Dich zu spüren …
Kate Hoffmann
Tiffany 1105 – 13-2/04
gescannt von suzi_kay korrigiert von briseis
1. KAPITEL Liam ...
9 downloads
741 Views
370KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Dich zu spüren …
Kate Hoffmann
Tiffany 1105 – 13-2/04
gescannt von suzi_kay korrigiert von briseis
1. KAPITEL Liam Quinns Nase juckte, als er den moderigen Dachboden betrat. Bei jedem Schritt wirbelte Staub auf. Es roch nach altem Holz, und die Dielenbretter knarrten unter seinen Füßen. In der Ecke stand ein klappriges Sofa aus Rosshaar, und an der gegenüberliegenden Wand entdeckte er einen winzigen Kamin, der nicht mehr in Gebrauch war. Die ersten drei Stockwerke des Hauses in Charlestown wurden gerade renoviert und in Eigentumswohnungen umgewandelt, wie es mit so vielen Häusern in dieser alten Gegend Bostons passierte. Liam spähte in die Dunkelheit hinter kunstvollen Spinnweben. Irgendwo in den Ecken lauerten bestimmt Fledermäuse, die nur darauf warteten, sich auf ihn zu stürzen. Er hasste Fledermäuse. „Es ist saukalt hier." „Die Präsidenten-Suite im ,Four Seasons' hat leider keine Fenster zur richtigen Straßenseite", entgegnete Sean trocken. „Ich hatte ein Date heute Abend. Cindy Wacheski wollte sich mit mir um zehn im Pub treffen." „Dir werden noch die Frauen in Boston ausgehen, die du mit deinem Charme verzaubern kannst", meinte Sean. „Zum Glück kommen jeden Tag neue Frauen in die Stadt", scherzte Liam. „Ich könnte dich mit einigen bekannt machen." Er hob seine Kamera, die um seinen Hals hing, betrachtete seinen Bruder durch die Linse und drückte den Auslöser. „Du siehst aus wie ein Mann, der dringend Sex braucht. Richtig ausgehungert..." Das Blitzlicht erhellte den dunklen Dachboden. Fluchend hielt Sean sich die Hand vor die Augen. „Das hier ist eine Überwachung. Jeder unten auf der Straße kann den Blitz sehen." „Klar, bestimmt sind Horden von Touristen auf der Straße, die ausgerechnet zu diesem Haus hochschauen." Liam schüttelte spöttisch den Kopf. „Hättest du dir nicht irgendein Haus mit Heizung aussuchen können? Was könnte sich denn lohnen, auf diesem Dachboden zu fotografieren?" „Nicht hier, sondern auf der anderen Straßenseite. Wirf mal einen Blick dorthin." Liam nahm sein Teleobjektiv aus der Kameratasche und schraubte es auf die Kamera. Dann ging er zu dem schmutzigen Dachbodenfenster und sah hinaus auf die Straße. Er konnte draußen nichts Besonderes erkennen. Der Gehsteig unten war leer, in der schmalen Straße parkten links und rechts Autos. „Das ist ein wichtiger Fall", erklärte Sean. „Wenn du mitmachst, kannst du nicht wieder aussteigen. Du musst dich entscheiden." „Du könntest wenigstens so tun, als wärst du dankbar", entgegnete Liam. „Ich bin dein Bruder und Mitbewohner. Ich bezahle die Hälfte der Miete, räume hinter dir auf und nehme Nachrichten für dich entgegen, wenn du nicht in der Stadt bist. Ich muss dir bei diesem Fall nicht helfen. Ich habe selber wichtige Arbeit zu erledigen. Was, wenn ich einen Auftrag vom ,Globe' bekomme? Als Freiberufler muss man immer verfügbar sein. Letzte Woche hatte ich ein gutes Foto auf Seite drei des Sportteils. Hast du es gesehen?" „Die bezahlen dir Pfennigbeträge. Und die Miete habe ich schon seit drei Monaten nicht mehr von dir gesehen." „Na ja, im Augenblick bin ich etwas knapp bei Kasse." „Wenn du diesen Job für mich machst, teile ich mein Honorar mit dir." Seit er vor vier Jahren wegen chronischer Gehorsamsverweigerung von der Polizeiakademie geflogen war, arbeitete Sean als Privatdetektiv. Von den sechs Brüdern war Sean der am wenigsten zugängliche. Er war schweigsam und verschlossen, ein absoluter Einzelgänger. Die einzigen Menschen, in deren Gesellschaft er sich wohl fühlte, waren seine Brüder, und selbst die wussten meistens nicht, was in seinem Kopf vorging. Seit etwa einem Jahr hatte er sich noch mehr abgekapselt. Sean hatte sich auf die Beschattung von fremdgehenden Eheleuten und säumigen
Schuldnern spezialisiert. Er besserte sein Einkommen auf, indem er im Pub seines Vaters in South Boston bediente. Und wenn er Hilfe brauchte, wandte er sich gewöhnlich an seinen kleinen Bruder. Liam konnte immer ein bisschen zusätzliches Geld gebrauchen. Sean war der perfekte Privatdetektiv. Ständig beobachtete er die Menschen in seiner Umgebung. Ihr ältester Bruder, Conor, war als der Zuverlässige bekannt und Dylan als der Starke. Brendan war immer schon der Träumer und Abenteurer gewesen. Seans Zwillingsbruder, Brian, liebte das Rampenlicht und war selbstbewusst und gesellig. Und dann war da noch Liam. Sein Platz in der Familie hatte sich früh herausgebildet, denn er war als Charmeur bekannt. Er war der hübsche Junge, der das Leben spielend meisterte und mehr Freunde und Bewunderer besaß, als er zählen konnte. Schon von klein aufhatte er gelernt, Menschen einzuschätzen und zu durchschauen. Wenn er etwas von ihnen wollte, bekam er es, und meistens war dazu nicht mehr als ein Lächeln oder ein Kompliment nötig. Vielleicht war es das, was ihn zu einem guten Fotografen machte. Er konnte durch ein Objektiv sehen und eine Geschichte in den Menschen erkennen, die er fotografierte. Leider hielten die Fotoredakteure beim „Boston Globe" seine Arbeit für zu „künstlerisch" für eine Tageszeitung. „Wie viel werde ich denn bei diesem Auftrag verdienen?" wollte Liam wissen. „Wir arbeiten für eine Bank", erklärte Sean. „Das Management hat herausgefunden, dass eine Viertelmillion fehlt. Sie glauben, dass ein Angestelltenpärchen das Geld unterschlagen hat. Nachdem sie einen der beiden in Boston aufgespürt hatten, wandten sie sich an mich. Wenn wir das Geld finden, bekommen wir zehn Prozent." Liam stutzte verblüfft. Geteilt durch zwei waren das über zwölftausend Dollar! So viel verdiente er mit seinen Fotos im ganzen Jahr nicht. Mit zwölftausend Dollar konnte man sich eine Menge Filme und Laborzeit kaufen. „Wieso schalten sie nicht einfach die Polizei ein?" „Weil es schlechte Publicity für die Bank wäre. In sämtlichen ihrer TV-Spots prahlen sie mit ihrer Sicherheit. Es würde schlecht aussehen, wenn sie zugeben, dass das Geld verschwunden ist." „Na schön, ich bin dabei. Wonach soll ich Ausschau halten?" Sean trat zu ihm ans Fenster und zog den mottenzerfressenen Vorhang zur Seite. „Sie wohnt dort drüben", sagte er und zeigte auf ein Fenster auf der anderen Straßenseite. Sean reichte Liam ein Foto, das eine durchschnittlich aussehende Frau mit Brille zeigte. Sie hatte die Haare zurückgebunden und trug eine gestärkte Bluse mit einem kunstvoll um den Hals geknoteten Tuch. „Sie sieht aus wie meine Lehrerin aus der dritten Klasse, Miss Pruitt. Wir nannten sie Miss Prunes, weil sie uns an Dörrpflaumen erinnerte", bemerkte Liam. „Eleanor Thorpe, Alter: sechsundzwanzig, Abschluss mit Auszeichnung an der Harvard Business School. Nahm gleich nach dem Studium einen Job als Bilanzbuchhalterin bei der Intertel Bank in Manhattan an. Sie galt als hervorragende Mitarbeiterin. Vor sechs Wochen kündigte sie ohne erkennbaren Grund und tauchte hier in Boston auf. Sie bewarb sich für einen Job bei einer Bank und wandte sich wegen einer Empfehlung an Intertel." „Ist das nicht ein wenig merkwürdig für eine Betrügerin, um eine Empfehlung zu bitten?" gab Liam zu bedenken. „Es lenkt von dem Verdacht ab. Sie wohnt dort drüben im dritten Stock. Alle Fenster gehören zu ihrer Wohnung. Rechts liegt das Schlafzimmer, das Wohnzimmer liegt links. Beobachte, wer sie besucht, was sie macht. Halte jede ihrer Bewegungen fest." Sean gab Liam ein weiteres Foto, diesmal das eines konservativ aussehenden Mannes. „Das ist ihr Partner, Ronald Pettibone, einunddreißig, ihr Kollege bei der Bank. Ich will wissen, ob er auftaucht. Ich brauche Fotos, die die beiden zusammen zeigen." „Das ist alles? Ich warte bloß auf ihn?" „Genau. Wenn sie in die Sache verwickelt sind, müssen sie Kontakt zueinander aufnehmen um die Beute zu teilen. Wenn ich aus Atlantic City zurück bin ..."
„Was zieht dich nach Atlantic City?" „Ein ehebrecherischer Gatte", sagte Sean. „Es geht um viel Geld und eine Klausel über Ehebruch. Die Frau braucht Beweise." „Wieso lässt du mich nicht den Job erledigen und bleibst stattdessen auf diesem kalten Dachboden, um die Erbsenzähler zu beobachten?" „Ich will wissen, mit wem sie sich trifft, wohin sie geht", fuhr Sean fort. „Wieso hörst du nicht einfach ihre Wohnung ab?" „Dafür kann man ins Gefängnis kommen." „Für Überwachung nicht?" „Nein." „Wie lange wirst du weg sein? Wenn ich nach Atlantic City fliegen würde, würde ich mich mit hübschen Mädchen und beim Spiel amüsieren. Ich kenne diese Lady da unten, die ..." „Es ist rein geschäftlich", unterbrach Sean ihn. Liam lachte. „Es fallt mir schwer, zu glauben, dass du ein echter Quinn bist. Dazu bist du viel zu brav." „Ich verbringe nur nicht jeden freien Moment mit der Jagd nach Frauen", konterte Sean. „Ich kann mit meiner Zeit etwas Besseres anfangen." „He, ich mache keine Jagd nach Frauen. Sie laufen mir nur zufällig hinterher. Und was sie von dir wollen, werde ich sowieso nie verstehen. Vielleicht mögen sie deine distanzierte Art. Oder ihnen gefällt die Herausforderung. Ich kann es kaum erwarten, bis der Fluch der Quinns dich ereilt." „Wenn ich mich von den Frauen fern halte, wird das nicht passieren", entgegnete Sean. „Du bist derjenige, der sich Sorgen machen sollte." Liam runzelte die Stirn. „Ich liebe nun mal Frauen. Und wenn ich einfach immer von der einen zur nächsten weiterziehe, kann mich auch keine festhalten." Trotzdem war Liams Bemerkung über den Fluch der Quinns nur bis zu einem gewissen Grad ein Scherz. In ihrer Kindheit hatte ihr Vater sie vor den Gefahren der Liebe gewarnt und sein eigenes Misstrauen gegenüber Frauen hinter Märchen über die Quinns verborgen. Doch jetzt, nachdem drei von Seamus' Söhnen in festen Händen, hatte Seamus verkündet, die drei seien Opfer eines lange zurückliegenden Fluches. Er hatte dieses neue Märchen eines Abends erzählt, als seine Söhne alle um den Tresen im Pub versammelt waren. Während die drei älteren Söhne gespottet hatten, waren die drei jüngeren nicht so skeptisch gewesen. Liam hatte nicht vor, in die gleiche Falle zu tappen wie Conor, Dylan und Brendan. Er kannte nämlich den Grund, weshalb es Olivia, Meggie und Amy gelungen war, sich einen Quinn zu angeln. „Rette niemals eine Frau, die in Not ist", murmelte Liam. Aus irgendeinem Grund schien ein Quinn zur Ehe verdammt zu sein, sobald er eine Frau rettete. „Ich habe dir Bier und Sandwiches mitgebracht", sagte Sean. „Du findest alles in der Kühltasche. Gleich um die Ecke gibt es ein Chinarestaurant mit Essen zum Mitnehmen. Falls du mal weg musst, schalte die Videokamera ein. Ich bin Sonntagabend wieder da, spätestens Montagabend." „Was soll ich machen, wenn dieser Kerl auftaucht? Soll ich ihn oder sie verfolgen?" „Ruf mich an. Versuch so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen, welchen Wagen er fährt, welches Kennzeichen er hat, alles, womit wir ihn aufspüren können. Wenn es sein muss, brich in seinen Wagen ein." „Kann ich dafür nicht ins Gefängnis kommen?" fragte Liam grinsend. „Nur wenn du dich erwischen lässt", sagt Sean auf dem Weg zur Tür. Nachdem sein Bruder die Tür des Dachbodens hinter sich zugemacht hatte, wandte Liam sich wieder seinem Job zu und richtete das Teleobjektiv auf die Wohnung im dritten Stock. In
allen Zimmern brannte Licht, und seine Zielperson saß im Wohnzimmer. Sie hatte ihm zwar den Rücken zugedreht, doch konnte er erkennen, dass sie ein Buch las. Plötzlich stand sie auf, in der einen Hand das Buch, während sie mit der anderen wild gestikulierte. Liam fragte sich, mit wem sie da redete, bis er merkte, dass sie Selbstgespräche führte. „Bodenkontrolle, wir haben hier eine Verrückte", sagte er leise. Er betrachtete ihren Körper durch das Teleobjektiv von oben bis unten. Sie war groß und schlank, ihr dunkles Haar reichte ihr bis auf den Rücken. Sie trug enge verwaschene Jeans, und ihr figurbetontes T-Shirt hob ihre zierlichen Schultern und ihre schmale Taille hervor. „Komm schon, Eleanor", flüsterte er. „Dreh dich um, und lass dich ansehen. Ich bin es nicht gewohnt, einen Freitagabend ohne weibliche Gesellschaft zu verbringen." Doch sie drehte sich nicht um. Stattdessen legte sie ihr Buch hin und ging so schnell ins Schlafzimmer, dass Liam es nicht mehr schaffte, das Objektiv auf ihr Gesicht zu richten. Als er sie wieder fand, stand sie vor einem Kleiderschrank. Und dann, mit einer langsamen, geschmeidigen Bewegung, zog sie sich das T-Shirt über den Kopf. Liam hielt den Atem an. „Wow!" Obwohl er sich ein wenig wie ein Spanner vorkam, konnte er sich nicht von seinem Teleobjektiv losreißen. Er schoss ein Foto und wünschte, sie würde sich endlich umdrehen. Doch sie tat es nicht, als wollte sie ihn ärgern. Ihre Jeans kam als Nächstes dran. Sie streifte sie sich ab und kickte sie fort. Nur noch mit BH und Slip bekleidet, bückte sie sich, um die Jeans vom Fußboden aufzuheben, so dass Liam einen verlockenden Blick auf ihren Po bekam. „Hm, schwarze Unterwäsche. Erstaunlich sexy für eine biedere Buchhalterin." Er schoss ein weiteres Foto. Die feuchte Kälte auf dem Dachboden machte ihm auf einmal nichts mehr aus. Sein Puls beschleunigte sich. Er beugte sich vor und hielt die Kamera noch dichter vor das dreckige Fenster. „Und jetzt den BH", sagte er leise. „Oder den Slip. Das ist mir egal. Du entscheidest." Und dann drehte sie sich um und schien ihn direkt anzusehen. Ihre dunklen Haare fielen ihr dabei ins Gesicht. Erschrocken sprang Liam vom Fenster zurück. Sie war schön und sah überhaupt nicht aus wie auf dem Foto, das er bekommen hatte. „Verdammt!" Er fuhr sich durch die Haare. Wahrscheinlich hatte er das falsche Fenster beobachtet. Er hob die Kamera von neuem, richtete sie auf das gegenüberliegende Gebäude und zählte die Stockwerke durch. Nein, er hatte die richtige Wohnung beobachtet, und als er die Frau wieder fand, hatte sie sich erneut umgedreht und griff gerade nach ihrem BH-Verschluss. Liam schluckte. Er war in Nachtclubs gewesen und hatte gesehen, wie Frauen sich gekonnt auszogen. Aber dies hier war nicht nur ein sexy Körper, es war beinah ... intim. Als sie in einen Bademantel schlüpfte, atmete er erleichtert auf. Wer war diese Frau? Ganz sicher war sie nicht die Frau auf dem Foto, die so konservativ und tüchtig ausgesehen hatte. Aber möglicherweise gehörte das zum Plan. Sean hatte gesagt, Eleanor Thorpe werde verdächtigt, eine Viertelmillion Dollar unterschlagen zu haben. Wie ließ sich ein solches Verbrechen besser durchführen als in der Rolle der zuverlässigen, unscheinbaren Angestellten? Sie ging zum Fenster. „Nein", sagte er. „Nicht die Vorhänge. Lass sie offen." Doch sein Flehen blieb ungehört. Er zog einen alten Sessel ans Fenster und legte die Füße auf die Fensterbank. Garn beobachtete das Apartment weiter, während sich seine Gedanken um die Frau darin drehten. Als einige Stunden später die Lichter in der Wohnung ausgingen, trank er einen großen Schluck von seinem Bier. Er legte den Kopf zurück, schloss die Augen und stellte sich auf eine lange Nacht ein. In seiner Fantasie sah er die dunkelhaarige Frau vor sich, wie sie sich umdrehte und den Bademantel zu Boden gleiten ließ. Er stellte sich ihren Körper vor: feste volle Brüste, eine schmale Taille, lange, geschmeidige Beine. Und dann würde sie einen provozierenden Tanz aufführen,
den seine Kamera einfing ... Liam war nicht sicher, wie lange er geschlafen oder was ihn aufgeweckt hatte - ein Geräusch von der Straße oder das Gefühl, dass etwas passierte. Er rieb sich die Augen und schaute auf seine Uhr. Es war fast Mitternacht, und auf dem Dachboden war es durch den feuchten Frühlingswind eisig. Er setzte sich auf, rieb sich die Arme und fuhr sich durch die Haare, Die Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite war nach wie vor dunkel. Trotzdem nahm er seine Kamera und spähte durch das Teleobjektiv. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene, und in der Nähe bellte ein Hund. Plötzlich erschien ein seltsames Licht hinter einem der Fenster von Eleanor Thorpes Apartment. Langsam stand Liam auf und stellte das Teleobjektiv scharf. Das Licht bewegte sich und verursachte eigenartige Schatten hinter den Wohnzimmerfenstern. „Was zur Hölle ..." Er versuchte etwas in dem dunklen Raum zu erkennen. Das Licht bewegte sich näher zum Fenster, und Liam begriff, dass sich jemand in der Wohnung aufhielt - jemand, der eine Taschenlampe dabeihatte und ganz in Schwarz gekleidet war. „Was zum Teufel ist da los?" War das der Mann, auf den er wartete - Eleanor Thorpes Komplize? Oder wurde Eleanor Thorpe gerade das Opfer eines Einbruchs? Liam würde nicht untätig abwarten, bis er es herausgefunden hatte. Während er die Treppen hinunterrannte, wählte er mit seinem Handy den Notruf. „Ich will einen Einbruch melden", erklärte er und lief auf die Straße. „Summer Street 617. Schicken Sie sofort einen Streifenwagen." Liam fand die Haustür des dreistöckigen Gebäudes auf der anderen Seite angelehnt. Zwei Stufen auf einmal nehmend und so leise wie möglich lief er nach oben. Die Polizei würde erst in einigen Minuten da sein, deshalb hoffte er, keinem Verrückten mit einer Waffe zu begegnen. Als er den dritten Stock erreichte, schob er vorsichtig die Wohnungstür auf und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah er eine Gestalt von durchschnittlicher Größe und Gewicht, die sich im Wohnzimmer bewegte, und deren Gesicht hinter einer Skimaske verborgen war. Liam holte tief Luft. Er würde das Überraschungsmoment brauchen, um den Kerl zu überwältigen. Wenn es ihm gelang, ihn zu Boden zu werfen, würde er schon durch sein Gewicht und seine Größe überlegen sein. Er nahm all seinen Mut zusammen und hoffte, dass der Kerl keine Waffe hatte. Dann stürzte er sich im Hechtsprung auf den Einbrecher, der prompt zu Boden ging. Eleanor schlug die Augen auf und wusste einen Moment lang nicht, wo sie sich befand oder was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber dann hörte sie einen dumpfen Aufprall aus dem Wohnzimmer. Abrupt setzte sie sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. . Sie hielt den Atem an, wartete und fragte sich, ob das Geräusch nicht doch von der Straße gekommen war. Sie hatte die Wohnungstür abgeschlossen, bevor sie zu Bett gegangen war. Außerdem wohnte sie im dritten Stock, zu hoch also für jemanden, der durch ein Fenster einsteigen wollte. Über den Balkon auf der Rückseite gelangte man allerdings leicht in die Wohnung. Da sie vorher in Manhattan gewohnt hatte, waren ihr die Gefahren des Lebens in der Stadt durchaus bewusst. Und jetzt bestand kein Zweifel mehr, dass sich jemand in ihrer Wohnung aufhielt! Ihre Gedanken rasten, während sie ihre Möglichkeiten durchging. Sollte sie zuerst die Polizei anrufen und dann versuchen, ihre Schlafzimmertür abschließen? Oder sollte sie sich zuerst um ihre Sicherheit kümmern? Sie streckte die Hand zu ihrem Nachtschrank aus, bis ihr einfiel, dass sie hier, im Gegensatz zu ihrem Apartment in New York, gar kein Telefon im Schlafzimmer hatte. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür - die zu ihrem Entsetzen kein Schloss besaß! Was jetzt? Ellie atmete tief durch. Sie hatte zwei Möglichkeiten - sie musste entweder an ein Tele-
fon gelangen oder sich mit demjenigen auseinander setzen, der in ihrem Wohnzimmer herumpolterte. Eigentlich hatte sie sogar drei Möglichkeiten - sie könnte sich unter dem Bett verstecken. Oder schreien, bis ihr jemand zu Hilfe kam. Das waren schon vier Optionen. Sie riss sich zusammen und ging den Flur hinunter. Als sie das Wohnzimmer betrat, nahm sie eine Lampe. Plötzlich tauchte eine Gestalt aus der Dunkelheit auf. Ellie kreischte, so laut sie konnte, und schlug mit der Lampe zu. Der Keramiksockel zerbarst, und der Mann sank fluchend auf die Knie. „Gütiger Himmel, was tun Sie da?" Er rieb sich den Kopf. „Das tut weh!" Ellie umklammerte die Lampe fester, entschlossen, den Kerl völlig außer Gefecht zu setzen. Sie holte aus. „Legen Sie sich auf den Fußboden und nehmen Sie die Hände hinter den Kopf." „Was?" Er fluchte erneut. „Ich kam her, um ..." „Tun Sie, was ich sage", warnte sie ihn. „Oder ich schlage Sie k.o." „Ich bin der Falsche", erklärte er und zeigte benommen zur anderen Seite des Wohnzimmers. „Der war es." Ellie sah in die Richtung, in die er zeigte, und bemerkte eine dunkle Gestalt, die über den Fußboden zur Wohnungstür kroch. Ihr erster Impuls war, eine zweite Lampe zu finden und dem Kerl damit eins über den Schädel zu geben. Aber einen der Einbrecher hatte sie schon außer Gefecht gesetzt. Durch ihn würde die Polizei auch den anderen fassen können. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, gerade noch rechtzeitig, denn der Mann zu ihren Füßen war dabei, sich auf sie zu stürzen. Mit einem erschrockenen Aufschrei knallte sie ihm das, was von der Lampe übrig geblieben war, auf den Kopf. Es gab einen dumpfen Aufprall, als er auf dem Boden aufschlug, während der zweite Einbrecher die Treppe hinunterstolperte. Ellie rannte zum Lichtschalter und knipste das Licht an. Der Mann, der auf ihrem Orientteppich lag, sah nicht annähernd so Furcht einflößend aus wie im Dunkeln. Sie stieß ihn mit dem Zeh an, um sicherzugehen, dass er wirklich bewusstlos war. Dann rannte sie durch ihr Apartment, um etwas zu finden, womit sie seine Hände und Füße fesseln konnte. Plastikfolie und eine Strumpfhose mussten genügen. Rasch schnürte sie ihn zusammen wie einen Thanksgiving-Truthahn und setzte sich auf seinen Rücken, während sie seine Füße mit seinen Händen zusammenband. Anschließend durchsuchte sie seine Taschen nach irgendeiner Art Ausweis. Wenn es ihm gelang zu entkommen, hätte sie wenigstens seinen Namen. Er stöhnte leise, und Ellie sprang auf und wich zurück. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte den Notruf. „Ich rufe die Polizei!" schrie sie. „Versuchen Sie nicht zu fliehen!" „Keine Sorge", entgegnete er. „Ich habe die Polizei bereits auf meinen Weg hierher verständigt." „Wie meinen Sie das?" „Ich war hier, um zu helfen. Ich sah, wie dieser Kerl in Ihre Wohnung einbrach, also folgte ich ihm." Ellie runzelte die Stirn. „Ich glaube Ihnen nicht." „Wie Sie wollen. Dann sollen die Cops das klären." Die Notrufzentrale meldete sich, und Ellie nannte schnell ihre Adresse, nur um zu erfahren, dass die Polizei unterwegs war. Ellie informierte sie, dass sie den Einbrecher gefesselt hatte und er auf die Ankunft der Polizei warten würde. Dann legte sie auf und beobachtete ihren Gefangenen. Da sie der Ansicht war, eine weitere Waffe zu brauchen, lief sie in die Küche und holte das größte Messer, das sie finden konnte. Sie setzte sich auf die Sofalehne und behielt den Unbekannten im Auge. Er zuckte zusammen, als er sich bewegte, um eine bequemere Position zu finden. „Diese Knoten sind ein bisschen fest." „Halten Sie den Mund", befahl sie.
Ein langes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Ellie versuchte sich zu beruhigen. „Was glauben Sie, auf was er es abgesehen hatte?" fragte ihr Gefangener. „Wer?" „Der Kerl, den Sie entwischen ließen. Fehlt etwas? Als ich reinkam, durchsuchte er gerade Ihren Schreibtisch. Bewahren Sie darin Geld auf?" „Ich werde Ihnen nicht erzählen, wo ich mein Geld aufbewahre", stellte Ellie klar. Für einen Kriminellen war er sehr besorgt um ihr Wohlergehen. Ein so gut aussehender Mann sollte sein Geld nicht mit Einbrüchen verdienen müssen. Sie klappte seine Brieftasche auf und sah sie durch. „Also, Liam Quinn, wie kam es dazu, dass Sie ein Verbrecher wurden?" „Was macht Sie so sicher, dass ich ein Krimineller bin?" „Wenn Sie kein Krimineller sind, was sind Sie dann?" „Fotograf. Ich arbeite freiberuflich für den ,Globe' und eine Nachrichtenagentur. In meiner Brieftasche befindet sich ein Zeitungsausschnitt. Es war das erste Foto, das ich veröffentlicht habe." Sie nahm das gefaltete Zeitungsblatt heraus und strich es auf ihrem Knie glatt. Es war das Foto eines kleinen Mädchens in der viel zu großen Jacke eines Feuerwehrmannes, das einen zerschlissenen Teddy an sich drückte. „Foto: Liam Quinn" stand unter der Aufnahme. „Ich habe es vor drei Jahren gemacht. Ihr Haus brannte ab. Ihre Familie verlor alles." „Sie sieht so traurig aus", meinte Ellie. „Ja, das war sie. Aber das Foto erregte viel Aufmerksamkeit. Die Leute spendeten Geld, und am Ende der Woche wurde ein Hilfsfonds für ihre Familie eingerichtet. Das gab mir das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben." Er bewegte sich und seufzte ungeduldig. „Können Sie nicht wenigstens meine Füße losbinden? Ich habe einen Krampf im Oberschenkel, der mich umbringt. Ich verspreche auch, dass ich nicht zu fliehen versuche." Ellie zögerte und betrachtete erneut das Foto. Dann durchsuchte sie den Rest seiner Brieftasche. Sie fand einen Presseausweis des „Boston Globe" und drei Kreditkarten und die Karte eines Lokals namens „Cuppa Joe's". Außerdem fand sie ein kleines Foto von einer Familie bei einer Hochzeit. Es zeigte ein älteres Paar neben einer wunderschönen Braut und einem gut aussehenden Bräutigam. Sie waren flankiert von sechs großen dunkelhaarigen und gut aussehenden Männern. Einer von ihnen war Liam Quinn. Das passte alles nicht zusammen. Er sah so nett aus. Vielleicht hatte er tatsächlich nur versucht zu helfen. „Ich habe ein Messer", erinnerte sie ihn. „Und ich will, dass Sie auf dem Boden liegen bleiben." „Abgemacht", sagte er. Ellie ging zu ihm und band seine Füße los. Anschließend wich sie zurück. Er rollte auf den Rücken, rutschte zum Sofa und lehnte sich dagegen. Zum ersten Mal konnte sie sein Gesicht richtig erkennen und stellte fest, dass das Foto in seiner Brieftasche ihm überhaupt nicht gerecht wurde. Er war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Und er hatte eine Wunde an der Stirn, aus der Blut tropfte. „Sie sind verletzt", stellte sie fest. „Das überrascht mich nicht", erwiderte er leise lachend. „Sie haben kräftig zugeschlagen." Ellie wusste, dass sie ihm nicht trauen sollte, aber es schien ihm nichts auszumachen, auf die Polizei zu warten. Sie stand vom Sofa auf und ging in die Küche. „Rühren Sie sich nicht vom Fleck." Hastig nahm sie eine Verbandpackung aus der Schublade neben der Spüle und riss sich ein Stück von der Küchenrolle ab. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, saß ihr Gefangener brav an seinem Platz. „Ich werde die Wunde an ihrer Stirn verbinden. Wenn Sie auch nur zucken, steche ich Sie mit diesem Messer. Verstanden?" „Verstanden." Sie kniete sich neben ihn und legte das Messer neben sich auf den Fußboden. Dann tupfte sie die Wunde mit dem zusammengeknüllten Papiertuch ab. „Allzu schlimm sieht es nicht
aus. Ich glaube nicht, dass es genäht werden muss." Er zuckte zusammen, als sie auf die Wunde drückte, um die Blutung zu stoppen. „Ich habe nicht gezuckt", sagte er. „Das war nur eine Reaktion auf den Schmerz." Ellie sah in seine Augen, deren Farbe eine seltsame Mischung aus Grün und Gold war. Ihr Herz schlug schneller. Sie sah nichts Bösartiges in seinem Blick, sondern Freundlichkeit und Amüsiertheit. „Hören Sie auf damit", sagte sie. „Womit?" „Schon gut." Genau das war es, was sie jedes Mal in Schwierigkeiten brachte. Sie begegnete einem attraktiven Mann, und ehe sie irgendetwas über ihn wusste, fantasierte sie davon, was für einen romantischen und guten Charakter er besaß. Sie liebte es einfach, verliebt zu sein. Es war wie eine Krankheit. Tatsächlich hatte sie sogar schon ein Selbsthilfebuch gelesen, „Liebe offensiv", das einem riet, täglich die Realität zu überprüfen, sobald es zu einer Romanze kam. „Zerstören Sie das Märchen", so lautete der Rat des Autors. Liebe war genau der Grund gewesen, weswegen sie aus New York geflohen war und einen Job hatte sausen lassen, den sie gern gemacht hatte. Um genau zu sein, war es weniger die Liebe gewesen als vielmehr der Mangel daran. Nicht von ihrer Seite, sondern ... Sie fluchte im Stillen. Ellie hatte sich geschworen, nie mehr seinen Namen auszusprechen. Na schön, Ronald Pettibone. Als sie ihn kennen gelernt hatte, war ihr der Name so aristokratisch vorgekommen. Und er hatte eine Nase, die zu seinem Namen passte. Und dann hatte sie ... „Vielleicht sollten Sie die Polizei noch mal anrufen", schlug Liam vor. *,Die brauchen ziemlich lange, um auf einen Notruf zu reagieren. Ich hätte bewaffnet sein können. Sie könnten inzwischen tot in diesem Zimmer liegen. Mein Bruder ist Polizist, daher weiß ich, wie viel Stress die Jungs haben, aber das ist absurd. Langsam schlafen meine Hände ein." „Ich könnte Sie losbinden, damit Sie ..." Ellie hielt inne. „Oh nein, ich fange schon wieder damit an! Ich kann es nicht fassen. Nach Ronald habe ich den Männern abgeschworen, und jetzt..." Sie biss die Zähne zusammen. „Sie sehen sehr gut aus. Ich bin sicher, das wissen Sie. Und falls Sie mir tatsächlich das Leben gerettet haben, bin ich Ihnen dankbar. Aber was Männer angeht, bin ich immer zu vertrauensselig gewesen, und deshalb muss das sofort aufhören." Liam runzelte die Stirn. „Wer ist Ronald?" „Das geht Sie nichts an!" „He, ich mache doch nur Konversation, Eleanor." Ellies Miene verfinsterte sich. „Woher wissen Sie meinen Namen?" Er zögerte einen Moment. „Sie haben ihn der Polizei genannt, als Sie anriefen." „Ich sagte ,Ellie'." „Ich nahm an, Ellie sei die Kurzform für Eleanor. Stimmt das nicht? Oder heißen Sie Ellen? Eloise? Elfreida?" Sie riss die Verbandpackung auf und bedeckte hastig die Wunde an seinem Kopf. „Ich heiße Ellie. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen." „Und wer ist Ronald?" Ellie ging in die Hocke und hob ihr Messer wieder auf. „Mein Exfreund. Aber ich will nicht über ihn sprechen. Um ehrlich zu sein, ich finde, wir sollten uns überhaupt nicht unterhalten." „Wir könnten über Sie sprechen." Ellie hob den Zeigefinger. „Versuchen Sie nicht, Ihren Charme spielen zu lassen. Darauf werde ich nicht hereinfallen. Ich bin unempfänglich dafür. Ich bin ein Fels." Er lachte leise. „Schon gut. Aber vielleicht könnten Sie mir ein Glas Wasser holen. Ich bin ein wenig ..." Das Poltern von Schritten auf der Treppe unterbrach ihn. Ellie sprang auf, um möglichst viel Abstand zwischen sich und Liam Quinn zu bringen. Er war genau die Sorte Mann, in die sie sich ständig verliebte. In Wahrheit sah er noch viel besser aus als die Männer aus ihrer
Vergangenheit. Und wenn er wirklich Fotograf war, war er bestimmt auch noch viel interessanter. Außerdem hatte er einen attraktiveren Körper als ihre Verflossenen und einen besseren Modegeschmack. Und er verstand es, das richtige Eau de Toilette auszuwählen. „Polizei!" Ellie drehte sich zur Tür um und legte das Messer auf den Tisch. Die beiden Polizisten stürmten mit gezogenen Waffen ins Zimmer. Ellie setzte sich auf das Sofa und beobachtete, wie sie Liam abtasteten und auf die Füße stellten. Sie schoben ihn gegen die Wand und durchsuchten ihn noch einmal gründlich. „Würden Sie uns vielleicht erklären, was Sie in der Wohnung dieser Lady machen?" „Ich ging auf der Straße vorbei und sah, wie ein Einbrecher durch die Eingangstür schlüpfte." „Ja, sicher. Woher wussten Sie, dass es sich um einen Einbrecher handelte und nicht um den Ehemann der Lady?" „Oh, ich bin nicht verheiratet", meldete Ellie sich zu Wort. „Er trug eine Skimaske", erklärte Liam. „Ich dachte mir, dass mein erster Eindruck wahrscheinlich richtig war. He, wir können das alles sofort klären, wenn Sie bei dem Revier anrufen, das für die Innenstadt zuständig ist. Mein Bruder ist dort Detective. Sein Name ist Conor Quinn." Sie drehten ihn um. „Wir sind von dem Revier", meinte der größere der beiden Polizisten. „Aber ich kenne keinen Detective namens ..." „Ich schon", unterbrach der andere ihn. „Conor Quinn ist bei der Mordkommission. Ein großer dunkelhaariger Typ. Seine Frau hat gerade ein Baby bekommen. Der hier sieht ihm tatsächlich ähnlich." „Sie hat meinen Ausweis", sagte Liam und deutete auf Ellie. Ellie stand schnell auf und reichte dem Polizisten Liams Brieftasche. „Er sagt die Wahrheit. Sein Name ist Liam Quinn, und er ist Fotograf. Ich ... ich habe mich wohl geirrt." Der kleinere Cop legte Liam Handschellen an und schob ihn zur Tür. „Ich bringe ihn runter zum Wagen, während du ihre Aussage zu Protokoll nimmst", wandte er sich an seinen Kollegen. „Wiedersehen!" rief Ellie Liam nach. „Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen." Sie machte eine Pause. „Können sie bitte dafür sorgen, dass sich ein Arzt die Wunde an seiner Stirn ansieht? Möglicherweise muss sie genäht werden." „Ma'am, warum setzen Sie sich nicht, während wir versuchen herauszufinden, was hier vorgefallen ist?" schlug der Polizist vor. „Na schön. Aber Sie sollen wissen, dass Mr. Quinn sehr höflich war und sich gut benommen hat. Außerdem hat er die Wahrheit gesagt. Es war noch jemand anders in der Wohnung. Ich habe den Kerl hinausrennen sehen. Ich dachte, sie seien Komplizen. Mir war nicht klar, dass Mr. Quinn nur versucht hat, mich zu retten." „Seine Absichten sind noch nicht ganz klar, Ma'am. Ich brauche Ihre Version der Geschichte." Ellie faltete die Hände im Schoß und begann die Ereignisse dieser Nacht zu schildern. „Wird Liam. Quinn ins Gefängnis kommen?" erkundigte sie sich schließlich. „Wollen Sie denn, dass er ins Gefängnis kommt?" entgegnete der Polizist. „Ich glaube wirklich, dass er die Wahrheit gesagt hat. Wenn Sie ebenfalls denken, dass er die Wahrheit sagt, dann sollten Sie ihn gehen lassen." „Fehlt etwas?" Ellie schaute sich um. „Liam meinte, der andere Kerl habe meinen Schreibtisch durchsucht, als er hereinkam. Aber darin befindet sich nichts Wertvolles. Mein Computer ist noch da, ebenso der Fernseher und die Stereoanlage." „Nun, falls Sie feststellen, dass etwas fehlt, rufen Sie mich an, dann füge ich es in den Bericht ein." Der Polizist stand auf und gab ihr eine Visitenkarte. „Sie sollten Ihre
Türschlösser überprüfen lassen. Manchmal kommen Einbrecher ein zweites Mal zurück." Ellie brachte den Polizisten zur Tür und verriegelte sie hinter ihm. Dann nahm sie das Messer und setzte sich aufs Sofa. Sie wollte nicht ins Bett gehen, weil sie fürchtete, der Einbrecher könnte zurückkehren. Sie stand wieder auf und stellte einen Stuhl aus der Essecke unter den Türknauf. Doch wenn sie die Wahl hätte, wäre sie lieber nicht von Schlössern, Stühlen und Fleischermessern zu ihrem Schutz abhängig gewesen. Eingesperrt in eine Gefängniszelle, nützte ihr edler Ritter ihr nicht mehr viel. „Ich hätte ihn gefesselt auf dem Fußboden liegen lassen sollen", sagte sie sich. Aber irgendwie hatte sie den Verdacht, dass er nicht allzu lange gefesselt geblieben wäre. Liam Quinn hätte sie glatt davon überzeugen können, ihn loszubinden - und wer weiß, was dann passiert wäre?
2. KAPITEL Liam lag auf der kalten Stahlbank in der Arrestzelle. Bis vor wenigen Minuten war die Zelle mit einer bunten Mischung von Leuten gefüllt gewesen - zwei Zuhältern, einer Hand voll Betrunkener und Randalierer und vier Harvard-Studenten, die versucht hatten, den Turm des Old South Meeting House zu erklimmen. Die anderen Gefangenen waren inzwischen zur zentralen Registrierungsstelle und von da zum Gericht gebracht worden, so dass Liam allein in der übel riechenden Zelle zurückgeblieben war. Es war alles seine Schuld. Er hatte als Kind viel zu viel Zeit damit verbracht, den albernen Märchen seines Vaters über die edlen Quinns zu lauschen, so dass er bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihm bot, jemandem zu Hilfe eilte. Er hätte auf die Polizei warten oder so viel Aufruhr auf der Straße verursachen können, dass es den Kerl in die Flucht geschlagen hätte. Doch stattdessen musste er in Eleanor Thorpes Apartment stürmen, um sie vor dem Einbrecher zu retten. Erneut sah er sie in dem fast durchsichtigen Nachthemd vor sich. Sobald sie das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, hatte er durch den dünnen Baumwollstoff hindurchsehen können. Liam stöhnte, legte den Arm über die Augen und versuchte diese Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Doch sie ließen sich nicht vertreiben, und statt weiter dagegen anzukämpfen, beschloss er, sie zu genießen. Ellie hatte unglaublich lange Beine, schlank und wohlgeformt, außerdem verführerisch geschwungene Hüften. Und ihre Brüste ... Liam schluckte hart und ballte die Fäuste. Du liebe Zeit, sie war nicht gerade die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Zwar hatte sie faszinierende Augen, doch ihr Mund war eine Spur zu breit, ihre Lippen zu voll. Und ihre dunklen Haare umgaben ihr Gesicht auf eine Art, als sei sie gerade erst aus dem Bett gestiegen - was ja auch der Fall gewesen war. Während er über ihre Begegnung nachdachte, wurde ihm klar, dass es nicht nur ihr Aussehen war, weshalb er sich zu ihr hingezogen fühlte. Was war es dann? Etwa die atemlose Art zu sprechen, wenn sie nervös war? Oder ihre Art sich zu bewegen, beinah amüsant in ihrer Unbeholfenheit? Vielleicht war es die Tatsache, dass sie kein einziges Mal auf ihn reagiert hatte wie andere Frauen. Sie hatte sich nicht an ihn geschmiegt oder sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, um ihn zu berühren. Sie hatte ihm weder neckende Blicke noch ein sexy Lächeln zugeworfen. Stattdessen hatte Ellie Thorpe ihm eine Lampe über den Schädel geschlagen und ihn anschließend wie in einer Sado-Maso-Fantasie gefesselt. Und selbst nachdem er sie halbwegs von seiner Unschuld überzeugt hatte, war sie seinem Charme nicht erlegen. Eine Zellentür wurde nebenan zugeknallt. Liam sah auf und entdeckte einen uniformierten Polizisten hinter den Gitterstäben. Rasch stand er auf und durchquerte die Zelle. „Kann ich meinen Anruf machen?" „Sie haben Ihren Anruf schon gemacht", entgegnete der Polizist. Liam hatte entschieden, dass Conor seine einzige Chance war, dieses Chaos zu klären. Doch sein Anruf mitten in der Nacht war weder von Conor noch von Olivia entgegengenommen worden, sondern von ihrem Anrufbeantworter, und Liam hatte aufgelegt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. „Ich konnte meinen Bruder nicht erreichen. Es zählt nicht, wenn ich mit niemandem gesprochen habe." „Machen Sie vielleicht die Regeln, Quinn?" „Nein, ich will damit nur sagen ..." „Sie wurden bei einem Einbruch gefasst. In diesem Augenblick sollten Sie im Gericht sitzen und sich überlegen, wie Sie die Kaution zusammenbekommen." Liam presste die Stirn gegen die kalten Gitterstäbe. „So habe ich mir meinen Freitagabend nicht vorgestellt. Ich hätte zu diesem Date gehen sollen, statt auch nur einen Gedanken daran
zu verschwenden, Eleanor Thorpes Leben zu retten. Man sollte meinen, sie wäre wenigstens ein kleines bisschen dankbar." Der Cop entriegelte die Zellentür. „Tja, ich vermute, das war sie. Ihre Aussage deckt sich mit Ihrer. Außerdem haben wir Ihren Bruder benachrichtigt. Er ist unten und unterhält sich mit den beiden Kollegen, die Sie festgenommen haben." „Dann bin ich also frei?" „Wir werden Sie nicht polizeilich registrieren. Aber wenn Sie das nächste Mal jemandem bei einem Einbruch beobachten, rufen Sie die Polizei und warten, bis sie eintrifft." Liam lächelte. „Genau das werde ich tun. Versprochen." Der Cop ließ die Zellentür aufschwingen und wartete auf Liam, der sich eilig seine Jacke schnappte. „Ihr Bruder ist unten am Empfang. Sie müssen noch für Ihre Sachen unterschreiben." „Danke." Liam entdeckte Conor, noch ehe er die unterste Treppenstufe erreicht hatte. Sein großer Bruder stand mit finsterer Miene und vor der Brust verschränkten Armen da. „Hallo, Bruderherz", begrüßte Liam ihn und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann." „Spar dir deine Sprüche", warnte Conor ihn. „Das Nächste aus deinem Mund sollte lieber eine Entschuldigung sein, sonst gehen wir nach draußen, wo ich dir eine Tracht Prügel verabreiche." „Tut mir Leid", meinte Liam kleinlaut. „Ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte." Conor machte auf dem Absatz kehrt und nickte im Vorbeigehen brüsk dem Kollegen hinter dem Tresen zu. „Danke, Willie. Ich bin dir was schuldig." Als sie Conors Wagen erreichten, stieg Liam auf der Beifahrerseite ein und beobachtete schweigend, wie sein Bruder sich in den Verkehr einfädelte. ,,Mein Wagen steht in Charlestown. Wenn du mich einfach dort absetzen könntest..." „Ich bringe dich nicht zu deinem Wagen. Den kannst du morgen früh abholen." „Wohin fahren wir dann?" „Zu Dads Pub." „Gut", meinte Liam. „Ich könnte einen Drink gebrauchen." „Ich werde etwas trinken, und du wirst mir erzählen, wieso du mich um ein Uhr Freitagnacht aus dem Bett holst. Seit Rileys Geburt haben Olivia und ich im Schnitt nicht mehr als drei Stunden pro Nacht geschlafen, und als mein Pieper losging, ist er aufgewacht und hat angefangen zu schreien." „Wie geht es dem Kind?" erkundigte sich Liam. „Wahrscheinlich ist er noch immer wach. Entweder schläft er oder er will sein Fläschchen. Und wenn er mal eines von beidem nicht macht, schreit er. Olivia ist erschöpft." Die Stimmung im Wagen blieb angespannt, weshalb Liam froh war, als sie endlich den Pub erreichten. Freitagnacht war immer viel los gewesen in South Boston, und drinnen herrschte noch Betrieb. Zwei hübsche Frauen, die an der Bar saßen, riefen Liam, als er eintrat, und er winkte ihnen zu, während er sich an ihre Namen zu erinnern versuchte. Er ertappte sich dabei, wie er ihre oberflächliche Attraktivität mit der eher feineren Schönheit Eleanor Thorpes verglich. Eleanor war nicht hübsch im herkömmlichen Sinn. Sie besaß weder einen Schmollmund noch einen sinnlichen Blick oder einen Körper wie aus einem Männermagazin. Eigentlich war sie das genaue Gegenteil des Frauentyps, zu dem er sich gewöhnlich hingezogen fühlte - sie war ein wenig zugeknöpft und steif. Dennoch hatte sie etwas an sich, was er unbestreitbar attraktiv fand. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie einen Eindringling ganz allein überwältigt hatte. Sie hatte sich nicht in die Ecke gekauert oder im Bad eingeschlossen, sondern ihn mit einer Lampe niedergeschlagen. Liam rieb sich die Handgelenke, die noch immer wund waren von
den Fesseln. Sie hatte weder gewusst, wer er war, noch welche Absichten er hatte. Er hätte ebenso gut ein verrückter Serienmörder sein können, der es auf sie abgesehen hatte, und trotzdem hatte sie sich zu verteidigen gewusst. Seamus, der hinter dem Tresen arbeitete, zapfte zwei große Gläser Guinness und stellte sie vor seine beiden Söhne, als sie sich auf zwei freie Hocker ans Ende des Tresens setzten. „Hab nicht damit gerechnet, dich heute Abend zu sehen, Con." Er wandte sich an Liam, wobei ihm sein schneeweißes Haar in die Stirn fiel. „Und was dich angeht, so hätte ich deine Hilfe hinterm Tresen gebrauchen können, Junge. Dein Bruder Brian war die einzige Hilfe, die ich hatte, und der ist vor einer Stunde mit einer Blondine verschwunden. Und wo zur Hölle steckt eigentlich Sean, wenn ich ihn brauche?" „Er ist nicht in der Stadt", sagte Liam. Seamus zuckte mit den Schultern und ging davon, um sich mit einem anderen Gast zu unterhalten. Conor nahm einen großen Schluck von seinem Guinness. „Was hast du in der Wohnung dieser Frau gemacht?" „Das, was ich schon der Polizei gesagt habe. Ich habe versucht, sie zu beschützen." Conor schüttelte langsam den Kopf. „Fang mal ganz von vorn an." „Ich sah, wie dieser Kerl sich in ihre Wohnung schlich." „Du hast sie von der Straße aus beobachtet?" „Nein, vom Dachboden des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite." „Und was hast da auf dem Dachboden ..." Conor hielt inne. „Verrate es mir lieber nicht. Du hast mit Sean an einem Fall gearbeitet, oder? Du weißt verdammt gut, dass er bei jeder Gelegenheit das Gesetz umgeht. Worum ging es diesmal? Wieder um einen Scheidungsfall?" „Na ja, wie Sean es formulieren würde, seine Klienten erwarten ein hohes Maß an Diskretion. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich das Apartment beobachtet habe. Dem Polizisten habe ich erzählt, ich sei spazieren gegangen, und er hat es mir abgekauft. Solange du dich für mich verbürgst, werde ich wohl keine Probleme bekommen." „Konntest du den Einbrecher erkennen?" „Nein, es war dunkel, und er trug eine Skimaske. Er war nicht besonders groß, vielleicht knapp ein Meter fünfundsiebzig. Er war auch nicht allzu schwer. Und er stellte sich ungeschickt an. Das habe ich alles schon den Cops erzählt." „Du wirst mir also nicht verraten, an was für einem Fall du und Sean arbeitet?" „Es wäre besser, wenn du nicht danach fragst. Außerdem haben wir keine Gesetze gebrochen - zumindest bis jetzt nicht. Das schwöre ich." Conor rieb sich die Stirn. ,3is auf den Grund, weshalb du auf der Straße warst, hast du der Polizei die Wahrheit gesagt?" „Ja." Conor nickte. „Gut. Wenn die Frau nicht auf einer Anzeige besteht, dürfte dir nichts passieren." „Eleanor. Ellie Thorpe. Sie ist wirklich nett. Ein bisschen schräg, aber nett." Conors Brauen hoben sich. „Was? Ihr habt euch unterhalten?" „Na ja, es gab nicht viel anderes zu tun, nachdem sie mich gefesselt hatte. Die Polizei brauchte ewig, bis sie endlich da war." Das brachte Conor zum Lachen. „Du meine Güte, Liam. Du brichst in die Wohnung einer Frau ein, sie fesselt dich, und du schaffst es trotzdem, sie mit deinem Charme zu verzaubern? Hast du etwa auch ihre Telefonnummer bekommen?" „Nein", antwortete Liam. „Aber ich weiß ja, wo sie wohnt." Conor trank erneut von seinem Bier, dann rutschte er vom Barhocker und nahm seine Schlüssel. „Du weißt hoffentlich, was das bedeutet, oder? Sobald ein Quinn eine Frau rettet, ist er so gut wie verheiratet. Da gibt es kein Zurück." „Du meinst doch wohl nicht, dass ich an diesen Unsinn vom Familienfluch glaube, oder?"
konterte Liam. „Ich habe eine gute Tat vollbracht, und das war's. Ich werde sie nicht wiedersehen." „Halt dich von ihr fern", warnte Conor ihn. „Sonst beschließt sie doch noch, Anzeige zu erstatten, und unbegrenzt kann ich dir nicht helfen." Er seufzte. „Übrigens feiern wir demnächst Rileys Taufe. Wir veranstalten einen Brunch. Olivia hat dir eine Einladung geschickt. Hast du sie schon bekommen?" ,Ja, ich werde auch vorbeischauen. Wer wird denn sonst noch da sein?" „Alle." „Ma auch?" „Natürlich", meinte Conor. „Immerhin ist sie Rileys Großmutter. Und Olivias Eltern kommen aus Florida." Seit Fiona vor über einem Jahr wieder in ihrem Leben aufgetaucht war, hatte es ständig Familienzusammenkünfte gegeben. Zuerst bei der Hochzeit ihrer Schwester Keely, die all die Jahre bei ihrer Mutter gelebt hatte. Und danach bei Seamus' Geburtstag, den er in seinem Pub gefeiert hatte. Im letzten Mai war Dylans und Meggies Hochzeit gewesen. Weihnachten hatten alle bei Keely und ihrem Mann Rafe gefeiert. Und in der Nacht, in der Riley geboren wurde, hatten sich alle im Krankenhaus eingefunden, eine große, lärmende Familie, die immer noch dabei war zu lernen, eine richtige Familie zu sein. Obwohl Liams Vater allmählich Frieden mit seiner Frau schloss, die ihm einfach davongelaufen war, waren nicht alle alten Wunden verheilt. Conor hatte seine Mutter ohne weitere Fragen akzeptiert, ebenso Dylan und Brian. Brendan hingegen hatte eine kühle Distanziertheit aufrechterhalten, während Seans Haltung gegenüber Fiona regelrecht feindselig war. Liam war noch nicht sicher, wo er stand. Einerseits wollte er seine Mutter kennen lernen, andererseits hatte er keine Erinnerung an sie. Sie war gegangen, als er erst ein Jahr alt war. „Ich werde da sein", versprach Liam. „Gut. Und sieh zu, ob du Sean nicht auch überreden kannst, zu kommen. Sag ihm aber nicht, dass Fiona da sein wird. Ach, und bring deine Kamera mit." „Sonst noch was?" „Ja, halte dich bis dahin einfach aus Ärger heraus." „He, du wirst das doch Sean gegenüber nicht erwähnen, oder? Er bezahlt mich ziemlich gut dafür, dass ich ihm bei diesem Fall helfe. Ich kann das Geld gebrauchen." Conor grinste. „Kein Problem." Und damit drehte er sich um und verließ den Pub, nicht ohne seinem Vater „Gute Nacht" zuzurufen. Liam trank sein Bier aus und folgte Conor nach draußen. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und sah die Straße hinunter. Er bewohnte mit Sean eine Wohnung sieben Blocks vom Pub entfernt. Er konnte nach Hause gehen und ein wenig schlafen. Oder er könnte zurück zum Dachboden zurückkehren und Ellie Thorpe weiter beobachten. Liam schüttelte den Kopf, als er zur Bushaltestelle ging. Er würde nicht ihretwegen zurückkehren. Er hatte einen Job zu erledigen, und er hatte es Sean versprochen. Die Tatsache, dass Ellie ihm seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, hatte damit absolut nichts zu tun. „Einen doppelten Americano, koffeinreduziert!" Ein Mann im Geschäftsanzug drängte sich an Ellie vorbei, um seinen Kaffee vom Tresen abzuholen. Ellie fuhr sich durch die Haare und gähnte. Sie zählte die Leute vor ihr und beschloss, dass sie einen vierfachen Espresso nehmen würde statt ihres üblichen doppelten. Seit ihrer Begegnung mit Liam Quinn vor drei Nächten hatte sie kaum noch richtig geschlafen. Sie erinnerte sich daran, .wie sie ihn auf ihrem Fußboden gefesselt hatte. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. Sie hatte absolut nicht damit gerechnet, dass zu ihrer nächsten Be-
gegnung mit einem gut aussehenden Mann gleich Fesselspiele gehören würden. Allein die Vorstellung von Sexspielen mit einem Mann wie Liam Quinn beschleunigte ihren Puls wirkungsvoller, als Koffein es konnte. Zum Glück hatte die Polizei ihn mitgenommen, ehe Ellie ernsthafte Gedanken in diese Richtung entwickeln konnte. Als sie New York verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, eine „Männerpause" einzulegen. Es war nicht so, dass sie Männer nicht mochte. Nur schienen sie sie nicht zu mögen - zumindest nicht genug. Sie hatte fünf ernste Beziehungen in ebenso vielen Jahren gehabt, und alle waren aus Gründen, die sie nicht kannte, von einem Tag auf den anderen zerbrochen. Nach der zweiten gescheiterten Beziehung war Ellie zu der Erkenntnis gelangt, dass Männer launisch waren. Nach der dritten Beziehung beschloss sie, in Zukunft vorsichtiger bei der Wahl ihrer Männer zu sein. Beim vierten Mann hatte sie angefangen sich zu fragen, ob irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Und nach dem Scheitern der Beziehung mit Ronald Pettibone war sie überzeugt, dass sie für Romanzen einfach kein Talent besaß. Mit Ronald weiterhin zusammenzuarbeiten, war unerträglich gewesen, daher hatte sie beschlossen, New York zu verlassen und in Boston neu anzufangen. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, so einsam zu sein. Sie kannte keinen einzigen Menschen in der Stadt, und ohne einen neuen Job gab es für sie keine Möglichkeit, neue Freunde zu finden. Die einzige Person, die sie jemals wiedererkannt hatte, war die Frau mit den Locken, bei der sie jeden Morgen ihren Kaffee bestellte. „Einen vierfachen Espresso bitte, Erica", sagte Ellie mit einem freundlichen Lächeln. Erica sah sie befremdet an, als versuche sie, sich an ihr Gesicht zu erinnern. „Das macht dann vier Dollar sechsundfünfzig, Ma'am." Ellie schaute zur Uhr hoch. Es war erst sieben, zwei Stunden früher, als sie sonst ihren Tag begann. Vielleicht war Erica es einfach nicht gewöhnt, sie so früh zu sehen. Ellie nahm sich vor, „Mein Ich in Bestform" noch einmal zu lesen, ihr Lieblingsbuch zum Thema Selbstbestätigung. Allein in dieser Woche hatte sie vier Vorstellungsgespräche bei Bostoner Banken, und da durfte sie sich nicht schon von der Bedienung im Coffeeshop in ihrem Selbstbewusstsein erschüttern lassen. Sie nahm ihre Brieftasche aus der Handtasche. Sie hatte bereits sechs oder sieben Vorstellungsgespräche hinter sich und fand es seltsam, dass bis jetzt noch niemand zurückgerufen hatte. Obwohl sie ihren Job in New York ziemlich plötzlich aufgegeben hatte, war sie im Guten aus der Firma ausgeschieden. Ihr früherer Chef hatte keinen Grund, ihr irgendetwas anderes als eine überschwängliche Empfehlung zu schreiben. Ellie seufzte. Möglicherweise war die Arbeitsmarktsituation momentan bloß ein wenig angespannt. Sie bezahlte ihren Kaffee, nahm den Pappbecher und trug ihn zu dem Tisch, auf dem Milch und Zucker standen. Sie nahm einen Plastikdeckel von einem Stapel und streute zwei Päckchen Zucker in ihren Kaffee, bevor sie den Becher mit dem Deckel verschloss. Als sie sich zur Tür umdrehte, hielt sie erschrocken inne. Der Grund für ihre schlaflosen Nächte stand am Ende der Schlange, die Hände in den Taschen seiner verwaschenen Jeans. Seine abgenutzte Lederjacke betonte seine breiten Schultern. Ellie sah zur Tür und fragte sich, ob sie einfach hinausgehen sollte. Bis jetzt hatte er sie noch nicht bemerkt, so dass sie leicht entkommen konnte. Doch sie fühlte sich gezwungen, ihn anzusprechen. Sie schuldete ihm wenigstens ein Dankeschön dafür, dass er ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Sie trat hinter ihn und tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich langsam um, und Ellies Herz schlug schneller, als er ihr in die Augen sah. Erneut war sie fasziniert von der Farbe seiner Augen, dieser seltsamen Mischung aus Grün und Gold. „Hallo." Liam schien überrascht von ihrem plötzlichen Auftauchen. „Hallo." Er sah sie ebenso merkwürdig an wie Erica, so dass sie sich schon fragte, ob er sich überhaupt noch an sie erinnerte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin Ellie Thorpe. Von
..." „Ich weiß, wer Sie sind. Die Frau, die mich gefesselt hat und mich verhaften ließ, vergesse ich so schnell nicht." „Es tut mir Leid", sagte Ellie. „Ich habe Samstagmorgen bei der Polizei angerufen, und man hat mir erklärt, dass Sie kein Krimineller sind, sondern tatsächlich nur versucht haben, mir zu helfen. Dafür sollte ich mich wohl bei Ihnen bedanken." Er schaute sich nervös um und richtete den Blick auf die Kaffeekarte über dem Tresen. Ellie wunderte sich, weshalb er so distanziert war. War es ihm peinlich, was sie getan hatte? Oder war er an freundlichem Geplauder einfach nicht interessiert? In jener Nacht war er so charmant gewesen, und jetzt kam er ihr so vor, als wäre er lieber woanders. „Tja, ich sollte wohl besser gehen." „Genau", murmelte er. „Wissen Sie, ich habe Sie gar nicht richtig gerettet. Der Kerl hatte es sicher nur auf Schmuck oder Bargeld abgesehen." „Doch, Sie haben mich gerettet", beharrte Elke. „Der Dienst habende Polizist erklärte mir, ich hätte Glück gehabt, dass Sie vorbeigekommen sind. Einbrecher sind oft bewaffnet, und wenn ich ihn in meiner Wohnung überrascht hätte, hätte er mich vermutlich erschossen. Sie waren also tatsächlich eine Art Ritter in glänzender Rüstung." „Nein, das war ich nicht", wehrte Liam ab. „Nicht mal annähernd." Ein unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Ellie zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich sollte mich auf den Weg machen. Nochmals vielen Dank." „Kein Problem." Zögernd wandte sie sich zur Tür. Dann blieb sie stehen. Sie besaß keinen einzigen Freund in Boston, und Liam Quinn war der erste interessante Mensch, dem sie begegnet war. Obwohl er ein Mann war und sie Männern mindestens für ein Jahr lang abgeschworen hatte, könnte sie doch wenigstens versuchen, ihn als Freund näher kennen zu lernen. Daher ging sie wieder zurück zu ihm. Sie holte tief Luft und nahm ihren Mut zusammen. „Hätten Sie Lust, mit mir essen zu gehen?" Die Worte waren heraus, ehe ihr bewusst wurde, dass sie zu seinem Rücken redete. Schnell ging sie um ihn herum und stellte sich vor ihn. „Hätten Sie Lust, mit mir zu essen?" „Ich?" „Ich habe das Gefühl, ich müsste etwas für Sie tun. Zum Zeichen der Dankbarkeit." „Es war wirklich keine große Sache." Ellies Miene verfinsterte sich. „Gibt es irgendeinen Grund dafür, dass Sie mich nicht leiden können?" „Ich kenne Sie doch gar nicht." „Sie scheinen in meiner Gegenwart ein bisschen nervös zu sein. Liegt es daran, dass ich Sie gefesselt habe? Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mir nur helfen wollten, hätte ich das natürlich nicht getan." Sie räusperte sich. „Ich bin keine von diesen Frauen, die Männer dominieren wollen. Ich habe Ihnen bloß auf den Kopf geschlagen, weil ich Angst hatte. Und gefesselt habe ich Sie, weil ich nicht wollte, dass Sie entkommen." „Ich verstehe." „Gut. Ich bin froh, dass wir das geklärt haben." Sie lächelte. „So, jetzt muss ich aber wirklich gehen. Es hat mich gefreut, Sie wiederzusehen. Viel Glück mit Ihrer Fotografiererei." Ellie wandte sich rasch ab und lief zur Tür, überzeugt, sich komplett zum Narren gemacht zu haben. Sie wusste genug über Männer, um zu merken, wann jemand nicht interessiert war. Liam Quinn hätte kaum gleichgültiger sein können. Möglicherweise hatte sie etwas an sich, was Männer abstoßend fanden. Der Autor von „Was Männer wirklich denken" - das Buch, das sie nach dem Ende ihrer Beziehung mit Ronald gelesen hatte - behauptete, dass eine Frau, die an einer Beziehung nicht interessiert war, entsprechende Signale aussandte, die Männer automatisch registrierten.
„Ellie?" Sie blieb stehen und sah über die Schulter zu Liam. ,Ja?" „Ich würde gern mit Ihnen essen gehen. Wann?" „Wie wäre es mit heute Abend?" „Heute Abend passt mir ausgezeichnet. Um wie viel Uhr?" „Um sieben?" Liam nickte. „Dann also bis um sieben. Ich weiß ja, wo Sie wohnen." Ellie lächelte und beeilte sich hinauszukommen, ehe er es sich anders überlegen konnte. Zum ersten Mal, seit sie nach Boston gekommen war, hatte sie das Gefühl, es könnte ihr hier vielleicht gefallen. Sie hatte einen Freund gefunden, und auch wenn er der attraktivste Mann war, dem sie je begegnet war, würde sie lediglich die Bekanntschaft genießen und keinen Gedanken an eine Romanze verschwenden. Draußen auf der Straße schaute sie zurück, in der Hoffnung, einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen. Als sie sich wieder umdrehte, um ihren Heimweg anzutreten, stieß sie mit einem Mann auf dem Gehsteig zusammen. Beide blieben stehen, und Ellie schnappte erschrocken nach Luft. „Ronald?" „Eleanor? Was machst du denn hier?" Sie starrte in das Gesicht des Mannes, der ihr Liebhaber gewesen war. „Ich? Ich wohne jetzt hier." Er sah völlig anders aus. Sein sonst so ordentlich frisiertes Haar war vom Wind zerzaust und viel länger als früher. Außerdem hatte er sich anscheinend Strähnchen machen lassen. Seine Brille trug er auch nicht mehr, und sein sonst blasses Gesicht war gebräunt. „Ich erkenne dich kaum wieder. Was machst du in Boston?" „Es ist unglaublich, dass ich ausgerechnet dich hier treffe." „Dann bist du also nicht meinetwegen hier?" „Nein", sagte Ronald. „Ich wusste nicht einmal, dass du hier bist. Ich besuche einen alten Freund vom College. Er wohnt ein paar Blocks von hier entfernt." Er machte eine Pause. „Aber vielleicht ist es Schicksal, dass wir uns über den Weg gelaufen sind. Ich habe in letzter Zeit oft an dich gedacht", gestand er und strich mit der Hand über ihren Arm, „und mich gefragt, wie es dir ergangen ist." „Mir geht es gut, Ronald", erwiderte Ellie, um ihn nicht zu ermutigen. Zu ihrer Überraschung fühlte sie sich kein bisschen mehr zu ihm hingezogen. Seine Berührung ließ sie kalt. Nach ihrer Trennung hatte sie sich gefragt, ob sie jemals über ihn hinwegkommen würde. Endlich hatte sie ihre Antwort. „Wir sollten uns mal treffen", schlug Ronald vor. „Was machst du heute Abend?" Ellie seufzte leise. „Ronald, ich habe ein neues Leben angefangen. Das mit uns hat nicht funktioniert, und ich habe es hinter mir gelassen. Das solltest du auch tun. Es war schön, dich wiederzusehen, aber jetzt muss ich gehen." Er packte ihr Handgelenk und hielt sie fest. „Komm schon, Eleanor. Sei nicht so. Wir können immer noch Freunde sein." „Du hast mich einfach fallen lassen. Du hast mich sogar gebeten, dir die Perlenkette zurückzugeben, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast und die Spieluhr. Und dann hast du nur eine Woche nach unserer Trennung deine neue Freundin in der Bank vorgeführt. Ich glaube nicht, dass wir Freunde sein können." „Sag das nicht!" Inzwischen klang er wütend. „Es gibt keinen Grund, dass wir nicht..." „Nein!" schrie Ellie und riss sich los. „Ist alles in Ordnung hier?" Ronald sah auf und ließ die Hände sinken. Ellie war nie aufgefallen, wie klein Ronald war oder wie mager. Verglichen mit Liam wirkte er geradezu mickrig. „Mit mir ist alles in Ordnung", sagte sie. „Ich muss weiter", meinte Ronald. „Wir sehen uns."
Er eilte davon, und Ellie sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwand. Dann wandte sie sich wieder an Liam. „Danke." „Wer war der Kerl?" „Niemand." Er betrachtete sie skeptisch. „Es sah aus, als wäre er ziemlich wütend auf Sie." „Nein, wir kennen uns kaum." „Was wollte er?" Ellie lächelte. „Nichts. Nur Hallo sagen. Wirklich, es ist alles in Ordnung." „Gut", meinte Liam. „Dann sehen wir uns heute Abend." Ellie machte sich auf den Weg zu ihrer Wohnung, während er in die entgegengesetzte Richtung davonging. Sie widerstand dem Impuls, sich umzudrehen, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, völlig fasziniert von ihm zu sein. Doch als sie um die Ecke bog, blieb sie doch noch einmal stehen und sah zurück. Liam war fort. Ellie grinste. Diesmal wusste sie wenigstens, dass ihr edler Ritter zurückkehren würde. Ellie hob den Deckel von dem Topf mit Wasser, in dem sie später Nudeln kochen wollte, dann schaute sie hoch zur Uhr an der Wand. Sie hatten zwar eine Zeit verabredet, aber sie wusste nicht, ob Liam gleich essen oder sich vorher lieber noch ein wenig unterhalten wollte. Ihre Einladung zum Abendessen war ganz spontan gewesen. Sobald sie erst darüber nachgedacht hatte, war ihr klar geworden, dass dieses „Date" eine Menge Probleme aufwarf. Sollten sie zum Essen ausgehen oder zu Hause bleiben? Wenn sie ausgingen, würde er dann darauf bestehen, zu bezahlen? Da sie ihn eingeladen hatte, lag die Wahl des Restaurants bei ihr. Nur kannte sie noch nicht viele Restaurants in Boston. Deshalb hatte sie sich entschieden, ihm ein herrliches Essen in ihrer Wohnung zuzubereiten. Dort hatte sie ihn wenigstens ganz für sich, ohne irgendwelche Ablenkungen. „Lass dass!" ermahnte sie sich und ließ den Deckel wieder auf den Topf fallen. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und ging ins Wohnzimmer. Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch, und sie hob es hoch. Sie hatte „Freundschaft mit Männern" erst heute Nachmittag gekauft, um nicht wieder in dieselben Fallen zu tappen wie früher. Die Autorin schrieb sprachgewandt über Freundschaften zwischen Männern und Frauen, warnte jedoch davor, dass diese Freundschaft für gewöhnlich ruiniert war, sobald die Liebe mit ins Spiel kam. Wenn Ellie nicht so schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hätte, wäre sie einer Affäre mit Liam sicher nicht so abgeneigt gewesen. Doch sie war an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem sie einen Freund dringender brauchte als einen Liebhaber. „Ach, wem versuchst du denn etwas vorzumachen!" Ellie klappte das Buch zu und nahm ein anderes. „Sei ehrlich zu dir selbst: Ein Leitfaden zur Erkenntnis". Dr. Dina Sanders behauptete, der gefährlichste Makel, den ein Mensch besitzen konnte, sei der Hang zur Selbsttäuschung. Und wenn Ellie nicht anerkannte, dass Liam der attraktivste Mann war, dem sie je begegnet war, dann war sie die Königin der Selbsttäuscher. „Na gut, er ist sexy. Dieses Gesicht ist fast zu schön, um es in Worte zu fassen, und er hat wundervolle Augen und ein Lächeln, das eine Frau dahinschmelzen lässt. Und sein Körper ist anbetungswürdig. Das muss ich zugeben. Wenn er sich bewegt, möchte ich ihn nur beobachten und ihn mir nackt vorstellen. Er ist ein fabelhaftes Exemplar von einem Mann." Ellie hielt inne und dachte darüber nach, was sie gerade gesagt hatte. Unwillkürlich musste sie lachen und warf das Buch wieder auf den Couchtisch. „Such nicht nach Antworten in einem Buch", sagte sie. „Such sie in deinem Herzen." Das riet jedenfalls die Psychologin Jane Fleming in ihrem Buch „Hör auf dein Herz". Damals hatte Ellie es für ein wenig paradox gehalten, weil dieser Rat aus einem Buch kam. Trotzdem war es ein guter Rat. „Ich werde einfach der Stimme meines Herzens folgen", sagte sie. „Aber ich werde darauf achten, gleichzeitig auch auf meinen Verstand zu hören."
Ein Summen unterbrach die Stille in ihrem Apartment. Ellie erschrak und presste die Hand auf die Brust. Unter ihren Fingern spürte sie ihr Herz rasen. Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. „Setz dich nicht unter Druck, dies ist nur ein freundschaftliches Abendessen." Und wieso hatte sie dann fast zwei Stunden mit ihrem Make-up zugebracht? Sie drückte den Knopf für die Haustür unten, öffnete ihre Wohnungstür und wartete, bis Liam die Treppen zu ihrem Stockwerk hinaufgestiegen war. Als er den Treppenabsatz erreichte, bemerkte sie, dass er eine Lampe mitgebracht hatte. In diesem Moment trafen sich ihre Blicke, und Ellie erschauerte. Wieso schien er bei jeder Begegnung besser auszusehen? „Hallo", begrüßte sie ihn. „Sie haben eine Lampe mitgebracht." „Die ist für Sie", erklärte er. Sie ließ ihn eintreten und schloss leise die Tür hinter ihm. „Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen." „Normalerweise bringen Männer Blumen oder Pralinen mit. Aber ich fand, nachdem Sie Ihre Lampe auf meinem Kopf zerbrochen haben, schulde ich Ihnen eine." Ellie grinste und streckte die Hand danach aus. „Danke. Ich gehe schnell und stelle sie ins Wasser." Darüber musste Liam lächeln. „Ich schließe sie an." Er zog eine Glühbirne aus einer Tasche seiner Lederjacke. „Zuerst wollte ich Ihnen eine Lampe mit einem Messingsockel mitbringen, aber dann dachte ich, falls Sie mich jemals wieder schlagen, will ich nicht im Krankenhaus landen." „Wie geht es Ihrem Kopf?" „Ich hatte eine kleine Beule, aber die verschwindet schon wieder." Ellie fühlte, wie sie errötete. „Das tut mir wirklich Leid." „Ach was, das ist nicht nötig. Sie haben nur getan, was Sie tun mussten." Ellie zeigte zur gegenüberliegenden Wand. „Hinter dem Sofa ist eine Steckdose." Liam stellte die Lampe auf den Tisch und zog seine Jacke aus, unter der er ein ordentlich gebügeltes Hemd trug, das seine breiten Schultern und die schmale Taille betonte. Ellie nahm ihm die Jacke ab. „Ich lege sie ins Schlafzimmer." Nachdem sie das gesagt hatte, wurde ihr klar, dass er sie auch missverstehen konnte. „Nicht, dass ich damit rechne, dass wir da landen - ich habe bloß keine Garderobe in dieser Wohnung. Diese alten Häuser..." „Sie können meine Jacke ruhig aufs Bett legen", meinte Liam. „Ich bin sicher, sie macht sich keine falschen Hoffnungen." Ellie unterdrückte ein Stöhnen und eilte ins Schlafzimmer, wo sie sich auf die Bettkante setzte und die Jacke an ihre Brust drückte. „Sei locker", ermahnte sie sich. „Sei einfach locker." Sie hob die Jacke an ihr Gesicht. „Gütiger Himmel, riecht er gut." Sie warf die Jacke aufs Bett und lief rasch ins Wohnzimmer zurück. Inzwischen hatte Liam die Lampe angeschlossen. Ellie musste zugeben, dass die neue Lampe viel schöner war als die, mit der sie seinen Kopf malträtiert hatte. „Sie sieht toll aus", bemerkte sie und knetete ihre Finger, da sie plötzlich vergessen hatte, was als Nächstes kam. „Möchten Sie etwas trinken? Ich habe Wein, Bier und Orangensaft. Außerdem Limonade und ..." „Ein Bier wäre nicht schlecht", sagte Liam. „Gut. Setzen Sie sich, ich hole das Bier." In der Küche öffnete Ellie den Kühlschrank und kühlte ihre erhitzten Wangen. Sie fand eine Flasche Bier und kramte in einer Schublade nach einem Flaschenöffner. „Irgendetwas duftet köstlich." Seine Stimme von der Tür her ließ Ellie vor Schreck zusammenzucken, als sie gerade dabei war, die Flasche zu öffnen. Die Flasche entwischte ihr, drehte sich zwei Mal und fiel von der Arbeitsfläche. Zum Glück landete sie auf dem kleinen Läufer vor der Spüle. Statt zu zerplatzen, versprühte sie Schaum über Ellies Schuhe. Sofort war Liam bei Ellie, bückte sich und hob die Flasche auf. Er richtete sich genau in
dem Moment wieder auf, als Ellie sich mit einem Handtuch über ihn beugte, so dass ihr Kinn seinen Kopf traf. Sie biss sich auf die Zunge und schrie vor Schmerz auf. Liam nahm ihr das Handtuch ab, hielt einen Zipfel unter kaltes Wasser und gab es ihr zurück. „Hier, drücken Sie das auf Ihre Zunge." Sie tat, was er sagte, doch ihr Verhalten war ihr peinlich. Er musste sie ja für eine Vollidiotin halten! „Danke", sagte sie dumpf, denn sie hatte den Handtuchzipfel im Mund. „Ich nehme an, Sie haben sich von neulich Abend noch nicht richtig erholt", bemerkte Liam. Sie runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. „ Weil Sie immer noch ein bisschen nervös sind. Ich vermute, Sie sind noch immer leicht erschüttert über das, was passiert ist. Entweder das, oder ich mache Sie nervös. Tue ich das?" Ellie nahm den Handtuchzipfel aus dem Mund. „Nein." Das war die größte Lüge ihres Lebens. „Ich ... ich bin es nur nicht gewöhnt, Gäste zu haben. Sie sind der erste Mensch, den ich in Boston kennen gelernt habe, und ich wollte, dass alles nett ist." „Sie brauchen sich nicht so viel Mühe zu geben", meinte Liam und nahm ihr das Handtuch ab. Er verflocht seine Finger mit ihren, hob ihre Hand an den Mund und küsste sie zärtlich. „Entspannen Sie sich." Ellie starrte die Stelle an, die seine Lippen berührt hatten, und atmete langsam aus. So viel zu rein platonischen Absichten, dachte sie. Vielleicht würde er sie ja auf den Mund küssen, wenn der Kühlschrank auf sie fiel. „Ist im Kühlschrank noch ein Bier?" erkundigte Liam sich. „Ja. Ich hole es." „Ich hole es." Ellie ging zum Herd, rührte in dem Topf mit der Pastasauce und gab Salz in das kochende Wasser im zweiten Topf. „Ich hoffe, Sie mögen Pasta." „Ich esse so ziemlich alles, besonders, wenn es selbst gekocht ist. Sean und ich essen viele Gerichte zum Mitnehmen oder Tiefkühlpizza. Oder im Pub meines Dads, wenn wir dort arbeiten. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas Selbstgekochtes gegessen habe." „Ist Sean Ihr Mitbewohner?" fragte Ellie, um die Unterhaltung in Gang zu halten. Liam trank einen Schluck von seinem Bier. „Mein Mitbewohner und Bruder. Wir haben eine Wohnung in der Nähe der Gegend, in der wir aufgewachsen sind. Meinem Dad gehört ein Pub, in dem meine Brüder und ich aushelfen, wann immer wir können." „Sie haben mehrere Brüder?" Er nickte. „Conor, Dylan, Brendan, Brian, Sean und ich. Und dann haben wir noch eine Schwester, Keely." „Sind Sie der Jüngste?" „Von den Jungs. Keely ist die Jüngste von allen. Wo ist Ihre Familie?" Ellie seufzte. „Bis auf meine Mutter habe ich keine Familie. Aber ich weiß nicht, wo meine Mutter ist. Sie ging fort, als ich drei oder vier war. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Meine Großeltern zogen mich groß. Sie starben, als ich auf dem College war. Also bin nur noch ich da." „Das hört sich nach einer ziemlich harten Kindheit an", bemerkte Liam. „Nein, sie war wundervoll. Meine Großmutter war Bibliothekarin in einer Kleinstadt im Hinterland von New York. Wenn ich nicht in der Schule war, war ich mit ihr in der Bibliothek. Ich liebte Bücher - das tue ich noch immer. In Büchern findet man die Antwort auf alle Fragen. Man muss nur das richtige Buch finden." Sie hielt inne und begriff, wie naiv ihre Worte klangen. „Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?" erkundigte sich Liam. Sie warf eine ordentliche Portion Nudeln ins kochende Wasser und rührte mit einem Plastiklöffel um. „Momentan mit nichts. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job. Ich bin
ja erst vor kurzem von New York nach Boston gezogen." „Und was haben Sie in New York gemacht?" „Ich habe in einer Bank gearbeitet. Ich bin Buchhalterin." „Wieso Boston?" „Ich musste weg aus New York. Ich konnte dort einfach nicht mehr arbeiten." „Weshalb?" Ellie wollte wirklich nicht über ihre Beziehungsprobleme sprechen, schon gar nicht mit einem Mann, auf den sie unbedingt Eindruck machen wollte. „Ich möchte nicht darüber reden. Das gehört alles der Vergangenheit an. Hier fange ich ein neues Leben an." Sie versuchte das Thema zu wechseln. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie meine Einladung zum Abendessen annehmen. Ich dachte, ich wäre vielleicht zu dreist gewesen." „Das macht mir nichts aus." „Manche Männer mögen es nicht. Das war immer mein Problem. In Gegenwart der Männer, mit denen ich ein Date hatte, war ich nie ganz ich selbst. Nicht, dass wir ein Date haben: Bei Ihnen habe ich das Gefühl, als könnte ich mit Ihnen reden. Sie haben mir das Leben gerettet." „Apropos, mir ist aufgefallen, dass Sie keinen vernünftiges Schloss an Ihrer Eingangstür haben. Auch die Fenster zum Balkon hinaus könnten Schlösser vertragen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen im Eisenwarenladen ein paar Sachen besorgen." Ellie kam sein Angebot sehr entgegen. Wie hatte ein Mann wie Liam Quinn nur so lange Single sein können? Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Was, wenn er gar kein Single war? Wenn er eine feste Freundin hatte? Aber dann hätte er wohl kaum ihre Einladung angenommen. Oder hatte er sich etwa aus purer Höflichkeit verpflichtet gefühlt, die Einladung zu akzeptieren? „Wahrscheinlich hat er nur Geld gesucht", fuhr Liam fort. „Sie bewahren doch keine größeren Geldsummen in Ihrer Wohnung auf, oder?" „Nein", sagte Ellie. „Ich besitze gar keine größeren Geldsummen. Wollen wir unseren Salat essen, während die Nudeln garen?" Sie nahm die Teller aus dem Kühlschrank und trug sie in die kleine Essecke. Sie stellte die Teller auf den Tisch, und Liam rückte ihr einen Stuhl zurecht, ehe er sich ihr gegenübersetzte. Er nahm den Wein, den sie auf den Tisch gestellt hatte, und schenkte ihr ein Glas ein. „Ich finde, wir sollten anstoßen", erklärte er. „Auf den Einbrecher, der uns zusammengebracht hat." „Und auf den Ritter in glänzender Rüstung, der zu meiner Rettung eilte", fügte Ellie lachend hinzu. Liams Miene veränderte sich für einen kurzen Moment, so dass Ellie schon glaubte, sie habe etwas Falsches gesagt. Doch dann lächelte er und stieß mit ihr an. Ellie trank einen Schluck Wein und beobachtete Liam über den Rand des Glases. Der Alkohol breitete sich in ihrem Körper aus und half ihr, sich zu entspannen. Allerdings sollte sie nach einem Glas lieber aufhören. Es fiel ihr auch so schon schwer genug, Distanz zu Liam zu wahren.
3. KAPITEL „Möchten Sie noch ein Glas Wein?" Liam nahm die Flasche und füllte Ellies Glas, ohne auf ihre Antwort zu warten. Beschwipst war sie wunderschön. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen leuchteten amüsiert, und sie lehnte sich ständig über den Tisch, so dass er einen verlockenden Blick auf ihre Brüste im tiefen Ausschnitt ihres Pullovers bekam. „Ich sollte eigentlich nicht mehr", meinte sie kichernd. „Zwei Gläser sind mein Limit." Liam brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie ihr Limit schon vor ungefähr drei Stunden erreicht hatte. Die Flasche war leer, und Ellie würde morgen höchstwahrscheinlich mit einem schweren Kater aufwachen. Aber jetzt, im Stadium der Beschwipstheit, war sie einfach süß. Doch es war nicht seine Art, es auszunutzen, wenn eine Frau zu viel getrunken hatte. Obwohl ihn der Gedanke, Ellie ins Schlafzimmer zu schleppen, natürlich reizte. Eine Frau, die sich ihrer eigenen sinnlichen Ausstrahlung kein bisschen bewusst war, hatte etwas äußerst Anziehendes an sich. Die Art, wie sie lächelte, ihn hin und wieder berührte, wie sie sich nach einem Schluck Wein die Lippen leckte - all das machte ihn verrückt. Doch Ellie war völlig arglos und merkte überhaupt nicht, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Liam beobachtete, wie sie den Finger in die Glasur des Schokoladenkuchens steckte, den sie zum Nachtisch serviert hatte, und anschließend den Finger in den Mund schob. Unwillkürlich stellte er sich vor, was dieser Mund mit ihm anstellen könnte, wie ihre Lippen und ihre Zunge seinen Körper liebkosten. Er schluckte hart. Möglicherweise würde er mehr Willenskraft benötigen, als er hatte. Er wusste genug über Frauen, um zu merken, dass er Ellie heute Nacht haben könnte, wenn er sie nur fragen würde. Doch Liam musste einige Dinge klären, bevor es dazu kam. Jetzt, nachdem er sie betrunken gemacht hatte, musste er sie zum Reden bringen. Über ihren Job bei der Bank, Ronald Pettibone und über die zweihundertfünfzigtausend Dollar, die sie angeblich gestohlen hatte. „Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit in New York. Wieso verlassen Sie eine so aufregende Stadt, um nach Boston zu gehen?" Liam fand, dass diese Frage harmlos genug klang. „Ach, reden wir nicht über New York!" erwiderte Ellie. „Damit verbinde ich nur schlechte Erinnerungen an einen sehr schlechten Mann. Na ja, sagen wir vier oder fünf schlechte Männer - so genau weiß ich es schon nicht mehr." „Was war mit dem Kerl auf dem Gehsteig heute Morgen? Gehörte er zu diesen Männern?" Ellie stöhnte. „Er war - oder ist - niemand." Ihre finstere Miene verschwand sofort wieder, und ein übermütiges Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. „Sind die Männer hier in Boston besser? Bitte sagen Sie mir, dass es so ist." „Ich weiß es nicht. Vielleicht sollten Sie mir erst ein bisschen mehr über die Männer in New York erzählen." „Über wen wollen Sie etwas wissen? Wenn ich es Ihnen erzähle, versprechen Sie mir dann, nach New York zu fahren und alle zu verprügeln?" Liam lachte. „Ich werde darüber nachdenken. Erzählen Sie mir von dem Mann, dessentwegen Sie aus New York weggegangen sind." „Das war Ronald", sagte sie und rümpfte die Nase. „Ronald Pettibone. Ein kleinlicher Kerl. Du meine Güte, ich weiß wirklich nicht, wieso ich immer die Idioten abkriege Anwesende ausgeschlossen." „Was hat Ronald denn getan?" „Er hat dafür gesorgt, dass ich mich in ihn verliebte. Und dann hat er mich in jemanden verwandelt, der ich nie sein wollte. Und dann hat er mich sitzen lassen. Und dann besaß er auch noch den Nerv, mich darum zu bitten, ihm alle Geschenke zurückzugeben, die ich von ihm bekommen hatte." Liam sah ihre Niedergeschlagenheit und fand, dass sie absolut nicht wie eine eiskalte
Kriminelle wirkte, sondern eher wie eine Frau, die möglicherweise aus Liebe alles tun würde. Solche Frauen waren manchmal gefährlicher als echte Kriminelle. „Jeder Mann, der mit Ihnen Schluss macht, muss verrückt sein." Sie strahlte und drückte seine Hand. „Das haben Sie nett gesagt. Sie sind ein sehr liebenswürdiger Mann. Hat man mit Ihnen jemals Schluss gemacht?" „Ein paar Mal", log er. „Ich habe da ein richtig gutes Buch, das Sie mal lesen sollten." Sie stand abrupt auf und drehte sich zum Bücherregal an der Wand um. Doch die Kombination aus Wein und rascher Bewegung hatte zur Folge, dass ihr schwindelig wurde. Liam sprang auf und stützte sie, bevor sie hinfallen konnte. „Das Buch heben wir uns wohl besser für ein andermal auf", schlug er vor und drückte sie an sich. Ihr Mund war nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Er spürte ihren warmen Atem an seinem Kinn und widerstand dem Impuls, einfach seine Lippen auf ihre zu pressen. Ellie schloss die Augen, und ihr Kopf schwankte von einer Seite zur anderen. „Tanzen wir?" Sie schlang ihm die Arme um den Nacken und seufzte. „Lassen Sie uns tanzen." „Lieber nicht. Ich sollte Sie besser ins Bett bringen." „Einverstanden. Ich bin ein bisschen betrunken. Möglicherweise erinnere ich mich morgen früh nicht mehr an alles, aber ich weiß, es wird gut." „Es wird nichts zu erinnern geben." Liam hob sie auf die Arme, und sie legte den Kopf an seine Schulter, während er sie ins Schlafzimmer trug. Behutsam legte er sie auf das Bett, wo sie sich bequem ausstreckte, das Gesicht in seine Jacke geschmiegt. „Sie riechen gut", sagte sie. Liam zerrte die Jacke unter ihrem Kopf hervor und zog sie an. Dann streifte er Ellie die Schuhe ab und deckte sie zu. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuss. „Gute Nacht, Prinzessin. Ich werde auf dich aufpassen." Und damit drehte er sich um und ging zur Tür. Die Straße lag dunkel und verlassen da. Er schaute in beide Richtungen, ehe er zu seinem vorübergehenden zweiten Zuhause ging. Die Nacht in Ellies Bett zu verbringen wäre viel bequemer und angenehmer. Aber Liam verführte niemals eine Frau, die nicht verführt werden wollte. Und momentan war Ellie nicht in der Verfassung, zu entscheiden, was sie wollte. Zwar hatte er diesmal nicht die Antworten auf seine Fragen bekommen, dafür aber etwas Besseres. Er hatte herausgefunden, dass Ellie Thorpe weder falsch, hinterlistig noch geldgierig war. Sie war eine wundervolle schöne Frau, eine Romantikerin mit einer albernen Ader, eine sexy Versuchung mit einem unschuldigen Lachen. Liam wusste, dass der Kuss, den er ihr gegeben hatte, nicht der letzte gewesen war. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg er zum Dachboden hinauf, stieß die Tür auf und musste sich dann erst mal an das dämmrige Licht hier oben gewöhnen. „Ich weiß, wo du gewesen bist." Liam erschrak beim Klang der Stimme. Er wirbelte herum und entdeckte Sean auf dem alten Sofa. Er hatte die Beine von sich gestreckt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. „Verdammt, hast du mich erschreckt!" beschwerte Liam sich, während sein Herzschlag sich normalisierte. Sein Bruder stand auf und schlenderte durch den Raum zum Fenster. Er spähte durch Liams Kamera. „Du warst nicht hier. Daher beschloss ich, unsere Zielperson selbst zu observieren. Ich sah einen Mann in Eleanor Thorpes Apartment und dachte schon, Pettibone sei endlich aufgetaucht. Aber rate mal, wen ich stattdessen dort entdeckt habe." Liam wartete, doch die Predigt kam nicht. „Na schön, ich habe einen Fehler gemacht. Dabei wollte ich nur die Gunst der Stunde nutzen. Die ganze Sache ist hauptsächlich deine Schuld." „Meine Schuld?"
„Ich bin kein Privatdetektiv." Liam nahm eine Flasche Wasser aus der Kühlbox. „Du kannst von mir nicht erwarten, dass ich sämtliche Regeln kenne. Vor einigen Nächten brach jemand in ihre Wohnung ein, während ich sie beobachtete." „Hast du den Einbrecher fotografiert?" „Nein! Ich bin zu ihr hinübergerannt und habe mich auf den Kerl gestürzt, bevor er ihr etwas antun konnte. Sie hielt mich für den Einbrecher, schlug mir auf den Kopf, fesselte mich und rief die Polizei." „Die Polizei weiß davon?" Sean stieß eine Reihe derber Flüche aus. „Sie wissen nichts von der Observierung. Conor hat die Wogen wieder geglättet. Übrigens soll ich dich an Rileys Taufe erinnern." „Wechsle nicht das Thema. Das alles erklärt nämlich noch nicht, was du heute Abend in ihrem Apartment zu suchen hattest." „Ich war heute Morgen in der Kaffeebar ein paar Blocks von hier und bin ihr zufällig begegnet. Ich nehme an, die Polizei hat ihr bestätigt, dass ich ihr tatsächlich zu Hilfe geeilt und ein guter Kerl bin, denn sie hat mich heute zum Abendessen eingeladen. Ich habe die Einladung angenommen." Sean fuhr sich ungeduldig durch die Haare. „Was, um alles in der Welt, hast du dir dabei gedacht? Du hättest Nein sagen können." Er schüttelte den Kopf. „Aber du bist ja Liam Quinn, du sagst nie Nein zu Frauen." „Ich fand, dass ich sie in ihrer Wohnung viel besser beobachten kann, die übrigens beheizt ist, wie ich hinzufügen möchte. Hier oben ist es eisig, und es gibt nichts zu tun. Ich beobachte ihre Wohnung jetzt schon seit drei Tagen, und in dieser Zeit ist absolut nichts passiert." „Ein Kerl hat bei ihr eingebrochen." ,Ja, schon, aber das war wohl nur Zufall." „Vielleicht war es auch Pettibone, der ihr einen mitternächtlichen Besuch abstatten wollte. Möglicherweise hat sie ihn erwartet. Hast du daran schon mal gedacht? Solange du dich bei ihr herumtreibst, wird er ganz sicher nicht wiederkommen." Liam hob die Hand. „Dann solltest du den Job von jetzt an lieber allein machen. Ich gehe dir aus dem Weg, damit du tun kannst, was immer du tun willst." Sean dachte einen Moment darüber nach, dann sagte er: „Jetzt, wo deine Tarnung aufgeflogen ist, solltest du dich ruhig weiter mit ihr treffen." „Du willst, dass ich mit ihr ausgehe?" „Du sollst dich weiter mit ihr treffen. Wenn das bedeutet, dass ihr zusammen ausgeht, bitte. Aber bei der ersten Gelegenheit durchsuchst du ihre Wohnung." Liam blickte skeptisch. „Verstößt das nicht gegen das Gesetz?" „Nicht direkt. Wenn sie dich hereinbittet und du ein paar Schubladen aufmachst, ist nichts dagegen einzuwenden. Du handelst schließlich nicht im Auftrag der Polizei." „Conor hat mich gewarnt, ich soll mich von ihr fern halten. Er ahnt, dass ich für dich an einem Fall arbeite." „Gut." „Also was ist jetzt? Willst du, dass ich sie weiterhin sehe oder soll ich aufhören?" „Ich weiß es nicht." „Na, sag mir Bescheid, wenn du es weißt." Liam ging wieder zur Kühlbox und nahm sich ein Schinkensandwich heraus. Er war beim Abendessen so damit beschäftigt gewesen, Ellie in eine Unterhaltung zu verwickeln, dass er kaum zum Essen gekommen war. Er biss von dem Sandwich ab und trat ans Fenster. „Es gab noch einen weiteren Kontakt. Als ich aus der Kaffeebar kam, sprach sie mit einem Mann. Es sah aus, als hätten die zwei eine Auseinandersetzung, doch das bestritt sie. Als ich sie fragte, wer der Kerl gewesen sei, antwortete sie ausweichend. Ich wollte nicht weiter nachbohren." „War es Pettibone?" Liam nahm das Foto von Ronald Pettibone und betrachtete es in Ruhe. „Nein ... ich bin mir
nicht sicher. Schon möglich. Wenn er es war, sah er diesem Foto überhaupt nicht mehr ähnlich. Andererseits sieht Ellie auch nicht mehr aus wie auf deinen Fotos." „Falls er es war, wird er wieder auftauchen", prophezeite Sean und trat neben Liam ans Fenster. „Sie lässt die Vorhänge offen, wenn sie sich auszieht", bemerkte Liam, den Blick auf die Wohnung auf der anderen Seite gerichtet. „Tatsächlich?" Liam zog die Vorhänge zu. „Sei kein Perversling." „Hast du etwa nicht zugesehen?" „Schon, aber das war rein beruflich." „Und was denkst du?" „Sie hat einen tollen Körper", erwiderte Liam. „Wer immer das Foto von ihr in der Bank gemacht hat, sollte sich schämen. Er ist eine Schande für unseren Beruf." „Was hast du sonst noch herausgefunden?" Liam zuckte mit den Schultern. „Ich halte sie nicht für eine Kriminelle. Sie ist in Ordnung." „Sie ist eine Frau", erinnerte Sean ihn. „Noch dazu eine sehr attraktive. Du bist von ihrer Schönheit geblendet." „Ich habe sie doch gerade erst kennen gelernt", konterte Liam. „Vor dem vierten oder fünften Date werde ich nie geblendet." „Worüber habt ihr euch unterhalten?" „Über das Leben. Die Liebe. Die Arbeit. Nichts Besonderes." „Stell sie mir vor, dann gehe ich mit ihr aus. Und ich werde Antworten bekommen." „Oh, klar. Du wirst sie mit deinem scharfen Verstand und geistreicher Konversation becircen", spottete Liam. „Außerdem hatten wir kein Date. Ich habe mit ihr zu Abend gegessen, das ist alles." „Wie heißt sie?" Liam runzelte die Stirn. „Du weißt, wie sie heißt. Ellie. Eleanor Thorpe." „Du bist dabei, dich in sie zu verlieben. Du lächelst, wenn du ihren Namen aussprichst. Ich habe so etwas schon mal gesehen. Es bedeutet immer das Gleiche." „Ich verschwinde", verkündete Liam. „Du kannst deinen Fall allein lösen und sie beobachten." „Kann ich nicht. Ich muss der Sache in Atlantic City nachgehen. Der Ehemann ist zu einer Geschäftsreise nach Syracuse aufgebrochen, und ich muss ihm dahin folgen." „Auf keinen Fall. Ich werde keinen Tag länger auf diesem Dachboden verbringen." „Dann verbring so viel Zeit wie möglich mit Miss Thorpe. Du hast meine Erlaubnis. Sieh zu, was du herausbekommen kannst." Sean ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. Er griff in die Tasche, nahm ein Bündel Geldscheine heraus und warf es Liam zu. „Dreitausend", sagte er. „Das ist die Hälfte des Vorschusses, den ich bekommen habe. Nur vermassle den Fall nicht." Die Tür schloss sich hinter Sean, doch Liam rührte sich nicht von der Stelle. Er starrte auf das Geldbündel in seiner Hand. Dreitausend Dollar. Er hätte auch umsonst Zeit mit El-lie verbracht. Aber jetzt, wo er das Geld in der Hand hielt, begriff er, dass er für seinen Bruder nicht bloß den Privatdetektiv spielte. Sean erwartete von ihm die Aufklärung des Falles, und das bedeutete letzten Endes, Ellie Thorpe ins Gefängnis zu bringen. Ellie betrachtete das Tastenfeld, das neben ihre Wohnungstür montiert war. „Ich dachte, Sie würden mir ein neues Schloss kaufen." Liam lächelte und legte ihr lässig den Arm um die Schulter. „Sie erinnern sich noch an diese Unterhaltung?" Ellie errötete. „Ich erinnere mich noch an das meiste. Besonders an die Kopfschmerzen,
die ich am nächsten Morgen hatte. Ich werde nie wieder Wein trinken. Und ich werde nie dahinter kommen, wie man dieses Ding hier benutzt. Sehen Sie sich nur all die vielen Knöpfe und Lämpchen an." „Das ist besser als ein neues Schloss", versicherte Liam ihr und gab ihr die Bedienungsanleitung. „Es ist ein ganz neues Sicherheitssystem. Das hält die Einbrecher ab." Ellie seufzte im Stillen und ging mit der Bedienungsanleitung zum Sofa. Jedes Mal, wenn sie ihren Videorekorder programmieren wollte, verbrachte sie eine halbe Stunde mit der Bedienungsanleitung. Sie hatte sogar ein Selbsthilfebuch gefunden mit dem Titel „ElektronikAngst", das extra für Leute geschrieben war, die Angst vor ihren Computern, Videorekordern und Radioweckern hatten. Nur leider hatte es nicht geholfen. „Wie viel wird das kosten?" fragte sie. „Ich kann mir das im Augenblick gar nicht leisten." Liam sah zu dem Techniker, der seine Werkzeuge zusammenpackte. „Ed ist ein Freund meines Bruders Conor. Er hat das Sicherheitssystem im Pub installiert. Er macht das hier als Gefälligkeit." „Alles klar", verkündete Ed. „Das sind die Schlüssel für die neuen Schlösser. Die Programmierungsanweisungen stehen im Handbuch. Es ist leichter, als einen Videorekorder zu programmieren. Ich habe sämtliche Fenster und die Tür verdrahtet. Wenn also ein Fenster oder die Tür geöffnet wird, während das System aktiviert ist, geht der Alarm los. Ich habe außerdem Glasbruchsensoren eingebaut. Der Alarm wird direkt zur Wachgesellschaft weitergeleitet, die die Polizei benachrichtigt." „Ausgezeichnet. Danke, Ed." „Ja, vielen Dank, Ed", meinte Ellie. „Kein Problem. Ruf mich an wegen eines Termins für die Fotos", wandte Ed sich an Liam, der ihn zur Tür brachte. Nachdem Ed gegangen war, drehte Liam sich zu Ellie um und lächelte. „Fotos?" fragte sie. „Er möchte ein paar Fotos haben, wie er auf seinem neuen Motorrad durch die Gegend fährt. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm welche mache." „Dann war es also keine reine Gefälligkeit." „Es war ein guter Handel. Und Sie sind jetzt sicher." „Nein, meine Sachen sind sicher. Niemand kann hereinkommen, wenn ich nicht zu Hause bin." „Und niemand kann hereinkommen, wenn Sie da sind. Falls es doch jemand versucht, geht der Alarm los, und die Polizei kommt. Glauben Sie mir, wenn der Alarm losgeht, wird der Einbrecher nicht lange bleiben." „Ich bin nicht sicher, ob ich das System begreife." „Kommen Sie her", forderte er sie auf. „Ich zeige Ihnen, wie es geht. Es ist ganz leicht." Zögernd stand Ellie vom Sofa auf und ging zur Tür. „Sie drücken die Stern-Taste zwei Mal und warten, bis das rote Lämpchen aufleuchtet. Dann tippen Sie Ihren Code ein. Wir nehmen 3-5-5-4. Sehen Sie, das bedeutet E-L-L-I. Damit ist die Anlage ausgeschaltet. Ich werde zusätzliche Kopien Ihrer neuen Schlüssel für den Wachdienst anfertigen lassen. Wenn der Alarm losgeht, wahrend Sie nicht zu Hause sind, fahren die vorbei und sehen nach dem Rechten." „Aha. Trotzdem macht mir die ganze Sache Angst." „Es soll dafür sorgen, dass Sie sicher sind", sagte Liam. „Sicher wovor? Glauben Sie, der Einbrecher wird wiederkommen?" „Wahrscheinlich nicht. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste." „Sie haben Recht", räumte Ellie ein. Sie betrachtete das Tastenfeld und eine leise Furcht beschlich sie. Was, wenn der Einbrecher doch zurückkam und Liam nicht hier war, um ihr zu Hilfe zu eilen? Anscheinend hatte der Einbrecher ja nicht bekommen, wonach er gesucht hatte.
Liam hob ihr Kinn, damit sie ihn ansah. „Sie brauchen keine Angst zu haben." „Ich weiß. Danke." Liam gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Er küsste sie, als sei es das Natürlichste auf der Welt, als hätte er überhaupt nicht darüber nachgedacht, sondern es ganz spontan getan. „Fühlst du dich besser?" Er duzte sie unwillkürlich. „Nicht wirklich. Kannst du das noch mal machen?" Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wurde ihr klar, was sie da gesagt hatte. Er hatte wissen wollen, ob sie sich wegen der Alarmanlage besser fühlte, nicht nach dem Kuss. „Ich werde es versuchen", sagte Liam. Er legte die Hände auf ihre Taille und zog Ellie an sich. In dem Moment, als seine Lippen ihre berührten, gaben ihre Knie nach und ihr Herz raste. Liam küsste perfekt. Ellie versuchte, nicht an all die Frauen zu denken, die er schon geküsst haben musste, um so gut zu werden, doch war sie ihnen zugleich dankbar für ihren Beitrag zur Entwicklung seines erstaunlichen Talents. Ellie teilte die Lippen, so dass er ein erotisches Spiel mit seiner Zunge beginnen konnte. Erst da wurde ihr bewusst, wie unvorbereitet sie das alles traf. Heftiges Verlangen durchströmte sie, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte, eine tiefe körperliche Begierde, die durch seine Berührung und seinen Kuss noch gesteigert wurde. Ellie legte die Hände auf seine breite Brust und fühlte seine Muskeln unter ihren Fingerspitzen. Er war vollkommen, und sie staunte über ihr Glück, das ihn in der Nacht des Einbruchs in ihr Apartment geführt hatte. Sie würde es nicht infrage stellen, sondern es stattdessen in vollen Zügen genießen. Eine Frau wie sie bekam für gewöhnlich nicht die Chance auf einen Mann wie Liam. Langsam löste er sich von ihr und küsste sie ein letztes Mal, bevor er sprach. „Ich muss los." Ihr Mut sank. Sie hatte sich vorgestellt, Liam für den Rest des Nachmittags und bis in die Nacht hinein küssen zu können. „Ich muss eine Kundgebung vor der Faneuil Hall fotografieren", fuhr er fort, und seine Lippen streiften ihre. „Es hat etwas zu tun mit Ausbeutungsbetrieben in Dritte-Welt-Ländern." „Das ist ein ernstes Problem", murmelte Ellie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn erneut. „Der ,Globe' hat heute Morgen angerufen. Es ist ein lukrativer Auftrag." Er küsste ihre Halsbeuge. „Ich muss noch ein paar Briefe schreiben und Bewerbungen verschicken", sagte Ellie. „Wie läuft es bei der Jobsuche?" „Nicht besonders. Ich habe es schon bei sämtlichen großen Banken in Boston versucht, und jetzt werde ich es bei den kleineren probieren. Ich arbeite seit vier Jahren im Bankgeschäft, aber vielleicht sollte ich einen Berufswechsel in Betracht ziehen. Ich könnte mich zur Wirtschaftsprüferin weiterbilden und für ein Steuerberatungsunternehmen arbeiten oder mir einen Posten bei einer kleinen Firma suchen." „Du wirst sicher etwas finden", meinte Liam und streichelte ihre Wange. „Du bist intelligent, fähig und siehst auch noch sehr gut aus." „Und wenn du mich noch einmal küsst, glaube ich das sogar", flüsterte sie. Er gehorchte, dann nahm er seine Jacke und verabschiedete sich. Er versprach, sie am Abend anzurufen. Ellie schloss die Tür hinter ihm und berührte lächelnd ihre Lippen. Die Konturen des Bildes wurden langsam klar, während Liam das Foto in der Entwicklerflüssigkeit schwenkte. Er fand, dass das der beste Teil der Fotografiererei war. Dieser Moment der Erwartung, endlich zu sehen, was die Kamera eingefangen hatte. Jemand klopfte an die Tür seiner Dunkelkammer, die er im Schlafzimmer seiner kleinen
Wohnung eingerichtet hatte. Eigentlich sollte sein Bruder erst in ein oder zwei Tagen wieder zurück sein. „Sean?" rief er. „Ich bin es, Brian. Ich suche Sean." Liam seufzte und warf das Foto ins Wasserbad. „Er ist unterwegs, In Hartford, glaube ich. Er arbeitet an einem Fall." „Kann ich reinkommen?" „Ja." Liam machte die Tür auf. Wie immer war Brian tadellos gekleidet. Seine maßgeschneiderte Garderobe war Ausdruck seines steigenden Ansehens in Boston. Brian war der populärste Enthüllungsjournalist bei WBTN-TV. Sein Gesicht prangte auf Werbetafeln überall in der Stadt, und man konnte ihn alle paar Abende in den Elf-Uhr-Nachrichten sehen, wenn er von einem Skandal berichtete, der die Stadt erschütterte. Offenbar hatte er gerade Feierabend gemacht, da ihm seine Krawatte locker um den Hals hing und sein Hemdkragen aufgeknöpft war. „Du siehst schrecklich aus", bemerkte Brian. „Danke. Wenn du das sagst, betrachte ich es als Kompliment." Brian trat in den Schein des roten Lichts, das die Dunkelkammer beleuchtete. Er schaute sich um, ganz der Reporter und stets auf der Suche nach etwas Interessantem. „Was willst du?" fragte Liam. „Ich arbeite an einer Geschichte. Sean sollte jemanden für mich aufspüren." „Er hat mit einem Scheidungsfall zu tun. Ich vertrete ihn hier." „Woran arbeitest du?" wollte Brian wissen. Liam sah auf das Foto von Ellie, das im Wasser schwamm. Brian folgte seinem Blick. „Wer ist sie?" „Niemand." „Für einen Niemand sieht sie aber verdammt gut aus. Lass mich raten. Sie ist zu attraktiv für eine unglückliche Ehefrau, also muss sie die Nebenbuhlerin sein." ,Ja, das ist sie", log Liam. Er nahm das Foto aus dem Wasser und hängte es an die Leine. „Wieso bist du so spät noch unterwegs? Es ist fast eins." „Ich habe an einer Story gearbeitet, und meiner Erfahrung nach sind Menschen eher bereit zu reden, wenn man mit ihnen den ganzen Abend getrunken hat. Also bin ich meinen Quellen von Bar zu Bar gefolgt." Brian setzte sich auf einen Hocker und blätterte langsam einen Stapel Fotos durch. Er nahm das eines Obdachlosen heraus. „Das ist gut. Manchmal arbeite ich so hart für eine gute Tonbandaufnahme, einen Originalton oder eine interessante Reaktion. Aber es kommt mir nie so aussagekräftig vor wie ein im Bild festgehaltener Augenblick. Das ist echt. Es hat Wirkung. Die Menschen müssen etwas sehen." „Was bringt dich dazu, so philosophisch zu werden?" entgegnete Liam. „Lass mich raten. Eine Frau?" „Schön wär's", antwortete Brian. „Die einzige andere Möglichkeit ist deine Karriere. Inzwischen habe ich dein Gesicht auf jedem Bus in Boston gesehen. Mit deiner Karriere muss es demnach gut vorangehen." „Es läuft es nicht ganz so wie geplant. Sie wollen mich hinter einen Moderatorenschreibtisch setzen. Ich kriege tolle Einschaltquoten. Männer finden mich glaubwürdig, Frauen sehen mich gern. Ich kann einiges für den Sender tun. Zumindest sagen sie mir das." „Was ist daran auszusetzen?" „Ich würde nicht mehr als Reporter arbeiten." Brians Stimme bekam einen leidenschaftlichen Klang. „Stattdessen würde ich die Nachrichten nur noch vorlesen. Ich habe schon überlegt zu kündigen und es vielleicht bei einer Zeitung zu versuchen. Bei einer Zeitung würde mein Gesicht wenigstens keine Rolle spielen. Ich könnte auch freiberuflich für
Zeitschriften arbeiten." „Komm schon, Brian. Du hast einen festen, gut bezahlten Job. Jeder in der Stadt kennt dich. Du kriegst Klassefrauen. Und das willst du alles aufgeben?" „Wenn du es so formulierst, klingt es tatsächlich ein bisschen verrückt", räumte Brian ein. Liam verließ die Dunkelkammer, und Brian folgte ihm. Anscheinend wollte Brian seine Probleme ausführlicher besprechen, doch Sean war dafür nicht in Stimmung. Er hatte selbst genug Probleme. Im Gegensatz zu Brian wusste Liam nie, wann sein nächster Gehaltsscheck eintraf. Niemand in der Stadt war an seinen Fotos interessiert. Und die einzige Frau, die er wirklich attraktiv fand, war wahrscheinlich eine Kriminelle. „Ich muss weg", erklärte Liam. „Fährst du in den Pub?" „Nein, ich muss woanders hin." „Wann kommt Sean zurück?" wollte Brian wissen. „Ich weiß es nicht. Ich bin nicht sein Sekretär. Sean hat sein Handy dabei. Die Nummer ist am Kühlschrank befestigt. Vergiss nicht abzuschließen, bevor du gehst." Liam lief die Treppe hinunter zu seinem Wagen. Er hatte keine Ahnung, wohin er fahren würde. Er wollte einfach nur ein bisschen herumfahren und hoffte, einen klaren Kopf zu bekommen, um eine vernünftige Entscheidung hinsichtlich Ellie treffen zu können.
4. KAPITEL Liam sah durch die Windschutzscheibe seines Wagens, hinter der Charlestown im Regen verschwamm. „Ich will aussteigen", erklärte er. „Das Geld ist mir egal. Betrachte die Arbeit, die ich bis jetzt investiert habe, als Geschenk." „Du kannst nicht aussteigen", erwiderte Sean. „Wir sind zu dicht dran. Früher oder später muss Pettibone bei ihr auftauchen." „Woher willst du wissen, dass er die ganze Sache nicht allein durchgezogen hat?" „Du hast es selbst gesagt. Ellie und er waren ein Paar. Das hat sie dir erzählt. Pettibone hat das Geld unterschlagen, und sie muss irgendwie mit drinstecken. Sie ziehen es ganz cool durch und halten sich voneinander fern, um keinen Verdacht zu erregen." „Das gefällt mir nicht", sagte Liam. „Sie scheint ein netter Mensch zu sein." „Manche Kriminelle sind nett", meinte Sean. „Betrüger gewinnen dein Vertrauen und rauben dich anschließend aus. Das ist eine sehr typische Vorgehensweise." „Wäre es nicht einfacher, sie mit den Vorwürfen zu konfrontieren? Ich könnte sie direkt fragen, ob sie das Geld gestohlen hat, und dabei ihre Reaktion beobachten. Ich kann Menschen ziemlich gut durchschauen und werde merken, ob sie lügt." „Und was dann? Wird sie dir das Geld übergeben?" Sean lachte. „Ein toller Plan." „Vielleicht tut sie es, wenn für die Rückgabe des Geldes die Anklage fallen gelassen wird." „Liam, was hast du eigentlich für ein Problem mit dieser Frau?" „Ich habe kein Problem." „Dann mach, verdammt noch mal, deine Arbeit. Ich gehe jetzt nach Hause." Sean öffnete die Wagentür und stieg aus. Dann beugte er sich noch einmal zu Liam. „Vermassle es nicht. Wir sind nah dran. Lass uns die Sache zu Ende bringen." Sean schlug die Tür zu. Liam beobachtete, wie sein Bruder zu seinem Wagen rannte. Er legte den Kopf zurück und seufzte. Die ganze Sache war außer Kontrolle geraten. Bisher war es so gewesen, dass er Frauen mit seinem Charme verzauberte, um eine leidenschaftliche Nacht mit ihnen zu verbringen. Diesmal setzte er seinen Charme ein, um Ellie hinter Gitter zu bringen. Und je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass sie es nicht verdiente, zwanzig Jahre im Gefängnis zu verbringen, ganz gleich, was sie getan hatte. Er nahm sein Handy aus der Tasche, wählte ihre Nummer und sah zu den Fenstern im dritten Stock hoch. Als Ellie sich meldete, musste er grinsen. „Hallo." „Hallo", sagte sie. Liam stellte sich ihr Gesicht vor, das zögernde Lächeln, die leuchtenden Augen. „Was machst du?" „Ich lese Stellenanzeigen und feile an meinen Bewerbungsschreiben. Ich habe mit einigen Headhuntern wegen Jobs in Washington, D.C., und Chicago telefoniert." Liam wurde bei diesen Worten ernst. Er wollte sich nicht vorstellen, dass sie aus seinem Leben so schnell wieder verschwand, wie sie darin aufgetaucht war. „Wieso vergisst du das nicht für eine Weile und gehst mit mir aus?" „Wohin?" „Ich weiß nicht. Ich hatte vor, dir ein paar Sehenswürdigkeiten in Boston zu zeigen, da du noch neu in der Stadt bist. Ich hole dich in zehn bis fünfzehn Sekunden ab. Sei bereit." Er schaltete sein Handy aus, sprang aus dem Wagen und nahm jeweils zwei Eingangsstufen vor dem Gebäude auf einmal. Als er den dritten Stockerreichte, wartete Ellie schon auf dem Treppenabsatz auf ihn. Sie trug verwaschene Jeans und einen weiten Wollpullover. Die dunklen Haare hatte sie mit einem hübschen Tuch zurückgebunden, und obwohl sie kaum geschminkt war, sah sie großartig aus. „Wo warst du?" „Draußen vor dem Haus", antwortete Liam und lief die letzten Treppenstufen hinauf. Ohne
nachzudenken, umfasste er ihre Taille und gab Ellie einen leidenschaftlichen Kuss. „Du bist ein ziemlich selbstbewusster Mann, wie?" bemerkte sie und legte die Hände auf seine Brust. „Niemand kann meinem Charme widerstehen", neckte er sie. „Hol deine Jacke. Es regnet." Sie verschwand in der Wohnung und kehrte mit Regenhut und Jacke bekleidet zurück. Während sie den Reißverschluss ihrer Jacke hochzog, gab sie Liam einen Schirm. „Wir werden den Schirm nicht brauchen", sagte er. „Lass uns zu Fuß gehen. Ich will mir dieses spitze Ding ansehen, das im Reiseführer steht. Außerdem ist es ein perfekter Tag für einen Spaziergang." „Es regnet." „Gestern Abend habe ich dieses Buch gelesen mit dem Titel ‚Erfahre dein Leben'. Es ging darum, für den Augenblick zu leben. Ein Spaziergang im Regen kann erfrischend sein." „Es ist nass", bemerkte er. „Es kann die Seele reinigen. Jeder muss seine Seele hin und wieder reinigen." „Na schön", gab Liam nach, da er fand, dass seine Seele ein anständiges Bad vertragen konnte. „Wir gehen zu dem spitzen Ding, wie du es nennt, das zufällig das sehr berühmte Bunker-Hill-Denkmal ist." „Das ist ja noch besser. Da lernen wir bei unserem Spaziergang noch etwas über Geschichte." Liam nahm ihre Hand, legte sie in seine Armbeuge, und gemeinsam gingen sie Richtung Monument Square, einem Platz, den er als Bostoner Schuljunge unzählige Male besucht hatte. Doch kaum befanden sie sich auf der anderen Straßenseite, als ihm einfiel, dass er seine Kamera vergessen hatte. Das Licht war außergewöhnlich, hier und dort fiel die Sonne durch den Dunstschleier, und der Regen glänzte auf dem Asphalt. Das waren genau die richtigen Bedingungen für ein gutes Foto. „Warte hier", forderte er Ellie auf. „Ich hole nur schnell meine Kamera." Er lief zu seinem Wagen und nahm eine seiner älteren Kameras aus der Tasche im Kofferraum. Sie war mit einem Schwarzweißfilm geladen, doch vorsichtshalber steckte er noch einen Farbfilm ein. Liam hängte sich die Kamera um den Hals und machte sich wieder auf den Weg. Als er die Kreuzung erreichte, winkte Ellie ihm von der anderen Straßenseite zu, und er dachte, was für ein wundervolles Bild sie in ihrer Regenjacke abgab. Sie kam ihm entgegen, und er blieb stehen und richtete die Kamera auf sie. Liam war nicht sicher, was ihn ablenkte. Wahrscheinlich das Aufheulen eines Motors und das Quietschen der Reifen auf dem nassen Asphalt. Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung und rief Ellie zu, sie solle stehen bleiben. Wie in Zeitlupe beobachtete Liam ihre verwirrte Miene. Sie schaute nach rechts und sah die schwarze Limousine auf sich zurasen. Ellie erstarrte vor Schreck, und Panik erfasste Liam, als er erkannte, dass der Wagen sie anfahren würde und er niemals rechtzeitig bei ihr sein könnte, um sie vor dem heranrollenden Fahrzeug zu retten. Doch Ellie reagierte schneller, als er erwartet hatte. Sie wirbelte herum und warf sich auf die Stoßstange des hinter ihr parkenden Wagens. Von dort fiel sie auf den nassen Asphalt. Der andere Wagen raste davon und bespritze sie mit dreckigem Pfützenwasser. Sobald Liam sah, dass ihr nichts fehlte, richtete er die Kamera auf den Wagen und schoss ein paar Fotos von dessen Nummernschild. Zwar hatte Ellie die Kreuzung recht unvermittelt betreten, doch beschlich Liam der vage Verdacht, dass der Fahrer der schwarzen Limousine es auf sie abgesehen hatte. Als er bei ihr ankam, rappelte Ellie sich gerade wieder auf. Von ihrem Gesicht tropfte graues Wasser, die Knie ihrer Jeans waren dreckig und zerrissen. Zärtlich nahm er Ellie in die Arme. „Ist alles in Ordnung mit dir?" „Ich habe ihn nicht kommen sehen", meinte sie mit zitternder Stimme. „Ich habe nach rechts und links geschaut, aber er tauchte wie aus dem Nichts auf. Wenn du mich nicht
gerufen hättest, hätte er mich angefahren." Sie legte ihm die Hände auf die Brust und sah zu ihm auf. „Du hast mir das Leben gerettet ... wieder einmal." Liam strich ihr durch die nassen Haare und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Hatte er bei dem Einbruch noch Zweifel gehabt, was seine Rolle als „Lebensretter" anging, konnte er es diesmal nicht leugnen. Sie hatte Recht. Wenn er den Wagen nicht gehört hätte, würde sie jetzt vermutlich mitten auf der Straße liegen, schwer verletzt oder schlimmer. „Wir sollten dich säubern", schlug er vor und küsste ihre Schläfe. Sein Herz hämmerte noch immer wild, doch er nahm sich zusammen, damit sie seine Angst nicht spürte. Wenn der Fahrer tatsächlich vorgehabt hatte, sie zu überfahren, würde Liam den Grund dafür herausfinden. Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zurück zum Eingang des Hauses, in dem sie wohnte. Liam hatte das beunruhigende Gefühl, dass der Einbruch und der Wagen irgendwie zusammenhingen und der Fall, an dem er für Sean arbeitete, die Ursache für beide Vorkommnisse war. Ellie zog die Schlüssel aus ihrer Tasche und versuchte sie mit zitternder Hand ins Schloss zu schieben. Doch so sehr sie es auch probierte, es gelang ihr nicht. „Warte", sagte Liam. „Lass mich das machen." Er schloss die Tür für sie auf und bugsierte sie sanft in die Wohnung, während er die Alarmanlage deaktivierte. Ellie wollte geradewegs zum Sofa gehen, aber Liam hielt sie auf, um ihr aus der Jacke zu helfen. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?" „Ja. Ich brauche nur einen Moment, um wieder zu mir zu kommen.!' „Du solltest dir trockene Sachen anziehen. Oder, noch besser, ein Bad nehmen." „Mach ich." Er drückte sie an sich, und sie schmiegte den Kopf an seine Brust. Sie hatte das Gefühl, für immer in seinen Armen liegen zu können, und dass seine Berührungen all ihre Ängste vertreiben konnten. „Erst bin ich in meiner Wohnung nicht sicher und jetzt auch nicht mehr draußen." Liam strich ihr zärtlich über die Haare. „Es war einfach nur Pech." „Ich hatte eine regelrechte Pechsträhne. In diesem Buch mit dem Titel ,Die Geheimnisse des freien Willens' heißt es, es gebe kein Pech, sondern dass wir sämtliche Situationen, in denen wir uns befinden, selbst schaffen. Aber daran glaube ich nicht. Da war der Einbruch. Wieso hat der Kerl sich meine Wohnung ausgesucht? Die Leute unter mir haben einen viel besseren Fernseher. Außerdem habe ich große Probleme, einen Job zu finden. Und den Ziegelstein habe ich ebenfalls nicht von meinem Wohnhaus geworfen." „Was für ein Ziegelstein?" wollte Liam wissen. „Es passierte vor einigen Tagen. Ich wollte zu einem Vorstellungsgespräch, und plötzlich kam dieser Ziegelstein angeflogen und traf mich beinah am Kopf. Er sah genauso aus wie einer der Steine von meinem Wohnhaus, deshalb rief ich den Vermieter an, um ihm mitzuteilen, dass er hier ein ernstes Sicherheitsproblem hat." „Und was geschah dann?" „Er entdeckte ein paar Steine auf dem Dach, meinte jedoch, dort hätten sicher nur Jugendliche gespielt. Manchmal klettern sie über die hinteren Balkone aufs Dach." Sie lächelte schwach. „Ich sollte jetzt das Bad nehmen. Das beruhigt mich sicher." „Brauchst du etwas? Ich könnte dir eine Tasse Tee kochen." „Das wäre sehr nett", sagte sie und ging ins Badezimmer, wo sie sich auf den Rand der altmodischen Badewanne mit den Klauenfüßen setzte. Plötzlich fühlte sie sich zu erschöpft, um sich zu rühren. .Obwohl sie Liam erst seit zehn Tagen kannte, war er so gegenwärtig in ihrem Leben. Wenn sie allein auf der Straße gewesen wäre und er sie nicht gerufen hätte ... wenn er jetzt nicht hier wäre und ihr das Gefühl gäbe, in Sicherheit zu sein... „Mein Ritter in glänzender Rüstung", murmelte sie und drehte das Wasser an. Während sich die Badewanne langsam füllte, streifte Ellie die nassen Schuhe und Socken
ab. Dann zog sie den Pullover über den Kopf. Ihr Baumwollunterhemd war von dem dreckigen Pfützenwasser verschont geblieben, doch die Feuchtigkeit schien ihr bis in die Knochen gedrungen zu sein. „Hier ist dein Tee." Sie sah auf und entdeckte Liam im Türrahmen. „Danke." „Ich bin kein Teetrinker, deshalb habe ich ihn nicht auf die übliche Weise zubereitet, sondern einfach nur Wasser erhitzt und einen Beutel hineingetan. Ich hoffe, er ist in Ordnung." Sie trank einen Schluck, der sie sofort wärmte. „Perfekt." Ellie atmete tief durch. „Kann ich dich mal was fragen?" „Sicher." „Glaubst du, man hat versucht, mich zu überfahren?" Ein Ausdruck des Unbehagens huschte über Liams attraktives Gesicht, ehe er ein Lächeln aufsetzte. „Wieso sollte jemand dich überfahren wollen?" „Ich weiß nicht. Es ist nur..." Ellie winkte ab und stellte den Becher neben die Badewanne. Nervös nahm sie ein Badehandtuch und hängte es auf die Stange. Liam trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Ellie legte den Kopf zurück und seufzte, als er ihren Nacken zu massieren begann. Seine Berührung tat so gut. Doch als er einen Träger ihres Unterhemds zur Seite schob und sie auf die Schulter küsste, erstarrte sie und hielt den Atem an. Dann, als sei sämtliche Furcht plötzlich von ihr abgefallen, drehte Ellie sich um und sah ihm in die Augen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Doch ein kurzer, flüchtiger Kuss genügte ihr nicht. Zögernd schlang sie ihm die Arme um den Nacken und zog ihn an sich, während sie ihre Lippen ein wenig unbeholfen auf seine presste. Liam schien das nichts auszumachen. Er drückte sie an sich und erforschte ihren Mund mit seiner Zunge. Ellie wusste, dass sie lieber vorsichtig sein sollte. Schließlich kannten sie sich kaum. Andererseits hatte er ihr schon zwei Mal das Leben gerettet. Von einem solchen Mann hatte sie doch nichts zu befürchten, oder? Seine Hände glitten unter ihr Unterhemd und umfassten ihre Taille, während sein Kuss leidenschaftlicher wurde. Zwar ließ sie das einerseits ihre Sorgen vergessen, doch dummerweise beeinträchtigte es auch ihren gesunden Menschenverstand. Sie hatte sich geschworen, sich mindestens ein Jahr lang von Männern fern zu halten. Gehalten hatte sie diesen Schwur ganze siebenundsechzig Tage und ungefähr sechs Stunden. Und nach nur wenigen unglaublichen Küssen war sie so weit, alle ihre Vorsätze über Bord zu werfen. „Ich habe einmal gelesen, dass Menschen, die knapp dem Tod entronnen waren, hinterher von wilder Leidenschaft gepackt wurden. Glaubst du, das passiert hier gerade mit uns?" „Ich weiß nicht. Wäre das schlecht?" Ellie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Es ist nur eine Beobachtung des Autors." „Vielleicht sollten wir lieber aufhören." Langsam zog sie das Unterhemd hoch. „Vielleicht auch nicht." Sie versuchte in seinem Gesicht einen Hinweis darauf zu finden, dass er sie ebenso sehr begehrte wie sie ihn. Er umfasste ihre Brüste und streichelte mit den Daumen ihre Knospen durch den Stoff hindurch. „Du bist wunderschön", flüsterte er. „Vom ersten Moment an habe ich mir das hier vorgestellt." Er legte seine Stirn an ihre. „Du bist in deinem Nachthemd mit dem Telefon in der Hand um mich herumgetänzelt." Er grinste. „Im Gegenlicht wurde das Nachthemd durchsichtig, musst du wissen." „Du hast hingesehen?" „Ich konnte nicht anders." Sie zog das Unterhemd noch ein Stück höher, bis es sich unter ihren Brüsten bauschte. „Zum Glück habe ich dich gefesselt", neckte sie ihn. „Mir war nicht klar, wie gefährlich du warst."
Liam lachte leise und schob ihre Hände fort. „Magst du es gefährlich?" Er zog ihr das weiche Baumwollkleidungsstück über den Kopf und warf es beiseite. Als er ihre Brüste diesmal berührte, war es elektrisierend und sandte heiße Schauer durch ihren Körper. ,Ja, ich mag es gefährlich. Sehr sogar." Erneut küsste Liam sie voller Leidenschaft. Ellie erwiderte den Kuss, denn er schien genau zu wissen, was sie wollte. Jede Stelle ihres Körpers sehnte sich nach der Liebkosung seiner Lippen, noch ehe sie sie berührten. Ellie konnte nicht leugnen, dass sie ihn begehrte, doch es war ein unvernünftiges Verlangen. Bei jedem anderen Mann hatte es Wochen und Monate gedauert, bis sie so weit war. Jetzt war es ihr egal. Was machte es schon, dass sie Liam erst seit zehn Tagen kannte? Und was machte es, dass er vermutlich schon unzählige Frauen verführt hatte? Das alles spielte keine Rolle. Es zählte nur ihr Verlangen nach ihm. Hastig knöpfte sie sein Hemd auf und fuhr mit den Händen über seine nackte, muskulöse Brust und die feinen Härchen darauf. Sie folgten diesen Härchen nach unten, als seien sie eine Landkarte, die sie zum nächsten Schritt ihrer Verführung brachte. Als sie den Knopf seiner Jeans öffnen wollte, schob Liam ihre Hände fort. Stattdessen öffnete er den Reißverschluss ihrer Jeans und schob sie zusammen mit dem Slip herunter. Dann hob er Ellie hoch und setzte sie auf die Ablage neben dem Waschbecken. Sie kam nicht dazu, darüber nachzudenken, dass sie vollkommen nackt und er noch angezogen war, denn er begann ihren Körper behutsam mit seiner Zunge und seinen Lippen zu erkunden. Ellie hätte das Gefühl, zu taumeln und zu fallen, doch seine starken Hände hielten sie fest. Liam fuhr mit der Zunge von ihren Brustspitzen hinunter zu ihrem Bauchnabel, hielt inne und spreizte ihre Schenkel. Ellie sog scharf die Luft ein, als sein Mund sein nächstes Ziel fand. Er weckte so lustvolle Empfindungen in ihr, dass sie es kaum noch aushielt. Sie fühlte sich schwerelos und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, sondern sich nur noch dem Vergnügen hingeben, das er ihr verschaffte. Ellie fuhr ihm mit ihren Fingern durch die Haare und bog sich ihm entgegen. Sie wollte sich zurückhalten und diese Verletzlichkeit nicht zulassen, aber mit jeder Sekunde brachte das Spiel seiner Zunge sie dem Gipfel näher. Und dann, als würde etwas in ihr explodieren, schrie Ellie auf dem Höhepunkt auf. „Fühlst du dich besser?" flüsterte Liam und küsste ihren Hals. Sie erschauerte. „Ich glaube, das Buch hatte Recht." „Bist du jetzt bereit für dein Bad? Die Wanne ist nämlich längst voll." Ellie war das Bad egal. Sie wollte Liam in ihr Schlafzimmer zerren, um fortzusetzen, was er begonnen hatte. Nur wusste sie nicht, wie sie ihn um das, was sie wollte, bitten sollte, daher nickte sie nur. ,Ja, ein Bad wäre nett." Kerzenlicht flackerte in Ellies Badezimmer, und sie tauchte seufzend bis zum Kinn in das heiße Wasser. Liam beobachtete sie vom Türrahmen aus, ein Glas Wein in der Hand. Sie sah so schön aus und so entspannt, dass er beinah versucht war, sie aus der Badewanne zu heben und zu ihrem Bett zu tragen, um sie zu lieben. Doch Liam hielt sich mit gutem Grund zurück. Obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als mit Ellie zu schlafen, wusste er doch, dass er damit letztlich ein zu hohes Risiko einging. Er durfte nicht vergessen, dass er nach wie vor für Sean arbeitete. Er hatte einen Job zu erledigen, und ganz gleich, wie intensiv seine Gefühle für Ellie waren, es bestand die Möglichkeit, dass sie ein Verbrechen begangen hatte. Aber war es wirklich das, wovor er Angst hatte? Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie zu einer solchen Täuschung nicht fähig war. Doch sie war zu etwas viel Gefährlicherem fähig.
Sie konnte sein Herz stehlen, ihn dazu bringen, sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Und das war das Letzte, was er wollte. Langsam ging er auf die Badewanne zu und kniete sich daneben. „Hier", sagte er. Ellie öffnete die Augen und nahm lächelnd das Glas entgegen. „Ich nehme an, mein Tee ist kalt geworden." „Der Wein wird dir helfen, dich zu entspannen." „Ich glaube nicht, dass ich mich noch mehr entspannen muss", erwiderte sie und setzte sich auf. Wasser perlte von ihren Brüsten und ließ ihre Haut glänzen. Sie stellte das Glas auf den Fußboden und fuhr Liam durch die Haare. „Es geht mir gut", flüsterte sie. „Bist du dir sicher?" Elbe nickte. „Es war einfach nur ein Unfall, sonst nichts. Der Fahrer sah mich nicht, ich habe ihn nicht gesehen. Es war dumm. Ich hätte besser aufpassen sollen. Und von jetzt an werde ich das auch." „Gut." Liam küsste sie auf die feuchten Lippen. „Ich kann schließlich nicht ständig zu deiner Rettung herbeieilen." Doch Liam würde nicht eher ruhen, bis er herausgefunden hatte, wer den Wagen gefahren hatte. Die Fenster waren getönt gewesen, doch war er sich ziemlich sicher, dass ihm ein paar Fotos des Nummernschildes gelungen waren. Falls es irgendeine Verbindung gab zwischen dem Fahrer und Ronald Pettibone, würde er es herausfinden. Und dann würde Petti-bone dafür bezahlen. „Möchtest du, dass ich dir die Haare wasche?" fragte er. Ellie nickte. Liam richtete sich auf, nahm den Becher Tee und leerte ihn im Waschbecken. Dann bückte er sich wieder zu Ellie hinunter, nahm eine Hand voll Wasser und goss es behutsam über ihren Kopf. Ellie reichte ihm eine Flasche Shampoo, und nachdem ihre Haare nass waren, drückte er einen Klecks in seine Handfläche und begann sanft, es in ihre Haare einzumassieren. In gewisser Hinsicht kam ihm das intimer vor als alles, was sie bisher zusammen erlebt hatten. Das Telefon klingelte. „Willst du, dass ich rangehe?" „Nein", sagte Ellie. „Lass den Anrufbeantworter anspringen." „Na schön." Liam bewegte die Finger hinunter zu ihrem Nacken und massierte weiter. Nach dem vierten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. „Hallo, Eleanor. Hier spricht Ronald. Ich wollte mich nur für neulich entschuldigen. Ich war einfach so überrascht. Ich habe nicht mit diesen Gefühlen gerechnet... Na ja, ich wollte dir sagen, dass ich dich unbedingt wiedersehen muss. Bald. Wir müssen uns unterhalten. Ich habe Kontakt zu einigen Banken hier in der Stadt und ... nun, das besprechen wir, wenn wir uns sehen. Ich wohne im ,Bostonian', Zimmer 215. Ruf mich an." Der Anrufbeantworter piepte am Ende der Nachricht. Liam ließ die Finger langsam auf ihre Schultern sinken. Ronald Pettibone? Verdammt, wann hatte sie den gesehen? In den letzten zehn Tagen war er doch fast ständig mit ihr zusammen gewesen, und wenn nicht, hatten er oder Sean sie beobachtet. „Es ging wohl um einen Job", meinte Ellie und lachte kurz auf. „Wie peinlich, wenn der eine Mann anruft, während man mit einem anderen in der Badewanne sitzt." Für eine Weile hatte er fast vergessen, was ihn und Ellie überhaupt zusammengebracht hatte. Doch jetzt wurde ihm klar, in was für ein Chaos er sich manövriert hatte. Sean hatte ihn gewarnt, doch er hatte nicht auf seinen Bruder hören wollen. Er war überzeugt gewesen, alles unter Kontrolle zu haben. Dabei hätte ihm vom ersten Moment an, als er Ellie sah, klar sein müssen, dass er in Schwierigkeiten steckte. Und wenn nicht schon da, dann spätestens seit dem ersten Kuss. Er hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Er räusperte sich und hoffte, dass er gelassen klang. „Wer ist Ronald?" Das war die logische Frage in dieser Situation, auch wenn er die Antwort natürlich kannte.
„Ich habe dir von ihm erzählt. Er ist ein Kollege aus New York. Eigentlich mehr als das", räumte sie ein. „Jetzt allerdings nicht mehr ..." Sie drehte sich um, so dass sie Liam in die Augen sehen konnte. „Wir waren mal zusammen." „Ihr wart ein Paar?" „Ja. Aber niemand wusste davon. Wir hielten es geheim. Ronald befürchtete, es könnte unseren Karrieren schaden, falls unsere Kollegen bei der Bank davon erführen. Dann machte er mit mir Schluss, und ich erkannte, dass ich ihm ohnehin nie wirklich etwas bedeutet habe." „Und jetzt ist er hier in Boston?" „Ja. Du hast ihn übrigens neulich vor der Kaffeebar gesehen. Er unterhielt sich mit mir, als du herauskamst. Erinnerst du dich?" Liam atmete langsam aus. Grundgütiger, wie hatte er so dumm sein können? Ellie hatte ihrem Foto kein bisschen ähnlich gesehen - wieso hatte er da erwartet, dass Ronald Pettibone seinem Foto ähnelte? Vielleicht war das alles Teil des Plans. Ein neues Leben, ein neues Aussehen. Andererseits lebte Ellie nicht versteckt. Sie suchte einen neuen Job, fand neue Freunde und versuchte nicht im Geringsten, ihre Identität zu verschleiern. Das war nicht gerade das Verhalten von jemandem, der in kriminelle Machenschaften verwickelt war. Aber konnte man das Gleiche von Ronald Pettibone behaupten? Keine Sekunde lang glaubte Liam daran, dass sein Auftauchen in Boston Zufall war. Er war aus einem Grund hier, und der hatte entweder mit dem Geld zu tun, das sie beide gestohlen hatten, oder mit Ellie selbst. „Vielleicht solltest du ihn zurückrufen", schlug er vor. Jetzt?" „Nicht sofort. Aber sobald du aus der Badewanne gestiegen bist." Ellie fuhr träge mit der Hand durchs Wasser. „Zwischen mir und Ronald ist es vorbei. Ich will nicht, dass du denkst..." „Das tue ich nicht", unterbrach er sie und hasste bereits den Namen von diesem Kerl. Er begann Ellie das Shampoo aus den Haaren zu spülen, und eine ganze Weile sprachen sie nicht. Schließlich richtete Liam sich auf und nahm ein Handtuch von dem Halter neben dem Waschbecken. „Das Wasser wird kalt", sagte er. Ellie sah ihn lange an, als versuche sie, aus seiner Miene schlau zu werden. Dann stand sie langsam auf, und das Wasser lief an ihrem nackten Körper herab. Liam wickelte sie rasch in das Handtuch, um nicht noch mehr in Versuchung zu geraten. „Du bist doch nicht böse, dass er angerufen hat, oder?" „Wie kommst du darauf?" fragte Liam und steckte das Handtuch um ihre Brüste fest. „Du wirkst ein wenig beunruhigt." Es ist nicht gut, wenn sie misstrauisch wird, dachte er. Andererseits konnte er seine Gefühle nicht verleugnen. „Vielleicht bin ich das. Aber das sollte dich nicht davon abhalten, dich mit ihm zu treffen. Er erwähnte Banken. Vielleicht kann er dir helfen, einen neuen Job zu finden." Ellie lächelte. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Er meinte, er hätte einige Kontakte hier in Boston. Möglicherweise kann er mir weiterhelfen. Deswegen wollte er wahrscheinlich mit mir sprechen." „Was hältst du davon, wenn ich uns etwas zu essen besorge, während du dich abtrocknest?" „Die Sonne kommt raus", meinte Ellie. „Vielleicht sollten wir zum Essen ausgehen und anschließend Sehenswürdigkeiten besichtigen. Ich fühle mich schon viel besser. Frische Luft und Bewegung werden mir gut tun." In Wahrheit wollte Liam unbedingt aus der Wohnung kommen, um Sean die Neuigkeiten mitzuteilen. Ronald Pettibone war in der Stadt, und Liam wusste genau, wo er zu finden war. Wenn alles glatt ging, würde Liam bald Antworten auf all seine Fragen haben. Dann würde er endlich wissen, wo er bei Ellie stand.
5. KAPITEL Der Brunch nach der Taufe war in vollem Gang, als Sean ankam. Liam beobachtete, wie er Conors und Olivias Apartment betrat. Liam hatte nicht damit gerechnet, dass er auftauchte, da Fiona ebenfalls anwesend war. Als Liam ihre gemeinsame Wohnung verlassen hatte, hatte Sean auf dem Sofa gelegen und sich ein Basketballspiel angesehen. Das Verhältnis zwischen Liams lange verschwundener Mutter und ihrem Sohn Sean war immer gespannter geworden, seit sie zu ihrer Familie zurückgekehrt war, und Sean wich ihr aus, wo immer es ging. Liam hatte nichts dagegen gehabt, dass Sean nicht kommen wollte. Er hatte gehofft, mal ein wenig Abstand von der ständigen Sorge seines Bruders um ihren Fall zu bekommen. Liam sah zu Elke. Sie stand in der Nähe der Torte, die die Form eines Kinderwagens hatte, und unterhielt sich mit Brendans Verlobter, Amy. Er hatte sich gefragt, wie Ellie sich wohl auf einer Familienfeier der Quinns zurechtfinden würde, und fast hätte er sie gar nicht gefragt, ob sie mitkommen wollte. Aber dann hatte er entschieden, dass es einfacher wäre, sie im Auge zu behalten, wenn sie in seiner Nähe blieb. Dass er eine Freundin zu einem Familienfest mitbrachte, hatte für einige hochgezogene Augenbrauen gesorgt, aber niemand hatte etwas gesagt. Liams Schwester, Keely, war als Erste auf Ellie zugegangen und hatte sich ihr vorgestellt. Anschließend hatte sie ihren Mann, Rafe, herangewinkt, damit er sich am Gespräch beteiligte. Die Hochzeit der beiden lag ein Jahr zurück, und obwohl es zwischen Rafe und den Quinns in der Vergangenheit ein paar Probleme gegeben hatte, konnte jeder sehen, dass er Keely sehr glücklich machte. Zusammen mit Olivia, Meggie und Amy war Rafe Teil der sich stetig vergrößernden Familie der Quinns geworden. „Sieh dir das an", meinte Brendan hinter Liam. „Sean hat beschlossen, doch zu kommen. Conor hat mir nichts davon gesagt." Sean hielt plötzlich inne, als Fiona näher kam, dann drehte er sich um und marschierte zum Tisch. Doch erneut lief ihm jemand über den Weg - jemand, mit dem er nicht gerechnet hatte: Ellie. Das roch nach Ärger. „Du solltest ihn mit deiner neuen Freundin bekannt machen", schlug Brendan vor. „Sie ist nicht meine Freundin. Außerdem ..." „Was zur Hölle macht sie denn hier?" zischte Sean, als er bei Liam angekommen war. Liam schnappte sich Brendans Teller. „Du kannst sicher noch etwas zu essen vertragen", sagte er. „Ich hole uns mal ein paar von diesen Sandwiches." Er steuerte die kleine Küche an, wo Sean ihn neben dem Kühlschrank erneut zur Rede stellte. „Beantworte meine Frage", verlangte er. Liam nahm sich zwei Sandwiches und reichte eines Sean. „Iss etwas und entspann dich." Sein Bruder warf das Sandwich auf die Platte zurück. „Das ist wirklich guter Geflügelsalat", sagte Liam. „Du solltest ihn probieren." „Ich habe dir gesagt, du sollst ihr ruhig näher kommen. Aber ich meinte nicht so nah." Er musterte Liam misstrauisch. „Schläfst du mit ihr?" „Im Moment nicht. Ich rede mit dir und überlege mir, ob ich ein paar von den Shrimps dort drüben probieren sollte. Conor und Olivia haben sich ganz schön Mühe mit dem Büfett gegeben." „Hältst du das etwa für witzig?" „Nein, aber mir blieb in dieser Sache keine große Wahl", konterte Liam. „Ich glaube nämlich, jemand versucht sie umzubringen." Sean starrte ihn an, dann packte er Liams Arm und zog ihn aus der Küche hinaus auf den Balkon. Der Himmel war grau, und leichter Nebel hing über der Stadt. „Was ist passiert?" wollte er wissen. „Eine Menge." Liam schaute über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand sie
belauschen konnte. „Lauter merkwürdige Dinge. Zuerst dieser Einbruch. Dann erzählte Ellie mir, dass ein Ziegelstein sie fast am Kopf getroffen hätte, der vom Dach ihres Hauses fiel. Und gestern wurde sie direkt vor ihrem Wohnhaus beinah von einem Wagen überfahren. Der Einbruch mag ja Zufall gewesen sein, aber der Wagen hatte es auf sie abgesehen." „Hast du die Nummer des Wagens?" „Ja." Liam zog zwei Fotos aus der Innentasche seines Sportsakkos, die er heute Morgen entwickelt hatte. „Ich habe die Aufnahmen vergrößern lassen, so dass man den MietwagenAufkleber auf der Stoßstange erkennen kann. Ich fuhr zu der Filiale, aber die wollten mir die Information nicht geben, wer den Wagen gemietet hatte." „Ich werde sehen, was ich tun kann. Falls sie es mir auch nicht verraten wollen, kann ich Conor vielleicht dazu bringen, uns weiterzuhelfen." „Hör zu", sagte Liam. „Ich weiß nicht, wer Ellie ist oder was sie getan hat, aber ich weiß, dass sie wenn ich nicht auf sie aufpasse, am Ende tot sein könnte. Also setz mir lieber nicht zu." „Schon gut. Aber von jetzt an behalte ich dich im Auge, während du sie im Auge behältst." „Hier seid ihr!" Liam und Sean drehten sich um und entdeckten Ellie im Türrahmen. „Ellie, das ist mein Bruder Sean", erklärte Liam. „Sean, das ist Ellie Thorpe. Sie wohnt in Charlestown. Sie ist neu in Boston." Ellie hielt Sean die Hand hin, und er schüttelte sie zögernd. „Freut mich", murmelte er. „Ich bin nicht sicher, ob ich mir die vielen Namen merken werde", meinte sie freundlich lächelnd. „Außerdem sehen Sie sich alle so ähnlich, die dunklen Haare, die Augen ..." „Klar", sagte Sean. Wie üblich wurde Sean in Gegenwart einer Frau wortkarg. Er schob die Hände in die Taschen und lächelte unbehaglich. „Tja, wie habt ihr zwei euch kennen gelernt?" „Liam hat mich vor einem Einbrecher gerettet." Sean nickte, als sei er tatsächlich interessiert. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ich muss los." „Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen", meinte Ellie. „Ganz meinerseits." Liam und Ellie schauten ihm hinterher, wie er zurück in die Wohnung ging. „Mach dir keine Gedanken wegen ihm", wandte sich Liam an sie. „Er ist ein wenig wortkarg." „Du meinst, nicht alle Quinns sind so charmant wie du?" „Sean hat seine ganz eigene Art bei Frauen. Er ignoriert sie, und dieser Herausforderung können sie anscheinend nicht widerstehen." Er legte den Arm um sie. „Bist du bereit zum Aufbruch? Ich habe genug Fotos für mehrere Alben geschossen. Niemand kann also behaupten, ich wäre meinen familiären Pflichten nicht nachgekommen." „Wir müssen noch nicht gehen. Das Essen sieht gut aus. Außerdem wollte Olivia mir noch die Geschenke für das Baby zeigen." Sie hielt ihr Champagnerglas hoch. „Und ich werde noch eine Mimosa trinken." „Ich hole dir eine." Liam gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Er war versucht, sie länger zu küssen, aber da sie schon genug Neugier auf sich gezogen hatten, wollte er dem Rest der Familie keinen weiteren Anlass zu Spekulationen geben. Er ließ Elke in der Küche, wo sie Olivia helfen wollte, noch mehr Braten für die Sandwiches zu schneiden. Der Champagner lag im Wohnzimmer auf Eis, wo Liam Sean fand, der die Torte perplex anstarrte. „Was ist das?" „Eine Torte", antwortete Liam. „Ich weiß, dass es eine Torte ist." „Sie hat die Form eines Kinderwagens." „Ich dachte, es sei eine Muschel auf Rädern."
„Lass Olivia das nicht hören. Conor erzählte, sie habe zwei Tage daran gearbeitet." Liam warf seinem Bruder einen Blick zu und überlegte, was er als Nächstes sagen sollte. Wieder und wieder hatte er in den letzten Tagen über seine Möglichkeiten nachgedacht, um zu entscheiden, wie er mit der Situation umgehen sollte. „Da ist etwas, was ich dir sagen sollte", begann er. „Ronald Pettibone ist in der Stadt." Sean sah abrupt auf. „Er ist schon seit einer Woche in Boston", fuhr Liam fort. „Er war derjenige, der sich vor der Kaffeebar mit Ellie gestritten hat. Ich habe dir davon erzählt." „Woher weißt du das?" „Sie hat es mir gesagt. Er sieht anders aus als auf dem Foto. Er trägt keine Brille mehr und hat eine andere Frisur. Seine Haare sind heller, und er ist gebräunt. Er wohnt im ,Bostonian', Zimmer 215. Das ist ein ziemlich vornehmer Laden für jemanden, der keine Arbeit mehr hat, findest du nicht?" „Wie hast du das alles herausgefunden?" „Er hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, als ich in ihrer Wohnung war." „War sie auch da?" „Natürlich. Wir waren ... zusammen." Sean bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. „Wie hat sie reagiert?" „Das war schwer zu erkennen, weil sie mir den Rücken zugewandt hatte. Aber ich habe sie ermutigt, ihn zurückzurufen, und sie meinte, das würde sie tun. Bis dahin solltest du den Kerl beobachten und herausfinden, ob er vor zwei Tagen eine schwarze Limousine gemietet hat." „Du glaubst, er hätte versucht, sie zu überfahren? Das muss ein Versehen gewesen sein. Welches Motiv sollte er haben, sie umzubringen? Es sei denn, er will die Beute nicht teilen." „Er ist ihr Exfreund. Möglicherweise ist er von ihr besessen", erklärte Liam. „Behalte ihn im Auge." Er zog ein Schlüsselbund aus der Tasche. „Hier." „Was ist das?" „Das sind die Schlüssel zu Ellies Apartment. Ich habe eine Alarmanlage bei ihr installieren lassen, für den Fall, dass Pettibone ihr noch einen Besuch abstattet. Der Code ist 3-5-5-4. Aber pass auf, sonst löst du den Alarm aus." „Verstanden", sagte Sean, „3-5-5-4." „Ich habe Tickets für das Heimeröffnungsspiel der Sox am Dienstag. Ich soll den Bürgermeister bei einer Präsentation vor dem Spiel fotografieren. Anschließend wirft er den ersten Ball. Keiner von den Sportredakteuren wollte es machen, deshalb haben sie mich engagiert. Ich nehme Ellie mit. In einem Stadion mit sechsunddreißigtausend Menschen sollte sie eigentlich sicher sein." „Gut. Das verschafft mir genügend Zeit." Liams Miene wurde angespannt. „Vermassle es bloß nicht. Ich will nicht, dass sie schon wieder Angst bekommt." „Jetzt bist du eine echte Bostonerin", erklärte Liam und zupfte am Schirm von Ellies nagelneuer Baseballkappe mit dem Logo der Boston Red Sox. „Du bist im Fenway gewesen und hast gesehen, wie jemand hier einen homerun erzielt hat. Leider war es keiner von unseren Spielern." Sie sah durch die Windschutzscheibe seines Wagens, während sie darauf warteten, dass die Ampel umsprang. „Ich war nie ein großer Baseballfan. In New York muss man sich entscheiden zwischen den Mets oder den Yankees. Ich habe nie genug von Baseball verstanden, daher blieb ich neutral und hielt mich raus." „Ich liebe Baseball, seit ich ein Kind war", gestand Liam und bog in die Charlestown Avenue ab. „Ich erinnere mich noch, wie ich zum ersten Mal ins Fenway kam, da muss ich so sieben oder acht gewesen sein. Ich betrat das Stadion, und es erschien mir herrlich grün. Wir kamen aus South Boston, und es war mitten in einer Hitzewelle. In unserer Gegend war alles
trocken und staubig und von der Sonne versengt. Als ich das Fenway betrat, war es wie eine Oase - obwohl ich damals noch gar nicht wusste, was eine Oase ist." „Hast du als Kind viele Spiele gesehen?" erkundigte Ellie sich. „Nein. Wir hatten nicht genug Geld für die Tickets. Aber Conor hatte zwei Bekannte, die Popcorn verkauften, und wenn nicht so viel Andrang herrschte, ließen sie uns während des Spiels hinein. Wir sahen nie ein ganzes Spiel, aber wir lungerten nachher vor dem Stadion und ergatterten Spielerautogramme und Baseballkarten." „Das hört sich nach viel Spaß an." „Das war es auch. Wir besaßen nicht viel, aber wir hatten immer Spaß." Er lachte leise. „Als ich zum ersten Mal in diesem Stadion war, dachte ich, es sei Irland. Ich war nie gut in Geografie, jedenfalls nicht in der zweiten Klasse." „Als ich ein kleines Kind war, dachte ich, meine Lehrer würden in der Schule wohnen. Ich dachte, sie würden alle zusammen irgendwo in einem kleinen Raum schlafen und Tag und Nacht über Bücher, Kreide und Buntstifte reden. Ich dachte, das sei der Grund, weshalb ich sie nie in der Stadt sah. Sie durften nicht raus." Liam bog in Ellies Straße ein und hielt nach einem Parkplatz Ausschau. Er fand einen direkt vor ihrem Haus und stellte den Motor aus. „Willst du mit reinkommen?" fragte Ellie. „Gern, aber nur auf einen Sprung. Ich habe den Film jemanden von der Sportredaktion zum Entwickeln gegeben, bevor wir das Stadion verlassen haben, und muss noch vor sieben zum ,Globe', um mir die Abzüge anzusehen." „Ich mache uns heiße Schokolade zum Aufwärmen." Sie schlenderten zum Gebäude und stiegen die Treppe in den dritten Stock hinauf. Doch als sie ihre Wohnungstür erreichten, blieb Ellie abrupt stehen. Die Tür war angelehnt. Sie stieß sie an, doch Liam schob sich an Ellie vorbei und betrat als Erster die Wohnung. „Was ist denn hier passiert?" murmelte sie und spähte über seine Schulter. Offenbar war die Wohnung auf den Kopf gestellt worden. „Bleib, wo du bist", sagte Liam. „Glaubst du, er ist noch hier?" fragte sie erschrocken. Langsam ging Liam durch die Wohnung, schaute in jedes Zimmer, die alle im gleichen Zustand waren. Dann kehrte er zurück ins Wohnzimmer, wo Ellie geschockt auf dem Sofa saß. „Fehlt etwas?" „Woher soll ich das wissen?" entgegnete sie resigniert. „Lass uns einfach alles wieder an seinen Platz räumen, vielleicht stellst du dabei fest, ob etwas fehlt." Er seufzte. „Vermutlich sollten wir nichts anfassen, bis die Polizei sich die Sache angesehen hat." „Nein." Sie sprang auf. „Ich will das nicht aufräumen. Ich will nicht hier bleiben, bis die Polizei aufkreuzt. Dies ist das zweite Mal, dass jemand in meine Wohnung eingedrungen ist. Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Wir müssen von hier fort." „Ich verstehe nicht, wie sie hier reingekommen sind, ohne dass die Alarmanlage losging." Ellie kaute auf ihrer Unterlippe und sah verstohlen zu dem Tastenfeld, das Liam ihr so geduldig erklärt hatte. „Hast du die Anlage nicht aktiviert?" „Ich hatte es eilig, und du hast schon gewartet. Wir waren spät dran für das Spiel." Liam schloss die Augen und seufzte tief. „Na ja, wenigstens warst du nicht in der Wohnung." „Und heute Nacht werde ich auch nicht hier sein. Ich werde mir ein Hotel suchen - mit großen Schlössern vor den Türen und einem muskelbepackten Wachmann in der Lobby." „Nein", sagte Liam. „Ich werde dich an einen sicheren Ort bringen. Du kannst mit zu mir kommen." Sein Angebot überraschte Ellie. „Das geht nicht." Liam schaute sich noch einmal in der Wohnung um, und ein Gedanke kam ihm. Sean
besaß einen Schlüssel. Hatte er das hier angerichtet? Liam konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder so dilettantisch vorgehen würde - es sei denn, er wollte Ellie Angst machen. Jetzt war Liam froh, dass sie die Polizei noch nicht gerufen hatten. „Doch, das geht." Er zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. Ellie schmiegte sich an ihn, und er hielt sie fest und streichelte ihren Rücken. „Vielleicht soll ich einfach nicht in Boston leben und lieber woanders hingehen. Neulich las ich ein Buch, in dem hieß es ..." Liam brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. Es war ein zärtlicher, beruhigender Kuss. Lächelnd sah er sie an. „Über Bücher können wir später sprechen. Such ein paar Sachen zusammen, dann fahren wir zu mir. Morgen räumen wir hier auf." „Danke." „Wofür?" „Dafür, dass du da bist. Dafür, dass du auf mich aufpasst." Liam lief durch die Wohnung und räumte auf, wo er konnte, während sie packte. Er entdeckte das Telefon unter einem Sofakissen und legte den Hörer auf die Gabel. Einen Moment lang war er versucht, Sean anzurufen, aber damit würde er lieber noch warten. Einige Minuten später kam Ellie mit einer kleinen Umhängetasche wieder. „Er hat meine Kommode durchsucht, meinen Schmuck jedoch nicht angerührt." Sie überlegte und schüttelte den Kopf. „Nein, er kann es nicht gewesen sein." „Wer?" „Ich leide an Verfolgungswahn." „Wer?" fragte Liam und nahm ihr die Tasche ab. Er aktivierte die Alarmanlage und schloss die Tür hinter ihnen ab. Unten auf dem Bürgersteig blieb Ellie abrupt stehen. „Ronald", sagte sie. Liam war nicht sicher, wie er reagieren sollte. Entweder war Ellie wirklich durch all die Vorkommnisse verwirrt, oder sie lenkte den Verdacht geschickt auf ihren Komplizen. „Ronald Pettibone?" „Ich weiß nicht..." „Wieso glaubst du, er könnte es gewesen sein?" „Er hat mit mir Schluss gemacht. Außerdem hat er mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass wir auch nicht Freunde bleiben sollten. Deswegen habe ich ja den Job bei der Bank aufgegeben. Und dann taucht er aus heiterem Himmel hier auf. Er behauptet, er habe hier Freunde, dabei haben wir ungefähr einen Monat, bevor die Beziehung endete, ein Wochenende in Boston verbracht. Da erwähnte er keine Freunde. Glaubst du, er verfolgt mich?" „Ich habe keine Ahnung", antwortete Liam. „Aber wir werden es herausfinden." Er schaute nach links und rechts die Straße hinunter, bevor sie in seinen Wagen stiegen. Er bemerkte eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben, die am Straßenrand parkte. Jetzt litt er offenbar an Verfolgungswahn. Während sie durch die Stadt fuhren, behielt er den Rückspiegel im Auge und bog hin und wieder unvermittelt ab, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurden. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass die schwarze Limousine nicht hinter ihnen war, fuhr er Richtung South Boston. Er hoffte, dass Sean nicht da sein würde, doch als er die gemeinsame Wohnung betrat, fand er Sean und Brian auf dem Sofa. Sie aßen Pizza und schauten sich eine TV-Show an. Sie waren beide erstaunt, Ellie schon wieder zu sehen, allerdings aus völlig unterschiedlichen Gründen. „Hallo, Ellie", begrüßte Brian sie, stand auf und wischte sich die Krümel vom Pullover. „Schön, Sie wiederzusehen. Wie war das Spiel?" „Großartig", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Die Red Sox haben verloren, aber es hat trotzdem Spaß gemacht." Liam ignorierte die Eifersucht, die in ihm aufstieg, weil Brian ihre Hand ein wenig länger
als nötig festhielt. „Wenn du noch häufiger hier bei uns bist, wirst du bald Miete zahlen müssen", drohte er seinem Bruder. „Ich werde daran denken, wenn du das nächste Mal zu uns kommst, um deine Wäsche zu waschen." Sean stand auf. „Was macht ihr zwei hier?" „Jemand ist in Ellies Apartment eingebrochen", erklärte Liam. „Schon wieder", ergänzte sie. „Schon wieder?" rief Brian. „Bei Ihnen wurde öfter als einmal eingebrochen? So hoch ist die Einbruchsrate in Charlestown doch gar nicht. Glauben Sie, da rollt eine Kriminalitätswelle an?" „Ich glaube, jemand hat es auf mich abgesehen", erwiderte Ellie. „Entweder das oder ich habe einfach Pech." „Ellie wird hier bleiben, bis wir wissen, was hinter den Einbrüchen steckt." Liam zog sie zu seinem Zimmer. „Pack deine Sachen schon mal aus. Danach holen wir irgendwo etwas zu essen." Er machte die Zimmertür hinter ihr zu und ging zum Sofa. „Hast du ihre Wohnung durchwühlt?" fragte er Sean leise. „Nein. Ich habe sie durchsucht, aber darauf geachtet, dass alles wieder an seinem Platz war, bevor ich gegangen bin. Jemand muss nach mir dort gewesen sein. Es kann nicht allzu schwer gewesen sein, hineinzukommen - ich konnte die Alarmanlage nicht reaktivieren, weil sie gar nicht eingeschaltet war. Ellie wäre das womöglich aufgefallen." „Das alles wäre nicht passiert, wenn du Pettibone beschattet hättest, wie es deine Aufgabe war", warf Liam Sean vor. „Moment mal", mischte sich Brian ein. „Sean ist in ihre Wohnung eingebrochen?" „Nein, ich hatte einen Schlüssel", sagte Sean. „Der andere Kerl ist eingebrochen." „Woher hattest du einen Schlüssel?" „Liam hat mir einen gegeben." Brian runzelte die Stirn. „Da komme ich nicht mehr mit." „Es geht um einen Fall, an dem wir arbeiten", klärte Liam ihn auf. „Ellie ist eine Betrügerin", ergänzte Sean. „Ist sie nicht", fuhr Liam ihn an. „Möglicherweise ist sie eine", konterte Sean. Brian stand auf und nahm seine Jacke vom Sofa. „Ich halte mich da raus. Ich gehe in den Pub und trinke lieber ein paar Guinness. Nach dem Spiel ist bestimmt ordentlich was los. Dad serviert gratis Hot Dogs." „Ich komme mit", erklärte Sean. „Auf keinen Fall", meinte Liam. „Du findest heraus, was Pettibone im Schilde führt. Hast du das Kennzeichen schon identifiziert, das ich fotografiert habe? Ich weiß, dass er derjenige war, der versucht hat, sie zu überfahren." ,Jemand hat versucht, Ellie zu überfahren?" fragte Brian. „Vergiss das Guinness. Das hört sich nach einer guten Story an." Sean packte seinen Zwillingsbruder am Arm. „Du witterst immer eine Story, was? Los komm, ich lass dich fahren. Mal sehen, ob wir Pettibone nicht finden können." „Und kommt heute Nacht bloß nicht wieder", warnte Liam Sean. „Du kannst bei Brian schlafen." Nachdem die beiden gegangen waren, warf Liam sich aufs Sofa und nahm sich ein Stück Pizza. Wie, um alles in der Welt, sollte er für Ellies Sicherheit sorgen, wenn Sean seinen Teil der Arbeit nicht erledigte? Schließlich war das sein Fall, doch statt sich darum zu kümmern, saß er hier herum, legte die Füße auf den Tisch und aß Pizza. Liam lehnte sich zurück. Es gab Augenblicke, da verfluchte er den Tag, an dem er sich bereit erklärt hatte, seinem Bruder bei diesem Fall zu helfen. Und den Tag, an dem er Ellie zu Hilfe geeilt war. Inzwischen sah es so aus, als würde er sie fast täglich vor irgendeiner Gefahr retten.
„Ich bin verdammt", sagte er leise zu sich selbst. Wenn das nicht ausreichte, damit der Fluch der Quinns ihn traf, dann wusste er es nicht. Er und Ellie konnten ebenso gut schon mal das Porzellan aussuchen und Monogramme in die Handtücher sticken. Die Hochzeit würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ellie betrachtete sich im Badezimmerspiegel und zwang sich zu einem Lächeln. Nervosität breitete sich in ihr aus, und sie fragte sich, ob es nicht besser wäre, bis morgen früh im Bad zu bleiben. Andererseits war das Bad in ihrer Wohnung der Schauplatz ihrer letzten erotischen Begegnung gewesen. Vielleicht war der Flurschrank bei Liam eine bessere Wahl. Sie strich über das Patriot-Trikot, das Liam ihr als Nachthemd gegeben hatte, denn ausgerechnet das hatte sie zu Hause vergessen. Sie kam sich deswegen töricht vor, denn er sollte auf keinen Fall glauben, sie habe absichtlich keines mitgebracht, weil sie hoffte, dass er sie nackt in seinem Bett unwiderstehlich fand. Sie fuhr sich durch die Haare und nahm ihren Mut zusammen. Im Wohnzimmer war Liam gerade dabei, eine Decke auf dem Sofa glatt zu streichen. Ellie setzte ein Lächeln auf. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, wer wo schlafen würde, doch es war offensichtlich, dass sie nicht sein Bett teilen würden. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Du brauchst das nicht zu tun. Ich kann das doch machen." „Ich werde hier schlafen. Du kannst mein Bett haben." Ellie nahm ihm das Kopfkissen aus der Hand. „Sei nicht albern. Ich schlafe hier. Ich will dich nicht aus deinem Bett vertreiben." „Na schön", gab er nach, da ihm diese Diskussion sichtlich unangenehm war. „Aber wenn du etwas brauchst, ich bin gleich nebenan." Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu, doch Ellie sah das Verlangen in seinen Augen. Trotzdem hatte er aus irgendeinem Grund beschlossen, diesem Verlangen heute Nacht nicht nachzugeben. Was hatte sich geändert? Liam hob ihr Kinn und gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Schlaf gut. Bis morgen." Und dann ging er ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu. Ellie setzte sich auf das Sofa und legte sich die Decke um die Schultern. Alles war so gut gelaufen. Obwohl sie noch keine Nacht zusammen in einem Bett verbracht hatten, hatte sie das Gefühl gehabt, das ihre Beziehung sich entwickelte. Doch jetzt schien sie abrupt zum Stillstand gekommen zu sein. „Er ist wie alle anderen Männer", murmelte sie und knipste das Licht aus, bevor sie sich auf dem Sofa ausstreckte und die Decke bis zum Kinn hochzog. „Nichts Besonderes." Sie kniff die Augen zu, doch statt sich zu entspannen, kreisten ihre Gedanken weiter um Liam. Unwillkürlich stellte sie ihn sich in seinem Bett vor, nackt, die Decke bis zu den Hüften heruntergerutscht. Bis jetzt hatte sie ihn noch nie ganz nackt gesehen, trotzdem wusste sie, was sich unter seinem Hemd verbarg - eine breite Brust, eine schmale Taille, muskulöse Arme und ein geschmeidiger Rücken. Fast konnte sie seine Haut unter ihren Fingern spüren, während sie die Fäuste ballte, um diese Empfindungen zu verscheuchen. Vor allem konnte sie sich ausmalen, was sich unter seiner Jeans verbarg: Es half nichts, sie musste sich eingestehen, dass sie vor allem deshalb nicht einschlafen konnte, weil Liam nur wenige Schritte von ihr in seinem Bett lag. Nachdem sie sich eine Stunde lang schlaflos herumgewälzt hatte, schlug sie die Decke zurück, setzte sich auf und fluchte leise. Sie ging in die kleine Küche im hinteren Teil der Wohnung und öffnete die Kühlschranktür. Wenn sie nicht schlafen konnte, half immer ein Becher Eis. „Du meine Güte!" flüsterte sie. Das halbe Eisfach war voll gestopft mit Tiefkühlpizza, die andere Hälfte mit verschiedenen Sorten Eiscreme. Sie nahm eine nach der anderen heraus. „Rocky Road, French Vanilla, Cookies and Cream." Ellie nahm einen weiteren Becher. „Oh, Chocolate Chip Mint. Das liebe ich." Sie suchte in den Schubladen nach einem Löffel, machte den ersten Eisbecher auf und ließ einen Löffel voll im Mund zergehen. „Das ist besser als
Sex." „Kannst du nicht schlafen?" Mit einem kurzen Aufschrei drehte sie sich erschrocken um und ließ den Löffel fallen. Liam stand in der Küche, nur mit Boxershorts bekleidet, die ihm tief auf den Hüften saßen. Verlegen wandte Ellie sich ab und verstaute den Eisbecher wieder im Tiefkühlfach. „Tut mir Leid, ich dachte, etwas zu essen würde ..." Er fuhr sich durch die dunklen Haare. „Ist schon in Ordnung." Er griff an ihr vorbei. Seine Brust streifte ihren Arm, und die Wärme seiner Haut ließ Ellie erschauern. „Ich bin aus dem gleichen Grund hier." Er nahm den offenen Becher und gab ihn ihr zurück, ehe er sich für Chocolate Chip Mint entschied. Ellie reichte ihm einen sauberen Löffel. Liam nahm einen Löffel voll und hielt ihn ihr hin. Zögernd beugte sie sich vor und ließ die Eiscreme auf ihre Zunge gleiten. „Hm, gut", sagte sie. Liam grinste und probierte selbst. „Was hast du?" Er nahm einen Löffel voll Rocky Road und bot ihn ihr an. Ein Klecks Eiscreme tropfte auf ihr Kinn, als sie kostete. Liam fing ihn auf und hielt den Finger vor Ellies Lippen. Sie nahm den Finger in den Mund, und erst da wurde ihr bewusst, was sie tat. Sie sah zu ihm auf und wich langsam zurück. „Lecker", bemerkte sie ein wenig heiser. Einen langen Augenblick sahen sie sich an. Ellie hielt den Atem an und fragte sich, was als Nächstes passieren würde. Plötzlich warf Liam den Eisbecher auf den Boden, nahm ihr Rocky Road und tat damit das Gleiche. Im nächsten Moment lagen seine Hände auf ihrem Körper, umfassten ihr Gesicht, ihre Taille, schoben sich unter das Trikot und glitten über ihre nackte Haut. Er küsste sie, als könne nur ihr Mund seinen Hunger stillen. Ellie fühlte sich benommen von diesem stürmischen Kuss, der ihr die letzten Hemmungen nahm. Nie zuvor hatte sie einen Mann so sehr begehrt wie Liam. Das Verlangen war so intensiv, dass es ihr Angst machte. Seine Lippen wanderten zu ihrem Hals hinunter, und Ellie warf den Kopf in den Nacken. Leise seufzend, krallte sie die Finger in seine Haare und presste sich an ihn. Sie streichelte seine Brust und genoss das Gefühl, seine Muskeln zu spüren. Sie hatte männliche Körper schon immer bewundert, doch nie war ihr ein so vollkommener Mann wie Liam begegnet. Jeder Zentimeter seines Körpers war sehnig und muskulös. Als Liam sich für einen Moment von ihr löste, nutzte Ellie die Gelegenheit, um ihn zu erforschen. Sie küsste seine Halsbeuge, wobei seine weichen Brusthaare ihre Lippen kitzelten. Dann fuhr sie ihm mit der Zunge über die Brust und umkreiste eine seiner flachen Brustwarzen. Sie wollte keinen Zweifel daran lassen, was sie von ihm erwartete. Er stöhnte leise auf, und sie schmiegte sich an ihn, als er erneut die Lippen auf ihren Mund presste. Deutlich spürte sie seine Erregung durch die dünnen Boxershorts hindurch und bewegte rhythmisch ihre Hüften. Ellie hatte sich nie als besonders erotische Frau betrachtet, doch bei Liam schien sie sämtliche Hemmungen fallen zu lassen. Sie wollte ihn auf jede erdenkliche Weise. Die ganze Nacht. Sie wollte sich ganz ihrem ekstatischen Liebesspiel hingeben und den Höhepunkt mit ihm gemeinsam erleben. Leider brachte sie es nicht fertig, ihn darum zu bitten. Sie strich über seinen Bauch, doch im letzten Moment hielt er ihre Hand fest und schob sie hinauf zu seiner Brust. „Wir sollten ins Bett gehen", flüsterte er schwer atmend. Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Doch dann begriff Ellie, dass es vielleicht eine Einladung war und nicht das Ende dieser Verführung. Sie schluckte hart und fasste sich ein Herz. „In dein Bett oder meines?"
6. KAPITEL Liam sah Ellie in die Augen und erkannte Zweifel und Unsicherheit darin. Er konnte seine Begierde nicht verleugnen, dieses irrationale und zugleich überwältigende Verlangen, mit ihr zu schlafen. Doch es war nicht nur körperliche Begierde. Er wollte nicht irgendeine Frau. Er wollte Ellie. Es gab keine andere Frau mehr für ihn, keine schönere, klügere oder interessantere. Er hatte die Frau gefunden, die ihn in jeder Hinsicht zufrieden stellte. Und jetzt wollte er sie lieben. Doch das alles war fremd für ihn. Hier ging es nicht mehr nur um Sex, sondern um etwas Neues, Unbekanntes und völlig Unerwartetes. „Bist du dir sicher?" flüsterte er. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie streichelte seine Brust. „Dass ich dich will? Ja, da bin ich mir sicher. Ich glaube, so sicher war ich mir in meinem ganzen Leben noch nie. Das heißt, falls- du dir sicher bist." Liam hob ihr Kinn, damit sie ihm in die Augen sah. „Ich bin mir sicher." Ellie runzelte die Stirn. „Wir reden über Sex, richtig? Und nicht davon, im gleichen Bett zu schlafen." „Das eine ergibt sich gewöhnlich aus dem anderen", erwiderte Liam. Ellie seufzte leise. „Gut. Das ist also geklärt. Dann solltest du mich jetzt zum Bett bringen." Grundgütiger, sie war wundervoll. Er liebte es, wie sie aussprach, was sie dachte, statt kleine neckische Spielchen zu spielen wie die Frauen in seiner Vergangenheit. Liam legte die Hände um ihre Taille und zog sie an sich. Er küsste sie erneut, diesmal jedoch langsamer, um ihr die Gelegenheit zu geben, den Kuss ausgiebig zu erwidern. Ellie stöhnte leise, und Liam spürte, wie seine Selbstbeherrschung ins Wanken geriet. Vielleicht sollten sie einfach in der Küche bleiben. Doch dann hob er sie hoch und trug sie in sein Zimmer, die Hände um ihren Po gelegt, während sie ihre Beine um seine Taille schlang. Liam war nie mit einer Frau in seinem eigenen Bett gewesen. Es war sein ungeschriebenes Gesetz gewesen, weil es so für ihn leichter war, wieder zu gehen. Bei Ellie jedoch schienen all diese Gesetze nicht mehr zu gelten - und darüber war Liam nicht traurig. Behutsam legte er sie auf das Bett und zog ihr das Patriot-Trikot über den Kopf. Mit angehaltenem Atem betrachtete er ihre schmalen Schultern, die festen Brüste und ihre im Mondlicht schimmernde Haut. Langsam strich er mit der Hand über ihre Schulter und ihren Arm. Ellie nahm seine Hand und zog ihn zu sich herunter. Er war so erregt, dass er glaubte, es nicht mehr länger aushalten zu können, und als Ellie ihn durch die dünnen Boxershorts streichelte, war er verloren. Er stöhnte, was sie als Ermutigung auffasste und die Finger um seine pulsierende Härte schloss. Plötzlich war er froh, dass wenigstens noch der Stoff zwischen ihrer Berührung und seinem Verlangen war. Er küsste ihren Hals, ihre Schulter und begann ihre Haut mit seinem Mund zu erforschen. Eine ihrer Brustspitzen richtete sich auf, als er sie mit der Zunge umspielte. Doch diesmal gab Ellie sich nicht ihrer Leidenschaft hin, sondern erwiderte seine Zärtlichkeiten und Küsse. Liam hatte sich noch nie so viel Zeit beim Vorspiel gelassen, und doch war er so erregt wie nie zuvor. Während der ganzen Zeit sprach sie leise mit ihm, hauchte seinen Namen, neckte ihn und verriet ihm, was ihr gefiel, bat ihn um das, wonach sie sich sehnte. Zuerst war Liam unfähig gewesen, seine Bedürfnisse zu artikulieren, doch nach einer Weile wurde es so aufregend, dass er nicht mehr anders konnte. Als er seine Hand in ihren Slip schob, stöhnte Ellie. „Oh ja, genau da." Während er sie liebkoste, schob sie ihre Finger unter den Elastikbund seiner Boxershorts, und als er behutsam mit dem Finger eindrang, streichelte sie seine Erektion. „Langsam", flüsterte er, und da er sich Zeit lassen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig,
als diese süßen Qualen zu beenden. Er umfasste ihre Taille und zog Ellie auf sich. Dann sah er ihr in die Augen und ließ seine Hände über ihren Körper gleiten. Ellie lächelte ihn an, beugte sich über ihn und küsste ihn. Ihre Brüste, deren Spitzen hoch aufgerichtet waren, streiften seine heiße Haut. „Sag mir, was du willst", flüsterte sie. „Dich. Alles von dir." „Dazu haben wir noch zu viel an." „Da könntest du Recht haben." Mit einem sinnlichen Lächeln zog sie ihm die Boxershorts herunter, wobei sie nach hinten rutschte, bis sie zu seinen Füßen saß. Anschließend bewegte sie sich geschmeidig über seine Beine wieder nach oben. Als ihre Brüste den sensibelsten Teil seines Körpers streiften, stöhnte Liam leise. Ellie hielt inne und rutschte wieder ein Stück zurück. Dann begann sie, ihn mit ihren Lippen und ihrer Zunge zu verwöhnen. Diese neue wundervolle Tortur war beinah mehr, als Liam ertragen konnte. „Ellie, nicht..." Doch sie wusste seine Reaktionen genau zu deuten und merkte, wann sie langsamer werden oder mit ihren erotischen Liebkosungen ganz innehalten musste. Sie verwöhnte ihn mit ihrem Mund, und Liam bog sich ihr begierig entgegen. Dann zog sie sich wieder zurück und ließ ihn in der Schwebe, so dass er glaubte, endgültig die Kontrolle über sich zu verlieren. „Oh, Ellie, tu das nicht", warnte er sie mit vor Erregung heiserer Stimme. Doch sie achtete nicht auf seine Warnung, sondern brachte ihn erneut so weit, dass er fast kam. Es war, als wollte sie sich für das revanchieren, was er mit ihr im Bad gemacht hatte. Ihr Haar kitzelte seinen Bauch, während sie fortfuhr, ihm Vergnügen zu bereiten. Liam biss die Zähne zusammen. Und gerade als er glaubte, sich keine Sekunde länger mehr beherrschen zu können, hörte sie unvermittelt auf. Im nächsten Moment lag sie neben ihm und schmiegte sich an ihn. „Ich bin ein wenig müde", neckte sie ihn. „Vielleicht sollten wir jetzt lieber schlafen." Liam knurrte und zog sie wieder auf sich. „Du bist genau die Sorte Frau, vor der mein Dad mich gewarnt hat", sagte er. „Hörst du etwa immer auf deinen Dad?" „Nie", erwiderte Liam. „Dann schlaf mit mir." Liam öffnete die Schublade des Nachtschranks, holte eine Packung Kondome heraus und reichte sie ihr. Ellie nahm ein Folienpäckchen, riss es mit den Zähnen auf und streifte ihm vorsichtig das Kondom über. Liam zog ihr ungeduldig den Slip herunter, und sie senkte sich auf ihn, so dass Liam tief in sie hineinglitt. Eine ganze Weile verharrten sie beinah regungslos, und Liam beobachtete das Lächeln, das sich auf Ellies Gesicht ausbreitete, während sie die Augen geschlossen hielt. Dann begann sie, sich zu bewegen, zögernd zunächst, doch nach und nach in immer wilderem Rhythmus. Liam gab sich ganz diesem berauschenden Liebesspiel hin, das weit über das rein körperliche Vergnügen hinausging. Es war, als würden zwei Seelen zu einer verschmelzen. Ellie hauchte seinen Namen, und ihre hastigen Atemzüge verrieten Liam, dass sie kurz vor dem Höhepunkt stand. Er wollte ihn bewusst miterleben, bevor er selbst so weit war, doch als sie schließlich den Gipfel der Lust erreichte, konnte auch er nicht länger warten. Ein letztes Mal drang er tief in sie ein, ehe ein Beben durch seinen Körper lief und die Welt um ihn herum zu versinken schien. Und als Ellie erschöpft auf ihn sank, streichelte er benommen ihren Nacken. Niemals zuvor war es so wie mit ihr gewesen. Das wollte er ihr sagen, doch er fand die richtigen Worte nicht. „Du bist die Sorte Mann, vor der meine Großmutter mich gewarnt hat", neckte sie ihn und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals. „Und was für eine Sorte ist das?"
Sie legte die Hände auf seine Brust und lächelte ihn an. „Die Sorte Mann, die mich glatt vergessen lässt, was für ein braves Mädchen ich eigentlich bin." „Du bist doch ein braves Mädchen", sagte Liam. „Aber du kannst auch sehr schlimm sein." Ellie lachte übermütig. „Ich kann noch schlimmer sein. Gib mir nur ein paar Minuten Zeit, um mich zu erholen." Ellie spürte den Kuss seiner Lippen an ihrer Schulter und dann an ihrem Hals. Langsam schlug sie die Augen auf und blinzelte im Morgenlicht. Liam lag neben ihr im Bett, mit Jeans und T-Shirt bekleidet. „Guten Morgen", begrüßte er sie und gab ihr einen Kuss. „Wie spät ist es?" „Kurz nach neun. Schlaf ruhig weiter." Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Du bist wunderschön morgens." Ellie errötete. Sie wusste sehr wohl, wie sie morgens aussah, und Liam war viel zu charmant. Doch genau das war es, was sie an ihm so liebte. Er gab ihr das Gefühl, die schönste Frau auf der Welt zu sein. „Bis ich mir die Haare gebürstet und meinen ersten Milchkaffee getrunken habe, bin ich ein Monster", neckte Ellie ihn. „Dann besorge ich dir lieber Kaffee. Ich hole uns auch etwas zu essen." „Ich glaube, ich werde duschen." Liam rollte sich auf sie, hielt ihre Hände fest und küsste sie zärtlich. „Wenn du auf mich wartest, schrubbe ich dir den Rücken." „Abgemacht." Er küsste sie erneut und stieg aus dem Bett. „Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Lauf nicht weg." Ellie schaute ihm hinterher, stöhnte und drückte das Gesicht in Liams Kissen. Die letzte Nacht war wundervoll gewesen. Sie hatte gewusst, dass es so sein würde. Wie sollte es mit einem Mann wie ihm auch anders als überwältigend sein? Er war so attraktiv und sexy, und die Dinge, die er mit ihr getan hatte, waren so ... Sie stöhnte erneut, dann setzte sie sich abrupt auf. Bis Liam zurück war, konnte sie sich wenigstens schon mal die Zähne putzen und die Haare kämmen. Sie sprang aus dem Bett, zog sich das Trikot über und ging mit ihrer Kosmetiktasche zum Bad. Doch statt die zweite Tür auf der linken Seite zu öffnen, machte sie die erste auf und stand plötzlich in einem Zimmer, das lediglich von einer roten Glühbirne an der gegenüberliegenden Wand beleuchtet war. Sie wollte sich umdrehen und den Raum verlassen, aber dann siegte ihre Neugier. Fotos hingen an Leinen über den Tischen. Das einzige Fenster im Raum war schwarz angemalt. Sie befand sich in Liams Dunkelkammer. Ihre Neugier wuchs, und sie betrachtete die Fotos an den Wänden und an den Leinen. Seine Porträts gewöhnlicher Menschen waren am beeindruckendsten - Kellnerinnen, Müllmänner, Verkehrspolizisten. Sie hatte Fotografien in Museen in New York gesehen, und Liams Arbeiten waren mindestens so gut wie alles, was sie dort bewundert hatte. Er war talentiert, und seine Fotos gaben ihr einen winzigen Einblick in seine Seele. Er sah etwas durch das Kameraobjektiv, was dem normalen Beobachter entging, eine Schönheit in der Schlichtheit des Alltäglichen, eine Ehrlichkeit, die mehr über Liam verriet als über die Menschen, die er ablichtete. Sie drehte sich um und betrachtete die Fotos, die an einer Leine über einem der Tische hingen. Sie waren aus der Ferne aufgenommen und ein wenig unscharf, daher betrachtete sie sie näher, um herauszufinden, was das Besondere an ihnen war. Plötzlich breitete sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen aus. Sie nahm ein Foto von der Leine, ging zur Tür und knipste das Licht an. „Du liebe Güte!" flüsterte sie. Dies war kein Foto eines einfachen Menschen in Boston. Es
zeigte sie in ihrem Schlafzimmer! Sie lief zurück zum Tisch und zupfte jedes einzelne Foto von der Leine. Auf allen war sie zu sehen, mal in ihrer Wohnung, mal vor dem Haus, in dem sie wohnte, jeweils mehr oder weniger bekleidet. Benommen starrte sie die Bilder an. Liam Quinn mochte ja ein sehr talentierter Fotograf sein, aber er war außerdem ein kranker, perverser Spanner! Ellie atmete tief durch und handelte. Entschlossen schnappte sie sich jedes Foto und Negativ in der Dunkelkammer, das ihr auch nur ähnelte. Dann lief sie ins Schlafzimmer. Sie war so besorgt gewesen wegen ihrer Sicherheit, dass sie die wahre Gefahr gar nicht erkannt hatte. In weniger als zwei Minuten war sie angezogen und hatte ihre Tasche gepackt. In diesem Moment hörte Ellie, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Sie hatte verschwinden wollen, ohne Liam mit ihrem Wissen zu konfrontieren. Schließlich konnte ein Mann, der heimlich Fotos von einer Frau schoss, tatsächlich gefährlich sein. Sie würde die Fotos zerreißen, ihm die Fetzen ins Gesicht werfen und ihm drohen, die Polizei zu informieren, sollte er ihr noch einmal zu nahe kommen. Doch als sie ins Wohnzimmer kam, fand sie statt Liam seinen Bruder Sean. Er schien überrascht zu sein, sie zu sehen, obwohl er doch wusste, dass sie die Nacht hier verbracht hatte. Elke marschierte auf ihn zu und wedelte mit den Fotos vor seinem Gesicht herum. „Ich will, dass Sie Ihrem kranken Bruder ausrichten, dass ich genau weiß, was er vorhat. Wenn er nicht im Gefängnis oder irgendeinem Irrenhaus landen will, soll er sich lieber von mir fern halten." Sean machte den Mund auf und wieder zu. „Okay", sagte er nur. Sie stopfte die Fotos in ihre Tasche und knallte die Tür hinter sich zu. Unten auf der Straße angekommen, war sie sich jedoch nicht sicher, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hatte keinen Wagen, und Taxis waren auch keine in Sicht. Ganz abgesehen davon, wusste sie nicht genau, wo sie sich befand. „Ich hätte niemals nach Boston kommen sollen", beklagte sie sich laut und ging die Straße hinunter. „Ich hätte in New York bleiben, meinen Job dort behalten und mich mit Ronald Pettibone abfinden sollen. Dieser ganze Umzug stand von Anfang an unter einem schlechten Stern." Mit Liam als Trost war es nicht so schwer gewesen, über die beiden Einbrüche, den Beinah-Zusammenstoß mit dem Wagen und den Ziegelstein-Vorfall hinwegzukommen. Doch jetzt musste sie ihn auch noch auf die Liste der Katastrophen setzen, die sie seit ihrem Umzug nach Boston heimgesucht hatten. „Ich kann es nicht fassen, dass ich ihm vertraut habe." Sie biss sich auf die zitternde Unterlippe. „Ich kann nicht fassen, dass ich mit ihm geschlafen habe." Sie hatte sich geschworen, sich auf nichts einzulassen und sich stattdessen Zeit zu geben, um sich zu erholen. Doch Liam war so süß und charmant und heldenhaft gewesen. Während sie ging, begann sie die Ereignisse der letzten Wochen in einem anderen Licht zu sehen. Ja, er hatte sie mehrmals gerettet. Aber vielleicht war das alles inszeniert gewesen, um sie ins Bett zu bekommen. „Grundgütiger!" stöhnte sie. In der Nähe der Hauptstraße traf sie ein älteres Paar, bei dem sie sich nach dem Weg erkundigte. Doch als Ellie den Bus bestieg, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie in ihre Wohnung wollte. Vielleicht sollte sie einfach aus Boston verschwinden und irgendwo ganz von vorn anfangen. Sie könnte nach Chicago oder San Francisco gehen. Sie konnte sogar wieder zurück nach New York gehen. Schließlich hatte sie Freunde dort, und die Jobaussichten waren besser. Sie würde einfach ihr altes Leben wieder aufnehmen - ohne Männer. Ihre Handtasche mit sämtlichen Kreditkarten hatte sie dabei. Alles, was sich in ihrer Wohnung befand, konnte sie ersetzen. Ellie dachte über diese Möglichkeit nach. Es könnte funktionieren. Auf diese Weise brauchte sie auch Liam nicht wiederzusehen.
Liam stieß die Wohnungstür auf, Ellies Milchkaffee und seinen Kaffee in der einen Hand, die Tüte mit den Doughnuts zwischen den Zähnen. Er zog den Schlüssel aus dem Schloss und machte die Tür wieder zu. Im Wohnzimmer traf er zu seinem Erstaunen auf Sean, der vor der Sofa auf und ab lief. „Guten Morgen", begrüßte Liam ihn und legte die Tüte auf den Tisch. „Morgen." „Wenn ich gewusst hätte, dass du hier sein würdest, hätte ich dir Kaffee mitgebracht. Seit wann bist du hier?" „Seit ein paar Minuten", antwortete Sean. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Pettibone?" „Bist jetzt nicht." Liam ging auf sein Zimmer zu. „Tja, ich würde mich gern noch weiter unterhalten, aber ich muss Frühstück servieren." „Sie ist gegangen", rief Sean. Liam blieb unvermittelt stehen und drehte sich langsam wieder um. „Sie ist weg? Was hast du zu ihr gesagt?" „Nichts. Sie hatte allerdings eine Menge über dich zu sagen. Soweit ich es mir zusammenreimen kann, ist sie zufällig in deiner Dunkelkammer gelandet." Liam stöhnte und fluchte. „Ich brauche nicht erst zu fragen, was sie darin gefunden hat." „Was hat sie denn gefunden?" „Ich habe die Fotos entwickelt, die ich vom Dachboden aus gemacht habe, und die waren sehr ... offenherzig." „Du hast sie nackt fotografiert?" „Nein, nicht wie du denkst. Hältst du mich für einen Perversling?" „Ich nicht, aber sie." „Das hat sie gesagt?" „Nein, aber bestimmt denkt sie das. Ich bitte dich, Liam, hättest du es schlimmer vermasseln können?" Liam zielte mit der Doughnut-Tüte auf Seans Kopf, doch die Reflexe seines Bruders waren zu gut, so dass er die Tüte auffing. „Danke, ich sterbe vor Hunger." „Ich muss sie finden", meinte Liam. „Ich muss ihr alles erklären." „Du wirst ihr nicht die Wahrheit sagen." „Ich weiß noch nicht, was ich ihr sagen werde, aber ich muss einen Weg finden, es ihr zu erklären." „Du magst sie wirklich, was?" Liam ging zur Tür. „Das ist noch untertrieben." Es war kalt und staubig auf dem Dachboden, die Fenster waren noch immer dreckig. Sean hatte seine Videokamera am Fenster stehen lassen, und Liam richtete sie auf Ellies Wohnung. Er dachte an das erste Mal, als er hier gestanden, sie beobachtet und sich gefragt hatte, wer und was sie war. Mittlerweile hatte er das Gefühl, als sei es ihnen vorherbestimmt gewesen, dass sie einander begegneten. Er zog sich den alten Sessel ans Fenster und wartete auf Ellies Rückkehr, nachdem er mehrmals bei ihr geklingelt, sie aber nicht geöffnet hatte. Doch nachdem zwei Stunden vergangen waren, machte Liam sich langsam Sorgen. Vielleicht war sie davongelaufen. Sie konnte Ronald alarmiert haben und mit ihm verschwunden sein. Er kämpfte gegen die aufsteigende Frustration an. Tief im Innern wusste er, dass sie keine Betrügerin war. Sein Verstand ließ ihn jedoch weiterhin zweifeln. Plötzlich sah er jemanden um die Ecke kommen. Er erkannte Ellie an der Art, wie sie sich bewegte - schnell, entschlossen. Obwohl er zwei Stunden damit zugebracht hatte, zu warten
und sich zu überlegen, was er zu ihr sagen wollte, war er auf einmal nicht mehr überzeugt, es richtig formulieren zu können. Aber was hatte er zu verlieren? Falls sie tatsächlich eine Kriminelle war, kam es auf seine Erklärung ohnehin nicht an. Und wenn sie keine Kriminelle war, hatte er es schon so sehr vermasselt, dass es wahrscheinlich nicht wieder gutzumachen war. Ellie würde ihm nie mehr vertrauen. Er beobachtete, wie sie die Stufen zum Eingang ihres Wohnhauses hinaufstieg. Vorsichtig schaute sie sich um und sah zu dem Gebäude hinauf, in dem Liam sich befand. Selbst aus der Entfernung konnte er ihre Miene deuten. Sie hatte die Fotos gesehen und fragte sich jetzt, wo sein Beobachtungsposten .war. Zuerst wollte er vom Fenster zurückweichen, doch stattdessen zog er die zerschlissenen Vorhänge zurück, so dass sie ihn sehen konnte. Damit bot er ihr eine Herausforderung an, und er hoffte, dass sie sie annahm. Tatsächlich überquerte sie jetzt die Straße. Als er Schritte auf der Treppe hörte, drehte er sich zur Tür um. Im nächsten Augenblick flog die Tür auf. Ellie sah wunderschön aus - ihr Haar war nass, ihre Wangen gerötet. Ihre Augen funkelten vor Zorn, als sie die Videokamera am Fenster entdeckte. Sie durchquerte den Raum und zog die Vorhänge zur Seite, so dass Licht den Raum durchflutete. „Du musst inzwischen eine hübsche kleine Sammlung haben", bemerkte sie. „Auf Fotos und auf Video." „Es ist nicht so, wie du denkst, Ellie." „Ach nein? Du hast keine Ahnung, was ich denke." „Ich kann es mir vorstellen. Aber so schlimm ist es nicht." „Oh, das ist gut." Tränen stiegen ihr in die Augen. „Für mich sah es nämlich sehr übel aus. Es sah aus, als hättest du mir nachspioniert und Fotos von mir gemacht. Du bist in meine Privatsphäre eingedrungen wie ein Perverser!" Sie packte die Kamera samt Stativ. „Was für Bilder hast du gemacht? Werden sie auf einer Internetseite landen? Oder sind sie nur für dein Privatvergnügen gedacht?" Liams Herz zog sich zusammen. In Gegenwart von aufgebrachten Frauen war er immer unbeholfen gewesen. Und sobald sie anfingen zu weinen, wusste er überhaupt nicht mehr, was er sagen sollte. „Ellie, wenn du mir wenigstens ..." „Ich habe dir vertraut. Ich habe dich in meine Wohnung gelassen. Und ich habe mit dir geschlafen." Mit diesen Worten hob sie die Kamera samt Stativ und schleuderte sie durchs Fenster. Glas splitterte und regnete auf die Straße hinunter. Liam verzog das Gesicht. „Das war nicht meine Kamera. Die gehörte Sean. Aber ich nehme an, das macht keinen großen Unterschied, oder?" „Wieso hast du mir das angetan?" Sie hob die Hand, bevor er antworten konnte. „Vergiss es. Ich will es gar nicht wissen. Von jetzt an halt dich aus meinem Leben heraus." Mit diesen Worten marschierte sie zur Tür, doch Liam versperrte ihr den Weg. „Lass es mich dir erklären." Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ich habe keine Ahnung, wieso ich geglaubt habe, du wärst anders. Aber nie hätte ich gedacht, dass du abartig bist. Das ist alles sehr krank, und du brauchst Hilfe." Sie versuchte sich loszumachen, doch Liam wollte nicht, dass es so endete. „Wenn du mich nicht loslässt, schreie ich." „Verdammt, Ellie, lass es mich doch erklären." „Nur zu. Erzähl mir, dass du kein Perverser oder Irrer bist." „Es war eine Überwachung", sagte er. „Ich habe dich observiert." Sie runzelte die Stirn und wischte sich die Nase mit ihrem Jackenärmel ab. „Was meinst du damit?" „Sean ist Privatdetektiv, und ich habe ihm bei einem Fall geholfen. Er wurde von der Intertel Bank in Manhattan engagiert." „Ich ... ich habe für Intertel gearbeitet."
„Ich weiß. Kurz nachdem du gekündigt hattest, stellte die Bank fest, dass zweihundertfünfzigtausend Dollar fehlen. Sie glauben, dass du es getan hast. Du und Ronald Pettibone." „Du glaubst, ich hätte Geld unterschlagen?" „Sie glauben das. Die Bank. Und mein Bruder." Liam holte tief Luft. „Wenn du mir sagst, dass du es nicht getan hast, werde ich dir glauben." Sie starrte ihn an. „Ich muss dir überhaupt nichts sagen. Ich schulde dir keine Erklärung. Nicht nach alldem." Sie riss sich los und verließ den Dachboden. Doch Liam wollte sie noch nicht gehen lassen. Nicht, bevor er eine Antwort bekommen hatte. Er rannte ihr hinterher und nahm zwei Stufen auf einmal. Im zweiten Stock holte er sie ein. „Sag mir die Wahrheit, Ellie. Hast du mit Ronald Pettibone zusammen das Geld gestohlen?" „Komm mir ja nicht mehr zu nahe. Falls ich dich auf der Straße oder auf diesem Dachboden sehe, werde ich die Polizei rufen. Und dann kommst du ins Gefängnis." Sie stürmte die Treppe hinunter. Liam schlug mit der Faust auf das Geländer, als er unten die Tür zuschlagen hörte. Er kämpfte gegen den Impuls an, ihr erneut hinterherzulaufen. Vielleicht war es das Beste, ihr ein wenig Zeit zu geben. Dummerweise war er nicht in der Stimmung, auf Antworten zu warten. Sie hatte nicht gesagt, dass sie keine Betrügerin war. Hatte er wirklich erwartet, dass sie es zugeben würde? Und hätte das einen Unterschied gemacht, wenn sie es zugegeben hätte? Resigniert ging er die Treppe hinunter. Draußen suchte er die Videokamera und entdeckte sie zerschmettert und mit verbogenem Stativ an der Hauswand. Das war ein kleiner Preis für den Ärger, den sein Bruder in Ellies Leben ausgelöst hatte. Aber welchen Preis würde sie zahlen, wenn sie tatsächlich Geld unterschlagen hatte? Zehn, fünfzehn Jahre Gefängnis? Und wie lange würde es dauern, bis Liam sie vergessen hatte? Irgendwie ahnte er, dass es sehr lange dauern konnte. Ich hätte mich niemals darauf einlassen dürfe, dachte er. Er hätte Sean gleich sagen sollen, dass er sich diesen Job sonst wo hinstecken konnte. Zwar hatte er etwas von dem Vorschuss bereits ausgegeben, doch der Großteil war noch auf seinem Konto. Wenn er es seinem Bruder zurückgab, zuzüglich der Kosten für die Videokamera, würde sein Leben sich möglicherweise wieder normalisieren. Aber zuerst würde er den Rest des Nachmittags und den Abend damit verbringen, was er am besten konnte einen Barhocker in Quinn's Pub besetzen. Er würde Ellie vergessen und alles, was zwischen ihnen gewesen war - egal, wie viele Gläser Guinness er dafür brauchen würde.
7. KAPITEL „Und? Liebst du sie?" Liam saß am einen Ende der Theke mit Brian. Die beiden aßen eine Kleinigkeit. Für einen Wochentag herrschte ziemlich viel Betrieb in Quinn's Pub. Die Menge bestand aus Stammgästen, Leuten, die nach Feierabend hereinschauten, und Touristen. Der Pub war in der letzten Ausgabe eines bekannten Reiseführers als authentischer irischer Pub erwähnt worden. Seamus hatte sich gefreut über die Belebung des Geschäfts - die Stammgäste waren allerdings nicht so davon angetan. An diesem Nachmittag stand Dylan hinter der Bar, und Brian war zum Essen gekommen, bevor er zum Bahnhof musste. Vor ihm stand ein Teller mit einem halb gegessenen Cornedbeef-Sandwich. Liam hatte sich für einen Hamburger mit Pommes Frites entschieden. „Beantwortest du meine Frage nicht?" wollte Brian wissen. „Bist du eigentlich vierundzwanzig Stunden am Tag Reporter?" konterte Liam. Sein Bruder grinste. „Ich bin es gewohnt, die Wahrheit aus den Leuten herauszubekommen, und ich habe das Gefühl, du sagst mir nicht die Wahrheit." Liam trank einen Schluck von seinem Guinness. „Ich weiß es nicht. Vermutlich habe ich bis jetzt noch nicht darüber nachgedacht." „Entweder tust du es, oder du tust es nicht. So einfach ist das." „So einfach ist es nie", erwiderte Liam nachdenklich. „Du kennst mich. Ich will gemocht werden, besonders von Frauen. Ich weiß, was sie wollen, und gebe es ihnen. Und selbst wenn es vorbei ist und ich zur nächsten Frau weitergezogen bin, wollen sie noch mit mir befreundet sein." „Das hört sich an, als wärst du beim Psychiater gewesen", scherzte Brian. Liam deutete auf ein eselsohriges Buch auf dem Tresen. „Das hat Ellie in meiner Wohnung zurückgelassen. Sie liest ständig Selbsthilfebücher und Ratgeber." Er hielt es hoch. „,Zehn Schritte zu wahrer Liebe'. Laut Aussage des Buches bin ich Männertyp Nummer 4: der vollkommene Charmeur." Er blätterte durch die Seiten und las vor: „,Der vollkommene Charmeur hat ein beinah pathologische Verlangen nach weiblicher Anerkennung. Er wird alles tun und sagen, um eine Eroberung zu machen. Anschließend wendet er sich sofort der nächsten Frau zu, die sein Ego von neuem bestätigt.'" Brian blickte skeptisch. „Das trifft auf dich nicht zu." „Nein? Es klingt ziemlich krank, nicht wahr?" Liam seufzte. „Ich fürchte, es geht alles auf unsere Kindheit zurück. Ich habe viel darüber nachgedacht. Was uns als Kindern widerfahren ist, hat uns zu den Männern gemacht, die wir heute sind." „Jetzt hörst du dich wie ein Psychiater an. Wir sind Quinns. Wir sind nicht dazu geschaffen, uns in Selbstanalysen zu ergehen." „Kann schon sein. Aber sieh uns an. Conor war dafür verantwortlich, die Familie zusammenzuhalten. Und jetzt übernimmt er die Beschützerrolle für die Gesellschaft genauso, wie er uns beschützt hat. Und Dylan rettet die Hilflosen. Wir waren als Kinder hilflos." „Und Brendan", ergänzte Brian. „Er wollte immer weglaufen. Und heute kann er an keinem Ort länger als ein oder zwei Monate bleiben. Er und Amy leben wie die Nomaden." „Was mit dir und Sean ist, habe ich noch nicht herausgefunden", gestand Liam. „Aber ich befasse mich ja auch hoch nicht lange mit diesem Thema." „Vermutlich hast du Recht", meinte Brian. „Es ist ganz natürlich, dass es einen Einfluss auf unser heutiges Leben hat, wie wir aufgewachsen sind. Dad war monatelang weg, Mom verschwand, als wir noch klein waren, Conor und Dylan zogen uns groß. Und dann waren da noch all diese Märchen von den Quinns, die Dad uns erzählt hat." „Unsere älteren Brüder haben sich von der Prägung durch die Vergangenheit gelöst und haben sich alle verliebt. Es ist also möglich." „Kann sein", räumte Brian ein.
Liam dachte schweigend darüber nach, während Brian sein Essen beendete. War er in Ellie verliebt? Vom ersten Moment an, als er sie durch das Teleobjektiv seiner Kamera gesehen hatte, hatte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Und nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war es nahezu unmöglich gewesen, nicht mehr an sie zu denken. Immer wieder hatte er sich über seine Gefühle klar zu werden versucht. Wieso war sie anders als alle anderen Frauen, die er kannte? Wie hatte sie es geschafft, einen Platz in seinem Herzen zu finden, was den anderen nicht gelungen war? Seine Brüder würden behaupten, es läge am Fluch, der auf den Quinns lastete, und dass er sie nicht vor dem Einbrecher hätte retten dürfen. Doch Liam wusste es besser. Etwas in ihm hatte sich verändert. Verschwunden war der Drang, zu fliehen und um jeden Preis eine feste Bindung zu vermeiden. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er tatsächlich eine Beziehung, die länger dauerte als ein paar Monate. „Vielleicht solltest du der Sache eine Chance geben", schlug Brian vor. „Meinst du?" Brian nickte. „So wie ich es sehe, haben wir bloß einen Versuch. Und wenn wir unsere Chance nicht erkennen, verbringen wir unser Leben als Suchende. Sieh dir Dad an. Nach all den Jahren liebt er Mom immer noch. Sie verlässt ihn, und er nimmt sie nach fünfundzwanzig Jahren mit offenen Armen wieder auf." „Nicht jeder war glücklich,, sie zu sehen", erinnerte Liam ihn. „Was hat Seans Verhalten zu bedeuten?" Liam zuckte mit den Schultern und wies zur Tür. „Wieso fragst du ihn nicht selbst?" Sie beobachteten beide, wie Sean sich einen Weg durch den Pub bahnte. Er winkte Dylan zu und setzte sich, bevor er seine beiden anderen Brüder am anderen Ende des Tresens entdeckte. Er nahm sein Bier und ging zu ihnen. „Was machst du hier?" verlangte Sean zu wissen und stellte sein Bier auf den Tresen. Liam war nicht in der Stimmung für so etwas. „Hör schon auf damit." „Du sollst Ellie Thorpe beobachten." „Damit will ich nichts mehr zu tun haben. Ich brauche dein Geld nicht, und ich will den Job nicht. Wenn du willst, dass sie beobachtet wird, mach es selbst." „Pettibone ist nach wie vor in der Stadt. Wir sind so nah dran. Du kannst jetzt nicht aufhören." „Ich kann und ich werde. Außerdem weiß sie, dass wir sie observieren. Falls sie das Geld unterschlagen hat, ist sie inzwischen wahrscheinlich über alle Berge." „Sie weiß es?" rief Sean. ,Ja. Ich bin heute Morgen zu ihrer Wohnung gefahren und habe auf sie gewartet. Ich habe ihr alles erzählt." „Warum?" „Sie hielt mich für einen Spanner, der es auf sie abgesehen hat. Das musste ich ihr ausreden." Sean seufzte dramatisch. „Sie ist weg." „Vielleicht auch nicht", sagte Liam. „Du gehst davon aus, dass sie mit Ronald Pettibone unter einer Decke steckt. Aber ich glaube das nicht." „Er liebt sie", warf Brian ein. Sean sah von einem zum anderen. „Verdammt! Ich hätte wissen müssen, dass das passiert." „Ich liebe sie nicht", erklärte Liam. „Absolut nicht. Ich habe bloß keine Lust mehr, deine Drecksarbeit zu erledigen. Wenn du sie weiter beobachten willst, nur zu. Wenn du Ronald Pettibone quer durch Boston jagen willst, bitte sehr. Nur habe ich damit nichts mehr zu tun." Er stand auf. „Ich gehe Billard spielen. Ich bin sicher, da treibt sich irgendwo ein junges Ding herum, das einen Partner braucht." Er überließ seine Brüder einer Diskussion über die Launen der Liebe und ging in den hinteren Teil des Pubs. Zwei junge Frauen in knappen T-Shirts und hautengen Jeans hatten
den Billardtisch besetzt. Sie kicherten und flirteten mit den Männern, die sich zum Zuschauen versammelt hatten. Liam legte eine Vierteldollarmünze auf die Ecke des Tisches. „Ich spiele gegen die Gewinnerin", verkündete er. Sie drehten sich beide zu ihm um und schenkten ihm ein strahlendes Lächeln. Ein Spiel nur. Falls es ihm keinen Spaß machte, würde er gehen. Und wenn es ihm gelang, fünfzehn Minuten lang nicht an Ellie zu denken, würde er das schon als Sieg betrachten. Ellie stand vor Quinn's Pub und starrte auf die Neonreklame, die in den Fenstern leuchtete. Der Wind trug den Geruch des Meeres herüber. Ellie zog ihre Jacke fester um sich und holte tief Luft. Sie war nicht sicher, was sie hier tat. Sie wusste nur, dass sie mit Liam sprechen musste. Sie hatte den Dachboden von ihrer Wohnung aus beobachtet und keine Bewegung mehr hinter den Fenstern registriert. Dann hatte sie bei seiner Wohnung in South Boston vorbeigeschaut, doch er war nicht zu Hause gewesen. Quinn's Pub war der nächste Ort, an dem sie suchte. Warum war sie hier? Um Erklärungen zu bekommen? Um Entschuldigungen zu hören? Oder wollte sie sich nur nochmals versichern, dass es zwischen ihr und Liam vorbei war? Nach ihrer Auseinandersetzung auf dem Dachboden war sie so wütend und verletzt gewesen, dass sie nicht mehr denken konnte. Doch als sie in ihrer Wohnung war und das Chaos beseitigte, wurde ihr klar, dass es überhaupt keine Rolle spielte, was Liam glaubte und was nicht. Das Management der Intertel Bank verdächtigte sie, eine Viertelmillion Dollar gestohlen zu haben. Bevor sie ein neues Leben anfing, musste sie die Dinge in ihrem alten Leben bereinigen. Das bedeutete, sie musste ihre Unschuld beweisen - und einen Weg finden, ihre sehr leidenschaftliche, aber kurze Beziehung mit Liam zu klären. Ellie sah nach links und rechts, ehe sie die Straße überquerte. Laute irische Musik und Stimmengewirr drangen aus dem Pub. Ellie nahm ihren Mut zusammen, öffnete die Tür und trat ein. Die erste Person, die sie erkannte, war Liams Vater, Seamus Quinn. Dann sah sie Dylan, den Feuerwehrmann, der mit seinem Vater hinter dem Tresen arbeitete. Sie fing seinen Blick auf und winkte ihm zaghaft zu. Er betrachtete sie einen langen Moment, ehe er lächelte und sie zu sich winkte. „Hallo, Ellie!" „Hallo, Dylan." Sie musste beinah schreien, um die Musik zu übertönen. „Sie haben also beschlossen, sich in Quinn's Pub zu wagen. Was kann ich Ihnen anbieten? Haben Sie schon mal ein Guinness getrunken? Oder möchten Sie lieber etwas, das mehr dem Geschmack einer Lady entspricht?" „Um ehrlich zu sein, ich wollte nichts trinken. Ich bin auf der Suche nach Liam. Wissen Sie, wo er ist?" „Vorhin saß er am Ende des Tresens mit Sean und Brian. Aber vielleicht ist er inzwischen gegangen. Ich werde mal nachsehen ..." „Nein, schon gut", meinte Ellie. „Ich frage einfach herum." Sie ging an das andere Ende des Tresens, wo sie Brian und Sean fand. Als die beiden sie entdeckten, warf Sean einen Blick zu einer Nische im hinteren Teil des Pubs. Einige Gäste umringten den Billardtisch, und Ellie sah Liam neben einer gut gebauten Blondine in hautenger Jeans. Die Blonde schmiegte sich an ihn und legte den Arm um ihn. Zorn und Eifersucht packten Ellie. Wie schnell er sie vergessen hatte! Sie beobachtete, wie er sich über den Tisch beugte und einen Stoß ausführte. Er bewegte sich mit einer natürlichen Anmut, und selbst seine Art, den Queue zu schwingen, wirkte sexy und provozierend. Ellie folgte dem Blick seiner Begleiterin, der auf Liams Po gerichtet war. Ob er nun mit der Blonden zusammen war oder nicht, änderte nichts an dem Grund, weshalb sie hier war. Sie trat an den Billardtisch und wartete, bis Liam sie sah. Nach einem weiteren Stoß
schaute er auf, und ihre Blicke trafen sich. Ellie hatte plötzlich Mühe zu atmen. Zuerst wirkte er überrascht, dann lächelte er. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, warf Liam den Queue auf den Tisch, so dass die Kugeln in alle Richtungen auseinander stoben, und kam um den Tisch herum. „Du bist hier", sagte er. „Ich dachte schon, du hättest die Stadt verlassen." „Kann ich dich sprechen?" „Ungestört?" „Liam, willst du unsere Partie nicht beenden?" Er sah zu der jungen Blonden, die einen süßen Schmollmund zog. „Ich kann nicht. Such dir einen anderen Quinn. Hier wimmelt es nur so von ihnen." „Ich glaube, ich muss auch mit Sean reden", sagte Ellie. Liam rief seinen Bruder und winkte ihn zu sich. Sie fanden eine Nische in einer dunklen Ecke des Pubs und setzten sich, Liam und Sean auf die eine Seite des Tisches, Ellie den beiden gegenüber. „Ich weiß nicht, ob ihr noch immer nach Ronald Pettibone sucht", begann sie. „Ich meine, ihr wisst ja, wo er ist. Aber ich glaube, ich weiß, was er will." Sie holte eine Miniatur-Jukebox aus der Handtasche. „Was ist das?" „Eine Spieluhr, die Ronald mir ein paar Wochen vor unserer Trennung gegeben hat. Als ich New York verließ, wollte er sie zurückhaben. Er behauptete, sie sei ein Erbstück der Familie. Da ich wütend auf ihn war, weigerte ich mich, sie ihm zurückzugeben. Und nun taucht Ronald plötzlich hier auf. Ich könnte mir vorstellen, dass er es war, der in meine Wohnung eingebrochen ist." „Ich auch", pflichtete Liam ihr bei. Ellie sah zu Sean, der zustimmend nickte. „Und ich glaube, dieses Ding hier ist es, wonach er gesucht hat", fuhr sie fort. „Die Spieluhr befand sich in einem Karton im Keller, der zu meiner Wohnung gehört. Das konnte Ronald nicht wissen." Sie drehte die kleine Jukebox. „Der Boden lässt sich öffnen." Sie demonstrierte es. „Da ist ein Schlüssel drin", stellte Liam erstaunt fest. Ellie nickte. „Für ein Bankschließfach. Und die Bank ist hier in Boston. Wir waren mal für ein langes Wochenende hier, und da schenkte er mir die Spieluhr. Wir verbrachten nicht jede Minute zusammen, er hatte also Zeit, die Bank aufzusuchen. Es handelt sich um die Rawson Bank. Eine Filiale liegt ganz in der Nähe des Hotels, in dem wir wohnten. Vermutlich hat das, was sich in dem Schließfach befindet, mit dem gestohlenen Geld zu tun." „Wenn wir an das Schließfach herankämen ..." „Falls er es nicht auf meinen Namen gemietet hat, haben wir keine Chance", gab sie zu bedenken. „Wir werden das überprüfen", erklärte Liam und reichte den Schlüssel an Sean weiter. „Nein", sagte Ellie. „Nein?" wiederholte Sean. „Ich habe einen Plan. Ich werde ihn anrufen und ihm sagen, dass ich alles über die Unterschlagung weiß und einen Anteil im Austausch gegen den Schlüssel will." „Ellie, ich möchte nicht, dass du ..." Sie hob die Hand, um Liams Protest zu ersticken. „Ich werde es tun, ob mit dir oder ohne dich. Aber wenn ich die Sache nicht kläre, wird die Bank immer glauben, ich hätte das Geld gestohlen." Liam stand auf, nahm Ellies Hand und zog sie mit sich. „Entschuldige uns", wandte er sich an Sean. „Ich muss mit Ellie allein sprechen." Während er sie Richtung Küche zerrte, versuchte sie sich loszureißen. „Du kannst mich nicht davon abbringen." In der Küche drängte Liam sie gegen eine der Arbeitsflächen und stützte sich mit beiden
Händen links und rechts von ihr auf, so dass Ellie jede Fluchtmöglichkeit versperrt war. „Versteh doch, dieser Kerl hat bewiesen, dass er bereit ist, für sein Geld zu töten. Ich will nicht, dass du diese Sache in die eigene Hand nimmst. Sean und ich werden das Geld aufspüren und uns an die Polizei wenden." „Nein", entgegnete Ellie entschlossen. „Wenn das schief geht, wird Ronald dir die Schuld an allem zuschieben. Möglicherweise kommt er ungeschoren davon, während du im Gefängnis landest. Willst du dieses Risiko eingehen?" „Ich habe nichts verbrochen." „Das weiß ich." „Wirklich?" Liam seufzte. „Ich habe nie ernsthaft geglaubt, dass du an der Unterschlagung beteiligt warst. Frag Sean. Glaubst du, ich hätte mich mit dir eingelassen, wenn ich dich für eine Kriminelle gehalten hätte?" „Und wieso hast du dich mit mir eingelassen?" „Weil... ich weiß nicht... ich konnte nicht anders." „Oder hast du nur deinen Job gemacht?" „Ich weiß, dass du wütend bist und das du glaubst, ich hätte dich getäuscht..." „Das hast du", unterbrach sie ihn. „Es tut mir Leid." Er sah ihr in die Augen, und Ellie kämpfte mit den Tränen. Langsam hob er die Hände an ihre Wangen, und sie wusste, dass er sie küssen würde. Doch im letzten Moment wandte sie das Gesicht ab und wich ihm aus. „Wie gehen wir jetzt mit der Sache um?" „Ich weiß nicht, was du von mir hören willst." „Ich meine die Sache mit Ronald. Ich finde, ich sollte ihn anrufen und einladen. Aber dann werde ich ihm den Schlüssel noch nicht zeigen. Möglicherweise ..." „Verdammt, Ellie, das geht nicht..." „Stopp", sagte sie. „Ich könnte ihm erklären, dass sich der Schlüssel an einem sicheren Ort befindet. Wir könnten ihn gemeinsam holen und zur Bank gehen, wo ihr ihn festnehmt." „Ich kann ihn nicht festnehmen, und Sean auch nicht. Sobald wir Ronald überführt haben, benachrichtigen wir die Bank, die sich wiederum an die Polizei wendet." „Aber ich weiß, dass ich ihn überführen kann. Ich kann ihn dazu bringen, mir zu erzählen, was er getan hat." Diesmal zögerte Liam nicht. Er packt ihre Schultern, zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Sie wich nicht zurück. Stattdessen schlang sie ihm die Arme um den Nacken. Erst als klar wurde, dass er nicht aufhören würde, löste sie sich von ihm, und er legte seine Stirn an ihre. Ellie wollte ihm sagen, wie sehr er sie verletzt hatte, wie viel er ihr bedeutete und wie schwach sie sich jetzt fühlte. Doch noch war sie nicht bereit, ihm zu erklären, wie es in ihr aussah. Es würde ihr das Herz brechen, wenn er ihre Gefühle nicht erwiderte. Und diesmal würde es nicht mehr heilen, das wusste sie. Dazu war sie viel zu sehr in ihn verliebt. „Ich sollte gehen", sagte sie. „Nein. Wir werden darüber sprechen. Wenn du das wirklich tust, muss ich wissen, dass dir nichts passieren kann." „Und wie?" „Du wirst Ronald heute Abend anrufen und ihm sagen, dass du ihn treffen willst. Aber es muss ein Ort sein, wo wir euch beobachten und abhören können." Ellie nickte. „Sag ihm nicht, worüber du mit ihm sprechen willst. Falls er fragt, erwähne einfach deine Jobsuche. Sei ungezwungen. Lass ihn glauben, er bekomme endlich eine Gelegenheit." „Ich kann nicht glauben, dass ich jemals etwas für ihn empfunden habe", meinte Ellie. „Ich
hätte mit ihm Schluss machen sollen, bevor er mir den Laufpass gab." Sie runzelte die Stirn. „Ich verstehe nur nicht, warum er die Beziehung beendet hat, bevor er den Schlüssel zurückhatte." „Wahrscheinlich glaubte er, sich jederzeit wieder bei dir einschmeicheln zu können. Außerdem musste er auf den richtigen Zeitpunkt warten, nachdem der Verdacht nicht mehr auf ihm lastete." Liam überlegte. „Vielleicht sollte ich dabei sein, wenn du ihn anrufst." Obwohl Ellie sein Beistand willkommen gewesen wäre, konnte sie ihre Beziehung so schnell nicht wieder aufnehmen. Es war so leicht, Liam zu lieben und sich auf ihn zu verlassen. Doch wenigstens einmal in ihrem Leben würde sie ihre rosa Brille abnehmen und ihn als das sehen, was er war - ein Mann, der sie getäuscht und belogen hatte. „Ich rufe dich an", sagte sie. „Ich werde dich nach Hause fahren." Er legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, bevor sie protestieren konnte. „Ich will nur dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist." Er hatte Recht - sie fühlte sich viel sicherer, wenn er bei ihr war. Andererseits wusste sie ganz genau, dass ein weiterer Kuss genügte, um ihr Herz ganz zu verlieren. Auch wenn er sie schon vorher aus Gefahren gerettet hatte, diesmal würde sie sich selbst helfen müssen. Ellie strich ihr schwarzes Cocktailkleid glatt und zupfte am Ausschnitt, um etwas mehr Haut zu zeigen. Sie sollte Angst haben oder sich wenigsten Sorgen machen, ob sie fähig war, die vor ihr liegende Aufgabe zu bewältigen. Doch seit sie Liam kannte, hatte sie gelernt, dass sie durchaus fähig war, ihre weibliche Macht einzusetzen. Sie zog am Saum des Kleides, der bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Doch als sie das tat, wurde automatisch ihr Dekollete großzügiger. „Lass es einfach", sagte sie laut zu sich selbst und betrachtete sich kritisch im Spiegel. „Ich sehe gut aus." Sie drehte sich zur Seite. „Er wird Wachs in meinen Händen sein." „Wirst du das tragen?" Beim Klang von Liams tiefer Stimme schlug ihr Herz schneller. Er und Sean waren vor einigen Stunden in ihre Wohnung gekommen, um das Mikrofon zu installieren. Während sie sich für ihren großen Auftritt zurechtmachte, schaute Liam ihr schweigend zu und machte sie damit nervös. Sean hatte ihr einfach nur Glück gewünscht und war auf den Dachboden auf der anderen Straßenseite zurückgekehrt. Ellie sah Liam im Spiegel. Er stand in der Tür zum Schlafzimmer. „Wie findest du es? Das wird seinen Zweck erfüllen, oder?" „Ist das nicht ein bisschen zu gewagt?" Ellie drehte sich langsam zu ihm um. Er war eifersüchtig, wie sie mit einer gewissen Zufriedenheit registrierte. „Ich will Ronald ein Geständnis entlocken und ihm zeigen, dass ich nicht bloß ein kleines Mauerblümchen bin. Ich muss selbstbewusst und sexy wirken, wie eine Frau, die bereit ist, alles zu tun, um zu bekommen, was sie will." „Kannst du das nicht in einem anderen Kleid?" „Was ist los? Du willst doch, dass es funktioniert, oder?" Liam wandte sich um und ging ins Wohnzimmer. Ellie folgte ihm. „Bist du etwa so aufgebracht, weil das Kleid zu sexy ist? Oder weil Ronald mehr von mir sehen wird, als du für angemessen hältst?" „Du weißt doch gar nicht, wozu dieser Kerl fähig ist. Mehr als einmal hat er schon versucht, dich umzubringen. Ich halte es nicht für klug, ihn zu provozieren." „Aber du wirst doch in der Nähe sein, für den Fall, dass irgendetwas schief läuft. Und Sean beobachtet das Geschehen von der anderen Straßenseite. Ich habe keine Angst. Höchstens davor, alles zu vermasseln." „Du erinnerst dich doch an unsere Abmachung, oder? Sobald du ein ungutes Gefühl, hast, sagst du das Wort ,hungrig'. Frag Ronald, ob er hungrig ist. Dann komme ich sofort aus dem Schlafzimmer gestürmt." „Ja, ich weiß. Und was mache ich, wenn er gleich den Schlüssel haben will?"
„Dann erklärst du ihm, dass die Spieluhr zusammen mit anderen Wertsachen in einem Bankschließfach liegt und du sie erst morgen früh holen kannst. Du wirst sie holen und ihn morgen bei seiner Bank treffen, um das Geld abzuholen." „Damit wir ihn auf frischer Tat ertappen können." „Genau. Sean hat mit Intertel gesprochen, und die haben sich an die Polizei gewandt und ihr mitgeteilt, dass Ronald hier ist. Sobald er das Geld von der Bank holt, werden sie ihn festnehmen." „Und was wird aus mir?" „Du wirst deine Geschichte erzählen müssen", meinte Liam. „Aber es ist doch offensichtlich, dass du mit der Sache nichts zu tun hast und Ronald dich als Sündenbock benutzen wollte, falls die Sache schief geht." Er nahm ihre Hand und drückte sie. „Du schaffst das schon, Ellie." „Ich muss ja." Sie schaute auf ihre miteinander verflochtenen Finger. Es tat so gut, Liam wieder zu berühren. Seit er sie vor einigen Abenden im Pub geküsst hatte, hatten sie eine unangenehme Distanz zu einander gewahrt. Ellie machte es immer noch zu schaffen, dass er sie getäuscht hatte. Liam dagegen schien das alles vergessen zu haben und dort anknüpfen zu wollen, wo sie aufgehört hatten. Doch Ellie hatte sich geschworen, irgendwo ganz neu anzufangen, sobald diese Geschichte ausgestanden war. Die Vorstellung von einem Leben ohne Liam war jedoch schmerzlich. Der Türsummer ertönte, und Ellie erschrak. „Das ist Ronald", sagte sie und schaute auf ihre Uhr. „Er kommt zu früh." „Ich verschwinde ins Schlafzimmer, wo ich alles hören kann, was er sagt." „Was, wenn er ins Schlafzimmer will? Ich meine, was, wenn ich ..." Liam kniff die Augen zusammen. „Wenn er das will, wirfst du ihn aus der Wohnung. Unter keinen Umständen wirst du mit ihm ..." „Nein! Ich meinte, wenn er meine Wohnung sehen will?" Er seufzte. „Lass es nicht dazu kommen. Falls er sich nicht davon abbringen lässt, verstecke ich mich im Kleiderschrank." „Na schön." Sie drückte den Türöffner auf dem Tastenfeld der Alarmanlage. Liam nahm ihre Hand, hob sie an seine Lippen und küsste ihr Handgelenk. „Weißt du das Wort noch?" „Hungrig", antwortete Ellie. Sie wartete, bis Liam im Schlafzimmer verschwunden war, dann öffnete sie die Wohnungstür und trat auf den Treppenabsatz hinaus. Als sie Ronald die Treppe hinaufkommen sah, setzte sie ein Lächeln auf und versuchte sich so ungezwungen wie möglich zu geben. „Hallo, Ronald", begrüßte sie ihn. Er lächelte, wie er sie schon hundert Mal angelächelt hatte. Dabei war ihr nie aufgefallen, wie aalglatt sein Lächeln war. „Hallo, du Schöne." „Komm rein, setz dich." Er folgte ihrer Aufforderung mit einer anmaßenden Selbstsicherheit. „Hübsche Wohnung", bemerkte er. Ellie biss die Zähne zusammen. Als hätte er die noch nie vorher gesehen! „Danke. Möchtest du etwas zu trinken? Ich habe eine Flasche guten Wein." „Gern." Sie floh in die Küche, um sich zu sammeln. So weit, so gut. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, stand Ronald vor ihren Bücherregalen und betrachtete eingehend die Nippesfiguren. Ellie hielt ihm das Glas Wein hin. „Danke. Mir ist gerade aufgefallen, dass du die Spieluhr nicht mehr hast, die ich dir mal geschenkt habe." „Seltsam, dass du sie erwähnst", entgegnete sie. „Wieso?"
„Setz dich, Ronald. Wir müssen uns unterhalten." Als sie saßen, trank Ellie einen kleinen Schluck Wein und nahm ihren Mut zusammen. „Vor ungefähr einer Woche habe ich mit jemandem von der Bank gesprochen. Dana, du erinnerst dich sicher an sie." Sie wedelte mit der Hand. „Aber das ist auch egal. Jedenfalls hat sie mir erzählt, dass du gekündigt hast. Sie berichtete mir außerdem, dass jemand eine Viertelmillion Dollar unterschlagen hat. Kannst du dir das vorstellen?" Ronald schüttelte den Kopf, und ein gewisses Unbehagen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Das ist ja schrecklich." „Allerdings. Noch schrecklicher ist jedoch, dass es zwei Verdächtige gibt." „Warum sollte das schrecklich sein?" „Weil ich einer dieser Verdächtigen bin. Und der andere bist du. Tja, ich habe es nicht getan, also kann ich nur zu einem Schluss kommen - du warst es." „Ellie, ich kann nicht glauben, dass du glaubst, ich hätte ..." „Spar dir das, Ronald. Ich habe den Schlüssel in meiner Spieluhr gefunden. Ich weiß, was du vorhast. Du bist in meine Wohnung eingebrochen, hast versucht, mich zu überfahren und mit einem herunterfallenden Ziegelstein zu töten. Wahrscheinlich wolltest du meine Wohnung in Ruhe durchsuchen, wenn ich im Krankenhaus liege oder aus dem Weg geräumt bin. Und als das nicht klappte, bist du ein zweites Mal eingebrochen und hast meine Wohnung auf den Kopf gestellt." „Im Ernst, Ellie, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst." . „Ich habe den Schlüssel", eröffnete sie ihm. „Wenn du ihn haben willst, werden wir beide eine kleine Abmachung treffen müssen." Er starrte sie an und versuchte offenbar, die Lage einzuschätzen. „Nehmen wir mal an, ich hätte das Geld tatsächlich unterschlagen. Was erwartest du?" „Ich könnte die Hälfte verlangen, weil du es ohnehin schon so hast aussehen lassen, als sei ich es gewesen. Aber ich bin kein gieriger Mensch. Fünfzigtausend reichen mir. Das ist genug für einen Neuanfang, vielleicht in San Francisco oder Chicago." „Hast du den Schlüssel hier?" „Nein, der liegt an einem sicheren Ort. Wenn du meine Bedingung annimmst, werde ich ihn holen. Wir treffen uns in der Bank, und du gibst mir meinen Anteil." Ronald schien sich weigern zu wollen, doch dann lachte er. „Ich glaube, ich habe dich unterschätzt, Ellie." „Das tun die meisten Männer. Sie erkennen erst, was sie hatten, wenn sie es verloren haben." Sie stellte ihr Weinglas ab und stand auf. „Also, haben wir einen Deal?" Er stand auf und trat auf sie zu, „Es sieht so aus. Sollten wir das nicht mit einem Kuss besiegeln? Um der alten Zeiten willen." Ellie konnte sich nichts Schlimmeres ausmalen, als Ronald Pettibone zu küssen, außer vielleicht eine Zahnbehandlung ohne Betäubung. Doch sie hatte eine Rolle zu spielen und wollte sein Misstrauen nicht wecken. Daher lächelte sie spröde und sagte: „Na schön. Um unsere Abmachung zu besiegeln, nichts weiter."
8. KAPITEL Liam fluchte und malte sich Bilder aus zu dem, was er durch den Türspalt hörte. Ungeduldig wartete er darauf, dass Ellie und Ronald wieder sprachen. Endlich schien der Kuss vorbei zu sein, denn die Stimmen drangen wieder zu ihm. ,Jetzt weiß ich, dass ich dich unterschätzt habe", sagte Ronald. „Du hast dich verändert, Eleanor." „Schon möglich", erwiderte sie in neckendem Ton. „Weißt du, wir beide könnten ein sorgenfreies Leben zusammen führen." „Na ja, mit einer Viertelmillion kommt man ja heutzutage auch nicht mehr sehr weit." „Oh, aber ich habe noch viel mehr als das." Er lachte leise. „Hast du dich nicht gefragt, wieso es so einfach war und ich damit durchkam?" „Neugierig war ich schon." Es entstand eine längere Gesprächspause, und Liam musste zugeben, dass er jetzt ebenfalls neugierig war. „Ich habe es schon mal getan. Drei Mal bei drei verschiedenen Banken. Ich fing an bei einer kleinen Bank in Omaha, Nebraska. Danach änderte ich meine Identität. Nach Omaha nahm ich mir Banken in Seattle und in Dallas vor. Mit den Investitionen, die ich im Lauf der Jahre getätigt habe, sind es inzwischen zwei oder drei Millionen Dollar." „Das ist eine verblüffende Geschichte, Ronald ... falls das überhaupt dein Name ist." „Weißt du, was noch verblüffender wäre? Wenn du mit mir kommen würdest. Wir könnten zusammenarbeiten. Es ist ein simpler Plan. Normalerweise besorge ich mir eine Identität aus dem Internet. Ich schnappe mir die Daten eines Bankers, der einen Job sucht. Die Bank erkundigt sich nach Referenzen, und ich kriege den Job. Anschließend eröffne ich ein paar Scheinkonten und fange an, Geld hin und her zu bewegen. Und hier kommt der neue Trick: Ich warte vier bis acht Wochen, dann sorge ich dafür, dass du in derselben Bank angestellt wirst wie ich." „Wieso willst du mich dabeihaben, wenn du irgendeine Bankangestellte als Sündenbock benutzen könntest?" „Oh, das werden wir trotzdem machen. Ich werde mich an jemanden heranmachen müssen, dem ich die Schuld in die Schuhe schieben kann. Ich schätze, dass wir zu zweit mehr herausschlagen können." „Verrate mir nur eines", bat Ellie in flirtendem Ton. „Was möchtest du wissen?" „Verrate mir deinen richtigen Namen." Ronald lachte. „Wenn du mir sagst, dass du mitmachst, verrate ich dir meinen Namen." „Ich werde darüber nachdenken müssen", erwiderte Ellie. „Kann ich dir meine Entscheidung in einigen Tagen mitteilen?" „Du könntest sie mir gleich heute Abend mitteilen. Ich meine, nachdem wir unsere Bekanntschaft erneuert haben." Liam wusste genau, dass sie sich jetzt küssten. Wut. stieg in ihm auf, und er fragte sich, wie weit Ellie wohl noch gehen würde. Sie und Ronald hatten sich bereits für den nächsten Tag verabredet. Tat sie das nur, um ihn, Liam, zu quälen? „Ich finde es besser, wenn wir uns Zeit lassen", meinte Ellie. „Dies wird eine große Chance in meinem Leben sein. Ich werde viel aufgeben müssen." „Wir haben nur nicht viel Zeit", sagte Ronald, und Liam hörte die Anspannung in seiner Stimme. „Das Geld verschwindet nicht. Und lohnt es sich nicht, auf die besten Dinge zu warten? Überleg dir nur, was du bekommst. Geld ... und mich." Liam hörte, wie die Tür geöffnet wurde. „Ich rufe dich an, Ronald." „Gute Nacht, Eleanor."
Die Tür wurde geschlossen, und Liam hörte, wie Ellie sie verriegelte. Er wartete noch ein paar Sekunden, dann kam er aus dem Schlafzimmer. Fast wäre er mit ihr zusammengestoßen, weil sie den Flur hinunter zum Badezimmer rannte. Er folgte ihr hinein, ohne auf ihre Aufforderung zu warten. „Igitt!" rief sie und griff nach ihrer Zahnbürste. „Du liebe Zeit, ich dachte, ich müsste mich übergeben." Sie drückte eine großzügige Portion Zahnpasta auf die Bürste und begann sich die Zähne zu putzen. „Was, um alles in der Welt, hast du gemacht?" „Hast du gehört, was er gesagt hat?" fragte sie, die Zahnbürste noch im Mund. „Jedes Wort." Sie putzte sich weiter die Zähne, so dass sie nur undeutlich zu verstehen war. „Er hat so was schon früher gemacht. Drei Mal schon. Und Ronald Pettibone ist nicht mal sein richtiger Name. Seinen richtigen Namen wollte er mir nicht verraten, aber den können wir möglicherweise von den anderen Banken erfahren, die er betrogen hat. Er hat das Weinglas angefasst. Wir könnten seine Fingerabdrücke vergleichen." „Klar, ich gebe das Weinglas beim Express-Fingerabdruckdienst ab. Mal sehen, was die herausfinden." Ellie sah ihn im Spiegel an und spuckte die Zahnpasta aus. „Du brauchst nicht gleich so sarkastisch zu werden." Sie nahm ein Glas von der Ablage, füllte es mit Wasser und spülte ihren Mund aus. „Ich habe uns ein paar Tage Zeit verschafft. Meinst du, Sean hat das alles auf Band? Ronald kam nicht mal in die Nähe der Blumen. Das war das perfekte Versteck für das Mikrofon." Sie wischte sich den Mund mit einem Handtuch ab und drehte sich zu ihm um. „Ich war gut, oder? Jetzt kann Sean die Beweise an die Bank weitergeben, und die sorgen für seine Verhaftung." „Du bist ein zu großes Risiko eingegangen", warf Liam ihr vor. „Wovon redest du? Ich habe ihn dazu gebracht zuzugeben, dass er noch mehr Verbrechen verübt hat. Ich habe ihn zu dem Geständnis gebracht, dass er das Geld von Intertel unterschlagen hat - und von drei anderen Banken. Und jetzt will er, dass ich ihm dabei helfe, noch mehr Geld zu unterschlagen!" Liams Handy klingelte. Es war Sean. „Lass mich mit Ellie sprechen", verlangte er. Liam reichte ihr das Handy und beobachtete, wie sie mit seinem Bruder telefonierte. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und sie lachte zwei Mal, bevor sie sich bei Sean bedankte und verabschiedete. „Er meint, ich hätte tolle Arbeit geleistet und dass er alles auf Band hat. Außerdem meinte er, du sollst aufhören, dich bei mir zu beklagen und dich stattdessen bedanken." Liam fluchte und verließ das Badezimmer. Im Wohnzimmer zog er das winzige Mikrofon aus den Blumen und sah hinüber zum Fenster des Dachbodens auf der anderen Straßenseite. „Schalt sofort das verdammte Ding ab", befahl er. Um sicherzugehen, stöpselte er das Mikrofon vom Kabel ab und warf es auf den Tisch. Dann zog er die Vorhänge zu. Als er sich umdrehte, stand Ellie da, die Hände in die Hüften gestemmt. „Was ist dein Problem?" „Du bist mein Problem." Er durchquerte den Raum und nahm seine Jacke vom Sofa. „Ich bin dein Problem? Inwiefern? So wie ich es sehe, sollte ich diejenige sein, die wütend ist. Ich habe nichts getan. Ich habe keine Viertelmillion Dollar unterschlagen oder jemandem etwas vorgespielt. Ich habe niemanden heimlich beobachtet, der nicht beobachtet hätte werden dürfen. Ich bin hier die Unschuldige." „Sicher. Du bist unschuldig. Soll ich das vielleicht glauben, nach dem, wie du dich Pettibone gegenüber verhalten hast?" „Das war rein professionell", konterte sie. „Ach ja? Und in was bist du Profi?"
Sie kniff die Augen zusammen und ging auf ihn zu. „Dafür sollte ich dich ohrfeigen." „Nur zu!" In ihren Augen funkelte Zorn, doch sie beherrschte sich. Sie ballte die Fäuste und wollte sich abwenden. In diesem Augenblick verrauchte Liams Wut. Er legte den Arm um ihre Taille, zog Ellie an sich und küsste sie. Zuerst wehrte sie sich gegen ihn, doch je sinnlicher der Kuss wurde* desto mehr gab sie ihren Widerstand auf, bis sie ihm schließlich mit einem leisen Seufzer die Arme um den Nacken schlang. Liam wusste, dass sie sich nicht widersetzen würde, wenn er sie jetzt ins Schlafzimmer trug. Doch er wollte, dass sie ihn ebenso brauchte wie er sie, so sehr, dass sie es ohne ihn nicht aushielt. Daher löste er sich von ihr, ließ sie mit wackligen Knien stehen und ging zur Tür. „Was ... was machst du?" „Ich zeige dir, was dir entgeht, falls du dich entschließt, mit Ronald Pettibone durchzubrennen", entgegnete Liam, trat in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Er war schon fast im zweiten Stock angelangt, als er oben Glas zersplittern hörte. „Ich nehme an, das war deutlich", sagte er leise zu sich selbst und grinste. „Bist du bereit?" Ellie sah zu Sean, der hinter dem Lenkrad des Wagens saß. Sein Blick war starr auf die Fassade der einen halben Block von ihnen entfernten Rawson Bank gerichtet. „Ich denke schon", antwortete Ellie. „Ich bin ein wenig nervös." „Dazu besteht kein Grund. Liam meint, Pettibone sei schon drin und warte auf dich. Die FBI-Agenten sind ebenfalls drin." „Das FBI ist da?" „Ronald hat gegen einige Bundesgesetze verstoßen, daher ist es auch ihr Fall." „Wie werde ich sie erkennen?" wollte Ellie wissen. „Du musst sie nicht erkennen. Sie kennen dich. Du bist verdrahtet, also schrei einfach um Hilfe, falls du in Schwierigkeiten gerätst." „Schwierigkeiten?" „Keine Sorge. Es ist ein öffentlicher Ort. Ronald wird nichts versuchen." Ellie nickte. „Na schön. Gehen wir noch mal alles durch. Ich betrete die Bank, gebe Ronald den Schlüssel und warte, während er das Bankschließfach öffnet. Wenn er wieder herauskommt, wird er verhaftet, und ich kann gehen." „Sie haben deine Aussage für die Anklage", meinte Sean, „aber das FBI will möglicherweise noch weitere Informationen. Außerdem wird noch das Gerichtsverfahren kommen." „Werde ich aussagen müssen?" „Wahrscheinlich." „Und wenn er freigesprochen wird? Wird er es dann nicht auf mich abgesehen haben?" „Er wird nicht freigesprochen werden", beruhigte Sean sie. „Du wirst Großmutter sein, ehe er wieder aus dem Gefängnis entlassen wird." Darüber musste Ellie lächeln. „In Anbetracht meines Erfolges bei Männern dürfte Ronald demnach lebenslänglich sitzen." Jetzt lächelte Sean, und es war das erste Mal, dass sie ihn hatte lächeln sehen. Gewöhnlich wirkte er ernst und angespannt. Doch wenn er lächelte, veränderte sich sein ganzes Gesicht, und er wurde zu einem sehr attraktiven Mann. Ellie war ihm dankbar für seine Unterstützung in den letzten Tagen, während all der Befragungen, Aussagen und Erklärungen. Liam war gereizt und reserviert gewesen, Sean dagegen war stets da gewesen, um sie zu beruhigen. „Ich weiß, er macht einen wütenden Eindruck", sagte Sean, „aber das ist er nicht." „Liam?" „Das alles ist nicht seine Schuld." Sean sah sie an. „Ich habe ihn dazu überredet, den Job anzunehmen. Ich glaube, er hat dich zu keinem Zeitpunkt für eine Kriminelle gehalten."
„Hat er dich gebeten, mir das zu sagen?" „Nein. Er hat zwar Charme, aber so viel nun auch wieder nicht. Er kann mich nicht dazu bringen, Dinge zu sagen, die ich nicht meine." „Das glaube ich dir", sagte sie. Er holte tief Luft. „Bist du bereit?" „Ich bin bereit", antwortete Ellie. „Dann lass uns loslegen. Ich werde einige Meter hinter dir sein." Ellie stieg aus dem Wagen und ging auf die Bank zu, während sie über Seans Worte nachdachte. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um über Liam und die Frage, ob es eine gemeinsame Zukunft für sie beide gab, zu grübeln. Vor dem Eingang der Bank angekommen, sagte sie: „Ich bin vor der Tür." Einer der Sicherheitsleute öffnete ihr lächelnd die Tür. Gehörte er zu den FBI-Leuten? In der Lobby schaute Ellie sich um und fragte sich, wo Liam sich wohl befand. Sie entdeckte ihn auf einer Bank sitzend und eine Broschüre lesend. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, und Ellies Herz schlug schneller. Dann hielt sie weiter Ausschau. Ronald wartete am anderen Ende. Er hatte einen ledernen Aktenkoffer bei sich und klopfte ungeduldig mit dem Fuß, als sie zu ihm ging. „Du bist zu spät. Ich dachte schon, du kommst gar nicht." „Ich habe keinen Wagen", erklärte sie. „Ich musste ein Taxi rufen, und das verspätete sich." „Hast du den Schlüssel?" Sie griff in ihre Handtasche und reichte ihm den Schlüssel. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und Ellie atmete erleichtert auf. Ihr Part war damit erledigt. „Und, Eleanor? Hast du über mein Angebot nachgedacht?" „Ja, das habe ich", entgegnete sie. „Es ist sehr verlockend. Aber ich denke, ich werde warten und meine Entscheidung erst treffen, sobald wir diese Transaktion hinter uns haben. Ich muss erst wissen, ob ich dir trauen kann." „Wieso kommst du nicht mit, damit ich dir die Belohnung zeigen kann?" Ronald nahm ihre Hand und führte sie zu einer breiten Treppe. „Die Schließfächer befinden sich im zweiten Stock." Ellie konnte sich nicht weigern, ohne sein Misstrauen zu erregen. Außerdem konnte er ihr an einem öffentlichen Ort kaum etwas antun. Sie brauchte nur zu schreien, und schon würde man ihr zu Hilfe eilen. „Na gut", sagte sie daher. „Dann teilen wir oben." Ronald überlegte einen Moment. Zweifellos hatte er vor, sie um ihren Anteil zu bringen. Folglich musste er eine Entscheidung treffen, ob er sie in seiner Nähe behalten oder das Geld nehmen und verschwinden sollte. „Dabei fällt mir ein, dass manche Banken Vorschriften haben, wer in den Saferaum darf, während ein Schließfach geöffnet wird. Vielleicht solltest du doch lieber draußen warten." „Ich will meinen Anteil trotzdem, bevor wir die Bank verlassen", meinte Ellie. „Ich warte." Ronald nickte, und Ellie sah ihm hinterher, bis er die Treppe hinaufgegangen und hinter einer Tür verschwunden war. „Er ist oben", sagte sie und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Sie traute sich nicht wegzugehen, aus Angst, er könnte sie von dort oben beobachten. Langsam drehte sie sich um und hielt in der Lobby nach Liam Ausschau. Er kam mit besorgter Miene auf sie zu. „Komm mit", forderte er sie auf und nahm ihre Hand. „Er wird oben festgenommen. Verschwinden wir von hier." „Nein, ich will hier bleiben. Er soll wissen, wer dafür verantwortlich ist." Ein paar Sekunden später erschien Ronald oben am Treppenabsatz, flankiert von zwei Männern in dunklen Anzügen. Seine Hände waren hinter seinem Rücken mit Handschellen gefesselt, und einer der Männer trug seinen Aktenkoffer. Ronald starrte Ellie finster an und blieb unten bei ihr stehen. „Ich wusste, dass ich dir nicht hätte vertrauen dürfen", meinte er.
„Tja, du hast mich wohl tatsächlich unterschätzt." Die Agenten führten ihn ab. Ellie sah ihnen zufrieden hinterher. Es war vorbei. Sie hatte getan, was sie tun musste, und jetzt war sie frei. Sie konnte Boston verlassen und woanders ein neues Leben beginnen. „Das war's dann wohl", bemerkte Liam. „Sieht ganz so aus." Ellie ignorierte den Schmerz. Sie wollte nicht Abschied nehmen, aber sie hatte ihre Entscheidung nun einmal getroffen. „Danke für alles. Und richte Sean meinen Dank aus." „Du kannst dich persönlich bei ihm bedanken. Ich habe gedacht, wir fahren zum Pub und feiern." Wenn sie mit ihm fuhr, würde sie nicht von ihm loskommen. Inzwischen war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass er keinen Deut besser war als die Männer, die sie vor ihm gehabt hatte. Auch er hatte sie getäuscht; Er war nur gefährlicher als die anderen Männer, weil sie ihr Herz an ihn verloren hatte. Wenn sie jetzt nicht ging, würde sie es nie tun. „Ich muss nach Hause", erklärte sie und wandte sich zur Tür. Liam folgte ihr. „Ellie, du musst mir wenigstens eine Chance geben." „Warum?" Er nahm ihre Hand und verflocht seine Finger mit ihren, damit sie stehen blieb. „Ich weiß nicht." Er zögerte. „Doch, ich weiß es. Weil ich dich brauche. Du bist das, woran ich morgens nach dem Aufwachen als Erstes denke und als Letztes, bevor ich schlafen gehe. Und dazwischen denke ich ungefähr eine Million Mal an dich. Ich habe keine Ahnung, wieso ich dich nicht aus meinem Kopf bekomme, aber es muss etwas zu bedeuten haben." „Glaub mir, das wird aufhören. Du bist ein Mann. Früher oder später wirst du weiterziehen wollen." „Wirf mich nicht mit Ronald und all den anderen, die dir wehgetan haben, in einen Topf." „Wieso solltest du anders sein?" „Und was, wenn ich dich liebe?" konterte Liam. Ellie sog scharf die Luft ein und sah ihm in die Augen. Sie hatte diese Worte schon früher gehört, und ihrer Erfahrung nach läuteten sie eher das Ende einer Beziehung ein als den Beginn. Sobald ein Mann diese Worte gesagt hatte, glaubte er, sich fortan keine Mühe mehr geben zu müssen. Langeweile würde sich breit machen, und eines Tages wäre es dann vorbei. „Das ist ein schöner Gedanke, aber es wird meine Meinung nicht ändern." „Verdammt, Ellie, du kannst nicht einfach so verschwinden." „Doch, kann ich." Sie wollte die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren, überlegte es sich jedoch anders. „Leb wohl, Liam, und pass auf dich auf." Mit Tränen in den Augen verließ sie das Bankgebäude. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und sich ihm in die Arme geworfen. Vielleicht verließ sie gerade den besten Mann, den sie je kennen gelernt hatte, und beging den größten Fehler ihres Lebens. Aber das würde sie nicht herausfinden, wenn sie nicht ging. Benommen setzte sie einen Fuß vor den anderen. Es war das Schwerste, was sie je getan hatte. Liam saß an der Bar mit einem Guinness vor sich. Es war Mittagszeit, so dass sich nur ein paar Stammgäste im Pub aufhielten; Seamus stand am anderen Ende des Tresens und unterhielt sich mit einem von ihnen, während Liam die neueste Ausgabe des „Boston Globe" durchblätterte. Er hatte ein gutes Foto des Gouverneurs bei der Eröffnung einer Fabrik in Woburn geschossen, das in der Zeitung hätte erscheinen sollen, doch es war nirgends zu finden. Na ja, wenigstens war er bezahlt worden, ob das Foto nun erschienen war oder nicht. Außerdem hatte er noch das Geld aus Seans Unterschlagungs-Fall.
Er hatte daran gedacht, sich eine neues Objektiv oder vielleicht eine neue Kamera zu kaufen. Er konnte das Geld auch für vernünftige Drucke seiner Fotos investieren, um eine Mappe zusammenzustellen, mit der er sich bei einigen Galerien in der Stadt bewerben konnte. Und dann hatte er noch eine weitere Idee, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, deren erfolgreiche Umsetzung jedoch äußerst fraglich war. Er hatte überlegt, Sean das Geld zu geben, damit er Ellie fand. Sie war am Tag von Ronald Pettibones Verhaftung aus Boston verschwunden. Liam war an jenem Abend zu ihr gefahren, um ihr die Abreise auszureden, doch da war sie schon weg gewesen. Ihr Vermieter hatte ihm erklärt, die Umzugsfirma käme nächste Woche, um ihre Sachen einzulagern, bis sie sich irgendwo niedergelassen habe. Er hatte Liam nicht sagen können, wohin Ellie aufgebrochen war. Seither war es Liam nicht gelungen, herauszufinden, wo sie steckte. Er wusste nichts über ihre Familie oder ihre Freunde. Sie hatte San Francisco und Chicago erwähnt, aber das waren Großstädte, in denen man leicht untertauchen konnte. Liam blieb nichts anderes als zu akzeptieren, dass es vorbei war. Er würde sie nie wiedersehen, wenn ihm kein Weg einfiel, sie zu finden. Es hatte nicht lange gedauert, bis er erkannte, was für einen Fehler er gemacht hatte und was er wirklich empfand. Er liebte Ellie Thorpe. „Hallo, großer Bruder." Liam faltete die Zeitung zusammen, als Keely zu ihm kam. „Hallo, kleine Schwester. Was ist los?" „Ich suche dich", sagte sie. „Jetzt hast du mich gefunden." Sie setzte sich auf den freien Hocker neben ihm und bestellte sich bei Seamus eine Cola und etwas zu essen. „Um was geht es?" erkundigte sich Liam, nachdem Seamus mit der Bestellung verschwunden war. „Um Fotos", antwortete Keely. „Wann und wo?" „Nein, es geht um Fotos, die du schon gemacht hast. Erinnerst du dich an diese Fotos von Wahrzeichen der Stadt, die du für Rafes Konferenzzimmer geschossen hast?" „Ja.“ „Nun, Rafe hatte eine Vorstandssitzung irgendeiner Wohltätigkeitsorganisation, und da war diese Frau, die an einem Bildband über Boston arbeitet. Sie war sehr interessiert daran, mit dir über deine Fotos zu sprechen. Möglicherweise will sie einige kaufen." Keely zog eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. „Hier, das ist ihre Nummer. Sie erwartet deinen Anruf." „Danke. Das ist toll." „Ich fand deine Fotos schon immer außergewöhnlich. Ich bin froh, dass noch jemand meiner Meinung ist." Liam legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. „Weiß Rafe eigentlich, wie glücklich er sich schätzen kann?" „Ich erinnere ihn ständig daran", scherzte Keely. Aber dann erlosch ihr Lächeln. „Sean hat Conor von deiner Freundin Eleanor erzählt. Conor hat es Olivia erzählt, die es mir erzählte. Tut mir Leid, dass es zwischen euch nicht funktioniert hat. Ellie machte einen richtig netten Eindruck." „Ich nehme an, der Fluch der Quinns lässt nach. Ich habe die Regeln befolgt und bin zu Ellie geeilt, um sie zu retten. Eigentlich hätte sie sich in mich verlieben und mich aus all dem herausholen müssen. Aber das klappte nicht. Stattdessen habe ich mich in sie verliebt." Keely stutzte, dann lachte sie. „Wow. Das ist eine ziemlich wichtige Erkenntnis. Hast du es ihr gesagt?" Liam nickte. „Auf Umwegen. Ich meine, ich habe es ihr nicht direkt ins Gesicht gesagt. Es
war mehr so ein Was-wäre-wenn-Szenario." Keely verdrehte die Augen. „Was ist bloß los mit euch Männern? Wieso ist es so schwer für euch, eure Gefühle auszudrücken?" „Musst du da wirklich fragen?" Liam deutete zu Seamus. „Dann hast du wohl noch nicht genug Geschichten von den legendären Quinns gehört. Die Männer unserer Familie sind nicht dazu geschaffen, sich zu verlieben. Frauen sind böse und wollen uns am Ende nur zerstören." „Was für ein Unfug!" Liam zuckte mit den Schultern. „Anscheinend bin ich noch mal knapp davongekommen. Ich bin der einzige Quinn, dem es gelungen ist, der Macht einer Frau zu entkommen." „Noch bist du nicht frei", stellte Keely fest. „Schließlich sitzt du hier am helllichten Tag, bemitleidest dich selbst und versuchst die Frau zu vergessen, wo ich doch schon sehen kann, dass das nie und nimmer passieren wird." Liam seufzte. „Du nimmst kein Blatt vor den Mund, wie?" „Ich bin eine Quinn. Wir beschönigen nichts." Keely legte ihre Hand auf seine. „Geh und such sie. Sorg dafür, dass es funktioniert. Sag ihr, was du empfindest. Lass dich nicht von albernen Märchen über Flüche beeinflussen." „Was soll ich denn tun?" „Jedenfalls kriegst du Elke nicht zurück, indem du hier an der Bar hockst und jammerst." „Aber ich weiß doch gar nicht, wo sie ist." Er hielt inne. „Zumindest noch nicht. Allerdings weiß ich, wo sie sein wird. Sie muss bei Ronald Pettibones Gerichtsverhandlung aussagen. Und nächsten Monat müssen wir in New York mit der Staatsanwältin über unsere Aussagen reden. Da wird sie auch sein." „Dann bleibt dir ja noch ein Monat Zeit, um dir zu überlegen, was du zu ihr sagen wirst. Und zwar etwas so Gutes, dass sie dich unmöglich abweisen kann." „Ich bin mir nicht sicher, ob ich so lange noch warten kann", wandte Liam ein. „Meinst du nicht, dass sie es wert ist? Wenn sie dir wirklich etwas bedeutet, solltest du dir vorher im Klaren darüber sein, ob du sie wirklich liebst oder es dir nur um dein angekratztes Ego geht", sagte Keely. Liam rutschte von seinem Hocker und nahm seine Jacke. „Danke, Keely." Auf dem Weg zur Tür tippte er Seans Nummer in sein Handy, doch es meldete sich niemand. Er wusste, dass Sean an keinem neuen Fall arbeitete und in der Stadt war, also war er höchstwahrscheinlich zu Hause und kümmerte sich um seinen Papierkram. Liam hatte seinem Bruder oft genug einen Gefallen getan, jetzt war es an der Zeit, dass Sean sich mal revanchierte. Liam musste nur wissen, wo sie war und ob es ihr gut ging. Dann würde er nachts wieder schlafen können. Zum ersten Mal seit einer Woche blickte er wieder ein wenig optimistisch in die Zukunft. Er hatte Geld auf seinem Bankkonto und einen möglichen Käufer für einige seiner Fotos. Und er war der Frau begegnet, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Jetzt musste er nur noch den richtigen Weg finden, ihr das zu sagen.
9. KAPITEL Der Buchladen war eine Erholung von dem dichten Verkehr draußen und dem Gedränge der Fußgänger in der Mittagszeit. Ellie schaute auf ihre Uhr und überlegte, ob sie auf ihr Mittagessen verzichten sollte. Sie hatte noch eine halbe Stunde, bevor sie im Büro der Staatsanwältin sein musste, um ihre Aussage im Fall Ronald Pettibone - oder David Griswold - durchzugehen. Durch die Staatsanwältin hatte sie erfahren, dass ihr früherer Freund fünf Decknamen benutzt hatte. Die Verhandlung würde in einem Monat stattfinden, und Ellie würde als Zeugin aussagen müssen. Doch heute kreisten ihre Gedanken nicht um die Verhandlung, sondern nur darum, dass sie vielleicht gleich Liam wiedersehen würde. Ein Schauer überlief sie, und sie fragte sich, ob die Anziehung zwischen ihnen nachgelassen hatte. Sie hatte geglaubt, es würde leicht sein, ihn zu vergessen. Sie war so verletzt, verwirrt und wütend gewesen, als sie ihn vor über einem Monat vor der Bank hatte stehen lassen. Sie war entschlossen gewesen, ein neues Leben in einer neuen Stadt anzufangen. Doch auf ihrem Weg war sie durch New York gekommen, wo die Intertel Bank ihr einen neuen Job angeboten hatte, als Belohnung für ihren Beitrag zur Verhaftung Ronalds. Angesichts der ermüdenden Jobsuche, die ihr in einer neuen Stadt bevorstehen würde, hatte sie die Stelle akzeptiert, zumal sie eine Beförderung und mehr Geld bekam. Es war, als hätte sie die Uhr zurückgedreht in eine Zeit, bevor sie Liam Quinn kennen gelernt hatte, ja noch bevor sie ein Auge auf Ronald Pettibone geworfen hatte. Ihr Leben kehrte zur Normalität zurück - sie hatte Freunde und ein hübsches Apartment in einer vertrauten Stadt. Dummerweise interessierte sie das normale Leben nicht mehr. Es war langweilig. Sie schaute zu den Pfeilen, die von der Decke des Buchgeschäfts hingen und zu den verschiedenen Abteilungen wiesen. Als sie „Selbsthilfe und Ratgeber" las, kämpfte sie gegen den Impuls an, in den Regalen nach neuen Büchern zu stöbern. Seit ihrer Rückkehr aus Boston hatte sie genug davon. Jetzt lernte sie Romane zu schätzen. Außerdem hatte sie angefangen, Kochbücher zu sammeln. Es wurde höchste Zeit, dass sie sich so akzeptiere, wie sie war. Sie brauchte nicht nach Liebe zu suchen. Wenn die Liebe sie finden sollte, würde sie es tun. Alle Beziehungen aus der Vergangenheit gehörten nun zu ihrer Lebenserfahrung. „Irgendwo da draußen läuft der Richtige für mich herum", murmelte sie. „Er muss mich nur finden." Das hörte sich gut an, doch fiel es Ellie schwer, tatsächlich daran zu glauben. Jedes Mal, wenn sie sich ihre Zukunft mit einem Mann ausmalte, sah er exakt so aus wie Liam Quinn mit seinen dunklen Haaren und den goldgrünen Augen. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen - sie liebte ihn noch immer. Ellie gelang es nicht, sich auf die Bücherregale zu konzentrieren, daher verließ sie das Geschäft wieder und ließ sich vom Strom der Fußgänger treiben. Möglicherweise kam Liam heute gar nicht nach New York. Ellies Hoffnung gründete sich lediglich auf eine Bemerkung der Staatsanwältin, dass sie versuchen wollte, heute mit allen Zeugen zu sprechen. „Ich liebe ihn", sagte sie laut vor sich hin, und gleichzeitig war ihr bewusst, dass diese Gefühle durchaus einseitig sein konnten und Liam sich womöglich schon einer anderen Frau zugewandt hatte. Ellie betrat das Gebäude am Foley Square. Hinter einem Empfangstresen in der Nähe der Fahrstühle saß ein Wachmann. „Bitte tragen Sie sich hier ein, Miss." Ellie nahm den Stift von ihm entgegen und setzte ihn auf das Papier. Doch ehe sie ihren Namen schrieb, überflog sie die Liste derer, die schon vor ihr unterschrieben hatten. Ihr Herz schlug schneller, als sie Liams Namen las. „Zu wem wollen Sie?" erkundigte sich der Wachmann. „Liam Quinn", antwortete Ellie benommen und strich mit dem Finger über seinen Namen.
Dann sah sie auf und erkannte das Missverständnis. „Entschuldigen Sie, ich möchte zu Staatsanwältin Leslie Abbott." „Siebter Stock", sagte der Wachmann. Der Fahrstuhl brauchte eine Ewigkeit. Ellie stellte sich vor, dass Liam schon wieder auf dem Weg nach unten war, während sie hinauffuhr und sie sich verpassten. Verzweifelt versuchte sie, sich etwas einfallen zu lassen, was sie zu ihm sagen könnte, falls sie sich begegneten. Schließlich glitten die Fahrstuhltüren auseinander, und Ellie betrat eine winzige Rezeption. Eine Sekretärin begrüßte sie, schrieb ihren Namen auf und bat sie, noch einen Moment Platz zu nehmen. „Ellie?" Sie drehte sich um und entdeckte zu ihrer Überraschung Keely Quinn, die neben einer Topfpflanze saß. „Hallo. Was machen Sie hier?" „Ich bin heute mit Sean und Liam im Zug angekommen. Ich habe hier ein Kuchendekorationsunternehmen, das ich allmählich nach Boston verlagere. Aber ich habe noch viele Firmenkunden in Manhattan. Ich nehme an, Sie sind wegen Ihrer Aussage hier." Ellie nickte. „Ist Sean jetzt gerade drin?" „Nein, er ist schon fertig und bereits auf dem Weg zum Bahnhof. Liam ist jetzt drin." Sie sah auf ihre Uhr. „Es hieß, bis Mittag würden sie fertig sein. Wir wollen zusammen essen gehen. Haben Sie Lust, uns Gesellschaft zu leisten?" „Ich ... ich weiß nicht. Vielleicht soll ich doch gleich mit der Staatsanwältin reden." Ellie holte tief Luft. „Wie stehen die Dinge in Boston? Wie geht es ... Rafe?" „Gut. Aber wollen Sie nicht eher wissen, wie es Liam geht?" fragte Keely und hob eine Braue. „Tja, ich ..." Ellie schluckte und zwang sich zu einem Lächeln. „Wie geht es ihm?" „Gut. Er hatte viel zu tun. Er hat einige seiner Fotos für einen Bildband über Boston verkauft und hat demnächst eine eigene Ausstellung. Er und Brendan überlegen, zusammen ein Buch herauszugeben. Außerdem hatte er die Chance, ,National Geographie' seine Fotos zu zeigen. Sie haben ihm zwar keinen Job angeboten, aber möglicherweise kommt das noch." „Das hört sich an, als ginge es ihm richtig gut." Keely nickte. „Er trifft sich mit niemandem. Nicht seit Ihnen." „Oh, er wird nicht lange allein sein. Er ist ein großartiger Mann. Es gibt viele Frauen, die ihn wollen." , Ja, aber es kommt darauf an, was er will", erwiderte Keely geheimnisvoll. Ein langes Schweigen folgte, in dem Ellie sich zusammennehmen musste, um Keely nicht das zu fragen, was sie wirklich wissen wollte: Sprach Liam jemals von ihr? Glaubte Keely, dass es noch eine Chance für sie beide gab? „Und wie ist es Ihnen ergangen?" wollte Keely wissen. „Ich habe einen neuen Job und eine schöne neue Wohnung. Es geht mir gut. Ich habe alles, was in Boston passiert ist, hinter mir gelassen. Bis auf das Verfahren natürlich und ... nun, fast alles." Keely stand auf. „Ich werde mal versuchen, einen Becher Kaffee zu bekommen. Möchten Sie auch welchen?" „Nein danke." Ellie schaute ihr hinterher und faltete nervös ihre Hände. „Miss Thorpe? Sie sind jetzt bereit für Sie. Den Flur entlang, die letzte Tür auf der linken Seite." Ellie stand eilig auf und lief den Flur hinunter. Ihr Herz pochte. „Bleib ruhig", ermahnte sie sich. Sie sah ihn aus dem Konferenzraum kommen. Ihre Blicke trafen sich. Ellie wusste, dass sie weiter auf ihn zuging, und doch kam es ihr vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Er sah so gut
aus in seiner Khakihose, dem Sportsakko und der Krawatte. „Hallo, Ellie", begrüßte er sie mit einem schiefen Lächeln. „Hallo, Liam." Die Staatsanwältin hinter Liam räusperte sich. „Miss Thorpe, wenn Sie näher treten möchten ..." Doch Ellie schenkte ihr gar keine Beachtung. „Wie geht es dir?" „Mir geht es ..." „Mr. Quinn, ich fürchte, Sie sollten jetzt nicht mit Miss Thorpe sprechen. Bis wir sie befragt haben, sollten Sie mit keinem der anderen Zeugen sprechen." Leslie Abbott trat zu Ellie und führte sie sanft am Ellbogen in den Konferenzraum. „Wenn Sie bitte kommen würden, damit wir anfangen können." Die Tür schloss sich hinter ihr, und ihr Herzschlag normalisierte sich wieder. War das alles? Nur ein paar Worte, ein kurzes Hallo, sonst nichts? Für diesen kurzen Moment hatte sie sich die Augenbrauen gezupft und die Beine rasiert? „Bitte nehmen Sie Platz, Miss Thorpe." Ellie setzte sich dem Gerichtsstenographen gegenüber. Leslie Abbott setzte sich neben sie und legte ihren Block vor sich. ;,Lassen Sie uns anfangen. Ich hörte, Sie und Liam Quinn seien ein Liebespaar gewesen", sagte sie. Ellie war perplex. „Was?" „Sie haben mich richtig verstanden. Ist Ihnen klar, dass das unseren Fall beeinflussen kann? Betrachten Sie es mal aus der Perspektive des Verteidigers. Wir haben einen Privatdetektiv, der die Hilfe seines Bruders in Anspruch nimmt, der wiederum mit der Exgeliebten des Verdächtigen schlaft - die ebenfalls als Verdächtige in diesem Fall galt." „Ich wusste doch gar nicht, wer Liam war, als wir ... als wir intim wurden. Und als er mir schließlich die Wahrheit gestand, wurde ich wütend. Nachdem ich erfahren hatte, dass man mich verdächtigte, wandte ich mich an ihn und Sean, um ihnen bei der Überführung Ronalds, ich meine Davids, zu helfen." Ellie legte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. „Ergibt sich draus ein Problem? Wird Ronald womöglich straffrei ausgehen?" „Das weiß ich nicht", gestand Leslie. „Wir müssen abwarten, wie sich dieser Fall entwickelt. Aber ich muss sie warnen, dass Griswold wahrscheinlich versuchen wird, Ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben und es so aussehen zu lassen, als seien Sie die Drahtzieherin. Uns steht ein harter Kampf bevor, Miss Thorpe. Sind Sie bereit dafür?" „Bleibt mir denn eine andere Wahl?" „Ich fürchte nicht." Ellie schloss die Augen. Ihre Worte an Keely kamen ihr jetzt geradezu prophetisch vor. Sie würde nie einen Neuanfang machen können - mit oder ohne Liam -, solange diese ganze Sache nicht abgeschlossen war. Und Leslie Abbotts Miene nach zu urteilen, würde das länger dauernd, als Ellie erwartet hatte. „Auf Ronald Pettibone. Oder David Griswold. Oder wer immer der Kerl ist", sagte Liam und hob sein Glas, um mit Sean anzustoßen. „Möge es mehr solcher Krimineller geben, die du jagen kannst - und ich auch, falls ich mal wieder ein bisschen Geld brauche." Sean stieß mit ihm an. „Zehn Jahre Gefängnis. Das ist ziemlich gut. Außerdem hat die Bank ihr Geld zurückbekommen und wir haben unser Honorar. Der Fall ist erfolgreich abgeschlossen." „Vor ein paar Monaten noch wusste ich nicht, wie ich meine Miete zahlen soll. Jetzt scheint es aufwärts zu gehen", meinte Liam. „Was wirst du mit dem Geld tun?" erkundigte sich Sean und nahm eine Hand voll Erdnüsse aus der Schale vor ihm. „Ich weiß nicht. Vielleicht eine neue Kamera kaufen und ein bisschen reisen. Mal sehen, ob ich ein paar gute Fotos für ,National Geographie' schießen kann."
„Hast du sonst noch irgendwelche Pläne?" „Was meinst du?" „Na ja, ich dachte nur ..." „Ellie?" „Ja", gab Sean zu. „Ellie." „Ehrlich gesagt war ich erleichtert, dass Pettibone sich zur Aussage bereit erklärte. Ich wollte nicht, dass Ellie in den Zeugenstand muss. Nach dieser Anhörung hatte ich den Eindruck, es könnte ziemlich hässlich werden. Ellie hatte es nicht verdient, dass man ihr Privatleben an die Öffentlichkeit zerrt. Es war also ein guter Handel. Pettibone wird seine Strafe in einem gemütlichen Gefängnis absitzen, und Ellie kann ihr Leben ganz normal weiterführen. Andererseits war ich enttäuscht, weil ich sie nicht sehen würde. Ich hatte mir schon eine hübsche Rede zurechtgelegt. Zuerst wollte ich mich entschuldigen, und dann wollte ich ihr erklären, wie viel sie mir bedeutet." „Und jetzt?" „Keine Ahnung", gab Liam zu. „Ich werde mir wohl einen anderen Weg überlegen müssen, sie zurückzubekommen. Es muss allerdings wirklich gut sein, so dass sie unmöglich Nein sagen kann." „Und während du dir etwas ausdenkst, führt sie wahrscheinlich ihr Leben weiter." „Wie meinst du das?" „He, wenn du es nicht weißt, werde ich es dir nicht sagen." Sean trank .einen weiteren Schluck von seinem Bier und rutschte von seinem Barhocker. „Ich muss los. Sag Dad, dass ich mich morgen Abend um die Bar kümmern kann." „Und wir beide suchen morgen nach einem Hochzeitsgeschenk für Brendan und Amy, ja? Wir müssen außerdem für unsere Smokings Maß nehmen lassen." Sean nickte und winkte beim Hinausgehen. Seamus kam ans Ende der Bar und nahm Liams fast leeres Glas „Noch eins?" Liam schüttelte den Kopf. „Nein. Ich mache mich lieber auf den Weg. Sean meint, er würde morgen Abend arbeiten. Und ich werde wohl am Wochenende aushelfen können." „Du bist ein trauriger Anblick, Junge", bemerkte Seamus und wischte den Tresen mit einem feuchten Lappen. „Jeden Abend sitzt du hier und grübelst über diese Frau. Und was bringt das?" „Dad, ich brauche deine Ratschläge zu meinem Liebesleben nicht. Wir kennen alle deine Meinung über Frauen. Ma natürlich ausgeschlossen." „Ich sage ja nur, dass du aufstehen und ein Mann sein sollst. Alles andere ist der sichere Untergang." Liam schnappte sich seine Jacke. „Willst du mir schon wieder eins von deinen Märchen über die Quinns erzählen?" „Vielleicht wäre das gar nicht so verkehrt", sagte Seamus. Liam winkte ab und ging zur Tür, doch dann hörte er, wie Seamus leise seinen Namen rief. Er drehte sich um und sah, wie sein Vater mit dem Kopf zum anderen Ende des Tresens deutete. Ellie stand neben einem Hocker nahe der Tür und rang die Hände. Liam blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte sie nur ein einziges Mal letzten Monat gesehen, und das war bei ihrer kurzen Begegnung in New York gewesen. Langsam ging er auf sie zu. Sie war wunderschön in ihrem Baumwollkleid mit dem leichten Pullover darüber. Ihr dunkles Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern. „Du bist hier", sagte er. „Ich war nicht sicher, ob ich kommen sollte", gestand sie. „Ich bin froh, dass du hergekommen bist. Es ist schön, dich zu sehen." Sie schaute auf ihre Finger, deren Nägel in einem hübschen Pink lackiert waren. „Ich bin nur für einen Tag in der Stadt und wollte dir ein paar Sachen sagen. Ich dachte eigentlich, ich würde dich bei der Gerichtsverhandlung sehen."
,Ja, die Verhandlung. Ich bin froh, dass uns die Aussage erspart geblieben ist." „Deswegen bin ich hier." Sie sah kurz auf. „Ich wollte dir sagen, dass ich dir nichts nachtrage. Mir ist inzwischen klar, dass du nur einen Job erledigt hast und es dir ausschließlich darum ging, Griswold alias Pettibone ins Gefängnis zu bringen - wo er auch hingehört." „Das war es nicht allein, worum es mir ging." Er berührte ihren Arm. „Und es war nicht nur ein Job. Ich war mit dir zusammen, weil ich es wollte, nicht weil ich es musste." Sie errötete leicht. „Du brauchst das nicht zu sagen. Ich habe mich mit allem abgefunden, was passiert ist." „Nun, ich nicht", entgegnete Liam. „Ellie, ich kann nicht aufhören, an dich zu denken." Sie sah ihn lange an, und Liam hatte Angst, dass sie kurz davor war; einfach davonzulaufen. Doch dann schluckte sie und versuchte zu lächeln. „Ich habe auch nicht aufgehört, an dich zu denken. Ich habe einen Fehler gemacht und ..." „Nein, ich habe den Fehler gemacht." Liam konnte seine Aufregung kaum verbergen. Er bedeutete ihr noch etwas! „Ich hätte dich niemals gehen lassen dürfen." „Ich hätte niemals gehen dürfen." Liam umfasste ihren Ellbogen und führte sie zur Tür. Eine milde Brise wehte aus südlicher Richtung, und der Sommer lag schon in der Luft. Sie gingen ein Stück, bis Liam sicher war, mit ihr allein zu sein. „Was hat das zu bedeuten?" „Ich weiß es nicht", erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Ich habe das Gefühl, dass einige Dinge zwischen uns unvollendet geblieben sind." „Ich auch", gestand er. „Als sei da mehr zwischen uns, als wir gehabt haben. Als wäre uns irgendwann klar geworden, wie wundervoll es zwischen uns ist, wenn wir nur mehr Zeit gehabt hätten." „Was bedeutet das denn nun?" Liam betrachtete ihr schönes Gesicht. „Es bedeutet, dass ich mit dir zusammen sein will. Ich will herausfinden, wohin das mit uns führen kann." Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. „Ich liebe dich, und ich kann mir eine Zukunft ohne dich nicht vorstellen." „Das ist gut", meinte sie lächelnd. „Ich habe nämlich einen neuen Job in einer Bostoner Filiale von Intertel angenommen." Sie strich ihm die Haare aus der Stirn. „Und nur, damit du es weißt, ich liebe dich auch." Liam warf den Kopf zurück und lachte. Dann drückte er sie an sich und küsste sie voller Leidenschaft. Er war so lange einer echten Beziehung aus dem Weg gegangen, doch jetzt wusste er auch, warum - er hatte darauf gewartet, dass Ellie Thorpe in sein Leben trat, „Ich werde dich bitten, mich zu heiraten", erklärte er. „Wir werden eine Familie gründen und glücklich bis ans Ende unserer Tage leben. Bist du damit einverstanden?" „Das soll jetzt aber kein Antrag sein, oder?" Ellie wirkte alarmiert. „Nein, nur eine Warnung, dass dieser Antrag kommen wird. Und er wird großartig sein, so dass du ganz bestimmt nicht Nein sagen kannst." „Du bist ziemlich selbstsicher, was?" ,Ja, bin ich. Ich habe ein wenig gelesen. ,Zehn Schritte zur wahren Liebe'. Kennst du es?" Ellie errötete. „Ich glaube, ich habe es auch gelesen. Aber ich habe beschlossen, diese Selbsthilfebücher aufzugeben. Stattdessen werde ich in Zukunft auf mein Herz hören." „Und was sagt dir dein Herz?" „Dass ich froh bin, dass du in jener Nacht zu mir gekommen bist, um mich zu retten. Und dass ich froh bin, dass ich heute nach Boston gekommen bin." Liam lachte und erinnerte sich an all die Märchen von den Quinns, die er als Kind gehört hatte, und an den „Fluch", der seine drei älteren Brüder getroffen hatte. Er ließ die Hände über Ellies Schultern gleiten und küsste sie auf die Stirn. Jetzt wusste er, weshalb Conor, Dylan und Brendan gelacht hatten, wenn ihr Vater von dem Fluch anfing. Denn es war gar kein Fluch. Es war ein Segen.
EPILOG „Bist du endlich so weit?" Ellie betrachtete sich im Spiegel und berührte ihre Perlenkette. Sie war ein Geschenk von Liam, weil sie jetzt einen Monat zusammen waren. Ellie lächelte. Ein Monat, und so vieles hatte sich verändert. Sie lebten inzwischen zusammen, mit Liams Karriere ging es aufwärts, und Ellie hatte einen neuen Job bei Intertel Boston. Mittlerweile suchten sie nach einem passenden Apartment und wohnten bis dahin bei Liam. Außerdem hatte sie sich noch mehr in den Mann ihrer Träume verliebt. „Wir werden zu spät kommen, Ellie." „Sofort", rief sie. „Nur noch ein paar Minuten." „Amy hat gesagt, ich soll Punkt sechs da sein." „Es ist erst halb sechs. Und die Trauung beginnt nicht vor sieben. Wir haben noch reichlich Zeit. Die Kirche ist doch nur fünfzehn Minuten von hier entfernt." Ellie strich ihr Kleid glatt. Es war aus hellblauer Seide und hatte ein perfekt sitzendes Mieder. Die Kette verlieh dem Kleid Eleganz, und unterhalb der schmalen Taille bauschte sich der Rock und raschelte bei jedem Schritt. „Bist du angezogen?" fragte Ellie und nahm ihre Ohrringe. „Bis auf die Fliege. Ich kriege sie nicht gerade hin. Und die Manschettenknöpfe sind viel zu klein. Wieso nimmt man keine anständigen Knöpfe?" „Weil Manschettenknöpfe sexy sind." Ellie verstaute den Lippenstift in ihrer Handtasche und verkündete: „Ich bin fertig." Liam stand im Smoking im Flur, das Hemd noch bis zur Taille offen, während die Fliege um seinen Hals baumelte. Er kämpfte mit den Manschettenknöpfen. Als er Ellie sah, stutzte er. „Wow!" Sie lächelte über sein Kompliment: „Danke. Du siehst auch gut aus." „In diesem Smoking sehe ich aus wie ein Kellner." Er grinste. „Aber ich fühle mich wie James Bond." „Du bist viel attraktiver als er", neckte Ellie ihn und schob einen Manschettenknopf durch die kleine Öffnung im Hemdsärmel. Dabei streiften ihre Finger seine nackte Brust, und Ellie erschauerte. Seit ihrer Rückkehr nach Boston hatten sie unzählige Male miteinander geschlafen, doch nach wie vor genügte eine simple Berührung, um ihr Verlangen zu wecken. „So", sagte sie, nachdem sie den zweiten Ärmel bewältigt hatte. »Das sieht gut aus." „Du findest Manschettenknöpfe also sexy? Wieso?" Liam knöpfte sich das Hemd zu. „Weil sie edel wirken. Und wenn man es eilig hat, fliegen die Manschettenknöpfe in alle Richtungen." „Du meinst so?" Liam riss an seinen Ärmeln. Die Manschettenknöpfe rollten über den Holzfußboden des Schlafzimmers. „Was tust du?" schrie Ellie. Liam umfasste ihre Taille und zog sie zum Bett. „Du hast selbst gesagt, wir haben noch Zeit. Wir wollten erst in einer halben Stunde in der Kirche sein." „In fünfundzwanzig Minuten", korrigierte sie ihn und stemmte sich gegen seine Brust. „Aber bis zur Trauung sind es noch eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten." „Wenn wir zu spät kommen, kriegst du mit Brendan Ärger. Und Amy wird nie wieder mit mir reden." „Sie lieben sich, also werden sie Verständnis haben." Liam zog langsam den Reißverschluss ihres Kleides herunter und streifte es ihr von den Schultern. Es fiel herab und bildete eine kleine Wolke zu ihren Füßen. Ellie protestierte, stieg jedoch heraus. „Das Kleid war schon umwerfend", bemerkte Liam und betrachtete sie von oben bis unten. „Aber diese Unterwäsche gehört verboten." Ellie lachte und drehte ihn um. Sie half ihm aus dem Jackett und legte es sorgfältig gefaltet auf einen Stuhl. „Fünfzehn Minuten", sagte sie. „Dann müssen wir los." Sie streifte ihm die Hosenträger von den Schultern und zog ihm das Hemd aus der Hose. Als sie sich gegenseitig
das letzte Kleidungsstück ausgezogen hatten, drängte Liam sie sanft auf das Bett. „Wir sollten das nicht tun", flüsterte Ellie. Er legte sich auf sie, und sie spürte ihn groß und hart an ihrem Bauch. Er berührte ihre Perlenkette. „Ohne das Kleid sieht sie noch besser an dir aus", meinte er. „Aber findest du die Perlen nicht ein wenig schlicht?" „Nein!" Ellie ließ die Perlen durch ihre Finger gleiten. „Ich finde sie wunderschön." „Es gibt bestimmt eine Menge Dinge, die du dringender gebraucht hättest - ein neues Sofa zum Beispiel, einen Mixer oder einen Staubsauger." „Niemals. Ich liebe diese Perlen. Ich könnte mir nichts Schöneres wünschen." Liam schob den Arm unter das Kissen und zog ein kleines samtbezogenes Kästchen hervor. „Dann sollte ich dir das hier wohl besser nicht geben." Ellie betrachtete verblüfft das Kästchen. Sie wollte es ihm aus der Hand nehmen, doch er schloss die Handfläche. „Ich sollte das vernünftig machen", erklärte Liam, rollte aus dem Bett und kniete sich vollkommen nackt daneben. Er stützte die Arme auf die Bettkante und stellte das Kästchen vor sich. Ellie lag auf dem Bauch. „Was tust du?" „Ich schulde dir noch einen stilvollen Heiratsantrag. Ich weiß, es geht alles sehr schnell, aber ich liebe dich. Willst du mich heiraten, Ellie?" Er hielt den Ring vor ihren Finger und wartete auf ihre Antwort. Sie starrte den funkelnden Diamanten an. Sie hatte es für möglich gehalten, eines Tages den Mann zu finden, der sein Leben mit ihr verbringen wollte. Und jetzt hatte sie auch noch den wunderbarsten Mann der Welt. Ellie biss sich auf die Lippe, und eine Träne rann ihre Wange hinunter. „Ich will dich heiraten, Liam", hauchte sie. Er schob den Ring auf ihren Finger, sprang auf das Bett und drückte sie an sich, um sie stürmisch zu küssen. Ellie schlang ihm die Arme um den Nacken und drückte ihre Lippen auf seine. Und während sie die Wärme seines Körpers genoss und den Klang seiner Stimme, wusste sie, dass sie nichts weiter in ihrem Leben brauchte. Sie hatte ihren Helden. Sie hatte ihren Ritter in glänzender Rüstung. Sie hatte ihren Liam Quinn. - ENDE -