten, und sie hat etwa eine halbe Meile Durchmesser. Sie ist auch, ich weiß es nur zu gut, ein großes Wagnis, egal wie man es nimmt. Ich kann keine Ergebnisse garantieren und werde es nicht. Für mich ist
Forschung Erkundung und deshalb immer ein Wagnis. Wenn sie verspricht, etwas Unbekanntes zu entdecken, hat sie auch etwas von einem Glücksspiel. Doch bis jetzt ist das Projekt nur ein fernes Leuchten. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Substantielle Forschung jeglicher Art ist ohne dieses Leuchten nicht möglich, ganz gleich, wie fundiert das Konzept oder die Pläne sind. In der Zwischenzeit geht die Feldforschung so weiter wie bisher.
Die letzten Runden »In dies Haus, von Grau’n umhangen — sag’s mir ehrlich, bitt’ dich sehr — gibt es — gibt’s in Gilead Balsam? — sag’ s mir — sag mir, bitt’ dich sehr!« Sprach der Rabe, »nimmermehr«. Edgar Allan Poe, Der Rabe Das Projekt nähert sich dem Ende des vierten Winters; das Geheimnis liegt jetzt offen genug, um ein Muster zu zeigen — und viele Fragen. Wenn ich mit der Veröffentlichung warten würde, bis alle auftauchenden Fragen geklärt wären, würde nie irgendetwas erscheinen, weil die Forschung ad infinitum weitere Fragen aufwerfen wird. Irgendwo muss man eine Grenze ziehen und resümieren. Dies ist eine gute Zeit, weil ich viel, viel weiter gegangen bin, als ich es bei diesen so wenig fassbaren Vögeln je im Traum für möglich gehalten hätte. Die ursprüngliche Frage wurde beantwortet: Raben rekrutieren. Zusätzlich habe ich eine ganz gute Evidenz, wie und warum. Dies sind Entdeckungen, die es wert sind, berichtet zu werden. Ein detaillierter technischer Bericht wird nach Deutschland zu Professor Hubert Markl, dem Herausgeber von Behavioral Ecology and Sociobiology, geschickt. BES ist vermutlich die beste Zeitschrift, in der die Kollegen die Ergebnisse lesen und evaluieren können. Bevor sie zur Veröffentlichung angenommen werden, müssen sie stark gekürzt werden, um in dem kostbaren Raum der Zeitschrift Platz zu finden. Es fällt schwer, so viel
wegzulassen und die Zusammenhänge konzentriert darzustellen, ohne dass atmosphärische Verzweigungen verlorengehen. Mein Schluß: Es gibt zahlreiche Beispiele in der Natur, bei denen die Tiere sich im Kampf um die Ressourcen verbinden, um dominantere Individuen, die über die Ressource verfügen, zu überwinden. Doch natürlich tun die Raben viel mehr — sie rekrutieren aktiv, wenn sie eine gute Ressource finden. Ihr System mag einige Gemeinsamkeiten mit bestimmten menschlichen Bräuchen haben, die sich unter ähnlichen ökologischen Zwängen entwickelt haben. Zum Beispiel die ‚Kung-Buschmänner‘ in der Kalahari. Jede Gruppe von Buschmännern, die von wilder pflanzlicher Nahrung (veldkos in Afrikaans) und großem Wild lebt, bewohnt ein großes Territorium. Es gibt keine soziale Verpflichtung, bei den veldkos zu teilen. Das Fleisch der großen Tiere wird allerdings von der Gruppe verteilt. Das Biwak der Gruppe gleicht dem Schlafplatz der Raben, von hier schwärmt die Jagdgesellschaft mit einem bis fünf Mitgliedern, wie die Raben, in verschiedenen Richtungen aus und sucht nach wertvollem Wild. Erfolgreiche Jäger rekrutieren andere zu ihrer Jagdbeute, gewinnen dadurch Rang und die Qualifikation zur Ehe. Im letzten Jahr haben Marzluffund ich ein Forschungsprojekt für die National Science Foundation (NSF) vorbereitet, zur Förderung einer Studie über das Rekrutieren und die sozialen Interaktionen der Raben in der Riesenvoliere, die wir gebaut haben. Wir wollen die Hypothese testen, dass Rekrutieren hohen Status verleiht, der bei der Gewinnung einer Gefährtin nützlich ist.
Die schlechte Nachricht ist, dass unser Stipendium nicht gewährt wurde. Es gab einige hervorragende Gutachten und einige negative. Schließlich sagte das Gremium: »Nur wenige unserer Mitglieder sind überzeugt, dass Heinrich das, was er plant, tatsächlich vollenden kann.« Die gute Nachricht war, dass ich zusätzliche Mittel vom NSF erhielt, so dass ich mit der bereits begonnenen Arbeit mit der markierten Population der wilden Vögel fortfahren konnte. Ich rief sofort John an, und zwei Tage später kam er von Arizona geflogen. Wir beschlossen, Raben zu fangen und definitiv herauszufinden, ob die Vögel sich im Käfig normal verhielten. Denn dann könnten wir argumentieren, dass Käfigstudien machbar waren, und einen revidierten Vorschlag rechtzeitig zum Termin 13. Juli vorlegen, der die Bedenken der Gutachter berücksichtigen würde. 14. FEBRUAR 1988. John war jetzt eine Woche in der Hütte, und der Köder, den ich vor zwei Wochen ausgelegt hatte, zog schließlich eine Menge Raben an. Er hat den Köder in die Falle gebracht und rief an, um zu sagen, dass die Vögel jetzt hineingehen. Es ist Zeit für ein weiteres Rabentreiben, also fahre ich sofort von Vermont hinüber. 15. FEBRUAR. Kurz vor der Dämmerung lassen wir die Falle zuschnappen und fangen zwanzig Raben. Wie erwartet, fliegen die Vögel zuerst gegen den Draht, nachdem wir sie in die große neue Voliere gebracht haben, doch nach einer Stunde sammeln sich bereits einige zum Fressen an dem großen Fleischhaufen, den wir für sie bereitgestellt
haben. Unter ihnen ist Y 1, das einzige überlebende Junge aus der Grahams-Farm-Brut, die ich letztes Frühjahr markierte. Es ist so aggressiv und dominant im Käfig, wie es vor ein paar Tagen draußen am Köder war, berichtet John. Wieder ist einer von unseren wandernden Jungen ein sehr dominanter Vogel. Könnte das ein Muster sein, auf das man achten sollte? Am Abend geben die Vögel eine Vorstellung, die Applaus verdient. Alle zwanzig versammeln sich an einem gemeinsamen Schlafplatz in der großen Balsamtanne innerhalb des Käfigs, sie bilden einen dicken Klumpen. Ein Schlafplatz der Gefangenen! Morgen können wir einen Beobachtungsturm direkt bei dem Schlafplatz errichten, um zu sehen, wer mit wem zusammenhockt, und um genauer festzustellen, wie Vögel mit Beuteerfolg agieren und reagieren. Wir werden eine Tür öffnen (verborgen in der Beobachtungshütte, die wir neben dem Käfig gebaut haben) und einen Raben in einen benachbarten Käfig lassen, bis er den dort versteckten Kadaver findet – entweder in einen Käfig mit einem sich verteidigenden Revierpaar oder alleine. Wenn dieser Rabenkundschafter am Abend wieder an den Schlafplatz möchte, werden wir ihn zurückgehen lassen und auf die Signale achten, die er vielleicht gibt. Es wird so ähnlich sein wie die Beobachtung der Rekrutierungstänze von Bienen in einem Bienenkorb. 1. MÄRZ. Große Neuigkeiten! John rief gerade an und erzählte von seiner Arbeit in den vergangenen zwölf Tagen in der Hütte in Maine mit den zwanzig gefangenen Raben. Das Experiment war ein voller Erfolg. Zuerst: Alle Flügelmarkierungen hielten. Es war gut, diesen direkten Beweis zu haben
und damit den möglichen Verdacht auszuschalten, dass das Verschwinden der umherziehenden Vögel aus dem Studiengebiet lediglich seinen Grund in verlorenen Flügelmarkierungen oder Fußringen hatte. Doch das Beste war, dass die Vögel sich in unserem Käfig nicht nur natürlich verhielten – sie schienen ihn zu mögen oder sich dort sicher zu fühlen. Als sie später freigelassen wurden, entfernte John einen großen Teil des Drahtes und legte den Köder einen Meter außerhalb des Käfigs. Die Vögel gingen zum Fressen aus dem Käfig und danach direkt wieder hinein, obwohl einige von ihnen außerhalb umhergewandert waren. Das Leben der Raben ging offensichtlich seinen normalen Gang. Ein Paar putzte sich gegenseitig und blieb zusammen. Zwei vorher nicht verbundene Adulte, die Gefährten außerhalb gehabt hatten, gingen anscheinend eine neue Partnerschaft ein. Klar ist, dass Raben sich anpassen. Sie fanden reichlich Futter, der Käfig war für sie eine gute Sache. Wir sammelten unerwartete Informationen über ihr Sozialleben. Nachdem der Käfig geöffnet worden war, flogen nicht alle fort – zwei Raben versuchten sogar hineinzukommen! Tatsächlich kamen sie herein, und so waren jetzt nicht nur zwanzig, sondern 22 im Käfig. Die Fremden wurden allerdings feindselig behandelt und rabiat gejagt. Das heißt, dass Raben, obwohl sie Wandervögel sind, sehr schnell soziale Bindungen eingehen (und offensichtlich wieder aufgeben), um Gruppen zu bilden und aufrechtzuerhalten. Hier hatten wir eine Demonstration desselben Phänomens wie bei der Verteidigung der Köder gegen Fremde, doch diesmal von Jungvögeln, die gezwungen waren, an einem Platz zu leben, der den Eindruck erweckte, »ständig« mit
gutem Futter versorgt zu sein. Ich bin sehr aufgeregt, weil ich jetzt darauf vertraue, dass wir die Zweifel aus den Köpfen der Gutachter vertreiben können, wenn wir unser Forschungsprojekt erneut vorlegen. Die Käfigstudien entwickeln sich definitiv als riesiger Gewinn für die Entzifferung von Details der Verhaltensmechanismen. 5. MÄRZ. Dies könnte das letzte Rabentreiben der Saison sein, und wie gewöhnlich brauche ich Hilfe. Und wie gewöhnlich gibt es eifrige Studenten, einige der hartgesottenen kommen wieder herauf und helfen uns. Als wir am späten Nachmittag den Hügel hinaufsteigen, wirkt der Platz verlassen. Das ganze Fleisch, das Henry Di-Sotto und John daließen, ist weg. Der Waldboden ist überall zerfurcht von den Fußspuren der Raben, aber es sind keine da. Werden sie morgen kommen? Ich habe das Gefühl, dass wir einen oder zwei Tage zu spät kommen. Werden sie morgen einfliegen? Wir sitzen nachts noch lange um den neuen Holzofen. 6. MÄRZ. Um 5.30 Uhr bin ich in meinem Unterstand, um auf jeden Fall bereit zu sein. Ein Paar kommt. Einer macht tiefe Quorks und geht dann über zu den ähnlichen, dabei deutlich zu unterscheidenden langen Singsang-Quorks. Es gibt keine Schreie, obwohl doch etwa 200 Pfund neues Fleisch in der Fälle liegen. Viele Vögel versammeln sich. Immer noch keine Schreie. Vielleicht ist die Menge groß genug und deswegen keine weitere Rekrutierung nötig? Jeder Vogel hat jetzt Zugang.
Bald gehen die Raben in die Falle. Einmal sind mindestens zwanzig darin, aber gerade als ich den Draht ziehen will, fliegen fünf hinaus. Ich warte, bis ein paar mehr hineinkommen. Inzwischen fliegen weitere weg. Ein Vogel ruft, wie ich es noch nie gehört habe. Etwa eine Stunde lang beobachte ich den Durchgangsverkehr. Ich muss mindestens 100 Vögel gesehen haben, doch nur einen markierten, einen grünen. Es ist ein Jungvogel, der dieses Jahr markiert wurde. Nach etwa zweistündigen Bemühungen, eine größere Anzahl in die Falle zu bekommen, und dem Ausschauen nach markierten Vögeln stelle ich fest, dass die Zahl in der Falle nicht größer wird. Ich ziehe den Draht, und die Tür knallt zu. Die Beute sind zwölf Raben. Die Altersverteilung ist typisch: acht Junge, zwei Subadulte und zwei Adulte. Das Markieren ist jetzt schon Routine. Seltsamerweise riefen die beiden gefangenen Adulten, als wir sie freiließen. Einer (W 26), der in Richtung des Grahams-Farm-Nestes flog, machte die so charakteristischen hohen kurzen Stakkato-Rufe, wie sie Raben sonst machen, wenn man sich ihrem Nest nähert. Denkt er an das Nest, zu dem er zweifellos zurückkehrt? Er hatte einen kurzen Schnabel, wahrscheinlich ist es ein Weibchen. Der zweite Adulte (W 25) machte lange hohe Rufe. Beide riefen wiederholt. Das ist sehr ungewöhnlich, keiner der 98 anderen hat je bei seiner Freilassung gerufen. Wir beenden das Markieren und lassen alle Vögel noch vor Mittag frei. Ich habe jetzt den Köder aus der Falle genommen und lege ihn auf einen Haufen, den wir von der Hütte aus beobachten können. Den ganzen Nachmittag sehen wir, wie die Raben über
das Fleisch fliegen. Nur einer landet zum Prüfen und fliegt dann fort. Ich sah eine lange Jagd, die typische Jagd, die man kurz vor Beginn eines Freßzyklus sehen kann. Diesmal war ich sehr überrascht, dass der gejagte Vogel markiert war. Dann bemerkte ich die Farbe: grün, ein Junger. 7. MÄRZ. Ich nehme an, dass heute mehr Raben kommen werden als gestern, weil gestern viele von ihnen ungestört an einem großen Fleischberg fraßen. Als es hell wird, strömen sie herbei. Ich höre Schreie. Vor 6.00 Uhr haben sich etwa fünfzig (alle unmarkiert) in den Bäumen und am Boden um die Falle, in der gestern das ganze Fleisch war, versammelt. Ich habe es jetzt in der Nähe der Hütte ausgelegt, wo ich leichter beobachten kann. Doch diese Vögel gehen dorthin, wo sie gestern gefressen haben, statt dass sie zu dem neuen Fleischhaufen kommen, den sie bestimmt sehen oder bei ihrer Ankunft entdeckt hatten. Der Fleischhaufen bleibt mindestens eine Stunde lang unberührt. Da es Anfang März ist, ziehen die Krähen. Eine Gruppe von etwa zehn findet den Fleischhaufen, und innerhalb einer Minute sind sie unten und fangen mit Fressen an. Sekunden später ist ein Rabe unten, dann kommen noch mehr. Die Krähen wirken nicht sehr aufgeregt, doch sie hüpfen zur Seite, als diese Sturzflut von Raben kommt. Bald sind es zwanzig, dann fast fünfzig. Jetzt spazieren die Krähen am Rand der Gruppe entlang oder sitzen in den nahen Bäumen. Soweit ich es sehen kann, schenkt ihnen keiner der Raben die geringste Beachtung. Doch untereinander beachten sie sich intensiv, hüpfen und rempeln sich am
Köder. Es gibt fast keine territorialen Quorks und keine Schreie. Während alle fressen, höre ich einen Jungen mit den typischen hohen Rufen, die sie machen, wenn sie von Überlegenen angegriffen werden. Dieser eine Vogel bleibt mindestens 15 Minuten bei seiner Klage und wandert dabei ununterbrochen zum Köder hin, von ihm weg und um ihn herum. Es ist G 2, ein später Gast beim Festmahl. Wie gewöhnlich, sind die sich brüstenden Gockel da, die ungestraft überall herumgehen und fressen, wo sie wollen. Ich sehe auch Vögel mit stark aufgeplusterten Köpfen, die sich vor ihnen verbeugen, mit den weißen Nickhäuten blinken und Klopfrufe machen: Es sind einzelne Weibchen, die mit den dominanten (vermutlich schon verheirateten) Männchen balzen. Zuerst dachte ich, dass es die Partnerinnen der Männchen seien. Doch dann fiel mir ein, dass die Weibchen jetzt brüten müssen und dass ich ein solches weibliches Verhalten hier nie bei einem bekannten Revierpaar sah. Auf jeden Fall scheinen ihnen die Männchen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Früher im Winter sahen die richtigen Paare ganz anders aus: beide zeigten Federohren, und die Weibchen putzten die Männchen. Nichts davon jetzt. Diese Weibchen richten nicht die »Ohren« auf und machen sich groß. Stattdessen verbeugen sie sich vor den großen Männchen. Meine zwei gefangenen Jungvögel verbeugten sich auch voreinander, wobei das Männchen vor dem Weibchen das »Würgeverhalten« zeigte, bei dem Kehlund Kopfgefieder besonders stark geplustert sind, auch wenn die Federohren nicht gezeigt werden. Alles in allem bestärken diese Beobachtungen meine Interpretation,
dass Imponierverhalten nicht identisch mit Balzverhalten ist, wie es die Literatur behauptet. Damals im Winter produzierten sich die verheirateten Paare nicht voreinander, stattdessen versuchten beide, den Umstehenden Angst einzujagen. Kein einziger der 63 Jungen, die wir im letzten Jahr markiert hatten, tauchte auf. (Doch wir sahen vier im nächsten Winter.) An diesem Morgen waren nur die in diesem Jahr markierten Vögel am Köder. Insgesamt waren es nur zwei von fünf Adulten (W 8 und W 11) und drei von sechzehn Jungen (G 2, G 12, G 23), markiert am 17. Februar. (Ein anderer, am 17. Februar markierter Junger, G To, zeigte sich im nächsten Herbst.) Zwei der juvenilen Fresser, die wir erst gestern markiert hatten (G 27, G 28), kamen heute wieder. All das stützt meinen früheren Schluss, dass die Jungen das Gebiet nicht verlassen, weil sie gefangen oder markiert worden waren. Sie kommen im Gegenteil meist bald nach der Gefangennahme und dem Markieren zurück zum Köder. Später ziehen sie dann fort, auch wenn weiter für Futter gesorgt ist. Einige können wieder zurückkommen, doch das mag Zufall sein. 11. MÄRZ. Um 16.00 Uhr gehe ich den Hügel hinauf, lange bevor es dunkelt. Nur ein Rabe fliegt auf. Von den 250 Pfund Fleisch, die ich vor vier Tagen hier gelassen hatte, ist fast nichts mehr da! 12. MÄRZ. In der Dämmerung höre ich Raben. Etwa zwölf sind unten an der Falle und picken an den Knochen, an denen keine Spur von Fleisch mehr ist. Das neue
verfügbare Fleisch wird zwei Stunden lang nicht beachtet. Gegen 8.00 Uhr nähert sich endlich ein Rabe dem neuen Haufen, spielt den Hampelmann und fliegt in eine Weißbirke gegenüber dem Köder, aus der er etwa 15 Minuten lang vergnügt singt. Es ist ein Jungvogel (Ich kann seinen rosa Rachen sehen), doch er zeigt seine Federohren und plustert das Kehlgefieder wie ein Adulter. Imponierverhalten? Fünfzehn Minuten nach seinem Gesang fliegt er fort, fünf Raben kommen innerhalb von Minuten, kreisen über dem neuen Fleisch und fliegen fort. Weiter passiert nichts, bis um etwa 16.00 Uhr ein Adulter den Köder von einem nahen Baum beobachtet und fast 20 Minuten lang Klopfgeräusche macht, bevor er alleine zum Köder fliegt. Bald schließt sich ihm ein anderer an. Um 16.10 Uhr sitzt ein Junger auf demselben Zweig, auf dem früh am Morgen der andere Junge saß und sang. Er blickt lange und intensiv auf den Köder und fliegt dann Richtung Westen fort, während des Fluges macht er eine schnelle Folge von Rufen. Er scheint aufgeregt. Ich würde um alles wetten, dass ich morgen früh eine Menge Raben sehen werde! 13. MÄRZ. Ich stehe um 5.30 Uhr auf, um einen toten Kojoten auszulegen, den mir das Wildlife Department der University of Vermont gegeben hatte. Ich will wissen, ob die Raben schlafende (oder tote) Kojoten liegenlassen. Es stellte sich heraus, dass alle Raben, bis auf einen (W 8, ein Adulter), ihn den ganzen Tag lang ignorierten. W 8 ging dreimal zu ihm, betrachtete ihn näher, machte die obligatorischen Hampelmänner,
berührte das Tier jedoch nicht. Wie ich es vorausgesehen hatte, hockten in der Dämmerung überall Raben in den Bäumen. Gegen 6.2o Uhr fing der erste zu fressen an. Es ist G 37, ein junger, den wir am 6. März markiert hatten. Noch mehr Vögel versammeln sich. Insgesamt fressen bis 10.00 Uhr mindestens zwanzig. Diesmal ist der Initiator, G 37, eindeutig nicht der dominanteste Vogel. Es sind nur drei andere markierte Vögel da. W 8, der Adulte, könnte ohne Partnerin sein (oder sie brütet). Das Verhalten dieses Adulten ist von dem der meisten Jungen nicht zu unterscheiden; G 23, einer der Jungen, den wir vor einem Monat markierten, ist immer unterwürfig. Y 1, der Junge, der im Nest vor zwei Jahren im Frühjahr markiert wurde, der einzige überlebende von sechs lokalen Gelegen in diesem Jahr, ist, soweit ich es sagen kann, der einzige Revierjunge. Im Gegensatz zu den anderen ist er bisher »beständig« und wurde von mir und anderen Beobachtern überall in diesem Gebiet und bis in 15 Meilen Entfernung gesichtet. Bleibt er wegen seines stark dominanten Status? Alle Jungen, selbst dieser, unterwerfen sich den Revierpaaren, doch dominante Junge könnten gewisse Rechte und begrenzte Futterchancen innerhalb einer Gruppe bekommen. Ich finde es diesmal sehr ungewöhnlich, dass das Revierpaar, W 4 und ihr Gefährte, wieder wie an den beiden letzten Wochenenden nicht da ist. Was ist ihnen passiert? Sind sie schließlich weggezogen, weil die ständigen Ansammlungen sie irritierten? (Im nächsten Winter sahen wir sie häufig.)
Das nächste, was ich ungewöhnlich finde: Während der zwei Tage, bei meist über zwanzig anwesenden Vögeln , höre ich kein einziges Mal die juvenilen Versammlungsschreie. Ein Beweis gegen meine Rekrutierungshypothese? Es zeigt, meine ich, wie flexibel diese Vögel sind. Nachdem sie hier viele Wochen gefressen haben und immer Zugang zum Futter hatten, wissen sie vermutlich, dass es hier sicher ist. Sie wissen vermutlich auch, dass es viele Mitbewerber für schnell schwindende Ressourcen gibt. Gerade jetzt bleiben nur zwei bis drei Pfund Fleisch übrig. Es gibt keinen Grund mehr für eine Versammlung. Außerdem ist das verteidigende Revierpaar nicht da. Vielleicht ist niemand da, der sie wegjagen könnte. Tatsächlich habe ich in den vergangenen beiden Tagen keine einzige Jagd gesehen. Das ständige Füttern in diesem Jahr und Ende letzten Jahres, dazu Futter, das sogar nach meinem Weggang liegen blieb, war eindeutig nicht »natürlich«. Sonst sind hier wenige Raben. Doch das ist genau der Punkt, es war ein anderes Experiment. 17. OKTOBER 1988. Heute ist der Stichtag, an dem die fünfte Saison beginnt. In Camp Believe lt hat es schon 15 Zentimeter Schnee gegeben. Jetzt nieselt es bei leichtem Nebel. Die Bäume haben schon fast alles Laub verloren. Der Weg zur Hütte hinauf ist mit raschelnden, frisch gefallenen gelben, braunen und roten Blättern übersät. Kleine Tautropfen glitzern auf ihnen. Der Pfad ist schöner als jeder rote Teppich, der für eine Prinzessin mit Rosen bestreut wird. Ich gehe den Weg hinunter, überquere auf den aus dem Wasser ragenden Steinen den Alder und beobachte aus meinem Unterstand Raben, die zu einem Köder kommen.
Es ist ein Hochgefühl, den etwa dreißig Raben bei ihren Interaktionen zuzusehen. Ich sehe sie mit neuen Augen. Für mich ist der Rabe nicht nur ein Vogel, er ist ein Wesen, das den Menschen, die näheren Kontakt zu ihm hatten, als Krähe verkleidet erschien. Doch jetzt kann ich einen Raben auch kritisch betrachten. Ich kann Voraussagen machen, und auch das ist aufregend. Ich sagte voraus, dass keiner der zwölf Jungvögel, die ich vergangenes Frühjahr in ihren Nestern markierte, auftauchen würde. Und sie kamen nicht! Ich sagte voraus, dass W 4, das Revierweibchen, das wir vor fast drei Jahren markierten, kommen würde. Sie kam. Ich sagte voraus, dass die Vögel in höchster Aufregung fortfliegen würden, wenn ich auf allen vieren, vermummt in ein Bärenfell, hinaufkäme. Sie taten es. Wenn ich nur einmal Kojote spielen könnte! Wie gewöhnlich macht einer der Vögel die meisten der Rekrutierungsrufe. Er richtet mit Unterbrechungen die Federohren auf, während er auf andere losgeht, die vor ihm Plusterköpfe bekommen. Er hat einen rosa Rachen. Er ist eindeutig einer der dominantesten Jungvögel in dieser Gruppe, wenn nicht der dominanteste. Ja, ich »sehe« das alles wieder – und jetzt viel deutlicher. Es sind die dominanten, nicht gepaarten, die schreien, die ungepaarten rangtiefen Vögel (und gepaarte Adulte) schreien nie. Rangtiefe Jungvögel rekrutieren wahrscheinlich aus der Ferne, doch jetzt, wenn ranghohe da sind, müssen sie ihnen den Vorrang lassen und können nur mit ihrer Duldung fressen. Jetzt macht es Sinn. Dominante schreien, weil sie zu Futter kommen, indem sie eine Schar anziehen, welche die viel stärkeren adulten Reviervögel überwältigt. Doch nachdem
das geschehen ist, kämpfen (und gewinnen immer) sie sofort um die oft begrenzten Futterplätze. Rekrutieren, das zu Teilen führt, ist nicht unvereinbar mit daraus folgenden Kämpfen. Ich erinnere mich an Gwinner, nach dem Dominante bevorzugt Gefährten finden. Ich bin ganz aufgeregt, weil ich nun weiß, dass ich ein »Programm« habe, mit dem ich das besondere Schauspiel vor mir entschlüsseln kann. Ich bin in einer Arena, in der Dominanz hergestellt und aufrechterhalten wird und in der die endgültigen Entscheidungen zur Fortpflanzung fallen. Hunderte von scheinbar disparaten Details sind nun zu einem einzigen Muster in meinem Kopf geworden. Noch aus einem anderen Grund ist es ein glücklicher Tag. Der Artikel, den ich über die Arbeit der letzten vier Winter geschrieben habe, ist gerade in Behavioral Ecology and Sociobiology erschienen. Vier Jahre Forschung, reduziert auf 14 Druckseiten. Obwohl ich das Manuskript viele Male gelesen habe, habe ich doch jedes Mal Fehler gefunden. Jetzt lese ich es endlich zum Vergnügen. Was ich lese, steht meistens zwischen den Zeilen – die kalte Dämmerung im tobenden Schneesturm, der schwankende Sitz auf hohen Fichten, die halsbrecherischen Kletterpartien zu Horsten auf Felsen oder hohen Fichten, die Freunde beim Rabentreiben, die tote Ziege, Töne und Bilder der an- und abfliegenden Vögel. Die Forschung wird weiter fortgesetzt. Eine biologische Detektivgeschichte unterscheidet sich von anderen Krimis darin, dass man, je mehr man herausfindet, nur um so mehr weiß, was man nicht weiß. John und Colleen Marzluff und ich haben bereits mit den Käfigstudien begonnen. Gefangene Vögel erfordern ununterbrochene
Aufmerksamkeit, die ich von Vermont aus nicht leisten kann. Doch ich bin eifersüchtig und möchte so lange wie möglich dabeibleiben. Anderen meine Arbeit zu überlassen– das ist, als ob jemand anderes an meiner Stelle auf die Kirmes geht und mir dann erzählt, wie lustig es war. Ich möchte nicht aus zweiter Hand leben. Doch es ist ein Zeichen gesunder Forschung, wenn man sie schließlich aus den Händen gibt und sie ein Eigenleben annimmt. Beim Rückblick auf die vergangenen fünf Jahre bleibt auch das gute Gefühl, dass ein immer größerer Kreis von Menschen einbezogen wurde und Erfahrungen und Freuden teilte. Meine Anstrengungen zahlen sich reichlich aus, wenn andere durch die Bekanntschaft mit einem aufregenden, verwandten Wesen bereichert werden, einem Wesen, das vielen zugänglich, aber nur wenigen bekannt ist. Noch mehr Geheimnisse warten auf die Lösung – »Immer mehr«.
Zusammenfassung Dieses Buch handelt von der Lösung eines Rätsels. Zeigen Raben, Corvus corax, ihre kostbaren Futterschätze, die einer von ihnen durch Glück oder Zufall gefunden hat, anderen ihrer Gattung? Und wenn – wie machen sie es und warum? Ich war hochmotiviert, denn wenn die Antwort auf die erste Frage mit »ja« beantwortet werden könnte, wäre es die Entdeckung eines neuen biologischen Phänomens, das bei noch keinem Tier nachgewiesen wurde. Darüber hinaus wären das »Wie« und »Warum« zwei zusätzliche interessante Fragen, die zu beantworten Spaß machen würde. In diesem Buch habe ich beschrieben, wie man ein aufregendes biologisches Puzzle zusammensetzt. Hier liefere ich nun die wissenschaftlichen Ergebnisse, indem ich die einzelnen Teile dieses Puzzles vorlege, die fast alle im Lauf dieser Arbeit entdeckt wurden. Ich erkläre auch die Logik, wie diese Teile zusammenpassen. Kein einziges Stück gilt als »endgültig« und unveränderbar. Das Ziel war vielmehr, genügend unterschiedliche Anhaltspunkte zu entdecken, die durch ein übereinstimmendes Muster verbunden sind. Die folgenden elf Punkte enthalten die Hauptfrage: 1. Mindestens 90 Prozent der 135 Köder aus insgesamt acht Tonnen Fleisch wurden vier Winter hindurch in den Wäldern von Vermont und Maine von Trupps von Raben verzehrt, die aus etwa 15 bis fast 300 Vögeln bestanden. 2. Die oben genannten Zahlen sind bemerkenswert, weil Raben nicht besonders verbreitet sind; im Durchschnitt wurde nur ein Rabe auf 167 Meilen pro Rabenhabitat
gesichtet. 3. Krähen, Blauhäher, Spechte, Kleiber und Meisen entdeckten die hochbegehrten Fleischhaufen ebenso schnell und fraßen davon, doch keine dieser Arten versammelte sich in großen Zahlen bei den Ködern. Also machen Raben etwas anderes. 4. Nach den »Audubon Christmas Bird Counts« in vier verschiedenen Gebieten um und innerhalb des Forschungsgebietes in Maine während der letzten fünf Jahre wurden nur 118 Raben gesichtet. Die anderen Vögel waren wesentlich häufiger, Häher und Krähen etwa mindestens dreiunddreißigmal häufiger als Raben, obwohl man einen Raben über weit größere Entfernungen als andere Vögel sehen und hören kann. Deshalb können die Rabenscharen in jedem einzelnen Gebiet oder an einem Köder nicht auf der Basis relativer Abundanz oder der zufälligen Versammlung durchziehender Vögel erklärt werden. 5. Obwohl die Raben andere Vögel passiv verscheuchten, wenn sie an einem Fleischhaufen fraßen, blieben viele Köder monatelang ohne Raben, ohne dass die Zahlen anderer Vögel an diesen Ködern eine zunehmende Tendenz aufwiesen. Deshalb kann das Fehlen von anderen Vogelansammlungen nicht durch Wettbewerb mit den dominanteren Raben erklärt werden. 6. Blauhäher versammelten sich im Frühjahr oft in Gruppen bis zu dreißig, aber es waren nie mehr als vier an einem Köder. Obwohl sie einen Mechanismus zum Zusammenkommen haben, benutzen sie ihn demnach nicht zum Teilen wertvoller Nahrungsquellen.
7. Blauhäher, die einen neuen Köder entdecken, verteidigen ihn energisch gegen ihre Artgenossen, so dass nie mehr als vier Vögel blieben. Also ist die Verteidigung einer wertvollen Ressource gegen Eindringlinge eine vernünftige Strategie bei Corviden, und sie kann erfolgreich benutzt werden. Die Scharbildung ist demnach keine unvermeidliche evolutionäre Barriere, die nicht umgangen werden könnte. 8. Krähen verteidigten Köder nicht, doch ihre Anzahl beim Fleisch nahm nicht zu, obwohl sie dreiunddreißigmal verbreiteter als Raben sind und große Gruppen gemeinsame Schlafplätze benutzen. Das heißt, daß passive Ansammlung von Vögeln wohl nicht für die Trupps der Raben in Betracht gezogen werden kann. 9. Die Zahl der Raben, die während dieser Zeit kamen, schwankte beträchtlich. In der Regel waren bei einigen Ködern wochenlang (manchmal den ganzen Winter hindurch) keine Versammlungen, und dann stiegen die Zahlen auf dreißig oder mehr an einem Tag. Diese Daten stehen im Einklang mit der zufälligen Ankunft von Trupps oder Rekrutierung, nicht mit einzelnen Individuen, die unabhängig voneinander suchen und ankommen. 10. Im Bewusstsein der weit reichenden Bedeutung des Unterschieds zwischen den beiden Hypothesen von Punkt 9 verbrachte ich über r000 Stunden damit, nicht benutzte Köder zu beobachten, bis ein oder mehr Raben vorbeiflogen und Anzeichen gaben , die von mir ausgelegten Kadaver entdeckt zu haben . Von 25 Köderentdeckungen entfielen achtzehn auf einzelne und sieben auf Paare. Die Gruppen kamen in der Dämmerung erst, nachdem ein Köder ein oder mehrere Tage
zuvor entdeckt worden war. Also ist die Hypothese, dass die Ansammlungen eine Folge der Entdeckung durch Trupps sind, zurückzuweisen (obwohl ich die Idee, dass dies passieren kann und gelegentlich passiert, nicht ausschließen möchte). 11. Durch vier Winter hindurch hielt ich die Raben, die ich über das Land fliegen sah, ohne bekannte Köder in der Nähe, tabellarisch fest. Von 87 gesichteten Vögeln waren 69 Prozent einzeln, 29 Prozent paarweise und 2 Prozent in Gruppen von fünf bis sechs. (Später sah ich auch eine Gruppe von mehr als 100 Raben im Flug.) Der Prozentsatz der verschiedenen Gruppierungen von Raben, die ich mehr oder weniger nah durch das Forschungsgebiet fliegen sah, ist fast identisch mit den Gruppierungen, die Köder entdeckten. Deswegen sind vorbeifliegende Vögel auch diejenigen, die Köder entdecken. Das heißt, Raben suchen ihre Beute im Flug einzeln oder paarweise. Unter Voraussetzung der Punkte 1 bis 11 schließe ich, dass es an den Versammlungen der Raben bei Kadavern (oder Fleischhaufen, dem künstlich geschaffenen Gegenstück) etwas »Besonderes« gibt. Die logische Schlussfolgerung aus 1, 4, 8, 9, 10 und 11 ist, dass Raben aktiv rekrutieren. Die nächste Frage lautet: Wie machen sie das? Hier folgen weitere Puzzleteile zu diesem Teil des Bildes. 12. Gruppen von Raben sind an Ködern sehr laut. Tatsächlich könnte ich jeden Kadaver im Wald unschwer lokalisieren, indem ich optisch und akustisch auf Raben achte. Dies lässt vermuten, dass Unruhe allein ein Signal sein könnte, das für andere Raben »Hier gibt es Futter« bedeutet, denn die Alternative (still zu bleiben) ist eine Möglichkeit, die nicht genutzt wird, obwohl sie sich als evolutionäre Strategie bei
Blauhähern findet, die nicht rekrutieren. 13. Eine Möglichkeit, den Zusammenhang »Unruhe gleich Futter« im Lauf der evolutionären Entwicklung zu verstärken, wäre eine spezifischere Vokalisierung. Tatsächlich bedienen sich Raben an Ködern einer spezifischen Vokalisierung, des Schreis, den man sonst fast nie hört. Dieser Ruf bedeutet deshalb vermutlich für andere Raben: »Hier gibt es Futter.« (Der Schrei entwickelte sich vermutlich aus den Bettelrufen der Nestlinge, wenn sie einen Adulten mit Atzung sehen, aber nicht dorthin fliegen können. Es ist, als ob die Vögel betteln, weil sie gefüttert werden wollen, wenn sie Futter sehen, und dass andere dann »verstehen«, warum sie betteln. Die Motivation, so zu rufen, muss nicht Rekrutieren sein. Es könnte einfach Frustration sein, Futter zu sehen und keinen Zugang dazu zu haben, weil man sich fürchtet, dass es von aggressiven Individuen bewacht wird oder unerreichbar hinter einem Gitter ist.) 14. Ich spielte die juvenilen Schreie ab, und einer bis fünf Raben erschienen nach einer Minute in achtzehn von zwanzig Feldversuchen in Abwesenheit von Ködern, aber in Gebieten, in denen Raben gefressen hatten und wieder Futter erwarten konnten (und vermutlich nicht wussten, dass ich mich hier versteckt hatte). Vor diesen Versuchen wurden mindestens 15 Minuten (und häufig bis zu einer Stunde) keine Raben gesehen. Daher wurden die Vögel durch diesen Ruf rekrutiert, ihr Auftauchen war kein zufälliges Vorüberfliegen. 15. Nur ein Rabenpaar flog bei achtzehn Versuchen in der Nähe von Ködern mit einer
anderen Rabenvokalisierung, den Quorks, herbei. Demnach unterscheiden die Vögel zwischen beiden Rufen; die juvenilen Schreie wirken spezifisch als Rekrutierungssignal, die Quorks nicht. 16. Die Anziehungskraft der Schreie wurde im Verlauf mehrerer Jahre am selben Platz mit verschiedenen Gruppen von Vögeln beobachtet. Darüber hinaus wurde bei Einzelversuchen (unter Verwendung von Aufnahmen von Vögeln aus dem westlichen Maine) im nordöstlichen Maine und im westlichen Vermont dieselbe Reaktion beobachtet. Es ist also kein spezifisch individueller Ruf, das heißt, er zieht Fremde an. Die Experimente beweisen, dass der juvenile Schrei, der normalerweise an den Ködern ausgestoßen wird, andere, fremde Raben anzieht. Wie das nächste Experiment zeigt, wirkt er allerdings nur für Rekrutierung auf geringe Entfernung (wahrscheinlich innerhalb weniger als einer Meile). 17. Bei 22 Versuchen mit denselben Schreien, die ich nach dem Zufallsprinzip in Waldgebieten (also weit weg von Ködern entfernt) ausstrahlte, kamen keine Raben. Deshalb kann vokale Rekrutierung allein nicht das Versammeln von Raben an Ködern erklären. Daraus folgt, dass noch andere Mechanismen eine Rolle spielen. Folgende Punkte sind relevant: i8. Mit einer Ausnahme unter besonderen Bedingungen (kurz vor der Abenddämmerung, in der Nähe eines toten Wilds, kurz nach der Entdeckung des Köders durch einen Raben) kam die Hauptmenge in Gruppen direkt aus einer oder mehreren Flugrichtungen zur oder vor der Morgendämmerung. Da viele Vögel gemeinsam an einem Schlafplatz übernachten, kamen sie vermutlich direkt von dort,
wo sie die Nacht verbracht hatten. 19. Die Vögel müssen einander gefolgt sein, weil in der Dämmerung viel mehr kamen, als vorher an dem Köder gewesen waren. 20. Die in der Morgendämmerung Anfliegenden kamen häufig am darauf folgenden Morgen als Gruppe (bis zu 52 Vögel) aus derselben Richtung, in der ein bekannter Schlafplatz einer vergleichbaren Zahl von Vögeln lag, von denen einige am Platz beim Köder gefangen und markiert worden waren. Die meisten Rekrutierten kommen also von gemeinsamen nächtlichen Schlafplätzen, obwohl diese oft nur kurzfristig an einer Stelle sind. 21. Wenn der Köder am Vortag neu und groß war, erschienen die Ankömmlinge früh in der Dämmerung als dichte, große und sehr laute Gruppe, deren Rekrutierungsschreie und andere Vokalisierungen man schon hören konnte, wenn sie noch eine Meile entfernt waren; zu einem fast abgefressenen Köder kamen sie später, in kleineren Gruppen und fast schweigend. Vielleicht folgen die Rekrutierten einfach den lauten Vögeln, wenn sie morgens wegfliegen. Wenn das stimmt, wäre früh wegzufliegen und laut zu sein ein wirksamer Mechanismus für »aktives« Rekrutieren (die Alternative wäre, nicht zum Folgen zu ermutigen, indem man das Wissen über seine Entdeckung durch verspäteten Abflug und Schweigen verbirgt). Die Verbindung zwischen Futter und Schlafplätzen ist sogar noch enger; gemeinsame Schlafplätze bilden sich sehr oft nah bei der Futterquelle selbst. Die Beobachtungen 18 bis 21 zeigen, dass Rekrutierung über große Entfernungen
durch gemeinsame Schlafplätze erfolgt oder von ihnen ausgeht . Einige vorangegangene Beobachtungen deuten darauf hin. Doch der Mechanismus des Rekrutierens vom Schlafplatz blieb zunächst unerforscht, ich wollte erst die für mich sehr viel interessantere Frage beantworten, warum Raben andere rekrutieren, um ihr Futter zu teilen. Die folgenden Hypothesen versuchen zu erklären, warum Raben aktiv rekrutieren. 22. Mehr Sicherheit vor Raubtieren. Vielleicht denken Raben, dass eine Schar »mehr Augen« hätte, die bei Gefahr warnen könnten. Das Argument dafür: Junge haben an Ködern Angst. Argument dagegen: 1. Nach meinen eigenen Beobachtungen und der umfangreichen Literatur ist klar, dass Raben selbst von den größten Bussarden kaum etwas zu befürchten haben. Nach dieser Hypothese müssten die verletzlichen Häher und Krähen eigentlich rekrutieren. 2. Wenn Raben räuberische Säugetiere anstelle der Bussarde fürchten, müssten sie es vorziehen, von Ködern hoch oben in Bäumen – und nicht vom Boden – zu fressen. Mein Experiment widerlegte dies. 23. Herbeirufen von Kadaveröffnern. Meine Raben waren nicht imstande, von ungeöffneten Kadavern zu fressen. Rekrutierung könnte für Fleischfresser gedacht sein, die den Kadaver öffnen, damit die Vögel davon fressen können, und andere Raben bekommen Wind davon. Diese Hypothese ist aus verschiedenen Gründen völlig unbefriedigend. Es war offensichtlich, dass bei ungeöffneten Kadavern nicht rekrutiert wurde, doch fast sofort dann, wenn der Kadaver, nach Wochen oder Monaten, schließlich geöffnet wurde, vorausgesetzt, Raben kannten dessen Platz.
24. Geteiltes Risiko am Köder. Für einen Kadaverspezialisten kann das Futter entweder ein schlafendes Tier sein, das zur Selbstverteidigung zurückschlagen könnte, oder etwas Ungefährliches, das man fressen kann. Bei einer möglichen Gefahr könnte ein Vogel andere rekrutieren oder zumindest einen anderen, um den Köder zu testen, und sich dann anschließen oder ihn fortjagen. Das Hauptargument für diese Hypothese ist, dass naive Vögel eine übergroße Angst vor allem Neuen haben. Dagegen spricht die Tatsache, die ich nur einmal beobachten konnte, dass sich eine Schar versammelte, bevor das Fressen begann. In allen anderen mir bewussten Fällen erfolgte die hauptsächliche Rekrutierung, nachdem das Fressen begonnen hatte. Daher kann diese Hypothese nicht der primäre Beweggrund für das Rekrutierungsverhalten, jedoch ein mitwirkender Faktor sein. 25. Vorbereitung und Erhaltung des Fressens. Schneestürme kommen häufig vor, und viele Vögel, die an einem Köder zusammenarbeiten, können helfen, ihn schneefrei zu halten. Eine gewisse Anzahl von Vögeln könnte sich auch gegenseitig helfen, das zu versteckende Fleisch zu zerreißen. Diese Hypothese ist nicht haltbar. Bei schweren Schneefällen wird eher weniger als mehr rekrutiert, und es wurden keine Vögel beobachtet, die beim Zerreißen oder sonstiger Verwertung des Futters kooperierten. 26. Das Fernhalten konkurrierender Fleischfresser. Ein einzelner Kojote findet leicht Zugang zu einem Köder mit fünfzig Raben, die Raben machen immer Platz. Es macht daher keinen Sinn, aus diesem Grund zu rekrutieren. 27. Reziproker Altruismus. Nach dieser Hypothese gewährt ein Rabe einem anderen,
den er kennt, eine Gunst, weil er irgendwann in der Zukunft eine Gegenleistung erwartet. Dementsprechend würde er eine gute Futterquelle einem anderen nur zeigen, wenn es eine vernünftige Chance für diese Gegenleistung gibt. Doch in sechs Markierungstagen blieben nur 36 von 61 identifizierten Vögeln an einem Köder, nach vier Wochen nur sieben und nach sechs war nur noch einer übrig geblieben, während neue ihren Platz eingenommen hatten. Seit jetzt mehr als drei Jahren sind die meisten markierten Vögel, aus welchem Gebiet auch immer, in ein anderes Gebiet gezogen. Die Zusammensetzung der fressenden Menge ändert sich von Stunde zu Stunde. Diese und viele andere Daten zeigen, dass es freie Bewegung innerhalb der Ansammlungen gibt. Da also die »Gruppen« nicht stabil sind, wird diese Hypothese unwahrscheinlich. 28. »Hoffnungsvolle« Reziprozität. Sind die Kosten des Teilens extrem niedrig (wenn etwa die rekrutierten Vögel nur wenig von dem Haufen fressen und/oder anwesende Fleischfresser sowieso das meiste fressen) und die Vorteile einer Gegenleistung sehr hoch (das Leben eines Vogels zu retten, wenn er Futter braucht), dann wird vielleicht Teilen mit einem Individuum, von dem man nicht weiß, ob man es je wieder trifft, vorteilhaft sein. Obwohl ich diese Hypothese zunächst favorisierte, habe ich jetzt meine Zweifel, da es sich herausstellte, dass die Kosten des Teilens wahrscheinlich hoch sind: Jene Raben, die teilten, verloren sogar die fettesten Bissen (ein Reh oder Schaf war in zwei Tagen, ein Elch in einer Woche aufgefressen), wogegen diejenigen, die in einer Zeit, in der es wenig anderes Futter gab, nicht teilten, monatelang reichlich
zu fressen hatten. Unter natürlicheren Bedingungen reduzieren Raubtiere allerdings eher die Zeit, in der bewachtes Fleisch verfügbar bleibt. 29. Sippenselektion. Nach dieser Hypothese sollten Raben mit ihren Verwandten teilen und Nichtverwandte ausschließen. Wie reziproker Altruismus könnte diese Hypothese möglicherweise dort anwendbar sein, wo Tiere in erweiterten Familiengruppen zusammenleben oder gemeinsam im selben Gebiet brüten. Raben tun weder das eine noch das andere. Nach detaillierten Studien in England, Norddeutschland und im Nordwesten der Vereinigten Staaten verlassen junge Raben das Gebiet ihrer Geburt im ersten Winter; dabei fliegen sie oft Hunderte von Meilen fort. Zahlreiche andere Junge unbekannter Herkunft nehmen ihren Platz ein. Meine eigenen Beobachtungen bei dreizehn lokal aufgezogenen jungen und 92 anderen, nicht brütenden Vögeln bestätigen diese Bewegungen voll und ganz. Obwohl dominante Vögel länger zu bleiben scheinen, ist der Wechsel der Jungen an einem Köder sehr schnell. Dutzende von Studien über Raben in der ganzen Welt zeigen ausnahmslos, daß brütende Vögel territorial sind, abseits von anderen nisten und sich normalerweise nicht mit den Nachbarn verbünden. Es ist möglich, dass Sippenselektion einmal bei der Entwicklung des Teilens geholfen hat, doch jetzt ist sie sicher nicht mehr von größerer Bedeutung. 30. Erhöhter Status. Vielleicht wird ein Rabe, der teilt, von seinen Artgenossen anerkannt, gewinnt so »Freunde« oder eine Freundin und kann dadurch später einen Gefährten wählen. Diese und die nächste These, die zusammenhängen, werden diskutiert, wenn ich zusätzliche Evidenz vorlegen kann.
31. Juvenile Banden. Obwohl gepaarte und dominante adulte Raben dauerhaft in Revieren leben, verlassen rangtiefe Junge ihr Geburtsgebiet im Herbst und sind zum Wandern gezwungen. Schließen sie sich vorübergehend zu Banden zusammen, um andere Juvenile oder Adulte zu überwältigen und die Köder zu übernehmen? Aus der Evidenz meiner Experimente und Beobachtungen wie auch aus den gesicherten Ergebnissen anderer Forscher über Raben überall in der nördlichen Hemisphäre schließe ich, dass die vorangegangenen acht Hypothesen als Antriebskräfte zur Erklärung des Teilens von Raben nicht viel hergeben. Die eine oder andere kann, früher oder heute, einige Wirkung auf die Entwicklung dieses Verhaltens durch einige andere Mechanismen haben oder gehabt haben. (Selektion hängt von der Gesamtheit des selektiven Drucks ab.) Die einzelnen Hypothesen können wohl gleichzeitig, aber in verschiedenem Ausmaß angewandt werden. Doch allein erklären sie es nicht. Meine Bemühungen sollten vor allem für Beweise sorgen, die etwas Positives aufzeigen und nicht nur die Möglichkeiten einengen. Die folgenden Informationen sollen deswegen die beiden letzten Hypothesen erläutern. 32. Zweiundachtzig von 91 Gruppenfressern (aus vier verschiedenen Gruppen) waren nicht brütende Juvenile oder Subadulte. (Die Literatur hat darauf verwiesen, daß die Gruppenfresser Junge sind, doch diese Daten sind der erste wirkliche Beweis). 33. Junge und Subadulte ziehen sehr viel umher, während einige der Adulten das ganze Jahr über standorttreu waren. (Diese beiden Ergebnisse sind eine Bestätigung gut
bekannter Phänomene bei Raben, die schon viele andere dokumentiert haben, deswegen werde ich hier mit meinen Ergebnissen nicht ins Detail gehen.) 34. Das Schreien (Rekrutierungsrufe) kam während Hunderter von Stunden, in denen ich nur Paare beobachtete, nie von Paaren an Ködern. 35. Keine der 25 Entdeckungen von Ködern (durch einzelne oder Paare) war von Schreien begleitet. Rekrutierungsschreie kamen erst, nachdem sich eine Schar von Vögeln versammelt hatte. Sie waren dann bei allen Ansammlungen auffällig, es schrien jedoch nur wenige Mitglieder einer jeden Ansammlung. 36. Die Schreie kamen (vermutlich von den dominantesten Jungen), kurz bevor das Fressen begann, als schon viele Vögel in der Nähe waren. Da nur geschrien wurde, wenn andere Vögel in der Nähe waren, dienten sie als »Sammelparole«, die die Vögel zum gemeinsamen Fressen herunterrief. (1ch beziehe mich hier nicht auf die Motivation, sondern nur auf die evolutionären Mechanismen.) 37. Die Raben, die zuerst allein zum Futter herunterkamen, wurden oft von den adulten Reviervögeln angegriffen, wie bei den Käfigexperimenten zu beobachten war: Obwohl die Adulten relativ wenig Angst vor dem Köder hatten (völlig im Gegensatz zu den Jungen, die fast immer alle Köder fürchteten), bewachten die Adulten tageoder wochenlang das Fressen, ohne es anzurühren. Sie taten also ängstlich, indem sie nicht zum Fressen flogen, um die Jungen nicht »einzuladen«. 38. Gepaarte adulte Reviervögel verjagten energisch andere Raben in der Nähe des Köders, doch wenn große Mengen von Jungen da waren, wurden solche
Anstrengungen nutzlos, sie hörten mit Jagen auf und fraßen. 39. Ansässige Adulte imponierten in Gegenwart der Umherwandernden mit gesträubtem Gefieder, das dominanten Status bedeutet, während Junge in ihrer Nähe Unterwerfungsgesten zeigten. 40. Untereinander zeigten sowohl Revierpaare wie Junge neutrale Federstellung. 41. Kein Revieradulter wurde je von den Jungen ausgeschlossen, doch die Reviervögel bewachten manchmal ihre Beute über mehrere Wochen hin täglich und vertrieben erfolgreich alle anderen. 42. Wenn Rekrutierung für die Teilung des Reichtums angewandt wird, dann müsste es umso mehr Rekrutierung geben, je größer der Köder ist. Doch die Größe der Schar war unabhängig von der Größe der Köder, die zwischen 20 und fast 1000 Pfund lag. Daher steht das Rekrutieren wohl eher in Zusammenhang mit der Gewinnung und Erhaltung eines Zugangs zum Futter als zum Teilen von Reichtum. Das würde die Kämpfe erklären, die häufig beobachtet wurden, nachdem das Fressen begonnen hatte. 43. In fünf verschiedenen Experimenten während zwei Jahren wurden insgesamt etwa zehn Köder (jedes Mal) gleichzeitig in Gebieten bereitgestellt, in denen manchmal monatelang keine Rekrutierung beobachtet worden war, auch wenn Rabenpaare bei den Ködern gesehen wurden. Nun kann kein Paar gleichzeitig zehn Köder verteidigen, und in allen fünf Experimenten wurde mindestens ein Fleischhaufen innerhalb eines Tages rekrutiert, und fast alle wurden dann von Rabenscharen
aufgefressen, einer nach dem anderen. Daher ist es weder die Lage noch die Art der Köder an sich, die Rekrutieren beschränkt. Im Normalfall scheint es bei einzelnen Ködern die Gegenwart der adulten Reviervögel zu sein, die den Zugang der vagierenden Jungen verzögert. 44. Zwei Muster der Benutzung von Ködern waren zu erkennen. Viele Köder wurden nur von einem Paar besucht (1n einem Fall sogar zwei Winter lang), oder sie wurden von einer Schar besucht. Schlußfolgerung: Die Rekrutierung erfolgt durch herumziehende Junge, die so Zugang zu Futter gewinnen oder behalten, das sonst von den adulten Revierpaaren verteidigt wird. Die Adulten schreien nie an Ködern, weil das junge Späher anziehen würde. Entsprechend schreien die Jungen nicht, wenn sie Köder entdecken, weil das die adulten Paare anlockt. Es wird rekrutiert, egal ob Reviervögel ursprünglich dort waren oder nicht, weil sie wahrscheinlich in jedem Fall aufmerksam werden. Die Schreie funktionieren als Sammelappell, wenn die Jungen ihre Anwesenheit unbesorgt verraten können, weil sie eine kritische Zahl von irgendeiner fernen Stelle her versammelt haben. Die adulten Reviervögel sind dominant und verjagen Junge, die nicht in Scharen sind, doch sie geben es auf, den Köder zu verteidigen, wenn sie überwältigt werden und Jagen für sie verschwendete Zeit und Mühe wäre. Es gibt eine andere verwirrende Kombination von Beobachtungen, die einen zweiten
Grund für das Rekrutieren vermuten lässt. Wenn Rekrutieren nur für Gewinn oder Erhalt des Zugangs zum Futter dient, dann sollte es bald aufhören, nachdem die Jungen »sicher« von dem Köder fressen können. Stattdessen nahm die Zahl oft weiter zu. Ein Grund dafür ist zweifellos der zunehmende Trubel, der wieder mehr Vögel anzieht. Doch es könnte noch mehr dahinterstecken. Die folgenden Ideen und Beobachtungen lassen vermuten (beweisen jedoch nicht), dass Rekrutieren auch im Zusammenhang mit der Paarbildung steht, nämlich dann, wenn Paarbildung mit der Geschicklichkeit, Futter oder Zugang zu Futter zu finden, zusammenhängt. 45. Weibliche Raben sind sehr stark von ihren Partnern abhängig, damit sie und ihre Nestlinge alljährlich mehr als einen Monat gefüttert werden. 46. Bei vielen Vögeln gehört zur Paarbildungszeremonie während der Balz das Männchen, das Futter für das Weibchen beschafft. 47. Hervorragende Evidenz von vielen Forschern zeigt, dass es vom Wettbewerb mit anderen Raben abhängt, ob ein Rabe in einem Gebiet existieren und brüten kann. An Ködern gibt es Kämpfe um Dominanz. Es wäre daher vorteilhaft für einen Raben, ein dominantes Individuum als Partner zu haben. 48. Da Raben den Partner auf Lebenszeit wählen und mehr als 40 Jahre alt werden können, sind sie vermutlich sehr wählerisch bei potentiellen Partnern. 49. Detaillierte frühere Forschung hat eindeutig gezeigt, dass juvenile Männchen untereinander um Dominanz kämpfen und dass die dominanteren von den Weibchen
bevorzugt werden. 50. Die Jungen, die schreien (und rekrutieren), sind wahrscheinlich die dominantesten Vögel, die Rekrutierenden gewinnen Kämpfe (und Status?). 51. Raben können schon mit etwa sechs Monaten zu balzen beginnen (1m ersten Herbst). Sie paaren sich jedoch erst mit mindestens drei Jahren. Gebalzt wird das ganze Jahr hindurch von ungepaarten dominanten Vögeln, Vögel mit niedrigem Status werden von den dominanten unterdrückt. 52. Junge Raben fürchten alle seltsamen Futterquellen und lernen erst durch Erfahrung, sich nicht zu fürchten. Meine Arbeit mit den gefangenen Vögeln bestätigte frühere Studien, die zeigten, dass »Führer« aus der Menge auftauchen und andere zu dem gefürchteten Futter führen. Die Führer wurden im Gegenzug angebalzt, die Nichtführenden (Nicht-mutigen) nicht. Also sind die, die direkt oder indirekt für Futter sorgen oder am häufigsten Zugang dazu haben, die »Beliebtesten« oder Mächtigsten. 53. Nahezu alle Rabenforscher bestätigen, dass in Trupps lebende Vögel, die vorrangig Junge sind, sich oft paaren. Zu was fügen sich diese Informationen zusammen? Ich sehe soweit nur ein großes Bild oder Muster, wenn ich versuche, diese mehr als fünfzig sehr disparaten Daten zusammenzusetzen (die Zahl der alternativen Muster, die ich erkenne, ist in umgekehrter Proportion zur Zahl der Tatsachen, die ich gleichzeitig im Kopfhabe). Diesem Bild zufolge verlassen die jungen Raben ihr Nest, um zu wandern. Sie sind gesellig, schließen sich anderen Jungen an Schlafplätzen und zum Fressen an und um einen attraktiven Partner zu finden. Ein Rabe ohne Partner, der Futter findet,
lädt andere »Singles« ein, sich ihm (oder ihr) anzuschließen, und gewinnt damit nicht nur Zugang zum Futter, sondern vergrößert auch seinen Status und demonstriert seine Eignung als zukünftiger Ernährer seiner Nachkommenschaft. Es ist ein elegantes, einfaches und schönes System. Doch es ist ausgestattet mit komplizierten Details und Raffinessen. Soweit ich weiß, zeigt sich bei keinem anderen Tier ein ähnliches System. Wenn ich Phantasien nachgebe und mir vorstelle, wie Raben Menschen studieren, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, was sie von einigen unserer Bräuche halten würden und zu welchen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen sie darüber kämen.
Anhang Die folgenden Daten und Grafiken wurden aus dem gesamten Forschungsprojekt zusammengestellt, um Überblicke über die verschiedenen gesammelten Informationen zu geben. Einige dieser Angaben enthalten die Schlüsselevidenz. Andere illustrieren ein Problem, das bei den Studien auftauchte; sie alle erhellen einen kleinen Teil der großen Frage, die ich zu lösen versuchte, doch gleichzeitig geben sie ein falsches Bild des Ganzen, wenn man diesen kleinen Teil auf das Ganze extrapoliert. Zum Beispiel zeigt Abb. 19, dass die Anzahl der Kämpfe der Raben an einem Schafskadaver abhängig war von der Dichte der Rabenschar. Das war richtig, damals, an diesem Platz, und ich denke, dass es auch stimmt, wenn man es ebenso bei anderen Ködern beobachtet. Doch es verschweigt die sehr wichtige Tatsache, dass ein oder zwei Raben einen dritten bekämpfen werden, der sich der Schar vielleicht gar nicht anschließen wird (wie Reviervögel gegen einen Eindringling in der Nähe des Kadavers, aber nicht direkt auf ihm). Zu Beginn dieser Studie wurde ich oft durch selektive Daten in die Irre geführt. Information kann auch Desinformation sein, es hängt vom Zusammenhang ab. Deshalb muss die Evidenz insgesamt evaluiert werden, man muss darauf achten, ob sie zusammenpasst, denn alles hat seinen Platz in dem Bild, kann jedoch für sich allein sinnlos sein.
Abb. 1 - Diese Daten vereinen Beobachtungen von drei Herbsten und drei Wintern. Sie zeigen, daß die 110 Raben, die ich in Vermont, New Hampshire und Maine (am Studienort, als kein Köder da war) sah, ausschließlich einzeln oder zu zweit flogen. Bei den Entdeckern von Ködern gab es ein annähernd gleiches Verhältnis von einzelnen und Paaren, doch nach der Entdeckung der Köder war der Prozentsatz der einzeln oder zu zweit kommenden Vögel nur 3o Prozent, 7o Prozent kamen jetzt in Gruppen. Diese Daten zeigen, daß Raben in den nördlichen Wäldern Neuenglands Futter suchen, indem sie einzeln oder zu zweit fliegen, und daß andere ihnen entweder folgen oder andere hinführen, nachdem ein Köder entdeckt worden ist.
Abb. 2 - Diese Daten zeigen verschiedene Fakten. Erstens sehen wir, wie in Abb. 1, dass die meisten Köder von Raben entdeckt werden, die einzeln kommen. Nur darauf folgend nutzen große Zahlen den Köder. Zweitens: Das Muster bei Krähen und Blauhähern zeigt, dass die meisten Entdeckungen von Paaren gemacht werden und dass Paare die häufigsten Nutzer der Köder sind. Drittens liegt der augenfälligste Unterschied zwischen Raben und den zwei anderen Corviden darin, dass wir Akkumulationen von Vögeln über die Zahl der Vögel hinaus, die den Köder entdeckt haben, nur bei Raben sehen . Der Vergleich dieser Daten lässt vermuten , dass die Akkumulation der Raben am Köder nicht allein das Ergebnis eines passiven Treffers durch die dort bereits anwesenden Vögel ist, sonst müsste das Muster für alle drei Gattungen gleich sein.
Abb. 3 - Sonagramme der häufigsten Vokalisierungen in der Nähe des Köders. Juvenile Schreie erfolgen vor und während des Fressens, wenn eine große Zahl von Vögeln, und nicht wenn nur Paare anwesend sind. Triller stehen auch in Zusammenhang mit Fressen, doch ebenso mit anderer Erregung. Die langen Quorks werden von adulten Reviervögeln gemacht, wenn Heraus-forderer in der Nähe sind. Vermutlich funktionieren sie als Revierruf. Trotzdem gibt es viele Variationen bei den Quorks, zweifellos haben sie mehrere Bedeutungen. Die Klopfgeräusche werden von den Weibchen gemacht
Abb. 4 - Vokalisierung an einem geöffneten Schafskadaver. A = Vokalisierungen (N=63) zehn Minuten vor Beginn des Fressens. B = Vokalisierungen (N =20) während der zehn Minuten nach Beginn des Fressens . C = Vokalisierungen (N = 110) während der nächsten sechs Stunden. D = Vokalisierungen (N = 203) während 3,5 Stunden, nachdem ein Vogel mich gesehen hatte und als die Vögel (bei mindestens vier anwesenden) nicht mehr hinunter an den Kadaver kamen . Die verschiedenen Balken zeigen verschiedene Arten von Rufen. Pfeil nach oben = relativ hohe Quorks. Pfeil nach unten = tiefere Quorks. (Ein ähnliches Muster von überwiegenden Trillern vor dem Fressen , Schreien während des Fressens, Quorks und Klopfen kurz nachdem die Vögel vom Köder weggescheucht waren, wurde auch an einer Müllhalde beobachtet. )
Abb . 5 - Vokalisierung im Zusammenhang mit der Frequenz beim Fressen an einem grossen Köder (etwa 90 Pfund Rindertalg). A = Entdeckung durch einen einzelnen Vogel (alle Vokalisierungen über eine Dauer von zehn Minuten nach der Entdeckung, N = 55). B = 81 Minuten nach Wegflug des Vogels und der gleichzeitigen Ankunft von vier (jungen?) Vögeln (alle Vokalisierungen während der ersten zehn Minuten, N = 49). C = Alle Vokalisierungen während der nächsten drei Stunden (N = 76); (wahrscheinlich sowohl der Revierverteidiger als auch der Jungen?). D = Vokalisierungen (N = 46) von einem der vier Vögel während etwa zwölf Minuten, kurz bevor fünf Vögel mit Fressen begannen. E = Vokalisierungen (N = 88) während zehn Minuten, sechs Stunden nachdem die Jungen auf den Köder einfielen und mit Fressen begannen, fünfzehn Vögel waren zur gleichen Zeit anwesend.
Abb. 6 - Vokalisierung eines mutmaßlichen Paares nach der Entdeckung eines Kuhkadavers (i. Tag) und während der folgenden drei Tage. Gefressen wurde erst am dritten Tag (Pfeile). Nur Quorks (Pünktchen) und Klopfen (schwarz) wurden gehört. Punkt über dem Balken = kurze Quorks. Gedankenstrich über dem Punkt = lange Quorks. Pfeil nach unten = tiefe Quorks. Pfeil nach oben = hohe Quorks.
Abb . 7 - Erwartete Muster des Entstehens von Vogelansammlungen an einem großen Köder unter verschiedenen Bedingungen. Wenn nicht rekrutiert wird, sollten die Zahlen nach und nach zunehmen, wenn neue Vögel den Köder finden. Bilden die Vögel nach der Entdeckung des Köders ein grösseres Ziel, das andere sehen oder anfliegen, könnte man einen nach und nach zunehmenden Aufbau erwarten. Die Steigerung an diesem Platz wäre auf einen »Schmarotzereffekt« zurückzuführen: Erfolgreiche Vögel verraten unwissentlich oder passiv die Lokalisierung des Futters. Die beiden letzten Kurven zeigen die erwartete Zunahme der Zahl von Vögeln, bezogen auf den Beginn des Fressens (F) während der aktiven Rekrutierung. Wenn die Vögel rekrutieren, um das Risiko zu teilen, das mit ihrer Angst vor dem Köder zusammenhängt, müssten sie erst rekrutieren und dann fressen und ebenso mit Rekrutieren aufhören, wenn sie keine Angst mehr vor dem Köder haben. Wenn sie andererseits das Futter und nicht das damit verbundene Risiko teilen, müßten sie es zuerst testen; wenn sie es dann zum Fressen geeignet und frei von Gefahr finden, müssten sie andere herbeibringen, die daran profitieren könnten.
Abb. 8 - Zahl fressender Raben an einem Kalbskadaver, mit gleichzeitigen Ab- und Anflügen vom Kadaver. Die Vögel fangen nicht vor der dritten Landung mit Fressen an (Pfeil). Diese Daten stimmen mit der Hypothese von der selbstsüchtigen Herde überein, nach der die Tiere die vermutliche Gefahr am Köder zu teilen versuchen
Abb. 9 - Zahl der gesichteten Raben an einem geöffneten Schafskadaver am Tag seiner Entdeckung (1. Tag), beim Beginn des Fressens (3. Tag ) und am folgenden Tag, bis er aufgefressen war. Die schwarzen Felder zeigen die Anzahl der zu verschiedenen Zeiten fressenden Raben am Kadaver ( die genauen Zahlen wechselten von Minute zu Minute). Die vertikalen Unterbrechungen zeigen die Zeiten, zu denen alle Vögel wegflogen und schnell zurückkehrten. Bemerkenswert, dass fünf oder mehr Vögel in der Morgendämmerung des zweiten und dritten Tages nach der Entdeckung kommen und vierzig am vierten Tag. Diese Abfolge zeigt das schnelle Entstehen von Vogelansammlungen, das oft in kurzer Zeit beobachtet wurde, häufig nachdem mehrere Tage kein Vogel gesichtet wurde. Da sich hier die größte Zunahme der Vogelzahl erst nach Beginn des Fressens einstellte, stimmen diese Daten mehr mit Teilen als mit der Hypothese von der selbstsüchtigen Herde überein.
Abb. 10 - Die Höchstzahl von Raben, die an drei verschiedenen Ködern nach deren Entdeckung gesichtet wurde (i. Tag). (Die Nächte sind als dicke vertikale Balken dargestellt.) Diese Abbildung zeigt drei verschiedene Reaktionen: A Schnelles Rekrutieren an einem Abend und Fressen am nächsten Morgen. B Fressen und Rekrutieren erst drei Tage nach Entdeckung des Köders. C Fressen erst nach dem dritten Tag der Köderentdeckung, diesmal jedoch ohne Rekrutierung.
Abb. 11 - Zahl fressender Raben (9. 12. 1986) an einem Köder am zweiten Tag nach Beginn des Fressens (von etwa zehn Vögeln). Diese Abbildung zeigt die Vögel, die mehr oder weniger gleichzeitig zum Köder herbeifliegen und ihn verlassen, mit bis zu halbstündigen Perioden, in denen keine Raben da sind, wechselnd mit solchen, da 20 bis 40 gleichzeitig fressen. Wenn die Raben nicht am Köder waren, frassen dort entweder ein bis vier Blauhäher oder zwei Krähen. Diese Daten lassen annehmen, daß sie nicht nur den Köder fürchten.
Abb. 12 - Aufeinanderfolgender schneller Aufbau von Raben mengen an sieben von zehn Ködern (je etwa 35 Pfund Fleisch), die alle am selben Tag (20. 2. 1987) ausgelegt wurden. Ein Köder (# 3) wurde von einem Kojoten gefressen, einer (# 8) wurde nicht gefunden, ein anderer (# 6) von einem Fuchs aufgesucht, was das Auffressen des Köders durch die Raben verzögerte. Die meisten Köder wurden von den Raben fast ganz an einem Tag aufgefressen. Die gepunkteten Linien zeigen, dass das Fleisch vor dem nächsten Besuch aufgebraucht war. Diese Daten sprechen nicht dafür, daß Vögel die Köder unabhängig voneinander finden.
Abb. 13 -Zahl der Tage vom Auslegen von 27 Ködern bis zu ihrer Entdeckung ( schwarze Balken ) und ihrer Rekrutierung (gestrichelte Balken), bis sie dann von Scharen gefressen waren. Man sieht, dass die Raben alle 27 Köder dieses speziellen Experiments in drei Tagen entdeckten, an einigen aber erst nach einer Woche rekrutierten. Bedeutungsvoller ist, dass eine Rekrutierung am Tag der Köderentdeckung erfolgen konnte . Wenn fehlende Rekrutierung (gewöhnlich monatelang beobachtet) nur aus Angst vor dem Köder resultiert, dann dürfte es keine Rekrutierung als Folge der Entdeckung geben und keine graduelle Zunahme des Rekrutierens während der folgenden Tage. Es ist wichtig anzumerken, dass zu diesem Experiment (zusammengesetzt aus drei) die Sättigung eines Gebietes mit vielen Ködern gehörte, wodurch die mutmassliche Revierverteidigung durch Paare unmöglich gemacht wurde, da zwei Vögel nicht ein Dutzend oder mehr Köder kontrollieren können, die gleichzeitig über mehrere Meilen verteilt sind.
Abb. 14 - Kumulative Zahl von Ködern (20 bis 25 Pfund Fleisch), aus zwölf verfügbaren (Experiment vom 4. bis 8. 11.), die von Raben, Kojoten, Blauhähern und Krähen entdeckt wurden, bestimmt nach den Spuren im Schnee und Sichtungen während der ersten vier Tage nach Auslegen der Köder. Alle Köder waren vier Meilen voneinander entfernt. Dies zeigt, daß das Fehlen von Krähen- oder Blauhäheransammlungen nicht darauf zurückzuführen ist, dass diese Vögel keine Köder entdecken. Deshalb muss die andersartige Nutzung der Köder durch Raben sich auf einen Faktor beziehen, der sich nach der Entdeckung ereignet.
Abb. 15 Rekrutierung kann fast sofort stattfinden, wenn viele Köder gleichzeitig über eine Fläche von nur wenigen Quadratmeilen ausgelegt werden. Diese Abbildung zeigt die Höchstzahl von Raben, beobachtet an sechs verschiedenen Ködern, die am Nachmittag des 25. 10. 1986 ausgelegt und von Raben entdeckt wurden. C = von einem Kojoten aufgesucht ( bewiesen durch Spuren im Schnee ). Die gestrichelten Linien zeigen das Auffressen des Köders. Alle Köder waren acht Luftmeilen voneinander entfernt. Merke, dass es an einigen Ködern keine Rekrutierung gab, obwohl ein oder zwei Raben sie aufsuchten.
Abb. 16 - Diese Abbildung unterstreicht, dass der Prozentsatz von Tagen, an denen an einem Köder keine Corviden sind, bei den Raben am niedrigsten ist (etwa 30 Prozent ); das heisst , dass sie die Köder monopolisieren. Zweitens sehen wir, dass das Muster der Ködernutzung durch Paare, im Gegensatz zu anderen Zahlenkombinationen, bei Raben fast so gross wie bei Hähern ist , wenn man die gesamte Nutzungszeit des Köders betrachtet. Auf jeden Fall wird ein Köder an etwa 70 Prozent der Tage, an denen er verfügbar ist, von grossen Zahlen von Raben aufgesucht, nicht jedoch von den anderen zwei Corviden. Diese Abbildung, die den Zeitraum zeigt, währenddessen verschiedene Gruppierungen von Vögeln einen Köder nutzen, bewertet die Nutzung des Köders als Mittel zu Vogelansammlungen zu niedrig. Eine grosse Gruppierung von Raben verzehrte im allgemeinen einen 30-Pfund-Fleischhaufen an einem Tag, während ein Paar ihn länger als einen Monat exklusiv nutzen könnte. (N bezieht sich auf Tage, und da die Beobachtung sich auf alle drei Corvidenarten an denselben Ködern bezieht, sollte N gleich sein, mit der Ausnahme, daß im ersten Teil des Experiments nur Raben gezählt wurden.)
Abb. 17 - Zahl der Raben an verschiedenen großen Ködern nach ein, drei oder mehr als dreizehn Tagen. Diese Zahlen zeigen, daß sich sogar innerhalb eines Tages große Zahlen von Raben an einem Köder versammeln können, daß jedoch die Gesamtzahl der Vögel an Ködern von 30 bis über 1000 Pfund nicht in Beziehung zur Größe des Köders steht, zumindest während der ersten beiden Wochen, in denen ein Köder verfügbar ist. (Die anfangs offensichtlich größere Akkumulation von Mengen an den kleineren Ködern geht auf die allgemein größere Zahl der kleinen Köder zurück.)
Abb. 18 - Adulte können nicht auf Grund der Grösse unterschieden werden. Hier sind Schnabellänge und Körpergewicht der Raben dargestellt, die zu zwei verschiedenen Terminen im Januar und Februar 1987 in Weld, Me., gefangen wurden.
Abb. 19 - Eine Folge des Fressens in Scharen sind zunehmende Streitereien, vor allem, wenn die Fleischmenge schwindet. Hier wird die Zahl agonistischer Interaktionen gezeigt, bezogen auf die Zahl von Raben, die von einem gefrorenen Schafskadaver fressen oder sich dort aufhalten (am 4./5. 1. 1986). Dreiecke Erster Fresstag. Schwarze Punkte: Zweiter Fresstag, das Fleisch ist fast aufgebraucht.
Abb. 20 - Ankunft und Abflug von einem zusammengehörenden Paar, zwei einzelnen Adulten, drei Zweijährigen und sieben Einjährigen, die am 25. 1. 1987 an einem Köder individuell markiert wurden. Nur das Paar (das auffällig Revierverhalten zeigte) kam und ging zusammen.
Abb. 21 - Zahl von Raben und ihrer Ankunftsrichtung, beobachtet von der Spitze einer großen Fichte zwischen 6.20 und 7.00 Uhr (Sonnenaufgang 7.20 Uhr) an sechs Tagen bei einem großen Köder. Merke, dass bis zu 73 Vögel aus NW kamen, sechs bis 43 an vier Tagen aus SO. Diese großen Zahlen von Vögeln (die vor Sonnenaufgang kamen) aus derselben Richtung an verschiedenen Tagen lassen die Ankunft von einem gemeinsamen Schlafplatz vermuten. Doch Vögel kommen von mehr als einem Schlafplatz. Ein bekannter Schlafplatz lag 15 Meilen NW.