HANAUER H!LFE e.V. (Hrsg.) Die Entwicklung professioneller Opferhilfe
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HANAUER H!LFE e.V. (Hrsg.) Die Entwicklung professioneller Opferhilfe
VS RESEARCH
HANAUER H!LFE e.V. (Hrsg.)
Die Entwicklung professioneller Opferhilfe 25 Jahre Hanauer Hilfe
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV), Landesverband Hessen.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Dorothee Koch / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: SatzReproService GmbH Jena Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16949-1
Vorwort
Das Bild der Öffentlichkeit von der Opferhilfe wird in der Bundesrepublik in erster Linie immer noch geprägt durch private Initiativen, die sich vorwiegend mit ehrenamtlichen Laien bemühen, Kriminalitätsopfern zu helfen. Opferhilfe als ehrenamtliche und unbezahlte Arbeit führt aber zu instabilen und unprofessionellen Nachsorgeaktivitäten. Dass es daneben eine breite Palette von Opferhilfeeinrichtungen gibt, die auf professioneller Basis kostenlos psychosoziale Hilfe für durch Straftaten betroffene Menschen anbieten, ist dagegen leider noch weitgehend unbekannt. Mit der Gründung der „Hanauer Hilfe“ im Jahre 1984 auf Initiative des Hessischen Ministeriums der Justiz ist erstmals in Deutschland von hoheitlicher Seite anerkannt worden, dass Kriminalitätsopfer aus dem Geist des Sozialstaatsprinzips unseres Grundgesetzes einen direkten Anspruch auf eine professionelle Hilfe bei der Bewältigung ihrer Opfersituation besitzen. Diesem Beispiel folgend sind danach bundesweit zahlreiche professionell arbeitende Einrichtungen entstanden, die mit hoher Kompetenz zum Wohle der Betroffenen arbeiten. Opferhilfeprogramme oder Opferhilfestandards waren damals aber noch so gut wie nicht vorhanden und mussten im Laufe der folgenden Jahre auf der Grundlage erster Erfahrungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt werden. Die vorliegende Veröffentlichung soll diesen Entwicklungsprozess teilweise nachvollziehen. Dargestellt werden alle Ebenen der professionellen Opferberatung in Deutschland. Die einzelnen Abschnitte widmen sich den Opferhilfestandards und der praktischen Opferunterstützung. In jüngerer Zeit sind hinzugekommen der besondere Opferschutz bei häuslicher Gewalt und die Opferhilfe im Zusammenhang mit dem Täter-Opfer-Ausgleich. Ein besonderes Anliegen gilt dem Thema „Trauma und Justiz“. Hier werden juristische Grundlagen für Psychotherapeuten und psychotherapeutische Grundlagen für Juristen diskutiert.
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Vorwort
Ich wünsche mir, dass dieses Werk eine breite Beachtung erfährt und dazu beiträgt, der professionellen Opferhilfe weitere Unterstützung durch die Gesellschaft und einen hohen Bekanntheitsgrad zu verschaffen. Hanau, im Mai 2009
Heinz Frese
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Heinz Frese (2009) 1984–2009. Fünfundzwanzig Jahre Opferhilfe in Hanau . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Professionelle Opferhilfe in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rolf Guntermann (1994) Der Arbeitskreis der Opferhilfen (ado) – Ein Zusammenschluss professioneller Opferhilfen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rolf Guntermann (1995) Standards in der Opferhilfe – Zu den Mindestanforderungen an eine professionelle Unterstützung von Kriminalitätsopfern . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2 Opferunterstützung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heinz Frese (2008) Leitlinien für den Umgang mit Kriminalitätsopfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Homepage der HANAUER H!LFE (2008) Beratungsangebot der Hanauer Hilfe e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harald Mondon-Kuhn (1990) Grundzüge einer personenzentrierten Opferberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Harald Mondon-Kuhn (1992) Beratungsangebot für männliche Opfer sexueller Ausbeutung . . . . . . . . . . . 57 Heinz Frese (2007) Zeugenbegleitung als Opferhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3 Opferschutz bei häuslicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elke Wolf (1996) Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elke Wolf (2001) Wer schlägt muss gehen – mehr Schutz bei häuslicher Gewalt – Das neue Gewaltschutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Irmgard Müller (2004) Neuerungen im Opferschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Opferhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rolf Guntermann (1989) Erste konzeptionelle Vorstellungen der HANAUER H!LFE e.V. . . . . . . . . .
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Rolf Guntermann (1995) Das Kooperationsmodell zum Täter-Opfer-Ausgleich im Allgemeinen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rolf Guntermann (2002) Die modifizierte Konzeption ab 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Rolf Guntermann (2008) Klare Grenzen? Zum Verhältnis von Opferhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich . 109 5 Opfer von Straftaten zwischen Justiz und Traumatherapie . . . . . . . . 117 Kirsten Stang und Prof. Dr. Ulrich Sachsse (2009) Opfer von Straftaten zwischen Justiz und Traumatherapie – Konkurrenz oder Kooperation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Einführung 1984 –2009 Fünfundzwanzig Jahre Opferhilfe in Hanau von Heinz Frese (2009)
Am 2. Juli 1984 hat die „Hanauer Hilfe“ ihre Beratungsarbeit für Kriminalitätsopfer begonnen. Es war damals der erste Modellversuch einer staatlich initiierten und professionell arbeitenden Hilfeeinrichtung für Kriminalitätsopfer in der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem Beginn der Zusammenarbeit zwischen Justiz und Sozialwissenschaften standen über Jahrzehnte hinweg zunächst allein Täter, Tätermotive und mögliche Hilfen für Täter im Mittelpunkt der fachlichen Diskussionen um Straftaten. Die sozialen Dienste der Justiz befassten sich ausschließlich mit der Person des Täters. Während sich die Gerichtshilfe bei der Staatsanwaltschaft um die Aufklärung des Tathintergrundes aus der Sicht des Täters bemühte, sorgten die beim Landgericht angesiedelte Bewährungshilfe und die Sozialarbeit im Strafvollzug um eine resozialisierende Integration des Verurteilten. Vom Kriminalitätsopfer war bis dahin kaum die Rede. Erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann nach Anfängen besonders in den Niederlanden auch in der Bundesrepublik eine rechtspolitische Diskussion, die sich der besonderen Rolle der Kriminalitätsopfer sowie der Zeugen im Strafverfahren annahm. Zu diesem Zweck war 1977 eine Forschungsgruppe im Bundeskriminalamt in Wiesbaden gegründet worden, die sich allerdings zunächst nur mit der Lehre von den Aspekten einer Mitverursachung der Tat durch das Opfer befasste. Zur Initialzündung für die Entwicklung in Hessen, die dann zu dem Hanauer Pilotprojekt und der damit ersten staatlich initiierten professionellen Opferhilfeeinrichtung in der Bundesrepublik führte – im Gegensatz zu bis dahin mit ehrenamtlich tätigen Laien arbeitenden privaten Initiativen –, war der Fall einer alten
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Heinz Frese
Dame aus Wiesbaden geworden, die sich im Jahre 1983 mit ihrer Betroffenheit in einem Brief an den damaligen Hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner wandte. Darin teilte sie mit, dass sie vor mehr als einem Jahr auf offener Straße überfallen und beraubt worden war. Etwa zehn Monate später hatte sie selbst eine Verkehrsübertretung begangen und war erstaunt darüber, dass sie schon nach zwei Monaten ein Bußgeld zahlen sollte, während sie wegen des an ihr verübten Raubes seit mehr als einem Jahr nichts mehr gehört hatte. Sie äußerte ihr Erstaunen darüber – sie nannte es, „ihr Weltbild sei schief geworden“ –, dass der Staat, mit dem sie sich als Bürgerin selbst stark identifizierte, so ungleich reagierte. Einerseits verhältnismäßig schnell, wenn es, wie im Falle der Verkehrsübertretung, um seine eigenen Ansprüche ging, andererseits überhaupt nicht oder doch sehr langsam, wenn eine Privatperson als Opfer betroffen war. Der Hintergrund war folgender: Die Polizei hatte den Täter der Raubstraftat inzwischen ermittelt. Da er geständig war, wurde die Dame im darauf folgenden Strafprozess nicht mehr als Zeugin benötigt. Zu dem Zeitpunkt, als sie an den Ministerpräsidenten schrieb, war ihr Fall längst abgeurteilt. Der Fall dieser alten Dame zeigt einmal, dass sich der Staat bis dahin an Kriminalitätsopfer offensichtlich nur so lange zu erinnern schien, als er sie für die Durchsetzung seines Strafanspruchs im Strafverfahren benötigte. Zum anderen drückt er aber auch deutlich die Position und die gesellschaftliche Perspektive eines Opfers aus, für das der Staat nun nicht mehr der Hort des institutionellen Vertrauens war, wie er ihm noch vor der Straftat erschien. Die hiermit aufgeworfene Problematik führte damals im von Justizminister Dr. Günther geleiteten Hessischen Ministerium der Justiz zu einer fachlichen Diskussion über die Situation von Kriminalitätsopfern und die Organisation von Hilfsmöglichkeiten. Es stellte sich die Frage, ob der Staat auf dem Gebiet der Opfer- und Zeugenbetreuung überhaupt tätig werden sollte, zumal in diesem Bereich bereits private Initiativen mit allerdings ehrenamtlich arbeitenden Laien existierten. Man entschied sich für die Einrichtung eines Modellprojektes unter der Leitung des damaligen Staatsanwaltes Dr. Wolfram Schädler, um zunächst einmal Erfahrungswerte zu sammeln. Am 14. Mai 1984 wurde mit Unterstützung des damaligen Präsidenten des Landgerichts Ernst Weigand in Hanau der „Verein für Opfer- und Zeugenhilfe
1984–2009. Fünfundzwanzig Jahre Opferhilfe in Hanau
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Hanau e.V.“ gegründet, der am 2. Juli 1984 seine Arbeit mit zwei Sozialarbeiterstellen und einer Verwaltungsstelle aufnahm. Die Satzung des Vereins beschrieb dessen Aufgaben dahin, „Opfern von Straftaten und Zeugen durch das Betreiben eines Bereitschaftsdienstes Soforthilfe im Rahmen einer sozialarbeiterischen Beratung und Betreuung anzubieten und in qualifizierter Form durchzuführen“. Ziel sollte „die Bewältigung der Folgen der erlittenen Straftat, in geeigneten Fällen auch durch Aussöhnung mit dem Täter“, sein, schon hier ein erster Hinweis auf den später eingeführten Täter-Opfer-Ausgleich. Die Rechtsform eines privatrechtlichen gemeinnützigen Vereins wählte man bewusst, um Betroffenen nach einer Straftat neben dem Kontakt mit Polizei und anderen öffentlichen Einrichtungen keinen weiteren Behördengang zumuten zu müssen und um damit mögliche Schwellenängste der Geschädigten zu vermeiden. Die Beratungsstelle in der Salzstraße 11 in Hanau, wo der Verein bis heute ansässig ist, liegt daher deutlich getrennt von den Justiz- und Polizeibehörden im Zentrum der Stadt. Die Satzung sah weiter vor, dass nur juristische Personen wie andere Vereine oder Körperschaften, nicht dagegen Einzelpersonen Mitglieder werden durften. Damit sollte erreicht werden, dass neben einer Anzahl unterschiedlich spezialisierter sozialer Einrichtungen auch die kommunalen und staatlichen Organe über die Mitgliederversammlung in die Arbeit der „Hanauer Hilfe“ einbezogen werden konnten. Auf diese Weise ist die Struktur eines Netzwerkes in Hanau entstanden, über das ein für alle Beteiligten fruchtbarer gegenseitiger Austausch an Mitteilungen und Erfahrungen bis heute stattfindet. Die rechtliche Vertretung des Vereins nach außen lag von Anfang an in den Händen von ehrenamtlich arbeitenden Vorstandsmitgliedern. Sie werden in ihrer Tätigkeit vom Hessischen Ministerium der Justiz sowie von den örtlichen Justiz-, Polizei- und sonstigen Landesbehörden unterstützt. Die Vorstände sollen daher Berufsfeldern angehören, durch die eine gute Verbindung zur Strafrechtpflege, zur Polizei und zu den Trägern der örtlichen Beratungs- und Therapieangebote hergestellt werden kann. Auf diese Weise fällt auch dem Ehrenamt im Rahmen der Opferhilfe nach diesem Modell eine ganz besondere Bedeutung zu. Aufgabe des Vereins war es zunächst, im Rahmen des auf zwei Jahre befristeten Pilotprojekts herauszufinden, ob überhaupt ein Bedürfnis bestand, Kriminalitätsopfern eine psychosoziale und sozialpädagogische Beratung und Betreuung
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Heinz Frese
in qualifizierter und professioneller Form anzubieten. Andererseits sollte auch kein zusätzliches Aufgabenfeld künstlich geschaffen werden. Die kriminalistisch – kriminologische – Forschungsgruppe des Bundeskriminalamtes hat das Projekt von Anfang an mit Diplompsychologen Dr. Michael Baurmann wissenschaftlich begleitet. Mit Unterstützung des Hanauer Polizei und der Medien gelang es, dem Verein innerhalb kurzer Zeit einen erheblichen Bekanntheitsgrad zu verschaffen. Gewissermaßen aus dem Stand wurde das Beratungs- und Hilfsangebot von monatlich durchschnittlich 15 bis 20 Ratsuchenden angenommen. Bereits während des ersten Jahres zeigte sich sehr deutlich ein erhebliches Bedürfnis für eine professionell ausgeführte psychosoziale Betreuung von Kriminalitätsopfern und Zeugen von Straftaten. Die genannten mit ehrenamtlichen Laien arbeitenden Einrichtungen wie z. B. der „Weiße Ring“ waren dazu schon aufgrund ihres engen Beratungsansatzes und des fachlich begrenzten Beratungspersonals nicht in der Lage. Das Hessische Ministerium der Justiz erklärte daher sehr bald das ursprünglich zeitlich eingeschränkte Pilotprojekt zu einer festen Einrichtung, die alsdann in „Hanauer Hilfe – Beratung von Opfern und Zeugen von Straftaten e.V.“ umbenannt und zum Modell für die Gründung von inzwischen weiteren vier Opferhilfevereinen in Hessen und darüber hinaus zahlreichen weiteren in der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Der Beginn der Beratungstätigkeit in Hanau war damals „ein Sprung ins kalte Wasser“. Es gab bundesweit keine vergleichbaren Einrichtungen, auch kein speziell für die Beratung und Betreuung von Kriminalitätsopfern ausgebildetes Personal. Um dem konzeptionellen Ziel gerecht zu werden, war von Anfang an klar, dass Opferberatung nur von qualifizierten Fachkräften geleistet werden kann. Unerlässlich ist daher Spezialwissen über die Hintergründe der Opferproblematik und die Position der Betroffenen im Strafverfahren. Es lag daher nahe, ein Berufsbild zu entwickeln, das sich vergleichsweise an dem der Bewährungshilfe orientierte, allerdings einseitig auf das Kriminalitätsopfer bezogen. Voraussetzung ist danach ein abgeschlossenes (Fach)Hochschulstudium mit unterschiedlichen beraterischen und therapeutischen Zusatzausbildungen sowie eine mehrjährige Berufserfahrung auf anderen sozialpädagogischen Feldern. Die gemeinsame Suche aller Beteiligten nach Qualitätsstandards für eine professionelle Unterstützung von Kriminalitätsopfern führte dazu, Kontakte zu anderen Beratungsstellen aufzunehmen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpf-
1984–2009. Fünfundzwanzig Jahre Opferhilfe in Hanau
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ten. In der Zwischenzeit waren bundesweit eine Reihe weiterer Beratungsstellen entstanden, teilweise mit direkter Unterstützung durch die „Hanauer Hilfe“, die dem Hanauer Modell folgend, qualifizierte professionelle Hilfe für Kriminalitätsopfer anbieten wollten. Der jetzt einsetzende gegenseitige Erfahrungsaustausch führte bereits im Jahre 1988 in Hanau unter der Leitung der „Hanauer Hilfe“ zur Gründung des „Arbeitskreises der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ – ado –. Mittlerweile sind im „ado“ zahlreiche professionelle Opferhilfeeinrichtungen vertreten, die Kriminalitätsopfer, ausgehend von dem Hanauer Modell, nach gemeinsam erarbeiteten einheitlichen Standards unterstützen und beraten. In den 25 Jahren ihres Bestehen hat allein die „Hanauer Hilfe“ in ca. 6.000 Fällen mit mehr als 7.000 Betroffenen Hilfe und Unterstützung geleistet. Im Jahre 1996 kam zu der reinen Beratungsarbeit für Kriminalitätsopfer für die „Hanauer Hilfe“ mit der Übernahme des Täter-Opfer-Ausgleichs im Erwachsenenstrafrecht ein weiteres Tätigkeitsfeld hinzu. Für diese außergerichtliche Konfliktschlichtung sind Fälle der leichten bis mittelschweren Kriminalität geeignet. Die Entscheidung hierfür ist nicht leicht gefallen, handelt es sich doch um eine Beschäftigung auch mit Tätern. Der Versuch, den aus einer Straftat entstandenen Konflikt außerhalb des formellen Strafverfahrens mit Hilfe eines neutralen Vermittlers zu lösen, birgt nicht nur Chancen, sondern auch Risiken für die Opfer. Sehr leicht kann im Rahmen der Vermittlung zwischen Tätern und Opfern täterorientiert gearbeitet werden, d.h. dem Täter wird geholfen und vom Opfer Verständnis für die Lage des Täters verlangt. Bei der Beurteilung der Vor- und Nachteile sowie der denkbaren Probleme und der sich eröffnenden Chancen wurde allerdings deutlich, dass Täter-OpferAusgleich durchaus auch im Rahmen einer Opferhilfeeinrichtung einen Teilbereich praktischer Opferunterstützung darstellen kann. Gerechte Konfliktlösungen lassen sich nur herbeiführen, wenn Täter- und Opferinteressen gleichermaßen Berücksichtigung finden. Vor diesem Hintergrund hat die „Hanauer Hilfe“ nach Anfangsschwierigkeiten inzwischen zahlreiche TOA-Verfahren durchgeführt, wobei etwa 60% der Fälle zu einem erfolgreichen Ausgleich gebracht werden konnten. Im Rückblick auf die vergangenen fünfundzwanzig Jahre Opferhilfe in Hanau und davon ausgehend in Hessen kann festgestellt werden, dass das Hessische Ministerium der Justiz und damit das Land Hessen den sich aus dem Sozialstaatsgebot in Art. 20 des Grundgesetzes ergebenden Anspruch der Kriminalitätsopfer
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Heinz Frese
auf eine ihren speziellen Bedürfnissen angemessene staatliche Unterstützung anerkannt hat. Daraus folgt, dass Opferhilfeeinrichtungen in freier Trägerschaft hoheitliche Aufgaben subsidiär für den Staat wahrnehmen. In Hessen wurde damit bundesweit ein beispielhaften Schritt getan, die Schlechterstellung von Kriminalitätsopfern gegenüber Tätern abzubauen.
1 Professionelle Opferhilfe in Deutschland
Der Arbeitskreis der Opferhilfen (ado) – Ein Zusammenschluss professioneller Opferhilfen in Deutschland von Rolf Guntermann (1994)
Der Arbeitskreis der Opferhilfen (ado) ist ein Zusammenschluss unterschiedlicher, professionell arbeitender Opferhilfeeinrichtungen in Deutschland. Ziel aller Einrichtungen ist es, Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind, zu unterstützen – sei es in reiner Parteilichkeit für das Opfer oder im Bemühen um eine Konfliktschlichtung zwischen Tätern und Opfern. Im ado arbeiten Einrichtungen aus folgenden Arbeitsbereichen mit: 䊏 Beratungsstellen für weibliche und männliche Kriminalitätsopfer aller Deliktsarten, 䊏 Notrufgruppen und Beratungsstellen für vergewaltigte und sexuell missbrauchte Mädchen und Frauen, 䊏 Einrichtungen, die Opfer antihomosexueller Gewalt unterstützen und betreuen, 䊏 Ortsvereine des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), 䊏 Einrichtungen zur Betreuung von Zeugen in Gerichtsverhandlungen, 䊏 Einrichtungen, mit deren Hilfe eine Konfliktschlichtung bzw. ein Ausgleich zwischen Täter und Opfer herbeigeführt werden kann. Die Gründung des ado Seit Mitte der achtziger Jahre trafen sich die Mitarbeiter der bis dahin existierenden Opferhilfeeinrichtungen und andere an dieser Thematik Interessierte vornehmlich auf Veranstaltungen, Vorträgen oder Fachtagungen zu opferspezifischen Themen. Am Rande dieser Veranstaltungen entwickelte sich regelmäßig ein reger Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Fragen der alltäglichen Praxis. Eigene
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Rolf Guntermann
Schwierigkeiten in der Beratungsarbeit wurden im Kollegenkreis ebenso erörtert wie generelle Einschätzungen bezüglich der Möglichkeiten und Grenzen praktischer Opferunterstützung. Dabei wurde deutlich, dass es eine ganze Reihe von gemeinsamen Erfahrungen gab, die das Bedürfnis verstärkten, die Auseinandersetzung damit gemeinsam weiter zu vertiefen. Im März 1998 wurden auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit auf den verschiedensten Ebenen ausführlich diskutiert. Auf Anregung der HANAUER H!LFE e.V. wurde beschlossen, sich künftig zweimal jährlich zu einer Arbeitstagung zu treffen; wobei ein Treffen im Zusammenhang mit einer Fachtagung zu opferspezifischen Themen stehen, ein zweites abwechselnd in den Räumen der jeweiligen Einrichtungen stattfinden sollte. Die erste gemeinsame Arbeitstagung aller Opferhilfeeinrichtungen fand auf Einladung der HANAUER H!LFE e.V. im Oktober 1988 in Hanau statt. Im Rahmen dieser Veranstaltung gründeten die nachstehend aufgeführten Opferberatungsstellen den „Arbeitskreis der Opferhilfen in der BRD“: Bremer Hilfe e.V. Hanauer Hilfe e.V. Opferhilfe Berlin e.V. Opferhilfe Braunschweig e.V. Opferhilfe Hamburg e.V. Der Weiße Ring, der durch seinen Generalsekretär ebenfalls in Hanau vertreten war, konnte sich nicht zu einem Beitritt entschließen. Der Arbeitskreis, so wurde vereinbart, sollte zunächst seine Mitgliedsvereine als eine Art Dachverband enger zusammenfassen, jedoch sollte die Eigenständigkeit der einzelnen Vereine unangetastet bleiben. Zur Außenvertretung wurden zwei SprecherInnen gewählt. Die Gründungsmitglieder waren sich einig, dass der Arbeitskreis vorrangig dazu beitragen sollte, dass ein regelmäßiger Informations- und Erfahrungsaustausch stattfinden kann und eine stärkere Kooperation der einzelnen Mitglieds-
Der Arbeitskreis der Opferhilfen (ado)
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vereine im Interesse der Opfer von Straftaten ermöglicht wird. Die interne Organisationsstruktur des Arbeitskreises und die inhaltliche Ausgestaltung seiner Tätigkeit wurde auf den nachfolgenden Arbeitstagungen konkreter definiert.
Mitgliedsorganisationen und Beirat Schon mit der Gründung des ado war beabsichtigt, neben den Beratungsstellen für Kriminalitätsopfer aller Deliktsarten, auch andere professionell arbeitende Einrichtungen die gezielt ganz spezielle Opfergruppen unterstützen, für eine Mitarbeit zu gewinnen. Im Laufe der Jahre traten deshalb auch Einrichtungen aus den Bereichen der Frauennotruf- und Frauenberatungsarbeit, des Kinderschutzes, des TäterOpfer-Ausgleichs und Organisationen, die Opfer antihomosexueller Gewalt betreuen, dem ado bei. Insgesamt 19 Einrichtungen gehören im November 1995 dem ado an. Darüber hinaus existiert ein Beirat, dem ExpertInnen aus Wissenschaft und Politik angehören. Diese ExpertInnen wollen die ado-Mitglieder beraten, den Arbeitskreis bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben fördern und seine Belange in der Öffentlichkeit unterstützen.
Ziele des ado Der ado hat sich neben einem regelmäßigen Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den bundesdeutschen Opferhilfeeinrichtungen zum Ziel gesetzt, dass: 䊏 die Zusammenarbeit der verschiedenen Opferberatungsstellen mit internationalen, insbesondere europäischen Opferhilfeeinrichtungen, intensiviert wird, 䊏 gezielt die Gründung weiterer professioneller Opferhilfen gefördert wird, 䊏 in Deutschland ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen für Kriminalitätsopfer entsteht, 䊏 und parteilich (jedoch nicht zu Lasten der Täter) für die Belange der Opfer von Straftaten öffentlich Stellung bezogen wird.
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Rolf Guntermann
Die Mitgliedsvereine des ado treffen sich zweimal im Jahr zu einer mehrtägigen Arbeitstagung jeweils am Ort einer Mitgliedsorganisation. Darüber hinaus gehören öffentliche Informationsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und Fachtagungen zu den Arbeitsschwerpunkten des Arbeitskreises. Anlässlich des erstmalig am 22.02.1990 europaweit begangenen „Tag des Opfers“ beispielsweise veranstaltete der ado eine öffentliche Podiumsdiskussion mit ExpertInnen zum Thema „Sozialstaatliche und kriminalpolitische Aufgaben des Opferschutzes“.
Der ado im „European Forum for Victim Services“ (EF) Seit einigen Jahren gehört der ado dem europäischen Forum für Opferhilfen (EF) an. Durch diese Mitgliedschaft kann auch eine Kooperation und Vernetzung mit den anderen europäischen Opferunterstützungsorganisationen stattfinden. Um ein Aufnahmekriterium des European Forums zu erfüllen, änderte der ado 1992 seine Organisationsstruktur von einem Arbeitskreis in einen gemeinnützigen eingetragenen Verein. Seitdem wird der ado nach außen von einer/einem 1. bzw. 2. Vorsitzenden vertreten. Im Jahre 2009 besteht der ado aus 16 Mitgliedsorganisationen mit bundesweit 33 Beratungsstellen. Alle derzeitigen Mitgliedsorganisationen und Beiratsmitglieder können auf der Homepage des ado unter www.opferhilfen.de eingesehen werden. Der ado hat sich im Laufe der Jahre zu einem anerkannten Fachverband für die professionelle Opferhilfe entwickelt und verfügt über eine Bundesgeschäftsstelle in Berlin. Der ado ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) und unterhält zudem derzeit ein von der „Aktion Mensch“ unterstütztes Fortbildungsprogramm. So offeriert der ado seit 2007 Fortbildungsangebote für Menschen, die professionell mit Opfern von Gewalttaten arbeiten. Diese Angebote richten sich an MitarbeiterInnen von Beratungsstellen, Sozialpädagogischen Diensten und andern sozialen, justiziellen und medizinischen Institutionen.
Der Arbeitskreis der Opferhilfen (ado)
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Intendiert ist dabei eine verbesserte Unterstützung von Gewaltopfern, indem Fachkräfte diese nicht nur aus ihrer jeweiligen berufspraktischen Perspektive, sondern ganzheitlicher unter Berücksichtigung von Opferbedürfnissen fachlich behandeln und dabei viktiomologischen Grundsätzen folgen. Kernstücke des Fortbildungsprogramms sind einjährige berufsbegleitende Zertifikationskurse zum „Fachberater/Fachberaterin für Opferhilfe“ in Kooperation mit Fachhochschulen. Daneben werden bundesweite Fachtagungen, mehrtätige Fortbildungsseminare und eintätige Multiplikatorenseminare angeboten.
Standards in der Opferhilfe – Zu den Mindestanforderungen an eine professionelle Unterstützung von Kriminalitätsopfern von Rolf Guntermann (1995)
Vorbemerkung Im Rahmen des „Arbeitskreises der Opferhilfen“ (ado) entstand eine Arbeitsgruppe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Arbeit der unterschiedlichen Mitgliedsorganisationen einmal systematisch zu beschreiben und damit für die Darstellung in der Öffentlichkeit transparenter zu machen. Der Arbeitsgruppe gehörten MitarbeiterInnen aus Einrichtungen der Opferund Zeugenhilfe, Frauennotrufen, Kinderschutzorganisationen und Täter-OpferAusgleichs-Projekten an. Das Ziel unserer Arbeitsgruppe bestand dabei aber nicht in der bloßen Selbstdarstellung der unterschiedlichen Projekte, sondern vielmehr darin, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, wesentliche Unterscheidungsmerkmale zu benennen und das jeweilige Anforderungsprofil für die so verschiedenartigen Institutionen schärfer zu umreißen. Wir begannen also zunächst einmal damit, eine Art von Bestandsaufnahme vorzunehmen und unsere in der Allttagspraxis gemachten Erfahrungen zusammenzutragen. Am Anfang stand die Klärung folgender Fragen: 䊏 Welche Formen von Opferhilfe gibt es? 䊏 Wie eigentlich wird Opferunterstützung gemacht? 䊏 Welche Fachkräfte, welche Ausbildung und welche menschlichen Fähigkeiten werden gebraucht? 䊏 Und wer finanziert die Opferhilfen? Anhand der Beschreibung und Darstellung unserer konkreten Beratungsarbeit wurden uns dann sehr schnell bestimmte gemeinsame Erfahrungen, Arbeits-
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Rolf Guntermann
weisen und Prinzipien deutlich. Jedoch ebenso auch gravierende Unterschiede z. B. hinsichtlich unseres Klientels, unseres Arbeitsauftrages und auch in Bezug auf methodische Fragen und Konzeptionen. Wir begannen unsere Fragen genauer zu formulieren und die Antworten systematischer einzuordnen. 䊏 Welche Opfer wenden sich an die Beratungsstellen? 䊏 Welche Bedürfnisse und Wünsche haben die Ratsuchenden? 䊏 Welche Anforderungen ergeben sich daraus für die jeweilige Institution und die dort tätigen Fachkräfte? Im Verlauf des Arbeitsprozesses entstand als Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse zunächst ein Schaubild (siehe S. 26/27) unter dem Titel „Bestandsaufnahme und Anforderungen“. Es soll anschaulich machen, mit welchen Opfern die Mitgliedsorganisationen des ado arbeiten, welche Bedürfnisse dieses Ratsuchenden haben und wie wir versuchen, diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Aus diesem Schaubild entstand dann in einem zweiten Schritt ein Thesenpapier unter dem Titel „Opferhilfestandards“ in dem die Mindestanforderungen an eine qualifizierte Opferunterstützung benannt werden.
Opferhilfestandards Die Opferhilfestandards gliedern sich in die nachfolgenden fünf Bereiche: 1. 2. 3. 4. 5. 1
Organisationsform/Vereinssatzung Konzeption/Öffentlichkeitsarbeit Personelle Ausstattung Räume/Ausstattung/Ansiedlung Finanzbedarf/Finanzierung Organisationsform/Vereinssatzung
Eine Organisationsform in freier Trägerschaft (eingetragener gemeinnütziger Verein) soll garantieren, dass die Opferunterstützung nicht für Interessen Dritter funktionalisiert werden kann.
Standards in der Opferhilfe
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Die Satzung muss ausweisen, dass die Tätigkeit auf der Grundlage der allgemeinen und individuellen Opferbedürfnisse und -interessen erfolgt. Die Beratungstätigkeit ist parteilich für Belange der Opfer, aber nicht einseitig zu Lasten der Täter. Hieraus ergibt sich, dass eine organisatorische und inhaltliche Unabhängigkeit gewährleistet sein muss. Dieses muss auch im Zusammenhang mit der räumlichen Ansiedlung bedacht werden, weshalb Opferberatungsstellen nur dann in staatlichen bzw. behördlichen Gebäuden angesiedelt werden dürfen, wenn dieses mit den konzeptionellen Inhalten übereinstimmt und den Opferbedürfnissen nicht entgegensteht. Die Opferunterstützungseinrichtungen sollen die Funktion einer Anlauf- und Beratungsstelle erfüllen. Eine Integration in die örtliche soziale Infrastruktur (Netzwerk) ist notwendig. Die Vereinsstruktur soll eine klare Arbeitsteilung zwischen Vorstand und MitarbeiterInnen vorsehen. Der Vorstand des Vereins hat Aufgaben wie Geschäftsführung, Absicherung der Finanzierung und Repräsentation/Öffentlichkeitsarbeit wahrzunehmen, wobei die Vermittlung von Arbeitsinhalten entsprechend den Erfordernissen nach Absprachen zwischen Vorstand und MitarbeiterInnen erfolgt. Die Beratungsstelle muss mit hauptamtlichen MitarbeiterInnen besetzt sein, ergänzend können auf verschiedenen Arbeitsbereichen auch neben-, ehrenamtliche MitarbeiterInnen und Honorarkräfte eingesetzt werden. 2
Konzeption
Entsprechend der Satzung muss eine zielgruppenorientierte Konzeption erstellt werden. Wesentliche Prinzipien der Opferunterstützung sind: 䊏 Angebotscharakter (Kommstruktur) 䊏 unentgeltliches Angebot 䊏 Gewährung der Unterstützung unabhängig von der Erstattung einer Strafanzeige 䊏 Orientierung an Opferbedürfnissen 䊏 Freiwilligkeit 䊏 Vertraulichkeit 䊏 auf Wunsch Anonymität
finanzielle Hilfsmöglichkeiten (u. a. Weißer Ring)
Entlastung von Ängsten und Spannungen
Entschädigung (Versicherungen Berufsgenossenschaft u. ä.)
Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten im sozialen, psychologischen/ psychotherapeutischen Bereich
gesetzliche Möglichkeiten z. B. OEG
Rechtsansprüche, Rechtsmittel
Klärung der Situation und Erarbeitung notwendiger Handlungsschritte
eindeutiger Parteinahme
vertraulichen Gesprächen ohne zeitl. Druck
Beratung über:
Akzeptanz und Empathie
Konkrete Bedürfnisse nach:
umfassender Beratung über zusätzliche Hilfsmöglichkeiten
Bewältigung der psychischen Tatfolgen und emotionaler Stabilisierung
Bedürfnisse von Opfern nach:
Straftaten gegen die persönliche Freiheit
Vermögensdelikten
Gerichtsverhandlungen
Behörden
Polizei, Rechtsanw. u. ä.
Begleitung zu:
persönlicher Begleitung (Rückendeckung)
Ausfüllen von Antragsformularen
bei der Suche nach einer neuen Wohnung
Einbau eines neuen Türschlosses
Hilfe beim:
praktischer Hilfe
finanzielle Hilfe bei Unkosten im Zusammenhang mit der Tat, die ansonsten nicht gedeckt werden
materiellen Schäden oder Verlusten, die nicht durch den Schädiger oder eine Versicherung getragen werden
Hilfe bei:
finanzieller Hilfe
Zusammenfassung und schematische Darstellung Stand: Mai 1993
Zusammenarbeit mit oder Weitervermittlung an Einrichtung, die Täter-Opfer-Ausgleich durchführt
Konfliktregelung mit dem Täter
Angst vor dem Täter bewältigen
dem Täter Grenzen setzen
dem Täter die konkreten Tatfolgen und die eigene Betroffenheit verdeutlichen
Bewältigung der Tatfolgen durch Einbeziehung des Täters
Verkehrsunfällen
BESTANDSAUFNAHME UND ANFORDERUNGEN
Physische, psychische und materielle Tatfolgen
Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht
Gewaltstraftaten
Hilfe für Opfer von:
OPFERHILFE-STANDARDS IM ADO
26 Rolf Guntermann
Kenntnisse der regionalen Hilfsmöglichkeiten anderer Institutionen
Kenntnis gesetzlicher und finanzieller Hilfsmöglichkeiten
rechtliche Kenntnisse
Kenntnisse der besonderen Verarbeitungsformen bei mangelnder Selbstakzeptanz
In Beratungsstellen für Opfer antischwuler Gewalt: Reflexion und Akzeptanz schwuler Identität
Im Kinderschutzbund: Allparteilichkeit und Hilfen für die körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit des Kindes
in Frauennotrufen: Bewußtsein und Reflexion der eigenen Frauenrolle
Stärkung der Handlungsautonomie der Betroffenen
Vertraulichkeit
therapeutische Unterstützung als Angebot oder Vermittlung externer Angebote
Beratung und Krisenintervention
Parteilichkeit für das Opfer
angemessene personelle und räumliche Ausstattung
Allgemeine Anforderungen an Opferhilfeeinrichtungen:
Kooperation mit anderen Institutionen
handwerkliche Fähigkeiten
Fähigkeit zum Umgang mit bürokratischen Abläufen
Zugang zu und Kontakt mit anderen Institutionen
Kenntnis materieller Hilfsmöglichkeiten außerhalb der eigenen Institution
eigene materielle Ressourcen
Kenntnisse im Bereich der Konfliktregelung
Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Straffälligenhilfe
Bereitschaft auch zur Auseinandersetzung mit der Täterperspektive
Zugangmöglichkeit zum Täter
12. Gesellschaftspolitische Arbeit (Erfahrungsvermittlung, Aufklärung, Fortbildung, MulriplikatorInnenarbeit)
11. Forderung von und Mitwirkung bei der Erarbeitung von präventiven Maßnahmen
10. Bereitschaft zum öffentlichen Eintreten für die Belange von Opfern („Lobby“)
9. Notwendigkeit von und Bereitschaft zu Praxisreflexion, Supervision und Fortbildung für alle MitarbeiterInnen.
8. Professionalität der BeraterInnen (Berufsausbildung im psychosozialen Bereich) und evtl. Unterstützung durch Honorarkräfte bzw. unbezahlte, ehrenamtliche MitarbeiterInnen, die geschult sein müssen.
7. Möglichkeit zu unbürokratischer Vorgehensweise, Verzicht auf übliche Aktenführung (Anonymität), Datenschutz
6. Opferunterstützung wird unabhängig von der Erstattung einer Strafanzeige geleistet.
5. Angebot von Soforthilfe durch baldiges Erstgespräch; Angebot der psychosozialen Beratung und ggfls. längerfristigen, evtl. therapeutischen Betreuung durch BeraterIn.
4. Angebotscharakter der Hilfeleistungen, unentgeltliche Hilfe, bedürfnisorienterter Ansatz
3. Integration in die soziale Infrastruktur vor Ort mit guten Arbeitskontakten zu allen relevanten Institutionen und Behörden
2. Organisatorische und inhaltliche Unabhängigkeit und räumliche Trennung von Justiz, Polizei und Sozialverwaltung – mit Ausnahme der im Gericht arbeitenden Zeugenberatung
1. Übernahme der Funktion einer Anlauf-, Clearing- und ggfls. Weitervermittlungsstelle für Opfer von Straftaten als „Hilfe zur Selbsthilfe“
Kenntnis der regionalen „Infrastruktur“
personelle und zeitliche Ressourcen
Schaubild: Bestandsaufnahme und Anforderungen
Anforderungen an spezialisierte Einrichtungen:
Konkrete Anforderungen an Opferhilfeeinrichtungen:
Standards in der Opferhilfe
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Rolf Guntermann
Opferunterstützung kann bestehen aus: 䊏 Klärungshilfe 䊏 psychosoziale Beratung, Krisenintervention, langfristige Betreuung und therapeutische Unterstützung für: Einzelpersonen, Paare, Gruppen, Angehörige und Selbsthilfegruppen (auch geschlechtsspezifisch) 䊏 rechtliche Beratung 䊏 Begleitung und Unterstützung der Zeugen im Gerichtsverfahren 䊏 Täter-Opfer-Ausgleich/Konfliktschlichtung Diese Beratungstätigkeiten können Bestandteil der Angebotspalette einer einzigen Einrichtung sein oder durch Vermittlung von oder Weiterverweisung an eine andere geeignete Beratungsstelle sichergestellt werden (Netzwerkgedanke). Neben der konkreten Opferunterstützung im Einzelfall zählt die Öffentlichkeitsarbeit zu den wesentlichen Aufgaben. Sie umfasst sowohl die Aufklärung der Öffentlichkeit über das Beratungsangebot der einzelnen Einrichtungen, als auch das öffentliche Eintreten für grundsätzliche Belange der Opfer (Lobbyarbeit). Dazu können auch Informationsveranstaltungen zu opferspezifischen Themen wie zum Beispiel die Prävention von Straftaten oder Möglichkeiten zum Selbstschutz/Selbstverteidigung gehören. In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich zu beachten, dass Opfer für Öffentlichkeitsarbeit nicht funktionalisiert werden dürfen.
3
Personelle Ausstattung
Die personelle Ausstattung ist dem Konzept und dem inhaltlichen Angebot sowie der Arbeitsaufteilung zwischen Vorstand und MitarbeiterInnen anzupassen. Es ergeben sich in der Regel die drei Arbeitsbereiche Geschäftsführung, Beratung und Verwaltung. 3.1
Geschäftsführung
Kann die Geschäftsführung nicht vom ehrenamtlich tätigen Vorstand wahrgenommen werden, kann diese Aufgabe an hauptamtliche MitarbeiterInnen delegiert werden. Das bedeutet für diese Person:
Standards in der Opferhilfe
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1. Freistellung von Beratungstätigkeit im entsprechenden Umfang. 2. eindeutige vertragliche Regelung hinsichtlich der Verantwortungs- und Haftungsmodalitäten und rechtlichen Konsequenzen. 3. angemessene Bezahlung Bei Delegation an hauptamtliche MitarbeiterInnen muss die Aufrechterhaltung des Beratungsangebotes im bisherigen Umfang durch entsprechende personelle Erweiterung gewährleistet sein. 3.2
Beratung
Das Beratungsteam sollte mindestens aus drei hauptamtlichen Kräften (Vollzeit, gemischt geschlechtlich) bestehen. Hierdurch sollen folgende Aspekte abgesichert werden: Erreichbarkeit: 䊏 Bereitschaftsdienst während der Öffnungs- bzw. Sprechzeiten 䊏 Wahlmöglichkeit zwischen Mann und Frau 䊏 Verhinderung von zu hoher Arbeitsbelastung (Termindruck), da sonst inhaltliche Arbeit und Qualität leidet 䊏 Angebote müssen auch kurzfristig abgedeckt werden können (z. B. Krisenintervention, Begleitung zu Gericht/Vernehmung, psychosoziale Begleitung im Verarbeitungsprozess) 䊏 Flexible Gestaltung der Arbeitszeit 䊏 Weitervermittlung: Ausreichende Kenntnis von/und Kooperation mit dem regionalen sozialen Netz (institutions- und klientenbezogen). Die MitarbeiterInnen müssen eine dem Aufgabengebiet entsprechende berufliche Grundqualifikation (entsprechendes Studium) aufweisen. In Ergänzung zu den hauptamtlichen MitarbeiterInnen können auch geeignete ehren- und nebenamtliche Kräfte eingesetzt werden. Dieses erfordert eine sorgfältige Auswahl im Hinblick auf deren mögliche eigene Opfererfahrung, ihre psychische Belastbarkeit und ihre persönliche Motivation, in der Opferberatung zu arbeiten.
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Rolf Guntermann
Alle MitarbeiterInnen müssen die Bereitschaft haben, sich entsprechend ihres Einsatzgebietes weiterzuqualifizieren: 䊏 angebotsentsprechende Weiterbildung/spezialisiertes Fachwissen 䊏 theoretische Vertiefung in die Opferproblematik und praxisorientierte Fortbildung (Seminare, Workshops, Zusatzausbildung z. B. Gesprächsführung) Des Weiteren sind folgende persönliche Kompetenzen erforderlich: 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
Kommunikationsfähigkeit Empathie Kongruenz Selbsterfahrung und -reflexion Vermeidung von Identifikation/Fähigkeit zur Abgrenzung
Zur Aufrechterhaltung der Kompetenz: 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
Bereitschaft zur Teamarbeit und Team-Supervision Reflexion und Erweiterung der Kompetenz Entlastung (Psychohygiene) durch kollegiale Beratung und Austausch eigene Stabilisierung (Kriminalitätsfurcht) Fallsupervision im BeraterInnenteam
Durch die Zusammensetzung des Teams soll ein ganzheitlicher multiprofessioneller Ansatz erreicht werden, entweder in der Institution oder durch eine Vernetzung mit anderen Einrichtungen.
3.3
Verwaltung
Verwaltungskapazitäten müssen soweit ausreichen, dass die BeraterInnen nicht mit Verwaltungsaufgaben belastet werden. Das bedeutet eine klare Trennung zwischen Verwaltung und Beratung. Mit wachsender Beratungstätigkeit wächst erfahrungsgemäß die Verwaltungstätigkeit. Aufgabenbereich/Verwaltung: Büroorganisation/Schreibarbeiten/Telefondienst Telefonische Kontaktaufnahme muss während der Beratungszeiten möglich sein, d. h. Telefondienst muss ungestörte Beratung ermöglichen.
Standards in der Opferhilfe
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Die Vielfalt der Aufgabenfelder und die strikte Trennung von Verwaltungs- und Beratungstätigkeit erfordert die Einstellung von mindestens zwei halben Verwaltungskräften, um Engpässe (Urlaub, Krankheit, Fortbildung) weitestgehend zu vermeiden. Qualifikation: 䊏 Grundqualifikation/Verwaltungsausbildung 䊏 Kompetenzerhaltung und –erweiterung: EDV-Kenntnisse 䊏 soziale Kontaktfähigkeit (Klientenkontakte) 4
Räume/Ausstattung
Die Räumlichkeiten sollten zentral (z. B. Innenstadtbereich) und in einem ansprechenden neutralen Gebäude mit Publikumsverkehr gelegen sein, soweit die Konzeption nichts anderes verlangt. Realistische Mietpreise müssen bei der Festsetzung des Finanzbedarfs Berücksichtigung finden. Vorhanden sein müssen: 1. ein großer Beratungsraum mit einer dem inhaltlichen Angebot angemessenen Ausstattung und der Möglichkeit den Raum verändern zu können. Zum Beispiel bei Entspannungsübungen, Selbsthilfegruppen, Körperarbeit oder Einzelberatung. 2. Pro BeraterIn ein eigenes Büro mit angemessener Ausstattung für Beratungsgespräche, eventuell PC. 3. Kombination von Verwaltungs- und Wartebereich, ausgestattet mit: EDV, Telefonanlage, Fax, Fotokopiergerät, abschließbaren Aktenschränken (Datenschutz). 4. großer Gemeinschaftsraum für Supervision, Teamsitzungen, Vorstandssitzungen, Mitgliederversammlungen, 5. Küche/Sozialraum und getrennte Toiletten, 6. Lagerraum/Keller für Aktenlagerung bzw. Infomaterial/Bibliothek. Weitere Anforderungen an die Räumlichkeiten: 䊏 Notwendige Grundausstattung als Voraussetzung für ansprechende Atmosphäre (Vertrauensbildung) und Psychohygiene des BeraterInnenteams, 䊏 Räume müssen hell sein und so angelegt, dass störungsfreie Beratung möglich ist (keine Durchgangszimmer).
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Rolf Guntermann
Finanzbedarf/Finanzierung
Die Finanzierung der Beratungsstelle muss langfristig abgesichert sein. Ein ständiger Kampf um die finanzielle Absicherung würde ansonsten unnötige Kapazitäten binden und sich negativ auf die Motivation der MitarbeiterInnen auswirken und die Qualität der Beratung beeinflussen. Der Finanzrahmen muss mindestens drei BeraterInnenstellen und zweimal eine halbe Verwaltungsstelle umfassen. Alle MitarbeiterInnen müssen entsprechend ihrer jeweiligen Arbeitsplatzbeschreibung eine angemessene Bezahlung nach BAT erhalten, dieses gilt auch für Überstunden, soweit sie nicht abgefeiert werden können. Bei Bedarf muss der Einsatz von Honorarkräften finanziell möglich sein. Finanzmittel für Supervision und Fortbildung sowie für pädagogische/therapeutische Hilfsmittel müssen im Haushaltsplan eingestellt werden. Auch alle übrigen Betriebskosten und Sachmittel, vor allem Kosten für Öffentlichkeitsarbeit, müssen über einen solide finanzierten Haushalt abgedeckt sein. Die im Jahr 2009 aktuelle Version der Opferhilfestandards kann auf der Homepage des ado unter www.opferhilfen.de eingesehen werden.
2 Opferunterstützung in der Praxis
Leitlinien für den Umgang mit Kriminalitätsopfern von Heinz Frese (2008)
Geschichtliche Entwicklung Seit dem Beginn der Zusammenarbeit zwischen Justiz und Sozialwissenschaften standen über Jahrzehnte hinweg zunächst allein Täter, Tätermotive und mögliche Hilfen für Täter im Mittelpunkt der fachlichen Diskussionen um Straftaten. Die sozialen Dienste der Justiz befassten sich ausschließlich mit der Person des Täters. Während sich die Gerichtshilfe bei der Staatsanwaltschaft um die Aufklärung des Tathintergrundes aus der Sicht des Täters bemühte, sorgten die beim Landgericht angesiedelte Bewährungshilfe und die Sozialarbeit im Strafvollzug für eine resozialisierende Integration des Verurteilten. Vom Kriminalitätsopfer war bis dahin kaum die Rede. Von staatlicher Seite erinnerte man sich nur dann an die Opfer einer Straftat, solange sie für die Durchsetzung des Strafanspruchs im Strafverfahren als Zeugen benötigt wurden. Erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann nach Anfängen besonders in den Niederlanden und in verschiedenen Ostblockstaaten auch in der Bundesrepublik Deutschland eine rechtspolitische Diskussion, die sich der besonderen Rolle der Kriminalitätsopfer sowie der Zeugen im Strafverfahren annahm. Zu diesem Zweck war 1977 eine Forschungsgruppe im Bundeskriminalamt im Wiesbaden gegründet worden, welche die gesellschaftliche Perspektive der Kriminalitätsopfer untersuchte. Man kam zu dem Ergebnis, dass Opfer nach einer Straftat häufig das Vertrauen in ihre Umgebung und in die Gesellschaft verlieren, weil Gesellschaft und Staat für die Einhaltung der Normen und den Schutz des Opfers nicht eingestanden haben. Der Staat ist für das Opfer nicht mehr das System des institutionellen Vertrauens, wie es noch vor der Straftat bestand. Die Perspektive des Opfers verliert durch die Tat an Selbstverständlichkeit, emotionelle Reaktionen sind die Folge. Psychosomatische Beschwerden, Angst, Misstrauen und Gefühle der Unsicherheit und Schuld schließen sich oft an. In einer solchen Situation muss dem Opfer Gelegenheit gegeben werden, zu einer Restrukturierung seiner Perspektive gelangen zu können. Ein Beitrag dazu
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Heinz Frese
kann die Gewissheit sein, dass es Instanzen gibt, die dafür eintreten, nicht nur Wiederholungen der Straftat zu verhindern, sondern insbesondere auch die nachteiligen Folgen für die Betroffenen zu beseitigen. Daher wendet sich ein Kriminalitätsopfer in der Regel auch an den Staat und zwar an die Polizei. Es ist somit vor allem die Aufgabe des Staates, der Perspektive eines Opfers die beschriebene Selbstverständlichkeit zurückzugeben. Für die Organisation von Hilfsmöglichkeiten kommt als Rechtsgrundlage das Sozialstaatsgebot in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes in Betracht. In neuerer Zeit wird dieses Gebot auf europäischer Ebene ergänzt durch den „Rahmenbeschluss der Europäischen Union vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren“. Vor diesem Hintergrund hat sich in Hessen seit der Gründung der „Hanauer Hilfe“ im Jahre 1984 ein bestimmtes Profil für Opferhilfeeinrichtungen erfolgreich entwickelt und bewährt. Ausgehend von diesem Modell ergeben sich folgende Leitlinien für eine professionelle Opferhilfe:
1
Institutioneller Rahmen
Zu einer professionellen Opferhilfe gehören 䊏 das Land (Staat) als Initiator und finanzieller Hauptförderer, 䊏 örtliche Vereine als Träger, 䊏 professionelle Mitarbeiter für die praktische Beratungsarbeit am Fall. So wie die Sozialarbeit für Straftäter selbstverständlich vom Staat finanziell getragen wird, ist auch die Betreuung der Opfer von Straftaten staatliche Aufgabe. Wegen ihrer engen Verbindung zum Strafverfahren gehört sie in den Verantwortungsbereich des Justizministeriums. Opferberatung setzt spezielle Erfahrungen mit Reaktionsweisen von Kriminalitätsopfern ebenso voraus wie Kenntnisse des Strafverfahrensrechts und der Verhältnisse bei Polizei und Gericht. Nicht weniger als die Hilfe für Straftäter gehört sie daher in die Hand spezieller staatlich geförderter Einrichtungen; sie kann nicht anderen örtlichen Beratungsstellen zur Miterledigung überlassen werden. Die Rechtsform eines privatrechtlichen gemeinnützigen Vereins bietet sich an, um Betroffenen nach einer Straftat neben den Kontakten zur Polizei und zu anderen öffentlichen Einrichtungen keine weiteren Behördengänge mehr zuzu-
Leitlinien für den Umgang mit Kriminalitätsopfern
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muten und um damit mögliche Schwellenängste der Geschädigten zu vermeiden. Gleichwohl bleibt Opferhilfe eine hoheitliche Tätigkeit, die von den privaten Trägervereinen subsidiär für den Staat wahrgenommen wird. Die Vorstände vertreten die Opferhilfevereine rechtswirksam nach außen. Sie tragen die rechtliche Verantwortung für die vertraglichen Verpflichtungen der Vereine und die inhaltliche Verantwortung für die grundsätzliche Qualität der Beratungstätigkeit. Sie sind ehrenamtlich tätig und werden von den örtlichen Justiz- und sonstigen Landesbehörden nach Kräften unterstützt. Die Mitarbeiter sind professionelle Opferhelfer (Angehörige sozialer Berufe, wie Diplompädagogen, Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen). Sie beraten und betreuen Opfer von Straftaten und Zeugen und deren Angehörige. Das Berufsbild des „Opferhelfers“ ist analog zu dem des Bewährungshelfers zusehen.
2
Voraussetzungen und Aufgaben einer professionellen Opferhilfe
Opferberatung muss von qualifizierten Fachkräften geleistet werden. Unerlässlich ist Fachwissen über die Hintergründe der Opferproblematik, über Traumatisierung, Kriseninterventionsmaßnahmen und weitere Hilfsangebote. Andererseits verlangt der Umgang mit traumatisierten Menschen nicht nur Einfühlung, sondern auch professionelle Distanz. Neben einer empathischen Haltung ist die Fähigkeit zur Abgrenzung gegenüber dem Ratsuchenden eine wichtige Voraussetzung, um nicht selbst in die Rolle des Hilflosen zu geraten (indirekte Traumatisierung). Der Aus- und Weiterbildung aller Personen, die Opfer zu betreuen und zu beraten haben, kommt daher große Bedeutung zu. Voraussetzung ist ein abgeschlossenes (Fach-)Hochschulstudium. Die Opferhelfer verfügen zudem über unterschiedliche beraterische und therapeutische Zusatzausbildungen mit Selbsterfahrungsanteilen sowie über mehrjährige Berufserfahrung in anderen sozialpädagogischen Feldern. Sie haben sich zusätzlich spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit den psychosozialen und juristischen Aspekten der Opferlage erworben. Im Vordergrund steht dabei die Beschäftigung mit der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen und der Entstehung und Bearbeitung der posttraumatischen Belastungsstörung. Hierzu finden u. a. bei namhaften führenden Fachleuten (z. B. Prof. Dr. Carlo Mittendorff, Dipl.-Psych. und Psychotherapeut, Leiter des Instituts für Psychotrauma in Utrecht, NL) regelmäßige Fortbildungsseminare statt.
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Heinz Frese
Zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der fachlichen Qualifikation und als notwendige Entlastungsmöglichkeit für die Opferhelfer sind Teilnahme an regelmäßiger Fall- und Teamsupervision sowie jährlich mehrtägige Fortbildungsveranstaltungen erforderlich.
3
Arbeitsweisen und Prinzipien der Beratung
Ziel der Beratung ist, allen Opfern von Straftaten Unterstützung und Beistand zur Bewältigung der Folgen anzubieten. Das Angebot richtet sich an Betroffene – das sind Opfer, deren Angehörige und Zeugen – aller Straftaten. Das Spektrum reicht von Bedrohung, Telefonterror und Beleidigung über Diebstahl, Körperverletzung und Einbruch bis hin zu Raubüberfällen, Vergewaltigung und versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten. Es gelten die folgenden Grundsätze: 䊏 Vertraulichkeit: Was Betroffene dem Opferhelfer anvertrauen, bleibt vertraulich. Die Opferhelfer unterliegen der Schweigeverpflichtung gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 5 des Strafgesetzbuches. Sie haben allerdings kein Zeugnisverweigerungsrecht; darauf sind die Klienten in sensibler Weise jeweils in den Fällen aufmerksam zu machen, in denen dies veranlasst erscheint. Die Klienten können auf Wunsch anonym bleiben. 䊏 Die Opferhilfe ist unentgeltlich. 䊏 Beratung kann unabhängig davon in Anspruch genommen werden, ob eine Strafanzeige erfolgt. 䊏 Angebotscharakter: Wie die Forschung gezeigt hat, verarbeiten Opfer von Straftaten – insbesondere nach traumatisierenden Schädigungen – das Erlittene in Phasen. Episoden des Reden-Könnens wechseln mit Zeiten ab, in denen der Wunsch nach Rückzug dominiert. Die Dauer der Phasen ist individuell sehr unterschiedlich. Durch öffentlichkeitswirksame Maßnahmen wird auf das Beratungsangebot hingewiesen, so dass ein hoher Bekanntheitsgrad der Opferhilfen zu gewährleisten ist. Hilfesuchende dürfen jedoch nicht, ohne selbst darum gebeten zu haben, angerufen oder aufgesucht werden. 䊏 Die Opferhelfer nehmen eine für die Opfer parteiliche Grundhaltung ein. Das heißt, sie nehmen Sichtweisen und Wünsche der Klienten von vornherein grundsätzlich ernst, etwa wie ein Rechtsanwalt beim Mandanten. Parteilichkeit heißt aber nicht völlige Identifizierung.
Leitlinien für den Umgang mit Kriminalitätsopfern
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䊏 Die Opferhelfer respektieren die Autonomie der Betroffenen und sorgen für größtmögliche Transparenz. Nichts wird ohne volle Kenntnis und ausdrückliches Einverständnis der Klienten unternommen. 䊏 Im Einzelfall können Betroffene Hilfe sehr schnell benötigen. Daher erfolgt das Erstgespräch möglichst ohne Wartezeit, spätestens innerhalb einer Woche. 䊏 Sprechzeiten sollten zumindest an jedem Werktag angeboten werden. 䊏 Die Beratungsstelle sollte über Räume in zentraler Lage verfügen. 4
Methoden der Opferhilfe
Welche Hilfe den Klienten geleistet wird, wie sie verläuft und wie lange sie dauert, richtet sich entscheidend nach dem Einzelfall. Folgende Methoden werden eingesetzt, die häufig ineinander übergehen: Aufklärung und VermittIung von Informationen 䊏 Von der Anzeige zur Hauptverhandlung. Vermittlung sachlicher Information über das strafprozessuale Ermittlungsverfahren von der – freigestellten – Anzeigeerstattung bis zur durchgeführten Hauptverhandlung. Allgemeine Aufklärung über die Teilhaberechte des Opfers im Strafverfahren. Bei konkretem Rechtsberatungsbedarf wird an einen Rechtsanwalt verwiesen. 䊏 Allgemeine Aufklärung über finanzielle Unterstützung bei anwaltlicher Vertretung im Strafverfahren (Prozesskostenhilfe, Zeugenbeistand, Anwalt des nebenklageberechtigten Opfers, Anwalt des Nebenklägers). 䊏 Allgemeine Aufklärung über finanzielle Unterstützung bei materiellem Schaden (Opferentschädigungsgesetz, Verweis auf den „Weißen Ring” mit Aufklärung über dessen Voraussetzungen der Hilfe, Hinweis auf das Adhäsionsverfahren). 䊏 Information über bzw. Weitervermittlung an Stellen, die dem Klienten zusätzlich helfen können (z. B. allgemeine psychosoziale Beratungsstellen, Ehe-, Familie- und Lebensberatungsstellen, Drogen- und Suchtberatungsstellen, Selbsthilfegruppen, Therapeuten, stationäre Heilbehandlungen, Schuldnerberatungsstellen, geschlechtsspezifische Hilfsmöglichkeiten wie z. B. Frauenhäuser etc.).
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Heinz Frese
Beratung 䊏 Einschätzung der Folgen der erlittenen Straftat – psychisch (wie tief geht die Konfliktreaktion; gibt es Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung [posttraumatic stress disorder, abgekürzt PTSD, DSM IV 309.81; ICD 10 F 43.1 –] ?) – persönlich (haben sich Partnerprobleme, Erziehungsprobleme ergeben?) – sozial (sind Folgen am Arbeitsplatz eingetreten? Reagiert das Opfer mit sozialem Rückzug? Welche sozialen Hilfsquellen sind noch vorhanden oder könnten aktiviert werden? Sind erhebliche finanzielle Schädigungen eingetreten, besteht die Gefahr der Überschuldung/Verarmung?). 䊏 Krisenintervention mit Einzelklienten (Strukturierung der Gesamtsituation, emotionale Stabilisierung, stützende Hilfe bei der Bewältigung des Alltags, gegebenenfalls Hilfe bei ungesicherter Wohnsituation). 䊏 Krisenintervention mit betroffenen Gruppen (z. B. Aufarbeitung des Erlittenen mit Bankangestellten nach Banküberfall mit Geiselnahme). 䊏 Unterstützung bei der Aufarbeitung eines traumatischen Ereignisses (unter Einsatz von imaginativen Techniken, verhaltenstherapeutischen Methoden, Entspannungsübungen usw.) 䊏 Längerfristige (beraterisch-therapeutische) Begleitung, die lösungsorientiert und bezogen auf die akute Traumatisierung erfolgt. Diese Begleitung dient der emotionalen Stabilisierung, der Stärkung des Selbstwertgefühls und der Erweiterung der Handlungskompetenz. 䊏 Angehörigenarbeit, insbesondere Trauerbegleitung bei Hinterbliebenen. Die Einbeziehung der Angehörigen der Opfer in die Beratung ist unter verschiedenen Aspekten sinnvoll und notwendig: Damit nahe Bezugspersonen nicht unabsichtlich Dinge tun oder sagen, welche die Betroffenen in ihrem Bemühen, das innere Gleichgewicht wieder zu finden, blockieren, brauchen sie ein tieferes Verständnis für die Situation von Opfern und Informationen über die Verarbeitung traumatisierender Ereignisse (Verhinderung sekundärer Viktimisierung). 䊏 Trauerbegleitung kann Hinterbliebenen von Mordopfern als stützende Begleitung bei der Bewältigung des Geschehenen helfen und ihren Trauerprozess erleichtern.
Leitlinien für den Umgang mit Kriminalitätsopfern
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䊏 In Fällen, in denen ambulante Hilfe nicht mehr ausreicht: Verweisung in stationäre Hilfsangebote (Psychiatrisches Krankenhaus, psychosomatische Kliniken mit dem Schwerpunkt PTSD-Behandlung). Ein geeigneter stationärer Therapieplatz wird für den – und in Zusammenarbeit mit dem – Klienten gesucht.
Begleitung 䊏 Begleitung als Vertrauensperson (§ 406f. Abs. 3 StPO) zur Vernehmung bei Polizei oder Gericht 䊏 Vorbereitung auf die und Begleitung in der Hauptverhandlung 䊏 Begleitung zu Ämtern, Behörden und Ärzten 䊏 Lebenspraktische Hilfen (z. B. Ausfüllen von Anträgen/Formularen, Hilfe bei Wohnungssuche) 䊏 Teilnahme an den örtlichen Koordinierungsgremien – Regelmäßige Zusammenarbeit mit Polizei, Justiz, Präventions- und sonstigen Einrichtungen der psychischen und sozialen Versorgung, Ärzten usw., um die Kooperation in Einzelfällen optimal vorzubereiten. 䊏 Die Akzeptanz der psychosozialen Einrichtungen bei Polizei und Justiz ist aufgrund unterschiedlicher Arbeitsansätze in der Regel wenig entwickelt. So muss die Bereitschaft zur Zusammenarbeit kontinuierlich gepflegt werden. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit erweisen sich die personelle und räumliche Nähe als besonders förderlich.
Öffentlichkeitsarbeit Aus dem strikten Angebotscharakter der Tätigkeit der Opferberatung folgt die Notwendigkeit einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit, damit über die Hilfsmöglichkeiten informiert ist, wer in eine Opferlage gerät. Der gesellschaftlich verbreiteten Tendenz, Opfer auszugrenzen und ihre Situation nicht zur Kenntnis zu nehmen, muss durch die Arbeit der Opferhilfeeinrichtungen und durch Öffentlichkeitsarbeit entgegengewirkt werden.
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Heinz Frese
Zeugenzimmer Eine mögliche Erweiterung des Angebotes der Opferhilfen besteht in dem Betreiben eines in den Gerichtsgebäuden gelegenen Zeugenzimmers, sofern die personellen und sachlichen Möglichkeiten dafür ausreichen. Von diesem Zeugenzimmer aus werden insbesondere Prozessbegleitungen erleichtert durchgeführt. Täter-Opfer-Ausgleich Der § 46a des Strafgesetzbuches sieht vor, dass ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren bzw. ein gerichtliches Strafverfahren auch durch einen „TäterOpfer-Ausgleich“ im Rahmen einer Mediation abgeschlossen werden kann. Dies bedeutet, dass sich Opfer und Täter außerhalb des formellen Strafverfahrens (mit Hilfe von Vermittlern) in einem gemeinsamen Gespräch zu einigen versuchen. In diesem Ausgleichsversuch geht es um eine außergerichtliche Tataufarbeitung, die in eine Vereinbarung mit Schadenswiedergutmachung münden soll. Die Beteiligung der Opferhilfen am Täter-Opfer-Ausgleich soll sicherstellen, dass die Schädigungen und die Belange des Opfers gewürdigt und entsprechend berücksichtigt werden; auch soll dem Betroffenen eine Verarbeitung der Tatfolgen ermöglicht werden. Der Opferhelfer unterstützt den Geschädigten bei der Erarbeitung und Durchsetzung angemessener und (opfer-)gerechter Konfliktlösungen.
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Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Arbeit mit Kriminalitätsopfern eine Aufgabe für spezialisierte Beratungsstellen ist. Die Opferhilfseinrichtungen stellen somit eine unverzichtbare Ergänzung im sozialen Netz dar.
Beratungsangebot der Hanauer Hilfe e.V. Homepage der HANAUER H!LFE (2008)
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Homepage der HANAUER H!LFE
Beratung Die HANAUER H!LFE ist eine professionelle Beratungseinrichtung für Frauen und Männer, Mädchen und Jungen 䊏 䊏 䊏 䊏 …
wenn Sie beleidigt, bedroht oder belästigt wurden ... wenn Sie überfallen, beraubt oder verletzt wurden ... wenn Sie misshandelt, missbraucht oder vergewaltigt wurden ... wenn Sie über das Erlebte sprechen wollen ... beraten und unterstützen wir Sie kostenlos, streng vertraulich und auf Wunsch anonym – unabhängig davon, ob Sie Anzeige erstatten wollen oder nicht … oder wenn Sie sich über die Situation von Opfern informieren wollen … Sprechen Sie mit uns. Wir helfen Ihnen.
Grundprinzipen der Beratung Die HANAUER H!LFE hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kriminalitätsopfer zu beraten und in Einzelfällen längerfristig zu betreuen. Ziel der parteilichen Beratung ist, die Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen der erlittenen Straftaten. Das Angebot der HANAUER H!LFE richtet sich an Opfer und Zeugen von Straftaten und an deren Angehörige. Jede Person kann unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht und Nationalität unser Beratungsangebot in Anspruch nehmen. Betroffene können sich an uns wenden. Entscheidend ist allein das Empfinden und die individuelle Betroffenheit. Die HANAUER H!LFE arbeitet vertraulich, parteilich für die Opfer und kostenlos.
Beratungsangebote Die Beratungsstelle der HANAUER H!LFE ist einerseits Anlauf- bzw. Weitervermittlungsstelle und führt andererseits Soforthilfe sowie längerfristige Beratungen durch, beispielsweise: 䊏 Gespräche über Probleme und Ängste infolge einer erlittenen Straftat, 䊏 Unterstützung bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen,
Beratungsangebot der Hanauer Hilfe e.V.
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䊏 Informationen über rechtliche, soziale, psychologische und finanzielle Hilfsmöglichkeiten wie Schadenersatzleistungen, Beratungshilfen, Strafanzeige, Nebenklage usw., 䊏 Hilfe bei der Kontaktaufnahme zu RechtsanwältInnen, TherapeutInnen, Jugendämtern, Frauenhäusern usw., 䊏 auf Wunsch persönliche Begleitung zur Polizei, zu Ämtern und Behörden sowie zu Gerichtsverhandlungen, 䊏 praktische Hilfe beim Ausfüllen von Formularen oder Anfertigen von Schreiben.
Beratung der Angehörigen Die HANAUER H!LFE bietet die Möglichkeit an, die Angehörigen des Opfers in die Beratung miteinzubeziehen. Das kann aus verschiedenen Gründen sinnvoll und notwendig sein. Die Angehörigen fühlen sich oft verunsichert, wenn ein Opfer durch die gemachten Erfahrungen veränderte Verhaltensweisen zeigt. Auch in ihren Tröstungsversuchen fühlen sich die Angehörigen oftmals überfordert. Überforderung und Unsicherheit führen mitunter zu Bagatellisierungen oder gar zu Mitschuldzuweisungen an das Opfer. Auf das Bedürfnis der Betroffenen, das belastende Tatgeschehen wiederholt zu erzählen, wird abwehrend reagiert.
Fachlichkeit des Beratungsteams Unsere fachlich qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhalten regelmäßig Supervision (Reflektion und Überprüfung der Beratungsarbeit) bzw. Fortund Weiterbildung.
Auf Wunsch der Betroffenen … 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
begleiten wir Sie zu polizeilichen Vernehmungen oder zur Staatsanwaltschaft, nehmen wir an Terminen mit RechtsanwältInnen teil, leisten wir Unterstützung bei Behördengängen, begleiten wir Sie zu ärztlichen Untersuchungen, stehen wir Ihnen bei Ihrer Zeugenaussage vor Gericht zur Seite.
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Homepage der HANAUER H!LFE
Wir bieten Opfern und Zeugen unsere Unterstützung bei polizeilichen Vernehmungen und Zeugenaussagen vor Gericht. Oft ist dieser Schritt für Betroffene mit Belastungen und der Angst verbunden, dem Täter zu begegnen.
Speziell für Jungen und Männer Darum bietet ein Mann aus unserem Team an 䊏 Beratung und Unterstützung für Jungen ab 12 Jahren, die Opfer sexueller Gewalt waren oder sind. 䊏 Beratung von Männern, die aktuell oder irgendwann in ihrer Lebensgeschichte Opfer sexueller Gewalt waren oder sind. 䊏 Begleitung durch das Gerichtsverfahren, falls eine Strafanzeige erstattet wurde. 䊏 Beratung für Angehörige, PartnerInnen und Vertrauenspersonen der betroffenen Jungen und Männer. 䊏 Beratung für Männer, deren PartnerInnen Opfer sexueller Gewalt waren oder sind. 䊏 Auf Wunsch oder bei Bedarf übernimmt die HANAUER H!LFE die Weitervermittlung in Therapien, psychosomatische Kliniken u. a. Dieses Beratungsangebot ist 䊏 unabhängig von einer Strafanzeige, 䊏 streng vertraulich, 䊏 auf Wunsch anonym, 䊏 kostenlos.
Täter-Opfer-Ausgleich ( TOA ) im Erwachsenenstrafrecht – Professionelle Konfliktregelung für Opfer und Täter von Straftaten Was ist ein Täter-Opfer-Ausgleich (TOA)? Der Täter-Opfer-Ausgleich ist ein außergerichtliches Verfahren, das in § 46a des Strafgesetzbuches geregelt ist. Der Gesetzgeber möchte damit sowohl die Situa-
Beratungsangebot der Hanauer Hilfe e.V.
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tion von Opfern von Straftaten als auch von Tätern, die sich ernsthaft um eine Schadenswiedergutmachung bemühen, verbessern. Täter-Opfer-Ausgleich bedeutet, dass sich die Geschädigten und die Beschuldigten außerhalb eines Gerichtsverfahrens mit Hilfe von Vermittlern zu einigen versuchen. Die Teilnahme an einem TOA ist natürlich freiwillig und kostenlos. Im Täter-Opfer-Ausgleich kann eine für alle Beteiligten gerechte Übereinkunft zur Lösung eines aus einer Straftat entstandenen Konflikts erzielt werden. Diese einvernehmliche Lösung wird dann in einer schriftlichen Vereinbarung festgehalten und von den Beteiligten unterschrieben. Durch einen erfolgreichen TOA kann ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren bzw. ein gerichtliches Strafverfahren abgeschlossen werden. Auch zivilrechtliche Verfahren können vermieden werden, z. B. bei Vereinbarung einer angemessenen Schadenswiedergutmachung. Mögliche Ausgleichsleistungen sind zum Beispiel: 䊏 gemeinsames Gespräch mit persönlicher Entschuldigung, 䊏 Zahlung von Schadensersatz, 䊏 Zahlung eines Schmerzensgeldes, 䊏 Geschenk, Gutschein oder Dienstleistung als Zeichen der Wiedergutmachung.
Wie läuft ein TOA ab? In der Regel wählt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die TOA-geeigneten Fälle aus. Danach schreibt die HANAUER H!LFE Geschädigte und Beschuldigte zeitgleich mit der Frage an, ob Interesse an einem TOA besteht. Geschädigte wie Beschuldigte können sich aber auch aus eigener Initiative an die HANAUER H!LFE wenden, um einen TOA-Versuch einzuleiten. In getrennten Vorgesprächen können dann die jeweiligen Vorstellungen über eine außergerichtliche Konfliktlösung/Einigung besprochen werden. Anschließend findet im Regelfall das eigentliche Ausgleichsgespräch mit allen Beteiligten in der HANAUER H!LFE statt.
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Homepage der HANAUER H!LFE
Das Ausgleichsgespräch verläuft idealtypisch in den folgenden vier Phasen: 1. Einstieg (Information) 䊏 Anlass und Zweck der Zusammenkunft 䊏 Juristische Ausgangslage 䊏 Aufgabe und Rolle der Vermittler/in 2. Tataufarbeitung (subjektive Sichtweisen der Beteiligten) 䊏 Tatverlauf und Ursachen des Vorfalls 䊏 Folgen der Tat 䊏 Heutige Sicht des Vorfalls/Konflikts 3. Wiedergutmachung (materieller oder immaterieller Ausgleich) 䊏 Erwartungen der/des Geschädigten 䊏 Möglichkeiten der/des Beschuldigten 䊏 Zivilrechtliche Belange 4. Ausstieg (Vereinbarung) 䊏 Zusammenfassung der Gesprächsergebnisse 䊏 Unterzeichnung einer TOA-Vereinbarung 䊏 Fazit aus Sicht der Beteiligten Ist eine/r der Beteiligten nicht zu einem gemeinsamen Gespräch bereit, kann die außergerichtliche Einigung auch in getrennten Einzelgesprächen erfolgen. Es ist nicht zwingend ein persönliches Ausgleichsgespräch notwendig.
Welche Vorteile bietet ein außergerichtliches Verfahren? Mögliche Vorteile und Chancen für die Geschädigten/Tatopfer: 䊏 Unterstützung bei der Verarbeitung, Klärung und ggf. Beendigung des Konflikts durch eine begleitete Aussprache mit dem Täter/der Täterin. 䊏 Aktive Mitgestaltung bei der Vereinbarung einer angemessenen Wiedergutmachung für die erlittene Straftat. 䊏 Vermeidung eines Zivilprozesses durch den unbürokratischen Erhalt von Schadensersatz oder Schmerzensgeld von dem Täter/der Täterin.
Beratungsangebot der Hanauer Hilfe e.V.
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Mögliche Vorteile und Chancen für die Beschuldigten/TäterInnen: 䊏 Entschuldigung und Verantwortungsübernahme für die Tat und die Tatfolgen in einer begleiteten Aussprache mit der/dem Geschädigten. 䊏 Aktive Mitgestaltung bei der Wiedergutmachung des entstandenen Schadens. 䊏 Ein gelungener TOA beinhaltet die Chance, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt oder das Gericht ein milderes Urteil ausspricht.
Welche Formen der Unterstützung sind möglich? In Hanau wird der Täter-Opfer-Ausgleich von unparteilichen Vermittlern der HANAUER H!LFE e.V. durchgeführt. Die Unterstützung der Beteiligten kann folgendermaßen aussehen: Entscheidungshilfen im Vorfeld: 䊏 In getrennten Vorgesprächen erhalten Sie Informationen über den TOA, um entscheiden zu können, ob das Verfahren für Sie infrage kommt. 䊏 Sie können ihre Erwartungen an den TOA schildern und gemeinsam mit uns klären, ob diese im TOA erfüllt werden können. 䊏 Wenn Sie möchten, beleuchten wir gemeinsam ihre persönlichen Chancen/ Vorteile sowie mögliche Risiken/Nachteile. Unparteiliche Vermittlung im Ausgleichsgespräch: 䊏 Wir sorgen für einen geschützten Rahmen, so dass ihre Vorstellungen und Interessen in das Gespräch einfließen können. 䊏 Wir helfen bei der Entwicklung von Konfliktlösungsmöglichkeiten, bei denen sich keiner der Beteiligten benachteiligt fühlt.
Kontrolle der Einhaltung der getroffenen TOA-Vereinbarung: 䊏 Wir überprüfen, ob die getroffene Vereinbarung eingehalten wurde.
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Homepage der HANAUER H!LFE
Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht erhält von uns abschließend einen Bericht über den Ausgang des TOA-Verfahrens. Je nach Ergebnis wird dann von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht entschieden, ob das Strafverfahren eingestellt oder fortgesetzt wird.
Grundzüge einer personenzentrierten Opferberatung von Harald Mondon-Kuhn (1990)
Einleitung Es hat sich zunehmend gezeigt, wie wichtig es ist, die in den letzten Jahren gemachten Erfahrungen in der Beratung und Betreuung von Opfern und Zeugen von Straftaten in ein fundiertes theoretisches Beratungskonzept einzubinden, um einerseits das tägliche Handeln und den Umgang mit den Betroffenen (Klienten) besser überprüfbar zu machen und damit eigenes Verhalten besser reflektieren zu können, und andererseits die gemachten Praxiserfahrungen und das dadurch entstandene Alltagswissen besser zugänglich zu machen. Wir möchten die nachfolgende Darstellung als Diskussionsgrundlage nutzen, um damit weiter an der Verbesserung des Beratungsangebotes arbeiten zu können.
Definition von Beratung In der Fachliteratur wird Beratung weitgehend verstanden als: 䊏 Anregung und Hilfe zur Selbsthilfe 䊏 ein kontinuierlicher Hilfsprozess zwischen Klient und Berater 䊏 ein Arbeitsbündnis, das gegenseitige Kommunikation, Kooperation und soziale Interaktion umfasst. Dazu ist es notwendig, vier wichtige Grundsätze von Beratung zu beachten: 1. Der/die BeraterIn berücksichtigt bei seinem/r Klient/in nicht nur dessen/deren Verhalten, sondern ebenso dessen/deren Fühlen und Denken. 2. Der/die BeraterIn bemüht sich darum, die Anschauungen und Gefühle des/der Klienten/in unabhängig von bestimmten Normen und Standards wahrzunehmen, d. h. den/die Klienten/in zu verstehen.
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3. Der Beratungsvorgang unterliegt dem Gebot der Vertraulichkeit und Verschwiegenheit, denn nur dann kann der/die BeraterIn mit dem Vertrauen des/der Klienten/in rechnen. 4. Die Beratung sollte möglichst auf einer freiwilligen Basis stattfinden. Diese bisher genannten Faktoren werden als wichtige Bedingungen für eine erfolgreiche Beratung angesehen.
Zur Situation von Kriminalitätsopfern Die Plötzlichkeit und Willkür einer kriminellen Handlung und der damit verbundene teilweise oder völlige Verlust persönlicher Sicherheit führen je nach Schwere und Deliktsart zu individuell sehr unterschiedlichen Auswirkungen bei den betroffenen Opfern. So führt die Konfrontation mit einer kriminellen Handlung häufig zu einem Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Instanzen, die ein Schutzgefühl vermitteln sollen, aber auch zu einer massiven persönlichen Verunsicherung und Veränderung der eigenen Lebensperspektiven. Die Unwissenheit über die Umgehensweise mit den Folgen einer Straftat verstärken das Instabilitätsgefühl. Neben den Auswirkungen in Form materieller und/oder physischer Schädigungen zählen die psychischen und emotionalen Traumata zu den gravierendsten und am schwersten zugänglichen Folgen einer Straftat. Gerade Opfer schwerer Gewalttaten, die von einem starken Macht-Ohnmachtgefälle zwischen Täter und Opfer geprägt sind, leiden eher und nachhaltig andauernder unter den psychischen Auswirkungen ihrer Viktimisation. Verstärkend kommen häufig noch Reaktionen der Gesellschaft und des sozialen Umfeldes hinzu, die von Verständnislosigkeit und Verharmlosung, aber auch von Überforderung und Hilflosigkeit geprägt sind. Diese Symptome, die mit einem Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit verbunden sein können, können sich in Form von Schlafstörungen, Angstzuständen und -träumen, allgemeiner Nervosität und Unruhe, heftigen Kopfschmerzen, Übelkeit, Erschöpfungszuständen, Gedächtnisschwäche und Konzen-
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trationsstörungen äußern. Eine verstärkte Krankheitsanfälligkeit kann häufig, vor allem bei ältern Menschen, beobachtet werden. Hinzu kommen Gefühle und Demütigung, Scham, Schuld, Hilflosigkeit und Angst, alleingelassen zu sein. Im Verhalten kann dies zu Isolation, allgemeinem Rückzug und Depression mit den beschriebenen psychosomatischen Reaktionen führen. Weitere bedeutende Elemente sind oft sich wiederholende und eindringliche Erinnerungen an das Ereignis, Assoziationen von Gelegenheiten und/oder Personen, die an das Geschehen erinnern, und ein daraus resultierendes reduziertes Interesse an außengerichteten Aktivitäten verbunden mit einer übergroßen Vorsicht. Die Verarbeitungsstrategien werden von Fachautoren in verschiedene Phasen aufgeteilt und wie folgt beschrieben: 䊏 In der ersten Phase: erfährt das Opfer den Schock, Misstrauen und Gefühllosigkeit verbunden mit Kontrollverlust. Dies ist dem Opfer aber nicht unbedingt anzumerken. 䊏 In der zweiten Phase: fühlt das Opfer Furcht, Traurigkeit und Zorn; gleichzeitig existieren ein starkes Bemühen, die Kontrolle wiederzuerlangen und sich durch oberflächliche Anpassung den Erfordernissen des Alltags zu stellen. Hilfsangebote werden hier häufig zurückgewiesen. 䊏 In der dritten Phase: werden die bisher verleugneten emotionalen Erschütterungen in fest umschriebene Symptome umgewandelt, um dann 䊏 In der vierten Phase: durch die Aufnahme der Auseinandersetzung mit der persönlichen Dimension des Geschehens zu einer Integration des Tatvorfalls in die eigene Lebensperspektive zu gelangen. Das oben beschriebene Phasenmodell ist idealtypisch dargestellt und für einen gelungenen Verarbeitungsprozess kennzeichnend. In der Praxis sind die einzelnen Phasen meist nicht so deutlich voneinander abgegrenzt. Ebenso gehen aus dem o. g. Modell die zeitlichen Dimensionen nicht hervor. Die jeweiligen Phasen können bei den Betroffenen unterschiedlich lange dauern, je nach Schwere der erlittenen Straftat von Tagen und mehreren Wochen bis hin zu Monaten und Jahren. Es ist durchaus möglich, dass einzelne Phasen übersprungen werden und der Verarbeitungsprozess nicht kontinuierlich verläuft. Oft kommt es vor, dass vor allem der Übergang von der dritten zur vierten Phase nicht vollzogen wird und die Betroffenen „stecken bleiben“. Dadurch kommt es
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oft zur Verdrängung und Abspaltung des Tatgeschehens und der damit einhergehenden Gefühle. Merkmale der Beratung Die bisher kurz beschriebene Situation des Opfers verdeutlicht, welche massiven krisenhaften Auswirkungen dies für das Selbsterleben, Selbstbild und Selbstwertgefühl des Opfers haben kann. Die in vielen Situationen notwendige bedingungslose Unterwerfung unter den Täterwillen bewirkt ein besonders massives Unwertund Unfähigkeitsgefühl gegenüber der eigenen Person. Aber auch entsprechende Emotionen wie Trauer, Wut und Hassgefühle spielen eine wichtige Rolle. Diese Gefühle können von den Betroffenen oft nicht zugelassen werden. In der Beratungssituation kann es nun nicht darum gehen, einen Zustand wie vor der Viktimisation wiederherzustellen, sondern es muss gelingen, diese Erfahrung in das Selbstkonzept zu integrieren und damit zu einer Neuentwicklung der Lebensperspektive zu gelangen. Um dies zu erreichen ist es notwendig, Bedingungen und Voraussetzungen zu schaffen, die es ermöglichen in einer geschützten und angstfreien Atmosphäre sich der Erfahrung der Opferwerdung zuwenden zu können. So konnten wir in unserer Arbeit feststellen, dass gewisse institutionelle und äußere Rahmenbedingungen eine erste wichtige Voraussetzung darstellen. Dazu zählen die bereits unter Punkt II/1 dargestellten Rahmenbedingungen, die noch dadurch ergänzt werden, dass die räumlichen Bedingungen so geschaffen sind, dass störende Einflüsse auf das Beratungsgeschehen, wie ablenkende Geräusche durch Telefonklingeln oder andere Mitarbeiter oder Klienten ausgeschlossen werden können. Die Beratungsbedingungen, wie Häufigkeit, Ort und Dauer der Beratung werden mit dem Ratsuchenden gemeinsam abgestimmt. Weiterhin versuchen wir im Laufe des Erstkontaktes dem/der Klienten/in zu vermitteln: 䊏 dass er/sie den Inhalt der Gespräche selbst bestimmt, 䊏 dass seine/ihre Gefühle und inneren Erlebnisinhalte, Bewertungen und Empfindungen im Mittelpunkt der Beratung stehen,
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䊏 dass der/die BeraterIn ihm alle zur Verfügung stehenden Hilfsangebote nennt, 䊏 dass er/sie über alle weiteren Verfahrensschritte selbst entscheidet, 䊏 dass der/die BeraterIn ihm/ihr hilft, die für ihn/sie richtige Lösung zu finden, 䊏 dass alle geäußerten intimen Informationen vertraulich behandelt werden und der/die BeraterIn der Schweigepflicht unterliegt. Noch wichtiger als die äußeren Rahmenbedingungen ist das Verhalten der BeraterInnen. Dabei dient uns der personenzentrierte Ansatz von Carl Rogers als Orientierung. Für den Verlauf eines gelungenen Beratungsprozesses ist es von entscheidender Bedeutung, den inneren Bezugsrahmen des/der Klienten/in zu erfassen. Deshalb richtet sich unser Bemühen vorrangig auf die emotionalen und affektiven Erlebnisinhalte der Klienten. Dadurch wird es dem/der Klienten/in häufig erst ermöglicht, sich seinen/ihren vielschichtigen und oft widersprüchlichen Gefühlen zu nähern, und so zu einem besseren Verständnis für die eigene Gefühlswelt zu gelangen. Die Erfahrung zeigt, dass die Betroffenen dabei in hohem Maße persönlich emotional beteiligt sind und sich in der Folge zunehmend auf ihr aktuelles emotionales Erleben konzentrieren können. Dadurch entwickeln sie eine größere Offenheit sich selbst gegenüber; diese wiederum ermöglicht es, sich auch den schmerzhaften und peinlichen Erlebnisinhalten zuzuwenden. Dies erfordert auch von uns ein offenes und emotional zugewandtes Verhalten, bei dem wir ebenfalls den Klienten unsere Gefühle in der Beziehung zu ihnen zeigen. Eine solche zwischenmenschliche Begegnung zwischen BeraterIn und KlientIn, in der beide ihre Wahrnehmungen und Gefühle offen zum Ausdruck bringen, kann sich zu einer exemplarischen Modellsituation entwickeln, die es dem Opfer ermöglicht, sich schrittweise dem traumatischen Erlebenis zu nähern und das Tatgeschehen und alle damit verbundenen Gefühle, Erfahrungen und Auswirkungen zuzulassen und zu benennen. Durch die Erfahrung der positiven Zuwendung, der Akzeptanz und der wertfreien Betrachtung aller mit dem Ereignis der Opferwerdung verbundenen Gefühle und Erfahrungen, entwickelt das Opfer wieder stärkeres Selbstvertrauen und damit die Kraft zur Bewältigung seiner Lebenskrise.
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Wenn diese Grundvoraussetzungen geschaffen sind, wird es den Betroffenen auch möglich, Lösungsmöglichkeiten und Verhaltensalternativen auf der Basis eines gestärkten Selbstwertgefühls zu entwickeln. Zur Unterstützung dieses Prozesses gehört, dass der/die BeraterIn dem Opfer alle zur Verfügung stehenden rechtlichen, sozialen, psychologischen und materiellen Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. Damit erhält das Opfer die Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen und selbstbestimmt über die nächsten Schritte zu entscheiden. Da manche Reaktionen des sozialen Umfeldes wie Mitschuldzuweisung und Bagatellisierung des Erlittenen, die bei den Opfern bereits vorhandene einschränkende Veränderung der Lebenseinstellung und häufig damit verbundene Rückzugstendenzen verstärken können, und zudem Freunde und Verwandte des Opfers häufig unter ähnlichen Symptomen wie das Opfer selbst leiden, bemühen wir uns auch, das sozial Umfeld stärker in das Beratungsgeschehen mit einzubeziehen. Dies unterstützt u. E. entsprechend einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, die Stabilisierung des Opfers und führt zu einer Stärkung der sozialen Bezüge und damit zu einer Förderung des Verarbeitungsprozesses.
Beratungsangebot für männliche Opfer sexueller Ausbeutung von Harald Mondon-Kuhn (1992)
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Ausgangslage
Die HANAUER H!LFE e.V. richtet seit ihrer Gründung 1984 ihr Beratungsangebot an alle Personen, die Opfer einer Straftat geworden sind einschließlich deren Angehörige bzw. deren sonstige Vertrauenspersonen. In den vergangenen Jahren haben überwiegend Erwachsene unser Beratungsangebot in Anspruch genommen. Kinder und Jugendliche, scheinen durch die von uns bisher praktizierte Öffentlichkeitsarbeit, nur schwer erreichbar zu sein. Ein immer wiederkehrendes Phänomen ist die Tatsache, dass 2/3 der Ratsuchenden Frauen und nur 1/3 Männer sind. Von diesen war ein großer Teil Angehörige, und nur sehr wenige waren selbst Opfer einer Straftat geworden. Wir vermuten, dass es gerade Männern schwer fällt, sich sowohl als Opfer zu definieren, als auch infolgedessen dies quasi „öffentlich“ zu machen, indem sie entsprechende Hilfsangebote wahrnehmen. Angesichts geschlechtsspezifischer Rollendefinitionen und Sozialisationserfahrungen liegt die Schwellenangst bei Männern vermutlich noch höher als bei weiblichen Opfern. So führen männliche Selbstdefinition, das traditionelle Männlichkeitsideal und die daraus resultierenden Bewältigungsstrategien dazu, die erlittene Viktimisierung durch Bagatellisierung und/oder auch durch eigene Aggressivität zu „neutralisieren“. Sowohl das differenzierte Wahrnehmen eigener Gefühle als auch das „Darüber-Reden können“ sind soziale Techniken, die einer Vielzahl von Männern immer noch schwer fällt. Dies gilt im besonderen Maß für den Bereich der Sexualität. Gerade hier herrschen noch immer Mythen, Vorurteile, schlichte Unkenntnis und Tabus vor, die eine offene und selbstbewusste Auseinandersetzung unter Männern erschwert.
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Andererseits hat die zunehmende Thematisierung und damit einhergehende Enttabuisierung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, besonders von Mädchen, dazu geführt, dass in letzter Zeit auch die sexuelle Ausbeutung von Jungen in den Blickpunkt fachlicher Diskussionen gerückt ist. Dabei ist nach derzeitigem Erkenntnisstand das abgesicherte Wissen, über das tatsächliche Ausmaß sexueller Ausbeutung von Jungen noch sehr gering. Deshalb ist auch die Größe des Dunkelfeldes bisher nur schwer einschätzbar. Die vor allem von der Frauenbewegung geleistete Aufdeckung sexueller Gewalt an Kindern richtete ihr Augenmark zunächst überwiegend auf Mädchen als Opfer sexuellen Missbrauchs. Damit einher ging die Einrichtung von spezialisierten Beratungsangeboten für die betroffenen Mädchen und Frauen. Auch in Hanau entstand in 1991 mit der Beratungsstelle „Lawine“, als einem weiteren Projekt des Vereins „Frauen helfen Frauen“, eine solche Einrichtung. Die „Lawine“ richtet ihr Angebot an Kinder beiderlei Geschlechts sowie an Mädchen ab 12 Jahren und an erwachsene Frauen. Die alltägliche Beratungspraxis der „Lawine“ machte sehr bald deutlich, dass eine weit höhere Anzahl von Jungen und männlichen Jugendlichen von sexuellem Missbrauch betroffen sind, als zunächst vermutet werden konnte. Ein entsprechendes darauf eingerichtetes Beratungsangebot gibt es aber zur Zeit noch nicht. In Gesprächen mit den Mitarbeiterinnen der „Lawine“ entstand daraufhin die Überlegung, die Zusammenarbeit der beiden Einrichtungen und unsere langjährigen Erfahrungen in der praktischen Opferhilfe zu nutzen, um auf der Grundlage der dadurch erworbenen Fachkompetenz, ein auf die Bedürfnisse männlicher Opfer sexueller Ausbeutung ausgerichtetes Beratungsangebot einzurichten. Unser Angebot ist, als eine Ergänzung des Beratungsangebotes der „Lawine“ anzusehen und will dazu beitragen, die Versorgungslücke für männliche Opfer sexueller Ausbeutung zu schließen. Unsere Zielgruppe sind damit männliche Jugendliche ab 12 Jahren sowie männliche Erwachsene.
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Zur Situation männlicher Opfer sexueller Ausbeutung
Wie bereits bei der Beschreibung unserer Ausgangslage skizziert, gibt es noch wenig gesicherte Erkenntnisse über das tatsächliche Ausmaß sexueller Aus-
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beutung von Jungen. Es ist jedoch bekannt, dass sexuelle Übergriffe bei Jungen, ebenso wie bei Mädchen, überwiegend im sozialen Nahbereich stattfinden. Die Täter sind auch hier nach bisherigen Erkenntnissen zu ca. 80–90% männliche Personen. Nach neueren Untersuchungen scheint der Anteil der Frauen, die sexuelle Übergriffe an Kindern, insbesondere an Jungen vornehmen, höher zu sein, als bisher angenommen. Auch bei Jungen ist nur selten der „böse Mann“ auf der Straße der Täter, sondern es sind überwiegend Verwandte, Bekannte und andere wichtige Bezugspersonen wie Lehrer, Jugendgruppenleiter, Erzieher, Sporttrainer etc., zu denen meist eine vertrauensvolle Beziehung besteht. Diese bildet häufige auch die Basis, die es dem Täter ermöglicht, seine sexuellen Übergriffe zu beginnen. Gleichzeitig kann der Täter den Jungen mit Hilfe subtiler Methoden stärker an sich binden und zum Schweigen verpflichten. Neben der emotionalen Bindung gibt es weitere erschwerende Faktoren, sich gegen den Geheimhaltungsdruck zur Wehr setzen zu können. Dieser Druck verstärkt sich, je länger eine Beziehung dauert und je intensiver die emotionale Bindung ist. Versteckte Drohungen und die Unterstellung von Mitverantwortung für das Geschehen bzw. die Umdeutung der Kontakte – als gewollte Gegenseitigkeit – durch den Täter, verstärken die Schuldgefühle bei den betroffenen Jungen. Es handelt sich hierbei häufig um die einzige Form von Beziehung, in der der Junge Zuwendung erhält und dies macht es ihm besonders schwer, sich aus diesem Verhältnis zu lösen. So wird die Geheimhaltung durch Verleugnung und Verdrängung, aber auch durch zunehmende Verunsicherung über die Wahrnehmung der Realität und die Entstehung von Schuldgefühlen gesichert. Neben den Gefühlen von Erniedrigung und „Ausgebeutet-werden“ spielen besonders die Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und „Ausgeliefert-sein“ eine wichtige Rolle. Diese führen zu den besonderen Schwierigkeiten für männliche Opfer, sich die Position des „Unterlegenseins“ einzugestehen, darüber reden zu können und sich in der Folge Hilfe holen zu können. Dies steht geradezu konträr zu den bisherigen Sozialisationserfahrungen und Anforderungen, die weitgehend von einem traditionellen Männerbild geprägt sind. Die vermittelten Wertigkeiten eines männlichen „Stärke-Ideals“ (keine Schwächen zeigen zu dürfen) und weitgehend keine Gefühle zu äußern (besonders von Scham und Trauer) führt in der Entwicklung dazu, nicht lernen zu können, die eigene Gefühlswelt differenziert
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wahrzunehmen und diese damit auch zum Ausdruck zu bringen. Die schon vorhandene Sprachlosigkeit wird durch die Missbrauchserfahrung noch weiter verstärkt. Hinzu kommen verschiedene Ängste: Die Angst vor Diskriminierung, die Angst, unglaubwürdig zu erscheinen und in besonderer Weise die Angst, homosexuell zu werden oder dafür gehalten zu werden. Besonders verständlich werden solche Ängste, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sexuelle Übergriffe auch von älteren männlichen Jugendlichen an Jüngeren in z. B. Heimen, JugendCliquen und Jugendstrafanstalten vorgenommen werden. Eine weitere Angst missbrauchter männlicher Jugendlicher ist die, später einmal so zu werden wie die Täter. Dies kann keineswegs als völlig unbegründet zurückgewiesen werden, da bei verschiedenen Untersuchungen festgestellt wurde, dass ein Teil der Missbraucher selbst in der Kindheit jahrelang missbraucht wurde. Ein Erklärungsversuch dieses Phänomens ist, dass sich viele Opfer – als ihnen einzig mögliche Überlebensstrategie – unbewusst mit dem Täter identifizieren. Falls dieser psychodynamische Prozess der so genannten „projizierenden Identifikation“ kindliche Leiden weitergegeben wird. Opfer können zu Tätern werden, indem sie wie unter Zwang die Missbrauchssituation mit umgekehrten Rollen wiederholen müssen. Diese besondere Facette des Problems macht deutlich, wie wichtig ein professionelles Beratungsangebot speziell für männliche Opfer sexueller Ausbeutung ist. Ein gelungener Verarbeitungsprozess der Missbrauchserfahrung muss unter den genannten Gesichtspunkten auch als notwendige präventive Maßnahmen verstanden werden.
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Das Beratungskonzept und die besonderen Anforderungen für die Beratung männlicher Opfer sexueller Ausbeutung
Auf der Grundlage des Beratungskonzeptes der HANAUER H!LFE scheint es notwendig, weitere Ergänzungen hinsichtlich des Settings, der institutionellen Zusammenarbeit und der Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln, um der besonderen Problematik sexueller Ausbeutung von Jungen/Männern gerecht zu werden. Unser Angebot richtet sich vorrangig an Jungen und männliche Jugendliche, und umfasst psychosoziale Beratung, Betreuung und Begleitung, sowie Krisen-
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intervention und Klärungshilfe über weiterführende Hilfsmöglichkeiten, sowie die Weitervermittlung in therapeutische Hilfsangebote. Da bei den Betroffenen aufgrund ihrer Erfahrungen eine enorme Unsicherheit darüber besteht, wem sie trauen/vertrauen können und gerade Männern gegenüber eine große Angst vor Wiederholung der Missbrauchssituation besteht, ist es wichtig, eine Beratungssituation zu schaffen, die für den Betroffenen Sicherheit bietet. Dies kann z. B. in Form eines gemischtgeschlechtlichen BeraterInnenTeams und/oder durch die Teilnahme vertrauter Personen des Betroffenen (wie z. B. ein Freund) am Gespräch geschehen. Auf jeden Fall muss dieses sich vorrangig an den Bedürfnissen der Hilfesuchenden orientieren. Weiterhin ist es wichtig, der durch die sexuelle Traumatisierung entstandenen Verwirrung sowohl über gültige sexuelle Normen als auch über die eigene Geschlechtsrollen-Identität entgegenzuwirken. Deshalb sollte eine männliche Bezugsperson Hauptansprechpartner sein, um eine Neuorientierung der männlichen Identität und Geschlechtsrolle zu ermöglichen. Angesichts des Alters der angesprochenen Zielgruppe ist es notwendig auch ein Angebot für Angehörige der betroffenen Opfer zu machen. Häufig leiden Angehörige – dies zeigen die bisherigen Erfahrungen der HANAUER H!LFE – unter ähnlich schwerwiegenden Symptomen wie das Opfer selbst. Zumindest geraten auch die Eltern in eine schwere Krise, wenn sie von dem Missbrauch ihres Sohnes erfahren. Hier wäre zu überlegen, welches Angebot besonders den Vätern gemacht werden kann. Offen ist noch die Klärung der Frage, ob auch und welche Beratungsangebote für Täter gemacht werden können. In erster Linie soll es ein Angebot für die Opfer sein, aber im Moment schließen wir es grundsätzlich nicht aus, auch Tätern ein Angebot zu machen, da bei dieser Problematik die Grenzen bzw. die Vermischung von Opfererfahrung und eventuell daraus resultierenden Täterverhalten fließend sein können. Auch die Form der Öffentlichkeitsarbeit muss differenziert auf diese Zielgruppe ausgerichtet werden. Dies bedeutet, um Beispiele zu nennen, dass spezielle Informationsmaterialien zum Thema entwickelt und aufsuchende Angebote gemacht werden müssen, um somit im Rahmen von Präventionsveranstaltungen in Schulen und Jugendzentren das Beratungsangebot bekannt zu machen. Diese Erweiterung und Differenzierung sowohl des Settings und der Öffentlichkeitsarbeit,
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als auch eine aus der Gesamtproblematik resultierende langfristige Beratung und Betreuung bedingen einen erhöhten Zeit- und Personalaufwand. Um für die betroffenen Opfer ein optimales Betreuungsangebot zu realisieren, ist es wichtig, die Vernetzung aller mit dieser Thematik befassten Stellen, im Sozialbereich, den Sozialbehörden und der Justiz voranzubringen. Dabei ist zu beachten, dass eine weitestgehende Beteiligung und umfassende Information der Betroffenen ermöglicht wird. Diese Kooperation aller beteiligten Institutionen ist bereits in der Phase der Aufdeckung, aber ebenso im weiteren Entwicklungsverlauf von großer Bedeutung. In der nächsten Zeit steht noch vorrangig die Auseinandersetzung mit den bisher vorliegenden theoretischen Ausführungen und Erfahrungen an und die Klärung der Frage, welche Schwerpunkte der Arbeit sich für die Zukunft herauskristallisieren werden. Mit diesem Angebot soll auf jeden Fall auch deutlich werden, dass wir uns als Berater in der Verantwortung sehen, männlichen Opfern eine dringend notwendige Unterstützung zukommen zu lassen und somit einen ersten Beitrag zu Verbesserung der Situation männlicher Opfer sexueller Ausbeutung zu leisten. Wir stimmen auch ausdrücklich mit der Forderung vieler Frauenprojekte überein, dass hier von Männern eine Angebotslücke für Männer geschlossen werden muss. Zur Realisierung dieser Erweiterung unseres Beratungsangebotes benötigt die HANAUER H!LFE lediglich zusätzliche Finanzmittel für die Schaffung einer dreiviertel Planstelle für einen Sozialpädagogen und eine Aufstockung unseres Sachmitteletats für die notwendige Öffentlichkeitsarbeit. Aufgrund der bereits durch die Beratungsstelle in der Salzstraße bestehenden Infrastruktur, betragen die voraussichtlichen Jahreskosten somit nur ca. 65.000,00 DM. Die Deckung dieser zusätzlichen Kosten soll durch eine Mischfinanzierung aus Mitteln des Hessischen Ministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit, des Main-Kinzig-Kreises, der Stadt Hanau und anderen Kommunen ab 1994 erfolgen. Entsprechende Anträge sind bereits gestellt.
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Bisher erhielten wir als Anerkennung unseres Vorhabens eine Spende vom Hessischen Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in Höhe von 1.000,00 DM. Eine Entscheidung über eine finanzielle Förderung steht aber noch aus. Solange dies noch so ist und angesichts der angespannten Finanzlage der öffentlichen Haushalte, halten wir es für richtig, mit unserem geplanten Vorhaben noch nicht gezielt in die Öffentlichkeit zu gehen. Wir haben bisher lediglich gegenüber anderen sozialen Institutionen auf unsere Planungen hingewiesen. Damit wollen wir verhindern, dass unter Umständen in der Öffentlichkeit ein Bedarf geweckt wird, der dann vielleicht doch nicht befriedigt werden kann.
Zeugenbegleitung als Opferhilfe von Heinz Frese (2007)
In der jüngeren Vergangenheit haben sich Initiativen gebildet, die eine spezielle Zeugenbegleitung als Opferhilfe anbieten. Gemeint sind wohl in erster Linie Opferzeugen. Als Zeugen einer Straftat kommen in der Regel die jeweiligen Opfer des betreffenden Geschehens selbst als auch solche Personen in Betracht, die als Außenstehende mehr oder weniger zufällig eine kriminelle Handlung beobachtet haben. Da vorliegend das Thema „Zeugenbegleitung als Opferhilfe“ diskutiert werden soll, ist nachfolgend allein die Position des Kriminalitätsopfers in seiner Funktion als Zeuge in einem straf- oder zivilrechtlichen Verfahren zu untersuchen mit der Folge, dass sich starke Parallelen zur allgemeinen Opferhilfe ergeben. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass der ganz überwiegende Teil der Kriminalitätsopfer überhaupt nicht als Zeuge in Erscheinung tritt, sei es, weil die Straftat nicht angezeigt worden ist oder weil der Täter gestanden hat. Ferner ist hier darauf hinzuweisen, dass auch die Position des an der Straftat unbeteiligten Zeugen im Rahmen des Strafverfahrens unter dem Gesichtspunkt der Zeugenhilfe durchaus beachtlich sein kann und einer genaueren Darstellung bedarf. Als Rechtsgrundlage für Opfer- und Zeugenhilfe kommt in erster Linie das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes in Art. 20 Abs. 1 in Betracht. Wenn der Anspruch der Straftäter auf Resozialisierung im Rahmen unterschiedlichster staatlicher Maßnahmen daraus hergeleitet wird, dass die Bundesrepublik Deutschland ein „sozialer“ Rechtsstaat ist, muss auch dem Kriminalitätsopfer ein entsprechender Anspruch auf Unterstützung bei der Überwindung seiner persönlichen Betroffenheit durch eine Straftat gewährt werden. In neuerer Zeit wird dieses Gebot auf europäischer Ebene ergänzt durch den „Rahmenbeschluss der Europäischen Union vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren“. Auf dieser Grundlage hat sich in den vergangenen Jahren auf gesetzgeberischer Seite eine ganze Menge bewegt. Seit den Anfängen in Hessen im Jahre 1984 sind im Zusammenhang mit Opfer- und Zeugenschutz u. a. folgende Neuerungen im Straf- und Strafverfahrensrecht verabschiedet worden:
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Im Opferschutzgesetz von 1986 erfolgte eine erste Festschreibung der Beteiligung des Opfers im Strafverfahren. Das Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität von 1992 führte eine Verbesserung des Schutzes gefährdeter Zeugen ein. Das Opferanspruchssicherungsgesetz von 1998 regelt die Sicherung privatrechtlicher Ansprüche gegen Täter – z. B. Einführung von Pfandrechten an Forderungen des Täters gegen Verlage, die das Tatgeschehen publizistisch verwerten. Mit dem Zeugenschutzgesetz von 1998 wurde die Videovernehmung insbesondere von kindlichen Zeugen in den Strafprozess eingeführt. Schließlich kam es im Jahre 2004 mit dem umfangeichen 1. Opferrechtsreformgesetz zu weiteren erheblichen Verbesserungen der Rechte von Verletzten im Strafverfahren, die insbesondere in den §§ 406dff. StPO geregelt sind. Gegenwärtig befindet sich ein Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein 2. Opferrechtsreformgesetz im Gesetzgebungsverfahren. Wie eingangs bereits erwähnt, setzt Zeugenbegleitung als Opferhilfe begrifflich voraus, dass Gegenstand der Begleitung somit Kriminalitätsopfer sind im Gegensatz zu neutralen, vom Tatgeschehen nicht direkt betroffenen Zeugen. In dem oben genannten „Rahmenbeschluss der Europäischen Union“ wird als Opfer definiert „eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedsstaates darstellen.“ Wesentliche Prinzipien einer professionellen Opferunterstützung sind in den vom „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland“ (ado) entwickelten Qualitätsstandards formuliert. Sie beruhen auf einer ausschließlich an den Opferbedürfnissen ausgerichteten Orientierung. Nichts darf ohne das Einverständnis der Betroffenen geschehen. Die Gewährung von Unterstützung ist unabhängig von der Erstattung einer Strafanzeige. Die Hilfe hat reinen Angebotscharakter, sie beruht auf dem freiwilligen Entschluss der Betroffenen und wird vertraulich, auf Wunsch auch anonym sowie unentgeltlich gewährt. Inhaltlich handelt es sich um Klärungshilfe, psychosoziale Beratung und Krisenintervention mit gegebenenfalls auch langfristiger Betreuung und therapeutischer Hilfe. Ein Aspekt dieses umfassenden Angebotes ist auch die Begleitung und Unterstützung von Opferzeugen im Rahmen von Straf- und Zivilverfahren vor Gericht. Hier geht es darum, dem Opfer die Zeugenaussage zu erleichtern und es in der Zeugenrolle gegen weitere, unnötige Verletzungen zu schützen.
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Das Ausmaß der Verletzungen ist bei den Betroffenen individuell sehr unterschiedlich und abhängig von verschiedenen Tat-, Opfer- und Tätermerkmalen. Die schwerwiegenden Verletzungen sind vor allem psychischer, emotionaler und sozialer Art. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass ein erfreulich großer Teil der Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld ein enormes Heilungspotential besitzt, das gezielt gefördert werden sollte. Opferhilfe in Gestalt von Zeugenbegleitung kann daher nur in der beschriebenen umfassenden Hilfe und Unterstützung bestehen und ist daher nicht auf die reine Prozessbegleitung bei Gericht beschränkt. Sie muss vor dem Gerichtstermin beginnen und erstreckt sich unter Umständen auch auf die Zeit danach. Das Gerichtsverfahren stellt in der Regel eine sehr hohe Belastung für die Betroffenen dar und kann zu Sekundärvictimisierungen und zu starken Leistungsverschlechterungen wie z.B. gravierenden Erinnerungsbeeinträchtigungen führen. Eine langfristige und umfassende Verarbeitung des Erlebten kann daher erst nach der Hauptverhandlung und dem Verfahrensende stattfinden, weshalb eine lange Verfahrensdauer für die Betroffenen besonders quälend ist. Von besonderer Bedeutung für die Zeugenbegleitung bei Gericht ist auch die äußere Ausgestaltung. Dazu gehört die Bereitstellung spezieller Aufenthaltszimmer mit Spiel- und Beschäftigungsmöglichkeiten und persönlicher Betreuung durch Fachpersonal, um eine klare Trennung von dem Angeklagten und seinem Umfeld zu gewährleisten. Dazu gehört ferner die Anwesenheit von Vertrauenspersonen während der Vernehmungen und eine konsequente Nutzung rechtlicher Schutzmaßnahmen. Problematisch kann in diesem Zusammenhang sein, dass das Geschehen vor Gericht dem Zeugen das Gefühl vermittelt, in keiner Weise aktiv gestaltend, sondern nur passiv duldend teilnehmen zu müssen. Erforderlich ist daher eine umfassende Information über den Verlauf und die Bedingungen eines Strafverfahrens und über die konkreten Anforderungen an den Zeugen sowie über den Interessenkonflikt des Gerichts zwischen der Wahrheitserforschung und dem Persönlichkeitsschutz der Verletzten. Im Hinblick auf die Unschuldsvermutung ist das Gericht auch gegenüber dem Angeklagten zu einem rücksichtsvollen Umgang verpflichtet. Ausblick Die spezialisierte professionelle Opfer- und Zeugenberatung muss weiter ausgebaut werden. Angesichts des genannten Sozialstaatsgebots ist es zwingend gebo-
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ten, eine flächendeckende staatlich finanzierte professionelle Opferhilfe in der BRD einzufordern. Wie bei anderen sozialen Problemen auch, muss professionelle Sozialarbeit den Kern der vom Sozialstaat für Kriminalitätsopfer geschuldeten Hilfe bilden. Hinzu kommen muss auf Grund der Forderung des Rahmenbeschlusses der EU die Ausstattung aller Gerichte mit speziellen Zeugenzimmern und ihrer Besetzung mit entsprechendem Fachpersonal. Ansätze dazu gibt es bisher leider nur spärlich. Zu erwähnen sind die Einrichtungen in Hessen, in Sachsen, in Hamburg und Berlin. In einigen anderen Bundesländern wie Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfahlen, und Sachsen-Anhalt ist man auf einem guten Weg, wenn auch mit teilweise unterschiedlichen Ansätzen.
3 Opferschutz bei häuslicher Gewalt
Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich von Elke Wolf (1996)
Gewalt gegen Frauen ist seit Jahrhunderten weltweit ein soziales Problem. Trotz der gesetzlich verankerten Gleichberechtigung der Geschlechter, sind Frauen in Deutschland weiterhin durch Männer von körperlicher, psychischer, sexueller und ökonomischer Gewalt bedroht und betroffen. Gewalterfahrungen von Frauen beziehen sich auf alle Lebensbereiche. Insbesondere im häuslichen Bereich üben Männer Gewalt gegen Frauen aus. Dieses Phänomen stellt kein Randgruppenproblem dar; es ist vielmehr so, dass Männer aller sozialer Schichten ihre Frauen schlagen und misshandeln. Über das tatsächliche Ausmaß männlicher Gewalt im häuslichen Bereich existieren jedoch keine statistischen Daten; eine hohe Dunkelziffer wird vermutet. Nach wie vor bietet der vermeintliche Schutzraum Familie insbesondere Schutz für die Täter vor öffentlichem Interesse und Sanktionen. Folgende Ergebnisse verschiedener Studien lassen den Umfang dieses Problems erahnen: 䊏 Nach einer polizeilichen Untersuchung sind bei so genannten „Familienstreitigkeiten“ 91% der Täter Männer; internationale Studien gehen von 95–97% männlicher Täter aus (vgl. Steffen, W. u. a. 1991, Familienstreitigkeiten und Polizei). 䊏 In verschiedenen repräsentativen Untersuchungen wurde erhoben, dass in Deutschland fast jede dritte Frau Gewalt durch Ehemann oder Partner erfährt (Wrage u. a., 1995). 䊏 Bis 75% der Vergewaltigungen werden von Tätern aus dem sozialen Nahraum begangen. Nach Dunkelzifferforschungen werden nur 10–30% der Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen aktenkundig. 䊏 Jede siebte Frau in Deutschland ist mindestens einmal im Leben vergewaltigt oder sexuell missbraucht worden (KFN Forschungsbericht Nr. 37, 1995). 䊏 Frauen werden fünfmal häufiger Mordopfer ihres Mannes als umgekehrt.
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Elke Wolf
Die Ursachen männlicher Gewalt sind vielfältig und von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Einerseits bietet die Persönlichkeitsstruktur des Täters eine mögliche Erklärung. Defizite bei der Persönlichkeitsentwicklung im emotionalen und kommunikativen Bereich, sowie Störungen des Selbstwertgefühls und mangelnde Konfliktbewältigungsstrategien fördern gewalttätiges Verhalten. Zum anderen tragen aber auch ungünstige Lebensbedingungen wie Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, finanzielle Schwierigkeiten sowie Suchtprobleme und beruflich bedingter Stress u. a. zu gewalttätigem Verhalten bei. Gewalttätiges Verhalten dient häufig der Kompensation oben genannter Defizite und soll das Erleben von Macht und Stärke durch Unterwerfung ermöglichen. Verantwortlich ist jedoch nie eine Ursache allein; vielmehr ist davon auszugehen, dass spezifische, personelle, situative und gesellschaftliche Faktoren zusammentreffen, wenn es zur Gewaltausübung kommt. Das Spektrum männlicher Gewalt ist vielseitig, es beeinflusst alle Ebenen des familiären Zusammenlebens. Frauen werden physisch misshandelt und sind sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Durch ökonomische Abhängigkeit und Kontrolle der sozialen Beziehungen durch den Mann wird die Frau in die Isolation getrieben. Psychische und emotionale Gewaltausübung verursachen bei den betroffenen Frauen gravierende Persönlichkeitsveränderungen. Durch kontinuierliche Abwertung der eigenen Person, dem Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit verändert sich das Selbstkonzept der Frau. Sie fühlt sich wertlos, ungeliebt und schuldig. Sie hat das Gefühl, versagt zu haben weil sie den Zusammenhalt der Familie nicht sichern kann. Damit wird sie der traditionell übermittelten Rolle der fürsorglich und verzeihenden Frau und Mutter nicht gerecht. Noch immer ist das „Erdulden-müssen“ Teil der gesellschaftlichen Frauenrolle. Auch von Seiten ihres sozialen Umfeldes und der Öffentlichkeit sehen sich die betroffenen Frauen mit diesen Vorurteilen und Fehleinschätzungen konfrontiert: „Das kommt nur in bestimmten Schichten vor, er schlägt ja nur, wenn er betrunken ist, sie hat ihn wahrscheinlich provoziert, jedem rutscht doch mal die Hand aus, sie hat sich den Mann doch ausgesucht“. Solche u. ä. Äußerungen tragen als sekundäre Schädigung zu einer Vertiefung der Folgeschäden bei. Oftmals muss die Frau nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder vor Übergriffen des Täters schützen. Die Täter instrumentalisieren häufig die Kinder als weiteres Machtinstrument.
Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich
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Um dennoch den familiären Zusammenhalt und den damit verbundenen Anschein einer intakten Familie zu wahren, unterwirft sich die misshandelte Frau erneut dem Willen des gewalttätigen Mannes. Die Frau befindet sich in einem scheinbar undurchdringlichen Teufelskreis zwischen der Angst, in eine völlig ungesicherte Existenz zu fliehen oder sich weiter der realen Bedrohung ihrer Gesundheit und ihres Lebens auszusetzen. Neben den erheblichen psychischen Folgen und der finanziellen Abhängigkeit gibt es weitere Ursachen für die Tatsache, dass Frauen meist über Jahre hinweg, die Gewalttätigkeiten ihres Partners erdulden. Dazu zählen auch die komplexen emotionalen Beziehungsgeflechte die in Gewaltbeziehungen herrschen. Diese gegenseitige emotionale Abhängigkeit erschwert der misshandelten Frau ein Ausbrechen aus der Gewaltbeziehung. Darüber hinaus trägt das in der Gesellschaft noch immer vorhandene traditionelle Rollenbild, die Frau sei Besitzstand des Mannes, dazu bei, sich aus Gewaltbeziehungen nicht lösen zu können. Erst wenn besondere Umstände eintreten, die den Leidensdruck ins Unermessliche steigern, finden Frauen den Mut, den Ausstieg zu versuchen. Oft sind es die Misshandlungen der Kinder, die Steigerung von Häufigkeit und Intensität der Gewalt, äußere Umstände (Arbeitsplatzverlust o. ä.) oder die Interventionen nahe stehender Personen, die die Frau dazu bringen, Hilfe zu suchen. In dieser Situation wenden sich Frauen an die HANAUER H!LFE. Unsere Arbeit mit misshandelten Frauen erfordert folgende Beratungsprinzipien: 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
Vertraulichkeit, Anonymität, Schweigepflicht Akzeptanz, im Sinne einer wohlwollenden Haltung Empathie Wahlmöglichkeit zwischen weiblichen und männlichen BeraterInnen Klare Haltung zur Gewalt von Seiten der BeraterInnen Parteiliche Unterstützung Stärkung der Autonomie und Selbstverantwortung
Der Beratungsprozess beinhaltet zu Beginn eine detaillierte Problemanalyse. Anschließend werden die zunächst dringend erforderlichen Handlungsschritte mit der Klientin erörtert.
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Neben einer akuten Krisenintervention (z. B. Begleitung zum Arzt, Vermittlung an Frauenhäuser oder Erziehungsberatungsstellen), übernimmt die HANAUER H!LFE auch die Unterstützung und Begleitung in juristischen Verfahren (Begleitung zur Polizei, zu RechtsanwältInnen sowie zu Gerichtsverfahren). Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt liegt in der Bearbeitung der traumatischen Gewalterfahrungen (mehrmonatige Beratungsarbeit). Um für die betroffenen Frauen eine umfassende und schnelle Hilfe leisten zu können, ist auch eine intensive Kooperation mit anderen Hilfeeinrichtungen notwendig. Zur Förderung solcher kooperativen Netzwerke wurde in diesem Jahr von dem Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Senioren eine bundesweite Kampagne mit dem Titel: „Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter“ gestartet. Im Rahmen dieser Kampagne wurden unter Beteiligung der kommunalen Frauenbeauftragten (Hanau, Maintal, Nidderau und Schöneck), der Frauenhäuser Hanau und Wächtersbach, der Frauenbeauftragten der Polizei Hanau und der Vereine „Frauen helfen Frauen“ sowie der HANAUER H!LFE im Laufe des Jahres verschiedene regionale Veranstaltungen im Main-Kinzig-Kreis durchgeführt.
Wer schlägt muss gehen – mehr Schutz bei häuslicher Gewalt – Das neue Gewaltschutzgesetz von Elke Wolf (2001)
Alle Menschen haben ein Recht auf ein Leben ohne Gewalt und Diskriminierung und auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dennoch sind meist Frauen nach wie vor von körperlicher, psychischer, sexueller und ökonomischer Gewalt betroffen. Diese Gewalt findet überwiegend im sozialen Nahraum, zu Hause, statt und ist für viele Frauen und Kinder leider alltägliche Realität. Häusliche Gewalt/Partnergewalt wird auch heute noch in unserer Gesellschaft verharmlost und schnell entschuldigt. Die Opfer schweigen aus Angst, Schamund Schuldgefühlen. Ihre Leidensgeschichte erstreckt sich oft über viele Jahre. Häusliche Gewalt reicht von Drohungen, Erniedrigungen und sozialer Isolation bis hin zu sexuellem Zwang und schweren körperlichen Misshandlungen. Von der Gewalt gegen Mütter sind in aller Regel auch Kinder betroffen, sei es als Opfer selbst oder als Zeugen der Taten. Der Schutz der Betroffenen ist im häuslichen Bereich bisher am wenigsten gewährleistet. Am 01. 01. 2002 ist das Gesetz zur „Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“, kurz Gewaltschutzgesetz, in Kraft getreten. Das Gesetz verfolgt das Ziel, den zivilrechtlichen präventiven Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen im Allgemeinen und bei häuslicher Gewalt im Besonderen zu verbessern. Das Gewaltschutzgesetz kommt allen von häuslicher Gewalt betroffenen Menschen zugute, unabhängig davon ob es sich um Gewalt in einer Paarbeziehung oder um Gewalt gegen andere Familienangehörige handelt. Insbesondere aber sollen damit Frauen und Kinder geschützt werden, die häufig die Opfer häuslicher Gewalt sind. Eine im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durch-
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geführte Untersuchung hat ergeben, dass es in jeder dritten Partnerschaft zu körperlicher Gewalt gegen Frauen kommt. Jede siebte Frau war mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung. Zwei Drittel dieser Fälle ereigneten sich in der Familie bzw. im sozialen Nahraum der Betroffenen. In rund 85% der bekannt gewordenen Fälle von häuslicher Gewalt ist der Mann der Täter. Jedes Jahr suchen rund 45.000 Frauen, oft mit Kindern, Zuflucht in einem der 435 Frauenhäuser in Deutschland. Für Kinder die von ihren Eltern misshandelt werden, gilt das Gewaltschutzgesetz nicht. Stattdessen greifen die speziellen Vorschriften des Kindschafts- und Vormundschaftsrechts, die Maßnahmen des Familiengerichts unter Einbeziehung des Jugendamtes vorsehen. Gewalt hinter der Wohnungstür soll durch das neue Gesetz nicht mehr bagatellisiert werden. Kernstück des Gesetzes ist die Regelung zur Wohnungsüberlassung. Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben oder von ihr bedroht sind, müssen nicht mehr den gemeinsamen Haushalt verlassen und in einem Frauenhaus Zuflucht suchen. Sie können künftig auch per Eilanordnung leichter vor Gericht durchsetzen, dass ihnen die gemeinsame Wohnung (in Einzelfällen zeitlich befristet bis maximal 6 Monate) zur alleinigen Nutzung zugewiesen wird. Dies sollte gerade dann erfolgen, wenn das Wohl im Haushalt lebender Kinder gefährdet ist. Das Gewaltschutzgesetz ermöglicht es den Opfern zusätzlich neben oder statt eines Strafverfahrens verschiedene zivilrechtliche Schutzmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Die Zuweisung der Wohnung und Schutzanordnungen sind dabei als präventiver Schutz vor weiteren Gewalttaten Gegenstand des neuen Gewaltschutzgesetzes. Dabei ist die mögliche Zuweisung nicht mehr nur auf Ehewohnungen beschränkt. Sie gilt auch für alle auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaften: Räumliche Distanz zwischen Opfer und TäterIn ist insbesondere bei häuslicher Gewalt unter Partnern, die sich allmählich aufbaut und zu einer „Dauergewaltbeziehung“ werden kann, ein wirksames Mittel, um die Gewaltspirale zu durchbrechen. Dies haben die guten Erfahrungen in Österreich mit dem dortigen Gewaltschutzgesetz gezeigt, das die Möglichkeit von Wohnungswegweisungen durch Polizei- und Ordnungsbehörden sowie Zivilgerichte geschaffen hatte (Stormann, Erfahrungen mit dem österreichischen Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie, Jugendamt 2002).
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Die Distanz allein schafft zwar nicht die Konflikte in Beziehungen ab, gibt den Betroffenen aber die Möglichkeit, andere Modelle der Konfliktbewältigung zu erlernen. Die staatlichen Sanktionen schärfen zudem das Bewusstsein dafür, dass auch die Gesellschaft den Einsatz von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung unter Privatpersonen nicht duldet. Auch das Hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz (HSOG) enthält mit den Bestimmungen des Platzverweises und der Ingewahrsamnahme ausreichend Befugnisse, um dem Störer die Grenzen aufzuzeigen und an weiteren Taten zu hindern. Auch ohne das Gewaltschutzgesetz bestand bisher die Möglichkeit unter den Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 HSOG, den gewalttätigen Partner oder Ehemann aus der gemeinsamen Wohnung zu verweisen. Diese polizeiliche Anordnung ist jedoch nur vorübergehend. Deshalb soll in das HSOG eine spezielle Vorschrift eingefügt werden, die der Polizei die Befugnis einräumt, eine gewalttätige Person bis zu einer richterlichen Entscheidung über zivilrechtliche Schutzmöglichkeiten aus der vom Opfer bewohnten Wohnung zu verweisen. Der Hessische Landtag hat entsprechende Gesetzesentwürfe bereits vorbereitet. Erfahrungen aus Modellversuchen in anderen Bundesländern und Österreich bewerten eine Wegweisung von 7 bis 14 Tagen als sachgerecht. Es kam in dreißig Prozent der Einsätze bei häuslicher Gewalt zu einem Platzverweis für die Täter, der mit Hausverbot bis zu zwei Wochen verbunden war. Die Änderung des Polizeigesetzes hat sich dort als tragfähige Grundlage erwiesen, indem sie den betroffenen BeamtInnen absolute Rechtsklarheit gibt. Da sich Gewalt im sozialen Nahbereich auch außerhalb der Wohnung abspielt, ist das (befristete) Hausverbot nur ein Teil des Gewaltschutzgesetzes. Das Gericht kann gegenüber Tätern/Täterinnen (weitere) Maßnahmen zum Schutz des Opfers anordnen (Schutzanordnungen). Richter können dem Täter untersagen, sich dort aufzuhalten, wo er das Opfer gewöhnlich treffen kann, wie z. B. an der Arbeitsstelle, Kindergarten, Schule, Einkauf, Freizeit usw. Sie können ein Kontaktverbot verhängen oder Telefonterror unterbinden. Auch das so genannte „Stalking“ – unzumutbare Belästigungen wie ständiges Verfolgen und Nachstellen gegen den Willen des Opfers – soll durch die neue Gesetzesgrundlage unterbunden werden. Ebenso wie Drohungen, psychische Gewalt und Demütigungen unabhängig davon, ob eine Partnerschaft zwischen Täter und Opfer besteht. Je nach Einzelfall können weitere Schutzanordnungen
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beantragt und angeordnet werden. Bei Verstoß hat das Opfer die Möglichkeit die Verhängung von Ordnungsgeld oder Ordnungshaft zu beantragen. Verstoßen Täter und Täterin gegen die gerichtlichen Schutzanordnungen, machen sie sich außerdem strafbar; es drohen Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Ausdrücklich sieht das Gesetz den Vorsatz durch Trunkenheit des Täters nicht ausgeschlossen. Das neue Gesetz ändert leider nichts an dem Problem der Beweislast. Nach wie vor muss das Opfer beweisen können was passiert ist. Diesbezüglich wäre eine ausführliche Dokumentation der Situation am Tatort durch die Polizei beweiserleichternd. Familiengerichte (Amtsgericht vor Ort) sind sowohl für die Wohnungsüberlassung als auch für die Schutzanordnungen zuständig, wenn die Beteiligten einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt führen oder innerhalb von 6 Monaten vor der Antragstellung geführt haben. Gibt es keinen gemeinsamen Haushalt oder wurde dieser vor mehr als 6 Monaten aufgelöst, sind die Zivilgerichte der örtlichen Amts- oder Landgerichte zuständig. Mit dem Gesetz zur Verbesserung des zivilrechtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Wohnung bei Trennung hat sich der Gesetzgeber bemüht, über Änderungen, Ergänzungen und Anpassungen des Zivilrechts einen besseren präventiven Schutz der Opfer von Gewalt zu erreichen. Erstmals wird auch die psychische Gewalt durch das Gewaltschutzgesetz erfasst. „Ausdrücklich, wenn es um Drohungen und unzumutbare Belästigung geht, mittelbar, wenn sie zu psychischen oder körperlichen Gesundheitsschädigungen geführt hat“ (Bundesministerium für Familie). Der Erfolg der Neuregelungen im Zivilrecht wird wesentlich davon abhängen, ob und wie Polizei- und Ordnungsbehörden, die in akuten Krisensituationen als erste staatliche Institution mit häuslicher Gewalt konfrontiert werden, diese umsetzen werden. Ebenso entscheidend wird es sein, wie FamilienrichterInnen die jeweiligen Verfahren durchführen. Gesetzgeberische Aktivitäten allein dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gesetze in der Praxis mit Leben erfüllt werden müssen. Eine Wohnungszuweisung an das Opfer alleine ist wirkungslos; effiziente Beratungs- und Unterstützungsangebote müssen zusätzlich greifen. Frauenhäuser
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und Opferberatungsstellen müssen den betroffenen Menschen weiterhin zugänglich sein, d. h., der Staat muss ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Nicht in jedem Fall häuslicher Gewalt ist es ratsam, dass das Opfer in der Wohnung bleibt. Beispielsweise Sicherheitsgründe und das subjektive Empfinden von Angst können dagegen sprechen. Erfahrungen in Österreich haben gezeigt, dass die Belegungszahlen der Frauenhäuser nach Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes nicht zurückgegangen sind, obwohl von der Möglichkeit der Wohnungsüberlassung oft Gebrauch gemacht wurde (Bundesfamilienministerium und Bundesministerium der Justiz – Informationen zum Gewaltschutzgesetz).Die Praxis belegt, wie wichtig und notwendig es ist, Betroffenen verschiedene Möglichkeiten zum Schutz vor häuslicher Gewalt zu bieten. Das neue Gewaltschutzgesetz kann nicht den Anspruch erfüllen, Gewalt gerade auch in engen sozialen Beziehungen dauerhaft ein Ende zu bereiten. Es ist in seiner Zielsetzung vielmehr als weiterer Baustein zur Verbesserung der Opferhilfe und des Opferschutzes zu begrüßen. Alle beteiligten Institutionen sind aufgefordert die Konzepte zum Schutz vor häuslicher Gewalt weiter zu entwickeln und ihre Interventionen sinnvoll zu vernetzen.
Neuerungen im Opferschutz von Irmgard Müller (2004)
Am 01. 09. 04 ist das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz) in Kraft getreten (BGBl I 2004, 1354). Die Rechte der Opfer von Straftaten sind damit seit dem Opferschutzgesetz von 1986 ein weiteres Mal erweitert worden, nachdem bereits 1998 einige wesentliche Verbesserungen geschaffen worden waren. Im Justizalltag sind die verfahrensrechtlichen Rechte der Opfer oft nicht einfach umsetzbar. Hier kollidieren sie oftmals – scheinbar – mit dem Anspruch auf Wahrheitsfindung einerseits und den Verteidigungsrechten des Angeklagten andererseits. Die Überzeugung, dass ein im Strafverfahren aktiv beteiligte Person, die durch die Straftat verletzt wurde, zur Wahrheitsfindung mehr beitragen kann, als die bloße Vernehmung als Zeuge oder Zeugin, hat sich noch nicht umfassend verbreitet. Bereits nach bisherigem Recht haben Betroffene von bestimmten Straftaten (versuchte Tötungsdelikte, Sexualdelikte, Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit und auch Beleidigungsdelikte u. a.) das Recht, sich als Nebenkläger der öffentlichen Anklage anzuschließen. Sie haben dann das Recht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung, auch wenn sie als Zeugen sonst vor ihrer Vernehmung den Gerichtssaal verlassen müssten, Fragerechte, Rechte Erklärungen abzugeben, Beweisantragsrecht, Recht zur Ablehnung von Richtern und Sachverständigen sowie zur Beanstandung von Anordnungen des Vorsitzenden und Fragerecht in der Hauptverhandlung. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Akteneinsichtsrecht über Rechtsanwälte. Nebenkläger können auch Rechtsmittel einlegen, allerdings nicht mit dem Ziel, eine andere Rechtsfolge, beispielsweise auch eine höhere Strafe zu erwirken, sondern nur mit dem Ziel, den Schuldspruch bzw. Freispruch anzugreifen, soweit sie selbst davon betroffen sind. (Die Nebenklage ist im Verfahren gegen Jugendliche nicht zulässig.)
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Auch können bereits nach bisherigem Recht Betroffene, die aufgrund der Straftat zu den Nebenklageberechtigten zählen, sich in jedem Stadium des Verfahrens einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts bedienen. Diese können dann Akteneinsicht und Anwesenheitsrechte ausüben. Auch Verletzte, die nicht nebenklageberechtigt sind, können im Strafverfahren Rechtsanwälte als Beistand beauftragen. Die Beteiligungsrechte gehen hier aber nicht soweit, wie bei den Nebenklageberechtigten. Bei bestimmten schweren Nebenklagedelikten wie Sexualverbrechen und versuchte Tötungsdelikte und bei Betroffenen unter 16 Jahren ist auf Antrag ein Anwalt oder eine Anwältin auf Staatskosten beizuordnen. In anderen Fällen kann bei Kostenarmut Prozesskostenhilfe beantragt werden. Diese bereits bestehenden Rechte, die hier nur im Kern dargestellt werden können, sollten durch die gesetzliche Neuregelung weiter ausgestaltet werden. Es sollte auch hiermit der Rahmenbeschluss der Europäischen Union vom 15. 03. 01 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren in der Gesetzgebung aufgegriffen werden. Das Gesetzgebungsverfahren gestaltete sich nicht einfach. Dem Entwurf der Bundesregierung wurde im Bundesrat zunächst nicht zugestimmt. Die zahlreichen Änderungsvorschläge des Bundesrates wurden wiederum von der Bundesregierung überwiegend abgelehnt, so dass zunächst der Vermittlungsausschuss angerufen werden musste. Die dann beschlossenen Änderungen weichen vom ursprünglichen Entwurf weitgehend ab. Es konnten sich auch nicht alle Forderungen der Opferhilfeverbände durchsetzen.
Welches sind nun die Neuregelungen im Einzelnen? 1
Stärkung der Verfahrensrechte:
Hier wurde der Nebenklagekatalog des § 395 I 1 StPO erweitert um Verstöße gegen Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz (§ 4 GewSchG) sowie Ausbeutung von Prostituierten und Zuhälterei (§§ 180a und 181a StGB). Die Beiordnungsmöglichkeit eines Rechtsanwaltes für das Opfer, auch wenn kein Anspruch auf Prozesskostenhilfe besteht, wurde erweitert: es haben nun
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auch nahe Angehörige eines Getöteten Anspruch auf Bestellung eines Rechtsanwaltes auf Staatskosten, wie dies bisher nur bei nebenklageberechtigten Verbrechensopfern der Fall war. Nebenklageberechtigte Verletzte haben nun auch einen gesetzlichen Anspruch auf Heranziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers. Die Kosten sind Teil der Gerichtskosten und werden als Auslagen erhoben. Wenn der oder die Verletzte als Zeuge vernommen wird, kann er beantragen, dass einer Person seines Vertrauens die Anwesenheit gestattet wird. Diese Gestattung muss erfolgen, es sei denn, der Untersuchungszweck wird durch die Anwesenheit der Vertrauensperson gefährdet. Die Entscheidung trifft derjenige, der die Vernehmung leitet (Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter). Lehnt er die Anwesenheit einer Vertrauensperson ab, muss er die Gründe hierfür aktenkundig machen. Bislang hing das Recht auf Anwesenheit einer Vertrauensperson von der Gestattung des Vernehmenden, welche in dessen Ermessen gestellt war, ab. Nebenklageberechtigte Verletzte haben nun auch ein Recht, an der Hauptverhandlung trotz Ausschluss der Öffentlichkeit teilzunehmen, auch wenn Sie den Anschluss als Nebenkläger nicht erklären wollen. 2
Verbesserte Information der Betroffenen über ihre Rechte:
Verletzte müssen nun obligatorisch auch bereits im Ermittlungsverfahren, also schon von Polizei und Staatsanwaltschaft, auf ihre Verfahrensrechte hingewiesen werden. Sie müssen beispielsweise darauf hingewiesen werden, dass bei ihrer Vernehmung eine Vertrauensperson anwesend sein darf, wenn sie dies beantragen, dass sie das Recht haben auf Bestellung oder Hinzuziehung eine Rechtsanwaltes als Beistand. Die Verletzten müssen auch nun auf die Möglichkeit zur Durchführung eines so genannten Adhäsionsverfahrens aufgeklärt werden, d. h., darüber, wie sie die aus der Straftat erwachsenden Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche im Strafverfahren geltend machen können. Von besonderer Bedeutung ist das im Gesetz neu eingeführte Gebot, auch auf Möglichkeiten zur Unterstützung und Hilfe durch Opferhilfeeinrichtungen hinzuweisen.
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Reduzierung der Belastungen für Opfer im Ermittlungs- und Strafverfahren:
Bei körperlichen Untersuchungen, die das Schamgefühl verletzen können, soll dem Wunsch entsprochen werden, die Untersuchung von einer Person gleichen Geschlechts oder von einer Ärztin oder einem Arzt vorzunehmen. Verletzte Zeugen können nun auch verlangen, dass eine Person ihres Vertrauens anwesend ist. Auch hierauf muss hingewiesen werden. Zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen ist nun die Möglichkeit geschaffen worden, eine Anklage beim Landgericht direkt zu erheben, wenn eine besondere Schutzbedürftigkeit von Zeugen vorliegt. Diese Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes kollidiert allerdings sehr stark mit Verteidigungsinteressen eines Angeklagten, da bei Strafverfahren, die sonst beim Amtsgericht zu verhandeln wären, eine Tatsacheninstanz entfällt. Im Mittelpunkt der Reformen im Jahr 1998 stand die audio-visuelle Vernehmung besonders schutzbedürftiger Zeugen. Hier wurde die Möglichkeit geschaffen, Zeugen an einem anderen Ort zu vernehmen und die Vernehmung mittels einer Bild-Ton-Direktübertragung in den Gerichtssaal vorzunehmen. Diese neue gesetzliche Möglichkeit erweckte bei den Betroffenen die Erwartung, dass dies immer dann angewendet wird, wenn die Vernehmung im Gerichtssaal in Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligter oder gar der Öffentlichkeit als zu belastend empfunden wird. Diese Erwartung wurde allerdings in den meisten Fällen enttäuscht, was nicht nur daran lag, dass die entsprechenden technischen Möglichkeiten häufig fehlten. Es lag vielmehr daran, dass das Gericht vor der Durchführung einer audio-visuellen Vernehmung prüfen musste, ob andere Schutzmaßnahmen in Betracht kommen, insbesondere die Entfernung des Angeklagten oder der Ausschluss der Öffentlichkeit. Das Opferrechtsreformgesetz 2004 hat diese Hürden beseitigt und sieht die audio-visuelle Vernehmung als Alternative zur Entfernung des Angeklagten und/oder dem Ausschluss der Öffentlichkeit vor. Ob diese Gesetzesänderung allerdings dazu führt, dass künftig häufiger von der Möglichkeit der audio-visuellen Vernehmung Gebrauch gemacht wird, steht
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dahin. Das Gericht wird demnächst immer prüfen müssen, welche Maßnahme am ehesten angebracht ist, um den Zeugen der Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für sein Wohl möglichst zu schonen. Gleichzeitig muss es aber auch die Aspekte der Wahrheitsfindung und die Verteidigungsinteressen des Angeklagten beachten. Wenn beispielsweise die Entfernung des Angeklagten beschlossen wird, bevor das Gericht sich mit der Möglichkeit der audio-visuellen Vernehmung auseinandergesetzt hat, kann es sich um einen Verfahrensfehler handeln, der einen absoluten Revisionsgrund darstellen kann. Grundsätzlich haben die zur Akteneinsicht Berechtigten das Recht Kopien der Videoaufzeichnungen zu erhalten. Die Kopien dürfen weder vervielfältigt, noch weiter gegeben werden. Sie sind an die Staatsanwaltschaft herauszugeben, sobald kein berechtigtes Interesse an der weiteren Verwendung besteht. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Zeuge ein Widerspruchsrecht gegen die Überlassung einer Kopie der Aufzeichnung seiner Vernehmung hat. Es muss dann die Aufzeichnung in ein schriftliches Protokoll übertragen werden, welches zur Akteneinsicht überlassen wird. Auf dieses Widerspruchsrecht sind Zeugen auch hinzuweisen. Neu ist auch die Möglichkeit Zeugenvernehmungen in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht auf Tonträger aufzunehmen, um diese in der Berufungsinstanz zu verwerten. Dies soll mehrfache Vernehmungen von Zeugen in verschiedenen Instanzen vermeiden helfen. Gerichte sind nun auch gehalten, Zeugen zeitlich so zu laden, dass sie nicht unnötig lange auf ihre Vernehmung warten müssen. Dies wird bereits heute aufgrund einer „Kann-Regelung“ praktiziert. Belastende Wartezeiten lassen sich dennoch nicht vermeiden. In diesem Zusammenhang ist das vielerorts angebotene und nun auch in Hanau vorhandene und von der Hanauer Hilfe genutzte Zeugenzimmer äußerst wichtig. 4
Mehr Informationsrechte:
Dem bisher bereits bestehenden Auskunftsanspruch des Verletzten ist das Antragsrecht des Verletzten zur Information über freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Beschuldigten hinzugefügt worden. Dem Verletzten ist auf Antrag auch mitzuteilen, ob die freiheitsentziehenden Maßnahmen beendet wurden, oder ob erstmalig Vollzugslockerungen oder Urlaub gewährt wurde, wenn er ein be-
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rechtigtes Interesse darlegt und kein überwiegendes schutzwürdigendes Interesse des Betroffenen am Ausschluss der Mitteilung vorliegt. Der Darlegung eines berechtigten Interesses bedarf es nicht, wenn es sich um ein Opfer eines nebenklagefähigen Sexualdelikts, Körperverletzung, Freiheitsentziehung oder einer versuchten Tötung handelt. Diese Opfer erhalten ohne weiteres auf Antrag Auskunft. Gerade an solche Informationen war in der Vergangenheit schwer heranzukommen. Die Neuregelung lässt Raum dafür, dass ggf. Schutzmaßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz ergriffen werden können. Nebenklageberechtigte Verletzte können nun auch auf Antrag Mitteilung vom Hauptverhandlungstermin erhalten, auch wenn sie sich nicht als Nebenkläger angeschlossen haben. Dies muss allerdings beantragt werden. 5
Erleichterung der Schadenswiedergutmachung:
Für Opfer einer Straftat, die gegen den Täter Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld geltend machen wollen, gab es auch bisher schon die Möglichkeit, im so genannten Adhäsionsverfahrens diese Ansprüche auch bereits im Strafprozess geltend zu machen. Hiervon wurde in der Praxis aus unterschiedlichen Gründen recht wenig Gebrauch gemacht. Unter anderem konnte das Gericht bisher von der Entscheidung über solche Anträge absehen, wenn der Antrag zur Erledigung im Strafverfahren nicht geeignet war oder das Verfahren verzögern würde. Nach der gesetzlichen Neuregelung ist das Absehen von einer Entscheidung nun erschwert worden und es wurden prozessuale Gestaltungsmöglichkeiten wie Erlass eines Anerkenntnisurteils, Protokollierung von vollstreckbaren Vergleichen und auch Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit vorgesehen. Auch hier bleibt wiederum abzuwarten, wie sich diese Neuregelungen in der Praxis durchsetzen. Die Ausweitung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren ist durchaus geeignet, diesen Rechten auch mehr Akzeptanz im Polizei- und Justizalltag zu verschaffen.
4 Opferhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich
Erste konzeptionelle Vorstellungen der HANAUER H!LFE e.V. von Rolf Guntermann (1989)
Unter „Täter-Opfer-Ausgleich“ wird allgemein der Versuch verstanden, die aus einer Straftat entstandenen Konflikte zwischen den Beteiligten außerhalb des formellen Strafverfahrens durch die Hilfe von Vermittlern zu lösen. Dieser Ausgleichsgedanke zwischen Opfer und Täter findet seit einiger Zeit in der öffentlichen Diskussion eine breite grundsätzliche Akzeptanz durch Wissenschaft und Kriminalpolitik. In seinem theoretischen Bezugsrahmen werden juristische, kriminologische, viktimologische und sozialwissenschaftliche Aspekte diskutiert. Seit einigen Jahren existieren in der Bundesrepublik Deutschland Modellprojekte zur praktischen Erprobung des Täter-Opfer-Ausgleichs in unterschiedlicher Trägerschaft. Ihnen liegen auch verschiedene Zielsetzungen und theoretische Orientierungen zugrunde, wobei es jedoch viele Berührungspunkte zwischen den einzelnen Positionen gibt. Gemeinsam ist ihnen, dass der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) als Ansatzpunkt für kriminalpolitische Veränderungen betrachtet wird. Darüber hinaus sind die Ausgleichsprogramme überwiegend für jugendliche Straftäter konzipiert. Die unterschiedlichen Modelle lassen sich grob anhand ihrer vorrangigen Perspektiven als stärker täterorientiert, konfliktorientiert oder opferorientiert beschreiben. Die opferorientierte Position entwickelte sich vor allem aufgrund der Unzufriedenheit mit der Stellung des Opfers im gegenwärtigen Strafrechtssystem, das zudem kaum eine wirkliche Befriedungsfunktion erfüllen kann. Die Vernachlässigung des Opfers bzw. seiner Interessen werden z. B. bei seinen noch immer geringen strafprozessualen Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten und bei der Problematik, Schadensersatz für den durch die Straftat verursachten Schaden zu erhalten (geringe Bedeutung des Adhäsionsverfahrens, Verweis auf den Zivilrechtsweg), deutlich.
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Aus unserer Sicht kann die Hilfe für Opfer von Straftaten sehr verschiedene Formen annehmen: 䊏 psychosoziale Beratung und Unterstützung in der Krisensituation, 䊏 langfristige Betreuung und/oder Vermittlung anderer (zusätzlicher) Hilfsmaßnahmen, 䊏 finanzielle Unterstützung und praktische Hilfen. Eine weitere Möglichkeit konkreter Opferhilfe ist der Versuch einer Konfliktregulierung bzw. gegebenenfalls Konfliktschlichtung zwischen Opfer und Täter. Diese Konfliktregulierung kann je nach den Bedürfnissen der Opfer sehr unterschiedliche Ziele zum Inhalt haben: 䊏 Wiedergutmachung des entstandenen Vermögensschadens (Schadensersatz), 䊏 Zahlung von Schmerzensgeld, 䊏 Symbolische Formen des Ausgleichs (Entschuldigung, Geschenk, Reparatur oder sonstige Dienstleistungen, 䊏 Gespräch mit den Täter mit unterschiedlicher Zielsetzung, z. B.: Bewusstmachen der Tatfolgen, Konfrontieren mit den Ängsten, Ärgernissen und der Wut des Opfers, Auseinandersetzung mit den Motiven und der Persönlichkeit des Täters, Möglichkeit, den Konflikt auszutragen, Vereinbarung über eine Beilegung/Beendigung eines Konfliktes z. B. bei Straftaten im sozialen Nahraum (Beziehungskonflikte), Hinwirken auf einen Interessenausgleich (Vergleich), usw. Eine derartige Auseinandersetzung mit dem Täter kann für das Opfer eine Erleichterung der Verarbeitung der Straftat und seiner Folgen bewirken. Der Täter muss sich mit den Folgen seiner Tat unmittelbar auseinandersetzen und wird in die Pflicht genommen, durch eigene konstruktive Leistungen zur Beseitigung bzw. Minderung der Tatfolgen beizutragen. Im Übrigen besteht offenbar bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der geschädigten Opfer das Interesse an einer wie auch immer gearteten unbürokratischen und ggf. möglichst raschen Konfliktregulierung. Dies belegen die Erfahrungen bereits existierender TOA-Projekte und die Ergebnisse einiger wissenschaftlicher Untersuchungen über die Bedürfnisse von Opfern von Straftaten.
Erste konzeptionelle Vorstellungen der HANAUER H!LFE e.V.
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Aus diesem Grund sind seit einiger Zeit bei der HANAUER H!LFE Überlegungen dahingehend in Gang gekommen, eine Art „Täter-Opfer-AusgleichKonzept“ zu entwickeln, das über die bisher praktizierten Ansätze anderer Projekte hinausgeht und das die Opfer in den Mittelpunkt der Konfliktregulierungsbemühungen stellt. Dabei konzentrieren sich unser Überlegungen auch vor allem darauf, auf welchen Wegen aus Opfersicht eine befriedigende Regelung erzielt werden kann und in welchem institutionellen Rahmen ein TOA in größerem Umfang Realisierungschancen bekommen kann, mit dem Ziel, die Konfliktregulierung zwischen Täter und Opfer als durchaus sinnvollen Teilbereich praktischer Opferunterstützung den Betroffenen anbieten zu können.
Konzeptionelle Überlegungen zur Konfliktregulierung Wir haben bewusst bei Konzipierung des TOA-Modells der HANAUER H!LFE den Untertitel „Konfliktregulierung“ gewählt. Er erscheint uns geeigneter als der „Ausgleichsbegriff“ zur sein, da dieser suggeriert, der Konflikt zwischen Opfer und Täter müsste quasi zwangsläufig harmonisiert werden. Darüber hinaus stellt der Begriff der „Konfliktregulierung“ den Konflikt in den Blickpunkt, worunter sowohl der erst durch die Straftat entstandene Konflikt als auch der Konflikt, der in seinem Kulminationspunkt eine Straftat zur Folge hatte, verstanden werden kann. Aus sozialarbeiterischer Sicht und auf den Hindergrund mehrjähriger Erfahrungen in der praktischen Opferhilfe entstand so der Entwurf eines eigenen TOA-Modells, das sich im Interesse der Opfer von Straftaten die konstruktiven Elemente des TOA zu Nutze machen will. Andererseits soll dieses Modell soweit wie möglich die Instrumentalisierung des Opfers wie im gegenwärtigen Strafrechtsystem vermeiden und auch sicherstellen, dass die Berücksichtigung von Opferinteressen nicht wie bei vielen derzeit praktizierten Modellen nur das Nebenprodukt von alternativen Reaktionsformen auf die Straffälligkeit jugendlicher Straftäter darstellt. Folgende alternative konzeptionelle Vorstellungen lassen sich aus der Kritik an den bestehenden Ausgleichmodellen ableiten: 䊏 Unser Modell der Konfliktregulierung darf nicht mit Zielsetzungen des Strafverfahrens vermischt werden. Im Mittelpunkt muss das freiwillige Bemühen
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des Opfers bzw. Täters stehen, den Konflikt zu bearbeiten und ggf. beizulegen. 䊏 Geeignete Fälle dürfen nicht von den Justizbehörden der HANAUER H!LFE zugewiesen werden. Konfliktregulierungsbemühungen unsererseits dürfen nur auf Wunsch des Opfers erfolgen. 䊏 Die grundsätzliche Eignung eines Falles für die Konfliktregulierung orientiert sich deshalb auch nicht an dem juristischen Kriterium, inwieweit sie für den jeweiligen Täter angemessen erscheint. 䊏 In Frage kommen können Fälle von z. B. Körperverletzung, Diebstahls- und Sachbeschädigungsdelikte, die einen konkreten zwischenmenschlichen Konflikt zur Folge haben. 䊏 Der Versuch, als vorgeblich „neutrale Institution“ den Täter-Opfer-Ausgleich zu betreiben, kollidiert unserer Meinung nach gerade bei schwereren Delikten mit den Wünschen der betroffenen Opfer und kann womöglich letzten Endes weder den Interessen der Geschädigten noch den berechtigten Interessen des Täters gerecht werden. 䊏 Nach unseren Vorstellungen kann die HANAUER H!LFE nur in eindeutigen Parteinahme für das Opfer an entsprechenden Ausgleichs- bzw. Konfliktregulierungsbemühungen mit dem jeweiligen Täter unterstützend mitwirken. Zu ihrer Initiierung kann die Beratungsstelle im Einverständnis mit dem Opfer Kontakt zu dem Täter aufnehmen. 䊏 Als Voraussetzung für eine Konfliktregulierung, die die Interessen beider Parteien gleichrangig berücksichtigen will, sollte auch der Täter die Möglichkeit haben, einen Beistand seiner Wahl hinzuzuziehen. 䊏 Das Ergebnis einer solchen Konfliktregulierung könnten dann z. B. im Rahmen eines laufenden Ermittlungsverfahrens nach der Weiterleitung an den zuständigen Staatsanwalt oder Richter auch wiederum dem Täter zugute kommen. Nach § 46 Abs. 2 StGB gehört zu den Strafbemessungsgrundsätzen auch „das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzen zu erreichen“. 䊏 In jedem Fall verbleibt dem Opfer bei Misserfolg des Konfliktregulierungsversuchs die Möglichkeit, herkömmliche Straf- und Zivilrechtsverfahren weiter zu betreiben.
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Ein Fallbeispiel: Telefonisch meldet sich Frau A., die ca. 25 Jahre alt ist, bei der HANAUER H!LFE. Sie ist sehr aufgewühlt und muss manchmal weinen, während sie erzählt. Sie brauche dringend ein Gespräch über ihre Situation. Sie wisse nicht mehr weiter, die Situation sei so aussichtslos, und sie sei der Verzweiflung nahe. Bei unserem persönlichen Gespräch stellt sich ihre Situation wie folgt dar: Seit ihrer Scheidung vor 4 Jahren lebt sie mit ihrem 6-jährigen Sohn in einer kleinen Wohnung am Stadtrand von Hanau. Vor etwa einem Jahr nahm sie ihren neuen Lebenspartner mit in die Wohnung auf. Die Beziehung zu ihm beschreibt sie zunächst als sehr romantisch, doch schon bald sei der Mann immer launischer und auch aggressiver ihr gegenüber geworden. Er ging immer öfter abends weg und trank auch häufig Alkohol. Frau A. fühlt sich zunehmend alleingelassen und gedemütigt und warf das ihrem Freund auch des Öfteren vor. Dabei kam es auch zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Beziehungskrise spitzte sich immer weiter zu und Frau A. sah für sich keinen anderen Ausweg mehr, als sich von ihrem Freund zu trennen. Nach der Trennung zog er auch zunächst anstandslos aus ihrer Wohnung aus. In den nächsten Tagen wurde dann offenbar, dass er sich nicht mit der Trennung abfinden konnte oder wollte. Jedenfalls belästigte er sie des Öfteren telefonisch, lauerte ihr auf und drohte ihr für den Fall, dass sich nicht mehr bereit sein sollte, die Beziehung wieder aufzunehmen. Doch das will Frau A. auf keinen Fall. In der letzten Woche randalierte er eines abends vor ihrer Tür, als ein Bekannter bei ihr zu Besuch war. Sie musste sogar die Polizei zu Hilfe holen. Am nächsten Tag ging sie wie gewohnt zur Arbeit. Nach einer gerade abgeschlossenen Umschulung hatte sie eine befristete Anstellung bei einer Frankfurter Firma gefunden. Als sie am Abend in ihre Wohnung zurückkam, musste sie feststellen, dass in ihrer Abwesenheit jemand in ihrer Wohnung war. Persönliche Dinge und Bargeld waren entwendet und Einrichtungsgegenstände beschädigt worden. Ihr Verdacht fiel sofort auf ihren Ex-Freund, da dieser immer noch nicht den Wohnungsschlüssel zurückgegeben hatte.
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Sofort ließ sie das Türschloss auswechseln und erstattete gegen ihren ExFreund Strafanzeige bei der Polizei. Dabei musste sie erfahren, dass dieser wegen verschiedener anderer Delikte bereits polizeibekannt war. Nach diesem Vorfall beruhigte sich die Situation erst einmal wieder. Ein paar Tage später rief sie ihr Ex-Freund erneut auf der Arbeitsstelle an. Er zeigt sich wesentlich besonnener, verlangte aber von ihr die Rücknahme der Strafanzeige. Er gab ihr zu verstehen, dass er es war, der in ihre Wohnung eindrang. Er sei auch bereit, für die entstandenen Schäden aufzukommen. Doch sollte sie die Anzeige nicht zurückziehen, habe er die Absicht, sie der Mitwisserschaft bzw. der Beteiligung an anderen Straftaten zu bezichtigen. Frau A. hat große Angst davor, in irgendetwas hineingezogen zu werden. Sie fürchtet, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und, dass ihr Sohn in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie will im Grunde nur ihre Ruhe vor ihm. Schön wäre es auch, wenn er ihr tatsächlich Schadensersatz leisten würde, bzw. ihr die entwendeten Gegenstände zurückgäbe. Doch sie habe nicht mehr die Kraft, sich allein mit ihm auseinanderzusetzen. Im Grund sei er ja auch „kein schlechter Kerl“. Sie wolle ihm auch nicht schaden. Er habe sie nie geschlagen. Aus ihrer Sicht seien auch nicht alle „Brücken zerbrochen“. Möglicherweise zeige er sich ja auch noch „einsichtig“. Noch sei es nicht zu der befürchteten Eskalation des Konflikts gekommen. Doch was kann sie jetzt tun?
Möglichkeiten der praktischen Umsetzung von Konfliktregulierungsbemühungen An diesem Fallbeispiel wird u. E. deutlich, dass der Versuch einer Konfliktregulierung bzw. ggf. Konfliktschlichtung zwischen Opfer und Täter durchaus eine weitere Möglichkeit praktischer Opferhilfe sein kann. So wie sich in diesem Fall die Konfliktsituation darstellt und wie die daran beteiligten Personen wahrgenommen werden können, scheint es sinnvoll, Frau A. nicht nur psychosozial zu beraten und sie damit in der Bewältigung der Krisensituation zu unterstützen.
Erste konzeptionelle Vorstellungen der HANAUER H!LFE e.V.
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Zusätzlich zu der Informationsvermittlung z. B. bezüglich juristischer Hilfe sollte das Angebot gemacht werden können, konkret an entsprechenden Ausgleichs- bzw. Konfliktlösungsbemühungen mitzuwirken. Ein Gespräch auf „neutralem Boden“, ein Vermittlungsgespräch, das Frau A. mit einem(r) MitarbeiterIn der HANAUER H!LFE an ihrer Seite mit ihrem Ex-Freund führen könnte, böte die Chance, den Konflikt zu entschärfen und ihn ggf. zu schlichten. Unsere Vorgehensweise könnte dann wie folgt aussehen: 1. Vorgespräch mit Frau A. zur Abklärung ihrer Position und ihren Zielvorstellungen bezüglich des gemeinsamen Gespräches (unter Umständen wäre zusätzlich eine Beratung durch einen Rechtsanwalt ratsam). 2. Briefliche Kontaktaufnahme zu ihrem Ex-Freund, Unterbreitung des Gesprächsangebotes, auf Wunsch auch im Beisein eines Beistandes seiner Wahl. 3. Terminvereinbarung, Einladung zu dem gemeinsamen Gespräch, das in den Räumen der HANAUER H!LFE stattfinden kann. 4. Auf Wunsch können die Ergebnisse des Gespräches schriftlich festgehalten werden, falls notwendig auch unter Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes. Auf jeden Fall muss bei der Vereinbarung von konkreten Ergebnissen berücksichtigt werden, ob künftig ggf. zusätzliche Hilfen in Anspruch genommen werden sollen (z. B. seitens des „Weißen Ring“, durch Versicherungen oder nach dem Opferentschädigungsgesetz). Es dürfen also keine Vereinbarungen getroffen werden, die zusätzlichen Hilfen evtl. die Anspruchsgrundlage entziehen könnten. Bei einem Scheitern des Vermittlungsgespräches oder aufgrund eines unzureichenden Ergebnisses aus Sicht der Geschädigten ist die „Überleitung“ in ein herkömmliches Straf- oder Zivilverfahren jederzeit (auch unter Berücksichtigung von Teilergebnissen des Konfliktregulierungsgespräches) möglich. Übertragen auf die Möglichkeit der Umsetzung von Konfliktregulierungsbemühungen vor dem Hintergrund der von unseren Klienten an die Beratungsstelle herangetragenen Fälle heißt das generell:
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1. In erster Linie bei vorwiegend materiell geschädigten Opfern können wir die Konfliktregulierung bzw. den materiellen Ausgleich als Möglichkeit der außergerichtlichen Regelung oder der zwischenmenschlichen Konfliktbereinigung in unsere Beratungsarbeit einbeziehen, vorausgesetzt, der Geschädigte sowie der Schädiger sind damit einverstanden. 2. Bei Opfern von Gewalt- und Sexualstraftaten mit gravierenden körperlichen und psychischen Schädigungen ist das Thema Schadenswiedergutmachung weiterhin ein sehr sensibler Bereich, da hier materieller Ersatz nur eine höchst untergeordnete Rolle spielt und andere Ausgleichs- bzw. Wiedergutmachungsleistungen für den meisten Betroffenen nicht akzeptabel oder doch nur sehr schwer vorstellbar sind. Dennoch wäre es unseres Erachtens falsch, solche Delikte von vornherein von einer möglichen Konfliktregulierung, wie immer auch diese im speziellen Einzelfall aussehen kann, auszuschließen. Die besondere Chance eines Konfliktregulierungsmodells besteht ja gerade in der Möglichkeit, sich an den individuellen Bedürfnissen und der Leistungsfähigkeit der Beteiligten zu orientieren. Denkbare Wiedergutmachungsformen sind abhängig vom Einzelfall und sollten nicht von vornherein festgelegt oder eingegrenzt werden. Dabei versteht sich die HANAUER H!LFE auch in jedem Fall weiterhin ausschließlich parteilich für das Opfer und unsere Beratungstätigkeit kann auch bezüglich der Konfliktregulierung nur als Angebot an unsere Klienten verstanden werden. Als Voraussetzung für die künftige Durchführung des Konfliktregulierungsmodells erscheinen deshalb derzeit folgende Maßnahmen sinnvoll: 䊏 Aufnahme der Möglichkeit der Konfliktregulierung in die Palette der Hilfsangebote der Beratungsstelle (Info-Broschüre); 䊏 Kontaktaufnahme zu allen für eine Kooperation relevanten Stellen (Justizbehörden, Bewährungshilfe, Gerichtshilfe, u. a.) mit einer detaillierten Vorstellung des Konzepts. Es ist davon auszugehen, dass die Durchführbarkeit des TOA-Modells der HANAUER H!LFE in hohem Maße davon abhängt, inwieweit die notwendige Akzeptanz bei dem betroffenen Personenkreis bzw. bei den für eine Kooperation relevanten Institution hergestellt werden kann.
Erste konzeptionelle Vorstellungen der HANAUER H!LFE e.V.
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Festzuhalten bleibt, dass das Konfliktregulierungsmodell in allen juristischen Verfahrensstadien und unabhängig parallel dazu durchgeführt werden kann, d. h. von staatsanwaltschaftlichen Diversionsprogrammen über richterliche Schadenswiedergutmachungsauflagen bis hin zu Strafvollzugsprogrammen. Es versteht sich dabei nicht notwendig nur als Alternative zum Strafrecht, sondern auch als Ergänzung bzw. Möglichkeit innerhalb des Strafrechtsrahmens. Bei gleichzeitiger Wahrung der Unabhängigkeit der HANAUER H!LFE von den Justizbehörden besteht jedoch die Chance zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit, mit dem Ziel, die juristischen Rahmenbedingungen und das sozialarbeiterische Handlungspotential im Interesse der Opfer von Straftaten möglichst effektiv zu nutzen.
Das Kooperationsmodell zum Täter-Opfer-Ausgleich im Allgemeinen Strafrecht von Rolf Guntermann (1995)
Im Jahr 1994 wurde im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes mit der Einführung des Paragraphen 46a StGB die Rechtsgrundlage für die Durchführung des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) im allgemeinen Strafrecht (Erwachsenenstrafrecht) geschaffen. Im Bereich des Jugendstrafrechts bestand eine gesetzliche Regelung bereits seit 1990. Im Sommer 1995 griff das Hessische Ministerium der Justiz unsere konzeptionellen Vorstellungen zum TOA im Hinblick auf die nunmehr bestehende gesetzliche Verpflichtung zur Umsetzung des TOA im allgemeinen Strafrecht auf. Die hessischen Opferhilfeeinrichtungen sollten an der geplanten Umsetzung des TOA im Erwachsenenstrafrecht beteiligt werden. Eine entsprechende Anfrage mit der bitte, eventuelle Mitwirkungsmöglichkeiten zu prüfen, ging somit an die vier hessischen Opferhilfen. Durch die Mitwirkung der Opferhilfevereine sollte vor allem der Gefahr begegnet werden, dass bei der Vermittlung zwischen Täter-Opfer-Ausgleich „täterorientiert“ gearbeitet wird. Bei der HANAUER H!LFE und ihren Mitgliedsvereinen fand die Initiative des Hessischen Ministeriums der Justiz uneingeschränkte Zustimmung. Wir signalisierten unsere Bereitschaft zur Mitwirkung für den Fall, dass entsprechende finanzielle Zuwendungen für die Realisierung des Projekts zur Verfügung gestellt würden. In den folgenden Monaten entwickelten Vertreter des Hessischen Ministeriums der Justiz und die hessischen Opferhilfeeinrichtungen gemeinsam eine Konzeption, das „Kooperationsmodell zum Täter-Opfer-Ausgleich“ (TOA).
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Konzeption: Kooperations-Modell zum Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) im Allgemeinen Strafrecht Diese Konzeption ist in Zusammenarbeit zwischen dem Hessischen Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten und den Hessischen Arbeitsgemeinschaften TOA entstanden. Zur Durchführung des TOA nach dem KooperationsModell bildeten sich in Wiesbaden, Hanau und Gießen die Arbeitsgemeinschaften TOA. In diesen Arbeitsgemeinschaften wirken zusammen auf Seiten des Opfers die Opferberatungsstellen und auf Seiten des Täters die Gerichtshilfe bei der Staatsanwaltschaft. Die große Mehrzahl der Straftaten wird von jungen Erwachsenen (Heranwachsenden) begangen. Die Masse der Täter, so haben die kriminologischen Forschungen ergeben, ist nur in den jüngeren Jahren – also lebensgeschichtlich vorübergehend – kriminell. Auch spielen soziale Belastungsfaktoren als Ursachen von Kriminalität eine nachweisbare große Rolle. Deswegen brauchen viele Täter umfassende Hilfsangebote, die ihnen von justiznahen sozialen Diensten (wie der Jugendgerichtshilfe, der Gerichtshilfe, der Bewährungshilfe und der Sozialarbeit im Strafvollzug) mit einer großen Zahl von Mitarbeitern auch gemacht werden. Für die Opfer von Straftaten dagegen gibt es sehr viel weniger Hilfsangebote. Sie neigen auch häufig von sich aus dazu, sich zurückzuziehen und die Folgen der erlittenen Tat zu verbergen, daher erscheinen sie der Hilfe oft weniger bedürftig als die Täter. Dass deswegen professionelle Sozialarbeit viel mehr mit Tätern als mit Opfern von Kriminalität zu tun hat, bringt die Gefahr mit sich, dass bei einer Vermittlung zwischen Tätern und Opfern von Kriminalität „täterorientiert“ gearbeitet, also dem Täter geholfen, von dem Opfer aber weitgehendes Verständnis für die Lage des Täters verlangt sowie seine eigene Betroffenheit, Verletztheit oder Traumatisierung unterschätzt werden. Diese Gefahr ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn mit der TOA-Vermittlung spezialisierte Sozialarbeiter befasst und sie speziell dafür ausgebildet werden. Ihr kann durch eine Beteiligung opferorientierter Sozialarbeit am TOA – als einem Hilfsmittel bei der Durchsetzung gerechter Konfliktlösungen – begegnet werden. Bei der Durchführung des TOA nach dem Kooperationsmodell soll folgendes Verfahren beachtet werden: 1. Die Vermittlung eines TOA kommt nur für geständige oder sonst überführte Täter in Frage; bei Bagatelltaten, die ohnehin eingestellt werden, soll sie nicht statt-
Das Kooperationsmodell zum Täter-Opfer-Ausgleich im Allgemeinen Strafrecht
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finden. Es muss im Regelfall eine natürliche Person als Opfer vorhanden sein. Lediglich ausnahmsweise kann es, etwa wenn die Allgemeinheit geschädigt ist, auch sinnvoll sein, eine symbolische Wiedergutmachung herbeizuführen. 2. „TOA-geeignet“ sind, je nach dem Einzelfall, die verschiedensten Straftaten. Eine sinnvolle Abgrenzung kann nicht nach den Tatbeständen des Strafgesetzbuches getroffen werden; allerdings scheiden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nahezu immer aus. 2. Auch Straftaten, die sonst auf den Privatklageweg verwiesen würden – wie Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und Körperverletzung – belasten die Opfer nicht selten so schwer, dass die Verweisung auf den Weg der Privatklage ihnen grob unangemessen erscheint. In solchen Fällen bietet der TOA eine Möglichkeit, den Opferinteressen besser gerecht zu werden. 2. Die Staatsanwaltschaft wählt die TOA-geeigneten Fälle aus. Sie schreibt Opfer und Täter gleichzeitig an und bittet sie um ihr Einverständnis mit dem Versuch eines Täter-Opfer-Ausgleiches. Dabei ist jeder über die bloße Anfrage hinausgehender Versuch, das Opfer zur Mitwirkung zu bewegen, zu vermeiden. Die Teilnahme am TOA ist für beide Seiten freiwillig. 2. Dem Täter teilt der Staatsanwalt nur allgemein mit, dass sich ein gelungener TOA zu seinen Gunsten auswirken kann; konkrete Versprechungen – etwa einer Einstellung gem § 153b StPO – dürfen zunächst nicht gemacht werden. 2. Falls Opfer und Täter dem Versuch zustimmen, wendet sich das Opfer an den Opferhilfeverein und der Täter an die Gerichtshilfe, wo beide durch speziell ausgebildete KonfliktberaterInnen im Hinblick auf den TOA beraten werden. Das betreffende Verfahren erscheint nicht in der staatsanwaltschaftlichen „6-Monats-Liste“. 3. Wenn Opfer und Täter zur Mitwirkung bereit sind, erkunden die MitarbeiterInnen des Opferhilfevereines die Vorstellungen des Opfers über einen außergerichtlichen Tatausgleich sowohl hinsichtlich der materiellen wie der immateriellen Aspekte; dasselbe geschieht durch die Gerichtshilfe hinsichtlich des Täters. 4. Die MitarbeiterInnen des Opferhilfevereines und der Gerichtshilfe informieren sich gegenseitig über die bestehenden Vorstellungen von Opfer und Täter. 5. Anschließend findet im Regelfall das eigentliche Ausgleichsgespräch mit vier Beteiligten (bei Mehrheit von Opfern bzw. Tätern auch zu noch mehreren)
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statt. Über dessen Ergebnis wird ein gemeinsamer Bericht der „Arbeitsgemeinschaft TOA“ angefertigt und der StA zugeleitet. 6. Die StA berücksichtigt den gelungenen TOA bei der weiteren Verfahrensgestaltung (Einstellung nach Erfüllung der Verpflichtungen aus dem TOA durch den Täter bzw. Anklage mit dem Ziel, den TOA strafmildernd zu berücksichtigen). Auch einen nicht abgeschlossenen TOA berücksichtigt die StA unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles (siehe unter 7.) gegebenenfalls zugunsten des Täters. 7. Es muss geklärt werden, ob sich der Täter um einen TOA ernsthaft bemüht hat, da ihm auch dies gem. § 46a StGB angerechnet werden kann. Von dem Verhältnis der Schwere der Tatschuld zum Umfang und der Ernsthaftigkeit der vom Täter angebotenen Leistungen wird es abhängen, ob seine Bereitschaft zum TOA als ernsthaftes „Sich-Bemühen“ anerkannt und zu seinen Gunsten berücksichtigt werden kann. 8. Die beteiligten TOA-Vermittler sollen – dies gilt für die MitarbeiterInnen der Opferhilfevereine wie der Gerichtshilfen – eine spezielle Fortbildung zum TOA-Vermittler erhalten; hierbei sind die Angebote des „TOA-ServiceBüros“ der Deutschen Bewährungshilfe wahrzunehmen. Essentiell für das Funktionieren des Kooperationsmodells ist ein guter fachlicher Kontakt zwischen den Staats- und Amtsanwälten und den Arbeitsgemeinschaften TOA sowie zwischen den jeweils beteiligten Vermittlern, der nur auf der Basis einer dauernden Zusammenarbeit zustande kommt. Dieses Modell wurde von Dezember 1996 bis zum 31. 12. 2002 im Geschäftsbereich der Staatsanwaltschaft Hanau in Form einer Arbeitsgemeinschaft von einem Gerichtshelfer „auf Seiten der Täter“ und einem Sozialpädagogen der HANAUER H!LFE „auf Seiten der Opfer“ umgesetzt. Die in vielen Fällen erfolgreiche Durchführung des TOA hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass der TOA in geeigneten Fällen ein adäquates Verfahren zur Lösung strafrechtlich relevanter Konflikte darstellt. Dennoch beschloss die Staatsanwaltschaft Hanau im Sommer 2002, sich ab dem Jahr 2003 nicht mehr am Kooperationsmodell zu beteiligen und befürwortete stattdessen die Durchführung des TOA einem externen Projekt in alleiniger Zuständigkeit zu übertragen.
Die modifizierte Konzeption ab 2003 von Rolf Guntermann (2002)
Bereits bei der Gründung der HANAUER H!LFE in 1984 wurde in der Vereinssatzung festgehalten, dass eine angemessene Unterstützung für Opfer von Straftaten in geeigneten Fällen auch im Versuch einer Aussöhnung mit dem Täter bestehen kann. Zudem war der Täter-Opfer-Ausgleich nach sechs Jahren TOA-Praxis im Kooperationsmodell zu einem wichtigen Teilbereich praktischer Opferunterstützung geworden. Deshalb wurde vereinsintern sehr intensiv die Frage diskutiert, ob die HANAUER H!LFE den TOA im Erwachsenenstrafrecht zukünftig in alleiniger Zuständigkeit durchzuführen bereit ist. In einem solchen „Einhandmodell“ müsste die HANAUER H!LFE dann selbstverständlich die Funktion eines allparteilichen Vermittlers übernehmen, so dass auch für die angemessene Berücksichtigung von berechtigten Täterinteressen Sorge getragen werden kann. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile bzw. der denkbaren Probleme oder der sich eröffnenden Chancen wurde sehr schnell deutlich, dass unser Verein den Arbeitsbereich TOA als sinnvollen und komplementären Bestandteil unserer Angebotspalette beibehalten wollte. Dieses Modell, einer Opferhilfeeinrichtung das TOA-Verfahren zu übertragen, hatte sich bereits seit einiger Zeit bei der Giessener Hilfe e.V. bewährt. Dort hat sich deutlich gezeigt, dass in der Praxis die Wahrung von Opferinteressen wie auch die Herbeiführung gleichermaßen gerechter Konfliktlösungen für Beschuldigte wie Geschädigte möglich ist. Der TOA bietet durch die gleichberechtigte Mitwirkung der am Konflikt Beteiligten und durch die Möglichkeit, straf- und zivilrechtliche Belange in nur einem „Ausgleichsgespräch“ zu regeln, erhebliche Vorteile gegenüber herkömmlichen Straf- und Zivilverfahren.
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Dememtsprechend wurde dem HMdJ eine modifizierte Konzeption vorgelegt, auf deren Grundlage das Ministerium nach einem Anhörungs- und Auswahlverfahren die HANAUER H!LFE mit der alleinigen Durchführung des Erwachsenen-TOA ab dem 01. 01. 2003 beauftragte.
Der modifizierte Verfahrensablauf im Täter-Opfer-Ausgleich: Die Staatsanwaltschaft wählt die TOA-geeigneten Fälle aus und leitet sie an die HANAUER H!LFE e.V. weiter. Diese fragt Täter und Opfer zeitgleich schriftlich an, ob Interesse an einem TOA besteht. Die Teilnahme am TOA ist für beide Seiten freiwillig. Das betreffende Verfahren erscheint nicht in der staatsanwaltlichen „6-Monats-Liste“. Falls Opfer und Täter dem Versuch zustimmen, werden beide in getrennten Vorgesprächen von der HANAUER H!LFE umfassend beraten und über die materiellen wie immateriellen Aspekte eines außergerichtlichen Tatausgleichs informiert. Anschließend findet im Regelfall das eigentliche Ausgleichsgespräch mit dem allparteilichen Vermittler der HANAUER H!LFE statt. Wird im Ausgleichsgespräch eine Übereinkunft hinsichtlich einer außergerichtlichen Konfliktregelung getroffen, schließen die Beteiligten hierüber eine schriftliche Vereinbarung. Die HANAUER H!LFE überprüft, ob die vereinbarte Wiedergutmachung auch tatsächlich geleistet wurde. Die Staatsanwaltschaft erhält darüber abschließend einen Bericht. Die Staatsanwaltschaft berücksichtigt den gelungenen TOA bei der weiteren Verfahrensgestaltung (Einstellung nach Erfüllung der Verpflichtungen aus dem TOA durch den Täter bzw. Anklage mit dem Ziel, den TOA strafmildernd zu berücksichtigen). Auch einen nicht abgeschlossenen TOA berücksichtigt die StA unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles gegebenenfalls zugunsten des Täters.
Die modifizierte Konzeption ab 2003
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Fallauswahl und Zuweisungskriterien: Dem TOA liegen vorwiegend Strafverfahren der leichten bis mittelschweren Kriminalität zugrunde. Es handelt sich stets um einen Konflikt zwischen Personen. Die Staatsanwaltschaft entscheidet im Einvernehmen mit einem Vertreter der HANAUER H!LFE über die Eignung eines Falles zum TOA. Die nachfolgende Auflistung ist identisch mit der für das „Kooperationsmodell“ getroffenen Vereinbarung: 1.
Allgemeine Zuweisungskriterien
1.1 Zuständigkeit des Amtsgerichts 1.2 Täterschaft muss wahrscheinlich sein im Sinne eines allgemeinen Tatverdachts (mehr als Anfangsverdacht) 1.3 Grundsätzlich natürliche Person(en) als Opfer der Straftat(en) 1.4 Kein Bagatelldelikt, das folgenlos eingestellt würde (z. B. § 153 StPO) 1.5 Bei Antragsdelikten: Vorliegen eines Strafantrags und Annahme sowie Vorliegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung 1.6 Nicht bei Vorliegen einer Drogenabhängigkeit (auch offensichtlicher Alkoholabhängigkeit), bei bereits eingeleiteten oder bevorstehenden psychotherapeutischen Maßnahmen sowie erkennbaren psychischen Erkrankungen 1.7 Keine Delikte aus dem Sexualstraftatenbereich, ausgenommen Beleidigungen auf sexueller Basis 1.8 Delikte aus dem familiären Bereich sind grundsätzlich nicht ausgeschlossen, sollen allerdings nur ausnahmsweise dem TOA zugeführt werden 1.9 Täter, bei denen auch unter Berücksichtigung ihrer Vorstrafen noch eine positive Haltung zum TOA erwartet werden kann 1.10 Mit Täter bzw. Opfer sollte in der Regel eine Verständigung in der deutschen Sprache möglich sein 1.11 Keine Fahrlässigkeitsdelikte 2.
Deliktkatalog/spezielle Zuweisungskriterien
2.1 Straftaten gegen die Gesundheit, Freiheit, Privatsphäre, Ehre und das Hausrecht. Ausnahme: Misshandlung von Schutzbefohlenen 2.2 Falsche Verdächtigung
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2.3 Eigentums- und Vermögensdelikte 2.4 Sachbeschädigung 2.5 Wilderei 2.6 Vollrausch 2.7 Straftaten aus strafrechtlichen Nebengesetzen 2.8 Straftaten, die ein Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB darstellen, wenn eine Konfliktschlichtung als angemessen erachtet wird. Unsere Erfahrung aus über 6-jähriger TOA-Praxis zeigt, dass die Eignung eines Falles für ein TOA-Verfahren oft mehr von den Umständen des Einzelfalles abhängt als von den Tatbeständen des Strafgesetzbuches: 䊏 besonders geeignet sind Fälle, bei denen zwischen Täter und Opfer keine Vorbeziehung bestand, 䊏 nur bedingt geeignet sind Konflikte z. B. aus Nachbarschaftszusammenhängen, vor allem dann, wenn diese Konflikte bereits über einen langen Zeitraum bestehen, 䊏 generell problematisch und nur im Einzelfall geeignet sind Delikte aus Paarund Familienkonflikten, vor allem bei Fällen „häuslicher Gewalt“. Da zudem offenbar die Durchführung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Erwachsenenstrafrecht mit größeren Schwierigkeiten verbunden ist als im Bereich des Jugendstrafrechts, erfordert das Arbeitsfeld TOA neben klar strukturierten Rahmenbedingungen auch vor allem gut ausgebildete und erfahrene Vermittler. Nach erfolgtem TOA kann die Staatsanwaltschaft: 䊏 das Verfahren bei Rücknahme des Strafantrags gem. § 170 II StPO einstellen, 䊏 das Verfahren gem. § 153 I StPO einstellen, 䊏 das öffentliche Interesse gem. § 379 StPO verneinen, 䊏 das Verfahren gem. § 153 a StPO einstellen, 䊏 den Erlass eines Strafbefehls über eine Geldstrafe beantragen oder 䊏 trotzdem Anklage erheben und dem Gericht das Ergebnis der Vermittlung mitteilen.
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Anhang: Gesetzestexte (Auswahl): § 46 a StGB: § 46a (Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung) Hat der Täter 1. in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (TäterOpfer-Ausgleich), seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wieder gutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt oder 2. in einem Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt, so kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu dreihundertsechzig Tagessätzen verwirkt ist, von Strafe absehen. § 155 a und 155b StPO: § 155a (Hinwirkung auf Ausgleich) (1) Die Staatsanwaltschaft und das Gericht sollen in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeiten prüfen, einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu erreichen. In geeigneten Fällen sollen sie darauf hinwirken. Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten darf die Eignung nicht angenommen werden. § 155b (Täter-Opfer-Ausgleich) (1) Die Staatsanwaltschaft und das Gericht können zum Zwecke des TäterOpfer-Ausgleiches oder der Schadenswiedergutmachung einer von ihnen mit der Durchführung beauftragten Stelle von Amts wegen oder auf deren Antrag die
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hierfür erforderlichen personenbezogenen Informationen übermitteln. Die Akten können der beauftragten Stelle zur Einsichtnahme auch übersandt werden, soweit die Erteilung von Auskünften einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde. Eine nicht .öffentliche Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sie die übermittelten Informationen nur für Zwecke des Täter-Opfer-Ausgleichs oder der Schadenswiedergutmachung verwenden darf. (2) Die beauftragte Stelle darf die nach Absatz 1 übermittelten personenbezogenen Informationen nur verarbeiten und nutzen, soweit dies für die Durchführung des Täter-Opfer-Ausgleichs oder der Schadenswiedergutmachung erforderlich ist und schutzwürdige Interessen des Betroffenen nicht entgegenstehen. Sie darf personenbezogene Informationen nur erheben sowie die erhobenen Informationen verarbeiten und nutzen, soweit der Betroffene eingewilligt hat und dies für die Durchführung des Täter-Opfer-Ausgleichs oder der Schadenswiedergutmachung erforderlich ist. Nach Abschluss ihrer Tätigkeit berichten sie in dem erforderlichen Umfang der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht.
§ 823 und 847 BGB: § 823 (Schadensersatzpflicht) (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. § 847 (Schmerzensgeld) (1) Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen. Der Anspruch ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, dass er durch Vertrag anerkannt oder dass er rechtshängig geworden ist.
Klare Grenzen? Zum Verhältnis von Opferhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich von Rolf Guntermann (2008)
Unter diesem Titel fand am 28. und 29. Januar 2008 eine Fachtagung in Schmerlenbach bei Aschaffenburg statt: Diese Fachtagung wurde vom Arbeitskreis der Opferhilfen (ado) in Zusammenarbeit mit dem „DBH-Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik“ und dem „Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschichtung“ veranstaltet. Der ado bot mit dieser Tagung insbesondere MitarbeiterInnen aus der Opferhilfe und dem TOA ein Forum zum Dialog und Erfahrungsaustausch. Dabei war es Ziel, wirksame Opferunterstützung und angemessenen Opferschutz konstruktiv weiterzuentwickeln. Zur Einführung in das Tagungsthema hielt Rolf Guntermann als Vertreter des ado und aus Sicht eines opferorientierten TOA den nachfolgenden Vortrag: Das Thema unserer Fachtagung lautet: „Klare Grenzen? Zum Verhältnis von Opferhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich (TOA)“ und trägt den Untertitel „Begegnung von Opfer und Täter im TOA – Chancen und Gefahren für Kriminalitätsopfer“. Unser Anliegen bei dieser Fachtagung ist es, den TOA aus der Perspektive der Kriminalitätsopfer zu beleuchten. Wir wollen der Frage nachgehen, welche Chancen aber auch welche Gefahren für Opfer in einer Begegnung mit „ihrem Täter“ bzw. „ihrer Täterin“ liegen. In welchen Fällen und unter welchen Bedingungen ist für Opfer ein TOA hilfreich, die erlittene Straftat und deren Folgen zu verarbeiten bzw. zu überwinden und wo liegen mögliche Grenzen? Was hat uns als „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland“ (ado) bewogen, diese Fachtagung in Zusammenarbeit mit der „DBH – Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik“ und dem „Servicebüro für TäterOpfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung“ zu veranstalten?
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Im ado, der nunmehr seit fast 20 Jahren besteht, sind neben reinen Opferhilfeeinrichtungen (wie die Opferhilfe Berlin oder die Opferhilfe Hamburg) auch solche Opferhilfeeinrichtungen, die auch den TOA anbieten (wie die Wiesbadener Hilfe oder die Giessener Hilfe), und reine TOA-Einrichtungen wie die Konfliktschlichtung Oldenburg und die Waage Köln) vertreten. Die Grundsatzfrage nach den Möglichkeiten aber auch den Grenzen des TOA ist von daher schon verbandsintern ein wichtiges fachliches Thema. Darüber hinaus hat sich der ado zum Ziel gesetzt, sich öffentlichkeitswirksam mit aktuellen opferbezogenen Themen auseinanderzusetzen und im Interesse von Opfern von Straftaten, aber nicht zu Lasten der Täter, Stellung zu beziehen. Dabei geht es uns um einen angemessenen Opferschutz und den Ausbau von qualifizierter Opferunterstützung. Aber auch einen relativ aktuellen Anlass gibt es, diese Fragestellung im Rahmen einer Fachtagung zu diskutieren. Es ist das 11. TOA-Forum 2006 in Mainz, auf dem eine Vielzahl von Maßnahmen und Ideen vorgestellt wurden, um den TOA zu einer breiteren Anwendung zu verhelfen. Unter anderem wurde vorgeschlagen, entgegen der langjährigen Praxis, zukünftig auch schwere Straftaten in das TOA-Verfahren einzubeziehen. Was ist das Motiv für einen solchen Vorschlag? Ist er durch langjährige Erfahrung in der praktischen Umsetzung des TOA fachlich zu begründen? Ist dieser Vorschlag tatsächlich im Interesse von betroffenen Kriminalitätsopfern oder birgt er das Risiko, dass Opfer lediglich für Täterinteressen instrumentalisiert werden? Als die Hanauer Hilfe 1984 als erste professionelle Opferhilfeeinrichtung in Deutschland gegründet wurde, wurde bereits in der Satzung festgelegt, dass Opferhilfe in geeigneten Fällen auch im Versuch einer Aussöhnung mit dem Täter bestehen kann. Mit großem Interesse haben wir deshalb schon seit Mitte der 80er Jahre die Entwicklung der ersten bundesdeutschen Modellprojekte zum TOA im Jugendstrafrecht verfolgt. Deren Erfahrungen haben uns gezeigt, dass ein gut vorbereitetes und sorgfältig begleitetes Ausgleichs-Gespräch zwischen Opfer und Täter einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung der Folgen der Straftat leisten kann.
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Nachdem im Jahr 1994 mit der Einführung des Paragraphen 46a StGB die Rechtsgrundlage für die Durchführung des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) im allgemeinen Strafrecht (Erwachsenenstrafrecht) geschaffen wurde, erweiterte die Hanauer Hilfe deshalb 1996 ihr Beratungsangebot um den Arbeitsbereich „TOA für Erwachsene“. Unser Schritt, als Opferhilfeeinrichtung auch den TOA anzubieten, stieß damals nicht nur auf ein wohlwollendes Interesse bei anderen Opferhilfen. Es war auch Misstrauen und Skepsis zu spüren. Sollte hier etwa eine Abkehr von der Opferorientierung und die altbekannte Hinwendung zum Täter erfolgen? Anfangs in Kooperation mit der Gerichtshilfe, ab 2003 dann alleinverantwortlich als allparteiliche Konfliktvermittler, übernahmen wir die Bearbeitung von Fällen leichter bis mittelschwerer Kriminalität im TOA für den Landgerichtsbezirk Hanau. Mit der Staatsanwaltschaft wurden entsprechende Fallzuweisungskriterien analog zum Projekt „Waage“ in Hannover vereinbart. Ausdrücklich ausgenommen wurden Delikte aus dem Sexualstraftatenbereich. Delikte aus dem familiären Bereich, insbesondere Fälle „häuslicher Gewalt“ sollten nicht regelhaft, sondern nur ausnahmsweise zugewiesen werden. Stattdessen sollten die betroffenen Opfer auf unser Opferhilfeangebot hingewiesen werden. In den zurückliegenden Jahren haben wir eine breite Palette von Delikten im TOA bearbeitet. Von der Beleidigung, Nötigung über Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Diebstahl, Betrug, Körperverletzung bis hin zur gefährlichen Körperverletzung und Raubdelikten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Eignung eines Falles für ein TOA-Verfahren oft mehr von den Umständen des Einzelfalles abhängt, als von den Tatbeständen des Strafgesetzbuches. Unser Interesse für den Täter-Opfer-Ausgleich entwickelte sich damals auch aufgrund der von Opfern häufig geäußerten Unzufriedenheit mit ihrer Stellung im herkömmlichen Strafrechtssystem, vor allem mit ihren relativ geringen Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung. Zudem ist für viele Opfer die Aufspaltung „ihres Falles“ in ein Strafverfahren und ein anschließendes Zivilverfahren völlig lebensfremd. Sie betrachten „ihren
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Fall“ als Einheit, im dem die Sanktionierung des Täters und die Schadenswiedergutmachung zusammengehören. In geeigneten Fällen ermöglicht der TOA diese „ganzheitliche“ Umgehensweise mit Straftaten und ihren Folgen. Ein erfolgreicher TOA kann sowohl das Bedürfnis von Opfern nach einem „Denkzettel“ für „ihren“ Täter erfüllen, als auch die gewünschte Wiedergutmachung realisieren. Nach unseren Erfahrungen ist die Akzeptanz für einen TOA-Versuch bei vielen Opfern durchaus vorhanden. Die grundsätzliche Ablehnung eines TOAVersuchs von Opferseite ist bei uns nicht signifikant höher als von Täterseite. Ein gelungener TOA entspricht den Bedürfnissen vieler Opfer, „ihren“ Täter mit „seiner“ Tat und den damit verbundenen Tatfolgen zu konfrontieren sowie seine Verantwortung dafür und eine aufrichtige Entschuldigung einzufordern. Opfer haben die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von einer angemessenen oder als gerecht empfundenen Wiedergutmachung in das Ausgleichsgespräch einzubringen. Der Täter muss sich mit den Folgen seiner Tat unmittelbar auseinandersetzen und wird in die Pflicht genommen, durch eigene konstruktive Leistungen zur Beseitigung bzw. Minderung der Tatfolgen beizutragen. In den Fällen, in denen beide Seiten grundsätzlich einem TOA-Versuch zustimmen, kommt es bei uns in immerhin ca. 75% aller Fälle auch zu einer Einigung und zur Unterzeichnung einer entsprechenden TOA-Vereinbarung. Der TOA bietet somit Opfern die Möglichkeit, die Passivität ihrer Opferrolle zu verlassen und sich aktiv für ihre Interessen einzusetzen. Diese Erfahrung, eine als gerecht empfundene außergerichtliche Einigung ausgehandelt zu haben, erleichtert es vielen Opfern, mit dem Tatgeschehen abzuschließen und die Belastungen des zuvor noch schwebenden Verfahrens quasi „hinter sich zu lassen“. Ein Handschlag zwischen Täter und Opfer besiegelt oftmals symbolisch die Beendigung einer für beide Seiten als psychisch belastend empfundenen Situation. Dass im Anschluss daran die ausgehandelte TOA-Vereinbarung auch in weit mehr als 90% der Fälle vollständig eingehalten wird, unterstreicht m. E. die Tragfähigkeit der erzielten außergerichtlichen Einigung.
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Die in vielen Fällen erfolgreiche Umsetzung des TOA hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass der TOA in geeigneten Fällen ein auch für Opfer angemessenes Verfahren zur Lösung strafrechtlich relevanter Konflikte darstellt. Damit ist der TOA für uns zu einem wichtigen Teilbereich praktischer Opferunterstützung geworden. Dabei hat es sich durchaus als vorteilhaft herausgestellt, dass Opferhilfe und TOA gewissermaßen „unter einem Dach“ arbeiten. In manchen Fällen, in denen Opfer entweder anstatt eines TOA-Versuchs oder auch nach einem TOA zusätzlich eine weitergehende Beratung oder Unterstützung wünschten, konnten wir diese Opfer an eine Kollegin oder eine Kollegen aus dem Arbeitsbereich Opferhilfe weitervermitteln. Vereinzelt geschah dies auch umgekehrt. Opfer, die zunächst die Opferberatung aufsuchten, entschieden sich nach erfolgter Beratung, einen TOA versuchen zu wollen. Inwieweit lassen sich aber nun die positiven TOA-Erfahrungen, die wir in Fällen leichter bis mittelschwerer Kriminalität gemacht haben, auch in bestimmten Einzelfällen auf schwerere Straftaten übertragen? Aus der Opferforschung und aus der Praxis der Opferhilfe wissen wir, dass die wesentlichsten Verletzungen bei Kriminalitätsopfern die psychischen, emotionalen und sozialen Verletzungen sind. Dazu kommt vor allem bei Gewaltopfern die Angst, eine solche Tat könne ihnen noch einmal passieren. In der Regel besonders geschädigt oder verletzt empfinden sich Opfer von Gewaltkriminalität, Bedrohung und sexueller Gewalt. Besonders gravierend ist es häufig, wenn der Täter zudem noch aus dem sozialen Umfeld des Opfers stammt. Wir wissen aber auch, dass es das typische Opfer nicht gibt. Opfer reagieren völlig unterschiedlich auf die ihnen zugefügte Straftat. Sie gehen mit solchen Situationen auch ganz unterschiedlich um. Dies belegen z. B. unsere Erfahrungen mit Opfern, die Opfer desselben Delikts geworden sind (etwa Bankangestellte, die gemeinsam einen bewaffneten Raubüberfall erlebt haben). Das subjektive Erleben der Tat und das Ausmaß der subjektiv empfundenen Verletzungen differieren oftmals ganz erheblich. Zu verschieden sind die bis zu dem Ereignis gemachten Lebenserfahrungen, die soziale Lebenssituation und die vorhandenen Bewältigungsstrategien. Bei fast allen Opfern steht aber der Wunsch im Vordergrund, möglichst schnell wieder mit ihrem Alltagsleben zurechtzukommen. Deshalb benötigen verletzte Opfer vor allem ein individuelles Eingehen auf ihre persönliche Situation.
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Rolf Guntermann
Wenn wir also Kriminalitätsopfer dabei unterstützen wollen, ihre primäre Viktimisierung im Sinne einer Heilung zu verarbeiten und ihnen helfen wollen, ihre Opferrolle zu verlassen, müssen wir auch danach fragen, ob und wenn inwieweit eine Einbeziehung des Täters oder der Täterin dabei hilfreich sein kann. Da wir aber auch wissen, wie leicht Opfer durch Fehlreaktionen ihres sozialen Umfeldes (z. B. durch Bagatellisierung der erlittenen Verletzung) zusätzlich geschädigt werden können, ist bei dieser Frage besondere Sorgfalt notwendig. Verletzte Opfer dürfen nicht ein weiteres Mal (im Sinne einer sekundären Viktimisierung) geschädigt werden. Ist es also unter psychotraumatologischen Gesichtspunkten vertretbar, auch von schweren Delikten betroffene Kriminalitätsopfer einfach nach ihrer Bereitschaft zu einem TOA-Versuch zu fragen? Oder müssen wir uns zunächst einmal selbst fragen, was wir denn diesen Opfern anzubieten haben? Brauchen wir möglicherweise modifizierte Standards für ein denkbares TOAVerfahren bei schwereren Delikten? Sollten wir dabei die „indirekte“ Vermittlung stärker in Betracht ziehen als die direkte persönliche Begegnung zwischen Opfer und Täter? Und wie sieht es mit einem denkbaren Zeitpunkt für einen TOA-Versuch aus? Könnte dieser evtl. besser im Rahmen der Hauptverhandlung oder auch erst danach erwägenswert sein? Vielleicht brauchen wir sogar ein erheblich erweitertes Konzept, das beispielsweise die Kooperation mit einer Opferhilfeeinrichtung vorsieht? Sollte ein TOA-Verfahren grundsätzlich nur dann eingeleitet werden, wenn das betroffene Opfer von sich aus diesen Wunsch äußert? Oder aber umgekehrt nur dann, wenn der Täter ein umfassendes Schuldeingeständnis abgelegt und einen konkreten Wiedergutmachungsvorschlag anzubieten hat? Oder müssen evtl. sogar beide Voraussetzungen zugleich erfüllt sein? Vor allem aber; wie lassen sich die Grenzen für einen TOA-Versuch bei schweren Delikten fachlich definieren? Als ich in Vorbereitung dieser Tagung mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Opferhilfe und dem TOA gesprochen habe, habe ich manchmal gespürt welch ein Konfliktpotential die Fragestellung unserer Fachtagung offenbar enthält und wie viele Emotionen sie auslöst.
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Wenn man einerseits kritisch hinterfragt, ob denn auch schwere Straftaten für ein TOA-Verfahren geeignet sein könnten, wird man von TOA-Seite aus sehr leicht als ein grundsätzlicher Gegner des TOA angesehen. Warum fühlen wir uns eigentlich gleich so bedroht? Sind wir nur dann gute TOA-VermittlerInnen, wenn wir uns auch an schwere Delikte heranwagen? Wenn man andererseits auch nur in Erwägung zieht, dass unter ganz bestimmten Umständen im Einzelfall ein TOA-Versuch bei schweren Delikten durchaus für die betroffenen Opfer hilfreich sein könnte, wird man sehr leicht von OpferhilfeSeite in die Nähe von Gegnern von Opferschutz und Opferunterstützung gerückt. Sind wir nur dann gute OpferhelferInnen, wenn wir uns ungeachtet des Einzelfalls schützend vor die Opfer stellen und jegliche Gedanken an eine mögliche Einbeziehung des Täters tabuisieren? Eine Fachdiskussion über Möglichkeiten und Grenzen des TOA ist aus meiner Sicht allein schon aufgrund der bestehenden Gesetzeslage erforderlich. Im Erwachsenenstrafrecht existiert keine Begrenzung hinsichtlich der Anwendbarkeit des TOA-Verfahrens. Rein juristisch gesehen, ist der TOA prinzipiell bei allen Straftatbeständen anwendbar. Ein Ausschluss bestimmter Delikte, beispielsweise schwere Gewalt- und Sexualstraftaten, ist nicht vorgesehen. Umso notwendiger erscheint es mir, dass Expertinnen und Experten aus der Opferhilfe, der Straffälligenhilfe und dem TOA gemeinsam versuchen sollten, umfassendere Falleignungs- und Fallzuweisungskriterien als bisher für den TOA zu entwickeln. Beispielsweise heißt das: Welche Kriterien für einen TOA-Versuch müssen grundsätzlich erfüllt sein? 䊏 Auf Täterseite? 䊏 Auf Opferseite? 䊏 In Bezug auf die Straftat und die möglichen Tatfolgen? 䊏 Und nicht zuletzt in Bezug auf die konzeptionellen Rahmenbedingungen des TOA-Verfahrens? Mit dieser Fachtagung möchte der ado einen Beitrag zu dieser Fachdiskussion leisten.
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Opfer von Straftaten zwischen Justiz und Traumatherapie – Konkurrenz oder Kooperation? von Kirsten Stang und Prof. Dr. Ulrich Sachsse (2009)
Opfer von Straftaten und insbesondere Opfer sexueller Gewalt brauchen oft therapeutische Unterstützung. Dies gilt umso mehr, wenn die akute Traumatisierung eine Posttraumatische Belastungsstörung zur Folge hat. Therapie bedeutet eine Verarbeitung der Erinnerung, ein Strafprozess verlangt von der Opferzeugin eine Erinnerung, die von Verfremdungen und Verarbeitungsprozessen weitestgehend unbeeinflusst ist. Das Trauma muss in jeder Vernehmung, sei es bei der Polizei oder vor Gericht, aktualisiert werden. Für Berater und Helfer stellt sich deshalb die Frage, ob sie zu einer Strafanzeige raten sollen und wie sie ein Opfer durch den Strafprozess begleiten können. Besonders schwierig sind diese Fragen zu beantworten, wenn die Traumata lange zurück liegen oder gravierende Folgen wie eine Suchterkrankung oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörungen zur Folge hatten. Das Diagnostische und Statistische Manual der American Psychiatric Association DSM-IV definiert als Kriterium A1 der Posttraumatischen Belastungsstörung (309.81) ein Trauma wie folgt: 䊏 A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: (1) die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten, (2) die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Diese Definition ist richtig und wichtig. Eine lebensgefährliche Situation ist per se noch kein Trauma. Traumatisch wird eine solche Gefahrensituation erst dadurch, dass wir uns nicht selbst helfen können und uns auch nicht geholfen wird.
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Insbesondere Frauen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen BPS, komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung kPTBS, schweren Depressionen und Suchtkrankheiten sind als Kinder und Jugendliche, aber auch in erwachsenen Partnerschaften oder anderen Beziehungen sehr oft Opfer sexualisierter oder physischer Gewalt geworden sind und erwägen irgendwann, die Täter anzuzeigen. Die Frage „Anzeigen oder nicht anzeigen?“ kann gerade auch im Rahmen einer Psychotherapie sehr drängend werden. Diesem Problemfeld haben wir ein gemeinsames Buch gewidmet (Stang and Sachsse 2007). Borderline-Patientinnen sind zu über 60 Prozent Opfer sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend geworden (Zanarini 1997; Kernberg, Dulz et al. 2000). Unabhängig davon, ob ihre Psychotherapie auf der Basis der verhaltenstherapeutischen, der psychodynamischen oder der traumazentrierten Sichtweise durchgeführt wird, werden diese Traumata im Rahmen der Psychotherapie aktualisiert werden. Was BeraterInnen, TherapeutInnen, PsychologInnen und ÄrztInnen dann zu hören bekommen, ist schreiendes Unrecht. Die Palette reicht von einer pseudoliberal-modernen, in Wirklichkeit schlüpfrig-anzüglichen, provokanten Familienatmosphäre ohne Generationsgrenzen auf der einen Seite (Hirsch 1987) bis hin zu Kinderpornografie, Verkauf der eigenen Kinder zur Finanzierung der Suchtkrankheit der Eltern und Kindertausch im Kreise Gleichgesinnter auf der anderen Seite. Diese Berichte der Patientinnen erschüttern die therapeutisch arbeitenden „Professionellen“ und verlangen zwingend nach Gerechtigkeit. Für viele ist es dann sehr schwer, eine Art buddhistische Haltung einzunehmen, die zunächst einmal nur konstatiert „So war es“, ohne zu handeln. Einige feministische Therapeutinnen der Vergangenheit haben eine Strafanzeige als gesellschaftspolitisches Mittel verstanden, um das Patriarchat zu bekämpfen. Ihnen wurde zu Recht ein „Missbrauch mit dem Missbrauch“ vorgeworfen (Rutschky 1992). Wenn die verfolgten gesellschaftspolitischen Ziele nicht genuin zweifelsfrei von der Klientin ausgingen, sondern von engagierten Professionellen an sie herangetragen wurden, dann geschah eine erneute Funktionalisierung: Die eigenen Interessen wurden an die Klientin herangetragen, dieser möglicherweise übergestülpt und sollten von ihr oder zumindest durch sie verwirklicht werden. Diese Verwendung geschädigter Menschen zum Mittel der eigenen Interessenverfolgung kann im Extrem erneut traumatisieren. Überengagierte und unreflektierte Anzeigen von in der Kindheit und Jugend erlebter Gewalt sind heute selten geworden. Jeder Beraterin und jedem Therapeu-
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ten ist inzwischen völlig klar: Ein juristischer Prozess ist nicht die Fortsetzung der Psychotherapie mit anderen Mitteln. Juristinnen und Therapeuten denken vielmehr völlig unterschiedlich. Dies ist bereits eine Folge der unterschiedlichen professionellen Zielsetzung: die einen wollen (nur) eine Besserung der psychischen Situation der Patientin, die anderen wollen (nur) Gerechtigkeit erreichen. Das zieht nach sich, dass der Umgang mit dem Opfer ein völlig anderer ist. Keiner der beiden Umgangsformen ist falsch, die Beteiligten müssen aber um ihre Unterschiedlichkeit wissen. Psychiater und Psychologinnen, die erfahren und geschult sind in der Anwendung von Diagnosekriterien nach DSM IV und ICD 10, können sich wahrscheinlich am ehesten hineindenken in das Subsumptionsdenken der Juristen, jedenfalls sehr viel besser als psychodynamisch ausgebildete. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung müssen fünf von neun Kriterien des DSM IV erfüllt sein, damit die Diagnose gestellt werden darf. Damit der Straftatbestand „Vergewaltigung“ oder „sexuelle Nötigung“ angeklagt werden darf, müssen ebenfalls sehr genau definierte, verbindlich in den Gesetzestext gegossene Kriterien erfüllt sein. Diese Notwendigkeiten begründen sich darin, dass genau konstatiert werden muss, welches Verhalten dem Täter vorzuwerfen ist, weil auch nur dann festgestellt werden kann, ob überhaupt und wenn ja, welcher Straftat er schuldig und welche Strafe angemessen ist. Das Subsumptionsdenken bestimmt jede juristische Auseinandersetzung. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verlangt von der Justiz, ganz genau zu erforschen, was wann, wo, wie und von wem getan oder gelassen wurde. Es muss im Detail geklärt werden, wie weit eine Handlung gegangen ist, wie lange sie gedauert hat und welche einzelnen Handlungsabläufe präzise festzuhalten sind. Bei der Aufklärung eines Verstoßes gegen die sexuelle Selbstbestimmung kann das peinlich, demütigend und entblößend für ein Opfer sein. Nur so kann eine Vergewaltigung aber von einer sexuellen Nötigung und einer nicht strafbaren Handlung im Rahmen einer sexuellen Begegnung abgegrenzt werden. Nur so kann festgestellt werden, ob ein erschwerendes Merkmal wie das der Gruppenvergewaltigung oder des Verwendens einer Waffe erfüllt worden ist. Es ist deshalb ausgeschlossen, dass eine Klientin oder Patientin in der Vernehmung als Opferzeugin vage und unpräzise bleiben kann. Vielmehr wird jede Vernehmungsbeamtin versuchen, die Tatabläufe taktvoll, aber klärend so präzise wie möglich zu erfassen. Dieses Vorgehen kann für die Therapie schädlich sein, weil es triggert. Es mobilisiert die alten, vielleicht noch unverarbeiteten Erfahrungen. Für ein Ermittlungsverfahren
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und die Abwägung, ob eine Anklage Erfolg haben könnte, ist das Vorgehen unverzichtbar. Schon hier wird deutlich, dass Therapie und juristische Ermittlung Zielkonflikte beinhalten können, die nicht auflösbar sind. Das Eine kann das Andere jeweils erschweren oder verfälschen. Weder Klientinnen noch Therapeutinnen ist immer klar, dass Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zumindest wenn der Schweregrad der sexuellen Nötigung erreicht ist, sogenannte Offizialdelikte sind. Deren Bestrafung ist von allgemeiner Bedeutung für das Gemeinwesen. Der Staat hat gesetzlich festgelegt, dass er diese Delikte von sich aus nicht dulden wird, selbst wenn das Opfer sie nicht angezeigt will. Die Ermittlung und Strafverfolgung geschieht deshalb von Amts wegen und unabhängig vom Willen des Opfers. Eine Patientin kann ein Problem bekommen, wenn sie sich „einfach so“ an die Polizei mit der Frage wendet, wie sie einem früheren Täter Grenzen setzen kann. Ihr Ziel war es vielleicht nur, eine gerichtliche Anordnung zu erwirken, die dem früheren Täter ausdrücklich untersagt, mit ihr in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen. Im Rahmen dieser Erkundigung kann die Patientin aufgefordert werden zu berichten, was dieser Täter ihr denn vor zehn Jahren im Rahmen der gemeinsamen, dreijährigen Beziehung alles so angetan hat. Die Polizeibeamtin holt dann vielleicht eine Mitarbeiterin des Fachkommissariats Sexualstraftaten hinzu, die die Patientin umfangreich befragt. Und dann beginnt die Polizei von sich aus zu ermitteln. Viele Amtspersonen sind verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, wenn sie von solchen Delikten Erfahrung bekommen. Dies gilt uneingeschränkt für alle Mitarbeiter der Polizei, der Staatsanwaltschaft, eines Gerichtes, aber auch für manche Verwaltungsbeamte. Jetzt läuft unvermutet ein Ermittlungsverfahren gegen den Täter, das die Patientin gar nicht intendiert hat, das sie zum aktuellen Zeitpunkt ihrer therapeutischen Entwicklung überhaupt nicht wollte. Als Zeugin muss sie aber sogar an dem Verfahren mitwirken, so wie jeder andere Bürger unseres Staates auch. Jeder ist verpflichtet, den Ermittlungsbehörden und Gerichten als Zeuge uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen, wenn er sich dadurch nicht selbst (oder einen nahen Angehörigen) einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit bezichtigen muss oder durch die Aussage erhebliche gesundheitliche Schäden nehmen könnte. Diese gesundheitlichen Schäden müssen schon erheblich sein, um ein vorübergehendes Aussageverweigerungsrecht zu begründen. Und regelmäßig wird angefragt, ob der Gesundheitszustand denn nicht inzwischen eine Aussage möglich macht. Die ausstehende Aussage begleitet die Therapie und den Lebensabschnitt.
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Dies bedeutet, dass eine Patientin, die einen früheren Täter angezeigt hat, nicht mehr Herrin des Verfahrens ist und nicht einige Wochen später sagen kann „Ich hab’ mir das alles anders überlegt. Das ist für mich viel zu belastend, ich möchte das nicht mehr. Ich ziehe meine Anzeige zurück.“ Das kann die Opferzeugin nur wirksam tun, wenn sie in einem nahen Grade mit dem angeschuldigten Täter verwandt oder verschwägert ist. Dann hat sie ein Zeugnisverweigerungsrecht, sonst nicht. Verweigert sie trotzdem künftig die Zusammenarbeit, kann sie im Extremfall zur Aussage mit Zwangsgeld oder Beugehaft gezwungen werden. Das geschieht sicherlich nur in absoluten Ausnahmefällen, denn keine Polizei und kein Gericht hat ein Interesse daran, ein Vergewaltigungsopfer zum Opfer der Justiz zu machen. Aber es ist auch nicht so, dass die Sache rasch auf sich beruhen gelassen wird. Die Justiz ist auch zur Kriminalprävention aufgerufen, und auf diesem Hintergrund hat sie ein Interesse daran, dass ein Sexualdelikt juristisch geklärt und aufgearbeitet wird. Widerruft die Opferzeugin ihre bisherigen Aussagen, um endlich ihre Ruhe zu haben, bezichtigt sie sich dadurch gleichzeitig der Falschaussage und kann im Extremfall auch zu den bisher entstandenen Ermittlungskosten herangezogen werden. Sind bereits DNA-Bestimmungen gemacht worden, so kann dies sehr teuer werden. Der Staat akzeptiert nachvollziehbar nicht, dass seine Mitarbeiter aktiviert werden, einige Wochen später aber ins Leere laufen oder im Regen stehen gelassen werden. Dies muss sich jemand, der Anzeige erstattet, vorher überlegen. Es kann auch sein, dass aufgrund einer Anzeige bereits objektive Ermittlungsergebnisse vorliegen, die die Aussage überflüssig machen. Dann laufen die Ermittlungen weiter und es kann von Staats wegen zu einer Hauptverhandlung kommen, obwohl die anzeigende Patientin dies inzwischen überhaupt nicht mehr möchte. Auch in einem solchen Prozess müsste sie als Zeugin wahrheitsgemäß aussagen, wenn sie mit dem Täter nicht in einem nahen Grade verwandt oder verschwägert ist. Als anzeigende Opferzeugin hat die Patientin weitere Pflichten. Sofern es noch eine Möglichkeit gibt, Beweismittel zu sichern, muss sie an dieser Beweismittelsicherung mitwirken. Dazu kann eine körperliche Untersuchung gehören, das Anfertigen von Abstrichen aus Körperhöhlen, das Anfertigen von Fotos und eine gynäkologische Untersuchung. Alles dies wird heute von spezifisch geschulten, hoch kompetenten Fachleuten der Polizei, der Gerichtsmedizin und der Gynäkologie möglichst schonend durchgeführt. Aber belastend bleibt eine solche
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Spurensicherung. Wenn aber noch Spuren zu sichern sind, sollten Therapeutinnen ihre Patientinnen sehr dabei unterstützen, die Spurensicherung so rasch wie möglich durchführen zu lassen. Objektive Spuren erleichtern in einem späteren Prozess sehr vieles, manchmal sogar alles. Wenn es objektivierbare Belege für eine Überschreitung der Körpergrenzen, für Schläge oder Würgeversuche gibt, dann ist die Aussage vor Gericht durch Beweismittel gestützt und abgesichert. Dies ist immer viel besser, als wenn die Aussage der Opferzeugin das einzige Beweismittel bleibt. Sollte einer Patientin dann überhaupt zu einer Anzeige geraten werden? Therapeutinnen und Therapeuten, die viel mit komplex Traumatisierten bzw. Borderline-Patientinnen gearbeitet haben, werden alle Beispiele dafür kennen, dass ein Gerichtsverfahren die Therapie sehr erleichtert oder aber sehr belastet hat. Gerichtsverfahren, die zu einem für die Patientin befriedigenden Ende geführt werden können, stellen auch subjektiv klare Rechtssicherheit her, signalisieren unzweideutig, dass der Patientin geglaubt wird und dass der Täter von der Gesellschaft ausgegrenzt wird. Strafprozesse, die mit einem Freispruch enden, stellen demgegenüber eine ganz erhebliche Belastung dar und können die Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht und Unterlegenheit wieder aktualisieren, die auch während einer Traumatisierung schon aufgetreten sind. Darum ist es wichtig, eine Anzeige vernünftig, erwachsen und informiert abzuwägen und keinesfalls überengagiert oder naiv auf eine solche zu drängen. Wenn Straftaten angezeigt werden, die an Borderline-Patientinnen in ihrer Kindheit und Jugend in Form von sexualisierter Gewalt verübt wurden, so wird auf die Patientin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein sogenanntes Glaubwürdigkeitsgutachten zukommen. Fachleute bevorzugen dafür heute den Begriff des „Aussagepsychologischen Gutachtens“. Die Patientin wird mehrere Klinikaufenthalte hinter sich haben, wahrscheinlich auch mehrfach schon in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung gewesen sein, und in Arztbriefen und Stellungnahmen wird eine bunte Vielfalt von Diagnosen und Einschätzungen vorkommen, vielleicht sogar Diagnosen wie „Verdacht auf psychotische Episode“ oder „Atypische Schizophrenie“. Auch die Diagnose „Dissoziative Störung“ wird die Frage aufwerfen, ob das Gedächtnis, das Erinnerungsvermögen der Patientin so ungestört ist, dass sie zeugentauglich ist (ISTSS 2004). Eine solche aussagepsychologische Begutachtung erfolgt am besten schon im Ermittlungsverfahren, denn sonst wird sie spätestens während des Prozesses vom Verteidiger einfordert
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werden, damit dessen Mandant nicht aufgrund einer eventuell gestörten Gedächtnisfunktion der Opferzeugin zu Unrecht verurteilt wird. Glaubwürdigkeitsgutachten sind eine Wissenschaft für sich (von Hinckeldey und Fischer 2002; Volbert 2004). Um ein solches aussagepsychologisches Gutachten erstatten zu können, muss ein Psychologe oder Arzt umfangreich geschult sein und einige Gutachten unter Supervision angefertigt haben. Im Glaubwürdigkeitsgutachten geht es nicht um die Frage, ob die Patientin lügt. Wenn Polizei oder Staatsanwaltschaft den Eindruck haben, dass dies der Fall ist, dann werden sie von sich aus das Ermittlungsverfahren einstellen. Im Prozess ist es Aufgabe des Gerichtes, im Rahmen der Beweiswürdigung festzustellen, ob eine Opferzeugin nach Überzeugung des Gerichtes die Wahrheit gesagt oder bewusst gelogen hat. Diese Fragestellung ist nicht Gegenstand einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung. Bei diesem Gutachten geht es vielmehr darum, ob es Hinweise darauf gibt, dass die Aussagen der Opferzeugin „erlebnisbasiert“ sind oder das Ergebnis einer Einbildung. Es gibt inzwischen eine sehr umfangreiche Forschung dazu, dass unser Gedächtnis alles andere als historisch-juristisch präzise arbeitet. Wahrnehmung und Gedächtnis sind hoch interpretativ, stets sehr subjektiv und darauf beschränkt, was aktuell für den Wahrnehmenden oder sich Erinnernden zur Lebensbewältigung in der Gegenwart wesentlich und hilfreich ist. Es ist erwiesenermaßen möglich, dass sehr dissoziative oder einfach nur vorstellungsbegabte Menschen durch geschickte Suggestion in nahen Beziehungen ganze Kindheitsszenen konstruieren, von denen sie dann auch überzeugt sind (Loftus and Ketcham 1995). Eine Therapie ist eine solche dichte Beziehungssituation, in der sehr viel Sinnstiftendes entstehen kann und entstehen soll. Aber „stimmig“ muss nicht identisch sein mit „stimmt“. Sinnstiftende Konstrukte müssen nicht historischjuristisch richtig sein. Der Gedächtnisforscher Kotre hatte eine klare frühe Kindheitserinnerung. Er sah vor sich seinen Großvater, der mit weißen Handschuhen Klarinette spielte (Kotre 1996). Eine schöne stimmige Kindheitserinnerung. Allerdings war sein Großvater zwei Jahre vor seiner Geburt gestorben. Der Glaubwürdigkeitsgutachter hat von der Prämisse auszugehen, dass die Aussage der Patientin unwahr ist, nur auf Vorstellungen oder Einbildungen (false memories) basiert, und diese Hypothese dann anhand bestimmter wissenschaftlicher Kriterien zu bestätigen oder zu widerlegen. Der Bundesgerichtshof BGH hat diese Vorgehensweise verbindlich festgelegt. Es widerspricht diametral dem, was Therapeutinnen für ihre Patienten versuchen. Sie machen sich zu Verbünde-
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ten von deren Wahrnehmung, sofern diese Wahrnehmung sie nicht selbst oder andere schädigt. Patientinnen ist in ihrer Kindheit oft kontinuierlich die eigene Wahrnehmung abgesprochen worden, sie sind invalidiert worden. Eine Therapie, in der Erinnerungen kontinuierlich in Frage gestellt werden, ist undenkbar. Wegen dieser unterschiedlichen Herangehensweise an das Opfer ist der eigene Therapeut der schlechteste Glaubwürdigkeitsgutachter für die Patintin. Wenn diese ihren Therapeuten bittet, für sie als Glaubwürdigkeitsgutachter vor Gericht tätig zu werden, dann möchte sie ihren Therapeuten nicht als Gutachter, sondern als Verbündeten, als Mitstreiter, als ritterlichen Retter. Jetzt steckt der Therapeut in einer Zwickmühle. Arbeitet er juristisch und wissenschaftlich korrekt, so kommt er vielleicht durch kritisches Abwägen zu dem Ergebnis, dass die Erinnerungsfähigkeit seiner Patientin so gestört ist, dass ihre Aussage nicht hinreichend erlebnisfundiert ist oder sie nicht uneingeschränkt als zeugentüchtig gelten kann. Danach wäre das therapeutische Vertrauensverhältnis zerstört. Die Therapie wird nicht fortgeführt werden können, denn die Patientin wird sich von ihrem Therapeuten verraten fühlen. Oder der Therapeut macht ein Glaubwürdigkeitsgutachten auf der Basis seiner Identifikation und Loyalität mit der Patientin. Dann wäre dies ein Gefälligkeitsgutachten, durch das möglicherweise ein Unschuldiger verurteilt wird. In diesem Fall hätte der Therapeut sich strafbar gemacht und müsste mit straf- und zivilrechtlichen Konsequenzen rechnen. Also: Der schlechteste Glaubwürdigkeitsgutachter ist der Therapeut. Je länger die Straftaten zurückliegen, umso gründlicher muss abgewogen werden, ob eine Anzeige erfolgversprechend und sinnvoll ist. Manche BorderlinePatientinnen packt in Phasen ihrer Therapie eine Wut, die sie veranlasst, ihre Täter anzuzeigen. Wut und Einsatz für sich selbst sind wesentliche Schritte der Selbstfürsorge und Selbstbestimmtheit. Wie bei einem Jugendlichen bedarf es aber manchmal massiver Interventionen, damit diese Schritte nicht selbstgefährdend werden. Wenn eine Patientin mit ihren selbstgemalten Großplakaten „XYZ ist ein gemeiner Vergewaltiger“ auf den Marktplatz ginge und allen Passanten einen Zettel mit ihrer Vergewaltigungsgeschichte in die Hand drückte, wäre das vielleicht ein großartiger Schritt in der therapeutischen Entwicklung. Mit dieser Aktion würde die Patientin sich zweifelsfrei aber erheblichen Schaden zufügen, so menschlich verständlich das Vorgehen auch wäre. Vielleicht sähe der Therapeut sich sogar mit zivilrechtlichen Fragen konfrontiert, ob er das ihm Zumutbare getan habe, diesen Schritt zu verhindern.
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Nicht immer können Therapeuten ihre Patienten daran hindern, gegen ihren wohlmeinenden Rat Anzeige zu erstatten. Dann wird im Zuge der Ermittlungen sehr rasch die Frage an die Patientin gestellt werden: „Entbinden Sie Ihre behandelnden Ärzte und Therapeuten von der Schweigepflicht?“, und die spontane Antwortet lautet häufig: „Selbstverständlich, und zwar uneingeschränkt! Die sollen alles sagen, was ich denen schon berichtet habe.“ Wenn Sie als Psychologe, Ärztin oder Therapeut jetzt denken: „Das tangiert mich gar nicht. Ich habe ja Schweigepflicht, und deshalb brauche ich nichts auszusagen“, dann unterliegen Sie einem Rechtsirrtum. Die Schweigepflicht ist nämlich kein Rechtsgut der Ärzte, Psychologinnen und Therapeuten, sondern ein Rechtsgut der Patienten. Die Patienten können über dieses Rechtsgut frei verfügen. Sie können es einfordern, können es aber auch außer Kraft setzen. Wenn eine Patientin schriftlich von der Schweigepflicht entbindet und zur Aussage auffordert, dann werden behandelnde Ärzte und Therapeutinnen zu „normalen“ Zeuginnen wie alle anderen Bürger unseres Rechtsstaates. Dann müssen sie umfassend aussagen, dürfen nichts verschweigen oder hinzufügen und müssen ihre – hoffentlich umfangreichen und aussagefähigen – Aufzeichnungen hinzuziehen oder gar zur Verfügung stellen. Auch das kann übrigens die therapeutische Beziehung sehr belasten, vor allem wenn ein Therapeut nicht in juristische Auseinandersetzungen hineingezogen werden wollte. Dieses Szenario sollte frühzeitig in einer Therapie reflektiert und vereinbart werden, damit sich nicht eine von beiden Seiten plötzlich in einer Situation wiederfindet, in die sie oder er gerade nicht gebracht werden wollte. Einen Rechtsanspruch darauf, mit Prozessen gefälligst verschont zu werden, haben Therapeuten allerdings nicht. Ob eine therapeutische Arbeitsbasis und ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis auch dann noch aufrecht zu erhalten ist, wenn ein Patient seinen Therapeuten in eine juristische Auseinandersetzung gegen dessen früh erklärten Willen hineinzwingt, wird nur im Einzelfall zu klären sein. Einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung der Therapie auch bei massiv gestörtem Vertrauensverhältnis wird auch die Patientin nur in Ausnahmefällen haben. Eine Staatsanwältin, Richterin oder Opferanwältin, die die Opferzeugin dazu drängt, ihre Therapeutin oder ihren Psychiater aussagen zu lassen, muss wissen, dass dies der Therapie erheblichen Schaden zufügen kann. Auch wenn der aussagende Therapeut noch so wachsam ist, keinerlei gutachterliche Stellungnahme abzugeben, kann seine Aussage für oder gegen die Opferzeugin verwertet werden. In dieser Situation kann sehr schnell und oft zu Recht der Eindruck entstehen, vom Therapeuten nicht genug geschützt, unterstützt, verteidigt worden zu
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sein. Noch einmal: Vor Gericht wünscht sich eine Patientin als Opferzeugin keinen juristisch korrekt handelnden Fachmann, sondern einen Schutzengel. Wenn ein gut informierter Jurist diese Problematik kennt, wird er nicht mehr dazu neigen, wegen einer nicht erteilten Schweigepflichtsentbindung Zweifel an der Mitwirkungsbereitschaft des Opfers bei der Wahrheitsfindung zu hegen. Wenn Verteidiger dies tun, machen sie nur kompetent ihre Arbeit, alles zur Geltung zu bringen, was ihren Mandanten entlasten kann. Die Patientin muss wissen, wie umfangreich die Rechte des Angeklagten und seines Verteidigers sind. Diese Verteidigungsrechte sind Grundrechte, sie gehen auf Regelungen des Grundgesetzes zurück und nicht selten sogar auf allgemeine Menschenrechte. Es ist nicht immer leicht, hier eine Balance zu finden zwischen den Rechten des Opfers und den Rechten des Täters. Jedes Rechtssystem wird an dieser Stelle etwas zu sehr in die eine oder in die andere Richtung gehen. In Deutschland hat sich die Situation der Opfer in den letzten Jahren ganz erheblich verändert. Das Tatopfer ist nicht mehr nur Zeugin, nicht mehr nur Beweismittel, nicht mehr nur Gegenstand und Objekt der Ermittlungen. Das Opfer ist heute als Nebenklägerin Mitwirkende bei der Wahrheitsfindung und hat umfassende Rechte. Deren Wahrnehmung im Strafverfahren kann auch für den Heilungsprozess ganz wesentlich sein. Das Opfer ist nicht mehr nur hilfloses Objekt, sondern übernimmt als handelndes Subjekt im Rahmen seiner Rechte die Kontrolle. Insbesondere die Vertretung durch einen Nebenklageanwalt ist im Prozessverlauf meist mindestens so wichtig, oft sogar noch wichtiger als eine fundierte therapeutische Begleitung. Ein Nebenklageanwalt hat auch sehr viele Rechte, etwa auf Akteneinsicht und Informationen über den Ermittlungsstand. Über den Nebenklageanwalt kann die Opferzeugin sich darüber informieren, was der Angeklagte im Ermittlungsverfahren zum Tatvorwurf ausgesagt hat. An diese Informationen würde die Opferzeugin allein nicht so einfach kommen. So wie der Angeklagte völlig selbstverständlich seinen Verteidiger an der Seite hat, der seine Rechte wahrnimmt und wahrt, so hat das Opfer als Nebenklägerin einen Rechtsanwalt an der Seite, der darauf achtet, dass mit dem Opfer korrekt umgegangen wird. In Fällen schwerer Straftaten, namentlich sexueller Gewalt zahlt der Staat diesen Anwalt. Das Grundrecht, sich umfassend verteidigen zu dürfen, ermöglicht aber dem Anwalt der Verteidigung und dem Angeklagten in der Hauptverhandlung ein sehr umfangreiches Fragerecht. Es gibt nur sehr wenige Fragen, die ein Opfer unbeant-
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wortet lassen darf. Dies wird es aber nie selbst entscheiden können, hierfür ist vielmehr das Gericht zuständig. Unterbindet dieses eine Frage der Verteidigung zu Unrecht, so kann hieraus schnell ein Revisionsgrund werden. Das hat einen erneuten Prozess mit neuer Hauptverhandlung und erneuter Aussage zur Folge. Vielfach ist es für die Opferzeugin deshalb leichter, in der Hauptverhandlung eine unangenehme Frage zu beantworten, als den ganzen Prozess nach einer Aufhebung des Urteils in der Revision erneut durchlaufen zu müssen. Zudem wird bei intimen Problembereichen auf Wunsch des Opfers die Öffentlichkeit ausgeschlossen, so dass die Befragung nur in einem Kreis von routinierten Fachleuten erfolgt. Der Angst vieler Opfer, vor der Geräuschkulisse einer oft wenig wahrheitssuchenden, sondern vielmehr sensationsgeilen Öffentlichkeit aussagen zu müssen, kann so entgegen gewirkt werden. Die Öffentlichkeit von Strafprozessen ist zwar ein zentrales Rechtsgut, um das in der Vergangenheit Jahrzehnte lang intensiv gekämpft wurde. Geheimprozesse sind mit einem Rechtsstaat unvereinbar, und die Akzeptanz von Urteilen in der Öffentlichkeit ist nur zu erreichen, wenn der Prozessverlauf öffentlich transparent ist. Bei Prozessen gegen Sexualstraftäter befriedigen jedoch einige Boulevard-Medien vorrangig die voyeuristischen Impulse ihrer Leserinnen und Leser. Sie inszenieren sich selbst als Volkstribunal und stellen Opfer unter dem Vorwand bloß, sich für sie besser einzusetzen als die Justiz. Vollständig lässt sich eine Presseberichterstattung aber nicht immer verhindern. Man kann z. B. den Angeklagten nicht davon abhalten, seine Version des Geschehens an die Presse zu verkaufen, was zunehmend auch geschieht. Aber der Wahrheitsfindung dient dies in den seltensten Fällen. Der seriöse Artikel einer lokalen Tageszeitung kann manchmal aber auch eine unterstützende Wirkung haben. Auch wenn eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung schon viele Jahre zurück liegt, kann eine Anzeige zur Verurteilung des Täters führen. Nach der Rechtsprechung der höchsten Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht (2 BvR 553/08) reicht es aus, wenn eine Verurteilung ausschließlich auf der Zeugenaussage einer Opferzeugin basiert. Das Gericht muss zwar ausführlich begründen, warum es der Zeugin glaubt. Sagt diese aber im Kernbereich zu der Tat schlüssig und konstant aus, so kann das reichen. Es sind also Männer, manchmal auch Frauen als Mittäterinnen verurteilt worden ausschließlich auf der Basis der Aussage des Opfers. Nachdem es auch Verurteilungen nur auf der Basis einer Opferaussage gegeben hat, die nachgewiesen zu Unrecht erfolgt sind (Rückert, 2008), hat der Bundesgerichtshof die Anforderungen an solche Verurteilungen, bei denen Aussage gegen Aussage steht, erheblich erhöht. Die Tatgerichte müssen
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erheblich genauer nachfragen und die Entscheidung genauer begründen: und das bedeutet auch, dass das Opfer mit ausführlichen Befragungen nicht nur zur Tat sondern auch zu seinem Umfeld rechnen muss. Jeder Therapeut und jede Beraterin wird auch Borderline-Patientinnen oder komplex Traumatisierte kennen, die sich etwas eingebildet haben oder die auch ganz bewusst gelogen haben. Das hohe Medieninteresse und die Aussicht auf Schadenersatz, der in der Bundesrepublik allerdings deutlich niedriger ist als in den USA, motiviert einige wenige Frauen und Männer, haltlose Beschuldigungen in den Raum zu stellen. Dies ist in der Vergangenheit manchmal auch in Scheidungsprozessen geschehen. Frauen haben ihre Männer fälschlich sexueller Übergriffe in der Familie beschuldigt, um im Sorgerechtsstreit zu gewinnen. Damit schaden diese Menschen aus egoistischen Motiven der Sache der Opfer ganz erheblich. Sie unterminieren die Glaubhaftigkeit vieler anderer echter Opfer, die dann rasch in der Öffentlichkeit oder von der Verteidigung in die Nähe dieser Pseudo-Opfer gerückt und der Lüge bezichtigt werden. Einige wenige Borderline-PatientInnen sind eben nicht dissoziativ, sondern dissozial. Nach unserer gemeinsamen Erfahrung wird die Aufarbeitung eines Traumas durch Justiz und Therapie am erfolgreichsten, wenn jede Berufsgruppe genau das macht, was ihr primäres Aufgabenfeld ist und wofür sie fundiert ausgebildet ist. Optimal geschieht dies dann, wenn jede Berufsgruppe mit Respekt vor der Kompetenz und der Aufgabe der anderen arbeitet. Ein Prozess ist keine Fortführung der Psychotherapie mit anderen Mitteln. Und eine Psychotherapie ist kein Mittel der Wahrheitsfindung. Die Therapeutin macht eine solide traumazentrierte Psychotherapie (Sachsse 2004). Die Polizei und der Staatsanwalt ermitteln gründlich alles, was die Tat aufklärt, und alles, was den mutmaßlichen Täter belastet und entlastet. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle und des Opferhilfebüros beraten und begleiten das Opfer. Der Nebenklagevertreter wahrt die Rechte des Opfers im Ermittlungsverfahren und vor Gericht. Der Verteidiger wahrt die Rechte des Angeklagten im Rahmen der Rechtsordnung. Und das Gericht fällt ein Urteil (schauerliche Wortwahl), das der Rechtslage entspricht. Nicht alles, was Unrecht ist, ist justitiabel. Das bedeutet: nicht jedes Unrecht ist mit rechtsstaatlichen Mitteln aburteilbar. Das verstehbar und ertragbar zu machen, ist dann wieder Aufgabe einer guten, Sinn stiftenden Therapie (Sachsse 2007). (Hinweise auf Fortbildungen zur Frage „Retraumatisierung durch juristische Prozesse?“ unter www.ulrich-sachsse.de)
Opfer von Straftaten zwischen Justiz und Traumatherapie
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Literatur Hirsch, M. (1987). Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie. Berlin, Springer. ISTSS (2004). Kindheitstraumata – erinnert: ein Report zum derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand und zu seinen Anwendungen. Traumazentrierte Psychotherapie. U. Sachsse. Stuttgart, New York, Schattauer: 413–436. Kernberg, O. F., B. Dulz und U. Sachsse (Eds.) (2000). Handbuch der Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart, New York, Schattauer. Kotre, J. (1996). Weiße Handschuhe. Wie das Gedächnis Lebensgeschichten schreibt. München, Wien, Carl Hanser. Loftus, E. und K. Ketcham (1995). Die therapierte Erinnerung. Vom Mythos der Verdrängung bei Anklagen wegen sexuellen Mißbrauchs. Hamburg, Ingrid Klein Verlag. Rutschky, K. (1992). Erregte Aufklärung: Kindesmißbrauch: Fakten & Fiktionen. Hamburg, Klein. Rückert, S. (2008). Nichts als die Unwahrheit, Die Zeit 3. 4. 2008 Nr. 15 Sachsse, U. (2004). Traumazentrierte Psychotherapie. Stuttgart New York, Schattauer. Sachsse U. (2007). Shit happens – Sinngebung bei schweren Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen PTT, 11 (4), 256–266. Stang, K. und U. Sachsse (2007). Trauma und Justiz. Stuttgart, New York, Schattauer. Volbert, R. (2004). Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle, Verlag Hans Huber. von Hinckeldey, S. and G. Fischer (2002). Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung. München, Basel, Ernst Reinhardt Verlag. Zanarini, M. C. (Ed.) (1997). Role of Sexual Abuse in the Etiology of Borderline Personality Disorder. Washington, London, American Psychiatric.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Heinz Frese, Vorsitzender Richter im Landgericht Hanau i.R. seit 1984 1. Vorsitzender der HANAUER H!LFE e.V. Rolf Guntermann, Dipl.-Sozialpädagoge seit 1985 Mitarbeiter der HANAUER H!LFE, aktueller Tätigkeitsschwerpunkt: Geschäftsführung und Täter-Opfer-Ausgleich Harald Mondun-Kuhn, Dipl.-Sozialpädagoge von 1991 bis 1997 Mitarbeiter der HANAUER H!LFE, seit 1998 Praxis für Beratung-Krisenintervention Irmgard Müller, Rechtsanwältin in Hanau seit 1981 mit Schwerpunkt Familienrecht, seit 2003 im Vorstand der HANAUER H!LFE Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ärztlicher Leiter der Allgemeinpsychiatrie III des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Göttingen Kirsten Stang, Oberstaatsanwältin Braunschweig bis 2000 Leiterin des Dezernat „Sexuelle Gewalt“, von 2001 bis 2005 Vorsitzende der Stiftung Opferhilfe Braunschweig. Seit 2003 stellvertretende Vorsitzende des Niedersächsischen Richterbundes und Richterin am Niedersächsischen Disziplinargericht, seit 2006 abgeordnet an die Jugendanstalt Hameln Elke Wolf, Dipl.-Sozialpädagogin seit 1994 Mitarbeiterin der HANAUER H!LFE, Tätigkeitsschwerpunkt Opferhilfe