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Pinchas Lapide, geb 19 2; Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem, Promotion in Judais Ik in Köln; Gastprofessor in Göttingen und Wuppertal; Gastvorlesungen an vielen deutschen und auslt~ndischen Universitäten; z.Zt. freischaffender Theologe und Schriftsteller in Frankfurt/Main.
Inhalt
Die Bergpredigt ist erneut zum Gegenstand engagierter Debatten geworden' Was bedeutet sie tür unser gesellschaftliches Handeln, für den Friedensau rag der Christen? Ein jüdischer Theologe, der in Deutschland lebt, gibt Antworten. l!r deutet die »Berglehre« durch Rekonstrukbon ihres Sltzes im Leben Jesut durch Ruckübersetzung in seine Sprache. Dabei erfahren heftig umstrittene Sätze eine neue, oft überraschende Deutung und Erklärung: das »Ich aber sage euch«. die »Feindesliebe«, das »Aug' um Aug', Zahn um Zahn«, die anstößige Forderung »Widersteht dem Bösen mcht« usw. Eine Fülle von Einsichten, wie sie nur ein 10 der Zeit und Sprache so kundiger Autor vermitteln kann, erweist die Bedeutung der Bergpredigt für unsere Generation, sowohl im zwischenmenschhchen Bereich als auch in der Politik. Ein Beitrag zur Versachhchung der heutigen Friedensdebatte.
Grünewald
Die Bergpredigt - Utopie oder Programm?
Grünewald Reihe Alexandre Ganoczy, Der schöpferische Mensch und die Schöpfung Gottes Thomas Pröpper, Der Jesus der Philosophen und der Jesus des Glaubens Walter Kasper, Zur Theologie der christlichen Ehe Gisbert Greshake / Gerhard Lohfink (Hg.), Bittgebet - Testfall des Glaubens Walter Kasper / Karl Lehmann (Hg.), Teufel- Dämonen - Besessenheit Adolf Exeler / Norbert Mette (Hg.), Theologie des Volkes Karl Lehmann / Leo Scheffczyk / Rudolf Schnackenburg / Hermann Volk, Vollendung des Lebens - Hoffnung auf Herrlichkeit Leonardo Boff, Die Neuentdeckung der Kirche - Basisgemeinden in Lateinamerika Alois Müller, Glaubensrede über die Mutter Jesu Ferdinand Klostermann, Gemeinde ohne Priester. Ist der Zölibat eine Ursache? Pinchas Lapide, Die Bergpredigt - Utopie oder Programm? Hubert Frankemölle, Friede und Schwert Frieden schaffen nach dem Neuen Testament
Pinchas Lapide
Die Bergpredigt Utopie oder Programm?
Matthias-Grünewald-Verlag . Mainz
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Lapide, Pinchas: Die Bergpredigt - Utopie oder Programm? / Pinchas Lapide. - Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1982. (Grünewald-Reihe) ISBN 3-7867-0992-0
6. Auflage 1987, Nachdruck der 3. erw. Auflage 1983 1982. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz Alle Rechte v;orbehalten Reihengestaltung : Kroehl Design Gruppe Satz: Roddert Fotosatz, 6501 Köngersheim bei Mainz Druck und Bindung: Kösel, Kempten
INHALT
Acht Fehldeutungen Bergpredigers 14
. . . . . 8 - Der Jude Jesus
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1. DIE BERGPREDIGT.
12 - Die Lehre des
2. DIE PRAAMBEL Der Berg 16 - Die Berglehre 17 - Eine neue Lehre? 18 Tora 21 - »Erfüllung« 24 - Das geringste Gebot? 25Die Gerechtigkeit der Jünger Jesu 26
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3. DIE SELIGPREISUNGEN . . Den Armen das Himmelreich 32 - Selig 35 - Der gläubige Tatendurst 36 - Schalom 39 - Die Theopolitik der kleinen Schritte 40 - Das höchste Gebot 42
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4. »UND ICH SAGE EUCH« . . Abschaffung des Gesetzes 44 - Jesu Muttersprache 47 - Keine einzige Antithese 49 - Gesinnung und Tat 50 - Du sollst nicht töten 52 - Du sollst nicht ehebrechen 58 - Das Scheidungsverbot 59 - Ihr sollt nicht schwören 72 - Das höhere Recht 78 - Gebotener Feindeshaß? 88 - Die Entfeindungsliebe 99 - Rock und Mantel 109 - Die zweite Meile 116 - Zöllner-Moral und Berg-Ethik 117 - Die rechte Backe 125 - Aug' um Aug: Zahn um Zahn? 131 - »Widersteht dem Bösen!« 133
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5. UTOPIE ODER PROGRAMM?
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VERZEICHNIS DER BIBELSTELLEN
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1. DIE BERGPREDIGT
»Die Botschaft Jesu, wie ich sie verstehe, ist in der Bergpredigt enthalten ... Es ist diese Predigt, die mich Jesus liebgewinnen ließ.« 1 Diese Aussage des Mahatma Gandhi kann so mancher Jude genau so redlich nachsprechen wie die drauffolgende Kritik des großen Inders: »Diese Kernbotschaft hat im Abendland mancherlei Verzerrung erlitten ... Vieles, was als Christentum gilt, ist eine Verneinung der Bergpredigt.«2 So fragt Karl Marx die Christen seiner Zeit: »Straft nicht jeder Augenblick eures praktischen Lebens eure Theorie Lügen? ... Haltet ihr euren rechten Backen dar, wenn einer Euch auf den linken schlägt, oder macht ihr nicht einen Prozeß wegen Realinjurien anhängig? Aber das Evangelium verbietet es.«3 In der Tat: Die Wirkungs geschichte dieser Bergpredigt kann weitgehend als Versuch beschrieben werden, das Anstößige, Strenge und Schroffe zu domestizieren und dadurch zu verharmlosen. »Die Christenheit«, so schreibt Günther Bornkamm, »hat sich meisterlich darauf verstanden, gerade auch mit Hilfe ihrer Theologie die Stoßrichtung der Bergpredigt abzufangen, abzuleiten und darüber selbst in Ruhe zu bleiben.« Auch in der heutigen Friedensdebatte scheint man dem Gegner gerne die Bergpredigt um die Ohren zu schlagen, ohne sich die Mühe zu machen, nachzuschlagen, was denn eigentlich in ihr geschrieben steht. Doch auch die Sachkundigen sind häufig zu seltsamen Schlußfolgerungen geko.ffimen. So zum Beispiel zögert Martin Luther nicht zu sagen, die Ber;gpredigt gehöre nicht aufs Rathaus, denn mit ihr »lasse sich nicht regieren«, und Bundeskanzler Helmut Schmidt bestritt auf Packet Gandhi Series Nr. 6, Bombay 1963, Titelseite. AaO. 44.3 Gesamtausgabe I, 246. I
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dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg, daß »aus der Bergpredigt unmittelbare politische Handlungsweisen« zu gewinnen seien. »Mit der Bergpredigt kann man keinen Staat regieren«, sagte auch von Bismarck. Er meinte wohl, daß man ohne jenes Gewissen, das Hitler »eine jüdische Erfindung« nannte, viel ungestörter Großmachtpolitik treiben könne. üb es heute noch ohne die Bergpredigt geht, ist zu bezweifeln; gegen die Bergpredigt geht es wohl kaum. Karl Barth, der Schweizer Theologe, war sogar der Meinung, daß ein Bild christlichen Lebens »aus dieser Anweisung (der Bergpredigt) zusammenzusetzen« sich noch immer als eine Unmöglichkeit erwiesen hat. Kurz darauf spricht er vom »hellen Wahnsinn, die Imperative der Bergpredigt dahin zu verstehen, daß wir uns bemühen sollen, diese Bilder zu verwirklichen.«4 Gegenteiliger Meinung war sein Landsmann Leonhard Ragaz, der seine Auslegung der Bergpredigt anno 1945 mit den Worten begann: »Die Bergpredigt wird wieder hervortreten. Immer stärker, immer stürmischer. « Heute beginnt diese Prophezeiung des Schweizer Sozialisten in Erfüllung zu gehen - Hand in Hand mit den acht hauptsächlichen Fehldeutungen, die sie noch immer unentwegt begleiten.
Acht Fehldeutungen Die erste kann man die perfektionistische Auffassung nennen. Sie sieht in der Bergpredigt eine Liste von Supergeboten, die klipp und klar sagen: Dies alles mußt du tun, damit du selig wirst. Billiger ist die Seligkeit eben nicht zu haben. So gesehen ginge es hier um eine übertriebene Gesetzlichkeit, die aus der Sicht von Paulus und Luther als krasse Ketzerei zu verpönen wäre. Mehr noch! Ein Schulbeispiel für die berüchtigte »Werkgerechtigkeit«, die das Heil durch Taten verdienbar macht und ihre eigene Himmelsleiter bauen will. Demge4
Kirchliche Dogmatik II, 2, 769 ff.
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mäß wird die Bergpredigt als »Mosissimus Mose« verstanden, wie ein Lutherwort besagt, nämlich als Inbegriff des starren Legalismus. Die zweite ist die Theorie der Unerfüllbarkeit, die davon ausgeht, daß alle diese Forderungen eigentlich übermenschlich sind und nur den Zweck haben, dem Menschen seine eigene Unzulänglichkeit einzubleuen. N ach dieser Auffassung ist die Bergpredigt dem Menschen auferlegt, damit er über sie stolpere. So soll der Mensch seiner Erlösungsbedürftigkeit überführt werden, damit er zerknirscht das Evangelium von Gottes barmherziger Vergebung zu hören bereit wird. In den Worten von Gerhard Kittel: »Der Sinn der Bergpredigt ist: Niederreißen. Sie kann nur zerbrechen. Sie hat letzten Endes nur den einen einzigen Sinn: Die große Not des empirischen Menschentums aufzuweisen und bloßzulegen.« Anders gesagt: All dies solltest du tun, du jämmerlicher Schwächling, aber du kannst es ja nicht, wie du selber weißt. Also bedarfst du der Gnadenliebe Gottes für alles, was du unternimmst. Die dritte Theorie, die von der sogenannten »Interimsethik« spricht, kann man als Torschlußpanik bezeichnen. Sie sieht in der Bergpredigt einen Aufruf zur äußersten Anstrengung, ehe die bevorstehende Katastrophe des Jüngsten Gerichts anbricht. Nun reiß dich doch ein letztes Mal zusammen, du armer Teufel, bevor es zu spät ist! So steht da zwischen den Zeilen, denn Gottes Gnadenfrist läuft ja vielleicht schon morgen ab. Da sich aber Jesus in seiner intensiven Naherwartung des Vergehens dieser Welt und der Ankunft des »Himmelreiches« als eines völlig anderen Neubeginns geirrt hat, wie inzwischen auch von namhaften Theologen zugegeben wird, droht diese apokalyptische Deutung die Bergpredigt ihrer heutigen Relevanz zu berauben. Die vierte Deutung vergleicht die Imperative der Bergpredigt mit der nüchternen Realpolitik der letzten 4000 Jahre Weltgeschichte und kommt - mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung - zum Schluß, daß sie auf einer moralischen Schwärmerei beruht, die man getrost als Utopie abschreiben kann. Utopie im wörtlichen Sinne des 9
Begriffes: als etwas ohne Standort, also nicht von dieser Welt, kurzum: als heimatlos auf unserer Erde und daher völlig belanglos für die Politik. Eine fünfte Deutung beteuert, die Bergpredigt gelte nur für den engeren Jüngerkreis Jesu und rufe nur die von ihm Auserkorenen in seine Nachfolge. Hiermit wird zwischen unserer heutigen Welt und dem damaligen Galiläa ein Vorhang der heilsamen Ferne geschoben, der es der weltmännischen Abwehr ermöglicht, dem Text seinen kritischen Stachel zu nehmen und die Forderungen der Bergpredigt als naive Bilderrede abzutun. Ein sechster Verstehensversuch fußt auf jener Radikalitätsromantik, die in ein paar einfachen aber großartigen Ansprüchen an der Komplexität des Lebens vorbeizugehen gewillt ist. So wird die Bergpredigt zu einem zeitlosen, allgemein gültigen Handbuch der Ethik für die Menschheit erhoben, die alles verlangt, aber im Grunde zu nichts verpflichtet. Eine siebente Deutung sieht in ihr den Wegweiser zur richtigen Gesinnung im privaten Bereich, die dem einzelnen zum richtigen Verhältnis zu Gott verhelfen will. So gesehen, gehe es hier um eine besonders feine Superethik, zum Selbstzweck der eigensüchtigen Vervollkommnung, die die soziale Komponente zum Werkzeug der individualistischen Erlösung macht. Die nüchterne Lesung des Historikers, der sich der geschichtlichen Umstände eines kleinen, unterjochten Judenstaates bewußt ist, der zwischen Römerbrutalität und Zelotengewalt bis an den Rand des Unterganges gedrängt wird, kann der Bergpredigt ein durchaus praktisches Programm entnehmen: die schlangenkluge und taubensanfte Friedenstaktik eines weltweisen Strategen, der sowohl den aussichtslosen Krieg gegen die römische Übermacht als auch die feige Fahnenflucht verwirft - um sein Volk mittels des gewaltlosen Widerstandes vom Römerjoch zu befreien. Betet in Kürze! So heißt es vor dem Vaterunser. Das kann auch bedeuten: Verschiebt die Litaneien auf Friedenszeiten, denn in der Not erhört Gott auch den inbrünstigen Stoßseufzer. 10
Wenn einer dich nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, so geh mit ihm zwei! Gemeint ist der römische Frondienst, der nur durch Sanftmut den brutalen Zwingherren zur Duldung bewegen kann. Führe uns nicht in Versuchung! Das könnte auf die tagtägliche Versuchung anspielen, zu den Waffen zu greifen, um die arroganten Römer zum Krieg herauszufordern. Verabsolutierung der Bruderliebe, Entfernung aller innerjüdischen Streitgründe, Demut vor dem Verfolger und unabdingbare Solidarität - all dies können auch die unverzichtbaren Notmaßnahmen sein, die allein imstande sind, den nationalen Widerstands geist gegen lange, blutige Unterdrückung zu stählen. Mir scheinen all diese Deutungen lückenhaft oder verfehlt, denn sie berücksichtigen die beiden Grundzüge der jesuanischen Predigt nicht, die wie ein Doppelfaden sein ganzes Glaubensgut durchlaufen: das vollkommene Ernstnehmen Gottes, das ihn mit heilsamer U nzufriedenheit mit allen Halbheiten und Kompromissen beseelt - und sein Realismus, als profunder Menschenkenner, der zwar radikale Theopolitik betreibt, aber mittels pragmatisch-machbarer Methoden, die keinen gutwilligen Menschen als Mitarbeiter Gottes überfordern. Daher geht J esus aufs Ganze und versteigt sich zur einsamen Spitze, die völlig unerreichbar scheint. Zugegeben, aber das Unerreichbare anzustreben ist vielleicht das menschlichste an unserer Gattung der Zweifüßler. Es ist sicherlich die Quintessenz des Judentums. Denn dieses kleine Volk von unverbesserlichen Optimisten, zu denen ja auch der Bergprediger gehört, hat sich aus der schmerzlichen Erfahrung der ewigen Kluft zwischen Ideal und Realität immer wieder zu geistigen Abenteuern hinreißen lassen, die so manche Utopie auf Erden angesiedelt haben. Ist denn nicht der gesamte Fortschritt der Menschheit eine lange Reihe von realisierten Utopien? Sicherlich hat es nicht an Enttäuschungen und Fehlschlägen gefehlt. Aber allem Scheitern zum Trotz bleibt die tatkräftige Hoffnung die jüdischste aller Regungen. Der unstillbare Drang, den Traum von gestern zur morgigen Wirklichkeit zu machen. 11
Den Juden scheint es ein falscher Realismus zu sein, der alle Gegebenheiten als endgültig und unveränderlich akzeptiert. Echter Realismus hingegen ist die heils durstige Ungeduld, die durch diese Bergpredigt braust und weht, die Schwester jener »jüdischen Hast«, die sich standhaft weigert, das Heute gut zu heißen oder irgendeinen Status quo heilig zu sprechen. Im brennenden Bewußtsein der Mangelhaftigkeit aller Menschenwerke ergeht hier der Aufruf zur Weltverbesserung, zur Selbstüberwindung und zur Eroberung der verheißenen Zukunft, die das Ziel der ganzen Bibel ist und bleibt.
Der Jude Jesus Für mich ist Jesus nicht so sehr der Stifter des Christentums als der Anstifter zu einem Christsein, das in der Bergpredigt sein großes Manifest besitzt; ein Christsein, das im Grunde einem gläubigen Judesein gleichkommt - auch darin leider, daß es nur allzu wenige Nachahmer gefunden hat, in bei den Glaubensgemeinden. Da steht einer in Israel auf, um über Nacht die prophetische Vision zur morgigen Tagesordnung zu machen; einer, dem die Weisung vom Berge Sinai nicht genügt, weil er zu Gottes Urabsicht vordringen will; der es wagt, trotz Krieg und Tyrannei, die biblische Nächstenliebe bis in ihre letzte Konsequenz durchzuglauben, um uns allen ein Idealbild vom möglichen Menschentum in die Seele zu brennen, das keinen mehr zufrieden sein läßt mit dem fadenscheinigen Durchschnittsmenschen, der unsereiner eben ist, aber nicht sein muß. Es ist ein machbares Wunschbild, eine realistische Utopie, die nicht auf dem Papier bleiben muß, wenn der gläubige Jude den Mut aufbringt, sich selbst zu überschreiten, über sich hinauszugreifen, um größer und menschlicher zu werden, in der unermüdlichen Nachahmung Gottes, die im Judentum als das heiligste aller Gebote gilt. In all diesem messianischen Drang zur Gott-gewollten Menschwerdung aller Adamskinder und zur Vermenschlichung dieser Erde, in seiner unsterblichen Hoffnungskraft, die aus dem Vertrauen »nach oben« den 12
Mut »nach vorne« schöpft, war Jesus von Nazaret »der zentrale Jude«, wie Martin Buber ihn nennt, der uns alle zur Nachfolge anspornt. »Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum.« Diesen Anfangssatz der jüngsten Erklärung (vom 28. April 1980) der katholischen Bischöfe der Bundesrepublik »Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum« hat sich auch der Papst bei seinem Besuch in Mainz zu eigen gemacht. Was in diesen Worten einhellig mitschwingt, ist, daß Jesu Zugehörigkeit zum Volke Israel nicht auf das biologische Fleisch beschränkt bleibt, sondern insbesondere in seiner Geisteswelt und seinem Glaubensgut zutage tritt. Die unumgehbare Konsequenz aus diesem Tatbestand besagt, daß alles, was Jesus auf Erden sagte, vollbrachte, tat und unterließ, nur dann seinen vollen Sinn erschließt, wenn man es aus seinem profunden Judesein heraus zu fassen vermag. Hierzu gesellt sich eine zweite Einsicht, die von Martin Luther stammt. In seinen Tischreden 5 lesen wir: »Die Ebräische Sprache ist die allerbeste und reichste in Worten, und rein, bettelt nicht, hat ihre eigene Farbe, sodaß es ihr keiner nachtun kann ... Wenn ich jünger wäre, so wollte ich diese Sprache lernen, denn ohne sie kann man die Schrift nimmermehr recht verstehen. Denn das Neue Testament, obs wohl Griechisch geschrieben ist, doch ist es voll von Ebraismis und ebräischer Art zu reden. Darum haben sie recht gesagt: Die Ebräer trinken aus der Bornquelle, die Griechen aber aus den Wässerlin, die aus der Quelle fließen; die Lateinischen aber aus den Pfützen.« J esu Judesein und die grundlegende Hebraizität seiner Frohbotschaft - sie sollen unsere zwiefache Richtschnur sein, um hinter dem Übersetzergriechisch des Evangelisten dem Ursinn des Meisterwerkes jesuanischer Ethik so nahe wie möglich zu kommen.
SWA 1, 524f.
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Die Lehre des Bergpredigers Hier stocke ich schon. Haben wir es in der Bergpredigt mit der Ethik J esu selbst zu tun - oder ist sie teilweise, oder großenteils, eine literarische Schöpfung des Evangelisten? Inwieweit können wir in diesen fünf Seiten jesuanisches Glaubensgut finden - und was sind die Teile, die nicht aus dem Munde des Nazareners, sondern aus der Feder des Matthäus stammen? Oder hat hier die gläubige Urgemeinde die Gedanken ihres Meisters weiterentwickelt und fortgeschrieben? Hat Matthäus sich auf die Feldrede im Lukasevangelium bezogen - oder umgekehrt? Hat der Evangelist aus der »Redequelle« geschöpft, widersprüchliche Überlieferungen zu versöhnen versucht, oder gar seiner eigenen Phantasie freien Lauf gelassen? Und nicht zuletzt: Was wurde im Zuge der griechischen Übersetzung geändert, mißverstanden, hinzugefügt und weggelassen? Fragen über Fragen, auf die die neutestamentliche Wissenschaft nur annähernde Teilantworten zu geben vermag. Hilfreich im Bestreben, zur ipsissima vox zurück zu gelangen, sind Kennzeichen jesuanischen Redestils wie Hyperbeln, Paradoxa, die pulsierende Lebensnähe seiner Ausdrucksweise, die Aufmerksamkeit erzwingenden Sprachbilder, aber vor allem all jene Passagen, deren Rückübersetzung ins galiläische Aramäisch (oder das Hebräisch des ersten Jahrhunderts) einprägsame Wortspiele oder rhythmisch gegliederte Merksprüche ergibt. Endgültig werden wir wohl nie wissen, wie unmittelbar hier J esus zu uns spricht. Nur eines steht fest: Die einheitliche Struktur dieser Rede, die Glaubenskraft, die sie ausstrahlt, und der Geist der Welt bejahung, der uns hier entgegenweht - all dies bekräftigt den Eindruck der originären Schöpfung einer Leuchte der Menschheit, die unbeschadet aller sekundären Redigierung auch nach zwei Jahrtausenden so gut wie nichts an ihrer immergrünen Brisanz eingebüßt hat. ))Was gut ist im Neuen Testament, ist nicht neu; was neu ist, ist nicht gut.« So hieß es um die Jahrhundertwende in jüdischen Kreisen, die 14
sich erstmalig auf wissenschaftlicher Grundlage mit den Evangelien auseinandersetzten. Julius Wellhausen, der berühmte Bibelforscher, ging sogar weiter: »Alles, was in der Bergpredigt steht, kann man im Talmud wiederfinden - j,,!:, und wie viel außerdem noch!« Das Paradebeispiel, das diese Behauptung erhärtete, lieferte Pfarrer Paul Billerbeck, der es fertig brachte, zu den fünf Seiten der Bergpredigt nicht weniger als 309 Seiten von rabbinischen Parallelen und Analogien in seinem fünfbändigen Monumentalwerk »Kommentar zum Neuem Testament aus Talmud und Midrasch« zusammenzutragen. Es bedurfte jedoch keineswegs der bewundernswerten Kompilation des Pfarrers, um die Möglichkeit unter Beweis zu stellen, daß sich eine jüdische Bergpredigt erarbeiten läßt, die wie eine N achdichtung von Matthäus 5-7 anmutet, ohne ein einziges Jesuswort zu benötigen. Und dennoch ist dies nur deshalb möglich, weil wir die jesuanische Bergpredigt besitzen. Denn die Tatsache, daß der Mörtel, der Zement und alle Bausteine aus jüdischen Steinbrüchen stammen, schmälert die Größe des Architekten keineswegs, der aus diesen Rohstoffen sein eigenes Lehrgebäude entworfen und errichtet hat. Schließlich und endlich hat Beethoven keine einzige neue Note erfunden, um die 9. Symphonie zu komponieren, die sein unsterbliches Meisterwerk ist.
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2. DIE PRAAMBEL
Doch nun zu den hauptsächlichen Aussagen des Textes, mit jüdischen Augen durch hebräische Brillen gelesen:
Der Berg »Als er die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg, und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie, sagend ... « (Mt 5,1-2). Das holprige Griechisch, das hebräische Wortfolge und Satzstrukturen nachzuahmen erpicht ist, bezeugt, daß wir bereits in dieser Einleitung auf semitischem Sprachboden stehen. Wir dürfen also diesen beiden Rahmensätzen bereits die Grundzüge eines theologischen Programms entnehmen. In der Hebräischen Bibel hören wir von einer ganzen Reihe von Bergen, wie etwa dem Zion in Jerusalem, dem Herrnon im Norden, dem Tabor, dem Karmel und dem Gilboa, aber wenn der Jude von dem Berge hört, ohne jedwede Ortsbestimmung, so kann kein Zweifel aufkommen, daß auf den Sinaiberg der Gesetzgebung angespielt wird. Nicht von ungefähr wird Jesus in den Evangelien achtzehnmal mit Moses verglichen - angefangen vom Legendenkranz, der die Geburt der beiden umwebt, dem Kindermord in Betlehem, wo die Tötung aller Hebräerknaben durch den Pharao anklingt, über die Flucht nach Ägypten, den Exodus aus dem Nilland, die 40 Tage (Jahre) der Versuchung in der Wüste, bis hin zum Berg der Verklärung, wo Mose Jesus erscheint. Überall schwingen diese heilsgeschichtlichen Parallelen mit. Beide steigen auf den Berg, um von der Höhe aus die gottgegebene Lehre erklingen zu lassen. Doch da Jesus die breiten Volksrnassen
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hinter sich läßt, genau wie Mose, dem geboten wurde, »das Volk nicht mit ihm herauf kommen zu lassen« (Ex 24,2), stellt sich die Frage nach dem Adressaten der Predigt. Der Text antwortet: Seine Jünger, die »hinzutreten«, ein Zeitwort, das Matthäus des öfteren benützt, um ihre Nähe zu J esus zu betonen. Die »Volksmassen« dienen eigentlich nur als lebendiger Hintergrund - zu Anfang der Bergpredigt als lautlose Statisten (Mt 5,1) und zu Ende als bewundernde und »betroffene« Zuhörer (Mt 7,28). Symbolisch sind sie also, wie zu Füßen des Sinai, als Vertreter Israels zumindest andeutungsweise dabei. Letztlich spricht für eine kleine, selektive Hörerschaft auch die Tatsache, daß J esus sich niedergsetzt hatte, ehe er »den Mund öffnete«, wie es hier auf gut hebräisch heißt (vgl. Ps 81,11).
Die Berglehre Bei einem Rabbi, und so titulieren ihn die Evangelisten nicht weniger als vierzehnmal, weist das unzweideutig auf eine Belehrung hin, die nach den Regeln der großen Toraschulen immer im Sitzen erfolgt. So z. B. »sitzen« die Schriftgelehrten und die Pharisäer »auf dem Stuhle Mosis« (Mt 23,2), und Jesus selbst »hat täglich im Tempel gesessen und gelehrt« (Mt 26,55). Sinnverwandt ist auch der deutsche »Lehrstuhl« als »Sitz« des Lehrenden. Gleichnisreden oder Bibellesungen hingegen wurden stehend vorgetragen, wie z.B. in der Synagoge zu Nazaret, wo es heißt: »Und er stand auf, um vorzulesen« (Lk 4,16). Wichig ist auch die Unterscheidung, daß die Lehre nach rabbinischer Praxis immer nur an eingeweihte Jünger im engen Kreis ergeht, während die großen Ansprachen an »die Vielen«, wie es des öfteren heißt, gerichtet sind, aber meistens nur in Parabelform, um auch für Bauern und Hirten verständlich zu sein. Wir haben es hier also eher mit einer Berglehre zu tun, nicht mit einer Bergpredigt, wie wir es auch im Schlußsatz zu hören bekommen: 17
»Sie waren ganz betroffen über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat.« (Mt 7,28f) Die Volksmenge mag wohl im Hintergrund gelauscht haben, aber das unmittelbare Zielpublikum der gesamten Rede war der Zwölferkreis, der als »Sauerteig« die Teigmasse des Volkes durchwirken und durch gären sollte. Dies gibt uns einen wichtigen Hinweis auf die Pädagogik Jesu und die Weise, in der er seine Bußbewegung durchzusetzen beabsichtigte; eine Bußbewegung, die ja die Ankunft des Himmelreiches beschleunigen sollte. All denen, die Jesus ))jüdischen Partikularismus« vorwerfen wollen, antwortet Rabbiner Leo Baeck: »Es zeugt von der Kraft der Rede Jesu, nicht aber von einer Enge des Gesichtskreises, wenn er sein Wort nur an Israel ergehen lassen will und seinen Jüngern diesen Weg nur weist. Aber es ist gut, daß diese seine Mahnung nicht im Alten Testament, geschweige denn im Talmud steht; denn sonst würde sie geringe Gnade gefunden haben vor den strengen evangelischen Herren von der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft, sie würden sonder Erbarmen versetzt worden sein unter die Bekundungen der engherzigen jüdischen Volksreligion. Die Propheten sprechen von der Welt und ihrem Heile, aber sie sprechen zu Israel« (Das Wesen des Judentums, Band I, 73). Letzten Endes scheint es, daß Jesus in seiner Berglehre an ein Publikum aus drei konzentrischen Kreisen dachte: Zuerst bindet er das Ethos der Gottesherrschaft an seine Jüngergemeinde, ))die kleine Herde« (Lk 12,32), die auf das Gesamt-Israel hin offen ist, das er ausnahmslos, samt all seinen ))verlorenen Schafen« einzusammeln entschlossen ist - um es zu guter Letzt ))zum Licht der Heiden« zu machen, ))auf daß du seiest mein Heil bis an die Enden der Erde« (Jes 49,6).
Eine neue Lehre? Die Frage, die sich jedem jüdischen Leser, für den ja ursprünglich Matthäus (oder sein Vorgänger) sein Evangelium verfaßt hat, aufdrängen muß, ist nun, ob hier eine neue Lehre verkündet werden soll, im
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Gegensatz zu, oder gar anstelle der To~a vom Sinai. Um diesen Verdacht im Keime zu ersticken, beginn:t Jesus mit einer nachdrücklichen Betonung der ewigen Gültigkeit aller Sinaitischen Gebote. Jesus begnügt sich jedoch mit einer prinzipiellen Grundsatzerklärung keineswegs, sondern hebt in dreifacher Formulierung nicht nur seine Treue zur Tora hervor, sondern sucht auch etwaige Vorwürfe zu entkräften, daß er durch seine kühne Bibelauslegung den ursprünglichen Sinn der Schrift aufheben wolle: »Meinet nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein Jota oder ein Häkchen vom Gesetze vergehen, bis alles geschehen ist. Wer also eines dieser geringsten Gebote aufhebt und die Menschen so lehrt, wird der Geringste heißen im Himmelreich; wer sie aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich« (Mt 5,17-19). Im gesamten rabbinischen Schrifttum kenne ich kein eindeutigeres, flammenderes Bekenntnis zur Gotteslehre und zur Heiligen Schrift Israels als diesen Vorspann zur Berglehre. Jesus ist hier noch radikaler als Rabbi Chija Bar Abba und Rabbi Jochanan, die beide bereit waren auf »einen Buchstaben aus der Tora« zu verzichten, »damit der Name des Himmlischen öffentlich geheiligt (und nicht entweiht) werde« (Jeb 79a). Hiermit wird auch deutlich, daß Matthäus seinen Meister keineswegs als einen neuen Gesetzgeber verstanden hat, sondern als den legitimen Ausleger des in der Tora enthaltenen Gotteswillens. Kein AntiMose ist also Jesus bei Matthäus, sondern eher der Fortsetzer Moses, der ja schon zu seiner Zeit die Lehre vom Sinai auszulegen begann: »Mose fing an, diese Tora auszulegen« (Dtn 1,5). Das »Volk des Buches«, das sogar seine größten Könige als Interpreten der Schrift gefeiert hat, muß auch in seinem Messias einen Lehrer der Tora erwarten. Ja, diese Erwartung ging schon zu J esu Lebzeiten so weit, daß man von einer »Tora des Messias« sprach, die jedoch keine neue Tora sein sollte, sondern eine neue Deutung der ewigen Weisung vom Sinai, die den ganzen Reichtum ihrer geistigen Schätze offenbaren, 19
ihre Grundintention enthüllen und alle in ihr verborgenen Rätsel lösen werde. Auch Jesus hat diese Tora weder aufgelöst noch zweckentfremdet. Im Gegenteil: Er hat sie bestätigt und bekräftigt. Indem er durch die Erschließung ihres Ur-Ethos ihre höchste Erfüllung nahelegt, schlägt er, wie viele andere Rabbinen, seine eigene Auslegung vor - von der radikalen Liebesforderung her, die die Mitte der jesuanischen Ethik ist. »Radikal« aber kommt von radix - Ursprung, Stamm oder Wurzel, denn zu diesen Wurzeln der Tora will er vordringen, die für ihn die Schlüssel zur Gottesherrschaft sind. Nicht nur für ihn. Rabbi Simlai pflegte zu sagen: »Willst du wissen, daß alle Wege Gottes Liebe sind? Im Anfang der Tora hat er eine Braut geschmückt (Gen 2,22), an ihrem Ende hat er einen Toten begraben (Dtn 34,6) und in ihrer Mitte hat er einen Kranken (Gen 18,1) besucht« (Tanchuma Wajera I). Rabbi Akiba sagte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! (Lev 19,18). Das ist die große Hauptregel der Tora!« (Sifre Lev 19,18). Rabbi Jesus verschmolz die beiden - Gottesliebe und Nächstenliebe - zum großen Doppelgebot (Mk 12,28-34), in dem er Summe und Maß des Willens Gottes sah, der die gesamte Tora beseelt. Diesen Tatbestand hat schon Martin Luther anerkannt: »Das Gesetz ist an sich so reich und vollkommen, daß man nichts dazu thun darf ... Darumb kann niemand, auch Christus selbst, das Gesetz nicht bessern.«6 »Christus hebt daher das Gesetz nicht auf, sondern er legt es aus.«7 Auch Calvin deutet seine Abneigung an, Jesus als Offenbarer eines neuen Gesetzes zu verstehen; er sei »kein zweiter Moses« und sein Werk sei »keineswegs eine verbesserte Gesetzgebung«8. Für Nikolaus von Lyra genügt zum Erlangen des Heils das Halten der Zehn Gebote, da Jesus »keine neuen Moralgesetze brachte, sondern dem Dekalog seinen ursprünglichen Sinn gab«9. 6WA 32, 356. 7WA 11,259. SInstitutio II, 8, 7. 9 Postilla super NT zu Mt 5,20f.
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Die Berglehre ist also nichts anderes als die Toraauslegung J esu von Nazaret, von dieser Doppelliebe ausgehend und auf ihre Konkretisierung hinzielend, um dem Gottesreich auf Erden zum Durchbruch zu verhelfen. Um diese Einsicht zu verdeutlichen, bedarf es der Korrektur dreier Übersetzungsfehler .
Tora Vor allem hat Jesus nicht »Gesetz« gesagt, sondern »Tora«, und das heißt: »Weisung« oder »Lehre«, die als solche viel mehr Verheißung, Erfüllung, Heilsgeschichte und Ethos enthält als eigentliche Gesetze und Satzungen, die angeblich zum »trockenen Legalismus« oder zum »unfruchtbaren Formalismus« führen, wie bis heute in vielen christlichen Bibelkommentaren behauptet wird. Im christlichen Sinne des Wortes ist diese Bibel J esu und der ersten Christenheit vor allem und hauptsächlich »Evangelium« - die Frohbotschaft von der Liebe Gottes und der von Gott geschenkten Freiheit eines Judenmenschen. Alle Freiheit, die jedoch nicht freiwillig »das Joch des Himmelreiches« auf sich nimmt, wie die Rabbinen ihre Göttliche Weisung nennen, führt zwangsläufig zur Anarchie und zur Selbstversklavung an alles Triebhafte und Tierische, das noch immer im Menschenherzen gärt und giert. Was diese Tora dem Juden bedeutet - und J esu Judesein bleibt auch für die Christologie unverzichtbar -, läßt sich aus der täglichen Liturgie der Synagogen ablesen, in denen er zu predigen pflegte. Eine ihrer zentralen Segenssprüche handelt von der Schenkung der Tora, die, wie bekannt, zur Volkwerdung Israels geführt hat. Ihr Name ist jedoch weder »Offenbarung« noch »Weisung« oder gar »Gesetz«, sondern »ahawa« - und das heißt: Liebe. Denn es ist die Fülle der himmlischen Liebe, die sich in der Gnadengabe der Tora äußert, für die die Juden alltäglich Dank sagen: »Mit unendlicher Liebe hast du dein Volk, das Haus Israel, geliebt. Tora und Gebote, Gesetze und Satzungen hast du uns gelehrt. Dar21
um, Herr, unser Gott, wenn wir uns niederlegen und wenn wir aufstehen, sprechen wir von deinen Gesetzen und freuen uns und frohlocken ob der Worte der Lehre deiner Tora und deiner Gebote immerdar. Denn sie sind unser Leben und die Dauer unserer Tage ... So möge denn deine Liebe nimmer von uns weichen.« In anderen Worten: Ohne die befreiende Frohbotschaft des Exodus - kein Sinai der Gottesgebote. Aber ohne den Sinai mit seinem Dekalog - kein aktives Leben-im-Glauben. Denn genau wie der Jude sich diese Welt nicht ohne Gott und Israel nicht ohne die Völkerwelt vorstellen kann, zu deren Dienst er berufen wurde, genauso sind für ihn Liebe und Gebot kein Gegensatz, sondern Harmonie, denn aus Liebe wurde die Tora gegeben und aus Liebe wird sie befolgt. ))Ihre Wege sind Wege der Anmut,« sagt die Liturgie von ihr, ))und all ihre Pfade führen hin zum Frieden.« Drei Jahrtausende jüdischer Glaubenskraft und jüdischer Weltbejahung haben diese Feststellung vollauf bewahrheitet. Und dennoch gab und gibt es in allen Buchreligionen Stockfromme und Buchstabengläubige, Wahlverwandte jenes Famulus Wagner, der nicht nach dem Geiste strebt, sondern dem, ))was man schwarz auf weiß geschrieben hat«, den Vorzug gibt, um ))es getrost nach Hause zu tragen«. Wie schützt sich dann eine Religion, die sich an ein inspiriertes Schrifttum gebunden hat, vor der Gefahr der theologischen Arterienverkalkung? Die rabbinische Antwort steht auf drei Beinen: Siebenmal wird der Leitsatz ))Durch diese Gebote sollt Ihr leben!« im Fünften Buch Mose wiederholt - wobei die Talmudväter das Zeitwort zu Ende des Satzes als Aufruf zur stetigen Neuinterpretation verstehen, um der Schrift jenen lebensfördernden Sinn abzugewinnen, der ihr Hauptanliegen ist. Hierzu gesellt sich die unüberbietbare Heiligkeit des Menschenlebens - ein Prinzip, das als Leitstern aller hebräischen Gesetzgebung gelten kann. Um das eigene oder ein anderes Leben zu retten oder vor mutmaßlicher Lebensgefahr zu bewahren, können nicht nur, sondern sollen alle Gebote - bis auf drei - zeitweilig gebrochen wer-
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den. In den Worten des Talmud: ))Wer ein einziges Leben erhält, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt gerettet.« Das dritte Sicherheitsventil gegen legalistische Erstarrung ist die Voraussetzung, daß jedem Bibelwort siebzig Auslegungsmöglichkeiten innewohnen. Siebzig Deutungen nach der Symbolzahl der weltweiten Völkerökumene in Gen 10, die einander genauso ebenbürtig gegenüber stehen wie die Nationen dieser Erde. Denn es gibt ja keinen jüdischen Papst, der imstande wäre, eine einzige Deutung zur Orthodoxie oder gar zum Dogma zu erheben, nur um die restlichen 69 zu verketzern. ))Alle 70 stehen gültig da vor Gott«, so heißt ein Spruch, der alt war als J esus zur Welt kam. Diese hermeneutische Vielfalt wird durch die Wesensart des Hebräischen untermauert, das ohne Vokale, in einer Art von Konsonantenstenographie geschrieben wird. Sie erlaubt es häufig, ein und dasselbe Wort in zwei oder drei verschiedenen Arten zu lesen und zu verstehen - ohne auch ein einziges Jota oder Häkchen der Tora zu ändern, wie Rabbi Jesus es mit Recht verbot (Mt 5,18). Es ist diese Gott-gewollte Exegetenfreiheit, die es den Rabbinen in jeder Generation ermöglicht hat, den Bibeltext, wenn nötig, umzudeuten, um dem Bibelgeist die Treue zu bewahren. Ein Beispiel, stellvertretend für viele, möge diese Tendenz erhellen. Nach biblischem Gebot (Dtn 15,1-6) sollten in Israel alle ausstehenden Schulden am Ende jedes Jahrsiebents erlassen werden. Diese Satzung war zugunsten der Armen, der Witwen, der Waisen und der Fremdlinge in einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft bestimmt. Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung eines städtischen Frühkapitalismus ergab es sich jedoch, daß es gegen Ende der siebenjährigen Frist für die Armen so gut wie unmöglich wurde, Anleihen zu bekommen. Als Hillel der Weise, den etliche Forscher zu den Lehrern des jungen J esus zählen, feststellte, daß diese ursprünglich soziale Maßnahme zu völlig unsozialen Ergebnissen führte, fand er eine Lösung, die fünf Dinge zu bewerkstelligen vermochte: Sie bewahrt Gläubiger vor einer Ausbeutung durch Schuldner; sie schützt vor der Übertretung des Gebotes (Dtn 15,9); sie erleichtert
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den Armen die Möglichkeit des Borgens vor und während des Schuldenerlaßjahres; sie widersprach zwar dem strikten Wortlaut der Bibelsatzung, aber, nicht zuletzt, sie paßte die soziale Grundintention der Schrift den neuen gesellschaftlichen Umständen an. J esu Berglehre ist in diesem Klima geschmeidiger Toratreue beheimatet, die jedweder einengenden Wortwörtlichkeit spinnefeind ist, wenn es gilt, der Sinntiefe der Schrift gerecht zu werden.
»Erfüllung« Ein zweiter Übersetzungsfehler betrifft das Zeitwort »erfüllen«, das dem semitischen Sprachgeist im Zusammenhang mit der Tora fremd ist. Während das Zeitwort »auflösen« dem jüdischen Sprachgebrauch im Sinne von »abschaffen« oder »außer Kraft setzen« bekannt ist, kämen als Gegenstück für Juden die Vokabeln »halten« (Mt 19,17), »tun« (Röm 2,13) oder »aufrichten« im Sinne von ))zur Geltung bringen« (Röm 3,31) in Frage. Eine fünfte Möglichkeit bietet eine Talmudstelle (Sabbat 116b), die mit großer Wahrscheinlichkeit eben dieses J esuswort im aramäischen Wortlaut zitiert: ))Ich bin nicht gekommen, hinzuzufügen noch wegzunehmen von der Tora Mosis,« was wiederum genau der Verordnung in Dtn 4,2 entspricht. Was der Evangelist - oder sein griechischer Endredaktor - im Sinne gehabt haben mag, wenn er J esus hier eine unjüdische Vokabel in den Mund legt, mag der Zusatz zu Mt 5,18 bezeugen: ))Bis alles geschieht« - ein Finale, das eine Art von heilsgeschichtlicher Hintertüre offenläßt, die im krassen Widerspruch zum Anfang des Satzes ))bis Himmel und Erde vergehen ... « ganz unverhohlen eine Befristung des Geltungsbereiches der Tora durchblicken läßt. Demgemäß konnte man später im Sterben und Auferstehen J esu die ))Erfüllung« der Verheißungen sehen, so daß mit Ostern der neue Aon und hiermit auch ))das Ende des Gesetzes« gekommen sei. 24
Diese Um-Theologisierung wurde durch das Nadelöhr des griechischen Wortes »erfüllen« bewerkstelligt, das bei Matthäus auch (etwas noch nicht Vollkommenes) »vollmachen« bedeutet (Mt 23,32) und bei Lukas (7,1) dann zu »vollenden« wird. Paulus zieht daraus die Schlußfolgerung, daß was »vollendet« ist, auch »sein Ziel erreicht hat«, also »abgeschlossen« ist, daher nun »überwunden« werden kann und letztlich »aufgehoben« werden soll1O. So wurde das J esuswort von der ewigen Gültigkeit der Tora innerhalb von dreißig Jahren in sein Gegenteil verkehrt: Jesus wurde zum »Ende des Gesetzes« (Röm 10,4), und 100 Jahre später gelang dem Gnostiker Marcion um ein Haar, die gesamte Bibel Jesu aus dem christlichen Kanon zu entfernen. Hätte Matthäus dieses Jesuswort in der genaueren Bibelversion gebracht, die Johannes von Patmos (mit Ausschmückungen) am Ende seiner Offenbarung zitiert (Offb 22,18f), so wäre solch eine antinomistische Entstellung dieser Schlüsselstelle in der Berglehre wohl kaum möglich gewesen.
Das geringste Gebot? Auch in Vers 5,19 ist die Annahme kaum von der Hand zu weisen, daß der griechische Redaktor den Wortlaut erheblich umgestaltet hat. Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit, irgendein biblisches Gebot abzuschaffen? Wenn kein einziger Buchstabe der Tora vergehen kann, solange die Welt besteht, erübrigt sich die Antwort. Ebenso klar ist es, daß das Judentum zwar »leichte« und »schwere« Gebote kennt (vgl. »das Schwere des Gesetzes« in Mt 23,23), aber kein »geringstes Gebot«. Noch eindeutiger steht fest, daß Jesus unmöglich gesagt haben kann, daß einer, der »eines dieser geringsten Gebote löst«, zwar ))der kleinste heißen wird«, aber dennoch ins Himmelreich kommen werde, denn dies würde ja den Grundtenor dieser Präambel Lügen strafen und in10
Belegstellen bei W. Bauer, Wörterbuch zum NT, 1331-1333.
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direkt zum Torabruch ermuntern. U mso mehr, als ja im Himmelreich »viele der ersten die letzten sein und viele der letzten die ersten sein werden« (Mt 19,30). J esus hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt, daß jeder, der auch nur eines der leichten Gebote aufhebt - wie etwa den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel (Mt 23,23) -, im Reich Gottes »leicht« befunden werden wird - ganz im Sinne von jenem Gottesurteil über Belschazar, dessen Reich »gezählt ... gewogen und zu leicht befunden wurde« (Dan 5,25ff). Wobei das »tekel« (zu leicht) aus diesem berühmten Mene-Mene-Tekel-Spruch ein gelungenes Wortspiel zum »leichtesten Gebot« ergeben würde 11. Nur in diesem Sinn eines Ausschlusses vom Himmelreich all derer, die sich allzu große Freiheit im Umgang mit der Tora nehmen, wäre dieser Schlußsatz ein passender Ausklang zum Dreiertakt rabbinischer Rhetorik. Denselben Gedanken bringt Rabbi Abba Bar Kahana rund 250 Jahre später zum Ausdruck: »Die Torahat das leichteste unter den Geboten dem gewichtigsten gleichgestellt. Das leichteste betrifft das Freilassen der Vogelmutter (Dtn 22,6 ff) und das gewichtigste betrifft die Ehrerbietung gegenüber den Eltern (Ex 20,12); aber bei beiden steht (der gleiche Lohn) geschrieben: Damit du lange lebest!« (jKidduschin I,61b). Das Echo hallt aus dem Jakobusbrief wieder: »Denn wer die ganze Tora hält, aber in einem einzigen Punkt strauchelt, der ist an allen Geboten schuldig geworden« (Jak 2,10).
Die Gerechtigkeit der Jünger Jesu WennJesus in der Präambel eine Art von Treueid zum Glaubensbuch seines Volkes ablegt und zugleich alle Vorwürfe einer schriftwidrigen Auslegung zurückweist, so liefert uns der nächste Satz den programmatischen Übergang von der Einleitung zum eigentlichen Inhalt der Berglehre: 11
Vgl. Abot II,1 und II,2.
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))Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht die der Schriftgelehrten und Pharisäer bei weitem übersteigt, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen« (Mt 5,20). Schon die Anfangsworte ))denn ich sage euch:« weisen auf einen ))kelal« hin, den exegetischen Schlüssel zur jesuanischen Schriftauslegung, der seine Vorläufer sowohl in den Mahnreden beim Einzug ins Land Kanaan (Dtn 4,1; 6,17f; 16,20) a~sauch in der Tempelliturgie (Ps 15 und 24) und in der rabbinischen Schuldialogik hat 12• Wichtig scheint hier, daß den ))Schriftgelehrten und Pharisäern«, die Matthäus elfmal zu einer klischeeartigen Einheitsfront gegen J esus hochstilisiert, keineswegs die Gerechtigkeit abgesprochen wird, genau wie in Mt 23,2f ihre Lehre ausdrücklich bejaht wird, nur daß sie Jesus eben nicht genügt, um seiner moralischen Einlaß-Schwelle ins Himmelreich zu entsprechen. Doch vorerst gilt es zu klären, was hier mit ))Gerechtigkeit« nur ungenau und irreführend wiedergegeben wird. Mit ))dikaiosyne« ist, auf den Menschen bezogen, das Rechtsein der Hebräer gemeint, oder wie Martin Buber übersetzt: die Bewährung vor Gott. Als ))zedaka« (der Begriff, der sicherlich in der semitischen Vorlage des Matthäus benutzt wurde) ist das Bedeutungsbündel jedoch vielschichtiger und umfaßt auch die Güte Gottes in seiner Hinwendung zum Menschen. Dieses urhebräische Wort, das jeder Übersetzung trotzt, bringt die beiden Hauptattribute Gottes gleichzeitig zum Ausdruck, indem es Güte und Gerechtigkeit zur höheren Einheit verschmilzt. Denn nur die Harmonie der beiden entspricht dem jüdischen Weltbild eines gerechten Schöpfers und einer mündigen Menschheit. Im Grunde entspricht sie weder der griechischen ))dikaiosyne«, noch der römischen ))justitia«, die eher eine Kategorie der juridischen Abwägung von Soll und Haben ist, so daß aus der ethischen Bewährung eine richterliche Gerechtigkeit wird, die den Menschen vor Gott ))rechtfertigt.« 12
Vgl. z.B. Tos. Jota VI, 11; Tos. Pess. VIII, 21.
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Was bei der Übersetzung verloren ging, war die Stimme der göttlichen Liebe, die unüberhörbar im Prophetenschrei nach Gerechtigkeit mitschwingt, und das Bewußtsein, daß mein Recht, im Rahmen der »zedaka«, immer das Recht des Nächsten miteinschließt. Wenn Abraham es wagt, im Streitgespräch mit Gott um Sodom und Gomorrha seinem Schöpfer vorzuwerfen: »Willst du den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen ... Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?« (Gen 18,23 ff), so denkt er weder an Gerichtsbarkeit noch an Rechtsprechung, sondern an diese Harmonie von richterlicher Barmherzigkeit und Recht-schaffender Liebe, die zum Kernstück der jüdischen Imitatio Dei gehört. Sie ist fest verankert in der hebräischen Glaubenswahrheit, daß Gott der Gerechte ist - der »Zaddik«, wie er in der Bibel heißt, der selbst diese «zedaka« übt und sie dem Menschen als Träger seines Ebenbildes zur Daseinsaufgabe setzt. Denn schließlich und endlich ist das ganze Spektrum der ethischen Grundwerte in dieser so verstandenen Gerechtigkeit mit einbegriffen. Zwei Züge charakterisieren diese hebräische »zedaka«: Aus griechisch-römischer Sicht ist sie im Grunde ungerecht, denn sie macht die Schuldigkeit gegenüber "den Bedürftigen zum Prüfstein des gelebten Glaubens. Ja, sie vereint das Soziale mit dem Religiösen, indem sie in den Randsiedlern der Gesellschaft diejenigen Glieder der Menschheitsfamilie anerkennt, denen Gottes Fürsorge und Vorliebe gilt. »Zedaka« bezeichnet daher all unser Wohltun, vom Almosengeben über den Krankenbesuch bis hin zur aufopfernden Selbsthingabe, dem Nächsten zuliebe, der unter Gott unser Bruder ist. Weder um Großzügigkeit noch um herablassende Mildtätigkeit geht es hier, sondern um die Erfüllung einer Pflicht, die dem Bruder gebührt, als rechtmäßiger Anteil an der Fülle der unverdienten Gaben, mit denen Gott seine Welt beschenkt. Solch eine Pflicht kann weder im bloßen Wohlwollen noch im müßigen Lippendienst ausmünden. Sie muß vielmehr getan werden, tagtäglich, stets von neuem und mit einer unermüdlichen Entdeckerfreude, die keinen Status quo gutzuheißen bereit ist. 28
Kein Mensch kann daher im Judentum als einzelner gerecht sein oder werden. Es bedarf dazu sowohl der vertikalen Komponente in Gott, dem Allgerechten, als auch der horizontalen in der Mitmenschlichkeit, wobei die beiden einander ergänzen und vervollkommnen. Diese soziale ))zedaka«, die niemals fertig noch vollkommen sein kann, ist die jüdische Keimzelle der heiligen Unzufriedenheit, der treibende Sauerteig in der menschlichen Gesellschaft, der seit dem Sinai keine Ruhe gibt, sondern mit messianischem Eifer vorwärts drängt - hin zum Reich Gottes auf Erden, in dem endlich die höhere Gerechtigkeit ihre Vollendung finden soll. Der Vorbereitung dieser Gottesherrschaft gilt die gesamte rabbinische Jurisprudenz. All dies unter dem hebräischen Sammelbegriff von ))zedaka« wird also den Gegnern J esu - wer immer sie auch gewesen sein mögen zugestanden, aber gleichzeitig wird den Jüngern eingeschärft, daß ihre eigene ))zedaka« in meßbar höherem Maße vorhanden sein müsse was zunächst ein quantitatives Mehr an Tora-Erfüllung nahezulegen scheint. Da jedoch jedwedes Maß von jüdischer ))Gerechtigkeit« absolute Toratreue voraussetzt, kann es sich hier nur um eine qualitativ bessere Gerechtigkeit handeln, wie sie in der Tat der rabbinischen Schriftdeutung wohl bekannt ist. Um ihre volle Bedeutsamkeit im gläubigen Judentum zu vergegenwärtigen, wollen wir auf eine Generation nach J esus zurückgreifen. Warum wurde J erusalem zerstört? So lautete die schicksalsschwere Frage, die sich die Weisesten in Israel nach jener nationalen Katastrophe des Jahres 70 zu stellen gezwungen sahen - worauf sie mit einem Chor von Sündenbekenntnissen antworten, der seinesgleichen an brutaler Selbstkritik in der gesamten Religionsliteratur nicht kennt. Besser darben, leiden und hungern, so lesen wir zwischen den Zeilen aus jenen Schreckensjahren, als mit einem ungerechten Gott leben. Ausschlaggebend unter den vielen Antworten war jedoch die Aussage des Rabbi J ochanan, der behauptete: ))J erusalem ist nur deshalb zerstört worden, weil sie dort nach dem Recht der Gesetzgebung richteten.« 13 13
Baba Mezia 30b.
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Auf die erstaunte Rückfrage seiner Kollegen, worin die Richter sich dabei verfehlt hätten, erklärte er: »Sie sprachen Recht genau nach den Forderungen der Legalität - anstatt innerhalb der Rechtslinie zu verbleiben.« Bei den letzten fünf Worten handelt es sich um einen so gut wie unübersetzbaren Hebraismus, den der Evangelist Matthäus mit »der besseren Gerechtigkeit« (Mt 5,20) wiederzugeben versucht hat. In diesem Begriff kommt eine Suche nach jener Sinntiefe von Recht und Gerechtigkeit zum Ausdruck, die den Mut aufbringt, das Gebot der Nächstenliebe bis zur letzten Konsequenz durchzudenken. Konkret gesprochen - und die Rabbinen dachten immer konkret geht es dabei um die Gebotserschwerung als selbstauferlegte Pflicht der geistigen Elite, des freiwilligen Rechtsverzichtes zum Zweck versöhnlicher Konfliktentschärfung, der Gehorsamsverweigerung im Falle von befohlenem Nächstenhaß, der Über-Erfüllung aller sozialen Satzungen zum Nutzen und Schutz des Mitmenschen und um die Priorität der Nachgiebigkeit in allen Streitfragen. Kurzum: eine Theopolitik der kleinen Schritte, deren gemeinsames Ziel es ist, dem Gebot in Dtn 6,18 nachzukommen: »Auf daß du tust was recht und gut ist in den Augen des Herrn.« Dabei verleiht erst das Tun des Guten dem horizontalen Recht seine vertikale Komponente. Wenn in der wehmütigen Rückschau auf die Katastrophe vom Jahre 70 der Mangel an dieser» besseren« Gerechtigkeit für die ZerstörungJ erusalems verantwortlich gemacht wurde, so war es die Fülle eben dieses altruistischen Recht-Schaffens, die für Jesus, ein Menschenalter zuvor, als Wegbereiter des himmlischen J erusalem erachtet worden ist. Wenn also Jesu Himmelreich-Strategie in der radikalen Verwirklichung der Liebesgebote lag, war seine Heilstaktik in der »besseren Gerechtigkeit« zu finden, die die Methode liefern sollte, um vorerst alle zwischenmenschlichen Feindseligkeiten aus der Welt zu schaffen. Dieses messianische Programm für die wahre Menschwerdung der Zweifüßler - im Sinne würdiger Träger von Gottes Ebenbild - wird hierauf an Hand der sechs sogenannten »Antithesen« (Mt 5,21-48) verdeutlicht. 30
Was Jesus zu dieser verheißungsvollen Alternative zur Selbstzerstörung des Menschen angeregt haben mag, ist eine frührabbinische Debatte über den Wortlaut des Gebotes der Nächstenliebe, die man in folgenden Worten zusammenfassen kann: Es steht geschrieben: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (Lev 19,18). Ja, aber kann denn Liebe überhaupt befohlen werden? Keineswegs! Aber lesen wir doch genau! Hier steht ja gar kein Imperativ, sondern die Zukunftsform: »Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Wann wird das geschehen? Sobald Gott seine Tora »in unser Herz geben und in unseren Sinn schreiben wird« (Jer 31,33), sobald er uns »das steinerne Herz wegnehmen und uns ein fleischernes Herz geben wird« (Ez 36,26), dann wird es keiner Gebote und Befehle mehr bedürfen, um die Nächstenliebe als überschäumende Gottesliebe zur Selbstverständlichkeit zu machen. Nicht äußerer Zwang wird dann zur Liebe treiben, sondern innerer Drang - ein Drang zur Hingabe an den Menschenbruder, den Gott uns geschenkt hat, und den wir brauchen, um reif und mündig in der Selbsterkenntnis zu werden. Dieser endzeitlichen »Um-Schreibung« aller Liebesgebote - vom Schutz der Ehefrau über die Versöhnung mit dem Bruder, der unbegrenzten Vergebung bis hin zur Feindesliebe - von den Steintafeln des Sinai in die Herzen der Menschen hinein gilt das Herzstück der jesuanischen Berglehre.
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3. DIE SELIGPREISUNGEN
Zwischen der Einleitung und den »Antithesen« der Berglehre finden wir eine Spruchreihe, die man wegen ihres refrainartigen Anfangswortes »selig« als die Seligpreisungen bezeichnet hat. Sie sind kein Lehrstück, auch kein Vortrag J esu, sondern eine konkrete Antwort auf die Not seines Volkes, die dem felsenfesten Glauben an die an Israel ergangenen Verheißungen entspringt. Der Rabbi von N azaret hat offensichtlich J esaias Aufruf als einen persönlichen Auftrag verstanden, der hier und jetzt und immer wieder zu erfüllen ist: »Stärkt die müden Hände und erquickt die strauchelnden Knie! Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost! Fürchtet euch nicht! Seht, es kommt euer Gott!« (Jes 35,3-4).
Den Armen das Himmelreich
Der Mut, den Jesus den Seinen hier einflößt, ist unerläßliche Vorbedingung für sein darauffolgendes Aktionsprogramm, denn ohne den wirksamen Zuspruch der Macht an die Ohnmächtigen, der Hoffnung an die Verzweifelnden und des Lichtes für die, die auf der Schattenseite des Lebens wohnen, kann keine tatkräftige Mitarbeit am Heilswerk dieser Welt erwartet werden. Den Hungerleidern, Habenichtsen und Randsiedlern der jüdischen Gesellschaft, die tagtäglich an der Vergeblichkeit alles menschlichen Mühens kranken, wird hier die Hoffnung gegeben, daß sich, allem Anschein zum Trotz, alles Leiden und Ringen dennoch als sinnvoll erweisen wird, ja, daß Gottes Heilsplan mit dem Menschen noch lange nicht zu Ende ist, und daß er, der Herr der Welt, ein Gott der kleinen Leute ist, der bei den Armen und Zerknirschten wohnt (Jes 57,15). Das Reich Gottes ist nahe! Helft ihm doch zum Durchbruch, so tönt es hier voll Zuversicht, indem ihr Gott und seiner Welt die Treue hal32
tet! Daher sind diese Seligpreisungen weder ein »Gratulationstext« noch eine Vertröstung auf irgendein fernes Jenseits, sondern die frohe Botschaft, daß man dem Gott der Väter, der von euch eine Umkehrung eures Denkens fordert, eine Umwertung aller irdischen Werte hienieden zutrauen kann. Aus Weinen wird dann Lachen, aus Hunger Sattsein, aus Trauer Trost, und aus Haß wächst Heil - mit einem Wort: Das Himmelreich ist nahe, wenn ihr es wollt. Doch was bedeutet dieses Stenogramm aus dem Hoffnungsgut der rabbinischen Gotteslehre? Im griechischen Text des Matthäus steht noch die wortwörtliche Wiedergabe aus J esu Muttersprache: »das Reich der Himmel«,daaufhebräisch))Himmel« einpluraletantumist, das keine Einzahl kennt. Gemeint ist eine der häufigen Umschreibungen Gottes, wie etwa: der Hochgelobte, der Herr, sein Name, unser Vater im Himmel, oder: der Barmherzige - alle eindeutige Synonyme, deren J esus, wie alle frommen Juden, sich bediente, um das Heilige nicht zu zerreden. ))Das Reich der Himmel« ist also nicht im Himmel, sondern besagt die vollkommene, offenbare Herrschaft Gottes auf Erden, für diese Erde, deren Besitz den Milden oder besser gesagt: den Machtlosen in der dritten Seligpreisung zugesprochen wird. Das ))alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel«, das Heinrich Heine im ))Wintermärchen « einem Harfenmädchen in den Mund legt, ist also gar kein )) neues Lied«, sondern gehört sinngemäß zum rabbinischen Lehrgut seit über zwei Jahrtausenden: Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenn auch die Herren Verfasser. Ich weiß, sie tranken heimlich Wein, und predigten öffentlich Wasser. Ein neues Lied, ein besseres Lied, Ihr Freunde will ich euch dichten. Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten. Die letzten zwei Zeilen hätten bei J esus wohl kaum Protest hervorgerufen, wenngleich er das letzte Wort vielleicht mit ))bereiten« ersetzt hätte.
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Es ist aber auch kein »Reich« im landläufigen Sinne des Wortes, das sowohl zeitliche als auch örtliche Begrenztheit impliziert, sondern das Offenbarwerden der Königsherrschaft Gottes über all seine Schöpfung - eine Herrschaft, die zwar schon seit der Entstehung der Welt im Verborgenen besteht, aber schrittweise und geheimnisvoll, nicht gewaltsam oder schlagartig die Herzen der Menschen erobert. Es sollte aus der Zwietracht, der Vereinsamung und der Unfreiheit erlösen, um die Erde bewohnbar zu machen für Vertrauen, Eintracht und Frieden. Für Jesu Zeitgenossen mußte aber im Begriff Himmelreich auch eine politische Komponente mitschwingen, denn in über einem Dutzend Sprichwörtern und Redewendungen aus jener Zeit sind »Römerreich« und »Himmelreich« ein unversöhnliches Kontrastpaar, in denen Gewalt und Sanftmut, Krieg und Frieden, Brutalität und Gerechtigkeit, Gehässigkeit und Liebe ihre eindeutigste Verleiblichung erfahren. Frohbotschaft, Erlösung und Himmelreich, diese drei Grundpfeiler des jesuanischen Heilsvokabulars, waren daher damals - wie auch heute - für jeden aufmerksamen Zuhörer mit theopolitschem Sprengstoff geladen. Nietzsche hatte also nicht ganz unrecht, wenn er von einem »Sklavenaufstand in der Moral« schreibt: »Die Juden - zu denen auch Jesus gehört - sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung: gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt, mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehr gewagt ... und festgehalten haben, nämlich: die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzigen Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit ... « 14
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F. Nietzsehe 2WW (Schlechta) II,779.
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Selig »Selig« - mit diesem Wort beginnt sowohl der Psalter als auch die Reihe der neun Seligpreisungen, die auf Schritt und Tritt an die Psalmen erinnern; vielleicht sogar erinnern sollen, da sie ja zur täglichen Liturgie der Synagogen gehören, in denen Jesus unermüdlich seine Botschaft zu predigen pflegte: »Selig der Mann, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen« (Ps 1,1). »Selig der Mann, der sich des Schwachen annimmt« (Ps 41,1). »Selig, die das Gebot halten und Recht tun zu aller Zeit« (Ps 106,3). »Selig, der barmherzig ist und gerne leiht und das Seine tut, wie es recht ist« (Ps 112,5). . »Selig, die ohne Tadel leben, die im Gesetz des Herrn wandeln« (Ps 119,1). Manchmal erstreckt sich die Ahnlichkeit auch auf den Inhalt: »Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden« (Mt 5,4), erinnert bibelfeste Juden auf Anhieb an: ))Nahe ist der Herr denen, die bedrängten Herzens sind, und denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben, hilft er« (Ps 34,19). Aber auch an: ))Die in Tränen säen, werden in Freuden ernten« (Ps 126,5). Die sechste Preisung: ))Selig die im Herzen Reinen, denn sie werden Gott schauen« (Mt 5,8), ist sinnverwandt mit: )) Wer wird hinaufsteigen auf den Berg des Herrn? Und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist« (Ps 24,4). Und nicht zuletzt: ))Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land Israel erben« ist eine dingfeste, dreidimensionale Verheißung, die sowohl in Mt 5,5 als auch in Ps 37,11 ergeht. üb aber das Schlüsselwort ))selig« der gemeinsamen Aussageintention des Psalmisten und des Berglehrers gerecht wird, ist eine Frage, mit der Martin Buber in seiner Übersetzung des Psalters hart gerungen hat. Fest steht, daß das hebräische ))aschre« nur dürftig mit ))maka35
rios« oder »beatus« und auch ungenau mit »wohl« und »heil« übertragen werden kann. Das französische »bienheureux« sowie das britische »blessed« hilft uns auch nicht viel weiter, während, ganz überraschend, das amerikanische »happy« der jüngsten ))New American Bible« dem Ursinn näherzukommen scheint. Hören wir, was Buber zum Anfangswort des Psalters sagt: ))Der Psalmist ruft: )üh, das Glück des Mannes ... < Das ist kein Wunsch und keine Verheißung, es geht nicht darum, daß der Mann Glück verdiene oder daß er gewiß sein dürfe, glücklich zu werden, sei es noch in diesem irdischen Leben, sei es in einem anderen künftigen, sondern es ist ein freudiger Ausruf und eine begeisterte Feststellung: Wie glücklich ist doch dieser Mann! Im Ausruf, der seinem Wesen nach zeitlos ist, wird die Zweiteilung von jetzt und nachher, von irdischem und künftigem Leben gleichsam aufgesogen ... Auch der Psalmist will offenbar sagen: Merkt auf, da gibt es ein heimliches, von den Händen des Daseins selber verstecktes Glück, das alles Unglück auf- und überwiegt. Ihr seht es nicht, aber es ist das wahre, ja das einzige Glück.«
Der gläubige Tatendurst Drei sprachliche Eigentümlichkeiten helfen uns, die Tiefendimension dieser neun Glückseligkeiten auszuloten. Sie sind im Indikativ der Feststellung formuliert, nicht im Imperativ der Moralpredigt und dennoch erschließen sie jene innere Heilsgewißheit, die auf jüdischem Mutterboden den gläubigen Tatendurst erwecken muß. ))Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun!« So sagt ganz Israel im Sog seiner zentralen Gotteserfahrung (Ex 19,8) am Berge Sinai. Und aus der Berglehre hallt es wider: ))Nicht jeder der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel tut« (Mt 7,21). Das Wissen um das Getragenwerden, das Geführtsein entzündet im Herzen jenes Feuer der Glückseligkeit, die nicht stillsitzen kann, auch im Gebet noch nicht Genüge findet. Sie sucht Ausdruck in der 36
Beglückung, Gott dienen zu dürfen und seine heiß ersehnte Herrschaft wirksam zu fördern - und sei es auch um einen einzigen Millimeter. Nicht um Verdienste geht es, sondern um Dienst am Reich. Nicht um Leistungen, sondern vor allem um Liebe. Aber Liebe zu Gott ohne gottgefällige Taten ist für Juden Heuchelei und leeres Gefasel. Jesuanisch gesagt: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!« (Mt 7,16). Das zweite ist, daß die Seliggesprochenen aktive Dulder, Trauernde, Gewaltentsager, Erbarmende und Friedensschaffer sind, während die an ihnen erwirkte Seligkeit im Passivum divinum Ausdruck findet: Sie werden getröstet, gesättig, Gottessöhne genannt und »gebarmherzigt«, wie es im Hebräischen heißt - was nichts anderes als eine fromme Umschreibung Gottes als des Urhebers ihres Glückes besagen will. Immer wieder ist es Gott, der in keiner der neun Seligpreisungen fehlt. Zwei Einsichten schwingen hier stillschweigend mit: daß wir »Mitarbeiter Gottes« sind (1 Kor 3,9), wie Paulus gut rabbinisch betont; Mitarbeiter, die, wenn sie »nicht mit der Zunge, sondern in Werk und Wahrheit lieben« (lJoh 3,18), auf die Gegenliebe Gottes bauen dürfen. Ein zweites ergibt sich aus der Deutung eines Psalmverses, die Jesus mit Sicherheit kannte: »Eines bitte ich vom Herrn; dem strebe ich nach.« So heißt es in Psalm 27,4 - wobei es nicht um eine überflüssige Wiederholung geht, sondern um ein zweigleisiges Erheischen, das dem Gebet die Tat hinzugesellt, um sich der Erhörung würdig zu erweisen. Kein Jude glaubt, er könne Gottes Gnade durch fromme Leistung verdienen; einige Rabbinen meinen jedoch, man könne sie vielleicht in Demut und in Liebestaten erdienen. Ein drittes ist die Tatsache, daß mit Ausnahme der ersten und der letzten Seligpreisung alle anderen sieben grammatisch im Futurum stehen. Die beiden Präsensfälle beziehen sich auf das Himmelreich, wobei im ursprünglichen Hebräisch hier sicherlich der uralte Topos stand: »Sie haben Anteil an der künftigen Welt«, was der Zukunft den Vorrang gibt, auch wenn sie als Vorgeschmack bereits heute empfunden werden kann. 37
Klar ist, daß diese bevorstehende Herrlichkeit als Zukunft Gottes eine radikale Anderung der Gegenwart hervorrufen soll, aber sie steht noch immer aus. Jetzt sind die Armen noch immer recht arm; die Verfolgten werden weiterhin verleumdet; und die Tränen der Trauernden hat Gott noch nicht abgewischt, wie sowohl J esaia als auch Johannes von Patmos es verheißen. Diese harte Wirklichkeit wird weder übertüncht noch totgeschwiegen, wohl aber relativiert angesichts der erhofften Erlösung, die für den Gläubigen eine morgige Wirklichkeit ist. Denn schließlich und endlich ist der Glaube ja »ein Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« (Hebr 11,1); eine »Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung, denn wie kann man etwas erhoffen, das man sieht?« (Röm 8,24). Im brennenden Bewußtsein der Mangelhaftigkeit aller Weltlichkeit schaut Jesus zurück zum Sinai der Gesetzgebung, um dann, angefeuert von der göttlichen Offenbarung, die einst ergangen, aber nie vergangen ist, den Blick nach vorne zu richten - hin zur Zukunftsvision der Propheten Israels, in der Gottes Liebe und Gerechtigkeit die Menschheit befrieden wird. Im gespannten Bogen dieser Doppelschau schrumpft für ihn das Heute zum Nadelöhr, durch das der Faden der Erinnerung unermüdlich den Stoff der Zukunft weiter webt. Daher sind die Armen und die Trauernden, die Sanftmütigen, die Barmherzigen und die Verfolgten jetzt schon selig zu preisen, denn ihr Anteil am kommenden Himmelreich ist ihnen gewiß. Keine Verschiebung aufs Jenseits, keine Schrumpfung auf die Innerlichkeit des Seelenlebens wird hier begangen, denn Jesus, wie die Propheten vor ihm, geht es um das Ganze. Er meint wirklich die Armen, die das Himmelreich erleben sollen; wirklicher Friede soll einkehren zwischen Menschen, Klassen und Völkern; Gewalt soll wirklich der Liebe weichen, weil alle im Herzen lernen werden, was dem eigenen und dem fremden Wohl am besten dient; und Glück soll herrschen in Eintracht und Brüderlichkeit auf dieser Erde, die Gott »sehr gut« geheißen hat (Gen 1,31). Das ist das Senfkorn der Hoffnung auf eine
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heilbare Welt, die Jesus hier in den Mutterboden biblischer Verheißungen senkt. In diesem Sinne enthalten die Seligpreisungen auch einen sanften, aber eindringlichen Protest gegen die beiden einander bekämpfenden Radikalismen, die zu J esu Zeiten der Gewalt eine göttliche Weihe verleihen wollten: den Zelotenkampf gegen das Heidenjoch, der die Römergewalt durch eine Art von Heiligem Krieg besiegen wollte und die römische Kaiserautorität, die sich als »Friedensstifter« und »Heilsbringer« ausgab, um die Pax Romana als Gewaltfrieden mit dem Heiligenschein der Gottgewolltheit zu krönen. Im fruchtbaren Grenzland zwischen erlebter Gegenwart und erhoffter Zukunft sind diese Seligpreisungen angesiedelt - als Angeld auf eine glaub-würdige Erlösung und als Ansporn zur tatkräftigen Sehnsucht nach einem Heil, das nicht vom Himmel fällt. Unter Menschen kommt zuerst der Auftrag, dann die Arbeit, und zuletzt der Lohn. Gott hält es umgekehrt: Zuerst kommt seine Gabe, dann die Aufgabe - und auf unsere Erfüllung wartet er noch immer mit beispielloser Langmut.
Schalom Die klarste Andeutung, daß dieses Heil nicht nur erbetet werden will, sondern nach Gottes Ratschluß auch der menschlichen Wegbereitung bedarf, finden wir in der siebenten Seligpreisung, die Martin Luther mit folgenden Worten übersetzt: »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen« (Mt 5,9). Ich finde die Übersetzung »die Friedfertigen« als unzureichend, denn »friedfertig« bedeutet nach den Wörterbüchern eine Bereitschaft fast passiver Natur, in den Frieden einzuwilligen, die aber keineswegs zu Taten drängt, während Jesus ein tatkräftiges Friedenswerk vorschwebt, das dem Tun des Willens Gottes gleichkommt. Und diejenigen, die diese Last willig auf sich nehmen, sind auch nicht »Kinder Gottes«, wie Luher ungenau übersetzt, sondern reife, erwachsene Söhne, die zwar abhängig bleiben von ihrem himmlischen 39
Vater, wie wir alle es sind, aber mündig in ihrer Frömmigkeit und verantwortlich in all ihrem Tun und Lassen. Hier verführt die Fehlübersetzung der »Kinder«, die Luther häufig gebraucht (anscheinend um die Einzigartigkeit von Jesu Gottessohnschaft nicht zu schmälern), zu einer Entmündigung, die kindliche Geborgenheit sucht im Schoße eines Mutter-Gottes, dessen Hauptfunktion das Helfen, das Trösten und das In-Schutz-Nehmen zu sein scheint. Es bedarf einer gewissen verspäteten Abnabelung, um die Selbständigkeit der Gottessohnschaft zu erringen, die den Mut aufbringt, auch inmitten von Spannungen und Reibereien an jener Befriedung mitzubauen, die hier gemeint ist. Doch auch in diesem Schlüsselbegriff »Friede« verleitet der griechische Text zu einer Sinnverengung. Denn »schalorn« entspricht weder der »eirene« der Griechen als Nichtkrieg noch der »pax« der Römer als Ordnungsrnacht, sondern bedeutet vor allem ein integrales GanzSein, als Antithese zu aller Schizophrenie und Entzweiung. Ein dreidimensionales Ganz-Sein, das sowohl nach innen, als Herzenseinheit (Klgl 3,17), nach oben, als Mit-Gott-eins-Sein (Ri 6,24), und nach allen Seiten hin, als Menscheneinheit (1 Kön 5,4), eine alleinige gott gewollte Harmonie zum Ausdruck bringt (Ps 85,9). Dem biblischen Ganzheitsdenken gemäß ist hier Politisches, Soziales und Religiöses genausowenig voneinander zu trennen wie Leib und Seele oder Natur von Kultur. So sind also Wohl und Heil, Wohlbefinden, Seelenruhe, Glück und Sozialharmonie die einander ergänzenden Bestandteile ein und desselben »schalorn«, der so unteilbar ist wie die biblischen Bereiche von Politik, Gesellschaft, Natur und Theologie - alles Teile einer einzigen Weltordnung unter dem einen Schöpfer-Gott. In den Worten der deutschen Bischöfe vom 28.4.1980 in ihrer »Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum«: »Christen und Juden sollen und können gemeinsam eintreten für das, was in der hebräischen Sprache schalom heißt. Dies ist ein umfassender Begriff, der Frieden, Freude, Freiheit, Versöhnung, Gemeinschaft, Harmonie, Gerechtigkeit, Wahrheit, Kommunikation, Menschlichkeit bedeutet« (S. 27). 40
Die Ibeopolitik der kleinen Schritte Bei den Rabbinen heißt es: »Alle Gebote sind zu erfüllen, wenn sich die entsprechende Gelegenheit bietet. Nicht so der Friede. Denn ihn sollt ihr aufsuchen und ihm nachjagen!« Dieses Jagen nach dem Frieden, wie es der Psalmist (Ps 34,15) gebietet, heißt auch ein Stück »Frieden machen« Oes 27,5; Jos 9,15), wie Jesus es hier in etwas plattem Griechisch, aber in tadellosem Hebräisch zum Ausdruck bringt. Denn um ein kreatives Schaffen geht es, wie bei Gott, der Sonne, Mond und Sterne »machte« (Gen 1,16). Darum heißt eines der häufigsten Synonyme für Gott in der Synagogenliturgie: der Friedensstifter, oder noch genauer: der Friedeschaffer. Denn um eine redliche Mühe geht es, die die Mauern des Mißtrauens abbauen und Brücken schlagen soll. Von einem Zureden, einem feinfühligen Zu-einander-Bringen, vom Aufspüren subtiler Kompromißchancen ist hier die Rede, die Gott selbst uns im rabbinischen Spruchgut vorlebt, um uns zu einer Imitatio Dei zu verlocken. Daher antworten die Talmudväter schon zu Jesu Lebzeiten auf die Frage, ob der Friede auf Erden überhaupt machbar sei, mit einer Theopolitik der kleinen Schritte: Konfliktschrumpfung, Entschärfung von Konfrontationen, Rechtsverzicht, Übererfüllung der Liebesgebote, Nachgiebigkeit und alle die 1001 Wege geduldiger Ameisenarbeit »um des Friedens willen«, wie es unzählige Male im Talmud heißt. Gemeint ist ein menschliches Mitwirken am Heilsplan, dessen Ziel nicht nur Konfliktlosigkeit, sondern der große Friede, die volle Zu-Friedenheit der Welt unter Gott bleibt. Wie sich hier die menschliche Friedenstaktik zur göttlichen Allversöhnung des »schalorn« verhält, beleuchtet eine rabbinische Parabel, die den Kochtopf als Vorbild für alle Friedensmacher empfiehlt. Denn der bescheidene Kochtopf vollbringt ja, ohne viel Federlesens zu machen, ein tägliches Wunder, das auch die Politiker anregen sollte. Indem sein dünner Boden zwei feindliche Elemente, nämlich Feuer und Wasser, voneinander trennt, versöhnt er die beiden keineswegs, aber dennoch bringt er es fertig, sie zur friedlichen und konstruktiven Zusammenarbeit zu bewegen.
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Eine kulinarische Kooperation, aus der das Gute in Gestalt des schmackhaften Küchensegens hervorgeht. Keine geringe Leistungin allen Epochen unserer zerstrittenen Menschheitsgeschichte! Nicht weniger realistisch in seinen Friedensbemühungen war der Prophet Jesaia, der verlangte, sie mögen »ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln umschmieden« (Jes 2,4) - was zu seiner Zeit weder eine Stilblüte noch poetische Schön malerei war, sondern eine schlichte alltägliche Machbarkeit. In jenen Tagen der späten Eisenzeit pflegten die Bauern nämlich eine kostbare Eisenspitze auf ihren Holzpflug zu stülpen, um ihre Felder zu bebauen. Aber zu Kriegszeiten befestigten sie dasselbe Stück Eisen auf einem zugespitzten Knüppel, der dann als Waffe dienen konnte. J esaia, J esus und die Rabbinen verheimlichen die Realität des Krieges keineswegs, auch erklingt aus ihrem Munde kein utopisches »Seid umschlungen, Millionen!«, sondern es wird nüchtern auf die Möglichkeit eines internationalen Ausgleiches unter Gott hingewiesen - »er wird richten unter den Völkern« -, dem das demonstrative U mschmieden aller Schwerter in Werkzeuge des friedlichen Brotgewinns den Weg ebnen könnte. Wenn die Friedensstifter auf Erden in solcher Weise Feinde einander nahe gebracht haben und sie zur Mitarbeit am Heilswerk Gottes bewegen können, dann erst wird Gott die anfängliche Befriedung, die Menschensache ist, durch seine unwiderstehliche Gnadenliebe vervollkommnen, indem er sogar David und Goliat, Israel und Edom, Feuer und Wasser zu Freunden machen wird, wie es in einer der Endzeit-Anekdoten des Talmuds heißt.
Das höchste Gebot Ich dachte oft, daß die Seligpreisungen eigentlich am Ende der Berglehre stehen sollten, als ihre Spitzen aussage, die mit der krönenden Verheißung schließt: »Freut euch und jubelt, denn euer Lohn wird groß sein im Reich der Himmel! (Mt 5,11). Eines Tages beim Lesen der Zehn Gebote ist mir ein Licht aufgegangen. »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft herausgeführt habe« (Ex 20,2), so beginnt der Dekalog, nicht mit 42
einem Imperativ, sondern mit der indikativen Feststellung einer Tatsache: Der befreiende Liebeserweis Gottes, er allein ist es, so sagen die Rabbinen, der ihm das Recht gibt, den Menschen >du< zu nennen und ihm das Joch des Himmelreiches zuzumuten, wie man das freiwillige Auf-sieh-Nehmen der Gebote im Judentum zu nennen pflegt. Ebenso beginnt die Berglehre mit den neun Seligpreisungen, die alle beredtsame Zeugenschaft für dieselbe Liebe Gottes ablegen. Nicht nur für den Menschen schlechthin, sondern insbesondere für die Opfer menschlicher Lieblosigkeit, die armen Teufel, die Ewig-zu-kurz-Gekommenen, die des Trostes und der Zuneigung besonders bedürfen. Erst diese Realität der erbarmenden Hinwendung Gottes, sie ist es, die nun sozusagen das Recht auf eine Gegenleistung hat: eine nicht weniger große Nächstenliebe zu jedem Mitmenschen, der unter Gott dein Bruder ist. Das Ende des Zürnens, des Rächens und des Verfluchens, des Ehebrechens, der Vergeltung und aller Entfremdung und Feindseligkeit. Was sind denn all diese Imperative der Berglehre anderes als eine einzige Aufforderung zur absoluten Erfüllung der Tora in ihrem ursprünglichen Sinn, als die Tatenlehre von der allumfassenden Doppelliebe - der Liebe Gottes und der Nächstenliebe, die durch das Bindeglied des Heiligungsgebotes unzertrennlich miteinander verbunden sind: »Seid heilig, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott!«, so heißt es im 19. Kapitel des Buches Leviticus, das nicht nur in der Mitte des Fünfbuches Mose steht, sondern von den Rabbinen auch als Mitte der Schrift bezeichnet wird. Ein unüberhörbarer Aufruf zur Nachahmung Gottes, die in Griechenland und Rom als unverzeihliche Blasphemie galt, während sie im Judentum als höchstes aller Gebote verstanden wird. Vier Dinge sind also in den Seligpreisungen enthalten: eine Art von »Bevollmächtigung«, im Sinne des Ersten Gebotes, zu den nun folgenden moralischen Forderungen; ein Mutmachen in der Not; eine theologische Feststellung, die Gott als Liebhaber der kleinen Leute zu verstehen gibt - und eine theo-psychologische Binsenwahrheit: Nicht »wer glaubt, wird selig« (Mk 16,16) sondern: Wer innig und unerschütterlich glaubt, der ist schon selig.
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4. »UND ICH SAGE EUCH«
Abschaffung des Gesetzes? So mancher christliche Theologe tut sich bis heute schwer, seinen Glauben mit den historischen Tatsachen zu versöhnen, daß der Gründer der Kirche zeitlebens einer anderen Religion zugehörte, die Tora als unvergängliches Offenbarungsgut in Ehren hielt und nur sein leibliches Israel als Gottesvolk erachtete, dem er all sein Leben und Streben auf Erden gewidmet hat. Als häufiger Ausweg dient die geistige Entjudung Jesu, begleitet von einer Herabsetzung der Bibel Jesu und seiner jüdischen Urkirche. So zitiert Charlotte Klein, eine katholische Nonne, in ihrem Sammelband» Theologie und Antijudaismus« 15 37 namhafte Theologen beider Großkirchen, die so gut wie einstimmig den Stab über »das Gesetz« brechen. Es »stehe im Widerspruch zu Gottes Gebot« (J. J eremias, 47); die »Mosaische Religion« beruhe »auf einem schuldhaften Mißverstehen, einem Pochen auf das Alte Gesetz und ist seit 2000 Jahren ein selbstverschuldeter Irrweg« (Günther Schiwy, 53). Nach Romano Guardini handele es sich im Judentum um Heuchelei: »Außen hoch entwickelte Gewissenhaftigkeit; innen Härte des Herzens; außen Gesetzestreue, innen Sünde« (55). Heinrich Schlier zufolge ist »das Gesetz für die Juden eine Schlinge geworden, in der sie sich verfangen haben«. Die Juden suchen im Grunde nicht Gott, ))sondern sich selbst«, so daß sie ))Gott, entgegen ihrem eigenen Willen und Streben, hassen« (57). Im Judentum, so schreibt Günther Bornkamm, ))hebt, durch die Werke vom Gesetz gefordert, das große Rechnen mit Gott an: Rechnung und Verrechnung, Verdienst und Verschuldung, Lohn und Strafe ... das Handeln des Menschen wird zum Gegenstand des Handeins mit Gott« (60). 15 ehr. Kaiser Verlag, München 1975; die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.
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»Die Gesetzesfrömmigkeit der Juden« ist für Adolph Schlatter »Schein, und die Begehrungen, für die sie sich wehrten, waren ausschließlich eigensüchtige: Um Geld und Weiber kämpften sie« (65). Charlotte Klein faßt zusammen: »Im Judentum drückende Last des Gesetzes; im Evangelium befreiende Gnade; - von dieser falschen Gegenüberstellung kann sich keiner der Theologen freimachen ... Ignoranz des wirklichen Judentums und willkürliche Textauslegung liegen diesem Vorurteil zu Grunde« (58). Die meisten Autoren bedienen sich der Berglehre um zu »beweisen«, daß Jesus sein gebürtiges Judentum »sprengen« oder »überwinden« wollte; daß er die Tora »abschaffen« oder »vergleich gültigen« oder gar »verwerfen« wollte. So schreibt Dietrich von Oppen: »Der Inhalt der Bergpredigt ist die Überwindung des Gesetzes, d. h. der streng institutionell verfaßten jüdischen Volksordnung.«16 Bei J oseph Ruppert Geiselmann lesen wir: »J esus beansprucht eine Autorität, die neben die des Moses tritt, ja, sich über diese erhebt. Dies hat auf jüdischem Boden nicht seinesgleichen.« 17 Ethelbert Stauffer übertrumpft die meisten seiner Kollegen, wenn er behauptet, in der Bergpredigt gehe es »um eine Demonstration gegen Moses«, die Jesus »in den Augen der Tora-Juden« zu einem »Apostat von der unsympatischsten Sorte mache. J esus aber ist mehr als ein Apostat, er ist ein Verführer, nicht genug, er ist ein Abfallprediger.«18 Man greift sich unwillkürlich an den Kopf und kann nicht umhin, die Frage zu stellen: Wie kann ein frommer Jude, der in den Evangelien 14mal als Rabbi tituliert wird, der Hunderte von Schülern um sich scharte und unzählige Male in den Synagogen seiner galiläischen Heimat predigte, zum angeblichen Zerstörer der Tora werden, die für ihn und die Seinen die einzige Bibel war, auf die er sich unermüdlich berief, die nie aus seinem Munde wich, und deren Heiligkeit er so nachdrücklich zu betonen pflegte? Ist denn ein Rabbi, der seine Tora Das personelle Zeitalter, Gütersloh 1967, 1l. Jesus Christus, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe, München 1962,1,747. 18 Die Botschaft Jesu damals und heute, Bern 1959, 27ff. 16 17
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»abschafft«, nicht genauso undenkbar wie ein Jesuit, der das Papsttum verketzert, oder ein Landesbischof, der Martin Luther verdammt? Sagte nicht J esus selbst, nachdem er das Geringste in der Tora (den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel) mit dem »Wichtigsten im Gesetz« (Gerechtigkeit, Erbarmen und Treue) verglichen hat: »Dies aber soll man tun und jenes nicht lassen«?! (Mt 23,23). Und zu all jenen, die ihn zwar »Herr, Herr« anrufen, aber sich nicht an die göttliche Weisung halten, wird er am Tage des Jüngsten Gerichtes sagen: »Weichet von mir, die ihr begeht, was wider die Tora ist« (Mt 7,23)! Sagte nicht auch Paulus von seinem Heiland, daß er »unter dem Gesetz geboren wurde« (GaI4,4) und sein Leben lang »ein Diener der Beschneidung« gewesen sei (Röm 15,8) - was auf hebräisch nichts anderes betonen will als seine unabdingbare Tora-Treue? Diese Tatsache ist auch von der Französischen Bischofskonferenz anerkannt worden, die in ihrer Erklärung über die »Haltung der Christen zum Judentum« (16. April 1973) sagt: »Man darf nicht vergessen, daß Jesus, geboren als jüdischer Mensch, ... durch seinen Gehorsam gegenüber der Tora und durch sein Gebet seine Aufgabe im Rahmen des Bundesvolkes erfüllt hat.« Um all diese Beweise zu entkräften, klammern sich die Antinomisten an vier griechische Worte, die fünfmal durch die Berglehre ziehen: »Ich aber sage euch« - Eyd> ÖE AEYOO u~iv. »Mit diesem Wort hat Jesus zu seiner Zeit die Gesetzesreligion des Judentums aus den Angeln gehoben. Hier liegt der Ansatz für die befreiende Botschaft des N euen Testaments, die nichts mehr gemein hat mit den Angsten und Zwängen einer legalistischen und formalistischen Religion.« So hieß es unlängst in der Einladung zu einer Tagung über die Bergpredigt, die mir eine katholische Akademie liebenswürdigerweise zugesandt hatte. In diesen vier Worten liege ein »ganz einmaliger Autoritätsanspruch« (Karl Barth); eine ))souveräne Vollmacht ohnegleichen« (Kurt Niederwimmer); ja, etwas )) im Judentum ganz Unerhörtes« (Michael Schmaus), ))hat im Rabbinismus keine Parallele« (Georg Eichholz) - um es mit vier typischen Aussagen bewenden zu lassen. All dies bezeugt im besten Falle eine lückenhafte Kenntnis der Muttersprache Jesu und sei46
nes Sitzes im Leben, die sich kein Germanist betreffs der Muttersprache Goethes im deutschen Sprachbereich erlauben könnte.
Jesu Muttersprache Zum Sprachlichen sei hier vorerst betont, daß »Ich aber sage euch« eine Hervorhebung des Kontrastes bringt, die der griechische Wortlaut nicht rechtfertigt. Das Wörtlein ÖE bezeichnet nämlich im Evangelium durchgängig eine Verknüpfung und keinen Gegensatz. Zu übersetzen wäre also textgetreu: »Und ich sage euch« - was genau dem ursprünglichen hebräischen Wortlaut entspricht, der keineswegs einen Widerspruch gegen die Tora, sondern ganz im Gegenteil ihre Erläuterung einleiten will: »wa ani omär lachäm«. Weit davon entfernt, »einmalig« zu sein, ist es ein Schulbegriff der »Mündlichen Tora« und hat dementsprechend seine mannigfaltigen Parallelen im talmudischen Schrifttum. »Ihr habt gehört« oder»Es ist gesagt «, gefolgt von »Und ich sage euch« sind nämlich ein zusammengehöriges Paar von Fachausdrücken aus dem Grundvokabular der rabbinischen Rhetorik l9• Der erstere will besagen: Ihr habt dieses Schriftwort bislang folgendermaßen verstanden, worauf entweder der Wortsinn, die landläufige Exegese oder die Meinung des Gegners zitiert wird. Hierauf heißt es: »Und ich sage euch«, worauf die neue Auslegung des Proponenten erfolgt. Ahnlich schreibt Landesbischof Eduard Lohse in seinem Beitrag »Ich aber sage euch« zur Festschrift für Joachim Jeremias (Göttingen 1970), wo er u. a. Rabbi Schimon Bar J ochai zitiert, der fünfmal den Ausführungen des Rabbi Akiba durch ein betontes» Und ich sage euch« widerspricht: »Wenn Jesus seine Worte mit dem SatzEym ÖE Ai,ym UJ.L1V der allgemein üblichen Auslegung des Gebotes gegenüberstellt, so ist dieser Gebrauch durchaus dem von den Rabbinen benutzten Ausdruck maani omär lachäm< vergleichbar, denn hier wie dort wird eine Meinung vorgetragen, die von der allgemein üblichen Auffassung abweicht« (196). 19
Z.B. Mechilta Ex Jethro, 9; Tos. Jota VI, 6-11; Tos. Bik. 1,2.
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Wer die Streitgespräche Jesu mit talmudkundigen Augen liest, der weiß, daß sie ausnahmslos zur leidenschaftlichen Lehrdialektik der Rabbinen gehören, die weder der Feindschaft noch einer rechthaberischen Besserwisserei entspringt, sondern einzig und allein aus der gemeinsamen Liebe zur Heiligen Schrift, dem Ringen um ihre gottgefälligste Deutung und der Erkenntnis, daß der Monolog die ärgste Methode, das Zwiegespräch hingegen der beste Weg ist, um sich der oft verborgenen Wahrheit brüderlich näher zu raufen. Weder in den streitbaren Dialogen noch in der Berglehre hat Jesus den Boden seines pluralistischen Judentums je verlassen. Wie alle Leuchten Israels bis auf den heutigen Tag, mußte er Widerspruch hervorrufen, denn seine Einstellung zum Glaubensgut seines Volkes war die einer konstruktiven, spannungsreichen Kontrastharmonie - wobei beide Hälften dieses Doppelwortes sein gläubiges Judesein gemeinsam unterstreichen. Harmonie in allen Grundsätzen und Fundamenten des Glaubens wie etwa in der großen Doppelliebe (Mk 12,28 ff) und der U nvergänglichkeit der Tora (Mt 5,17 ff) -, ergänzt durch legitimen Kontrast in zahlreichen Einzelheiten wie etwa die Sabbatheilungen, die Steuerfrage, das Händewaschen, sowie in der Schwerpunktsetzung seines Schriftverständnisses und den praktischen Konsequenzen, die er aus seiner akuten messianischen Naherwartung zog. - Eine Fülle von Glaubenseinsichten und Lehrmeinungen, die es samt und sonders in sich haben, das vielstimmige Lehrgut Israels zu bereichern. Und dies umsomehr zu einer Zeit wie jener vor zwei Jahrtausenden, als die »Mündliche Tora« im Begriff war, sich auf dialektisch-dialogische Weise zur normativen Halacha herauszukristallisieren. »Und ich sage euch« muß also vor dem Hintergrund der ))Sprüche der Väter« gelesen werden, in denen es heißt: )) Von jedem Streit, der um des Himmels willen geführt wird, gilt es, daß er schließlich zu etwas Beständigem führt ... Welches ist ein solcher Streit? Der Streit Hillels und Scham mais war SO.«20 20
Abot V,20.
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Damit ist der traditionelle Zwist zwischen den beiden Hauptschulen der Pharisäer gemeint, deren Ansichten im jesuanischen Spruchgut des öfteren anklingen. Keine einzige Antithese
Und dennoch wird der Graben zwischen J esus und seinen Kontrahenten künstlich vertieft, indem man ganz allgemein von den sogenannten sechs »Antithesen« spricht, die das ethische Gerüst der Berglehre darstellen. Mit bestem Willen kann ich jedoch keine einzige »Antithese« in dieser Berglehre entdecken, im Sinne einer Gegenbehauptung, die der zuvor genannten These diametral widerspräche. Wenn Jesus sagt: »Ihr habt gehört ... Du sollst nicht töten« (Mt 5,21), so hieße die entsprechende Antithese: »Ich aber sage euch, bringt jeden um, der euch im Wege steht!« Wenn Jesus die biblische These zitiert: »Ihr habt gehört ... Du sollst nicht ehebrechen« (Mt 5,27), so wäre die passende Antithese etwa in Adolf Hitlers Credo zu finden: »Dieses dumme: Du sollst nicht! Es muß heraus aus unserm Blut, dieser Fluch vom Berge Sinai! Dieses Gift, mit dem sowohl Juden wie Christen die freien, wunderbaren Instinkte der Menschen verdorben und beschmutzt und sie auf das Niveau hündischer Furcht herab gedrückt haben ... Was wir bekämpfen, das ist das sogenannte Gesetz!«21 J esus hingegen liefert uns, Gott sei Dank, keine Antithesen, sondern Superthesen, die die Bibelgebote vertiefen, verschärfen und, im wörtlichen Sinne, radikalisieren, das heißt: auf ihre Wurzel und ursprüngliche Absicht zurückführen. In den Worten Martin Bubers: »Der Sinai genügt ihm nicht. Er will in die Wolke über dem Berg, aus der die Stimme schallt, in die U rabsicht Gottes will er dringen ... , um die Tora zu erfüllen, das heißt ihre Fülle anrufen und wirklich machen.« In dieser himmelstrebenden Sehnsucht nach Vollkommenheit ruft Jesus zu einer Über-Erfüllung 21
Herman Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1934.
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der Gebote und Verbote auf, die an das Zehnte Gebot anknüpft, das über alle anderen darin hinausgeht, daß es zum ersten Mal vor einer üblen Gesinnung warnt - noch ehe diese zur Missetat heranreifen kann: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus ... noch sein Weib noch seinen Knecht noch seine Magd noch sein Kind noch seinen Esel noch irgendetwas, was deinem Nächsten gehört« (Ex 20,17).
Gesinnung und Tat
Hier, wo der Dekalog in der Wüste unter primitiven Nomaden und entlaufenen Sklaven mit seinem moralischen Höhepunkt aus Israels Frühzeit endet - dort führt die Berglehre weiter, indem sie, im Rahmen einer als aufwärts führend verstandenen Pädagogik Gottes, den Unterschied zwischen der bösen Gesinnung und der aus ihr entspringenden Missetat so gut wie aufzuheben bestrebt ist. Nicht nur Mord, sondern auch der Zorn ist verwerflich; nicht nur Ehebruch, sondern ein lüsterner Blick ist bereits Unzucht; nicht nur Meineid, sondern jeder Eid ist vom Bösen; nicht nur Friedfertigkeit, sondern Demut und Rechtsverzicht sind Bausteine zum Schalom der Zukunft. Eine Tora-Auslegung, die man als theozentrisch oder als maximalistisch bezeichnen könnte, die aber auch gut rabbinisch auf der Einsicht fußt, daß der Weg zur Sünde einer Stufenleiter gleicht, die in einer alten Deutung von Gen 6,5 folgendermaßen beschrieben wird: »Sündhafte Vorstellung bringt zur Begierde, die Begierde zur Sinneslust; die Sinneslust zum Nachjagen; das Nachjagen zur Tat. Dies um dir kundzutun, wie schwer des Menschen Rückkehr von einem zum anderen ist.«22 Wenn also die Begierde »der Anfang aller Sünde ist«, wie es in der Mose-Apokalypse (§ 19) heißt, »dann wird die Begierde schwanger und gebiert die Sünde«, wie es im Jakobusbrief (1,15) heißt: »die Sünde aber gebiert den Tod«. 22
Kalla Rabbati II,6.
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Von dieser realistischen Erkenntnis führt ein kurzer Schritt zur Schlußfolgerung: Wehret den Anfängen, was im Grunde das Leitmotiv der jesuanischen ))Superthesen« ist. Das hebräische Wort für ))Begierde« kann aber auch mit ))Neid« übersetzt werden, wobei das dem deutschen ))Neid« zu Grunde liegende Urwort ))nit« die Bedeutung von ))befeinden, niederkriegen, heruntermachen« hat. Solcher Neid, der so alt ist wie Kains Grimm gegen seinen bevorzugten Bruder Abel, führt zur Mißgunst, zur Eifersucht, und zum Zank, um letztlich das menschliche Zusammenleben von Grund auf zu zerstören. Diese potentielle Sünde ))lauert vor der Türe und giert nach dir« (Gen 4,7), wie Gott den Kain warnt, ))du aber werde Herr über sie!« Dieses Herr-Werden über die sündige Gier im eigenen Herzen ist das, was die Ethiker ))das heilige Nein« nennen: der Adel des Nein-sagenKönnens zu allen Verführungen, die dem Ethos zuwiderlaufen. Er will teuer erkauft werden, durch Opfer, die Jesus bildlich mit dem ))Ausreißen des Auges« und dem ))Abhauen der Hand« umschreibtdem Einfallstor und dem Handlanger der Sünde, die gezügelt und bezähmt werden müssen -, gleichsam bis zur Bereitschaft auf den Verlust von Gliedmaßen (Mt 5,29-30). Denn billiger ist diese Einladung ins Reich Gottes eben nicht wahrzunehmen. Im Grunde geht es um eine neue Form von Gemeinschaft, die ganz konkret bereit ist, haßlos und zorn frei in einer Brüderlichkeit zu leben, die alles bloße Recht bei weitem übersteigt. Ihr zuliebe will Jesus auf alle Familienbande verzichten, denn ))wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter« (Mk 3,35). ))Den Willen Gottes tun« aber heißt, einen ))Ideal-Kibbutz« zu gründen als einen Lebensraum des Glaubens, der Gottes Zuneigung zum Menschen ernst genug nimmt, um ihr das zwischenmenschliche Verhältnis nachzugestalten. Solch ein gesteigertes Ethos für das Gottesvolk, das auf dieser Lehre von den Superthesen basiert, hat schon immer drei ganz verschiedene Reaktionen hervorgerufen:
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»Er ist von Sinnen!« So sagen Jesl,l Angehörige, die ihn als Spinner und Schwärmer abschreiben (Mk 3,2.1). »Ihr seid das Salz der Erde ... , das Licht der Welt ... , eine Stadt auf dem Berge!« (Mt 5,13-16). So wirbt Jesus um das Herz seines Jüngerkreises, der als Vortrupp die Machbarkeit seiner Vision den anderen vorleben soll. Die dritte Reaktion ist die einer unverbindlichen Verniedlichung, die dieses revolutionäre Real-Programm in die rosarote Wolkenwelt der Utopien entrückt hat. Um festzustellen, wo und wie weit die Superthesen J esu von der rabbinischen Paränese abweichen oder gar Torageboten widersprechen, wollen wir sie nun im einzelnen erörtern.
Du sollst nicht töten
Jesus beginnt seinen Protest gegen die Unmenschlichkeit mit der ärgsten und ältesten Sünde gegen Gottes gütigen Schöpferwillen: Der erste Mensch, der einen Bruder hatte, schlug ihn tot, und der Brudermord - was für die Bibel jeder Mord ist (Gen 9,5f) - hat bis heute nicht aufgehört, alle wahre Menschwerdung der Zweifüßler ernstlich in Frage zu stellen: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten (Ex 20,13); wer aber (dennoch) tötet, der soll der Todesstrafe (Ex 21,12) verfallen sein. Und ich sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, der soll der Todesstrafe verfallen sein. Denn der zu seinem Bruder sagt: Hohlkopf, der ist dem Synhedrium verfallen; wer aber sagt: (gottloser) Narr, der soll der Feuerhölle verfallen sein« (Mt 5,21-22). Was hier auf Anhieb auffällt, ist die typisch rabbinische dreigliedrige Steigerung, die drei Möglichkeiten nennt, den Bruder zu verletzen, bevor es zum eigentlichen Verstoß gegen den Wortlaut der Tora kommt: Der zürnende Gedanke im Herzen gehört bereits vor den Gemeinderat; ein öffentliches Schimpfwort gehört vor den Hohen 52
Rat, während eine krasse Verleumdung so schwerwiegend ist, daß nur das göttliche Gericht imstande ist, sie zu ahnden. »Du sollst nicht töten«, heißt es im Dekalog (Ex 20,13). Aber wir alle haben es erlebt, daß Totschlag im Herzen beginnt, mit dem Haß gegen den anderen oder seiner Verteufelung als »Menschenfeind«, als »Schädling« oder als »Ungeziefer«. Er entsteht in dem Ungeist, der sich Ideologien oder Theorien schafft, in die der andere um jeden Preis als »Unmensch« oder »Untermensch« hineingepfercht werden soll. Er kann millionenfach am Schreibtisch beginnen und in Konstruktionsbüros entworfen werden. Da jeder Mord im Herzen beginnt, muß er also dort schon im Keim erstickt werden. Zu diesem Zweck bedient sich Jesus des alt-rabbinischen Prinzips des »Zaunes um die Tora«, womit die verschärfenden Vorbeugungsvorschriften gemeint sind, die als Schutzmittel gegen jedwede Übertretung der Gebote und Verbote festgelegt wurden. In den Worten der »Sprüche der Väter«: »Die Mündliche Überlieferung ist ein Zaun für die Tora; Gelübde sind ein Zaun für die Enthaltsamkeit; ein Zaun für die Weisheit ist das Schweigen.«23 Ob sich hinter dem ungenauen griechischen Wortlaut der ersten Superthese in der Tat ein gesteigerter Dreiklang verbirgt, hängt weitgehend vom Schimpfwort »more« ab (Mt 5,22), das jedoch drei verschiedene Übersetzungen erlaubt: Sollte es ein griechischer Vokativ sein, so ist »Narr« gemeint; auf hebräisch könnte es »Rebell« bedeuten, aber auf aramäisch hieße es »Abtrünniger« oder »Lästerer«, was wahrscheinlich den Höhepunkt der Verleumdung darstellen würde. Wie dem auch sei, gemeint ist: »Jedermann sei schnell bereit zum Hören, aber zurückhaltend im Reden und langsam zum Zorn«, wie es im Jakobusbrief(1,19) heißt, »denn im Zorn tut der Mensch nicht das, was vor Gott recht ist« (Jak 1,20). Anders gesagt: Der Zorn nimmt dem Nächsten zwar nicht das Leben, aber kündigt ihm die Solidarität auf und beraubt ihn mit seiner Würde auch eines Stücks seines Menschseins, was auf deutsch zu Recht als »Rufmord« an das Töten erinnert. 23
Abot m,13.
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Derselbe Gedanke kommt im Rabbinenspruch zum Ausdruck: »Wer seinen Nächsten haßt (womit gehässige Taten gemeint sind), gehört zu denen, die Blut vergießen.«24 Um diesen Zusammenhang zwischen Beschämung und Tötung noch klarer zu vergegenwärtigen, heißt es im Talmud: »Ein Mischna-Lehrer lehrte vor Raw Nachman, Jizchaks Sohn: Jeder, der das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen läßt, ist, als ob er Blut vergieße. Er sagte zu ihm: Vortrefflich hast du das gesagt, ich habe es nämlich gesehen (bei einem Beschämten ist wie bei einem Sterbenden zu bemerken, wie die Farbe weicht und er bleich wird), wie die Röte geht und die Blässe kommt« (BM 58b). Dasselbe gilt von der Schamröte, die als innerer Bluterguß gedeutet werden kann. Es soll also fast anatomisch bezeugt werden, daß jeder, der seinen Nächsten erbleichen oder erröten läßt, Blutschuld auf sich lädt. Noch weiter geht die Moral folgender Talmudperikope, die besagen will: Lieber sterben als beschämen. »Rabbi Jochanan sagte im Namen Rabbi Schimons, Jochais Sohn: Es ist einem Menschen dienlicher, sich selbst in einen feurigen Brennofen fallen zu lassen, als das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen zu lassen. Woher lernen wir das? Von Tamar; denn es steht geschrieben (Gen 38,25): Tamar ließ sich lieber zum Verbrennen hinausführen, als daß sie ihren Schwiegervater öffentlich beschämt hätte. Vielmehr überließ sie es ihm selber, sich zu seiner Schuld zu bekennen. Wie sie hinausgeführt wurde, da schickte sie zu ihrem Schwiegervater« (BM 59a). Zur letzten Konsequenz stoßen zwei Lehrkollegen Jesu vor, indem sie auch die negativen Auswirkungen der Gottesebenbildlichkeit der Menschenkinder klarstellen. So lehrte Rabbi Nathan: »Jeder, der seinen Nächsten haßt (d. h. ihm Unrecht antut), der entwurzelt Gott aus der Welt« (ARN 30). Rabbi Ben-Azzai entzieht dem Nächstenhaß den letzten möglichen Vorwand, wenn er lehrt: »Du sollst nicht sagen, weil ich verachtet worden bin, möge auch mein Nächster gleich mir verachtet werden ... 24
Derech Erez Rabba 11.
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Wenn du so handelst, so wisse, daß du den verachtest, in dessen Ebenbild der Mensch geschaffen wurde« (Gen R 24,7 zu Gen 5,1). Und, nicht zuletzt, heißt es in einer Auslegung von Ex 20,26: »Wenn schon hinsichtlich der Steine des Altars, die doch kein Wissen von Gut und Böse haben, gesagt wird: Du darfst mit ihnen nicht verächtlich umgehen - um wieviel mehr ist es ein logischer Schluß, daß du mit deinem Nächsten, der im Bilde dessen erschaffen ist, der da sprach und die Welt ward, nicht verächtlich umgehen darfst« (Mechilta zu Ex 20,26). Zwischen dem Verbot, den Bruder »zu hassen in deinem Herzen« (Lev 19,17), und dem Gebot, ihn »zu lieben wie dich selbst« (Lev 19,18), steht der Auftrag: »Ermahnen, ja ermahnen sollst du deinen Nächsten, daß du nicht seinetwegen Sünde tragest« (Lev 19,17). Da es einerseits für die Rabbinen ausgemachte Sache war, daß »ganz Israel füreinander verantwortlich ist« (Schebuot 39b), so daß keiner gleichgültig mit ansehen darf, wie ein Mitmensch in sein Verhängnis läuft, ohne zu versuchen, ihn davon abzuhalten; andererseits aber die gebotene Zurechtweisung nur allzu leicht zu einer öffentlichen Beschämung des Nächsten führen kann, die als schwere Sünde erachtet wird, galt und gilt es, mit Takt und Feingefühl den goldenen Mittelweg zu finden. J esus, der im Sinne der Rabbinen seine Sorge um ganz Israel schon durch die Zwölfzahl seines Jüngerkreises zum Ausdruck brachte, ging es vor allem »um die Kranken, die den Arzt benötigen« (Mt 9,12), - also: die Sünder, Huren, Abtrünnigen und die verhaßten Zöllner, die er zur Buße bewegen wollte. Wie er dies zustande bringen konnte, erzählt uns die Geschichte seiner unvermuteten Selbst-Einladung bei Zachäus, dem Steuereint re iber. »Alle Leute fingen an zu murren, weil Jesus bei ~inem so schlechten Menschen eingekehrt ist« (Lk 19,7). Der Zweck der Einkehr aber war die Umkehr, und, in der Tat, kaum war das Mahl zu Ende, da bricht es ganz spontan aus dem Oberzöllner heraus: »Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden erpreßt habe, so will ich ihm das Vierfache zurückerstatten« (Lk 19,8). Zachäus ist zu nichts von all dem aufgefordert worden, keine Bußpredigt wurde ihm gehalten, die ihn hätte erröten lassen 55
im Familienkreis. Aber dennoch hat er Jesu mahnenden Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Ein »verirrtes Schaf« hat den Weg zurück zur Herde gefunden. In diesem Sinn ist J esu Rat zur brüderlichen Zurechtweisung zu verstehen (Mt 18,15-17). Im Text der Berglehre lesen wir weiter: »Wenn du dein Opfer zum Opferaltar bringst und du dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß dein Opfer dort vor dem Altar und geh, versöhne dich erst mit deinem Bruder, und dann komm und bring dein Opfer dar!« (Mt 5,23-24). Dieser Satz ist die Ergänzung zu den zwei vorigen, indem er nun sozusagen den Spieß umdreht: Wenn zuvor vom (potentiellen) Beleidiger die Rede war, der in einer Dreierfolge von Strafankündigungen abgeschreckt werden soll, so wird nun von ihm die nötige Einfühlsamkeit verlangt, um sich in die Haut seines verletzten Bruders hineinzudenken. Mehr noch! Gerade wenn er sich anschickt, die heiligste Handlung vor Gott zu vollziehen, soll er kurz in die eigene Seele schauen, um auf die Gewissensfrage des Psalmisten: » Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?« auch getrost mit David antworten zu dürfen: »Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist« (Ps 24,4). Im Klartext: Wer also nicht gegen die Nächstenliebe gesündigt hat. Sollte jedoch diese innere Rechenschaft auf dem Wege zum Altar zum Ergebnis führen, daß einer deiner Menschenbrüder etwas gegen dich hat - ob ohne Grund oder zu Recht, wird absichtlich offengelassen -, dann gehe und bereinige zuerst jene halb-verdrängte Streitsache mit dem Bruder, um vor Gott »mit reinem Herzen« hintreten zu können. Daher heißt der heiligste Tag im jüdischen Festkalender »der Tag der Versöhnungen«, denn um zwei Aussöhnungen geht es: um die zwischenmenschliche und um die göttliche, wobei die erstere den zeitlichen Vorrang hat - ganz im Sinne von Mt 5,23 f: »Übertretungen zwischen Mensch und Gott sühnt der Versöhnungstag (bei entsprechender Reue); Übertretungen zwischen Mensch und Mensch sühnt er nicht; es sei denn, der Schuldige hat seinen Nächsten zuerst be56
sänftigt« Qoma VIII,9). Anders gesagt: Die horizontale Wiederherstellung des Friedens, die viel schwerer ist als das gemeinschaftliche Bußgebet, ist die unverzichtbare Vorbedingung für das Recht, die vertikale Versöhnung von Gott zu erflehen. Um wieviel schwerer ist es, einem Gekränkten gegenüberzutreten, seinen eigenen Stolz zu schlucken und Abbitte zu leisten, als in die Synagoge zu gehen und mit der Gemeinde zusammen die Sünden zu bekennen! Doch gerade in diesem persönlichen Opfer, das wir unserem Ego abzuringen haben, erweist es sich, ob die Versöhnung auch allen Ernstes angestrebt wird. In diesem Sinne der mitmenschlichen Priorität heißt es auch im Vater-Unser: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben« (Mt 6,12). Im Klartext steht hier, gut jüdisch und jesuanisch zugleich: Nur die Selbstüberwindung des Bittens um Verzeihung und die Zivilcourage des Handausstreckens (mit all der Gefahr, zurückgewiesen zu werden) können die Vergebung erwirken, die von oben kommt. In Anbetracht der Schwierigkeit des ersteren werden dieser horizontalen Befriedung die »Zehn Bußtage« gewidmet, die dem einen Versöhnungstag vorangehen. Sie stehen in der jüdischen Überlieferung im engsten Zusammenhang mit jenem großen Sündenfall, den ganz Israel an der Wiege seiner Volkwerdung begangen hat: die Anbetung des goldenen Kalbes. »Und nun überlasse es mir, so wird mein Zorn gegen sie entbrennen, so daß ich sie vertilge!« So lautet der Entschluß Gottes, der an Mose ergeht, dem jedoch verheißen wird: » Und dich werde ich zu einem großen Volk machen« (Ex 32,10). Was hierauf geschieht, hat sowohl das Menschenbild als auch die Gottesvorstellung des Judentums entscheidend geprägt. Mose, »der bescheidenste unter den Menschen«, entnahm den Anfangsworten Gottes, »und nun überlasse es mir«, daß Gottes Ratschluß noch nicht endgültig war, ja, daß der Herr der Welt ein Zusammenwirken mit den Menschen erwünscht. In dreierlei besteht nun dieses Zusammenwirken, wie Mose es zu gestalten weiß: ein freimütiges Geständnis der Schuld seines Volkes; ein 57
Appell an Gottes Langmut und Barmherzigkeit, gekrönt von jener Spitzenaussage selbstloser Nächstenliebe: »Vergib ihnen doch ihre Sünde - wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch (des Lebens), das du geschrieben hast!« (Ex 32,32). Es war diese vorbildliche Selbstverleugnung, die um der Brüder zuliebe das Ego hintan setzte, um mit Gott selbst zu rechten, die letztlich die göttliche Vergebung für Israel erlangen konnte.
Du sollst nicht ehebrechen Wenn die erste Superthese die Vertiefung des Sechsten Gebotes, als Grundlage aller friedlichen Koexistenz, bezweckt, wendet sich die zweite Superthese dem Siebenten Gebot zu - als Schlüssel der menschlichen Zwei-Einigkeit von Mann und Frau: »Ihr habt gehört, daß gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen! (Ex 20,14). Und ich sage euch: Jeder, der eine Frau begehrlich anblickt, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen« (Mt 5,27-28). Eigentlich ist in dieser »Toraverschärfung« nichts Neues, denn schon die Sprüche Salomos warnen im Sinne des Zehnten Gebotes: »Dein Herz begehre nicht nach der Schönheit der Frau deines Nächsten, noch laß dich durch ihre Blicke fangen« (Spr 6,24f). Damit werden die Begierde als Mutter der Tat und das Auge als Einfallstor der Sünde angeprangert. Ein anderer Jesus, der über zwei Jahrhunderte vor dem Nazarener in J erusalem predigte, widmet ein ganzes Kapitel dem rechten Umgang mit Frauen, von der Jungfrau über die Gattin, die »fremde Frau«, die »Saitenspielerin«, die »reizvolle Frau« bis hin zur Dirne, vor der gewarnt wird: »Gib dich nicht mit ihr ab, damit sie dich nicht um dein Erbe bringe!« (Sir 9,6). Vom Vorfeld des Ehebruchs heißt es im Buch der Weisheit des Jesus Sirach: »Mit einer Verheirateten gehe nicht zum Weingelage ... , damit du ihr nicht dein Herz zuneigst, und in deinem Blut ins Grab sinkst!« (Sir 9,9). 58
Der frühere J esus scheint sogar einen Schritt weiter zu gehen, wenn er alle außereheliche Verleitungverpönt: »Verhüll dein Auge vor einer reizvollen Frau, blick auf keine Schönheit, die dir nicht gehört!« (Sir 9,8). In einer uralten Auslegung des Siebenten Gebotes heißt es, daß das hebräische Zeitwort »ehebrechen« deshalb aus vier Buchstaben bestehe, um zu warnen, »damit du nicht die Ehe brichst, weder mit der Hand noch mit dem Fuß noch mit dem Auge noch mit dem Herzen« (Midrasch Hagadol zu Ex 20,14). Ebenso sinnverwandt mit der jesuanischen Vorbeugung ist der Leitsatz des Resch Lakisch: »Du sollst nicht sagen, daß nur der, welcher mit dem Leibe die Ehe bricht, ein Ehebrecher genannt wird. Auch der, welcher mit seinem Auge die Ehe bricht, ist ein solcher« (Lev. R. 23). »Das Auge des Ehebrechers wartet auf den Abend«, heißt es im IjobBuch (24,15). Die Rabbinen folgern daraus, daß er schon vor der Tat als Ehebrecher angeprangert wird, da er die Sünde bereits mit dem Auge begangen hat. Wir könnten unschwer eine Reihe von weiteren Beispielen bringen, um die Aussage Adolph Schlatters zu erhärten, der keineswegs als Freund der Juden galt, aber dennoch behaupten konnte, »daß auch die höchsten Forderungen der Bergpredigt für den Rabbinismus nichts schlechthin Neues waren«25. In der Praxis hat dies unter anderem zur Folge, daß in den orthodoxen Stadtteilen in Jerusalem, New York, London und Paris Männer und Frauen getrennt lernen, arbeiten und beten - und Besucherinnen in Miniröcken oder kurzen Hosen höflich aber eindeutig gebeten werden, ihre Reize anderswo zur Schau zu stellen.
Das Scheidungsverbot Wenn sogar der im Herzen begangene Ehebruch bereits einer Entweihung des Ehebundes gleichkommt, so muß auch folgerichtig die Scheidung so gut wie verboten werden; denn beide verletzen ja den 25
J. Schniewind, Nachgelassene Reden und Aufsätze, 1952,26. 59
gütigen Willen Gottes, der den Menschen als Paar erschuf (Gen 1,27), das zur Einswerdung bestimmt ist (Gen 2,24). Und so heißt es in der dritten Superthese (nach meiner Übersetzung): »Es ist ferner gesagt: Wer seine Frau wegschickt, der gebe ihr einen Scheidebrief (Dtn 24,1). Und ich sage euch: Jeder, der seine Frau wegschickt, außer wegen Untreue, der macht, daß an ihr die Ehe gebrochen wird, und zwar wer die Weggeschickte heiratet, der begeht Ehebruch« (Mt 5,31-32). Das bedeutet: Der Mann, der sich von seiner Frau scheidet, hat sie, die nun einen anderen heiraten kann, damit zum Ehebruch verleitet, denn »was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen« (Mt 19,9), wie Jesus es später gut biblisch erläutert. Ausgenommen ist jedoch die Untreue, denn durch sie wurde ja die Ehe schon de facto gebrochen und die göttliche Einung entzweit, so daß der Scheidebrief in diesem Fall den Bruch nur nachträglich bestätigt. Eine zerbrochene Ehe beizubehalten, so wird hier angedeutet, wäre ärger als die juridische Bestätigung ihrer schon vollzogenen Auflösung. Auch wenn in den beiden Parallelstellen (Mk 10,11 und Lk 16,18) der Hinweis auf den Ehebruch als gültiger Scheidungsgrund fehlt, besteht kein Grund, die Worte »außer wegen Untreue« als späteren Zusatz zu erachten, der Jesu ursprüngliche Aussage abzuschwächen beabsichtigt. Im Gegenteil: Damit wird hervorgehoben, daß die Ehe das festeste Band ist, das Menschen miteinander verknüpft. Sie ist sogar stärker als das Band zwischen Eltern und Kindern, denn um ihretwillen »wird der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden ein Fleisch sein« (Gen 2,24). Und da Gott den Menschen »als Mann und Frau« (Gen 1,27) erschuf, ist ein Junggeselle nach rabbinischer Lehrmeinung nur ein halber Mensch, der zur vollen Mens,chwerdung seiner anderen Ehehälfte bedarf (Jeb 63a). Beide zusammen sind nicht zwei, sondern ein »Individuum«, was ursprünglich »Unteilbares« bezeichnet, im Sinne von »eigenständig«, als eine gottgewollte Zwei-Einigkeit. Als Keimzelle 60
allen Zusammenlebens auf Erden ist die Ehe im Schöpfungsplan verankert, als unauflöslicher Bund, bei dem Gott selbst der Bundesmittler sein will. Im ersten Kapitel der Bibel heißt es nach den einzelnen Schöpfungstagen: »Und Gott sah, daß es gut war.« Nur nach der Erschaffung des Menschenpaares als Träger von Gottes Ebenbild heißt es: »Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe es war sehr gut« (Gen 1,31). »Ich will mich mit dir verloben für alle Ewigkeit«, sagt Gott zu seinem Volk in den Worten der ehelichen Angelobung, »ich will mich mit dir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Barmherzigkeit« (Hos 2,21) - wobei Gottesbund und Ehebund mit demselben feierlichen Worte »Brith« besiegelt werden. Da jede Eheschließung als heilig verstanden wird - sie heißt auf hebräisch Kidduschin, was »Anheiligung« bedeutet -, tritt Gott in der rabbinischen Überlieferung als erster Brautführer bei Adam und Eva auf (Gen. R. 8,8); als Trauzeuge bei jeder Hochzeit (Mal 2,14) und als unermüdlicher Ehestifter, denn jede glückliche Ehe gilt als eine Wundertat Gottes, die größer ist als das Spalten des Schilfmeeres (Pesikta
llb). Doch nicht jede Ehe ist glücklich, wie Jesus der Menschenkenner wußte, und da Gott dem Menschen die Freiheit zur Wahl zwischen Gut und Böse vom Anfang an eingestiftet hat (Gen 4,7), kann dieser sowohl Gott den Gehorsam verweigern (Gen 2,16f) als auch seinem Bundespartner die Treue brechen. Ehebruch heißt daher sowohl Polygamie als auch Zerstörung des geheiligten Ich-und-Du durch das gleichzeitige Eheverhältnis mit einer dritten Person. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei« (Gen 2,18). In diesem Gotteswort schwingt für die Hellhörigen auch mit: Zu dritt ist es noch ärger! Denn damit wird eine Person (oder mehrere) zur Stufe des Objekts herabgewürdigt, womit die Einzigkeit eines vor Gott geschlossenen Zweierbundes ebenbürtiger Partner zu einem Dreieck von leblosen, lieblosen Ich-Es-Beziehungen entartet: eine Entmenschlichung der heiligsten aller zwischenmenschlichen Bindungen. 61
»Wie könnte ich solch eine große Missetat begehen und gegen Gott sündigen!?« (Gen 39,9). So wehrt sich Joseph, »der Gerechte«, wie ihn der Talmud lobend nennt, gegen die Verführung des Weibes des Potiphar, wobei ein Zweifaches ausgesagt wird: Der von Joseph geforderte Ehebruch ist nicht nur ein Anschlag auf die Ehe als solche, sondern auch eine Sünde gegen den himmlischen Ehegründer . Wer solches tut, will J esus sagen, hat die Einehe, wie sie der Schöpfer zum ewigen Gesetz gemacht hat, gebrochen und geschieden. Daß die »Anheiligung« zweier Menschen zueinander auch dem deutschen Wort »Ehe« innewohnt, hat Martin Buber bewiesen. In einem seiner Briefe heißt es: »Wenn ein Freund heiratet, schlage ich gerne auf, was Jakob Grimm über die Ehe zu sagen hat, daß in dem gotischen Wort »aiva«, aus dem das deutsche Wort Ehe kommt, Ewigkeit und Gesetz dicht beieinander gewohnt haben, ehe sie zur »ewe« (Ewigkeit) und »e« (Gesetz) auseinander traten. Damit scheint mir noch mehr gesagt zu sein, als daß es in der Ehe um eine ewige Ordnung geht. Wir werden darauf hingewiesen, daß der Einzelne, der als Ganzes, als ehelich mit dem anderen sich verhält und den Bund mit ihm schließt, in einer besonderen, nur so sich öffnenden Weise den ewigen Charakter des menschlichen Daseins verspüren darf.« Das J esuswort, das zwar die Scheidung bis auf den Ausnahmefall der Untreue einschränkt, aber nicht verbietet, wird häufig von christlichenExegeten als (einziges) Beispiel benützt, umJesus als Tora-Veränderer darzustellen, der sich »über die Autorität des Mose setzt«. Aber auch wenn man den parallelen Versionen bei Markus (10,11) und bei Lukas (16,18) das Vorrecht auf jesuanische Ursprünglichkeit einräumen will, die beide auf der absoluten Unauflösbarkeit der Ehe bestehen, liegt kein Grund vor, die Entscheidung Jesu als einen Verstoß gegen die Tora zu deuten. Das Gegenteil liegt der Wahrheit viel näher, denn es war zu Jesu Zeiten landläufige Praxis der Rabbinen, Torastellen, die ihren zeitgenössischen Umständen widersprachen, so daß deren wortwörtliche Auslegung und Anwendung der ursprünglichen Intention zuwiderzulaufen drohten, mittels großzügiger Interpretationsnormen umzudeuten.
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Daß die Rabbinen den Willen Gottes als eine fortschreitende Liebesdynamik, nicht als ein festgeschriebenes Dokument erachteten, ergeht aus folgender Talmudperikope, die keineswegs des Humors und der Selbstironie entbehrt. In dieser Lehrparabel wird nachgedacht, was wohl Mose erfahren haben möge, wenn er tausend Jahre später in das Lehrhaus des Rabbi Akiba versetzt worden wäre: »Als Mose in die Höhe stieg (um die Tora zu empfangen), sah er den Herrn der Welt da sitzen und Kränze (oder Kronen oder >Häkchen<) um die Buchstaben der Tora winden. Da sprach Mose: Herr der Welt, wer hindert deine Hand! (Das heißt: Wer hindert dich, die Tora ohne diese Krönlein zu geben, deren Zweck es ist, eventuelle Verles- oder Abschreibefehler zu vermeiden?) Der Ewige erwiderte: Ein Mann wird zu Ende vieler Generationen erstehen, namens Akiba Ben J oseph, er wird dereinst über jedes dieser Häkchen ganze Haufen von Lehrgut vortragen. Da sprach Mose zu ihm: Laß mich ihn sehen! Er erwiderte: Wende dich um! Da setzte sich Mose stillsch~eigend in die achte (und letzte) Reihe des Lehrhauses und lauschte den Worten des berühmten Bibelauslegers. Aber trotz größter Aufmerksamkeit verstand er von dem, was da gelehrt wurde, so gut wie nichts - und er war darüber sehr bestürzt. Alsdann gelangte Rabbi Akiba zu einem umstrittenen Punkt, und einer der Schüler fragte den Meister, woher er denn das alles wissen wolle. Worauf Akiba mit der Überlieferungformel der Talmudväter antwortete: .Es ist eine Halacha (Lebensregel), die Mose am Sinai überantwortet worden ist. Als Mose diesen Schlußsatz hörte, atmete er auf und lehnte'sich beruhigt zurück« (Nach Menachot 29b). Was hier zwischen den Zeilen dieser prinzipiellen Erzählung ausgesagt wird, sind fünf Lektionen: 1. Der Beweis, daß die Weisen in Israel sich selbst nie allzu ernst nahmen, denn hier wird· zugegeben, daß sogar »Mose, unser Lehrer«, wie er in der Tradition respektvoll genannt wird, sich nie die ausgeklügelten Schriftauslegungen der späteren Rabbinen hätte erträumen lassen. Mehr noch: Er wäre gar nicht »mitgekommen«, wie hier halb verschmitzt gebeichtet wird. 63
2. Mose wird hier gründlich entmythologisiert, denn er versteht ja Rabbi Akiba nicht - auch nach dessen Schlußsatz, der sich auf den Sinai beruft. Mose, »der treue Knecht Gottes«, beruhigt sich nur deshalb, weil er stillschweigend annimmt, daß Gott, der ihm ja die Tora verliehen hat, vielleicht viel mehr in sie hineingeschrieben hat, als er, Mose, zu seiner Zeit verstehen konnte. 3. Hier steht demgemäß auch der Auftrag, weiter zu interpretierenwenn nötig, auch im Widerspruch zu Mose selbst, solange die »TheoLogik« es rechtfertigt. 4. Gleichzeitig ergeht jedoch eine Warnung gegen jedwede Über-Interpretation, die den Literalsinn ganz und gar verläßt, um sich in allzu kühne Allegorien zu versteigen. Das ist der Sinn der »Häkchen«, die als Vorsichtsmaßnahme gegen das Verdrehen von Buchstaben und Wortlaut gemeint sind. 5. Nicht zuletzt steht hier ein Fingerzeig auf die Vielschichtigkeit des Bibeltextes, die herausfordert zur ewigen B~fragung und Hinterfragung der Schrift, um ihre schier unauslotbaren Tiefen zu erkunden. Mit anderen Worten: Nicht der Wortlaut ist die letzte Instanz für die Lehrer des Judentums, sondern jene Urintention, die sich nur den Tiefschürfenden erschließt. Daher ist nicht Wortklauberei, sondern Sinnsuche das vornehmste Gebot der großen jüdischen Bibeldeuter, zu denen auch der Rabbi von Nazaret gehört. Und so gab es eine Lehrmeinung in der Schule HilleIs, daß ein (im jüdischen Tauchbad) getaufter, aber nicht beschnittener Heide als Voll-Proselyt zu gelten habe (Jeb 46a Bar) - obwohl Gen 17,12; Ex 12,48 und Lev 12,3 die Beschneidung zum unverzichtbaren »Zeichen des Bundes« machen. Ebenso wurde die Todesstrafe für ungeratene Söhne (Dtn 21,18-21) so restriktiv eingeengt, daß im Talmud mit Genugtuung festgestellt wird: »Es hat niemals einen widerspenstigen Sohn gegeben, noch wird es einen solchen geben« (Tos Sanh 11,6; Sanh 71a). Dasselbe gilt für die gebotene Zerstörung einer götzendienerischen Stadt (Dtn 13,13-17) von der der Talmud sagen kann: »Der Fall von der abtrünnigen Stadt ist nie geschehen und wird niemals gesche64
hen« (Sanh 71a). So wurden auch Sklaverei und Vielweiberei, die in der Bibel gang und gäbe sind, von den Rabbinen abgeschafft. Daß auch einzelne Rabbinen wesentliche Anderungen in der Anwendung von Tora-Satzungen veranlassen konnten, lernen wir von Hillel in seiner Umgehung des Schulderlaßjahres zu Gunsten der Armen, Witwen und Waisen (Schewiith X,3 f); in der Aufhebung des Genickbrechens des Kalbes als Sühnung eines Mordes von unbekannter Hand (Dtn 21,1-9) auf Grund der Initiative von Elieser Ben Dinai (Sota IX,8 f), und nicht zuletzt war es Rabbi J ochanan Ben Sakkai, dem das »Beenden« des Verfahrens »der Wasser der Bitternis« im Falle von Frauen, die des Ehebruches verdächtigt waren, zu verdanken ist (Num 5,11-31). Zur Begründung wird ein Prophetenwort zitiert: »Nicht werde ich es an euren Töchtern ahnden, wenn sie huren, und an euren Schwiegertöchtern, wenn sie ehebrechen, denn sie selber gehen mit Huren abseits« (Hos 4,14). Die Motivation der Aufhebung ist unzweideutig: Wenn die Männer selbst ehe brechen, entfällt der ursprüngliche Grund, demgemäß die Frau zur Zeremonie des Bitterwassertrinkens gezwungen wurde, um die Ehre des Mannes zu schützen oder wiederherzustellen. Wir haben es hier also, genau wie beim Jesuswort zur Scheidung, mit einer rabbinischen Entscheidung zu tun, die eine Torasatzung» beendet« oder einschränkt, um Frauen zu schützen, ihnen bessere Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und bibelwidrige Vorrechte abzubauen. Der Sinn all dieser U mdeutungen und Anderungen liegt auf der Hand: Wenn Torageist und Toratext einander zu widersprechen scheinen, geben die Rabbinen ohne zu zögern dem ersteren stets den Vorzug. - »Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer; an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer!« (Hos 6,6) - ist das Prophetenwort, auf das sich sowohl Jesus (Mk 9,13; Mt 12,7) als auch seine Lehrkollegen in ihren toragetreuen Neu-Interpretationen häufig berufen. Zum Tora-Vers» Wahret meine Satzungen und meine Rechtsvorschriften, die der Mensch erfüllt und durch sie lebt« (Lev 18,5), erklärt Rabbi 65
Jehuda: »Er lebe durch sie, doch er sterbe nicht durch sie« (b. Joma 85b; AZ 27b). Das daraus resultierende Grundprinzip lautet: »Lebensgefahr verdrängt den Sabbat« (b. Schabbat 123a), aber das gilt nicht nur für das Sabbat gebot, sondern für alle Verbote der Tora mit Ausnahme der drei Kardinalvergehen: Götzendienst, Blutschande und Mord (Maimonides, Hilchot J es sode Ha-Tora V,1-2.7). So überragt also die Heiligkeit des Menschenlebens so gut wie alle Satzungen der Tora, deren Geist der Lebensförderung von den Rabbinen der Vorrang vor allen Einzelbestimmungen eingeräumt wird. Allen Buchstabengläubigen erteilt Rawa im Talmud eine deutliche Rüge: »Wie dumm sind doch solche Menschen, die zwar vor einer Torarolle aufstehen, aber vor einem großen Toralehrer sitzen bleiben. Obwohl in der Tora doch von 40 Schlägen (als Prügelstrafe) geschrieben steht (Dtn 25,2 f), kamen unsere Weisen und haben sie um eins verringert« (Makkot 22b). Jesus ist also in seiner Einstellung zur Scheidung in bester rabbinischer Gesellschaft, denn die Leuchten Israels waren allesamt der Meinung des Paulus, die er in Korinth verkünden mußte, keineswegs in Jerusalern: »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2 Kor 3,6). Kurzum, das Judentum ist seit Abraham eine stetige Werde-Religion: U mdeutung, geistige Verdauung neuer Erfahrungen und die ewige Jagd nach der Wahrheit - das sind seine Grundzüge, die nur den Glaubenskern als ewige Mitte beibehalten, alles andere aber der Dynamik des Lebens unterordnen. Daher ist das Judentum Moses nicht identisch mit dem der Richterzeit, und dieses wiederum unterscheidet sich beträchtlich von König Davids Glaubensweise. Ihnen folgen die Wandlungen des Exils, der Rückkehrer aus Babyion, der Makkabäer, der Pharisäer und der Rabbinen, die allesamt weiter dachten, neu interpretierten und ihr Judentum unaufhörlich dem Geist ihrer Zeiten anzupassen wußten. Zu guter Letzt muß noch betont werden, daß weder die Scheidung noch das Bitterwasser-Trinken und schon gar nicht die Steinigung widerspenstiger Söhne ein Gebot darstellen, dem es zu gehorchen gilt, 66
sondern Rechtsordnungen beinhalten, die eher abschrecken sollen als befolgt werden wollen; die mehr Zugeständnis an Menschenschwäche als Auftrag von oben enthalten; »um eurer Herzenshärte willen«, wie Jesus vom Scheidungsbrief mit Recht sagt (Mt 19,8). Doch um Jesu Auseinandersetzung mit dem Scheidungsrecht seiner Zeit richtig zu verstehen, bedarf es eines geistigen Zurücksteigens in jene historischen Umstände des Berglehrers und seiner Bibelauslegung. Die Ehescheidung wird in der Bibel J esu dem Ethos der Frühzeit Israels gemäß geregelt. Dem Manne wird, wenn auch zögernd, das Recht zugebilligt, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, allerdings nur nach Aushändigung eines gültigen Scheidebriefes (Dtn 24,1 ff). Der vieldeutige Grund dafür lautet: »Wenn er etwas Schimpfliches an ihr entdeckt.« Darüber entbrannte ein legitimer Streit unter den Toraauslegern, deren Einstellungen in so manchen Argumenten geradezu modern anmuten. Rabbi Schammai lehrte eine Generation vor Jesus, daß nur dann einer Scheidung zuzustimmen sei, wenn ein erwiesener Ehebruch vorliege. Das »Schimpfliche« (oder: Schändliche) aus dem Fünften Buche Moses ist für ihn einzig und allein die Untreue, die er als alleinigen Scheidungsgrund gelten läßt. Seine Schule beruft sich auf den Propheten Maleachi, der die Scheidung zur gottwidrigen Sünde erklärt. Und so heißt es in diesem Sinne im Talmud: »Rabbi Elieser sagte: Über den, der sich von seiner ersten Frau scheidet, vergießt sogar der Altar Tränen, denn es heißt: Und dies tut ihr zum zweiten: nämlich den Altar des Herrn mit Tränen bedecken, mit Weinen und Stöhnen, so daß er sich nicht mehr zum Opfer wendet und nichts mit Wohlgefallen aus eurer Hand nimmt (MaI2,13). Und ihr sagt: Warum? Darum, >weil der Herr Zeuge gewesen ist zwischen dir und der Frau deiner Jugend, an der du treulos gehandelt hast. Und sie ist doch deine Gefährtin und die Frau deines Bundes< (MaI2,14)« (Sanh 22,a). Die Schule Hillels hingegen ging in ihrer Auslegung von einer aramäischen Übersetzung des Buches Deuteronomium aus, in der »das Schimpfliche« mit» Übertretung eines Wortes« wiedergegeben wird. 67
Diese» Übertretung« wurde als Gehorsamsverweigerung verstanden, die bald auf den Bruch einer der Ehebedingungen, auf die Übertretung eines Toragebotes durch die Frau oder ein Verhalten, das geeignet war, ihren Gatten -in einen bösen Ruf zu bringen, erweitert wurde. Seit der ausgehenden Königszeit kam es in der Praxis dennoch zu einer schritt weisen Erschwerung der Scheidung - zu Gunsten der Frau und einer eventuellen Rettbarkeit der gefährdeten Ehe. Um den Gatten von einem leichtsinnigen Schritt zu bewahren, wurde eine komplizierte Prozedur betreffs Wortlaut, Herstellung und Übergabe des Scheidebriefes eingeführt; jeder Frau wurde bei der Hochzeit ein Ehevertrag überreicht, in dem ihr im Scheidungsfall eine beträchtliche Abfindungssumme zugesprochen wurde, und der Frau wurde das Recht verbrieft, im Falle von Krankheit, etwaiger »Leibesfehler« ihres Mannes oder »Widerwärtigkeiten« als Folge seines Berufes, die Auflösung ihrer Ehe zu fordern. So heißt es z. B. betreffs der bei der Hochzeit festzulegenden Abfindungssumme: »Am Anfang verschrieben sie einer Jungfrau 200 Sus und einer Witwe eine Mine (100 Sus); da wurden die Männer alt und konnten keine Frauen heiraten. Da ordneten die Rabbinen an, daß sie diese (die im Ehevertrag genannte Geldsumme) im Haus ihres Vaters hinterlegen sollen. Aber immer noch konnte er zu ihr sagen, wenn er über sie zornig war: Geh zu deiner Eheverschreibung (die im Hause ihrer Eltern deponiert war). Da ordneten die Rabbinen an, daß sie diese im Hause ihres Schwiegervaters hinterlegen sollen. Die Reichen machten sie zu Silber- oder Geldkörbchen, die Armen machten sie zu einem Uringefäß. Aber immer noch konnte er zu ihr sagen, wenn er über sie zornig war: Nimm deine Eheverschreibung und geh fort! Bis Schirnon, Schetachs Sohn, kam und anordnete, daß er ihr verschreiben müsse: Alle meiner Güter haften für ihre Abfindungssumme« (Ket 82b). Durch diese Anordnung Rabbi Schimons um das Jahr 100 vor der christlichen Zeitrechnung ist einerseits die Ehescheidung erschwert und andererseits die Sicherheit für die Eheverschreibung gewährleistet worden; durch beides aber wurde die rechtliche Stellung der Frau gestützt. 68
Als sich die Scheidungsgegner mehrten, wuchs die Zahl der Loblieder, die den guten Ehemann verherrlichen, wie z.B.: »Über den, der seine Frau wie sich selbst liebt und mehr als sich selbst ehrt und seine Söhne und Töchter auf den rechten Weg leitet ... , spricht die Schrift (Ijob 4,24): >Und du wirst erfahren daß deine Hütte Frieden hat<<< (Jeb 62b). Ebenso hoben die Rabbinen die Leidenskraft schwergeprüfter Gatten hervor: »Drei sehen das Fegfeuer nicht (weil sie die Hölle schon auf Erden hatten): Wer zu schaffen hat mit drückender Armut, mit Unterleibsleiden ... und wer ein böses Weib hat ... , wer jene Leiden aus Liebe auf sich nimmt, gewinnt Sühnekraft, die ihn vor der Hölle bewahrt« (Erubin 41b Bar). Zur selben Zeit mehren sich im rabbinischen Schrifttum auch die Aussprüche gegen die leichtfertige Scheidung: »Dem, der leichtfertig seine Frau verstoßen will, sei gesagt: Bereite nichts Böses wider deinen Nächsten, während er in Vertrauen bei dir weilt (Spr 3,29); ... ebenso: Ich hasse Scheidung, spricht der Herr (Mal 2,16); ... brechet daher nicht die Ehetreue!« (Gittin 90a bis b). »Rab Schamen Ben Abba sagte: Komm und sieh, wie hart eine Scheidung ist: Dem König David erlaubte man, mit Abischag zusammen zu leben (lKön 1,1 ff); aber man erlaubte ihm nicht, eine von seinen 18 Frauen zu verstoßen« (Sanh 22a). Letztlich wurde auch darauf hingewiesen, daß einer, der sich der Scheidung entsagt, zu den Nachahmern Gottes gezählt werden kann: »Wenn ein Mann eine Frau geheiratet hat und an ihr irgendetwas Schimpfliches gefunden hat ... , kann er ihr einen Scheidebrief ausstellen (Dtn 24,1,3 und 4) ... aber nicht so handelt der Heilige, gepriesen sei er, denn, obwohl Israel ihn verlassen hat und anderen huldigte, sagt er zu ihnen: Tut Buße und kehrt zu mir zurück, und ich will euch wieder aufnehmen (Jer 3,1).«26 Schon früh haben sich die rabbinischen Scheidungsgegner auf das Bibelgesetz zum Schutz vergewaltigter Frauen berufen, wo es heißt: »Wenn jemand eine Jungfrau trifft, die nicht verlobt ist, und er er26
Pesihta Rabbati 184a; vgl. Jama 86b.
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greift sie und wohnt ihr bei ... , so soll er ihrem Vater 50 Silberstücke zahlen und soll sie zur Gattin nehmen ... Er darf sie nicht entlassen sein Leben lang« (Dtn 22,28f; vgl. Ex 22,15). Wenn also der Mann eine Vergewaltigte, die er wider Willen heiraten muß, nicht entlassen darf - um wieviel weniger die Gattin seiner freien Wahl, der er bei der Trauung ewige Treue zugeschworen hat, »als der Herr Zeuge war zwischen dir und dem Weib deiner Jugend« (Mal 2,14). So folgerten einige der Schamaiten. Und dennoch ist es gerade die Vielzahl der Stimmen, die sich damals gegen die Scheidung erhoben, die Mannigfaltigkeit ihrer Argumentation und ihre oft leidenschaftliche Beweisführung, die den Eindruck erwecken, daß es nicht an Hilleliten fehlte, die in ihrer Erleichterung des Scheidungsvollzuges zum Teil lax bis zur Frivolität zu urteilen bereit waren (Ket VII,6). Vor dem Hintergrund dieser konstruktiven Schulkontroverse, aus der sich erst 150 Jahre später eine Synthese in Form des verpflichtenden Scheidungsrechtes herausschälen sollte, müssen wir Jesu Lehrgespräch mit einigen Pharisäern lesen, über das uns Matthäus berichtet: »Da traten Pharisäer an ihn heran, die ihn auf die Probe stellen wollten, und legten ihm die Frage vor: >Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund entlassen (oder sich von seiner Frau scheiden lassen)?< Er aber antwortete ihnen: >Habt ihr nicht gelesen (Gen 1,27), daß der Schöpfer die Menschen von Anfang an als Mann und als Frau geschaffen hat und gesagt hat (Gen 2,24): >Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und beide werden ein Fleisch sein!?< Also sind sie nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was somit Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. >Warum hat denn Mose geboten (Dtn 24,1), der Frau einen Scheidebrief auszustellen und sie dann zu entlassen?< Er antwortete ihnen: Mose hat euch (nur) mit Rücksicht auf eure Hartherzigkeit gestattet, euch von euren Frauen zu scheiden. Aber von Anfang an ist es nicht so gewesen. Ich sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet - außer wegen Untreue - und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch« (Mt 19,3-9). 70
Von dem runden Dutzend von stilistischen Einzelheiten, die hier die Hand des griechischen Redaktors erkennen lassen, seien nur zwei erwähnt: Kein Jude hätte je von einer Torasatzung behauptet, daß sie von Mose geboten sei (Mt 19,8), da es zum Glaubenskern des Judentums gehört, die Tora als gottgegeben zu erachten, nicht als legislatives Werk des Moses. Ebensowenig wurde »geboten«, Scheidebriefe auszustellen, sondern dieses wurde lediglich »erlaubt«, wie J esus mit Recht korrigiert. Auf Anhieb scheint es, als ob Jesus der Frage der Pharisäer, wie sie auch in der Mischna (Gittin IX,10) gestellt wirq, auszuweichen versucht. Doch dem ist nicht so. Um den Willen Gottes zu erkunden, greift er auf den Schöpfungsbericht zurück, um ihn dann mit dem im Fünften Buche Moses bewilligten Scheidebrief zu vergleichen. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Gott hat der Menschenschwäche nachgegeben und seinem Knecht Mose erlaubt, »um eurer Hartherzigkeit willen« die Hintertüre des Scheidebriefes einzuräumen genau wie über 1000 Jahre später der Maimonides die Einführung des Tieropferdienstes erläuterte (Moreh Nebuchim 3:26-49). Doch auch in der Bibel Jesu selbst ist der Gedanke göttlicher Zugeständnisse wegen menschlicher Unzulänglichkeit keineswegs einmalig. So z. B. ist der Fleischverzehr seit der Sintflut eine Konzession an das Trachten der Menschen (Gen 9,2-4). Die Einrichtung des Königtums in Israel geschah gegen den Willen Gottes, der dem eindringlichen Wunsch der Kinder Israels nachgab (1 Sam 8,7-9). Auch der Tempelbau in Jerusalem war ursprünglich ein Begehren Salomos, dem Gott zu guter Letzt stattgab (1 Kön 8,2-7 und 9,3). Für all diese göttlichen »Kompromisse« gilt das Rabbinenwort zu Ps 94,15, das Gott sagen läßt: »Hartherzig ist der Mensch zu seiner Stunde, darum lasse ich ihm Zeit, denn wenn er Buße tut, so nehme ich ihn wieder auf« (Midrasch Tehillim zu 94,4). Eben diese Buße, im hebräischen Ursinn als »Rückkehr« zu Gott und seinem Heilsplan, ist aber d~r Gegenstand der jesuanischen Predigt (Mk 1,15 et al), die nichti anderes bezweckt als der häufige Mahnruf Moses: »Legt ab eure Hartherzigkeit und seid hinfort nicht 71
halsstarrig!« (Dtn 10,16). Was in der rabbinischen Auslegung besagen will: Nehmt euch die Gebote Gottes zu Herzen und erfüllt sie, dem Willen Gottes gemäß! Ja, es gilt als das Ziel der Pädagogik Gottes, »sein Gesetz in ihr Herz zu legen und in ihren Sinn zu schreiben« (J er 31,33), so daß die Erfüllung von Gottes ursprünglichem Willen nicht mehr des äußeren Zwanges bedarf, sondern ein innerer Drang sein wird. Den ursprünglichen Willen Gottes aber findet J esus, wie viele andere Rabbinen, am Anfang seiner Bibel, vor dem ersten Sündenfall. Diesen Schöpferwillen belegt Jesus mit drei Zitaten aus dem Buche Genesis, in dem die Zweiheit aller Geschöpflichkeit dargestellt wird: Himmel und Erde; Sonne und Mond; Tag und Nacht; Licht und Finsternis; Wasser und Festland; und zuletzt: Mann und Frau - die einander ergänzen sollen, um in der Einswerdung der ehelichen Liebe ihre Vervollkommnung zu erfahren. »Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden«, sagt Jesus gut rabbinisch; aber der Mensch kann es scheiden, wie der Mißbrauch der Schöpfung, der Abfall von Gott und nicht zuletzt die Ehescheidung seit dem Sündenfall bewiesen haben. Diese Macht der Sünde hat auch die Harmonie des Ein-Fleischwerdens in einen Kampf der Geschlechter von Siegen und Unterliegen, von Herrsein und Hörigkeit verwandelt, die die Schöpfungsordnung zur Schöpfungszerstörung ausarten ließ. »Aber vom Anfang an ist es nicht so gewesen.« In diesem Jesuswort schwingt nicht nur die Wehmut über alles nach-sintflutliche Übel mit, sondern auch die unstillbare Sehnsucht nach jenem yottesreich, das den Zustand der Urzeit wieder herstellen wird: unverfälschte Liebe, Sündenfreiheit, Gottes Gegenwart und ein Ende für allen Frevel auf Erden. Was einst war, soll wieder sein: Die Unschuld des Paradieses wird zum Traum der »Späte der Tage« erhoben, in der der letzte Adam die Schuld des ersten durch vollkommene Reue und Rückkehr tilgen wird. Diese Verschmelzung der Zeitenfolge liegt dem hebräischen Sprachgeist nahe, der ja keine Tempora im durativen Sinn wie das Griechische, Lateinische und Deutsche kennt. »Es war« und »es wird sein« ähneln einander im Idiom der Bibel so sehr, daß oft nur der Zusam72
menhang sinngemäß zwischen dem Schon-Gewesenen und dem Noch-nicht-Seienden unterscheidet, in einer ewigen Gegenwart, die zur Brücke aller Zeiten wird. Um die Ankunft dieser Urzeit-Endzeit zu beschleunigen, wird vom Menschen, als Mitarbeiter Gottes, ein' einendes Verhalten gefordert, das alle Entzweiung - in Form der Scheidung - als menschenunwürdig verwirft, um Gottes Zusammenfügung in ihrer ganzen Fülle zu verwirklichen. Doch J esus war nicht nur ein Künder der Endzeit, sondern ein erdgebundener Realist, der Brücken schlagen wollte zwischen der Vision von morgen und der heutigen Gegenwart. Und so tut er es seinem Schöpfer nach, indem er Konzessionen macht. Das Ergebnis ist Jesu radikale Einschränkung der Scheidung auf den Fall der ehelichen Untreue - im Sinne der erschwerenden Auslegung der Schule des Rabbi Schammai. Ihr sollt nicht schwören
Die vierte Superthese handelt vom Schwur: »Ferner habt ihr gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: >Du sollst keinen Meineid schwören, sondern du sollst dem Herrn deine Schwüre halten!< (Ex 20,7; Num 30,3; Dtn 23,22). Und ich sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße, noch bei J erusalem, denn sie ist die Stadt des Großen Königs. Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören, denn du kannst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Euer Ja sei ein Ja; euer Nein ein Nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen« (Mt 5,33-37). Die jüdische Überlieferung unterscheidet zwischen einem Zeugniseid zur Bekräftigung oder Ablehnung einer Zeugenaussage vor Gericht; einem Reinigungseid von Schuldnern, die einen Teil der gegen sie gerichteten Forderung ableugnen; Eidschwüre und Gelübde, die man sich vor Gott als Selbstverpflichtung auferlegt (Num 30,3 undDtn 23,22ff), oder Beteuerungen, die man durch Erwähnung Gottes glaubwürdiger zu machen hofft, wie etwa das Wort der Sunamiterin: »So wahr der Herr 73
lebt und beim Leben meiner Seele, ich lasse nicht von dir!« (2 Kön 4,30). Für alle aber gilt das Bibelwort: »Wenn du überhaupt das Geloben unterläßt, so wird keine Schuld auf dich fallen« (Dtn 23,23). Kohelet, der weise Prediger, bekräftigt dies: »Es ist besser, daß du nicht gelobest, als daß du gelobest und nicht erfüllst« (Koh 5,4). Die frühen Ausleger untermauerten diese Eid-Abstinenz, indem sie einen moralischen »Zaun um die Tora« errichteten: »Mose sagte zu Israel: Glaubt nicht, daß ich euch bei seinem Namen selbst in Wahrheit zu schwören erlaubt habe. Wenn ihr alle diese Eigenschaften (Gottesfurcht und Gottesliebe, Ehrlichkeit, Torakenntnisse etc.) besitzt, dürft ihr einen Schwur leisten. Wenn nicht, so habt ihr kein Recht dazu« (Tanchuma Wajikra 7). Die Rabbinen gingen einen Schritt weiter und warnten mit N achdruck vor der verzögerten Erfüllung von Gelübden: »Wer gelobt und sein Gelübde verzögert, der gerät schließlich in Götzendienst, Unzucht, Blutvergießen und Verleumdung. Von wem lernst du dies alles? Von Jakob, unserem Vater: Weil er gelobte (Gen 28,20-22) und sein Gelübde verzögerte, geriet er in sie alle: Götzendienst (Gen 35,2), Unzucht (Gen 34,1), Blutvergießen (Gen 34,25) und Verleumdung (Gen 31,1)« (Lev R 37). Da die Rabbinen schon sehr früh alle Gotteserwähnungen beim Schwur als Mißbrauch des heiligen Namens im Sinne von Ex 20,7 verpönten und dem nichtigen oder falschen Schwur gleichsetzten (Lev 19,12), gingen viele dazu über, Gottesumschreibungen wie etwa der »Gnädige«, der »Barmherzige«, oder der »Langmütige« beim Geloben zu benützen. Als auch dies verboten wurde, ließ man bei Beteuerungsschwüren das Wort »Schwur« fort, und sagte einfach: »beim Himmel«; »beim Tempel«, »beim Bunde«, oder »beim Heiligtum« (d. h. J erusalem). Auch die Flucht in solche Ersatzformeln verpönt J esus, indem er klarstellt, daß keine dieser Abschwächungen der Allgegenwart Gottes zu entgehen vermöge. Schließlich ist ja der Himmel sein Thron (Ps 11,4), die ganze Erde der Schemel seiner Füße (Jes 66,1) und Jerusalem seine Stadt (Ps 48,3). Bei 74
was immer ihr auch geloben wollt, so warnt er die Leichtsinnigen, ihr bekommt es ganz unausweichlich mit Gott selbst zu tun. Ja, sogar sein eigenes Haupt gehört nicht dem Schwörenden, »denn von dir, Herr, kommt alles, und von deiner Hand haben wir dir gegegeben«, wie König David in seinem Dankgebet sagt (1 Chron 29,14) - eine biblische Binsenwahrheit, die die Rabbinen bekräftigen: »Gib Gott von dem Seinigen, denn du und all das deinige gehören ja ihm!« (Abot III,8). Zu Ende gedacht, kann dieses Ernstnehmen Gottes nur zu einer Schlußfolgerung führen: im Verzicht auf den Eid zur wahren Ehrung des Schöpfers und seiner Schöpfung beizutragen. Denn, zutiefst gesehen, führt ja alles Schwören zu einer inflationären Entwertung aller Rede, die dadurch unterschwellig in zwei Kategorien aufgeteilt wird: was durch die Berufung auf Gott bekräftigt wird - und was ohne solche Beteuerung ausgesagt wird. Wenn aber nur die ersteren Aussagen unbedingt wahr sind, so gilt alles andere nur als relativ wahr, als halb-wahr oder gar als wahr-scheinlich. Damit wird nicht nur das Gewissen unnötig strapaziert, sondern auch das gegenseitige Vertrauen von Hörer und Sprecher leidet Einbuße, womit dem Zweifel, der Heuchelei und der Lüge Tür und Tor geöffnet werden. Wenn aber Schimpfworte wie »Narr« und »Hohlkopf« imstande sind, Rufmord zu begehen und hiermit die Nächstenliebe töten können (Mt 5,21-22), so gefährdet die Zerteilung aller Rede in ))zwei Wahrheiten« jenes Urvertrauen, das die klimatische Vorbedingung für alles menschliche Zusammenleben ist. Die Zweischneidigkeit der Zunge, die Liebe und Haß, Gedeih und Verderb verursachen kann, beschreibt Jakobus ganz im Sinne seines Bruders: ))Die Zunge ist nur ein kleines Körperglied und rühmt sich dennoch großer Dinge. Und wie klein kann ein Feuer sein, das einen großen Wald in Brand steckt ... Mit der Zunge preisen wir den Herrn und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die als Ebenbild Gottes erschaffen sind. Aus ein und demselben Mund kommen Segen und Fluch« (Jak 3,5ff). Um unabdingbares Vertrauen und Glaubwürdigkeit als Grundlage 75
einer neuen redlichen Form von Gemeinschaft zu gewährleisten, bedarf es also einer Bezähmung der Zunge, einer Vermeidung aller Zweideutigkeit, des Abschneidens aller Fluchtwege für die Abweichler und Ausweichler, der Verbindlichkeit aller Rede und, nicht zuletzt, des Bewußtseins, in allem, was man zum Nächsten sagt, vor Gott und unter Gott zu stehen, dem die ganze ungeteilte Wahrheit zusteht. Auffallend ist die Ähnlichkeit, mit der die Schlußfolgerung daraus von verschiedenen Lehrern und Gruppen im Judentum formuliert worden ist. Bei Jakobus klingt es wie ein Echo aus der Berglehre: »Vor allem, Brüder, schwöret nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde noch irgendeinen anderen Eid, es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein, damit ihr nicht unter ein Gericht fallt« (Jak 5,12). So verhielten sich auch die Essener, mit denen Jesu Lehre, wie bekannt, etliche Verwandtschaft aufweist: »Zu schwören weigern sie sich, denn sie erachten es schlimmer als Meineid; sie sagen nämlich, wer gegen Treue und Glauben verstößt, ist schon gerichtet, auch ohne die Zeugenschaft Gottes.«27 Wie eine Kurzfassung des J esuswortes muten eine ganze Reihe von rabbinischen Aussagen an. So etwa bedient sich Rabbi Jose Ben Jehuda eines Wortspiels mit Bezug auf Lev 19,35, um festzustellen: »Die Tora lehrt dich, daß dein Ja aufrichtig sein muß und dein Nein aufrichtig sein muß« (BM 49a). Abaje fügt dem hinzu - gegen alle JeinSager: »Man soll nicht eins mit dem Munde, und ein anderes mit dem Herzen reden« (BM 49a). Für die Unabdingbarkeit und Klarheit der Wahrheit plädiert Rabbi Hunna: »Das Ja der Gerechten ist ein Ja, und das Nein der Gerechten ist ein klares Nein« (Mi drasch Ruth 3,18). In einer rabbinischen Erläuterung zum Zehngebot lesen wir: Die Kinder Israel antworteten bei der Verleihung der Tora zu Füßen des Sinai auf das Nein (der Verbote) mit Nein; und auf das Ja (der Gebote) mit einem Ja« (Mechilta Ex 20,1). 27
Flavius Josephus, Der Jüdische Krieg II,8,6.
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Ein Vorbild für schlichte Eindeutigkeit gibt uns Rabbi Eleasar: ))Nein ist ein Schwur und Ja ist ein Schwur« (Scheb 36a). Dieser Spruch ist zur Richtschnur aller strenggläubigen Juden geworden, die bis heute auch vor Gericht, anstatt zu schwören, ihre Zustimmung einfach mit ))Ja« bekräftigen. Anders verhalten sich jedoch viele gläubige Christen, wie der katholische Theologe Adolf Holl mit Bezug auf Jesu Schwurverbot berichtet: ))Die Radikalität dieser möglicherweise von Jesus tatsächlich ausgesprochenen Forderung wird ohne weiteres daraus ersichtlich, daß sie sich auch innerhalb des Christentums nicht durchzusetzen vermochte. Bis heute wird bei bestimmten Gelegenheiten ein Eid verlangt, unter anderem vor Gericht, und geschworen wird vor dem Kruzifix - dem Bilde dessen, der vom Schwören nichts wissen wollte.«28 Wie dem auch sei, als Zwischenbilanz können wir nun festhalten: Wenn es bei dem verschärften Verbot des Tötens, einschließlich des Rufmords, um die Heiligkeit des Menschenlebens und der Menschenwürde ging; wenn es sich beim Schutz der Ehe um die Heiligung der Familie als Keimzelle der menschlichen Gesellschaft handelt, so geht es beim Schwurverzicht um die Aufrechterhaltung der Wahrheit als Grundlage der jüdischen Gotteslehre. Doch die Wahrheit der jüdischen Bibel ist nie etwas Abstraktes oder eine starre Schablone, sondern ein lebendiges Geschehen zwischen Menschen. Sie ist kein Wahrheitsfanatismus, der Präzision und Pedanterie zur Tugend erhebt, sondern ein Wahr-Sein und ein Wahr-Leben, das zum ))Tun der Wahrheit« (Joh 3,21) aufruft. Sie wird gelegentlich durch Verschweigen oder durch eine lebensfördernde Notlüge mehr geehrt als durch ein rücksichtsloses Um-die-Ohren-Hauen der Wahrheit, die den Nächsten kränkt und das eigene Rechthaben bestärkt. Wahrheit, die nicht aus der Liebe fließt und Liebe mehrt, ist Zungensünde und inhuman. Denn ungleich der griechischen Wahrheit, die auf intellektueller 28
Jesus in schlechter Gesellschaft, Stuttgart 1971,38.
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Grundlage fußt, ist die »Hebraica Veritas« (»emet«) vor allem im Ethos der Schrift verankert, die ihr eine unverzichtbare theologische Dimension verleiht. Daher legen die Rabbinen drei Bibelstellen vor, in denen der Bibeltext um des Friedens willen »geändert« wurde: »Groß ist der Friede, denn um seinetwillen hat Gott den Vorfall mit der Sarah (Gen 18,13) in der Schrift geändert. )Sollte ich wirklich gebären, da ich doch alt geworden bin?< So gibt Gott vor Abraham die Worte Sarahs wieder, die nach Gen 18,12 lauteten: )Da doch mein Herr (Abraham) alt ist.< Gott änderte den Wortlaut, auf daß Abraham nicht auf Sarah erzürne, also: um des Ehefriedens willen. Groß ist der Friede, denn um seinetwillen wird der in Heiligkeit geschriebene Gottesname im Wasser ausgewischt (Num 5,23); um die des Ehebruchs Verdächtigte mit ihrem Gatten zu versöhnen und so den Ehefrieden wiederherzustellen. ))Groß ist der Friede, denn um seinetweillen hat die Schrift die Worte eines Engels geändert.« (Das bezieht sich auf Ri 13,3, wo der Engel der Frau des Manoach sagt: ))Du bist unfruchtbar und hast nicht geboren«, was er dem Manoach selbst (Ri 13,13) hingegen später verschweigt.) Wenn in diesen drei Fällen der Ehefrieden als wichtig genug erachtet wurde, um sogar einen freien Umgang mit der Wahrheit in der Schrift zu rechtfertigen, um wieviel größer ist dann die große Wahrheit des Völkerfriedens als die kleinkarierte Buchstabenwahrheit der Haarspalter!29 ))Alle Gebote des Herrn sind Wahrheit« (Ps 119,86); seine Wahrheit ))reicht soweit die Wolken gehen« (Ps 36,6); sie ist ))Schirm und Schild« (Ps 91,4) für alle, die ihn suchen, und mit ihr ))wird er die Völker richten« (Ps 96,13). Sie ist es, die ohne Schwur und Eid zustande kommt, wo immer ))Güte und Treue einander begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen« (Ps 85,11). 29
Vgl. Num 6,26 und Perek Ha-Schalom.
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Wenn wir zum Abschluß dieser Wahrheit dienen wollen, so muß kurz und bündig festgestellt werden, daß bei dem Schwurverbot J esus nichts Neues gebracht hat, keine Rede von einer Antithese oder von einer Superthese sein kann, wohl aber ein weiterer Beweis vorliegt, daß der Rabbi von Nazaret mit beiden Beinen fest auf rabbinischem Boden stand.
Das höhere Recht Die letzten beiden Superthesen, die vom Widerstandsverzicht und der Feindesliebe handeln, gehören inhaltlich zusammen, als Doppelkrone des jesuanischen Leitprogramms für die gottgewollte Humanisierung dieser Erde. Wer unsere gesamte Weltgeschichte überschaut, kann drei Hauptepochen im Fortschritt menschlichen Zusammenlebens unterscheiden. Der Zweifüßler beginnt seine Karriere unter der Vorherrschaft der Gewalt, die die Koexistenz zu einer Zweckgemeinschaft der Notwehr machte, um das nackte Überleben zu gewährleisten. Lang und blutig war der Weg vom Faustrecht zum Recht der Ebenbürtigkeit, das kein Ansehen der Person anerkennt, um »gleiches Recht für alle« zu proklamieren. Doch auch dieses hart erkämpfte Recht, das zum abstrakten Prinzip wurde, um parteiliche Vorurteile auszuschalten, kann, wie alle Theorie, zum Unrecht werden, das zum Haß, zum Zorn und Krieg zu führen pflegt. Auch es bedarf letztlich der Staatsgewalt, um sich durchzusetzen. Und so kam man zur Einsicht, daß wahre Gerechtigkeit einer transjuridischen Tiefendimension bedarf, auf daß das Recht zum wahren Recht werde. Aus ihr entsprang jene hebräische »zedakah«, die Gnade vor Justiz ergehen läßt, indem sie dem anderen jenes Vorrecht zugesteht, das nur die Liebe geben kann. Es ist die hoffnungsvolle Erkenntnis, daß es nicht genügt, aus dem brutalen Gegeneinander ein gleichgültiges Nebeneinander zu machen, denn der Mensch hat es in sich, zum fruchtbaren Miteinander aufzurücken, das in einem liebevollen Füreinander gipfeln kann. 79
Denselben Grundgedanken greift Rabbi S. R. Hirsch auf, der Gründer der Neo-Orthodoxie im Frankfurt des 19. Jahrhunderts, wenn er in Auslegung von J es 53,8 die Auffassung vertritt, das jüdische Volk sei dazu bestimmt, durch Machtlosigkeit und Passivität Einfluß auf die Völkerwelt auszuüben. Besitz und Macht sollen nicht mehr die maßgebenden Faktoren der Staaten und der Gesellschaft sein, indem an Stelle von Gewaltpolitik eine Theopolitik treten solle, die nur von ethischen Prinzipien geleitet wird, wie sie im biblischen Ideal der Theokratie der Liebe zum Ausdruck kommen (Gesammelte Schriften, Frankfurt 1920, Band II, 187-202). Dieser gewaltlosen Liebe, die zur Großmacht des Herzens heranreifen kann, um alte Herrschaftsverhältnisse durch Dienst und Bruderschaft zu ersetzen, ist das Kernstück der Berglehre gewidmet. Die drei radikalen Forderungen nach Gewaltverzicht, aus denen es besteht, gipfeln im Gebot der sogenannten »Feindesliebe«, das wohl am häufigsten zitierte, jedoch am wenigsten praktizierte J esuswort im ganzen Neuen Testament. Da es hier um die Spitzenaussage jesuanischer Ethik geht, die auch mit Recht als Prüfstein der »besseren Gerechtigkeit« gelten darf, wollen wir unsere Überlegungen mit ihr beginnen: »Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind. Und ich sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,43-45). Der erste Satz dieser wohlbekannten Stelle enthält ein biblisches Zitat (Lev 19,18), das Jesus anderswo auch als »das vornehmste« oder »das erste Gebot« hervorhebt (Mk 12,29ff par) und zwar in Beantwortung der prüfenden Frage eines Schriftgelehrten nach Jesu Glauben (Mk 12,28). Doch trotz der doppelten Präambel »Ihr habt gehört« und »daß gesagt worden ist«, die im rabbinischen Sprachgebrauch stets zur Einleitung eines Gotteswortes aus der Tora dienen, wird hier die Nächstenliebe bis zur Entstellung verkürzt. 80
Der Evangelist halbiert nämlich das hebräische Gebot, indem er sowohl das unverzichtbare Prädikat »wie dich selbst« als auch das wesentliche Schlußwort »ich bin (Gott) der Herr« (Lev 19,18) entfallen läßt. J esus hat diese beiden Satzteile sicherlich nicht vergessen, denn einer, der da sagt: »Bis Himmel und Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota von der Tora vergehen« (Mt 5,17), der ging sehr umsichtig mit seiner Heiligen Schrift als dem Worte Gottes um. Diese Textlücken zerstückeln jedoch nicht nur ein wohlbekanntes Bibelwort, das von etlichen Talmudvätern als »kelai« oder »Schlüssel« zur Tora anerkannt wurde, sondern berauben auch die Nächstenliebe ihrer vertikalen Komponente, in der ihre theologische Begründung liegt. Denn nur aus dem Begriff der Einheit Gottes läßt sich die Nächstenliebe einleuchtend erklären, wie die Theo-Logik der Rabbinen es bezeugt: Auf daß die Nächstenliebe nicht in rein horizontale Nutznießerei, in eine gottlose Genossenschaft von ungläubigen, wenn auch weitsichtigen Egoisten ausarte, bedurfte es des Zusatzes: Ich bin (Gott) der Herr. Denn nur unter der gemeinsamen Vaterschaft Gottes hat eine Nächstenliebe als Bruderschaft von Mitmenschen Sinn und Bedeutung. Daß Gottes Einzigkeit und seine Liebe unzertrennlich verbunden sind, entnimmt J oseph Albo, einer der großen Religionsphilosophen des Spätmittelalters, aus der Tatsache, daß die beiden hebräischen Worte für Liebe (ahawah) und einzig (echad) den gleichen Zahlenwert von dreizehn besitzen. Dreizehn ist aber die Zahl der Attribute Gottes in seiner Selbstoffenbarung (Ex 34,6-7), wobei all seine Eigenschaften im Inbegriff der freien, unverdienten Gnadenliebe enthalten sind. Das willkürliche Auslassen von »Gott, dem Herrn« aus der Nächstenliebe entfernt aber auch den argumentativ notwendigen Auftakt für Jesu krönende Folgerung: »Damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet!« Wobei »Söhne« auf hebräisch nicht nur Nachkommen, sondern auch häufig: Mitarbeiter, Nachfolger oder Nachahmer bedeuten können. 81
All dies strich der griechische Redaktor, mit größter Wahrscheinlichkeit, um den bibelwidrigen Feindeshaß, der zudem auch hier ganz aus dem Zusammenhang fällt, in ein Jesuswort als antijüdischen Seitenhieb einzuschieben. Doch vorerst zum anfänglichen Rumpfzitat, das Jesus wohl im Volltext gebracht hat: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich bin Gott, der Herr« (Lev 19,18). So bringen es so gut wie alle deutschsprachigen Bibelausgaben seit Martin Luther, wobei jedoch das erste Hauptwort nicht ganz richtig wiedergegeben wird. »Der Nächste« wird nämlich weder dem griechischen »7tA:rloiov« gerecht, das »der Nahe« oder »Nahestehende« bedeutet, noch dem hebräischen »re'a« das ihm zugrunde liegt. »Re'a« als Genosse ist, wie Buber klargestellt hat, der Mensch, mit dem ich gerade zu tun habe, der mir eben jetzt Begegnende; der Mensch also, der mich in diesem Augenblick »an-geht«, gleichviel ob er mir blutsverwandt oder wildfremd ist. Wer den Abschnitt im sogenannten »Heiligkeitsgesetz« liest (Lev 19,9-18), aus dem Jesus hier zitiert, der merkt sofort, daß der göttliche Auftrag zur Heiligung der Welt, der hier ergeht, vor allem auf ein besseres Zusammenleben der Menschen hinzielt. Ebenso klar ergeht aus Lev 19, daß die Liebesbedürftigen, über alle Volksgrenzen hinweg, zu Gottes Erstlingen gehören. Um den Armen, den Fremdling, den Tagelöhner, den Tauben, den Blinden und den Geringen geht es hier, die vor jedweder Benachteiligung, Verleumdung, Diskriminierung oder Verunglimpfung bewahrt werden müssen, denn: »Ich bin der Herr, euer Gott«, wie es fünfmal als Begründung heißt. Will sagen: Ich bin der Schöpfer allen Lebens, der kleine Leute und arme Schlucker genauso liebt wie euch, die ich aus Liebe vom Elend der ägyptischen Sklaverei befreit habe, damit ihr aus LeidErfahrung die Liebeslektion lernt, und dadurch mein Volk als Vorbild für die Völker werdet. Wenn dann all diese Anweisungen zum Aufbau einer menschlicheren Gemeinschaft in der Zusammenfassung gipfeln: »Liebe den >re'a< als Mitmenschen, mit dem du es zu tun hast!« - so heißt das auch, daß 82
Liebe hier nicht nur eine Zweierbeziehung ist, sondern eine prinzipielle Einstellung, die sowohl Gott angeht, der euch allen die Liebesfähigkeit eingestiftet hat, als auch die Gesellschaft, die ihr durch kleine Liebesschritte zur höheren Lebensgemeinschaft erheben sollt. Prüfstein dieses feinfühligen Recht-Schaffens ist der Ausländer, der ganz anders spricht und denkt und glaubt als wir, und uns daher zur Weitherzigkeit herausfordert, »denn wenn ihr nur euren Brüdern den Frieden entbietet, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?« (Mt 5,47), wie Jesus und die Rabbinen einstimmig betonen 30. Heißt es doch ganz unüberhörbar: »... Denn der Herr, euer Gott ist ... der große Starke und umschauerte Gott, der die Person nicht ansieht ... und den Fremdling liebhat« (Dtn 10,17f); darum »sollst du den Fremdling lieben wie dich selbst« (Lev 19,34). Ihn gilt es lieb zu haben, weil er liebes bedürftig ist wie du, der du diese Liebe zum Leben brauchst, wie dein Herz es dir tagtäglich zu wissen gibt. Sein Wie-du-Sein wird durch dein Wie-er-Leiden in der Bibel bestärkt: »Ihr kennt ja das Herz des Fremdlings, denn Fremdlinge seid auch ihr gewesen in Ägypten!« (Ex 23,9). Im Klartext heißt das: Ihr habt ja genug Lieblosigkeit erfahren, um zu wissen, wonach das Herz sich sehnt. Als unterjochte Fronarbeiter habt ihr ja am eigenen Leib erfahren, wie sehr es nottut, dem anderen liebevoll entgegenzukommen, denn nur leidgeprüfte Fremdlinge haben gelernt, wie schrecklich jeder Haß entmenschen kann, während Liebe heilt und beiden, dem Geber und Empfänger, zum vertieften Menschsein verhilft. Zweck und Ziel des kapitellangen Appells (Lev 19) an die Güte ist es, daß der Fremdling im biblischen Israel nicht in die Lage Israels in Ägypten komme; denn »Ägypten« . gibt es überall; das Heidenland Kanaan aber soll durch praktiziertes Liebesrecht: »zedaka« - zum Gelobten Lande werden, das letzten Endes die ganze Welt umfassen soll. Darum heißt es im Heiligungsgesetz ausdrücklich: »Wenn ein Fremd1ing bei euch wohnt, dann sollt ihr ihn nicht bedrücken. Wie ein Ein30
Vgl. Gittin 62a; Ber 17a; jBer 8,12c.
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heimischer von euch sei er euch, der Fremdling, der in eurer Mitte weilt« (Lev 19,33f). Daher genügt es nicht, zu betonen, daß der ))re'a« auch den Fremdling mit umschließt, denn gerade der Fremdling war es, der das Gebot der Liebe entstehen ließ. Erst als der suspekte Fremdling zum Menschenbruder aufrücken konnte, wurde die Fremdlingsliebe zum Maßstab der allumfassenden Menschenliebe im biblischen Israel. ))Re'a« war ursprünglich der Weidgenosse und kann als solcher auch ein Ägypter sein (Ex 11,2), der einst der Zwingherr war. Er ist also keineswegs nur ))der Nächste« (der Neheste - wie Martin Luther übersetzt) als Superlativ einer geistigen, konfessionellen oder ethnischen Nähe, sondern kann auch der Fernste sein - was seine persönlichen Eigenschaften betrifft -, der dir aber jetzt als Menschenbruder gegenüber steht. Andererseits kann ))der Nächste«, der dir blutsmäßig am nächsten steht oder örtlich hautnahe ist, dein ärgster Gegner sein, wobei gerade seine allzu spürbare Nähe ihn unerträglich macht. ))Wer ist mein re'a?« Diese Frage, die Lukas in den Mund eines Schriftgelehrten legt (Lk 10,29), beantworten die Rabbinen, gut jüdisch, mit einer Gegenfrage: Warum schuf Gott nur einen Adam? Und sie antworten: um des Völkerfriedens willen - denn nun kann kein Adamskind zu seinem Nachbarn sagen: Mein Blut fließt röter (oder: blauer) in den Adern als deines! Auf daß kein Hochmut oder Rassendünkel aufkomme, hat uns der Schöpfer einen gemeinsamen Stammvater gegeben. Und damit keiner behaupte, es gäbe viele Mächte im Himmel, denn die Grundeinheit der Menschheit beweist ja die Einzigkeit ihres Schöpfers wie auch die Gleichheit aller Adamskinder, die ausnahmslos in Nacktheit zur Welt kommen, um ebenbürtig in derselben Blöße zur Erde zurückzukehren. Aus dieser gottgewollten Gleichheit aller menschlichen Anfänge und Enden fließt nicht nur die Demokratie der globalen Gleichberechtigung und die pluralistische Glaubensfreiheit im Judentum, sondern nicht zuletzt auch der gleiche Heilsanspruch aller Gotteskinder. Kein Ebenbild Gottes ist heil-los oder lieb-los oder ungeliebt! Das ist 84
die Frohbotschaft der Hebräischen Bibel, die unwiderlegbar aus der All-Einheit Gottes gefolgert werden muß. Mehr noch! Nichts anderes legt so beredte Zeugenschaft für Gottes Größe ab, als daß er die Menschen in solch unerschöpflicher Vielfalt schuf, daß sogar Zwillinge voneinander verschieden sind - und es dennoch nicht zweierlei Menschen gibt, sondern nur eine Großfamilie der Nachkommenschaft Adams, die alle, in ihrer individuellen Einmaligkeit, gleiche Rechte haben, in der gleichen Erde wurzeln, zum selben Himmel aufstreben, ein und dasselbe Menschenlos teilen und ihrem Schöpfer gleich lieb sind. Und wen Gott liebt, wer darf den hassen? In den Worten Rabbi Nathans: »Jeder, der seinen re'a haßt, entwurzelt Gott aus dieser Welt« (ARN 30). Nur wenige Rabbinen billigen daher die Einschränkung der Nächstenliebe, wie Paulus sie empfiehlt: »Lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an den Glaubensgenossen!« (Gal 6,10). Die Bibel J esu kennt keine Sonderrechte, keine Prioritäten solcher Art. Sie gebietet den »re'a« (Lev 19,18) auch als Fremdling (Lev 19,34) »zu lieben wie dich selbst.« Nach Ezechiel (47,21-23) haben die Fremdlinge Anrecht bei der Verteilung des Landes. Sie dürfen hebräische Sklavinnen und Sklaven kaufen. Sie sind rechtlich mit den Eingeborenen gleichgestellt. Eines der Drohworte im Fünften Buche Moses lautet: »Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings, des Waisen und der Witwe beuget!« (Dtn 27,19). Die sechs Asylstädte bei unabsichtlicher Tötung - eine der Blutrache entgegenwirkende mosaische Institution - sind auch ihnen geöffnet (Num 35,16). Zinsen darf man auch von ihnen nicht nehmen und ihnen nicht geben - so heißt es in Lev 25,35-37, wo der Fremdling als »Bruder« bezeichnet wird. Daß dieser Bruder auch der Heide und Götzendiener sein kann, wird des öfteren betont - wie z.B. in der Auslegung von Lev 19,13: »Du sollst deinen re'a nicht bedrängen! Dein re'a, es ist dein Bruder; dein Bruder, das ist dein re'a. Daraus lernt man, daß der Diebstahl am Heiden Raub ist. Und man darf nicht einengend verstehen >nur deinen Bruder<, denn es geht um jeden Menschen« (Seder Eliahu Rabba 49). 85
Jeremia sagt im Namen Gottes vom König Joschia: »Er übte Recht und Gerechtigkeit er führte die Sache des Elenden und Armen. Heißt das nicht mich erkennen? Spricht der Herr.« (Jer 22,16) Damit setzt der Prophet mit Nachdruck den Beistand, der den Schutzlosen gewährt wird - wer immer sie auch seien - der Gotteserkenntnis gleich. Aus diesen und ähnlichen Bestimmungen lassen sich weder Chauvinismus noch Xenophobie entnehmen - vom Feindeshaß ganz zu schweigen -, wohl aber ein abstrichloser Universalismus der Gleichberechtigung, der messianisch angehaucht ist. Heißt es doch vom Mitmenschen: »Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Her· zen!« (Lev 19,17). Damit wird nicht nur tatsächliche Feindseligkeit verboten, sondern auch Gefühlsregungen wie Neid, Rachsucht, Eifersucht oder Mißgunst, die das Herz verderben, das dem Menschen zum Lieben gegeben worden ist. Dieser re'a ist also der Gar-nicht-Nahe, in all seinem gottgewollten Anderssein, der auf uns zukommt, wenn es darauf ankommt, wahrer Mensch zu sein. Denn nach Gottes Willen geht das nur zu zweit, im Teilen und Mitteilen jener Liebe, die er eingestiftet hat. Denn zutiefst gesehen ist der Mensch kein Einzelwesen, sondern ein dialogisches Geschöpf, das den re'a braucht, um sein keimhaftes Menschsein zur vollen Blüte zu bringen. Unvergänglich eingemeißelt steht im Schöpfungsplan, daß jedes Ich sein Du benötigt, um an ihm zu wachsen, heranzureifen und mündig in seiner Menschlichkeit zu werden. Dieser re'a, als der andere, ist aber immer auch der konkrete, unberechenbare Erdenbürger, dem wir begegnen - auch in der Entgegnung, oder gar der Ver-gegnung, die uns der Liebespflicht nicht entbindet. Denn wenn du deinem Gegner zum Gegner wirst, so gibst du dein Bestes auf, nur um dir das Argste des anderen zu eigen zu machen. Treue zu dir selbst aber fordert, deinem eigenen Maßstab, trotz des lieblosen Einflusses von außen, das Vorrecht zu geben. Sonst gehst du 86
»fremd«, verlierst die Selbstbestimmung und lieferst dich der Unliebe aus, die ganz und gar dem Handeln Gottes widerspricht. In den Worten des Rabbi Meir: ))Gott spricht: Gleiche mir! Wie ich Böses mit Gutem vergelte, so vergelte auch du Böses mit Gutem!« (Ex R 26,2 zu 17,8). Wie zentral diese so verstandene Nächstenliebe als tatkräftiger Gottesdienst im Judentum gilt, mag die Vielzahl der Deutungen des Wortes aus Lev 19 bezeugen, das Jesus zitiert: Die chassidische Deutung besagt: ))Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; ich bin der Herr.« Der tiefere Sinn dieser Worte besagt: Wo immer zwei auf Erden sich selbstlos lieben, da ist Gott der dritte in ihrem Bunde. Martin Buber erzählte, daß einst nach einem Vortrag in Frankfurt über die Nächstenliebe eine Dame ihn ansprach, um zu fragen: ))Ich liebe mich selbst überhaupt nicht, Herr Buber, wie kann ich dann meinen Nächsten lieben?« Buber und Rosenzweig, die damals gerade die Heilige Schrift verdeutschten, nahmen diese Frage ernst, hinterfragten ihren Bibeltext, um auf die Möglichkeit einer anderen Übertragung zu stoßen, die dem Urlaut und dem Ursinn ebenso gerecht werden. Schließlich schrieben sie: ))Halte lieb deinen Genossen, dir gleich!« Auf unsere Frage, was hiermit gewonnen sei, antwortete Buber: Hiermit wird ausgesagt, daß dein Mitmensch, wie groß, brutal oder rücksichtslos er dir auch scheinen mag, genau so schwach, gebrechlich, hinfällig und allen Angsten des Lebens ausgesetzt ist, wie du selbst. Dieses Sein-wie-du entwaffnet also jedwede Angst, die du vor deinem re'a haben könntest. Sobald aber der Angst der Boden entzogen wird, wird auch der Haß, der fast immer einer unterschwelligen Angst entspringt, gegenstandslos und hinfällig. Und sobald Angst und Haß verschwinden, dann erst öffnen sich die Tore des Herzens für die unbehinderte, freie Nächstenliebe. Die Schüler fragten eines Tages den Rabbi von Slozow: ))Es heißt im Talmud, unser Vater Abraham habe die ganze Tora erfüllt. Wie ist dies möglich, da sie ja damals noch nicht gegeben war?« 87
»Es tut nichts not«, antwortete der Rabbi, »als Gott und seine Geschöpfe zu lieben! Willst du etwas tun und du merkst, es könnte deine Liebe mindern, so wisse: es ist Sünde; willst du etwas tun und merkst, daraus wird sich deine Liebe mehren, so wisse: dein Wille ist in Gottes Willen geschickt. So hielt es auch unser Vater Abraham.« Rabbi Joschua Heschel, einer der großen Religionsphilosophen unseres Jahrhunderts, sagte: Liebe deinen Nächsten; er ist wie du. Was will der Schöpfer uns damit beibringen? Worauf der Rabbi antwortete: Gott spricht: Ich habe euch beide als Träger meines Ebenbildes geschaffen, so daß jeder Nächstenhaß nichts anderes ist als verkappter Gotteshaß. Indem du deinem Nächsten etwas nachträgst, ihn schmähst, verabscheust oder geringschätzt, so tust du all dies dem Göttlichen Funken an, der in seinem Herzen brennt und ihm den Adel des Menschturns verleiht. Die Mystiker der mittelalterlichen Kabbalah pflegten zu sagen: Der Nächste ist immer ein Teil von dir; in jedem Mitmenschen steckst du selbst keimhaft drin; Nicht-Liebe zum Nächsten rächt sich daher am eigenen Ego, das aufschreit zum Himmel gegen den Masochismus der Lieblosigkeit. Denn jeder Haß ist, zutiefst gesehen, Selbsthaß. Jeder Liebeserweis ist eigentlich ein Dienst-am-Ich; Altruismus ist daher nichts anderes als erleuchteter Egoismus, der genug Phantasie aufbringt, um »aus der Haut zu fahren« und sich in die Haut des anderen einzufühlen, seine Not mitzuleiden und sie zu lindern - als wär's ein Stück von dir. Sogar Max Horckheimer, dieser gläubige Ketzer des Judentums, bestätigt denselben Grundgedanken: »Vom Standpunkt des Positivismus aus gesehen ... ist der Haß nicht schlechter als die Liebe ... Ohne Berufung auf ein Göttliches verliert die gute Handlung ihren Sinn ... Mit der letzten Spur der Theologie verliert der Gedanke, daß der Nächste zu achten, zu lieben sei, das logische Fundament.«
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Gebotener Feindeshaß? Auf das Bruchstück-Zitat in Mt 5,43 der sogenannten »Nächstenliebe« folgt nun in nahtloser Kontinuität die Unterstellung eines gebotenen Feindeshasses, die unmöglich von Jesus selbst stammen kann. Es geht um den seltsamen Imperativ »Hasse Deinen Feind!«, der das Ethos der ganzen Bibel Lügen straft. Die kürzlich formulierte Annahme, daß dieser »Feindeshaß« sich auf die Ordensregel der Qumransekte bezieht (DSM 1,3f), wo von »Haß gegen alle Söhne der Finsternis« (d. h. alle Ordensgegner) die Rede ist, scheint bei den Haaren herbeigezogen, da die beiden Einleitungen »Ihr habt gehört« und »Es ist gesagt« sowohl in der Bergpredigt als auch im rabbinischen Schrifttum zur Einführung biblischer Traditionen dienen. Zu Jesu Zeiten war die Qumransekte zu jung, zu fern und zu klein, um in Galiläa als bekannte Norm - oder Antinorm - vorausgesetzt zu werden. Diese Tatsache hat inzwischen allgemeine Anerkennung gefunden. Typisch für die meisten Kommentare ist hier die katholische»J erusalerner Bibel«, die betreffs des angeblich gebotenen Feindeshasses zugibt: »Der zweite Teil dieses Gebotes steht ... nicht im alttestamentlichen Gesetz, kann hierin auch nicht stehen.«3! Noch klarer ist Ethelbert Stauffer, der dank seiner berüchtigten Entjudung J esu zu Hitlers Zeiten über jeden Verdacht des Philosemitismus erhaben ist: »Mit Recht hat die Synagoge seit jeher gegen Mt 5,43 protestiert. Es gibt kein Gesetz, das den Feindeshaß vorschreibt, weder im Alten Testament noch im Talmud.«32 Nicht unmöglich wäre es, daß Jesus das hebräische Zeitwort »hassen« hier in seiner zweiten, viel weniger krassen Bedeutung verwendet habe, wie wir es aus zweien seiner Sprüche kennen. Über die Bedingungen der Nachfolge sagt er seinen Jüngern: 31
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Freiburg 1968,21 Anm. Die Botschaft Jesu, Bern 1959, 126.
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»Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder, dazu aber auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26). Über das Stirbund-Werde sagt er in seiner Abschiedsrede: »Wer sein Leben in dieser Welt haßt, wird es zum ewigen Leben bewahren« (Joh 12,25). Hier hat »hassen« die biblische Bedeutung von: geringschätzen, oder: weniger lieben, wie z. B. im Gotteswort: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehaßt« (Mal 1,2-3 und Röm 9,13). Derselbe Sinn ergibt sich aus dem Abschnitt vom Ehemann mit zwei Gattinnen, »eine, die er liebt, und eine, die er haßt« (Dtn 21,15), - wozu der Talmud die rhetorische Frage stellt: »Gibt es denn vor Gott Geliebte und Gehaßte?« (Jeb 23a). Diese mildere Möglichkeit der Aussageintention J esu ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, jedoch sowohl die Bibeltradition, auf die hier Bezug genommen wird, als auch der innere Zusammenhang dieser Superthese sprechen dagegen. Es scheint daher am nächstliegenden, den Endredaktor des Matthäus, der selten eine Gelegenheit versäumt, um polemische Spitzen und antijüdische Sticheleien in seine Vorlage einzuflechten, als Autor dieser Verleumdung zu erachten. Hierfür spricht auch die Tatsache, daß dieser »Haß« in der lukanischen Parallele der sogenannten Feldrede mit keinem Wort Erwähnung findet. Das Gegenteil des Feindeshasses liegt dem Judentu~ viel näher. Hillel der Weise, den einige Forscher zu den Lehrern des jungen J esus zählen, lehrte seine Jünger: »Sei von den Schülern Aarons, Frieden liebend und nach Frieden strebend, die Menschen liebend und sie zur Tora führend« (Abot 1,12), - wobei eindeutig sowohl Freund als auch Feind mit gemeint sind. In den Sprüchen Salomos heißt es: »Wenn dein Feind zu Fall kommt, freue dich nicht, und wenn er stürzt, frohlocke nicht dein Herz!« (Spr 24,17). Aus diesem Spruch folgern die Rabbinen: »Beim Laubhüttenfest heißt es dreimal in der Schrift, man möge sich freuen (Dtn 16,14 und 15; Lev 23,40). Jedoch beim Pessachfest, obwohl es doch um die Volksbefreiung geht, wird Freude nirgends in der Schrift er-
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wähnt. Warum? Weil die (feindlichen) Agypter dabei umkamen« (Pessikta K. 189a). Daher fehlt unter den Anklagen, die Ijob gegen sich selbst ausdenkt, auch nicht die Gewissensfrage: »Habe ich mich gefreut über das Verderben meines Hassers und mich erhoben, weil ihn Unglück getroffen hat? Nein, ich ließ meinen Mund nicht sündigen, daß ich verwünschte durch einen Fluch seine Seele!« (Ijob 31,29f). Hier heißt der Feind richtig und genau: der mich haßt, also mein subjektiver Feind, der heute mein Gegner ist, es aber morgen nicht mehr sein muß; aber auch dann nicht aufhört, mein re'a zu sein, wenn er mir Ungutes antut. Denn es heißt ja: »Räche dich nicht und trage nicht nach!« (Lev 19,18). Und noch deutlicher: »Sprich nicht: Ich will Böses vergelten! Hoffe auf den Herrn, der wird dir helfen!« (Spr 20,22). Für die Schwerhörigen wiederholt es Salomo: »Sage nicht: Wie er mir getan, so will ich ihm tun; ich will einem jeglichen sein Tun vergelten« (Spr 24,29). Und wenn es hierauf in der Spruchweisheit heißt (25,22): »Der Herr wird's dir vergelten«, so lesen die Rabbinen das letzte Zeitwort um Gaschlim, anstatt: jeschalem), um den Zusatz zu deuten: »Der Herr wird ihn zum Frieden mit dir bringen« (Midrasch Prov 25,22). Und über die Erzfeinde Israels heißt es in der Bibel: »Den Edomiter sollst du nicht verabscheuen; er ist dein Bruder. Den Agypter sollst du nicht verachten, denn du bist ein Gastsasse in seinem Lande gewesen« (Dtn 23,8) . . Zu seinen reumütigen Brüdern sagt Joseph als Vizekönig von Agypten: »Ihr gedachtet es böse mit mir zu tun, aber Gott gedachte es gut zu machen«, wobei dieses »Gute« sogleich erklärt wird: »Nämlich: Am Leben zu erhalten ein großes Volk« (Gen 50,20), womit dieselben Agypter gemeint sind. Die Universalität der Menschenliebe schließt in der rabbinischen Literatur häufig den »Hasser« ausdrücklich ein: »Sage nicht: Die mich lieben, liebe ich, und die mich hassen, hasse ich, sondern liebe alle!« (Test Gad 6). Diesem Verbot der Vergeltung gesellen die Rabbinen das Lob der de91
mütigen Selbstbezähmung hinzu, die sie der Gottesliebe gleichstellen: »Über die, die beschämt werden und nicht beschämen, die ihre Beschimpfung anhören und nicht antworten, die aus Liebe handeln und sich der Züchtigung freuen, von denen heißt es (Ri 5,31): >Die Gott lieben, sind wie der Aufgang der Sonne in ihrer Pracht<<< (loma 23a; Gittin 36b). Da jede Vergeltung das fremde Verhalten zum Vorbild für das eigene Tun macht, leiden darunter letztlich zwei Träger des göttlichen Ebenbildes: du und dein Bruder. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: »Die geplagt werden und nicht plagen; ihre Schmach hören und nicht erwidern; aus Liebe handeln und an Schmerzen sich freuen, diese sind es, die Gott lieben!« (Schabbat 88b). Doch da der »Hasser« kein ewiger Feind bleiben muß, sondern nur das Opfer einer spontanen Herzensregung sein könnte, die wie alles Menschliche veränderlich ist, zieht Rabbi Nathan aus diesem Tatbestand die konstruktive Schlußfolgerung: »Wer ist der größte Held im Lande?« So lautet seine pädagogische Frage, auf die er selbst antwortet: »Der die Liebe seines Feindes gewinnt« (ARN 23). Daß dies im Bereich des Möglichen liegt, erhärten die Rabbinen durch den Hinweis, daß der Unterschied zwischen »Feind« (ojew) und »Liebender« (ohew) ein einziger Buchstabe ist. Sollten wir nicht die Kraft aufbringen, so wird gefragt, aus einem »Jot« ein »He« zu machen? Zu guter Letzt heißt die rabbinische Abschreckung - ganz im Sinne Jesu: »Wer seinen re'a haßt, der gehört zu denen, die Blut vergießen« (Derech Eretz Rabba 11). Wie solch erhabene Prinzipien in die Praxis des Alltags übersetzt werden, möge ein Beispiel, stellvertretend für viele, erhellen: In Auslegung von Ex 21,lf legt der Talmud fest, daß man den Einbrecher, der nachts in ein Haus einbricht, aber dabei aus Fahrlässigkeit in Lebensgefahr gerät, zu retten hat, selbst wenn man dadurch den Sabbat entweihen muß (San 72b). Rabbi Nechonja lehrte seine Schüler zu beten: »Möge es dein Wille sein ... , daß kein Haß gegen uns in einem Menschenherzen aufsteige, daß keiner eifersüchtig auf uns sei und wir nicht eifersüchtig auf irgendjemanden seien ... und daß all unsere
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Werke wohlgefällig vor dir seien wie Bittgebete« (jBer 4,7 d). So eindrucksvoll war das gleichgesinnte Gebet des Mar Bar Rabbina, daß es bis zum heutigen Tage dreimal täglich in der Synagogenliturgie wiederholt wird: »Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem, meine Lippen vor Unwahrheit. Denen, die mir fluchen, schweige meine Seele, und wie Staub sei meine Seele gegenüber jedermann« (Ber 17a). Daß man es nicht mit dem Gebet bewenden ließ, bezeugt ein jüdischer Kriegsveteran aus dem ersten Jahrhundert: »Auch den (besiegten) Feind soll man mit Güte behandeln,« sagt Flavius Josephus aus eigener Erfahrung (Ap II,28,209). Doch Hilfe, Beistand und Schonung für den Feind beginnen bereits im 1. Buche Moses: Schon Abraham betet für Abimelech, den König von Gerar, der ihm seine Frau Sara weggenommen hatte (Gen 20,17), und erlangt die Heilung seines Gegners. Joseph verzeiht seinen Brüdern, die ihn in die Sklaverei verkauft hatten, »tröstete sie und sprach freundlich zu ihnen« (Gen 50,18-21). Fünfmal betet Mose für das Wohl des Pharao und derselben Ägypter, die das Volk Israel jahrhundertelang brutal unterjochten und es letztlich auszurotten beabsichtigten: »Der Pharao sprach: Ich will euch ziehen lassen ... , nur zieht nicht zu weit und betet für mich! Mose sprach: ... Ich will den Herrn bitten, daß die Stechfliegen morgen vom Pharao und seinem Volke weichen ... Und der Herr tat, wie Mose gebetet hatte« (Ex 8,24-27) - worauf ihn der Pharao abermals betrog, dann um Vergebung bat, nach der Aufhebung jeder der ersten neun Plagen sein Wort brach - und Mose dennoch für ihn und sein Volk erfolgreiche Fürbitte leistete. Ebenso betet der leidgeprüfte Ijob für seine falschen Freunde, die ihm mit scheinheiligem Trost abspeisen, »und der Herr erhörte Ijob« (Ijob 42,9). Ähnliches gilt für den jungen David, der König Saul verschont, als jener wehrlos in seine Hände fiel, obwohl er wiederholt versucht hatte, den jungen Hirtenknaben ermorden zu lassen. »Ich habe mich nicht an dir versündigt,« so sagt er seinem Erzfeind und Gebieter, »aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen« (1 Sam 24,12). 93
Daß David in diesem Großmut keine Ausnahme unter den Herrschern Israels war, bezeugt die Geschichte des Aramäerkönigs BenHaddad, der jahrelang Kriege gegen Israel geführt hatte, bis König Ahab ihn besiegen und sein Heer in die Flucht schlagen konnte. Hierauf heißt es: »Ben-Haddad floh in die Stadt und verkroch sich ... Da sprachen seine Großen zu ihm: Siehe, wir haben gehört, daß die Könige des Hauses Israel barmherzige Könige sind ... Vielleicht läßt er dich am Leben ... Und sie kamen zum König von Israel und sprachen: Dein Knecht Ben-Haddad läßt dir sagen: Laß mich doch am Leben! ... Ahab aber sprach: ... Er ist mein Bruder! ... Da ging BenHaddad zu ihm heraus. Und Ahab ließ ihn auf seinen Wagen steigen ... , schloß mit ihm einen Bund und ließ ihn ziehen« (1 Kön 20,3034). Nachdem J eremia seiner Mutterstadt vergeblich die friedfertige U nterwerfung unter Nebukadnezar, den König von Babel, gepredigt hat, wird die heilige Stadt zerstört, der Tempel in Trümmer gelegt, und »das Volk, das übrig blieb in der Stadt, wurde wie Vieh zusammengejocht und in die Gefangenschaft getrieben« (2 Kön 25,8ff). Um das Jahr 594 vor der Zeitrechnung schreibt der Prophet »an die Weggeführten«, deren babylonische Zwingherren sie »singen und im Herzen fröhlich sein« hießen (Ps 137,3). »Suchet der Stadt (Babyion) Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen!« So lautet der Spruch Gottes aus seinem Munde, worauf er den Verbannten zumutet, für ihre eigenen Unterdrücker Fürbitte zu leisten: »Und betet für sie zum Herrn! Denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl« (Jer 29,7). Die geschichtlichen Ereignisse gaben ihm Recht: Das Gebet der Verbannten wurde erhört und die babylonische Diaspora erlebte eine der fruchtbarsten Blütezeiten in der jüdischen Geschichte. Mit Recht folgert daher die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland in ihrer Handreichung »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« vom 11.1.1980: »In der jüdischen und in der christlichen Tradition umfaßt die Liebe Gottes alle seine Geschöpfe. Als Gottes Ebenbild und Partner soll 94
der Mensch sein Handeln nach diesem Vorbild Gottes ausrichten. Er darf darum im Judentum und im Christentum seine Liebe »dem Mitmenschen auch dann nicht entziehen, wenn dieser sein Feind ist, denn auch der Feind bleibt Gottes geliebtes Geschöpf. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß im Judentum schon vor, neben und nach Jesus dem Menschen geboten wird, seinen Feind zu lieben ... Es ist deshalb nicht gerechtfertigt zu sagen, daß erst Jesus >durch die Forderung der Feindesliebe< das Gebot der Nächstenliebe von allen Schranken befreit habe.«33 Und dennoch muß betont werden, daß trotz zahlreicher Parallelen und Analogien im jüdischen Schrifttum, die die Nächstenliebe auch auf die Fernsten erweitern und alle Geschöpfe Gottes als liebenswürdig erklären, das jüdische Lehrgut keine ausdrückliche Forderung im Sinne der Feindesliebe kennt. Genau genommen ist der Imperativ: »Liebet eure Feinde!« in der Sprache der Theologen jesuanisches Sondergut. Ist er auch christliches Sondergut in der Praxis geworden, wie in so zahlreichen Predigten und Vorträgen angedeutet wird? Auf seiner Suche nach beweisbaren Fällen von Feindesliebe fand der Theologe Ethelbert Stauffer lediglich vier: »J esus selbst, der noch am Kreuz beten konnte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Lk 23,34). Der Märtyrer Stephanus, der mit den Worten stirbt: »Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!« (Apg 7,60). Jakob, der Bruder Jesu, der in der Todesstunde betet: »Ich bitte, Herr, Gott, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«34 Jüngeren Datums ist der letzte Fall: »Am 20. Oktober 1958 eröffnet die Große Strafkammer des Wojwodschaftsgerichts in Warschau den Prozeß gegen den Gauleiter Erich Koch. Der Angeklagte wird aus dem Warschauer Gefängnis vorgeführt. Koch erklärt am ersten Verhandlungstag: >Wenn ich überhaupt noch lebe, so verdanke ich das al-
33 34
AaO. 27. Hegesipp bei Eusebius II,13,16.
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lein einer großen Frau, der Gefängnisärztin Frau Dr. Kaminska.< Frau Dr. Kaminska ist Jüdin.«35 Der Fairneß halber muß hier hinzugefügt werden: Die anderen drei auch! Sie sind nicht die einzigen geblieben. Typisch für die vielen Überlebenden KZ-Insassen, die sich ihre aufgestauten Gefühle von der Seele schreiben mußten, ist das kurze Gedicht der Jüdin Ilse Blumenthal-Weiß: »Ich kann nicht hassen sie schlagen mich, sie treten mich mit Füßen. Ich kann nicht hassen. Ich kann nur büßen, für dich und mich. Ich kann nicht hassen sie würgen mich. Sie werfen mich mit Steinen. Ich kann nicht hassen. Ich kann nur weinen bitterlich.« J ules Isaac, der jüdische Historiker und Erzieher aus Frankreich, verlor seine ganze Familie in Auschwitz. Dennoch brachte er es anno 1947 fertig, in seinem Werk »Jesus und Israel« den Grundstein einer jüdisch-christlichen Verständigung zu legen. Es war dieses Buch, das Papst Johannes XXIII. - damals noch Nuntius in Paris - später veranlaßte, das Verhältnis der Kirche zum Judentum auf die Tagesordnung des 11. Vatikanums zu setzen. Das letzte Kapitel dieses Buches schließt mit einer offenen Frage: »Der Schein des Krematoriumofens von Auschwitz ist für mich der Leuchtturm, der all meine Gedanken lenkt. Oh, meine jüdischen Brüder, und auch ihr, meine christlichen Brüder, glaubt ihr nicht, daß er sich mit einem anderen Schein, mit dem des Kreuzes zu Golgotha, vermengt?«36 35
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Die Botschaft Jesu, Bern 1959, 146. Deutsche Übersetzung, Wien 1968,463.
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Leo Baeck war die letzte Leuchte des deutschen Rabbinats. Dreimal wurde ihm die Möglichkeit geboten, sich und seine Familie durch Emigration zu retten. Dreimal wies er das Angebot, das ihm wie Flucht aus seinem Auftrag schien, zurück. Er wollte als Lehrer bei seinem Volke bleiben, »so lange noch ein einziger Jude in Deutschland geblieben war«, wie es in einer Geschichte des Lagers später hieß. Von den 55-Leuten wurde er als Zugpferd eingesetzt, um täglich den Karren mit den Abortkübeln zu transportieren. Und dennoch: In Holzbaracken, Lagerräumen und unter freiem Himmel hielt er Abendvorträge über Platon und Kant, über J esaia, Ijob und Jesus - eine jahrelange Bergpredigt aus der Talsohle der Verlassenheit, die unbeirrbar die Frohbotschaft beider Testamente bezeugte: »Unser Vater im Himmel ist nicht tot - auch wenn Menschen seines Ebenbildes zu Unmenschen geworden sind!« Als die Russen das Konzentrationslager Theresienstadt befreiten, wo er bis zum Ende der geistige Mittelpunkt blieb, gehörte Rabbi Baeck durch Zufall- oder Vorsehung - zu den 9000, die von 140.000 Häftlingen die Leiden des Lagers überleben konnten. ))Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Lk 23,34), so betete einst Rabbi Jeschua am Römerkreuz für seine Peiniger. Anno 1945 übte Rabbi Baeck all seinen persönlichen Einfluß aus, um die deutschen Wärter und Wachmannschaften vor Racheakten zu schützen und sobald er sich geistig und körperlich erholt hatte, gehörte er zu den ersten, die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden befürworteten. Sein Gebet aus den ersten Nachkriegsjahren bedarf keines Kommentars: ))Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung ... Aller Maßstäbe spotten die Greueltaten; sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar viele ... Darum, 0 Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden, daß du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst, sondern lasse es anders gelten! Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und al97
len schlechten Menschen zu gut und rechne ihnen an all den Mut und die Seelenkraft der anderen, ihr Sich bescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem, die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab, und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe, ... alle die durchpflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben, angesichts des Todes und im Tode, ja auch die Stunden der tiefsten Schwäche ... Alles das, 0 mein Gott, soll zählen vor dir für die Vergebung der Schuld als Lösegeld, zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit - all das Gute soll zählen und nicht das Böse. Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, daß sie von der Raserei ablassen ... Nur das heischt man von ihnen - und daß wir, wenn nun alles vorbei ist, wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen und wieder Friede werde auf dieser armen Erde, über den Menschen guten Willens, und daß Friede auch über die anderen komme.«37 Alles, was uns Jitzchak Katznelson, ein gläubiger Jude und Direktor des Städtischen Gymnasiums in Lodz, hinterlassen hat, ist ein Gedicht mit dem Titel: »Das Lied des letzten Juden«. Es wurde auf dem Weg nach Maidanek auf der Rückseite von drei Umschlägen geschrieben, und obwohl er wußte, daß sein Reiseziel der Gastod war, kam kein Rachegedanke, kein einziges Wort des Hasses über seine Lippen. Was er uns als letztes übermitteln konnte, klingt eher wie eine Theologie der stellvertretenden Sühneleiden, die seine ganze Seelengröße erstrahlen läßt. Mit seinen Worten: »Heilig ist am Kreuz mein Volk, das für die Schuld der Erde büßt. Wenn je mein Volk ein auserwähltes war, weil es für andere litt dann jetzt, dann jetzt!
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Leo Baeck in: Angst-Sicherung-Geborgenheit, von Th. Bevet, Bielefeld 1975.
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Weil niemals noch ein Jude starb geläutert so wie jeder, der uns klein erscheint in Warschau, Wilna oder in Wohlhynien. Denn aus jedem Juden schreit entsetzt ein J eremia - jeder ist ein König an Enttäuschung - der für alle weint.« Dem Premierminister Menachem Begin wurde während seines ersten Interviews mit einem deutschen Journalisten, Hans-J oachim Schilde, das am 3 . November 1978 in J erusalem stattfand, die Frage gestellt: ))Können Sie eigentlich noch nach Auschwitz an Gott glauben?« Er antwortete: ))Ja, ich tue es, denn Auschwitz ist unser Opfer für die Gerechtigkeit Gottes in dieser Welt. Ich glaube an Gottes Führung in der Politik. Hätte Hitler die Juden nicht umgebracht, so hätte er unter Umständen den Krieg gewonnen. Gäbe es die Göttliche Vorsehung nicht, dann hätte Hitler als erster die Atombombe gebaut, ... dann wäre unsere Welt ein einziges großes Zuchthaus. Das Zeitalter der Finsternis wäre angebrochen ... Wir Juden brachten in diesem Kampf für das Überleben der Menschlichkeit das größte Opfer ... Vielleicht mußten wir das Opfer bringen, damit Hitler verlor.« Psalm 109 heißt ein Psalm Davids, angesichts erbarmungsloser Widersacher verfaßt. Vers 4 lautet: ))Dafür, daß ich sie liebe, feinden sie mich an; ich aber bete.« Der rabbinische Midrasch erweitert diese Aussage auf das Schmerzenslos von ganz Israel: ))Anstatt mich zu lieben, hassen sie mich«, so spricht Israel zu den Völkern: ))Ihr solltet uns lieben, denn wir brachten für euch 70 Opfer im Tempel zu J erusalem dar; aber ihr liebt uns nicht, sondern haßt uns; dennoch beten wir für euch!« (Midrasch und Jalkut Schimoni zu Ps 109,4). Wenn praktizierte Feindesliebe zur Mitte des Christentums gehört, da weiß ich manchmal nicht, wer Jesus näher steht: seine leiblichen Brüder aus dem Judentum oder seine getauften Jünger aus der Heidenwelt.
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Die Entfeindungsliebe Schadenfreude, Feindeshaß und Vergeltung des Bösen mit Bösem sind also im Judentum nachdrücklich verboten, während Großmut und Liebesdienste für den Feind in der Not geboten werden - aber Feindesliebe als moralisches Prinzip scheint doch nur für Heilige zugeschneidert zu sein, wie fünf Jahrtausende von Weltgeschichte einhellig beweisen. Wenn Bismarck sagte, »mit der Bergpredigt läßt sich kein Staat regieren«, und der Bundeskanzler unlängst (1981 am Kirchentag in Hamburg) verlauten ließ, »daß es ein Irrtum wäre, die Bergpredigt als einen Kanon für staatliches Handeln aufzufassen«, so dachten beide wohl vorerst an diese Feindesliebe als Real-Programm im Ernstfall eines politischen Konflikts. Überraschender klingt der Protest von der Gegenseite: »Mit der Bergpredigt kann man nicht revoltieren«, so erklärte Herbert Marcuse, der Philosoph der Jungen Linken, auf einer Studentenversammlung in Berlin anno 1968 und fuhr fort: »Der Haß gegen Ausbeutung und Unterdrückung ist ein humanes Element ... Nichts ist entsetzlicher als die Liebespredigt: >Hasse nicht deinen Gegner!< - in einer Welt, in der der Haß durchaus institutionalisiert ist.« Wenn man aber mit dieser Liebeslehre weder regieren noch revoltieren kann, kann man dann überhaupt mit ihr oder nach ihr leben? Mit Recht stellt daher Leonhard Ragaz die Frage nach der Erfüllbarkeit: »Ist das nicht zuviel verlangt? Kann man die lieben, die uns hassen und uns Böses antun? ... Ist das nicht sittliche Utopie? Ist das nicht eine Illusion?«38 Die Antwort, die erst bei der Rückübersetzung ins Hebräische zutage tritt, verneint diese Fragen, indem sie deutlich besagt: Hier wird weder Sympathie noch Gefühlsduselei, Rührseligkeit oder gar Selbstaufgabe gefordert, denn weder Gefühle noch das Martyrium können befohlen werden, sondern einzig und allein »das Tun« - eine der 38
Die Bergpredigt Jesu, Bern 1979,92.
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häufigsten Vokabeln im jesuanischen Sprachschatz. Und in der Tat steht im Gebot der Nächstenliebe, das Jesus hier zitiert (Lev 19,18) nicht: »Liebe deinen Nächsten« im Akkusativ, sondern im Dativus Ethicus, eine Wortfolge, die im Deutschen nur umschrieben werden kann: Wende dich ihm liebend zu! Oder: Erweise ihm Liebestaten! Oder: Tu ihm Liebe an! Mit einem Wort: Leb ihm zuliebe, nicht zuleid! Da Jesus weder ein Schwärmer war noch ein Utopist, wohl aber ein welterfahrener Menschenkenner, verlangt er keine übermenschliche Selbstlosigkeit, keine Empfindungen, die so gut wie jedes Menschenherz überfordern müßten, sondern praktische Liebeserweise, wie etwa: Krankenbesuche, das heimliche Geben von Almosen, Beistand in der Not, das Trösten der Trauernden, Brotteilen mit den Hungrigen, und all die 1001 wirksamen Wohltätigkeiten, die Vertrauen schaffen, Feindschaft abbauen und die Liebe fördern. Da Jesus in parallelen Kontrastpaaren und in rhetorischen Antithesen zu predigen liebte, muß daher auch die Steigerung: »Liebet eure Feinde!« im ursprünglichen semitischen Wortlaut mit demselben Dativus Ethicus formuliert gewesen sein, der keineswegs zur platonischen Feindesliebe oder gar zur heuchlerischen, zur-Schau-gestellten Scheinliebe auffordert, sondern ein Aufruf ist zum versöhnlichen Umgang mit dem Gegner, der letzten Endes seine Entfeindung bezweckt. Das deutet J esus auch dadurch an, daß er den Gegner nicht >~Feind« nennt, sondern »Hasser«, wie die lukanische Parallele (Lk 6,27) nahelegt. Der Unterschied ist für die Hellhörigen beträchtlich. Während nämlich der Begriff »Feind« in allen Sprachen eine Art von »Vollzeitbeschäftigung« andeutet, schwingt im substantiell gebrauchten Zeitwort »Hasser« die Zeitweiligkeit unüberhörbar mit. Denn ein Hasser ist ein Mensch, der dich gestern gehaßt hat, und heute noch immer haßt; der es aber morgen keineswegs tun muß - wenn du nur den Weg zu seinem Herzen findest. Feindesliebe, jesuanisch verstanden, heißt also viel mehr als gute Miene zu bösem Spiel zu machen, indem man den Feind erträgt oder 101
ihn sich durch Höflichkeiten vom Leibe hält, sondern es geht um ein redliches Sich-Bemühen, ein Werben und ein Ringen um den anderen, auf daß er sich ändere, seinen Haß aufgebe und zum Bruder werde. Kurzum - eine Theopolitik der kleinen Liebesschritte, die darauf zielt, daß der Feind aufhört, dein Feind zu sein, was auch für das Beten für die eigenen Verfolger gilt, wie eine sinnverwandte Episode aus dem Talmud bezeugt: »Einige zügellose Gesellen wohnten in der Nachbarschaft von Rabbi Meir, die ihm arg zusetzten. Rabbi Meir betete gegen sie, daß sie stürben. Da sprach seine Frau Beruria zu ihm: Was kommt dir in den Sinn! Etwa, weil geschrieben steht: >Es mögen die Sünder verschwinden< (Ps 104,35)? Steht denn wirklich geschrieben: die Sünder? Keineswegs, denn wir können ja dasselbe Wort auch als >die Sünden< lesen (wie es die vokallose Orthographie im Hebräischen erlaubt). Außerdem verfolge doch den Vers bis zum Ende: >Dann wird der Frevler keiner mehr sein.< Sobald also die Sünden verschwinden, wird es auch keine Frevler mehr geben. Bete also für sie, damit sie in Reue umkehren, dann wird der Frevler keiner mehr sein. Da betete er für sie um Erbarmen, und in der Tat, sie kehrten in Reue um« (Ber 10a). So weit die Lebensweisheit der Talmudlehrer, die das Böse bekämpfen, aber den, der es tut, zu gewinnen bemüht sind. Für alle anderen Glaubenshelden - im Judentum und anderswo -, die es fertig brachten, für ihre Verfolger, Feinde, ja sogar für ihre Folterer zu beten, möge Leszek Kolakoswki, der polnische Philosoph, das Wort ergreifen: »Die religiöse Überlieferung, zumindest in unserem Kulturkreis, verlangt mehr als die bloße Forderung, auf Haß zu verzichten: Wir sollten überdies unseren Verfolgern Gutes erweisen, für unsere Feinde beten. Muß so ein naturvergewaltigender Anspruch als allgemein bindend gelten? Darauf kann man nur das Banalste sagen: Daß es nur sehr wenige gibt und je geben wird, die dieser Aufforderung wirklich gewachsen sind, ist sicher; auf den Schultern dieser Wenigen beruht aber das Gebäude unserer Zivilisation, und das Geringe, wozu wir fähig sind, verdanken wir ihnen.«39 39
Leszek Kolakowski in der Frankfurter Paulskirche am 16.10.1977.
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Herr Kolakowski irrt jedoch, falls er meint, J esu Forderungen auf HaßVerzicht und Feindesliebe entstammen lediglich seiner Selbstverleugnung, die nur das Wohl des Widersachsers im Auge hat. Worum es hier eigentlich geht, ist ein doppelter Brückenschlag: zwischen unserer Gewaltswelt und dem Himmelreich auf Erden einerseits; und zwischen legitimem Egoismus und erleuchtetem Altruismus andererseits. Daß es dem Nazarener keineswegs um schwärmerische Selbstaufgabe gehen kann, die der biblischen Menschenwürde und dem Ethos der Schrift widersprächen, sondern um eine gegenseitige Entfeindung durch tatkräftige Versöhnung, die sowohl dem Hasser als auch dem Gehaßten zugute kommen soll, bezeugen die bei den konkreten Beispiele, die J esus zur Verdeutlichung seiner Absicht bringt. Doch vorerst müssen der politische Hintergrund und das menschliche Klima jener Zeit umrissen werden, in der J esus das Licht der Welt erblickte. Ein düsteres Licht und eine schreckliche Welt waren es - voll Panik, Terror und Angst - zur Zeit jener ersten römischen Steuererpressung, die im jüdischen Schrifttum jener Dunkelzeiten kurzum »die Aussaugung des Landes« genannt wird. Die hochgerühmte ))Pax Romana« war die Gewaltherrschaft einer römischen Besatzungsmacht, die durch arrogante Willkür, schamlose Korruption und brutale Rechtsbrüche das Volk zu zermürben drohte. Besonders drückend lasteten die finanziellen Forderungen des Okkupanten auf der Bevölkerung - elf verschiedene Steuern, Zölle und Abgaben, die der Zwingherr mittels seiner jüdischen Handlanger, den berüchtigten Zollpächtern, im handgreiflichen Sinne des Wortes ))eintreiben« ließ. Kein Wunder, daß diese ))Römlinge« beim Volk als Kollaborateure und Verräter zutiefst verhaßt waren. Auf die Seite der Obrigkeit gehörten auch die Großgrundbesitzer, meistens jüdische Günstlinge der Römer, die mit Hilfe einer korrupten Justiz den Erbbesitz von hochverschuldeten Kleinbauern billig aufkaufen oder enteignen konnten, ihn vielfach an die ehemaligen Besitzer verpachteten, nur um diese durch überhöhte Pachtzinsen zu Tagelöhnern oder Fronarbeitern herabzuwürdigen. 103
Als Bundesgenossen der römischen Behörden galten auch die Sadduzäer, jene kleine Gruppe der Priesteraristokratie in Jerusalem, die sich dem Gewaltregime anzupassen wußten, um ihren Machtzipfel zu bewahren. Daß sie dabei die Ausbeutung des Volkes teils passiv hinnahmen, teils aktiv unterstützten, trug zu ihrem Ruf als Quislinge beträchtlich bei. Unter dem Drang akuter jüdischer Endzeiterwartung und der Peitsche dieser dreifachen Unterdrückungsfront kam es wiederholt zum offenen Aufruhr, wobei Römergewalt, Volksempörung und Heilsungeduld sich immer wieder zu einem Teufelskreis verdichteten, der einen hohen Blutzoll forderte. Wer als Jude in einem vom Feind okkupierten Lande gelebt hat, kann sich in die historischen Umstände in der Heimat Jesu zu seinen Lebzeiten einfühlen. Ganz Israel zerfiel damals in drei Hauptgruppen, die nichts mit den Parteien, Glaubensrichtungen und Sekten zu tun hatten: die Masse der Mutlosen, für die das nackte Überleben zur Zeit der Not zum Hauptziel wurde; die Überläufer, die ihr biblisches Erbrecht für ein Linsengericht am Tisch der Machthaber verschleuderten - und die Starken, für die ein Leben ohne Recht und Freiheit sinnlos war. Wer sich diese Dreiteilung vergegenwärtigt, kann nicht mehr zweifeln, wohin ein Mann von der Statur des Nazareners gehörte. »Eiferer« - auf griechisch: Zeloten -, so nannte sich die Speerspitze jener Starken, die im Namen Gottes den »gebotenen Krieg« gegen das Heidenjoch entfachten, um ihr Volk von den verhaßten Römern und ihren verachteten Hehlern und Helfershelfern zu befreien. Im Grunde waren damals so gut wie alle Juden »Eiferer« für Gott und für sein Reich. Die einzelnen Gruppen unterschieden sich nur in ihren Methoden und dem Anteil am Erlösungswerk, den sie Gott überlassen wollten. Während die »Stillen im Lande« durch Tora-Treue und Gebet den Tag des Herrn herbeibeschleunigen wollten, machten sich die Aktivisten mit Feuer, Schwert und Guerilla-Krieg daran, Gewalt durch Gegengewalt zu verdrängen, um den Weg zu bahnen für das heißersehnte Himmelreich. Alle Gruppierungen beteten alltäglich mit voller Inbrunst das »Höre 104
Israel«-Bekenntnis (Dtn 6,4ff), das die unbeschränkte Gottesliebe zum höchsten Gebot erhebt. In der Auslegung der Nächstenliebe waren sie jedoch verschiedener Meinung. Während der Sadduzäeradel dem »re'a« im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) den einengenden Sinn von »Freund« oder »Volksgenosse« gab, machten die Zeloten Tora-Treue und militanten Patriotismus zur Vorbedingung der Nächstenschaft. Sie beriefen sich dabei auf König David, der gesagt hatte: »Ich hasse, Herr, die dich hassen ... Zu Feinden sind sie mir geworden« (Ps 139,21 ff), um in ihrem Gotteseifer über die Leichen von Römern und abtrünnigen Juden zu gehen. Jesus war sicherlich kein Zelot, kein Revolutionär im landläufigen Sinn oder gar ein galiläischer Bandenführer. Seine Aufrufe gegen die Gewalt als politische Kampfmethode sind zu zahlreich, um dies ernstlich zu bezweifeln. Aber einer, der sagen kann: »Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (Mt 10,34), und der seinen Jüngern rät, ihren Mantel zu verkaufen, auf »daß sie ein Schwert kaufen können« (Lk 22,36), - der ist ebenso wenig ein bedingungsloser Pazifist. Daher leuchtet es auch ein, daß sicherlich einer, wahrscheinlich aber drei, vielleicht sogar fünf von den Zwölf Aposteln einen zelotischen Hintergrund besaßen. Die Rede ist von Simon, der von Lukas zweimal ganz unverhohlen als »der Zelote« tituliert wird (Apg 1,13; Lk 6,15); Judas Ischkariot, dessen Beiname eine aramäische Verballhornung von »Dolchmann« (Sicarius) ist, wie man den harten Kern der Zeloten damals nannte; Bar-Jonah, dessen Beiname ein aramäisches Synonym für ))Rebell« oder ))Verfehmter« sein könnte - und die beiden Zebedäus-Söhne, die mit dem Spitznamen ))die Donnersöhne« (Mk 3,17) nicht gerade den Eindruck von Wehrdienstverweigerern machen. Umso mehr, als ihr einziger Auftritt im NT durch das Zornwort beherrscht ist: ))Herr, willst du, daß wir sagen, Feuer soll vom Himmel fallen und diese Samariter verzehren?« (Lk 9,34). Es leuchtet daher historisch ein, daß J esus nicht ganz ohne Kontakte mit den militanten Aktivisten im zeitgenössischen Israel gewesen sein konnte. Denn von den zahlreichen Schwertworten Jesu, die 105
nichts vom ergebenen Händefalten wissen, ragt eines unübersehbar hervor - aus zwei guten Gründen: Weil es der einzige Spruch ist, der fünfmal in den Evangelien wiederholt wird, und weil es seinesgleichen auch in der jüdischen Überlieferung aus jener Zeit gibt, wo er als Zelotenspruch zitiert wird. »Nur der, der sein Kreuz zu tragen bereit ist, soll mir nachfolgen.« So heißt es bei Markus (8,34); zweimal bei Matthäus (10,38; 16,24) und zweimal bei Lukas (9,23; 14,27). Diesen Aufruf haben die Kirchenväter viel später zu einem abstrakten, weltfremden Appell an das Seelenheil vergeistigt und entschärft. Was er bedeutete, als Jesus ihn auf Erden sprach, war viel einfacher, herausfordernder und todernst. Es war eine wohlgemeinte Warnung an junge Hitzköpfe in Galiläa, die im Sog der Begeisterung sich seiner Bewegung anschließen wollten. Ihnen wurde gesagt: Wer von euch nicht bereit ist, auch die letztmögliche Konsequenz zu riskieren, nämlich den Rebellentod am Römerkreuz, der soll lieber daheim bleiben. Es war die grausame, brutale Wahrheit, die Tausende von Juden vor Jesus, mit Jesus, zu seinen beiden Seiten und nach Jesus mit dem Leben bezahlen mußten. Auch Nicht-Zeloten, die lediglich im Geruch des Widerstandes standen oder wagten, politische Kritik zu üben am Imperialismus der Römer, mußten mit dieser Konsequenz rechnen. In diesem Sinne verstanden ihn auch die Zwölf, als sie Heim und Habe hinter sich ließen, ohne zurückzuschauen, um mit ihrem Meister für Israel zu ringen auf Gedeih und Verderb. »Ja, aber Jesus hat doch gesagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt!« So mögen nun etliche Christen einwerfen. Auf griechisch und auf deutsch mag dieses Wort wie ein Aufruf zur Weltflucht anmuten, der alles Gute, Schöne und Edle ins Jenseits verschiebt, um diese Welt den Despoten, Diktatoren und Tyrannen preiszugeben. Rückübersetzt auf hebräisch bedeutet es jedoch genau das Gegenteil: Mein Königtum, das wir alle so sehnlich erwarten, ist himmlischen Ursprungs und göttlicher Herkunft - die klarste Antithese zum römischen Kaiserreich der Götzendiener. Es wird bald herab106
steigen, um hienieden all den Greuel der Heidenherrschaft zu ersetzen und endlich Gott die Alleinherrschaft zu übergeben. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt!« Dieser Spruch war politisch nicht weniger geladen mit Sprengstoff als die Worte: Frohbotschaft, Erlösung und Himmelreich, die Jesus tagtäglich zu predigen pflegte und die für alle jüdischen Ohren damals nach Aufstand und Befreiung klangen. Dies konnte gar nicht anders sein, da für gläubige Juden die Allgegenwart Gottes folgerichtig auch den Bereich der Politik einschließen muß, wie alle Propheten Israels eindeutig unter Beweis stellen. In der Herbeiführung des Gottesreiches das Politische auszuklammern, wäre daher eine fast lästerliche Verneinung aller gottgewollten Weltlichkeit. Die späteren Entpolitisierer des Christentums hingegen spalteten diese Welt in zwei säuberlich voneinander getrennte Reiche auf, um die Kirche vor jedweder Besudelung von weltlichen Angelegenheiten zu bewahren - und brachten es fertig, im Widerspruch zu J esus und seiner Schrift die Erde den Machthabern als Tummelplatz zu überlassen. Für den Juden Jesus hingegen gab es keinen Graben zwischen Leib und Geist, keine Spaltung zwischen Religion und Politik, auch keine Zweiteilung der Kompetenzen, sondern nur einen Gesamt-Menschen unter dem einen Gott und einen Traum vom all-umfassenden Himmelreich. Genau wie die Leiblichkeit und die Sorge um das leibliche Wohl nicht von seiner Berglehre zu trennen sind, genauso wenig kann die Politik aus seiner Frohbotschaft amputiert werden. Befreiung vom Heidenjoch, Erlösung von der Kleingläubigkeit und schrankenlose Liebe zu Gott und zum Mitmenschen - das sind die drei Hauptziele seiner Heilslehre, die, wie er als praktisch denkender Jude wußte, auf Erden ohne pragmatisch-greifbare Methoden nicht zu verwirklichen sind. Denn wenn die Friedensvision der Endzeit zwar mit himmlischer Vollmacht, aber auf irdische Weise vorzubereiten ist, dann können von Menschen, als Mitarbeitern Gottes, nur menschlich-politische Mittel zur ihrer Konkretisierung angewendet werden. Das wußte 107
-Landsleute, die dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs keine Heilspolitik der Befreiung zutrauen wollten. Und dennoch war J esus gegen die nackte Waffengewalt - weder aus Weltflucht noch aus Feigheit, sondern aus biblischer Weitsicht und realistischer Welterfahrung. Zwischen dem Quietismus der schweigenden Mehrheit und dem Fanatismus der verzweifelten Minderheit fand Jesus einen dritten Weg - den goldenen Mittelweg -, der versprach, daß »die Sanftmütigen das Land besitzen werden« - wie es sowohl im Psalter als auch in der Berglehre heißt (Mt 5,9 = Ps 37,11). »Nicht mit Macht noch mit Streitkraft, sondern durch den Geist des Herrn« (Sach 4,6), so hatte es der Prophet Sacharja gepredigt. Jesus wollte es nicht anders. »Einer von Jesu Begleitern zog sein Schwert«, so heißt es bei der Gefangennahme in Getsemani; J esus aber sagte ihm: »Steck dein Schwert in die Scheide, denn alle, die das Schwert ziehen, werden durch das Schwert umkommen« (Mt 26,51-52). »Herr, sieh, hier sind zwei Schwerter!« bedrängten ihn die Jünger. »Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug!« (Lk 22,37). »Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?« fragten die Draufgänger abermals. »J esus aber sprach: Laßt ab! Nicht weiter!« (Lk 22,49) Jesu »dritter Weg« beruht weder auf passiver Gewaltlosigkeit noch auf militanter Gegengewalt, sondern auf einer völlig neuen Art des Miteinander-U mgehens, das alle Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf stellen und entmachten sollte: »Ihr wißt, daß diejenigen, die als Herrscher der Völker gelten, ihre Völker unterdrücken, und daß ihre Großen sie vergewaltigen. Bei euch aber darf es nicht so sein. Wer unter euch groß sein will, soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, soll der Knecht aller sein« (Mk 10,35-45). Wie solch ein Herren-loses Ethos des gegenseitigen Bruderdienstes und der Entfeindungsliebe in der Jüngergemeinde vorgelebt werden sollte, inmitten einer brutalen Welt der Machtgier und der Oberhand, erhellt Jesus anhand von zwei unmißverständlichen Beispielen aus dem damaligen Alltag.
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Rock und Mantel
Das erste lautet: »Wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir deinen Rock wegzunehmen, dann erlaub ihm auch deinen Mantel!« (Mt 5,40). Hier ist die Rede von verschuldeten Tagelöhnern, vom Verpfändungsrecht und von Schutzbestimmungen für diejenigen, die von der Hand in den Mund lebten und die die Bibel Jesu daher vor der »Gerechtigkeit« der Reichen bewahren will. Zuletzt aber geht es um einen Rechtsverzicht, der auf Anhieb ans Paradoxale grenzt, wohl aber zu guter Letzt zu ganz vernünftigen Ergebnissen führen kann. Doch vorerst zum biblischen Hintergrund dieser unerhörten Aufforderung. Sowohl das Buch Deuteronomium als auch das Buch Exodus überliefern den Text der Zehn Gebote (Ex 20,2-17; Dtn 5,6-21) als das von Gott unmittelbar geoffenbarte »Grundgesetz« für sein Volk. Im Zusammenhang folgen dann auf den Dekalog jeweils Einzelregelungen, die dieses Grundgesetz, das immer und überall gelten soll, für unterschiedliche Situationen konkretisieren und aktualisieren wollen. Dies verdeutlicht insbesondere der Abschnitt Ex 22,20-26 in zwei parallel gestalteten Teilen, wie Gott das Zusammenleben der Menschen ordnen und gestalten wilL Im ersten Teil (Vers 22-23) zeigt der Text deutlich, daß Gott es nicht hinnehmen kann, wenn das Recht der Schwachen und Schutzlosen verletzt wird. Es ist nicht zu übersehen, wie stark beide Teile von der einstigen Versklavung und der göttlichen Befreiung aus Agypten geprägt sind. Das gilt nicht nur von der gleich anfangs gegebenen Handlungsmotivation (»Ihr wart doch selbst Fremde in Ägypten und habt am eigenen Leibe erfahren, was Unterdrückung und Ausbeutung in der Fremde bedeuten!«), sondern vor allem von dem zweimal gebrauchten »Schrei der Leidenden« (Vers 22 und 26) und dem »Erhören Gottes«. Das ist die Grundstruktur der Exodusgeschichte - ja, das jüdische Credo überhaupt (vgl. Dtn 26,5-10). Wo es um das Lebensrecht von Menschen geht, ist Gott selbst betroffen, »denn ich habe Mitleid« (Vers 26). Wo das Leben der Armen und Wehrlosen auf dem Spiele 109
pfändungsrecht und von Schutzbestimmungen für diejenigen, die von der Hand in den Mund lebten und die die Bibel Jesu daher vor der »Gerechtigkeit« der Reichen bewahren will. Zuletzt aber geht es um einen Rechtsverzicht, der auf Anhieb ans Paradox ale grenzt, wohl aber zu guter Letzt zu ganz vernünftigen Ergebnissen führen kann. Doch vorerst zum biblischen Hintergrund dieser unerhörten Aufforderung. Sowohl das Buch Deuteronomium als auch das Buch Exodus überliefern den Text der Zehn Gebote (Ex 20,2-17; Dtn 5,6-21) als das von Gott unmittelbar geoffenbarte »Grundgesetz« für sein Volk. Im Zusammenhang folgen dann auf den Dekalog jeweils Einzelregelungen, die dieses Grundgesetz, das immer und überall gelten soll, für unterschiedliche Situationen konkretisieren und aktualisieren wollen. Dies verdeutlicht insbesondere der Abschnitt Ex 22,20-26 in zwei parallel gestalteten Teilen, wie Gott das Zusammenleben der Menschen ordnen und gestalten will. Im ersten Teil (Vers 22-23) zeigt der Text deutlich, daß Gott es nicht hinnehmen kann, wenn das Recht der Schwachen und Schutzlosen verletzt wird. Es ist nicht zu übersehen, wie stark beide Teile von der einstigen Versklavung und der göttlichen Befreiung aus Agypten geprägt sind. Das gilt nicht nur von der gleich anfangs gegebenen Handlungsmotivation (»Ihr wart doch selbst Fremde in Agypten und habt am eigenen Leibe erfahren, was Unterdrückung und Ausbeutung in der Fremde bedeuten!«), sondern vor allem von dem zweimal gebrauchten »Schrei der Leidenden« (Vers 22 und 26) und dem »Erhören Gottes«. Das ist die Grundstruktur der Exodusgeschichte - ja, das jüdische Credo überhaupt (vgl. Dtn 26,5-10). Wo es um das Lebensrecht von Menschen geht, ist Gott selbst betroffen, »denn ich habe Mitleid« (Vers 26). Wo das Leben der Armen und Wehrlosen auf dem Spiele steht, steht seit dem Exodus ein für allemal fest: Der Gott Israels ist der Gott der kleinen Leute, die ihn am meisten brauchen. Die Konsequenz darf daher nicht im Bereich der abstrakten Moralität verbleiben, sondern muß auch juridisch verpflichten: Wo immer Menschenrechte verletzt werden, da steht die Sache Gottes auf dem 110
Spiel. Mehr noch: Im zweiten Teil (Ex 22,24-26) wird am Beispiel des geltenden Zins- und Pfandrechtes noch schärfer gesagt, daß dort, wo es um das menschenwürdige Leben der Armen geht, die Ansprüche des geltenden menschlichen Rechtes ihre gott gegebenen Grenzen finden: Wo einer so arm oder verschuldet ist, daß er in seiner Würde und in seiner sozialen Existenz bedroht ist, soll man ihm Geld leihen, ohne den gesetzlich möglichen Zins zu fordern, weil er »aus meinem Volk ist«. Dasselbe gilt folgerichtig für diejenigen, deren Schulden größer sind als all ihr pfändbarer Besitz, mit der Ausnahme ihres »letzten Hemdes« - ein klarer Fall, wo Recht und Gerechtigkeit aufeinander prallen. Wie die bei den versöhnt werden sollen, wird im nächsten Vers dem Recht-Haber ins Stammbuch geschrieben: » Wenn du den Mantel deines Nächsten zum Pfande nimmst, sollst du ihn wiedergeben, ehe die Sonne untergeht, denn sein Mantel ist seine einzige Decke für seinen Leib; worin soll er denn sonst schlafen!?« (Ex 22,25). Im 5. Buche Moses heißt es im sei ben Sinn: »Wenn du deinen Nächsten etwas borgst, so sollst du nicht in sein Haus gehen und ihm ein Pfand nehmen, sondern du sollst draußen stehen, und er, dem du borgst, soll sein Pfand zu dir herausbringen. Ist er aber bedürftig, so sollst du dich nicht schlafen legen mit seinem Pfand, sondern sollst ihm sein Pfand wiedergeben, wenn die Sonne untergeht, daß er in seinem Mantel schlafe und dich segne« (Dtn 24,10ff). In ihrem Bestreben, jedwede Lücke zur Ausbeutung der Armen im vorhinein zu stopfen, gingen die Rabbinen einen Schritt weiter: »Ehe die Sonne untergeht, sollst du es ihm zurückgeben (Ex 22,25)dies bezieht sich auf sein Nachtgewand (also: den Mantel, auf dem die Armen zu schlafen pflegten); zurückgeben sollst du ihm das Pfand, wenn die Sonne untergeht (Dtn 24,13) - dies bezieht sich auf sein Taggewand, also: seinen Rock oder sein Untergewand« (Baba Mezia 114b). Der Bedürftige darf also auf keinen Fall entblößt werden, auch wenn seine Schulden so hoch sein sollten, daß sie sogar eine Pfändung seiner Kleidung rechtfertigen. Nicht das Gesetz gilt im Ex111
tremfall, sondern die Gerechtigkeit Gottes, die Gnade vor Recht ergehen läßt. In den Worten der Bibel: »Tue, was in den Augen des Ewigen recht und gut ist, auf daß es dir wohl ergehe« (Dtn 16,18). Diesen Vers erklärt Raschi, der große Bibelkommentator des jüdischen Mittelalters, als Gebot, sich in Rechtsfällen mit dem Gegner auf einen fairen Kompromiß zu einigen und nicht auf der vollen Durchsetzung eines Rechtsanspruches zu bestehen. Die Rabbinen haben für dieses Verhalten den Ausdruck geprägt, daß man »lifnim mi-schurat ha-din«, das heißt: über die harte Grenze des gesetzlich Vorgeschriebenen hinaus, gehen soll. Im Klartext bedeutet das: Rechtsverzicht; freiwillige Übernahme einer Gebotserschwerung; Übererfüllung der gebotenen Norm; Erleichterung der Forderungen an den Nächsten; Vermeidung jedweder Großtuerei; das sogenannte Handeln »um des Himmels willen«; Taten zuliebe des Gemeinwohls - all das, was Matthäus in der Bergpredigt als »die bessere Gerechtigkeit« bezeichnet (Mt 5,20), was aber sein Herr und Meister auf hebräisch als »innerhalb der Rechtslinie« forderte. Als Beispiel wird im Talmud (BM 83a) folgendes berichtet: Rabbi Barbar Channa hatte zwei Träger beauftragt, etwas Wein in sein Haus zu bringen. Durch Unaufmerksamkeit fiel das Faß zu Boden und zerbrach. In seinem Arger über den erlittenen Verlust beschlagnahmte Barbar Channa die Gewänder der Träger, die sich dann beim berühmten Gelehrten Raw beschwerten. Dieser forderte Barbar Channa auf, den Trägern ihre Gewänder zurückzugeben, und auf die Frage des Geschädigten, ob ihm denn kein Schadensersatzanspruch zustehe, erhielt er den Bescheid: »Du sollst den Weg der Guten gehen« (Spr 2,20). Als die Träger ihre Kleider zurückerhalten hatten, klagten sie, daß sie einen ganzen Tag gearbeitet hätten, hungrig seien und mittellos dastünden. Hierauf verurteilte Raw den Arbeitgeber, den üblichen Tageslohn zu zahlen, und auf dessen Einwand, daß er nach dem Gesetz hierzu nicht verpflichtet sei, gab ihm der Rabbi zur Antwort den Ratschlag Salomos: »Und die Pfade der Gerechten sollst du hüten!« (Spr 2,20). 112
Der Arbeitgeber war in diesem Fall ein bekannter Rabbi, dessen Integrität niemand angezweifelt hätte. Dennoch mußte er sich sagen lassen, daß er in seinem Rechtsstreit mit seinen Tagelöhnern seine »Rechtsansprüche« nicht voll einfordern durfte, da ansonsten das, was »recht« wäre, keineswegs als »gut« gelten konnte. Doch nicht alle Arbeitgeber damals - oder heute - waren so einsichtig und auch bereit, sich solch einem Urteil ohne Einspruch zu beugen. Ja, gerade die Hervorhebung dieser Episode im Talmud verstärkt den Verdacht, daß es sich um einen rühmlichen Ausnahmsfall handelte, der zwar als Vorbild hochgehalten wird, aber gerade deshalb das bedauerliche Pochen-auf-das-Recht der meisten Arbeitgeber zu bestätigen scheint. Auf solche »Normalfälle« scheint sich Jesus zu beziehen, wobei er jedoch ausgerechnet den armen Tagelöhnern zumutet, auf ihr biblisches Minimalrecht zu verzichten. Widerspricht das nicht jeder irdischen Logik und aller menschlichen Vorstellung von Gerechtigkeit? Und warum wendet J esus sich nicht, wie es gut und billig wäre, an den vermögenden Arbeitgeber, wie Raw es in der Talmudperikope tat, um ihn zum Rechtsverzicht auf den Rock des Armen zu bewegen? Ein Rock, der ihm zwar juridisch zustehen möge, ohne den er jedoch sehr wohl auskommen konnte! Die Antwort auf diese Frage finden wir in der Episode vom reichen Jüngling, die auch als die Geschichte von der gescheiterten Nachfolge bekannt ist. Hier wird erzählt, was sich im Laufe von J esu Wanderschaft wohl des öfteren begeben hat: »Da trat einer an ihn heran und fragte ihn: >Rabbi, was soll ich Gutes tun, um das Ewige Leben zu erlangen?< Jesus antwortete ihm: >Warum befragst du mich um das Gute? Einer ist der Gute. Willst du in das Ewige Leben eingehen, so halte die Gebote.< >Welche?< entgegnete er. Jesus antwortete: >Diese: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis ablegen, ehre deinen Vater und deine Mutter, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.< Der junge Mann erwiderte ihm: >Das alles habe ich gehalten. Was fehlt noch?< Jesus antwortete ihm: >Willst du tadellos sein, so gehe hin und verkaufe dein Hab und 113
Gut und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir nach!< Als der junge Mann dies hörte, ging er traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen« (Mt 19,16-22). Der reiche Jüngling war offensichtlich ein frommer Mann, der sich streng an alle Gebote der göttlichen Weisung hielt - eine Behauptung, die Jesus ohne Spur einer Verdächtigung anerkannte. Gerade deshalb traute er ihm das Aufgeben seines Vermögens zugunsten der Armen zu, eine Überforderung, die wohl auch heute auf dieselbe »traurige« Ablehnung stoßen würde wie damals. Zu Spenden, Almosen und zum Armenzehnt war der Jüngling sicherlich bereit, aber: »Verkauf dein Hab und Gut und gib es den Armen!«, das war mehr als er - und alle seinesgleichen - bereit war, auf sich zu nehmen. Nach einigen solchen Versuchen, die mit Sicherheit ebenso erfolglos bleiben mußten, gab Jesus die Begüterten offensichtlich als »Mammonknechte« auf. Mit einem Seufzer der Resignation stellte er fest: »Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr eingehe als ein Reicher in das Reich Gottes!« (Mt 19,24) Fortan wandte er sich an die Armen, denen zeitlebens seine hauptsächliche Fürsorge galt. In diesem Fall aber scheint er nicht auf ihr Wohlergehen bedacht zu sein, denn er rät hier den Verschuldeten zum Rechtsverzicht, sogar auf die Gefahr hin, dabei ihre letzte Habe einzubüßen. Eigentlich sollten wir von ihrer vorletzten Habe sprechen, denn auch die Armen besaßen in der Regel zumindest zwei Bekleidungen, wie Jesus selbst es bei der Aussendung seiner zwölf Jünger klarstellt, die sicherlich nicht zu der begüterten Klasse gehörten: »Verschafft euch weder Gold noch Silber noch Kupfermünzen in einem Gürtel, auch keine Reisetasche und nicht zwei Röcke, weder Schuhe noch Stab! Denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert« (Mt 10,9). Dennoch bleibt zu klären, warum J esus den Armen solch eine paradoxale Überforderung zuzumuten wagte, die von den meisten Exegeten als ))absurd« oder ))rein zeichenhaft« abgeschrieben wird. Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre, daß Jesus, der ja die Ar-
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men selig spricht (Lk 6,20; Mt 5,3), das Armsein als einen Zustand, der dazu treibt, alles von Gott allein zu erwarten, zur Vorbedingung des Eingehens in das Himmelreich erachtet. Oder daß er in der heißersehnten Königsherrschaft Gottes die Umkehrung des elenden Geschicks aller Armen erwartete. Wenn Jesus sich als den von Gott Gesandten und mit Geist Gesalbten verstand, um »den Armen frohe Botschaft zu bringen« (Jes 61,1), wie er in der Synagoge von Nazaret verkündete (Lk 4,16ft), so mag er auch den Auftrag gespürt haben, nach J es 11,4 als Richter der Armen und der Elenden im Lande diesen Randsiedlern der Gesellschaft die Seelengröße zuzumuten, durch ihren Rechtsverzicht die Ankunft der erlösenden »zedakah« zu beschleunigen. Es sei denn, J esus dachte an die vier verschiedenen Einstellungen zum Privatbesitz, wie sie in folgendem Spruch der Rabbinen zum Ausdruck kommen: »Eine vierfache Gesinnung gibt es unter den Menschen zu der Grundfrage von mein und dein: Wer sagt, das Meine ist mein und das Deine ist dein, gehört zu den Mittelmäßigen. Manche behaupten, es sei die Art Sodoms. Wer sagt, das Meine ist dein und das Deine ist mein, handelt nach der Weise der Tora-Unkundigen. Wer da sagt, das Deine ist mein und das Meine ist mein, der ist ein Frevler. Wer aber sagt, das Meine ist dein und das Deine ist deindas ist der wahrhaft Fromme. (Eine andere Version sagt:) Das ist die Art der Heiligen!« (Abot V, 10). Hier wird der Besitzverzicht als Tugend gepriesen und zum Vorbild erhoben, dem jedoch zu allen Zeiten nur sehr wenige Menschen zu folgen bereit waren. Calvin spricht hier wohl für die meisten Juden und Christen, wenn er zu Mt 5,40 sagt: »Es wäre albern, auf den Worten zu bestehen; ... besser wäre es, den Gegner vor Gericht zu ziehen« (Evangelienharmonie I, 196). Nicht ausgeschlossen werden darf daher eine vierte Deutung, die einer Konkretisierung des allgemeinen Ratschlages J esu an seine Jünger gleichkäme, »sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen zu sein« (Mt 10,16), um durch weise Demut ein Stück vom Glück auf Erden zu ergattern. Der Text scheint diese Annahme zu erhärten, denn Jesus sagt ja 115
nicht: »Gib ihm auch den Mantel!« Sondern: »Laß ihm!, oder auf hebräisch: Erlaub ihm auch den Mantel« - was einem Angebot gleichkommt, aus dem die Hoffnung auf eine Ablehnung von seiten des Klägers spricht, aber keine bedingungslose Hingabe des Mantels, die ja den Gläubiger der Gelegenheit berauben würde, sich vor dem Richter als edel und großzügig zu erweisen. Ebenso sagt Jesus nicht: Bitte deinen Gegner um eine zweite Ohrfeige, sondern: »Halte die andere Backe hin!« (Mt 5,39) - in derselben Hoffnung, daß der Gegner fair genug ist, um nicht ein zweites mal zuzuschlagen. In beiden Fällen verläßt J esus den Boden seines großmütigen Realismus keineswegs. Dies entspräche auch der Unterwerfungsgeste des Unterlegenen, mit der nach der modernen Aggressionsforschung die meisten Zweikämpfe unter Tieren derselben Gattung enden. Vieles spricht dafür, daß auch ein brutaler Schuldeintreiber durch die Großmut eines Unterlegenen zur Scham bewegt werden kann, was ihm, vielleicht mit Hilfe des Richters, zur Einsicht verhelfen könnte. Sicherlich aber würde solch ein überraschendes Entgegenkommen von seiten des Schwachen mehr Nachsicht und Rücksicht auf der Gegenseite zeitigen als ein beharrliches Pochen auf ein biblisches Privileg, das einer juridisch-finanziellen Forderung zuwiderläuft. Daß J esus dank dieser Methode der entwaffnenden Nachgiebigkeit mit dem Verzicht von seiten des Klägers auf den ihm dargeboten Mantel zu rechnen schien, beweist sein berühmtes Schwertwort, das an dieselben zwölf Apostel gerichtet war: »Wer kein Schwert hat, der verkaufe seinen Mantel und kaufe eines!« (Lk 22,36). Jedenfalls verträgt sich diese Deutung sowohl mit der ersten Seligpreisung als auch mit der messianischen Hoffnung, daß Gott »die Hungrigen mit Gütern füllt und die Reichen leer heimschickt« (Lk 1,53). Denn keine der prophetischen Zukunftserwartungen im Judenturn widerspricht den selbständigen Bemühungen der Armen, ihr schweres Erdenlos auf redliche Weise zu erleichtern, - oder dem häufig betonten Bestreben, praktische »Mitarbeiter Gottes« am Heilswerk dieser Welt zu werden. 116
Die zweite Meile Im ersten Beispiel J esu zur Erläuterung seiner Entfeindungsliebe ging es um den Umgang mit dem jüdischen Ausbeuter; das zweite handelt folgerichtig vom römischen U nterjocher - die bei den Menschengruppen, die den Armen in Israel das Leben sauer machten. Und so heißt es gleich nach der Rock-und-Mantel-Lektion: »Wer dich nötigt, eine Meile weit zu gehen, mit dem gehe zwei!« (Mt 5,41). Gemeint war natürlich die berüchtigte »angareia« - jener Frondienst der Römer (wie das griechische Fremdwort ))milion« verdeutlicht), der es jedem Legionär erlaubte, seinen Sack und Pack jedem vorbeigehenden Juden aufzuhalsen (vgl. Simon von Zyrene in Mk 15,21), um ihn eine Meile lang als Lasttier zu mißbrauchen. Zu Ende dieser Strecke konnte der Jude dem Zwingherrn sein Gepäck vor die Füße werfen und entfliehen oder schon vorher das Weite suchen, was häufig mit drakonischen Strafen geahndet wurde. In beiden Fällen wurde die gegenseitige Feindseligkeit bestärkt, womit täglich weiterer Brennstoff für die schwelende Volksempörung und die blutigen Repressalien des Okkupanten geliefert wurde. Jesus schlägt nun eine dritte Handlungsweise vor: den Frondienst nach der Vorschriftsmeile in ein freiwilliges Geleit zu verwandeln, um den erstaunten Römer durch Zuvorkommenheit im besten Sinne des Wortes: zu entwaffnen. Hiermit wird dem Überlegenen die Initiative weggenommen, Böses wird mit Gutem vergolten, und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß sich im Laufe der zweiten Meile ein freundschaftliches Gespräch anzubahnen beginnt. Denn, wie schon das Prophetenwort bezeugt, das Jesus hier vorgeschwebt haben mag: ))Können denn zwei miteinander wandern, es sei denn, sie werden einig unterwegs?« (Am 3,3). Daß solche Entfeindungsliebe nicht nur gepredigt, sondern hie und da auch praktiziert worden ist, sowohl im Geleit als auch in der Bekleidung und der Betreuung, bezeugt der folgende Midrasch, der aus jenen schweren Zeiten stammt: ))Einst wurde ein schiffbrüchiger Römer in der Zeit des härtesten Rö117
merjochs nackt an das Ufer des Landes Israel gespült. Er verbarg sich unter Felsen und rief von dort aus einer Gruppe jüdischer Festpilger zu: )lch bin ein Nachkomme Esaus, eures Bruders. Gebt mir etwas Kleidung, meine Blöße zu bedecken, denn das Meer hat mich entblößt, und ich habe nichts retten können!< Sie antworteten ihm: )Möge dein ganzes Volk entblößt werden!< Da erhob jener Römer seine Augen, sah Rabbi Elasar, der unter ihnen ging, und rief: )lch sehe, daß du ein alter und von deinem Volk geehrter Mann bist, der die den Geschöpfen gebührende Achtung zollt, so hilf mir doch!< Rabbi Elasar Ben Schammua besaß sieben Gewänder. Er nahm eines davon und gab es ihm. Auch führte er ihn in sein Haus, versorgte ihn mit Essen und Trinken, gab ihm zweihundert Denare, geleitete ihn vierzehn Meilen weit und erwies ihm große Ehre, bis er ihn zu seinem Hause gebracht hatte.«41
Zöllner-Moral und Berg-Ethik J esus ging es nicht um den löblichen Einzelfall, sondern um eine neue Umgangsregel für die Massen der ewig Unterlegenen, die er durch eigenes Umdenken zu Mitarbeitern an der Befriedung Israels machen wollte. Anders gesagt: Er fordert seine Jünger auf, einen Anfang zu machen, in Form einer einseitigen Vorleistung auf Kredit sozusagen, um so den uralten Teufelskreis von Haß und Gegenhaß, von Gewalt und Gegengewalt zu sprengen. Macht doch den ersten Schritt, so lautet sein Appell! So wie Gott mit dem Lieben angefangen hat, indem er euch liebesfähig schuf, tut es ihm nach und macht den ersten Schritt auf den Lieblosen zu! Vielleicht könnt ihr ihn durch eine Zeichenhandlung verändern. Vielleicht hat er so wenig Liebe erfahren, daß er das Lieben verlernt hat und nur auf einen Liebesanstoß wartet, um wieder Mitmensch zu werden. Versucht es doch einmal! Zu verlieren habt ihr nur eine halbe 41
Midrasch Eccl. Rabba 11,1.
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Stunde Fuß-Arbeit; gewinnen aber könnet ihr einen Helfer, einen Gönner - vielleicht sogar einen Freund! Weder Sympathiekundgebung noch Liebeserklärungen verlangt Jesus, aber auch keinen Machtverzicht, sondern die vernünftige Förderung einer friedliebenden Aussöhnung. Vernünftig kann aber keine bedingungslose Selbstpreisgabe heißen, denn sie widerspräche dem maßvollen Schwertwort, das Jesus denselben Jüngern empfiehlt: »Wer kein Schwert hat ... , der verkaufe seinen Mantel und kaufe eines ... Sie aber sagten: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter! Er aber sprach: Es ist genug« (Lk 22,35-36). Im Klartext heißt das sowohl, daß zumindest zwei der Jünger Jesu Ratschlag zuvorgekommen und bereits bewaffnet waren - als auch, daß J esus dies nachträglich guthieß. Zwei Schwerter unter dreizehn Mann genügen zwar nur zur Selbstverteidigung, galten aber im besetzten Palästina des ersten Jahrhunderts als eine höchst gravierende Illegalität, da das Römergesetz es den Juden strengtens untersagte (mit der Ausnahme weniger Privilegierter), Schwerter zu tragen. Zuwiderhandelnde wurden häufig als Rebellen behandelt und gekreuzigt. So war also J esus bereit, dem Diktat der vernünftigen Selbstwehr zu gehorchen, auch im gefährlichen Widerspruch zu den Bestimmungen der heidnischen Besatzungsmacht. Paulus, der im 12. Kapitel seines Römerbriefes eine Art Kurzfassung der Berglehre bringt, scheint seinen Herrn richtig verstanden zu haben, wenn er schreibt: »Wenn möglich, so viel an euch liegt, lebt mit allen Menschen in Frieden!« (Röm 12,18). Dabei sind die ersten sieben Worte unzweideutig sowohl gegen passive Unterwerfung als auch gegen ein Sich-Heraushalten aus unumgehbaren Konflikten gemeint. Wenn also Landesbischof E. Lohse mit Recht betont, man könne »die Bergpredigt nicht ohne den Bergprediger haben«, so heißt das auch, daß Jesu Lehre in ihrer Gesamtheit erfaßt werden muß, um ihm gerecht zu werden. Eine Lehre, die kaum in ein fein säuberliches System hineingepfercht werden kann, da sie all sein Leben und Streben, mitsamt seinem Lehren und Bekehren umfaßt, von dem die Berglehre nur einen Bruchteil darstellt. 119
Doch nun zurück zu Jesu Entfeindungsliebe, die Lukas in seiner parallelen »Feldrede« sogar zweimal nennt (Lk 6,27 und 35) - beide Male im radikalen Sinn von »tut gut denen, die euch hassen«, aber keineswegs als grenzenlose Selbstverleugnung. Derselben besonnenen Denkart entspringt die rabbinische Debatte über die Priorität zwischen zwei Bibelsatzungen, die auf den ersten Blick einander zu widersprechen scheinen. Im 5. Buch Moses lesen wir: »Wenn du deines Bruders Esel oder Rind unterwegs fallen siehst, so sollst du dich ihrer annehmen und ihnen aufhelfen« (Dtn 22,4). Im 2. Buch Moses aber heißt es: »Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last erliegen siehst, so lasse ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm (dem Hasser) zusammen dem Tiere auf!« (Ex 23,5). Was aber soll man tun, so lautet nun die Frage, falls der Esel deines Bruders und der Esel deines Hassers justament zur selben Zeit deines Beistands benötigen? Die Antwort, die J esus sicherlich bekannt war, lautet: Zuerst hilf dem Esel deines Hassers, denn dadurch rettest du nicht nur ein Tier, sondern »änderst« auch das Herz deines Widersachers und gewinnst einen Freund - dann erst geh und hilf dem Esel deines Bruders! Drei Liebesdienste auf einen Hieb. In den Worten des Midrasch, der es liebt, trockene Prinzipien mit dem Fleisch und Blut der Parabel zu beleben: »Ein Mensch geht auf dem Wege und sieht, daß der Esel seines Hassers unter seiner Last zusammenbricht. Er geht hin, reicht ihm die Hand und hilft ihm erst ab-und dann aufladen. Hierauf gehen sie in ein Wirtshaus und der Eselbesitzer auch wenn er ein Heide ist - sagt sich in seinem Herzen: So liebt mich der-und-der; und ich meinte fälschlich, er hasse mich. Sogleich reden sie miteinander und machen Frieden« (Midrasch zu Ps 99,4). Die Aufgabe ist: eine »Eselsbrücke« zum Feind hin bauen, dem Hilfe nottut. Eben diese praktische Entfeindungsmethode, die nichts von Schwärmerei oder Übermenschlichkeit wissen will, hebt J esus als bibelgetreue Realpolitik zur Schrumpfung von Konflikten hervor - sowohl gegenüber dem fremden Herrscher als auch dem eigenen Machthaber, um aus Gegnern zumindest gute Nachbarn, aber wenn 120
möglich echte Freunde zu machen. Entfeindungsliebe hat aber zwei Gesichter: Wandle deinen »re'a« und dich selbst! Andere ihn, so daß er sich des Hasses entledigt und durch seine Neu-Beziehung zu dir auch dich zum Guten ändern kann. Kurz und gut: Wer zu enthassen weiß, hat sich und seinen Nächsten mitgeliebt. Wenn Jesus die Gegner »Hasser« nennt (wie die lukanische Parallele 6,27 nahelegt) und die Vokabel »Feind« im Sinn seiner Bibel vermeidet, so schwingt hier auch eine geistige Dimension ganz deutlich mit. »Feind« hat nämlich in den meisten Sprachen den Klang einer unabänderlichen Gegnerschaft, während »Hasser« ein substantivisch gebrauchtes Zeitwort ist, das wie alle Zeitwörter die Zeitweiligkeit in sich birgt und so stillschweigend zur »Enthassung« aufruft. Kriege wurden seit eh und je durch ein Freund-Feind-Denken vorbereitet, das die Angst vor dem anderen dadurch bestärkt, daß es alles denkbar Böse in ihn hineinphantasiert, bis er zur Inkarnation des Unmenschen wird, gegen den alle Mittel nun legitim werden. Im Nu wird dann aus Angst ein Haß, der sich dank der primitiven Schwarz-WeißMalerei sogar den Heiligenschein eines »gerechten Krieges« aufsetzen kann, denn gegen den Teufel ist ja alles erlaubt. So geschah es bei Kain, bei Amalek, bei Haman, bei den Zeloten - und bei Hitler. J esus will diese Eskalation im Keime ersticken, indem er den Gegner als (heilbaren) »Hasser« Mensch sein läßt, an dem es auch genug gute Züge zu entdecken gilt, die die Hoffnung rechtfertigen, ihn entfeinden zu können. So bleiben der Hasser und der Gehaßte im Bereich des Menschentums, das zwar eine Unzahl von U nterschiedlichkeiten kennt, aber keine extremen Kontraste, die unüberbrückbar wären. Und so lehrt Jesus: »Erweiset euren Hassern Liebesdienste (wie es besser zu übersetzen wäre) und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet« (Mt 5,44-45). »Werdet« heißt es hier, gut hebräisch; denn die jüdische Gottessohnschaft ist, ungleich der griechischen, kein Privileg der Geburt, sondern will durch gottgefällige Taten verdient und erarbeitet werden. Taten, unter denen der Dienst am Frieden einen hohen Vorrang genießt. Hinzugefügt muß hier nochmals werden, daß das hebräische 121
Wort für »Söhne« (banim) sich keineswegs auf Nachkommenschaft beschränkt, sondern im jeweiligen Zusammenhang: Nachfolger, Befolger, Erbe, Gefolgsmann oder Nachahmer bedeuten kann. Daß es hier um eine Nachahmung Gottes geht, im Sinne einer Theopolitik der erfinderischen, liebevollen Friedensförderung, ist nicht weniger offensichtlich, als daß es hier um dieselbe Gottessohnschaft geht, die in der siebenten Seligpreisung ein und dieselbe Versöhnungsstrategie hervorheben will: »Selig die Friedenmacher, denn sie werden Söhne Gottes heißen« (Mt 5,9). »Friedenmacher« und »All-Erbarmer« sind häufige Synonyme Gottes in der hebräischen Liturgie, die beide Eigenschaften zu den hauptsächlichen Attributen Gottes erhebt. Sie lebt uns ja der himmlische Vater tagtäglich vor, indem er »seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,45). Wer solch schrankenlose Liebe nachzuahmen vermag - wenn auch nur in annäherndem Maße -, um jenen gott gewollten Schalom auf Erden zu verwirklichen, der wird mit dem poetischen Würdetitel der »Gottessohnschaft« geadelt. Da dieses hebräische Lobeswort als eine mühselige, entsagungsreiche ))Gottessohn-Werdung« von Jesus hier im rabbinischen Sinn als das Endziel menschlichen Bemühens dargestellt wird, so scheint der Schlußsatz der Superthesenreihe unrichtig übersetzt zu sein: ))Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Mt 5,48). Dies klingt nicht nur wie eine menschenunmögliche Überforderung, die allem jesuanischen Realismus fremd ist, sondern auch wie eine ganz überflüssige Wiederholung des Grundgedankens der Nachahmung Gottes, wie er schon so beredt in Mt 5,9 und Mt 5,45 zum Ausdruck gebracht wurde. Semitisch geprägt aber hat die griechische Vokabel ))teleios« den Sinn von Ganzheit - als Gegenteil von Zwiespalt, der ))zwei Seelen in seiner Brust« beheimatet und daher mit sich selbst uneinig ist. Dieser Begriff der Ganzheit (schalem) wohnt auch dem Schalom inne, der ein dreidimensionales Ganzsein bezeugt - mit sich selbst, mit Gott und mit seiner U m-
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welt, als eine all-umfassende Harmonie der U ngeteiltheit, die dem Anspruch der Untadeligkeit und der Herzensreinheit entsprechen. Ihm wurden Noach, Abraham und Ijob·gerecht, weil sie eben so waren, wie man als ganzer, ungespaltener Mensch sein kann und solL Dieses uneingeschränkte, ungebrochene Ganzsein verlangt das ganze Herz und das gesamte Tun, auf daß Gesinnung und Gebaren aus einem Stein gehauen seien, ohne Schizophrenie aufkommen zu lassen - um die Gänze des möglichen Menschseins als erfüll bare Forderung zu vollenden. Ganz mit Gott sein fordert dabei auch eine Unbedingtheit, die sich an Gott orientiert anstatt an der Welt und ihren Halbheiten; die also das höchste Ziel im Auge hat, indem sie Gottes Heiligkeit und seine Liebe zum Maßstab des eigenen Handelns macht - nicht um ein Ausbund aller Tugend zu werden, sondern eher im vollen Bewußtsein aller menschlichen Unvollkommenheit. »Ihr sollt vollkommen sein« mag in der Qumran-Tradition als totale Verwirklichung des Gebotes »Ihr sollt heilig sein, denn heilig bin ich, euer Gott« (Lev 19,2) verstanden worden sein; für das normative Judentum hingegen schwingt hier fast ein Hauch von Blasphemie mit, denn »alle haben gesündigt« (1 Kön 8,46); »alle sind abgewichen, da ist keiner der Gutes tut« (Ps 14,1-3) und »kein Fleisch kann vor Gott bestehen« (Jes 40,6), so daß »Vollkommenheit« eine göttliche Eigenschaft ist, die uns allen hienieden versagt bleibt. In den Worten von Leo Baeck, die letzte Leuchte des deutschen Rabbinates: »Gegenüber der Forderung, heilig zu sein, wie Gott heilig ist, kann niemals eine Erfüllung möglich sein, geschweige denn der Anspruch, mehr geleistet zu haben, als geboten ist. Vor Gott, so wiederholen es Lehre und Gebet des Judentums, gibt es kein Verdienst. Wir können strebende, ringende Menschen sein; fertig, vollendet und vollkommen sind wir nie« (Das Wesen des Judentums, Band I, 172). »Seid ganz (Mensch) wie euer Vater im Himmel ganz (Gott) ist«, wäre also eine näherliegende Übersetzung, die die Erfüllung aller Liebesgebote, sowohl als Ergänzung des Menschseins als auch als (nachhinkende) Nachahmung Gottes, zum Bindeglied der beiden verschiedenen Ganzheiten machen könnte. 123
Es gibt auch eine andere Möglichkeit, das »teleios« kontextgetreu und sinngemäß auf seinen wahrscheinlichen Ursprung zurückzuführen. Eine Rück-Übersetzung von Mt 5,48 ins Aramäische (oder ins QumranHebräische) ergibt nämlich eine Verbalform: T-sch-I-mun, die unvokalisiert entweder als »seid vollkommen« (tischlernun) oder als »vergeltet« (teschalmun) gelesen werden kann. Der Gesamtkontext wie auch die Strukturierung der jesuanischen Argumentation legen die zweite Lesart näher: »Ihr sollt vergelten, wie euer himmlischer Vater vergilt!« Wobei »auch nicht ein Jota oder ein Strichlein« vom Text geändert werden müßte. Gemeint wäre hiermit: Vergeltet Böses mit Gutem, Fluch mit Segen, Haß mit Liebe, wie er es euch vortut - was wie das trefflichste Resümee zum Abschnitt (Mt 5,43-48) über die Entschränkung aller Liebe gelten kann. Ebenso harmonisiert diese Lesung viel besser mit der lukanischen Parallelstelle, die im Grunde dasselbe besagt: »Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!« (Lk 6,36). Hinzuzufügen wäre noch, daß eben dieser Grundgedanke, nämlich daß der Mensch wie Gott vergelten soll, ja, daß die beiden »Vergeltungen« fast kausal miteinander verbunden sind, wie ein roter Faden durch Jesu ganze Kerygmatik läuft: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« (Mt 7,1). »Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden!« (Lk 6,37). ))Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, werdet ihr gemessen werden« (Lk 6,38). ))Gebt, und es wird euch gegeben werden!« (Lk 6,38). ))Selig die Barmherzigen, denn sie werden )gebarmherzigt< werden« (Mt 5,7). Dabei ist das Passivum Divinum stets eine fromme Umschreibung Gottes, des Vergelters. Nichts anderes besagt die Fürbitte aus dem Vater Unser: ))Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben« (Mt 6,12). Zu guter Letzt wiederholt es Jesus ein siebentes Mal - für die Begriffsstutzigen: ))Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr
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aber den Menschen nicht vergebt, wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben« (Mt 6,14f). Zusammengefaßt: Ihr sollt vergelten, wie euer Vater im Himmel vergilt! Das wiederum entspricht der alten jüdischen Lehre, die bereits Jesus Ben Sirach um 185 vor der Zeitrechnung bezeugt: »Wer Rache übt, an dem rächt sich der Herr und behält dessen Sünden im Gedächtnis. Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deIne Sünden vergeben« (Sir 28,1-2). Oder, noch klarer und dem Sinne Jesu näher: »Gott spricht: Sei mir ähnlich - so wie ich Böses mit Gutem vergelte, so vergilt auch du Böses mit Gutem!« (Ex Rabba 26,2). Anstatt der allzu menschlichen »Zöllner-Ethik« (Mt 5,46), die nur den Wohltäter liebt und zugleich Gabe und Gegengabe fein rechnerisch auskalkuliert, wird hier eine ))Berg-Ethik« empfohlen, die Einfühlsamkeit mit Freigiebigkeit verbindet, aus dem Bewußtsein heraus, daß dein bedürftiger Bruder, auch wenn er böse auf dich ist, als Mitgeschöpf Gottes ein gott gewolltes Recht auf deinen Beistand hat. Daß hiermit nicht nur die unerschöpfliche Gnadenliebe Gottes zur Nachahmung nahegelegt wird, sondern auch die sanfte Pädagogik Gottes, die den Hasser, Sünder und Frevler durch Güte zur Einsicht und Umkehr bewegen will, wird in zahlreichen Stellen des alt-rabbinischen Schrifttums bestätigt. Jesus mag dies daher als bekanntes Lehrgut vorausgesetzt haben. Ziel und Zweck der Nachahmung Gottes ist es letzten Endes, eine Brücke zu schlagen zwischen erleuchtetem Eigennutz und weitsichtigem Altruismus; zwischen legitimer Selbstliebe und biblischer Nächstenliebe - heißt es doch: ))Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« - und hiermit auch zwischen der Realwelt von heute und dem morgigen Himmelreich. In den Worten der jüdischen Didache aus dem ersten Jahrhundert, die wie ein pragmatischer Kommentar zur Berglehre klingt: ))Was habt ihr für einen Dank, wenn ihr die liebt, die euch lieben? Tun nicht die Heiden das? Aber liebt die, die euch hassen, so werdet ihr keine Feinde haben« (Did 1,3). 125
Die rechte Backe Derselbe besonnene Idealismus Jesu, der die Goldene Regel (Mt 7,12) mit dem Auftrag verbindet, »sanft wie die Tauben« und zugleich »klug wie die Schlangen« zu sein (Mt 10,16), beseelt auch die dritte Spitzenaussage der Berglehre: »Wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin!« (Mt 5,39). Hier ist vorerst zu bemerken, daß das im Normalfall gar nicht geht, denn nur Linkshänder treffen die rechte Backe einer Person, die ihnen gegenüber steht. Da J esus sich dessen zweifelsohne bewußt war, müssen wir tiefer schürfen, um seine Absicht zu verstehen. Die Talmud-Abhandlung über Schadenersatz in Fällen von Körperverletzung hilft uns weiter. Dort heißt es: »Wenn jemand seinem Nachbarn eine Ohrfeige gibt ... , so zahlt er 200 Sus als Wiedergutmachung ... Geschah es aber mit verkehrter Hand - also: mit dem Handrücken -, so zahlt er 400 Sus. Warum das Doppelte? Der Schlag mit dem Handrücken schmerzt zwar weniger, gilt aber als Geste der Verachtung, die größeren Schimpf zufügt und zwiefach bloßstellt und beleidigt.«42 Jesus spricht also nicht vom Schläger allein, der wehtun will, sondern von einer gezielten Verunglimpfung, die Schmerz und Schmach vereint. Ein (jüdischer) Schläger, der zuerst aus Jähzorn handelt, würde sich wohl hüten, »die andere Backe zu schlagen«, denn wenn er sein Opfer dabei verletzen sollte (womit auch die kleinste blutende Wunde gemeint ist), »hat er fünf Zahlungen zu leisten: Schadenersatz, Schmerzensgeld, Arztkosten, Versäumungsgeld und Beschämungsgeld.«43 Wie bei vielen J esusworten haben wir es auch hier mit einer Vieldeutigkeit zu tun, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann. Zumindest fünf verschiedene Deutungen sind der Theologie bekannt.
42 43
Baba Qama 8,6 und T Baba Qama 9,31. Mischna Baba Qama BQ VIII, 1; vgl. Ketubot 33a.
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Es handle sich um eine bewußte Selbstüberforderung, so meinen die Rigoristen, um einen Auftrag, der so gut wie alle menschliche Moralkraft übersteigt, indem er den totalen Verzicht auf die eigene Würde verlangt - der totalen Nächstenliebe zuliebe. Es könnte aber auch eine Ethik der Selbsterniedrigung sein, so meint eine zweite Schule, die den normalen Egoismus durch gewollte Demütigung bändigen oder gar im Keime ersticken will. Dies mag radikal anmuten, könnte aber vielleicht der einzige Ausweg sein aus dem endlosen Teufelskreis von Haß und Gegenhaß, der die gesamte Weltgeschichte in eine unmenschliche Verkettung von Schlachten und Schlächtereien verwandelt hat. Man könnte aber ebenso gut sagen, es handle sich hier um eine Ethik des stillen Stolzes, wie C. F. von Weizsäcker meint, der dem Schläger zu verstehen gibt: Wenn du mich auf diese brutale Weise treffen willst, so kannst du mich ruhig auch auf die andere Backe schlagen, aber wisse: So triffst du mich nicht! Nicht auszuschließen wäre auch eine vierte Deutung, die Realismus mit Moralität verbindet. Die andere Backe hinhalten bringt natürlich das Risiko mit sich, daß der Gegner ein zweitesmal zuschlägt. Ebenso besteht aber die Hoffnung, daß ihn die widerstandslose Demut des ohnehin schon Geschlagenen überwältigt, und in seinem Herzen das Mitleid oder zumindest das Mitgefühl die Oberhand gewinnt. Das Hinhalten der anderen Backe - genau wie das Angebot des Mantels - wäre als ein wortloser Appell an die Menschlichkeit des Gegners zu verstehen. Ein Appell, der sicherlich bessere Aussicht auf Erfolg beanspruchen darf, als ein zorniges Zurückschlagen - wie die moderne Aggressionsforschung inzwischen wissenschaftlich bewiesen hat. Bestätigung findet diese Deutung aus dem Munde eines hartgesottenen Realpolitikers, König Herodes Agrippa I1., der seinen Landsleuten zu jener Zeit denselben Ratschlag in folgenden Worten erteilte: »Nichts mildert die Wucht der Schläge so sehr, als sie geduldig zu ertragen. Und die Gelassenheit der Leidenden hindert die Schergen 127
in ihrem Vorhaben.« So nachzulesen. bei Josephus Flavius 44, der nichts unversucht gelassen hatte, um Römergewalt in Römergunst zu verwandeln. In Frage käme fünftens der Ratschlag des Propheten Jeremia (den J esus wiederholt zitiert), der unter ähnlichen Umständen daran erinnerte, daß Gott die Schwachen liebt und sich der Demütigen erbarmt: »Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, daß er das Joch in seiner Jugend trage. Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt, und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung. Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun. Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte« (Klgl 3,27-31). Ahnlich spricht Jesaja sogar von beiden Bakken: »Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich ohrfeigten« (50,6). Obwohl J esu Backenwort textuell an diese Prophetenzitate erinnert, wissen wir, daß es der Nazarener nicht wörtlich gemeint hat. Das bezeugt er selbst, als ihn ein Diener des Hohenpriesters ins Gesicht schlägt (Joh 18,22ff) und er sich mit Recht gegen diese Mißhandlung empört. Als Paulus einige Jahre später ins Gesicht geschlagen wird (Apg 23,2), geht er noch weiter: Spontan begehrt er auf und verflucht seinen Schläger. Ich würde daher eine sechste, bildhafte Deutung vorschlagen, die sowohl dem Wortlaut Jesu als auch seinen historischen Umständen entspricht: Bildlich, nämlich im Sinne eines passiven Widerstandes, folgten Tausende von Juden mindestens zweimal diesem Ratschlag Jesu, »hielten die andere Backe hin« und erreichten damit mehr, als alle Zeloten-Aufstände und Kriege zeitigen konnten. Der erste Zwischenfall im Jahre 26 betraf die verpönten Bilder des »Gott-Kaisers«, die Pilatus in der Nacht nach Jerusalem bringen ließ, um so die religiösen Gefühle der Juden mit voller Absicht zu verletzen. Josephus Flavius berichtet: »Die Juden erhoben sich gegen Pila44 Jüdischer
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Krieg II, 16,4.
tus in Caesarea, um ihn zu bitten, die Bilder aus Jerusalern zu entfernen ... Da Pilatus sich weigerte, lagerten sie sich um sein Haus und blieben dort fünf Tage und fünf Nächte. Am sechsten Tag begab sich Pilatus vor sein Tribunal im großen Stadion und rief das Volk unter dem Vorwand zusammen, auf sein Begehren antworten zu wollen; da gab er den bewaffneten Soldaten den Befehl, die Juden zu umzingeln. Als die Juden sahen, wie die Soldaten sie mit einem dreifachen Ring umgaben, blieben sie vor diesem unerwarteten Schauspiel stumm. Pilatus, nachdem er ihnen erklärt hatte, er wolle sie töten lassen, falls sie das Bildnis des Kaisers nicht anerkennen würden, gab den Soldaten das Zeichen, ihre Schwerter zu ziehen. Doch die Juden warfen sich, wie auf einen gemeinsamen Befehl, auf die Erde und boten ihre Nacken dar, alle bereit, lieber zu sterben, als das Gesetz Gottes zu verletzen.« Darauf folgt der ausschlaggebende SchI ußsatz: » Von diesem religiösen Eifer überwältigt, gab Pilatus den Befehl, die Bilder aus J erusalem zu entfernen.«45 (Um etwaige Zweifel zu beseitigen: Pilatus konnte es sich dem Kaiser gegenüber nicht erlauben, sein neues Amt mit einem Massenmord anzutreten - eine Tatsache, die sowohl er als auch alle Juden in Caesarea wußten.) Als einige Jahre später Petronius, der römische Legat in Syrien, auf Befehl seines Kaisers die Statuen Kaligulas in den Tempel nach Jerusalern bringen wollte, da brach ein Generalstreik aus, alle Feldarbeiten wurden eingestellt, und Zehntausende von Juden, von galiläischen Bauern bis zum Königshaus des Aristobulus, eilten nach Tiberias, um dem Römer zu beteuern, sie würden alle eher sterben, als die Entweihung des Tempels zu erlauben. Beeindruckt von der gewaltlosen Solidarität der Juden, gab Petronius nach, machte sich zum Anwalt Israels dem Kaiser gegenüber - der starb, ehe er seine Anbetung in Israel erzwingen konnte 46.
4S
46
AaO. II,9,2. Ant XVIII 8.
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So gelang es anfänglich, dank staatsmännischer Weisheit, im Sinne J esu Gewaltlosigkeit in politische Macht umzumünzen, wie es später auch Ghandi in Indien und Martin Luther King im Staate Mississippi fertigbrachten. Doch letztlich wurde die Verlockung zur Gewalt zum Verhängnis. Wie es zur militärischen Konfrontation kam, wird in den Evangelien verschwiegen, läßt sich aber unschwer rekonstruieren. Judas Iskariot, der »Dolchmann«, Simon der »Zelot«, Jakobus und Johannes, die »Donnersöhne«, und vielleicht auch Petrus, der »Felsenmann«, waren, wie Oskar Cullmann nachgewiesen hat, höchstwahrscheinlich Zeloten oder standen dem Lager der Zeloten ideologisch nahe. Mit einem guten Drittel seiner Jünger im geistigen Lager der militanten Aktivisten predigte J esus den gewaltlosen Widerstand vergeblich. Vergeblich blieben all seine Mahnungen, daß »alle, die zum Schwert greifen, durch das Schwert umkommen werden« - was kein Aphorismus war, sondern ein bluternster Hinweis auf die unerbittliche Schwert-Justiz der Römer. Und so kam es zur Schlacht, zur unvermeidlichen Niederlage und zu jener Sternstunde, die ihren Gipfelpunkt in drei hebräischen Worten fand: »Laßt ab! Nicht weiter!« (Lk 22,51). Jesus wollte sein Volk befreien, nicht verbluten lassen. Und als das Unglück kam, das er so eifrig zu vermeiden suchte, das er jedoch als gewandter Stratege vorausahnen mußte, war er bereit zum letzten Schritt: »Ich bin es! Laßt diese da gehen!« (Joh 18,8). Petrus verleugnete ihn, Judas verriet ihn und die Jünger allesamt versagten jämmerlich. Dennoch lud er die Schuld auf sich und übernahm die Verantwortung für das Blutvergießen, gegen das er so unermüdlich und so überzeugend gepredigt hatte. Und so gab er sein Leben für die Seinen dahin und starb den grausamen Opfertod am Heidenkreuz in der selbstlosen Gewißheit: »Von denen, die du mir gegeben hast, habe ich keinen verloren gehen lassen« (Joh 18,9). In der historischen Rückschau kann man nicht umhin festzustellen, daß Jesus recht behielt. Da Israel sein Wort »Es ist genug!« (Lk 22,38) nicht beherzigen wollte, kam es zur ))großen Drangsal, zum Zorn130
gericht, in dem sie fielen durch die Schärfe des Schwertes« (Lk 21,23-24), das sie so unbesonnen und tollkühn gegen die römische Übermacht erhoben hatten. Das alles war unschwer voraussehbar als das unvermeidliche Ergebnis einer kurzsichtigen Konfrontationspolitik. Denn wenn das Land Israel eine schmale Brücke zwischen expansionslustigen Großmächten ist - und das muß wohl als Teil der Vorsehung erachtet werden -, so gehören das »gläubige Stillesein und Hoffen« (Jes 30,15) und die sanft-kluge Entfeindungsliebe zur gottgefälligen Kunst des Überlebens - zu Bibelzeiten, in Jesu Tagen, und heute auch. Es war ein und diesselbe todernste Warnung vor dieser Flucht in die Zelotengewalt, die sowohl Jesaia (30,15ff) als auch Josephus Flavius in seiner Rede an die Leute vonJ erusalem (Bellum V,362 -419) und J esus ergehen ließen. Trauer, Wehmut und bittere Enttäuschung treiben dem Nazarener die Tränen in die Augen, als er seiner heiligen Stadt verkünden muß: »Ach, wenn du an diesem Tage (noch) erkannt hättest, was zu deinem Frieden dient! Jetzt aber ist es (schon) vor deinen Augen verborgen. Denn Tage werden (bald) über dich kommen, da werden deine Feinde ... dich umzingeln, ... und sie werden dich und deine Kinder zu Boden werfen und werden in dir keinen Stein auf dem anderen lassen« (Lk 19,41-44). So endeten die jüdischen Kriege mit dem Untergang des Judenstaates, der in seinem Freiheitsdrang mutig wie ein Löwe bis zum letzten kämpfte - anstatt »sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen« zu handeln, wie die Stillen im Lande es so eindringlich empfohlen und so vorbildlich vorgelebt hatten. Hätte man in Israel damals der Friedenspartei Gehör geschenkt, zu der auch J esus gehörte, um Gottes Willen in der weisen Sanftmut zu suchen, wäre J erusalem wahrscheinlich verschont geblieben; die Massenkreuzigungen wären unterblieben, und die nationale Katastrophe des Jahres 70 wäre dem jüdischen Volk vielleicht erspart geblieben. »Ihr aber habt es nicht gewollt ... « (Mt 23,37). So gesehen beruht die Entfeindungsliebe, die J esus uns nahelegt, auf
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sechs Grundpfeilern, die auch für unsere Generation bedeutsame Denkanstöße liefern: Erstens: Sie beruht auf Realismus, der die Übel dieser Welt als Tatsachen anerkennt, ohne Wunschdenken oder einen Illusionismus, der überall nur Gutes sehen will und alles Böse durch passives Totschweigen loszuwerden hofft. Jesuanischer Realismus akzeptiert die Feindseligkeit als ein Faktum, das nach Anderung schreit, als Herausforderung, den Hasser zu entfeinden. Zweitens: Sie enthält einen tiefen Glauben an den Menschen, der im Stande ist, sich selbst und seine Umwelt zu verbessern. Feindschaft gibt es wohl, aber es muß sie nicht immer geben, denn der Mensch kann seinen Trieb zum Hassen und zum Rächen bezwingen. Ja, er kann ihn sogar zum Guten umwandeln, wenn er fest dazu entschlossen ist. Drittens: Sie zielt auf die Vermenschlichung bei der Parteien - des Hassers wie des Gehaßten. Letzterer ist nicht mehr der Sündenbock oder Prügelknabe auf den ich meine eigenen Fehler, Schwächen und Sünden projiziere, so daß er letztlich entmenscht und verteufelt wird. Indem ich auch einem Gegner sein unwiderrufliches Menschsein zugestehe, wird er ein Mensch wie ich. Dadurch wird auch der Hasser das ätzende Gift des Hasses los, um so wieder liebesfähig und menschenfreundlich zu werden. Kurzum: Die Entfeindungsliebe bekämpft die Feindschaft, aber nicht den Feind. Viertens: Ihr Ideal ist jene Imitatio Dei, die im Judentum als das höchste, das »königliche« Gebot gilt: »Werdet heilig, denn ich, euer Herr, bin heilig« (Lev 19,2)! Im Klartext heißt das: Unser Tun und Lassen soll eine einzige Nachahmung Gottes sein; oder zumindest ein kleiner Versuch, so großartig zu handeln wie er es tut, so allumfassend und verständnisvoll, wie nur er es sein kann. Gottes Gnadenliebe bleibt zwar ein unerreichbares Ideal, das keiner ganz zu verwirklichen vermag, aber Vorbild sollte es für alle bleiben, um wenigstens Bruchstücke davon im Alltag zu realisieren. Fünftens: Die Entfeindungsliebe ist keineswegs kampflos; sie ist eine durchaus streitbare Liebe, die den Konflikten nicht ausweicht, son132
dern sich ihnen stellt. Ihre Strategie ist der Brückenschlag zwischen legitimer Selbstliebe und praktikabler Nächstenliebe - ganz im Sinne von Lev 19,18, wo uns beides geboten wird: Liebe deine Nächsten wie dich selbst! Nicht um schwärmerische »Selbstlosigkeit« geht es, die ja eine psychologische Unmöglichkeit ist, noch um fadenscheinigen Sentimentalismus, der sich meistens mit Lippendienst begnügt, sondern um eine vernünftige Kombination von erleuchtetem Egoismus und machbarem Altruismus, wobei guter Wille und volle Redlichkeit die beiden zur höheren Einheit zusammenschweißen. Sechstens: Aber nicht zuletzt ist ihre Taktik eine Theopolitik der kleinen, vertrauensfördernden Schritte; weg vom Konflikt, hin zur Einfühlsamkeit; weg von der Konfrontation, hin zur Kooperation; weg von rechthaberischem Monolog, hin zum Dialog der Ebenbürtigen. Es ist ein langer, mühseliger Weg von kleinen Taten, nicht von großen Worten, aber billiger ist der große Friede eben nicht zu haben. Letzten Endes geht es um eine weltweise, »schlangenkluge« Friedensdynamik der Selbstbezwingung - der Versöhnlichkeit und der maximalen Gewaltlosigkeit, die einen Durchbruch zu einer Welt-Entfeindung erwirken könnte. Es geht um eine Real-Utopie, die auch heute kein Jota von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil: Sie war vielleicht noch nie so aktuell wie heutzutage.
Aug' um Aug: Zahn um Zahn? Zu klären bleibt noch im Zusammenhang mit dem weitgehenden, wenn auch nicht totalen Gewaltverzicht J esu der Sinn des scheinbar selbstmörderischen Auftrags zur passiven Selbst-Auslieferung an das Böse (oder die Bösen), gegen dessen Praktikabilität bereits die Reformatoren Einspruch erhoben haben: ))Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Und ich sage euch: Widersteht dem Bösen nicht!« (Mt 5,38-39). 133
Der erste Satz bringt wiederum ein Rumpfzitat aus der Bibel Jesu (Ex 21,24), aus dem der Evangelist das sinngebende Zeitwort weggelassen hat, sodaß der falsche Eindruck entsteht, es gehe um einen Freibrief für jeden Geschädigten, sich selbst zu rächen, indem er Böses mit Bösem vergilt. Gemeint ist das sogenannte »Talionsgesetz«, wie es schon die Kirchenväter nannten, um aus der angeblich »grausamen Vergeltungsmoral der Juden« auf den »jüdischen Rache-Gott« zu schließen, der als schwarze Hintergrundfolie für den christlichen »Liebes-Gott« zu dienen hatte. So zum Beispiel schreibt die »Jerusalemer Bibel« anno 1963 noch immer: »Es ist verboten, dem Bösen in der Weise der Rache zu widerstehen, indem man Böses mit Bösem vergilt nach dem jüdischen Gesetz der Wiedervergeltung, dem Talionsgesetz« (S.20, Fußnote zu Mt 5,39). Der Hinweis gilt natürlich dem »Auge um Auge, Zahn um Zahn ... «, wie es Martin Luther übersetzt hat. So ungefähr steht es dreimal in der jüdischen Bibel (Ex 21,24; Lev 24,20 und Dtn 19,21). So stand es auch anno 1972 nach dem Münchener Mord bei der Olympiade in vielen deutschen Zeitungen, um die an die Bundesrepublik gerichtete Auslieferungsforderung Israels »eine Vergeltungspolitik gegenüber den Arabern« zu nennen und als alttestamentlich zu belegen. Diese bibelwidrige Verzerrung, die schon im frühen Mittelalter beginnt, fußt vorerst auf drei sachlichen Fehlern: 1. Rache ist in der Hebräischen Bibel ausdrücklich verboten: »Sei nicht rachsüchtig ... , sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (Lev 19,18). Dieses Gebot wird durch das Gotteswort: »Mein ist die Rache, spricht der Herr« (Dtn 32,35) verdeutlicht und verstärkt. 2. Der Urtext lautet: »Wenn aber Lebensgefahr ist, so gib Leben um Leben, Aug' um Aug', Zahn um Zahn ... « Also nicht vom Geschädigten ist hier die Rede, der Rache oder Vergeltung nehmen soll, sondern vielmehr vom Schädiger, der vor dem Richter Wiedergutmachung leisten muß. 3. Das Schlüsselwort in der hebräischen Bibelstelle, »tachat«, heißt gar nicht »um« oder »für«, sondern »anstelle von«. Daher übersetzt
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Martin Buber sowohl textgetreu als auch sinngemäß: »Geschieht das Argste aber, so gib Lebensersatz für Leben; Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn.« Mit anderen Worten: Die humanitäre U niversalregel »Maß für Maß«, die auch Jesus dreimal im Neuen Testament empfiehlt (Mt 7,2; Mk 4,24; Lk 6,38), wird zum Rechtsprinzip der Geldentschädigung und des Schmerzensgeldes in allen Fällen von Körperverletzung erhoben. Nur in diesem Sinne der Abgeltung durch Schadenersatz wurde dieser Bibelvers im Judentum schon lange vor Jesus verstanden und angewandt, wie der Talmud (Baba Qama 83b und Ketubot 38a) deutlich beweist. In den Worten der Borromäusbibel: »Die oft mißverstandene Formel für das Vergeltungsrecht (ius talionis) gilt als Grundlage richterlicher Entscheidungen; nicht als Norm für das Verhalten von Mensch zu Mensch« (S. 115). Das verpönte Talionsrecht ist also ein wesentlicher Fortschritt gegenüber der Wüstenethik der vorbiblischen Zeit und der erste wesentliche Schritt zu einer allmählichen Verfeinerung der menschlichen Moralität, wie sie später bei den Propheten Israels und bei J esus zum Ausdruck kommt. Was gewisse Christen noch immer als Prototyp der jüdischen Vergeltungsmoral anprangern wollen, bleibt bis heute die juridische Grundlage aller Wiedergutmachungsgesetze im christlichen Abendland - ein Grundsatz, den Juden in der Bibel zum Universalprinzip erhoben haben, als die Germanen einander noch aus Blutrache stämmeweise abschlachteten und ihren Himmel mit Kriegsgöttern bevölkerten. Da aber J esus mit Sicherheit seine Bibel besser kannte als der griechische End-Redaktor des Matthäus, ist diese Entstellung des »Talionsgesetzes« wohl eher dem letzteren zuzuschreiben, der höchstwahrscheinlich auch die zweite Aussage Jesu mißverstanden hat.
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»Widersteht dem Bösen!« Joachim Jeremias will Vers 39 zwar übersetzen: »Ihr sollt nicht prozessieren mit dem, der euch beleidigt«, und auch Adolf Schlatter nimmt an, daß J esus an ein gerichtliches Verfahren gedacht habe, so daß Vers 39 bedeuten sollte: »Führt keinen Prozeß; ruft nicht den Schutz des Richters an!« Weder der griechische Wortlaut noch behutsame Rückübersetzungen in J esu Muttersprache rechtfertigen jedoch diese Hypothesen. Luther scheint hier ein besseres Gespür bewiesen zu haben, denn er sagt klipp und klar, daß jeder Christ »mit Familienbindungen« diesen Verzicht auf Widerstand nicht nachvollziehen kann, »da einer dem anderen schuldig ist zu verteidigen, schützen und schirmen, wo er kann« (Wochenpredigten, WA 32, 390). Und auch wenn von einem völlig alleinstehenden Christen die Rede sein sollte, sollte er Bosheit und Unrecht an sich widerstandslos geschehen lassen? Keineswegs nach Luther, denn er rät »fur Gericht zu gehen und klagen über Unrecht, Gewalt etc. wo nur das Hertz nicht falsch ist« (WA 32, 392). Kurzum, Luther erklärt ohne Wenn und Aber, daß auch der frömmste Christ »dem Unrecht nicht stat geben« darf »und aus rechter Liebe zur Gerechtigkeit« auf das Halten dieser Forderung der Berglehre verzichten muß (WA 32, 392). In diesem Sinn hat auch Calvin kurz und bündig geraten, daß die Christen »unbeschadet ihrer Freundlichkeit gegen ihre Widersacher die Hilfe der Obrigkeit zur Bewahrung ihrer Rechte in Anspruch nehmen« sollten (Institutio IV, 20,20). Ich nehme an, J esus von N azaret hätte diese Ratschläge, wenn nicht gutgeheißen, so doch gebilligt. Man muß nur nüchtern zu Ende denken, was hier angeblich unsereinem zugemutet wird. Wir werden hiermit zur schweigenden Passivität verurteilt, um uns schutzlos den Boshaften auszuliefern und ihnen freie Bahn zu gewähren. Konkret gesprochen bedeutet der totale Verzicht auf Widerstand, daß ein Mann, dessen Frau vor seinen Augen vergewaltigt wird oder dess'en 136
Kinder in seiner Gegenwart umgebracht werden, tatenlos zuschauen soll, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Das wäre in der Tat auch ein Rezept für den Frieden, aber es wäre ein Friedhofsfrieden, in dem die Erde lautlos die Guten und die Schwachen zudeckt und die Gewalttäter triumphieren. Da Jesus aber das Leben als Geschenk Gottes fördern wollte und keine Radikalismen anbot, die in ihren Folgen potentiell lieblos wären, kann er nicht gesagt haben: »Widersteht dem Bösen nicht!« Ich gehe nicht so weit wie Dr. Franz Kamphaus, der Bischof von Limburg, der behauptet, dieser Mahnruf gegen den Widerstand »ist erst durch den Evangelisten eingefügt« worden, da Jesus nicht dazu rät, »sich rein passiv zu verhalten, keinen Widerstand zu leisten« 47. Dennoch bin ich überzeugt, daß dieser Appell ein Fremdkörper in der Berglehre ist, der aller jesuanischen Ethik zuwiderläuft. Fünf Gründe sprechen gegen diesen Wortlaut: 1. Die Widerstandslosigkeit, zu der hier angeblich aufgerufen wird, wäre keine entsprechende Steigerung zum (rechtverstandenen) »Talionsgesetz«, zu dem eher ein Rechtsverzicht nach dem Ratschlag Salomos als Gegenstück passen würde: »Sprich nicht: Ich will Böses vergelten!« (Spr 20,22) - womit gemeint ist: Auch wenn du juridisch dazu berechtigt bist, entsage dich einer Wiedergutmachung, die wie Vergeltung anmuten könnte. 2. Weder im hebräischen noch im aramäischen Sprachschatz des ersten Jahrhunderts findet sich ein Äquivalent zum griechischen »widerstehen« (antistenai). 3. Die Passivität dieser Forderung widerspricht doch dem ganzen Abschnitt, der die Entfeindung durch ein bestimmtes Tun und Handeln zu erwirken sucht - wie das Darbieten des Mantels, das Gehen einer zweiten Meile, und das Geben »dem, der dich bittet« (Mt 5,42). 4. Verzicht auf Gewalt ist keineswegs identisch mit Verzicht auf Widerstand, der ja den Nächsten, dem Unrecht geschieht, im Stich läßt 47 Die christliche Friedensbotschaft, Arbeitshilfe Nr. 28 der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1982, S. 50.
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und so zum Unrecht-Tun beiträgt und den Leidtragenden zur Gegengewalt ermutigt. Daher verbietet es die simple Nächstenliebe, die Jesus als Grundprinzip vorausetzt, wehrlos zu dulden, daß das Leben, die Würde oder die Sicherheit des Nächsten verletzt und nicht geschützt werden. »Bleib nicht stehen beim Blute deines Nächsten!« (Lev 19,16) so heißt es in der Bibel Jesu im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). Bubers Übersetzung ist noch klarer: »Stehe nicht still bei dem Blut deines Genossen!« Damit ist gemeint, daß das gleichgültige, untätige Zuschauen im Fall einer Gefahr, die dem Nächsten droht, als verwerflich und dem Bibelethos entgegengesetzt gilt. Die Schlußfolgerung des Talmud lautet: »Jeder, der einen anderen im Fluß ertrinken oder von einem Raubtier weggeschleppt oder von Räubern bedroht sieht, ist zu seiner Rettung verpflichtet« (Sanh 73a). Die Verpflichtung zum Nächstenschutz wird noch eindringlicher in der rabbinischen Auslegung der Bibelstelle betont, die von der Sühnung eines Mordes von unbekannter Hand spricht. Wenn ein Mensch erschlagen auf dem Felde gefunden wird und man weiß nicht, wer ihn erschlagen hat, dann sollen, so bestimmt es die Tora, die Ältesten der nächsten Stadt herantreten und sie sollen anheben und sprechen: »Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen und unsere Augen haben nichts gesehen.« Und die Mischna fügt hinzu: »Sollen denn die Ältesten bezichtigt sein, daß sie es waren, die das Blut vergossen haben?« Das Wort bedeutet anderes: »Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen« will sagen: »Nicht ist dieser Mensch in unserer Hände Bereich gewesen, und wir haben ihn hungrig ziehen lassen.« Und »Unsere Augen haben nichts gesehen«, das will besagen: »Nicht ist er in unserem Augenumkreis gewesen, und wir haben ihn im Stich gelassen.« So meint also dieser talmudische Satz: Wer des anderen sich nicht annimmt und ihm nicht tatkräftig beisteht, wenn ihm Lebensgefahr droht, der ist, als hätten seine Hände Blut vergossen, als hätten seine Augen es mit angesehen. Wo Menschen begrenzte Gewalt anwenden, nicht nur in Selbstwehr, sondern um die Vergewaltigung von Schwachen zu verhüten oder zu 138
mildern, kann Gewalt der Ausdruck einer verzweifelten Nächstenliebe sein, die im Grunde dem Gebot des J esusbruders gerecht wird: »Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, so tut ihr wohl« (Jak 2,8). »Königlich« nennt er das Gesetz der Nächstenliebe, weil es im jüdischen Denken den absoluten Vorrang genießt - vor allen anderen Bibelsatzungen, auch denen, die Friedfertigkeit und Gewaltverzicht gebieten. Das hat auch Jesus selbst bestätigt - so klar und eindeutig, daß die meisten Theologen bis heute nicht mit seinem Schwertwort fertig werden. Denn er warnt seine Jünger ausdrücklich: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden zu bringen! Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (Mt 10,34)! Auf hebräisch bedeutet das, daß weder ein fauler Friede noch ein Scheinfriede der Mühe wert ist, und schon gar nicht ein Gewaltfriede, den der Sieger den Unterlegenen aufzwingt, sondern einzig und allein der Realfriede, der niemals ein unveräußerliches Besitztum noch ein weiches Federkissen sein kann, sondern immer wieder die Frucht unermüdlicher Anstrengungen und beharrlichen Ringens. ))Schwertloser« ist der wahre Friede eben nicht zu erringen. So handelten Dietrich Bonhoeffer und die Männer und Frauen, die am 20. Juli 1944 Hitler gewaltsam zu beseitigen versuchten, um Gewalt einzudämmen und zahllose ))Nächsten« vor dem sicheren Massenmord zu bewahren. Widerstandslosigkeit wäre in ihrem Falle ein Akt der Feigheit, der Selbstsucht und der gleichgültigen Preisgabe unschuldiger Mitmenschen gewesen - im krassen Widerspruch zum Geist der gesamten Berglehre. Karl Rahner meint dies, wenn er schreibt: »Solange diese Weltzeit besteht, kann im privaten und öffentlichen Leben gerade diese nüchtern-sachliche, harte, auch gewaltanwendende Gerechtigkeit die irdische Gestalt der selbstlosen Liebe sein, die vielleicht auch zu Gunsten des anderen den Mut haben muß, so auszusehen, als ob sie lieblos sei.«48 48 »Der Friede Gottes und der Friede der Welt«, in Schriften zur Theologie, EinsiedeIn 1967, Band VIII, S. 703.
139
5. Verzicht auf Widerstand hilft aber auch »dem Bösen« nicht, der Gewalt übt - noch entfeindet es ihn. Im Gegenteil: Es bekräftigt ihn in seiner Feindseligkeit und lädt ihn, ungestraft, zu weiteren Gewalttaten ein. Ein passives Hinnehmen böser Taten kann nur das Unrecht mehren, die Armen und Schwachen der Willkür und Gewalt ausliefern und Nächstenhaß fördern - wie das Dritte Reich und Hitlers »Endlösung« nur allzu deutlich bewiesen haben. Wenn also Jesus nicht gesagt hat: ))Widersteht dem Bösen nicht«, was mag er wohl gesagt haben? Auf der Suche nach J esu ursprünglichem Wortlaut fällt der 8. Vers im Psalm 37 auf, aus dem nicht weniger als fünf andere Verse in der Berglehre anklingen (Verse 9, 11,21,22 und 29): ))Wetteifert nicht im Unrecht-Tun!« So heißt es dort, wobei das letzte Zeitwort ))leharea« vom griechischen Übersetzer offensichtlich als ))dem Bösen« mißverstanden worden ist, ein häufiger Fehler, der der Vokallosigkeit der hebräischen Orthographie zuzuschreiben ist. Ursprünglich gemeint war: Ausbruch aus dem Teufelskreis von Unrecht-Tun, das neues Unrecht heraufbeschwört; ein Durchbruch durch die unheilvolle Eskalation von gegenseitiger Vergeltung, die immer schlimmere Folgen mit sich bringt; Sprengung der angeblichen Sachzwänge, die Angst, Verdacht und Mißtrauen durch Gewalt bekämpfen wollen, indem man den Mut aufbringt, dem Übel in den Arm zu fallen und den Gegner durch Güte zu verblüffen. Nicht nur das Böse ist ansteckend, sondern auch das Gute. Man muß es nur einmal versuchen! Es bedeutet keineswegs Nachgiebigkeit gegen das Böse, sondern den Sieg über das Böse, dem du nicht auf seinem eigenen Boden entgegen trittst, sondern ihm überlegen bleibst, indem du Unrecht mit Recht, Lüge mit Wahrheit und Gewalt mit Geist bekämpfst. Mit einem Wort: Du sollst größer sein als das Böse - und die Bösen - um beide zu überwinden und zu überleben. Dein unschuldiges Dahingemordetwerden frommt niemandem auf Erden; auch nicht dem ))lebendigen Gott«, der ))nicht am Tode Gefallen hat, sondern am Leben« (Ez 18,23ff). Besser als Matthäus, sicherlich früher als alle vier Evangelisten, hat der hebräischkundige Paulus den Sinn der jesuanischen Ethik ver140
standen, derselbe Heidenapostel, der sogar seinem Mitchristen Petrus öffentlich ins Angesicht »widerstanden hat« (Gal 2,11ff). Im Römerbrief (12,21) schreibt er: »Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde du das Böse durch das Gute!« Auch Petrus wird dieser Intention seines Herrn gerecht, indem er, mit den Rabbinen, hinzufügt, daß jeder Haß nutzlos, schädlich und daher unvernünftig ist: »Denn so ist es der Wille Gottes, daß ihr durch Gutes-Tun die Unwissenheit der Unverständigen zum Schweigen bringt« (1 Petr 2,15). Im Klartext: Aller Haß ist, zutiefst gesehen, grundlos und daher pure Dummheit. Ein doppelter Rat, der sowohl mit der entgegenkommenden Entfeindungliebe als auch mit dem gewaltlosen Widerstand der Zwei-Backen-Praxis übereinstimmt - ohne auf Menschenwürde, auf Notwehr oder auf die eigene Handlungsfreiheit zu verzichten. Kurzum: Was Jesus gemeint und wahrscheinlich auch gesagt hat, ist: »Widersteht dem Bösen - im Guten!« Wie immer man den Urtext auch deuten mag, eine Einladung zum Selbstmord läßt sich genau so wenig aus der Berglehre ableiten, wie der radikale Pazifismus nicht aus der Bibel einzuklagen ist.
141
5. UTOPIE ODER PROGRAMM?
Merkwürdig ist es, wie nahe die Berglehre dem Brief des Jesusbruders Jakobus steht, den Martin Luther ))eine recht stroherne Epistel« genannt hat. Im Mittelpunkt beider Schriften steht das radikale Liebesgebot als das ))königliche Gesetz der Nächstenliebe« (Jak 2,8), aus dem sich unumgehbar die Armenfrömmigkeit, als Vorliebe für die Ungeliebten, und die Betonung des Tuns von Liebeswerken als Prüfstein des Glaubens ergibt. In Dtn 15,4 wird verheißen, daß es in Israel ))keine Armen unter euch geben wird.« Kurz darauf jedoch wird der Blick auf die Wirklichkeit zurückgelenkt, wenn zugegeben wird, daß es ))nie im Land an Armen fehlt« (Dtn 15,11). Um diese Kluft zu überbrücken, gebietet die Tora: ))Tu auf deine Hand deinem Bruder, der Not leidet und bedürftig ist in deinem Lande!« (Dtn 15,11). ))Bedürftig« sind aber für Jesus auch die Gehaßten und ihre Hasser, denn sie bedürfen, genau wie die Armen, der tatkräfigen Liebe, nicht durch Mund-Werk, sondern durch das Hand-Werk des ))Auftuns der Hände«. Haß ätzt das Herz des Hassers, noch ehe es den Gehaßten trifft. So obliegt es also dem letzteren, den Teufelskreis der Gehässigkeit durch Liebestaten in einen Engelskreis der Sympathie zu verwandeln. Gib deinem Hasser greifbare Beweise, daß du ihm helfen willst, so daß kein Grund für ihn besteht, dich zu hassen. Recht haben zwar die Realisten, die behaupten, solche Entfeindungsliebe, die Hand in Hand mit der Armenfürsorge geht, sei im Konfliktfall zwischen Völkern auf internationaler Ebene unmöglich, das könnten doch nur einzelne oder wenige, aber nie ein großes Kollektiv von Menschen tun! Richtig, gibt Jesus zwischen den Zeilen zu, aber wenn meine Jünger nicht damit anfangen, um andere zur Nachahmung anzustacheln, so bleibt alles beim alten, und die Menschheit mag an Selbstzerstörung zugrunde gehen.
142
Achselzuckend denken sich nun die sogenannten Realpolitiker aller Zeiten: Mit Utopisten kann man schwer debattieren. Also hören wir höflich zu, und damit ist die Sache abgetan. Einige hatten jedoch Gewissensbisse und fügten deshalb hinzu: Die Forderungen dieser Berglehre sind so hoch gestochen, daß nur Jeus selbst sie erfüllen konnte. Das aber hat er stellvertretend für die ganze Welt getan, wobei wir, durch den Glauben an ihn, Anteil an der Frucht seiner Erfüllung gewinnen. Auf dieses Glaubensargument antwortet Jesus klipp und klar: »Es wird nicht jeder, der zu mir Herr, Herr sagt, in das Reich Gottes eingehen, sondern nur wer den Willen meines Vaters im Himmel tut!« (Mt 7,21) - mit dem Akzent auf dem letzten Wort, das er am Schluß der Berglehre nochmals den Schwerbeweglichen einbleut, die lieber unverbindlich zuhören, als tatkräftig mitzutun: »Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, ist einem klugen Manne zu vergleichen, der sein Haus auf dem Felsen baute. Und der Platzregen fiel und die Wasserströme kamen und die Winde wehten und stießen an jenes Haus, und es fiel nicht ein, denn es war auf dem Felsen gegründet. Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, ist einem törichten Manne zu vergleichen, der sein Haus auf dem Sand baute. Und der Platzregen fiel und die Fluten kamen und die Winde wehten und stießen an jenes Haus, und es fiel ein« (Mt 7,24-27). Wenn dem so ist, genügen wohlgemeinte Predigten genauso wenig wie andächtige Zuhörer, es sei denn, sie ziehen die unbequeme Konsequenz, die im Tun dieser Lehre liegt. Dies meint Jesus wohl auch, wenn er zu allerletzt seinen Jüngern aufträgt, »alle Völker« zu Nachfolgern zu machen, indem sie sie halten lehren, »alles was ich befohlen habe« (Mt 28,19-20). (Wobei der griechische Wortlaut eindeutig auf die »Heidenvölker« hinweist). Daß bis heute diese Worte zwar Gehör finden, aber so gut wie keine Verwirklichung, scheint wohl daran zu liegen, daß diese Berglehre durch und durch politische Implikationen hat, denen gegenüber die französische, die amerikanische und die russische Revolution in 143
ihrer Tragweite verblassen. Politisch im vollen Sinn einer aktiven Teilnahme an der Führung des Gemeinwesens; und revolutionär im Sinne einer radikalen Änderung aller Herrschaftsstrukturen, die alle alten Bindungen durch eine völlig neue Form von menschlicher Gemeinschaft ersetzen will. Politisch war daher auch die Hinrichtung J esu, der offensichtlich als politischer Messiasprätendent durch die Römer verurteilt und gekreuzigt wurde. Daß hiermit nicht notwendigerweise antirömische oder militärische Bestrebungen gemeint sein mußten, beweist die vorherige Hinrichtung des politisch völlig ungefährlichen J ohannes, des Täufers, der ebenso eine religiöse Massenbewegung ins Leben rief, mit einer Zielsetzung, die aber letztlich von allen Interessenten an der Bewahrung des politischen Status quo mit Recht als umstürzlerisch empfunden werden mußte. Denn wenn die Armen, Sanftmütigen und die Verfolgten selig gepriesen werden, wenn Gewaltlosigkeit die Oberhand gewinnt, der Mammon entwertet wird (Mt 6,24) und niemand seinen Nächsten mehr richten soll (Mt 7,1), wo bleiben dann die Obrigkeiten, der Zivilgehorsam, die Polizei und die Jurisprudenz? Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. So behaupten die machtliebenden Römer. Die Hölle, sagt Jean-Paul Sartre, das sind die anderen. Die jüdische Bibel hingegen ist der Überzeugung, daß jeder Mensch es in sich hat, dem anderen ein Stück vom Himmelreich zu geben. In diesem Sinne ist J esu Berglehre seine Antwort auf die biblische Herausforderung zum Aufstieg auf den Gipfel des Tora-Ideals: das Ende des Zürnens, Verfluchens und der Entzweiung; ein Schlußstrich unter alles Hassen, Neiden und Vergelten, um endlich dem göttlichen Gebot der Liebe freie Bahn zu geben - als die Mitte der Tora, als Leitfaden zu ihrer Erfüllung und als Schlüssel zum Tor des Himmelreiches. Ähnlich denkt die Leuchte des jüdischen Mittelalters: Man muß nicht sterben, sagt Maimonides, um Gott und seine Herrschaft heiligen zu können, auch wenn der Martyrertod den höchsten Grad der 144
Heiligung darstellt . Doch sind die Askese oder gar der Tod nicht das Ziel jüdischer Selbstheiligung, sondern ))der, der die Sünde vermeidet und die Gebote erfüllt aus keinem anderen Grund als dem, Gott zu lieben - nicht aus Angst vor Strafe und nicht um sich damit zu brüsten - der, der freundlich und liebenswürdig zu seinen Mitmenschen ist, wer Beleidigung erträgt, ohne selbst zu beleidigen, wer respektvoll denen gegenübertritt, die ihn mißachten, der, dessen U mgang mit den Menschen liebevoll ist, der heiligt den Namen Gottes in der Offentlichkeit.«47 Jesus hat sich in seiner Naherwartung jener großen Wende der offenbaren Gottesherrschaft leider geirrt. Weder eine neue Ordnung der Dinge noch die Erlösung auf dem Schauplatz der Weltgeschichte sind eingetreten. Er hat sich auch nicht immer an seine Berglehre gehalten. Seine zornigen Scheltreden gegen seine Gegner (Mt 23,13-38) klingen eher wie der heilige Eifer der Propheten und wissen genauso wenig von Versöhnlichkeit (vgl. Mt 5,22-25) wie von Entfeindungsliebe. Und dennoch! Als es hart auf hart ging und weder Schlangen klugheit noch Lebensweisheit zur Rettung verhelfen konnten, blieb er Herr der Lage, der sich den Regeln der Machthaber nicht unterwirft. Wie jeder große Lehrer im Judentum erlegte er sich schwerere Pflichten auf, als er je von seinen Jüngern gefordert hatte. Halb wehmütig, halb ergeben sagt er den Seinen zum Abschied: ))Größere Liebe hat niemand als die, daß er sein Leben hingibt für seine Freunde« (Joh 15,13). Und kurz darauf läßt er dem Wort die Heldentat des Glaubens folgen. Solche Selbst-Aufopferung hat er niemandem abverlangt oder auch nur empfohlen. Sie bezeugt einen Seelenadel, der nur das Sondergut jener geistigen Elite sein kann, die keiner Moralpredigt bedarf. Und so erwies er sich nicht nur als ))Lehr-Meister«, sondern auch als ))Lebe-Meister«, wie Meister Eckehart es nennt. Der erstere belehrt durch seine kluge Rede, seinen Feinsinn und seine Pädagogik. Zum 47
Maimonides, Jessode Ha-Tora 5.
145
Lebe-Meister gehört entschieden mehr. Nicht bloß Wissen, sondern Weisheit; nicht nur Erkenntnis, sondern Ausstrahlung; nicht nur Rhetorik, sondern Lebenskunst als innere Einheit von Lehre und Leben, von Wort und Tat. Denn letzten Endes gilt für alle großen Lehrer, was ein anonymer Poet in folgende Worte gekleidet hat: Besser als eine Predigt zu hören, ist eine zu sehen; besser als mir den Weg zu zeigen, ist mit mir zu gehen. Das Auge ist ein besserer Schüler als das Ohr jemals war; guter Rat ist oft verwirrend, doch ein Beispiel ist immer klar. Der beste aller Prediger ist der, der das Leben meistern kann. Das Gute in der Tat zu sehen braucht ein jeder Mann. Und so wäscht Jesus seinen Jüngern die Füße; er übt Gewaltlosigkeit, als er verhaftet wird; um Blutvergießen zu vermeiden, lädt er in Getsemane die volle Schuld auf sich; stillschweigend läßt er sich verspotten; demütig bietet er seinen Schlägern »die andere Backe dar«; angesichts seiner Ankläger bleibt er stumm und verzichtet auf die Selbstverteidigung; am Kreuz tröstet er noch seine Leidensgefährten und wagt sogar an der Todesschwelle, aller Verzweiflung zum Trotz, weiter zu hoffen. Bis zum Ende bleibt er sich und seinem Glauben treu, um mit Worten der Vergebung für seine Feinde hinzuscheiden. In den Worten des 1. Petrusbriefs, wo J esus seiner Gemeinde als »Vorbild« hingestellt wird: »Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht, er litt, drohte aber nicht, er stellte alles dem (Gott) anheim, der gerecht richtet (2,23).« Die Moral liegt auf der Hand: Ohne Passion und Kreuzigung wäre die Berglehre eine wohlklingende, wenn auch steile Moralpredigt geblieben. Wahre Verbindlichkeit bekommt sie erst durch das Vorleben, das Vorleiden und zuletzt auch das Vorsterben des Nazareners, der 146
ihre Gültigkeit mit seinem Blut besiegelt hat. In der Tat: An seinen Früchten sollt ihr ihn erkennen! Die Bergpredigt gehört zweifelsohne, wie alle vier Evangelien in ihrer Gesamtheit, in eine bestimmte geschichtliche Stunde, der man die drohende Krisenhaftigkeit anmerkt. Heißt das aber, daß diese historische Konkretheit sie ihrer heutigen Aktualität beraubt? Martin Buber hat in seinem »Hinweis für Bibelkurse« (1936) betont, das biblische Wort sei »von den Situationen seiner Gesprochenheit nicht abzulösen ... Ein Gebot ist keine Sentenz, sondern eine Anrede; zu Volk gesprochen und von den Volksgeschlechtern je als zu diesem Geschlecht gesprochen gehört, aber nie ins Zeitlose zu heben. Macht man es zu einer Sentenz, versetzt man es ... aus der Verbindlichkeit des Hörens in die Unverbindlichkeit des interessierten Lesens, so nimmt man ihm sein Fleisch und sein Blut.«48 Und dennoch spricht alles dafür, daß die Berglehre heute, wie kaum zuvor, in unsere weltgeschichtliche Stunde hineinspricht. Das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens, die stetig wachsende atomare Aufrüstung der Supermächte und die längst erreichte Fähigkeit der Menschheit, globalen Selbstmord zu begehen - dieser apokalyptische Tatbestand verleiht der Berglehre in unseren Tagen erneute Relevanz. Gleichen denn die Rüstungseskalation, die Ost-West-Rivalitäten, das Nord-Süd-Gefälle und die 141 kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1945 nicht jenen »Wasserfluten, die da kamen«, und den »Stürmen, die da bliesen über jenes Haus, so daß es einstürzte« (Mt 7,27)? Ist unsere Zeit nicht genau wie das Zeitalter Jesu durch Bedrohungen von Katastrophen, durch Zweifel und die fast krampfhafte Suche nach festen Fundamenten gekennzeichnet? Wer unsere heutigen politisch-militärischen Realitäten bis zur lezten Konsequenz durchzudenken wagt, kann kaum umhin, das Ethos dieser Berglehre, das die Interessen des Gegners den eigenen gleichstellt, als vernünftig anzuerkennen. Unvernünftig hingegen wäre der 48
Die Schrift und ihre Verdeutschung, 1936, 312f.
147
»normale« Egoismus, das Weiterrüsten; das uralte Freund-Feind-Denken und die Aufrechnungen von »wie-du-mir, so-ich-dir«! Die Fülle der Vernunft aber besteht heute darin, die Goldene Regel aus den Gotteshäusern in die Parlamente und Außenämter zu tragen: »Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!« (Mt 7,12) - von der Sozialfürsorge über die Abrüstungskonferenzen bis zur Regelung von internationalen Konflikten. Denn Nächstenliebe und Entfeindungsdienst sind heute keine frommen Wünsche mehr oder nur das Thema frommer Sonntagspredigten, sondern das dringliche Diktat einer unaufschiebbaren AusgleichsStrategie: Eine Welt - oder keine! Auskommen - oder umkommen! Den Krieg abschaffen, ehe er uns abschafft! Das ist die eindeutige Alternative, die sich den Bewohnern unseres Planeten mit steigender Brisanz aufdrängt. Es ist die uralte Wahl zwischen Gut und Böse, Fluch und Segen, Haß und Liebe, vor die uns auch die Bibel stellt. Unter diesen Umständen kann Jesu richtig verstandene Berglehre zur Grundlage für ein Programm des menschenwürdigen Überlebens und zum Wegweiser für den Weltfrieden werden. Die Zeit auf der Weltuhr drängt. Unsere Bewährungsfrist läuft ab.
148
VERZEICHNIS DER BIBELSTELLEN
Gen
Ex
1,27 1,31 2,16f 2,18 2,22 2,24 4,7 6,5 9,2-4 9,5f 10 17,12 18,1 18,12 18,13 18,23ff 20,17 28,20-22 31,1 34,1 34,25 35,2 38,25 39,9 50,18-21 50,20
60,70 38,61 61 61 20 60,70 51,61 50 71 52 23 64 20 78 78 28 93 74 74 74 74 74 54 62 93 91
8,24-27 11,2 12,48 19,8 20,2 20,2-17 20,7 20,12
93 84 64 36 42 110 73,74 26
Ex
20,13 20,14 20,17 20,26 21,lf 21,12 21,24 22,15 22,20-27 23,5 23,9 24,2 32,10 32,32 34,6f
52,53 58 50 55 92 52 134 70 110, 111 120 83 17 57 58 81
Lev
12,4 18,5 19 19,2 19,9-18 19,12 19,13 19,16 19,17 19,18
64 65 43, 82, 83, 87 123, 132 82 74 85 138 55,86 20,31, 55, 81, 82, 85, 91, 101, 105, 134, 138 84 83,85 76 90 134 85
19,33f 19,34 19,35 23,40 24,20 25,35-37
149
Num
5,11-31 5,23 30,3 35,16
65 78 73 85
Dtn
32,35 34,6
134 20
Jos
9,15 5,31 6,24 13,3 13,13
41 92 40 78 78
1 Sam
8,7-9 24,12
71 93
1 Kön
1,lff 5,4 8,2-7 8,46 9,3 20,3034
69 40 71 123 71
2 Kön
4,30 25,8ff
74 94
Jes
2,4 11,4 27,5 30,15 30,15ff 35,3f 40,6 49,6 50,6 53,8 57,15 61,1 66,1
42 115 41 131 131 32 123 18 128 80 32 115 74
Jer
3,1 22,16 29,7
69 86 94
Ri
Dtn
150
1,5 4,1 4,2 5,6-21 6,4ff 6,17f 6,18 10,16 10,17f 13,13-17 15,1-6 15,4 15,9 15,11 16,14f 16,18 16,20 19,21 21,1-9 21,15 21,18-21 22,4 22,6ff 22,28f 23,8 23,22ff 24,1 24,lff 24,1-3f 24, 1Off 24,13 25,2f 26,5-10 27,19
19 27 24 110 105 27 30 72 83 64 23 142 23 142 90 112 27 134 65 90 64 120 26 70 91 73 60, 70 67 69 111 111 66 110 85
94
Jer
31,33 36,26
31,72 31
Ez
18,23ff 47,21-23
140 85
Dan
5,25ff
26
Hos
2,21 4,14 6,6
61 65 65
Am
3,3
117
Sach
4,6
109
Mal
1,2f 2,13 2,14 2,16
90 67 67,70 69
Ps
1,1 11,4 14,1-3 15 24 24,4 27,4 34,15 34,19 36,6 37,8 37,9 37,11 37,21-22 37,29 41,1 81,11 85,9 85,11
35 74 122 27 27 35,56 37 41 35 78 138 138 35, 109, 138 140 140 35 17 40 78
Ps
91,4 94,15 96,13 104,35 106,3 109,4 112,5 119,1 119,86 126,5 137,3 139,2lff
78 71 78 102 35 99 35 35 78 35 94 105
Spr
2,20 3,29 6,24f 20,22 24,17 24,29 25,22
112 69 58 91, 137 90 91 91
Ijob
4,24 24,15 31,29f 42,9
69 59 91 93
Klgl
3,17 3,27-31
40 128
Koh
5,4
74
1 ehr 29,14
75
Sir
9,6 9,8 9,9 28,lf
58 59 58 125
Mt
5,1 5,lf
27 16 151
Mt
5,3 5,5 5,7 5,8 5,9 5,11 5,13-16 5,17 5,17-19 5,17ff 5,18 5,19 5,20 5,21 5,2lf 5,21-48 5,22 5,22-25 5,23f 5,27 5,27f 5,29f 5,3lf 5,33-37 5,38-39 5,39 5,40 5,41 5,42 5,43 5,43-45 5,43-48 5,44-45 5,45 5,46 5,47 5,48 6,12 6,14f
152
115 35 124 35 39, 109. 122 42 52 81 19 48 23,24 25 20 (Anm. 9), 27,30, 112 49 52,75 30 53 145 56 49 58 51 60 73 133 116, 126, 134 109, 115 117 137 89 80 124 121 122 125 83 122, 124 57, 124 125
Mt
Mk
6,24 7,1 7,2 7,12 7,16 7,21 7,23 7,24-27 7,27 7,28 7,28f 9,12 10,9 10,16 10,34 10,38 12,7 16,24 18,15-17 19,3-9 19,8 19,9 19,16-22 19,17 19,24 19,30 23,2 23,2f 23,13-38 23,23 23,32 23,37 26,51-51 26,55 28,19-20 1,15 3,17 3,21 3,35
142 124, 142 135 126, 148 37 36, 143 46 143 147 17 18 55 114 115, 126 105, 139 106 65 106 56 70 67,71 60 114 24 114 26 17 27 145 25,26,46 25 131 109 17 143 71 105 52 51
Mk
Lk
4,24 9,13 10,11 10,35-45
135 65 60, 62 109
12,28-34 12,28ff 15,21 16,16
20 48, 80 117 43
1,51 116 4,16 17 4,16ff 115 6,15 105 6,20 115 101, 120, 121 6,27 6,35 120 6,36 124 6,37 124 6,38 124, 135 7,1 25 106 8,34 9,23 106 9,34 105 10,29 84 12,32 18 14,26 90 14,27 106 16,18 60,62 19,7 55 19,8 55 19,41-44 131 21,23-24 131 22,35-36 119 105, 116 22,36 22,37 109 22,38 130 22,49 109 22,51 130 95, 97 23,34
Joh
3,21 12,25 15,13 18,8 18,9 18,22ff 18,36
77 90 145 130 130 128 106
Apg
1,13 7,60 23,2
105 95 128
Röm
2,13 3,31 9,13 10,4 12,18 12,21 15,8
24 24 90 25 119 141 46
1 Kor
3,9
37
2 Kor
3,6
66
Gal
2,l1ff 4,4 6,10
141 46 85
Hebr
11,1
38
Jak
1,15 1,19 1,20 2,8 2,10 3,5ff 5,12
50 53 53 139, 140 26 75 76
1 Petr
2,15 2,23
141 146
1 Joh
3,18
37
Offb
22,18ff
25 153
Pinchas Lapide / Karl Rahner
Heil von den Juden? Ein Gespräch 120 Seiten. Kartoniert
Der christliche und der jüdische Theologe sprechen hier mit großer Offenheit und Verständnis bereitschaft, aber zugleich mit nicht geringerer Ernsthaftigkeit und Treue gegenüber ihren Glaubensüberzeugungen. Dabei berühren sie alle wichtigen Themen: Glaube an das ewige Leben, Rede von Gott, Frage der Trinität, Menschwerdung Gottes, Bedeutung Jesu für die Juden, Ankunft oder Wiederkunft des Messias beim Jüngsten Gericht usw.
Richard Glöckner
Neu testamen tliche Wundergeschichten und das Lob der Wundertaten Gottes in den Psalmen Studien zur sprachlichen und theologischen Verwandtschaft zwischen neutestamentlichen Wundergeschichten und Psalmen. Walberberger Studien. Theologische Reihe 13. 216 Seiten. Leinen Der Autor legt eine neue Interpretation der neutestamentlichen Wundererzählungen vor: Sie sind nicht überschwengliche Missionspropaganda, sondern gottesdienstliche Bezeugung des Glaubens. Sie stehen in der sprachlichen und theologischen Tradition der alttestamentlichen Psalmen, deren Bilder, Motive und Strukturelemente sie aufgreifen.
Matthias-Grünewald-Verlag